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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 4. November 2002 Betr.: Titel, Tauchen, Afrika e länger die Selbstdemontage der FDP anhält, desto mehr rückt die Frage in den JVordergrund, wie weit die Parteispitze in die finanziellen und politischen Ma- chenschaften Jürgen W. Möllemanns eingeweiht war. Letzte Woche ging der schwer angeschlagene Vorsitzende Guido Westerwelle auf Distanz zu seinem gescheiterten 18- Prozent-Strategen, ganz anders als vor der Wahl, als die beiden noch bemüht waren, Einigkeit zu demonstrieren – zum Beispiel am 10. Juni am Rande einer Vorstandssitzung, in der auch Mölle- manns Anti-Israel-Kurs debattiert wurde. Bei dieser Gelegenheit entstand das Foto, das SPIEGEL-Titelbildgestalter Stefan Kiefer nun als Vorlage für das Cover

FRITZ REISS / AP FRITZ zur FDP-Titelgeschichte der Berliner Westerwelle, Rainer Brüderle, Möllemann SPIEGEL-Redaktion diente (Seite 22).

ie alle begeisterten Sporttaucher hat SPIEGEL-Reporter Klaus Brinkbäumer, 35, Wschon viele Male den Kultfilm „Im Rausch der Tiefe – The Big Blue“ gesehen. Auch ihn fasziniert die Sekte jener Extremsportler, die ohne Pressluftflasche 160 Me- ter und tiefer zu tauchen versuchen – wie der Deutsche Benjamin Franz, 31, den er beim Training in Bayern beobachtete. Eine weitere, schon fest verabredete Begegnung bei einem Weltrekordversuch in Ägypten platzte – Franz hatte kurz zuvor unter Wasser einen Schlaganfall erlitten. Für den Traum von der Tiefe riskiert auch die US-Amerikanerin Tanya Streeter, 29, immer wieder ihr Leben. Brinkbäumer, selber „Advanced Open Water Diver“, interviewte die Weltrekordlerin in Genua, danach ging er mit ihr vor Nizza tauchen. „Während ich an der Ober- fläche rumkrebste und noch mit Luftholen be- schäftigt war, war sie unten auf 10, 15 Metern und CHRISTOPH GERIGK CHRISTOPH schon wieder oben – unglaublich elegant, schnell, Brinkbäumer, Streeter dynamisch.“ Auf der Suche nach den Idolen der Tiefseetaucher spürte Brinkbäumer auf Sizilien schließlich Enzo Maiorca auf, Vorbild für einen der Filmhelden aus „The Big Blue“. Der 71-Jährige mit der Octopus-Täto- wierung eröffnete dem Reporter, „dass das Meer die beste aller Schulen ist – es lehrt uns zu kämpfen“ (Seite 164).

mmer wieder hat Birgit Schwarz, 45, über die gewalt- Isame Enteignung weißer Großgrundbesitzer in Sim- babwe berichtet. Im früheren Rhodesien traf die Afrika- Korrespondentin des SPIEGEL Farmer, die aus Angst vor nächtlichen Überfällen durch Landbesetzer nur noch mit dem Revolver unter dem Kopfkissen schlafen. Neu- erdings müssen auch in Namibia weiße Grundbesitzer fürchten, dass das Beispiel Simbabwe Schule macht. Vor allem ausländische Landbesitzer bangen dort um ihre LORI WASELCHUK LORI Schwarz Güter, seit die Regierung ihre Enteignung beschlossen hat. Unter ihnen sind auch Deutsche wie Hanns-Eber- hard Schleyer, Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Der Sohn des 1977 ermordeten Arbeitgeberpräsidenten würde auf seinen 10000-Hektar- Besitz „nicht gern“ verzichten: „Die Farm liegt mir sehr am Herzen“ (Seite 152).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 45/2002 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann zerstören Ansehen und Einfluss der FDP ...... 22 Rot-grünes Flickwerk Seiten 40, 100 Die Finanztricks der NRW-Liberalen ...... 28 Sechs Wochen nach der Wahl ist Deutschland die Stimmung mies, die Schlag- Panorama: Wieder deutscher Technik-Export zeilen sind vernichtend. Bundes- für libysche Giftgasfabrik? / kanzler Schröder umwirbt nun Nachfolger für Machnig / Islamist gesteht wieder Gewerkschafter und Wirt- Anschlagsplan auf Hamburger US-Konsulat ..... 17 schaft – und macht Zugeständ- Regierung: Wie der Kanzler nachbessert ...... 40 nisse an alle Seiten: Gesundheit, Widerstand gegen rot-grüne Pläne Rente, Steuern, selbst Teile des zur Kinderbetreuung ...... 44 Hartz-Konzepts stehen zur Dis- Affären: Kriminalgroteske belastet position. Gesundheitsministerin Sachsens Polizeibehörden ...... 46 , die das Wahlvolk Chemiewaffen: Ex-Geisel Saddam Husseins über das wahre Ausmaß der klagt auf Entschädigung ...... 48 Karrieren: , die mächtigste Finanzmisere im Unklaren gelas- Frau Deutschlands ...... 50 sen hatte, verhängt ein beispiel- / PHALANX MASKUS NICOLE Europa: Wie Joschka Fischer den loses Notprogramm. Schröder, Schmidt Staatenbund handlungsfähig machen will ...... 58 Parteien: Die Nachwuchsstars und Roland Koch auf dem Weg zur Kanzlerkandidatur ...... 62 Bildung: Deutsche Grundschulen mangelhaft ...... 72 Fernziel Kanzleramt Seite 62 Spitzenergebnisse für die Wiesbadener Sie sind die führenden Nach- Helene-Lange-Schule beim Pisa-Test ...... 74 wuchskräfte der deutschen Poli- Bundeswehr: Mit Dienstvorschriften tik: der Hesse Roland Koch gegen den Liebestrieb ...... 78 Mediziner-Tipps für den Bordellbesuch ...... 88 (CDU) und der Niedersachse Bestattungen: Dürfen Urnen bald im Sigmar Gabriel (SPD). Zwei heimischen Garten vergraben werden? ...... 92 Landesväter mit großen Ambi- tionen, aber auch dem gleichen Wirtschaft Absturzrisiko. Beide müssen am 2. Februar Landtagswahlen be- Trends: Bankenverband sucht Chef / BMW schlägt Mercedes / stehen – wer verliert, fällt als HARALD KOCH / ACTION PRESS / ACTION KOCH HARALD Regierung belastet künftige Generationen ...... 97 HUSCH / TERZ STEFAN Kanzlerkandidat für 2006 aus. Geld: Steuerpläne drücken Kurse / Ministerpräsidenten Koch, Gabriel Schnäppchen-Zinsen für Anleger ...... 99 Gesundheitsreform: Ulla Schmidts Flickschusterei ...... 100 Luftfahrt: TUI contra Lufthansa – die Schlacht der Billigflieger ...... 104 Biotech-Industrie: SPIEGEL-Gespräch mit den Gründern von Evotec OAI, Lichtblick in der Schulmisere Seiten 72, 74 Lion Bioscience und Medigene über Eine neue OECD-Bildungsstudie be- die Überlebensfähigkeit ihrer Unternehmen ... 106 legt: Die Deutschen investieren zu Zigarettenindustrie: Die EU klagt gegen den US-Konzern R. J. Reynolds ...... 112 wenig in ihre Grundschulen. Dabei Telekom: Posse um Sommer-Nachfolge ...... 116 gilt die frühe Förderung als entschei- dend für die gesamte Schullaufbahn. Ausland Mit innovativem Unterricht stößt eine Wiesbadener Lehranstalt in die inter- Panorama: Erdbeben sorgt für Panik in nationale Spitze vor: Die Helene- Italien / Interview mit Bulgariens Staatschef Parwanow zur EU-Mitgliedschaft ... 123 Lange-Schüler spielen viel Theater, Russland: Putins harte Hand ...... 126 putzen ihre Räume selbst – und schlu-

Tödliche Schlamperei bei der Befreiung gen sich grandios im Pisa-Test. HUSCH / TERZ STEFAN der Geiseln ...... 128 Tschetschenien: Turbulenzen um Wiesbadener Schüler (Theaterprobe) Exil-Politiker Sakajew ...... 132 Deutsche Kämpfer für den Kaukasus ...... 134 USA: Washingtons neue Forderungen an ...... 136 David Binder über den deutsch-amerikanischen Hauskrach ...... 137 Make war, not love Seite 78 Israel: Scharons Koalitionsrochaden ...... 138 Die Bundeswehr hat ein neues Krisengebiet entdeckt: vom Koppelschloss abwärts. Jemen: Die Schaltzentrale von Bin Ladens Qaida-Aktivisten? ...... 140 Seit zahlreiche Frauen eingerückt sind, versuchen Truppengerichte immer öfter, das China: Führungswechsel auf dem Sexualleben der Soldaten zu regulieren – notfalls mit drastischen Urteilen. 16. KP-Parteitag ...... 146

6 der spiegel 45/2002 Kaliningrad: Ostsee-Exklave mit ungewisser Zukunft ...... 148 Namibia: Hatz auf die Fremden ...... 152 Hanns-Eberhard Schleyer über die drohende Enteignung ausländischer Grundbesitzer...... 154

Gesellschaft Szene: Essen wie in der Steinzeit / Die Karriere der Bibel / Studie über Fitness-Moden ...... 161 Extremsport: Die lebensgefährliche Rekordjagd der Freitaucher ...... 164 Ortstermin: Der Kampf um die besten Plätze im ...... 172 MISHA JAPARIDZE / AP MISHA JAPARIDZE Beisetzung von Opfern des Moskauer Geiseldramas, Putin Kultur Szene: Führungskrise bei den Hamburger Deichtorhallen / Dresdner Galerie Alte Meister sucht flutsicheres Depot ...... 175 Schulterschluss in Moskau Seite 126 Kunst: Das Bilderwunder von Bagdad ...... 178 Film: „Solino“ von Fatih Akin ...... 182 Der tschetschenische Kriegsherr Schamil Bassajew hat die Verant- Essay: Juli Zeh über die neue wortung für die Geiselnahme in der russischen Hauptstadt über- Konsum-Askese deutscher Studenten ...... 184 nommen und kündigt Krieg im ganzen Land an. Der Kreml will mit Oper: Peter Konwitschnys radikale harter Hand zurückschlagen und fordert westliche Solidarität für „Meistersinger“-Inszenierung in Hamburg ..... 188 einen verschärften Tschetschenien-Kurs. Auch daheim drängt er auf Bestseller ...... 190

ALEXANDER ZEMLIANICHENKO / AFP / DPA ZEMLIANICHENKO ALEXANDER Gleichschritt: Kritische Medien werden auf Linie gebracht. Rechtschreibung: Sprachbanausen lassen den Bindestrich verschwinden ...... 192 Verleger: In einem seiner letzten Texte huldigte Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld seinem Lieblingsautor Thomas Bernhard ...... 194

Kunst unter Sport Olympia: Athen 2004 – Saddams Knute Seite 178 die geschrumpften Spiele ...... 196 Im Irak lächelt Saddam Hussein von unzähligen Wand- Fußball: Bayern Münchens gemälden auf seine Untertanen herab. Doch in Bagdad ge- gescheiterter Höhenflug ...... 200 deiht nicht nur die Propagandakunst, sondern auch die spannendste Galerien- und Künstlerszene der arabischen Wissenschaft · Technik Welt. Einigen irakischen Malern und Bildhauern gelingt Prisma: Bienen sollen Verwüstungen

ATTAR MAHER / CORBIS SYGMA MAHER ATTAR sogar subtile Regimekritik. durch Elefanten verhindern / Radarauge erkennt Menschen am Gang ...... 203 Gemälde eines irakischen Künstlers Vulkanismus: Wird der Ätna immer explosiver? ...... 206 Forscher: US-Universitäten werben Deutschlands alternde Professoren ab ...... 209 Medizin: Die Geschichte der zwölfjährigen Jenny, die weder als Mädchen Die neue Bescheidenheit Seite 184 noch als Junge zur Welt kam ...... 210 Tiere: Millionen Seepferdchen sterben Neben Materialisten mit Mobiltelefon und Homepage gibt es immer für Potenzmittel und Souvenirs ...... 218 mehr fröhliche Konsumverweigerer, die glauben, wer kein Geld verbrauche, müsse „auch keines verdienen“ – so beschreibt Auto- PEITSCHPHOTO.COM Medien rin Juli Zeh, 28, die neue Bescheidenheit der jungen Generation. Zeh Trends: Neuer Interessent für die „Süddeutsche“ / Porno im Fernsehen ...... 223 Fernsehen: TV-Koch Vincent Klink über die Ehrlichkeit in der Küche / Quotentief für Sendungen über Moskauer Geiseldrama ...... 224 Angst am Feuerberg Seite 206 Vorschau / Rückblick...... 225 Konzerne: Bauer greift Die Menschen am Fuß des Ätna wurden vom nach dem Kirch-Erbe ...... 226 erneuten Ausbruch des Vulkans überrascht. Lava- Presse: Wie die „FAZ“ überleben will ...... 228 ströme, Erdbeben und Ascheregen verbreiten in Sizilien Angst und Schrecken. Weil der Berg heute Briefe ...... 8 zähflüssigere Lava als früher speit, fürchten Geo- Impressum, Leserservice ...... 232 logen, dass seine Eruptionen immer heftiger und Chronik...... 233 Register ...... 234 ORIETTA SCARDINO / DPA SCARDINO ORIETTA gefährlicher werden könnten. Personalien...... 236 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 238 Lavafontäne am Ätna TITELBILD: Foto Fritz Reiss/AP

der spiegel 45/2002 7 Briefe

Lied zu singen“. Nichts gegen populäre Sprache. Bloß: das Wunder des Bewusst- „Am Anfang war das Wort: Eine seins ist nicht erklärt, wenn wir es Com- Globalisierungsstory der anderen Art putern und Nervenzellen andichten. Das ist alles materialistischer Gottesersatz ohne und zugleich eine Wohltat für alle, Sinn und Verstand. Blankenfelde (Brandenburg) die die Hoffnung auf ein Überleben Prof. Dr. Richard Schröder des Kulturwesens Mensch Luc Steels experimentelle Sprachursprungs- noch nicht aufgegeben haben.“ forschung stelle ich gern mit denen der Ulrich Viefhaus aus Ostfildern (Baden-Württemberg) zum Titel Archäologen und Biologen auf eine Stufe. „Der Anfang war das Wort – Wie der Mensch die Sprache erfand Ich hoffe nur, dass er nicht – wie im SPIE- und dadurch zum Menschen wurde“ GEL zu lesen war – wirklich so unreflektiert SPIEGEL-Titel 43/2002 die Sprache aus den Realitätszusammen- hängen herausreißt und vitalisiert oder gar personifiziert. Die Sprachwissenschaf- Beitrag. Wenn Computer sich tatsächlich ten hatten zwischen 1800 und 1945 (in Sprache als Energie „auf einen gemeinsamen Begriff“ einigen Deutschland bis tief in die sechziger Jah- Nr. 43/2002, Titel: Der Anfang war das Wort – und durch „virtuelle Belohnung“ motiviert re) diese Metapher (Leben der Sprache) Wie der Mensch die Sprache werden könnten, wären sie unseresglei- weitgehend verdinglicht und damit regel- erfand und dadurch zum Menschen wurde chen und mindestens unter Tierschutz rechte Verbrechen mental vorbereitet, die zu stellen. In Wahrheit wird dabei den zum Beispiel die Nazis begingen, als sie Ihre Titelgeschichte belegt, dass Wissen- Computern menschliche Subjektivität an- etwa die Elsässer, die es wagten, Franzö- schaftsjournalismus bisweilen weiter denkt, gedichtet, um menschliche Subjektivität sisch zu sprechen, ins Konzentrationslager als die allzu brav gewordenen Paradigmen zu erklären, ein anthropomorphistischer Schirmeck brachten. Ich denke, diese Me- einer Disziplin sich selber erlauben. Der tapher hat ihre Gefähr- Artikel zeigt, dass die heutige Standard- lichkeit zur Genüge be- linguistik einen großen Nachholbedarf auf wiesen. Sie wiederzu- dem Felde der Biologie hat. Die Linguistik beleben, halte ich für muss die spannenden Ergebnisse der Evo- fahrlässig. lutionsforschung zur Kenntnis nehmen und Tübingen Dr. Gerd Simon sich damit auseinander setzen, dass Spra- Sprachwissenschaftler che, kognitiver Apparat und ökologische Anpassung des Menschen nicht isolierte, Die Beschreibung der sondern strukturell verbundene Systeme KE-Familie und der zu- sind. Es ist wahrscheinlich richtig, aber für letzt gezogene Schluss einen Linguisten auch mutig, wenn Ihr Ge- („… hat der britische sprächspartner Bickerton Grammatik als Forscher schon eine wei- Triebfeder der kulturellen Entwicklung be- tere Erkenntnis … über zeichnet. Merke: Schon Humboldt hat ge- die enge Verbindung sagt, die Sprache sei eine „energeia“. Doch zwischen Sprache und die heutigen Großmeister unseres Fachs Intelligenz. Fisher: ‚Die- trauen sich nicht, diesen Gedankenblitz se Leute nuscheln nicht wörtlich zu nehmen. nur, sie sind auch alle Debrecen (Ungarn) Prof. Dr. Peter Finke nicht die Hellsten.‘“) dis-

ENRICO FERORELLI / AGENTUR FOCUS / AGENTUR ENRICO FERORELLI kriminieren jeden von In Ihrem Artikel ist die Rede davon, dass Sprachforschung mit Affen: Vielfältige Kommunikation Sprach- oder Sprech- der Spracherwerb im Zeitraffer die Evo- störung betroffenen Men- lution der Sprache abbilde, diese sozusa- Zirkel. Auch Derek Bickerton, ansonsten schen. Abgesehen davon, dass Nuscheln gen rekapituliere. Dabei übersehen die sehr überzeugend, verfährt unausgewiesen keine offizielle Diagnose darstellt, ist ein Spracherwerbsforscher immer wieder, anthropomorphistisch, wenn er nun gar pauschaler Zusammenhang zwischen dass es einen elementaren Unterschied Nervenzellen (Neuronen) zuschreibt, dass „Sprachstörung“ und „Intelligenz“ auf macht, ob die Sprache in einem von Spra- „sie“ uns an etwas erinnern, dass jedes dieser Basis fatal. Immer noch bestehen che und Kultur bereits vorstrukturier- Neuron „versucht“, „seine Nachbarn zu enorme Schwierigkeiten, die Vorurteile tem Raum vom Kind erworben wird oder überzeugen“ oder andere „zu hindern, ihr etwa über stotternde Menschen in der ob sich aus einem angenommenen sprach- leeren Raum eine Welt der Begriffe und Traditionen (Kultur) erst entwickelt. Das Vor 50 Jahren der spiegel vom 5. November 1952 eine verhält sich zum anderen wie eine Widerstand gegen deutsch-israelisches Wiedergutmachungs- Welt mit Schwerkraft zu einem Raum Abkommen Libanon droht westdeutschen Firmen mit Annullierung ohne jegliche Schwerkraft. Und die An- eines Milliarden-Auftrags. Verbot der Sozialistischen Reichspartei passung an die Schwerkraft sagt uns über- durch das Bundesverfassungsgericht Verkleinerung der Parlamente. haupt nichts über die Entstehung der- Treffen von ehemaligen Waffen-SS-Soldaten Gegenteil von salonfähig. Eigentümlichkeiten des englischen Lebens Skurriler Humor. selben. Neuerungen für katholische Nonnen Papst Pius XII. als Revolutionär? Tübingen Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. An einer Stelle schummelt der sehr in- Titel: Schauspielerin Margot Hielscher struktive und im Übrigen überzeugende

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Werbeseite gen über Fragen. Und dass es auf diesem Weg schmerzhafte Einschnitte für die ganze Bevölkerung geben wird, daran müs- sen wir uns gewöhnen. Suhl (Thüringen) Hartmut Sühlfleisch

Die Schieflage der Rentenkasse resultiert in hohem Maße aus der Wiedervereinigung und dem Zuzug älterer Spätaussiedler. Die Finanzierung beider Sachverhalte ist als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe an- zusehen, also über die Steuer zu finanzie-

BPK ren. Steuerfinanziert würde bedeuten, dass Darstellung steinzeitlichen Lebens (Lithografie): Wunder des Bewusstseins auch Beamte, Freiberufler, Pensionäre et cetera die hohen Rentenlasten mittrügen. Gesellschaft abzubauen und ins Licht lange postuliert, durch die Jagdwaffe vom Die Anhebung des Renten-Prozentsatzes zu rücken, dass diese Sprachstörung ne- Tier unterscheidet, sondern durch die Spra- und der Bemessungsgrenze betrachte ich ben vielen anderen keinerlei Zusammen- che, diese essenzielle menschliche Erfin- als Noch-SPD-Mitglied angesichts des oben hang mit dem Intelligenzniveau des Be- dung sogleich wieder für sein Geschlecht dargestellten Sachverhalts als ungerecht, troffenen hat. beansprucht und sie sozusagen als zufälli- wenn nicht sogar als eine Frechheit. Hier München Daniela Schüler gen Auswuchs des männlichen kleinen Un- hätte eine gesamtgesellschaftlich ausgewo- Logopädin terschieds definiert. Dass Frauen erwiese- gene und somit gerechtere Lösung gefun- nermaßen größere Sprachzentren im Ge- den werden müssen. Ihr Titel ist wie immer genial geschrieben. hirn haben, dass ihre Sprache melodischer Wenden (Nrdrh.-Westf.) Rolf Kaufmann Aber eins haben Sie vergessen: Parallel zur und modulierter ist, dass sie über einen Sprache hat sich die Musik als zweites größeren Sprachschatz verfügen, das könn- „Wer lügt, gewinnt“ lautet die Botschaft akustisches Signalsystem der Menschen, te dem Herrn Psychiater doch zu denken der Regierung an die Bevölkerung. Die in entwickelt. Sprache verarbeitet und über- geben? Die Sprache ist gewiss zwischen den letzten Jahren drastisch spürbare Ver- mittelt mehr denotative, Musik eher kon- Vertreterinnen des Geschlechtes geboren, rohung unserer Wirtschaftskultur nährt notative Elemente. das die Männer so gern als schwatzhaft be- sich aus diesem Vorbild. Dabei wird ver- Hänchen (Brandenburg) Andreas Thiemig zeichnen. gessen, dass das Vertrauen der Kunden un- Wien Maria Bergstötter Wen wundert es, die erlösende Nachricht zu erfahren, die da lautet: „Der erste Unser Wissen um die Urgeschichte und Mensch, der sprechen konnte, war dem- dessen Vermittlung basiert in erster Linie nach ein Mann.“ Wie könnte es anders sein, auf archäologischen Befunden und darf denn Adam war ja auch vor Eva da und nicht wilden Theorien und Spekulationen konnte in ihrer Abwesenheit in Ruhe ler- preisgegeben werden. Dass neuseeländi- nen! Vielleicht sollte man fairerweise sche Psychiater behaupten können, der anmerken, dass die Frau sehr schnell auf- Mensch hätte die Neandertaler (also ist geholt und den Mann hinsichtlich Schnel- der Neandertaler kein Mensch?) zu Tode ligkeit und Menge des Gesprochenen – und gequatscht, und Herr Bickerton als Lin- nicht selten sogar bezüglich der Qualität guist offenbar ganz genau weiß, wie Um- ihrer Aussagen – schon vor geraumer Zeit welt und Lebensweise früher Hominiden überholt hat. (deren erstes Wort selbstverständlich Pilar de la Horadada (Spanien) Ööööchchch gewesen ist) ausgesehen ha- Gernot Förster ben, zeigt die einseitige Orientierung auf eben jene – schon ideologisch motivier- Auch Tiere kommunizieren auf vielfältige ten – Theorien. Dass es Ihnen erneut nicht

Weise miteinander. Nicht nur die beiläufig gelungen ist, einen Archäologen zu Wort / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH erwähnten Bienen mit ihrem ausgeklügel- kommen zu lassen, um eine Versachli- Koalitionspartner Fischer, Schröder ten Schwänzeltanz. Junge Raben bei- chung der Diskussion auf der Basis ar- Nach außen siegessicher spielsweise treffen sich zur Nachtruhe auf chäologischer Indizien zu bewirken, ist einem Baum und teilen dort ihren Artge- enttäuschend. serer Exportnation Deutschland funda- nossen mit, wo es etwas zu fressen gibt. Tübingen Michael Seiler mental auf Werten wie Zuverlässigkeit und Diese Tiere sind also in der Lage, kompli- Institut für Ur- und Frühgeschichte Seriosität beruht. Schröder lenkt die Zer- ziertere Informationen weiterzugeben. Nur und Archäologie des Mittelalters störung dieses Vertrauens mit ruhiger weil wir die Sprache der Tiere nicht ver- Hand: International werden die ursprüng- stehen, heißt das nicht, dass sie nicht auch lich von Deutschland geforderten Maas- Informationen austauschen können. Wer „Wer lügt, gewinnt“ tricht-Kriterien vernebelt. National er- weiß – vielleicht lästern sie sogar über uns Nr. 43/2002, Regierung: Wie die Koalition schüttert der offenkundige Wahlbetrug und Menschen. beim Bürger abkassiert das Verschweigen der Finanzlage vor der Pirmasens (Rhld.-Pf.) Martina Heist Wahl. Die Taktik Schröders unterscheidet Es sieht nicht gut aus in Deutschland. Auch sich dabei in keiner Weise von dem Vor- Es entlockte mir ein bitteres Lachen, als ich wenn der Bundeskanzler & Co. sich nach gehen eines Herrn Haffa (EM.TV). Spätes- in dem interessanten Artikel zur Sprach- außen siegessicher geben. Ihren Optimis- tens mit der Verlautbarung der Lohnne- entwicklung lesen musste, dass sich natür- mus in Ehren. Wie ist von dem großen benkostensteigerung verfällt die Wirtschaft lich gleich wieder ein Forscher fand, der Schuldenberg wegzukommen, wie ist ein in die Orientierungslosigkeit. nun, da sich der Mensch doch nicht, wie ausgeglichener Haushalt zu erreichen? Fra- Gräfelfing (Bayern) Stephan Holzner

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Tausende zur Beerdigung kaufspreises mit rund 50 Prozent besteuert nach Stuttgart. Idole, Pop- wird. Bei älteren Immobilien halbiert sich Stars einer wahren Hölle. deren Wert nach Steuern von heute auf Diesen, wie auch immer morgen. begrenzten, solidarischen Frankfurt am Main Prof. Dr. Hans G. Bartels Effekt erklärt Homann nicht, so schlüssig und klar ansonsten seine Ausfüh- Potenzielle Zombies? rungen sind. Die RAF war Nr. 43/2002, Rauschgift: Die unterschätzten Gefahren der bewusstlose und ver- des Ecstasy-Konsums brecherische Akt einer (Selbst)-Vernichtungsorgie Die Gefahr für die Öffentlichkeit, etwa im in und wegen einer im Straßenverkehr, scheint in Deutschland we- Kern unbußfertigen deut- niger von Terroristen auszugehen als von schen Gesellschaft. Drogenköchen und Dealern. Hier könnten Bern (Schweiz) unsere Geheimdienste endlich eine neue

DPA Dr. Alexandra Horsch Rechtfertigung für ihre kostspielige Exis- Beerdigung von Baader, Ensslin, Raspe*: Idole einer Hölle Christian Beyerce tenz finden. Gaiberg (Bad.-Württ.) Gottfried Lemberg Danke, Peter Homann, Sie befreien mich Befreiung vom pubertären Großmut vom pubertären Großmut meiner Genera- Es ist richtig, dass viele Konsumenten nicht Nr. 43/2002, Terrorismus: tion (Jahrgang 1943), die Ursachen des Ter- wissen, was die Pillen enthalten, die sie Peter Homann über den Märtyrerwahn der RAF rorismus auch noch verstehen zu wollen, zum ersten Mal nehmen. Statt unabhängi- wenn es längst nicht mehr um Politik oder gen Gruppen wie zum Beispiel Eve & Rave Peter Homann schrieb: „… ob al-Quaida soziale Missstände geht, sondern schlicht die Möglichkeit zu geben, regelmäßig Lis- oder RAF – politisch von rechts bis links um Kriminalität auf unterstem Niveau. Im ten zu erstellen, die Inhaltsstoffe und Do- und quer durch alle Fundamentalismen tra- bewaffneten Kampf gegen „Schweinesys- sierung aufzeigen, wird dieses „Drug gen Sektenanhänger und religiöse Fanati- teme“ sind sich die Erleuchteten mit ihren Checking“ in Deutschland kriminalisiert. ker den gleichen Wappenspruch vor sich Macht- und Mordgelüsten alle gleich, und Die Gefahr, die von Drogen ausgeht, kann her: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ alle haben sie ihre selbst gestrickten Recht- nur durch Aufklärung vermittelt und ver- Ich stimme Herrn Homann zu, finde es fertigungsformeln, ob mit dem eigenen ringert werden, nicht durch Panikmache. aber umso befremdlicher, dass die Quelle, einen Gott oder ohne. Mir graut ohne Berlin Dirk Jäckel die diesen „Wappenspruch“ kürzlich und Ausnahme vor missionarischen Heilsleh- wörtlich zum Besten gab, der Präsident der rern, die sich nicht einmal entblöden, Vereinigten Staaten von Amerika ist – den Tiervergleich zu missbrauchen. Armes George W. Bush. Schwein! Trier Jens Steine Bad Homburg (Hessen) Wolfgang Wawrzyniak

Peter Homann hat es verstanden, klar und präzise den Größenwahn des Muttersöhn- Einseitig einkassiert chens Baader und seiner Mit- und Irrläu- Nr. 43/2002, Steuern: Wenn das Bankgeheimnis gekappt fer aufzuzeigen. In ihrer mörderischen Ar- wird, droht dem Land eine gewaltige Kapitalflucht roganz forderte die RAF die Selbstbespie- gelung der Nazi-Väter und offenbarte doch Sie berichten, dass die neue Bundesregie- in ihrer Brutalität und Menschenverach- rung plant, die „Spekulationsfrist“ für Im- tung dieselbe Grundmentalität. Die Selbst- mobilien aufzuheben und die Gewinne aus morde von Stammheim dienten den ver- Grundstücksverkäufen generell zu besteu-

zweifelten und gefährlichen Nachgenera- ern, selbst dann, wenn die Anschaffung VERLAG BRÜCKNER / BERLINER W. tionen als Dogma und Rechtfertigung ihres der Immobilien Jahrzehnte zurückliegt. Techno-Party in Berlin Krieges. Allein dies entlarvt die Erbärm- Bei dieser Darstellung haben Sie auf etwas Aufklärung ohne Panikmache lichkeit dieser Scheinideologie. Die Kapi- Wesentliches nicht hingewiesen: Der zu tulation und Sinnlosigkeit der RAF mani- versteuernde Veräußerungsgewinn ist näm- Es erschreckt mich zutiefst, dass wir zu- festierte sich nirgends deutlicher als im lich nicht nur die Differenz zwischen Ver- nehmend von potenziellen Zombies um- „Deutschen Herbst“. Homann war einer äußerungserlös und Anschaffungskosten, geben sind. Hier ist aggressive Aufklärung der wenigen, der den Wahnsinn der Grup- er ist vielmehr um die geltend gemachten schon in den Schulen dringend nötig. pe früh erkannte. Dafür gebührt ihm trotz Abschreibungen und Sonderabschreibun- Kahl (Bayern) Astrid Peter anfänglicher Lebensirrtümer ein gewisser gen zu erhöhen (§ 23 Abs. 3 Satz 4 EStG). Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Respekt. Seit Bestehen der Bundesrepublik ist im- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Wabern (Schweiz) Marc-Thomas Iseli mer wieder versucht worden, durch steu- Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] erliche Anreize insbesondere den Woh- Wegen des mindestens partiell auch sym- nungsbau für Investoren attraktiv zu ma- bolischen Protestcharakters gerade der chen, zuletzt in ganz massiver Weise mit bundesrepublikanischen Studentenbewe- dem Fördergebietsgesetz. Diese Abschrei- Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Postkartenbeihefter der Firmen Cosmos, Saarbrücken, gung vor der Folie ihres zeitgeschichtlichen bungen werden nunmehr unter Außer- und des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg. In einer Teil- Zusammenhangs gewann die RAF seiner- achtlassung der in einer zivilisierten Welt auflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden sich ein Pro- zeit eine gewisse empathische Verankerung üblichen Vertragstreue einseitig wieder ein- spektbeikleber der Firma Ökologischer Landbau, Bonn, sowie Beilagen der Firmen Azienda Cassine di Pietra, St. in Kreisen der Intelligenz. So wallfahrteten kassiert. Das hat entgegen der bisherigen Pietro Mussolino, Egle, Pfaffenhofen, Fujitsu, Bad Hom- Geschäftsgrundlage zur Folge, dass in den burg, „Financial Times Deutschland“, Hamburg, und Wirt- * Am 27. Oktober 1977 in Stuttgart. meisten Fällen mehr als die Hälfte des Ver- schafts-Medien AG/Bilanz, Zürich.

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Werbeseite Panorama Deutschland

CHEMIEWAFFEN Deutsche Technik für Libyen rstmals seit Jahren steht wieder ein deutscher EIndustriebetrieb in Verdacht, Teile für die be- rühmt-berüchtigte ehemalige Giftgasfabrik im liby- schen Rabita geliefert zu haben. Die Staatsanwalt- schaft in Lüneburg ermittelt gegen zwei Mitarbeiter einer niedersächsischen Firma, die 1999 eine in Rabi- ta installierte Filteranlage in Stand setzte, die Wasser für den Gebrauch bei der Chemikalienproduktion reinigt. Den beiden Beschuldigten, darunter der ehe- malige Geschäftsführer des Betriebs, drohen wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Außenwirt- schaftsgesetz mindestens zwei Jahre Haft. Der Ex- port im Wert von 510000 Mark war vom Bundesaus-

fuhramt (Bafa) nur deshalb genehmigt worden, weil (KL.) / REUTERS NGWENYA JUDA die Libyer als Empfänger der Ersatzteile eine Phar- Giftgasanlage im libyschen Rabita (Satellitenaufnahme), Gaddafi mafirma bei Tripolis genannt hatten. Vertreter der deutschen Botschaft fuhren eigens zu der Fabrik und über- ren gebaute Giftküche hatte die deutsche Industrie weltweit in zeugten sich, dass dort keine Chemiewaffen produziert werden. Verruf gebracht („Auschwitz in the sand“). Bereits im Frühjahr Als ein Montageleiter der Firma dann anreiste, erklärten ihm die wurde die Firma durchsucht; das Bafa erklärte den Ermittlern, Libyer, die Ersatzteile müssten in Rabita installiert werden. Die ein Export nach Rabita wäre nie genehmigt worden. Derzeit wird deutschen Behörden wurden über den brisanten Wechsel des in Rabita, wo das Regime von Revolutionsführer Gaddafi bis 1990 Standorts nicht informiert. Erst im Herbst 2001 fiel auf, dass der Nervengas herstellen ließ, nach Überzeugung von westlichen Ge- Besteller der Ersatzteile, die libysche National Company for heimdiensten kein Kampfstoff produziert. Weil Libyen aber sein Pharmaceutical Industries, bereits früher für Rabita tätig gewe- C-Waffen-Programm nicht aufgegeben haben soll und in Rabi- sen war und noch im vergangenen Jahr auf einer Warnliste des ta noch die technischen Einrichtungen vorhanden sein sollen, Bundeswirtschaftsministeriums stand. Die in den achtziger Jah- gelten entsprechende Exporte als höchst sensibel.

master“ C-17 vom US-Herstel- SPD ler Boeing geleast hat. Der Militairbus hingegen steht Nachfolger für Machnig frühestens 2009 in nennens- werter Anzahl zur Verfügung. ranz-Josef Lersch-Mense, 50, soll Ausgerechnet Deutschland, Fneuer Bundesgeschäftsführer der größter Besteller des A400M, SPD werden. Generalsekretär Olaf hat nun den Vorsitz in einer Scholz will den gebürtigen Rheinlän- Arbeitsgruppe, die den Lea- der dem Parteipräsidium als Nachfolger sing-Plan umsetzen soll. Die von Matthias Machnig, 42, vorschlagen. Rede ist von einem „langfristi- Lersch-Mense, schon zu Zeiten Hel- gen“ Mietvertrag für zehn bis mut Schmidts im Kanzleramt und Boeing-C-17-Militärtransporter zwölf Maschinen – mit ge- später in der SPD-Bundestagsfraktion schätzten Kosten von jährlich tätig, ist derzeit Abteilungsleiter (Poli- LUFTTRANSPORT einer halben Milliarde Euro. Militärs ver- tik, Koordinierung, Zielgruppen) in der muten hinter dem Brüsseler Vorstoß ei- Berliner Partei- Leasen statt kaufen? nen Angriff der US-Rüstungslobby auf zentrale. Er soll Airbus: Noch ist der Bauvertrag nicht in sein Amt am m bis zur Einsatzreife des Kraft. Aus Geldnot verhandelt Berlin 1. Januar 2003 UMilitärtransporters Airbus A400M derzeit mit den A400M-Partnern Frank- antreten. Der zu überbrücken, sollen die europäischen reich und Großbritannien, ob die deut- niedersächsische Nato-Verbündeten anderweitig Groß- sche Order von 73 auf etwa 60 Exempla- Landesgeschäfts- raumflugzeuge mieten – in den Vereinig- re verringert werden kann. London und führer Heino ten Staaten. Die USA und Nato-Gene- signalisieren zwar Verständnis, stel- Wiese, 50, der ralsekretär George Robertson lobten len aber Bedingungen. So dürfe die Ge- für den Job eben- vorige Woche bei einem Staatssekretärs- samtzahl – geplant sind 196 Exemplare falls im Gespräch

Treffen in Brüssel Großbritannien, für acht Länder – nicht unter 180 Stück DARCHINGER FRANK war, bleibt in das bereits vier Jets des Typs „Globe- fallen, sonst rentiere sich der Bau nicht. Lersch-Mense Hannover.

der spiegel 45/2002 17 RAINER JATSCH-KOESLING / ACTION PRESS (L.); KNUT MÜLLER (R.) MÜLLER PRESS (L.); KNUT / ACTION JATSCH-KOESLING RAINER Objektschützer vor dem Hambur- ger US-Konsulat, Zammar (2001)

TERROR sestadt ins Auge gefasst. Unklar freilich ist, unter welchen Um- ständen die Verhöre in Syrien stattfinden. Das Hamburger Ob- jekt, so Zammar, sei ausgespäht worden; die Gruppe habe aber Hamburger wegen der hohen Sicherheitsvorkehrungen einen Anschlag für schwer durchführbar gehalten und von dem Plan Abstand ge- nommen. Bombenplan? Monate später vermittelte Zammar der Gruppe um Atta eine Ausbildung in Qaida-Lagern in Afghanistan. Dort sollen auch adikale Muslime im Umfeld der Hamburger Terrorzelle die Anschläge vom 11. September besprochen worden sein. Rum den Todespiloten Mohammed Atta haben offenbar An- Der gebürtige Syrer Zammar, der die deutsche Staatsbürger- schläge in Deutschland erwogen. Der in Syrien inhaftierte Mo- schaft besitzt, war Ende vergangenen Jahres in Marokko fest- hammed Haydar Zammar, 41, hat bei Vernehmungen ausgesagt, genommen und nach Syrien verschleppt worden. Sollte ihm der er habe mit mehreren anderen Hamburger Islamisten 1998 ei- Nahost-Staat keinen Prozess machen, wollen sich deutsche Er- nen Bombenanschlag auf das US-Generalkonsulat in der Han- mittler um seine Auslieferung bemühen.

PROZESSE HOCHSCHULEN bar. Zudem halten Experten es für möglich, dass die Verwaltungsgerichte Nachschlag für Krause Rechtsweg gegen Tests anderer Bundesländer ähnlich ent- scheiden könnten. Nur für das Fach x-Bundesverkehrsminister Günther niversitäten droht möglicherweise Medizin, in dem bereits seit den siebzi- EKrause (CDU), der sich seit Ende April Ueine Klagewelle wegen so genann- ger Jahren vorwiegend mit vorgegebe- vor dem Rostocker Landgericht wegen des ter Multiple-Choice-Prüfungen: Nach nen Antworten geprüft wird, gilt dies Verdachts auf Betrug, Untreue und Steuer- einem Gerichtsbeschluss sind Tests, bei nicht, da die ärztliche Approbations- hinterziehung verantworten muss, droht ein denen mehrere Antworten zur Wahl ordnung solche Tests ausdrücklich vor- weiterer Prozess: Die Staatsanwaltschaft der stehen, unter Umständen rechtswidrig. sieht. Hansestadt hat jetzt eine Das Sächsische Oberver- Nachtragsanklage erho- waltungsgericht in Baut- ben, in der dem einstigen zen gab einem Studen- DDR-Unterhändler des ten der Wirtschaftsinfor- Einheitsvertrags Insol- matik Recht, der durch venzverschleppung, eine Prüfung im Fach Bankrott und das Vorent- Betriebswirtschaftslehre halten von Arbeitnehmer- gefallen war und ge-

beiträgen zur Sozialversi- / DDP JENS KOEHLER klagt hatte, weil der Test cherung vorgeworfen Krause teilweise im Multiple- werden. Die neuen Er- Choice-Muster ablief. kenntnisse verdanken die Ankläger Berliner Nach Ansicht der Rich- und Düsseldorfer Kollegen, die im Umfeld ter bedarf es für derarti- der „Aufbau-Investitionen Prof. Dr.-Ing. ha- ge Prüfungen besonde- bil. Günther Krause GmbH“ ermitteln. rer Regelungen in den Krause, so seine Verteidigerin Dietlind Examensordnungen. In Schnabel, hat „die Einbeziehung der neuen Sachsen sind nun alle Anklage in das laufende Verfahren abge- Multiple-Choice-Exami-

lehnt“. Die Vorwürfe müssen daher wohl in na der vergangenen / ARGUS SCHWARZBACH HARTMUT einem neuen Verfahren verhandelt werden. zwölf Monate anfecht- Studenten bei einer schriftlichen Prüfung (in Kiel)

18 der spiegel 45/2002 Deutschland

POLITIKER Der inspirierte Enkel ei seiner Regierungserklärung am vorigen Dienstag hat sich Bundeskanzler BGerhard Schröder (SPD) offenbar bei einem seiner Amtsvorgänger bedient, nämlich bei . Der hatte am 18. Januar 1973 das Programm seiner Koalition so überzeugend vorgetragen, dass sich sein politischer Enkel nun von einigen Passagen deutlich inspirieren ließ. Schröder: Brandt: Innovationen, wie wir sie uns vorgenom- Reformen in den Dimensionen, die wir für men haben, brauchen … einen langen die Entwicklung in unserem Lande geöff- Atem. net haben, brauchen einen langen Atem. ™ ™ Denn das ist der Maßstab unserer Poli- So unterstelle ich die Aufgaben meiner tik: Sie hat sich im Alltag der Menschen Regierung bewusst der Forderung nach zu bewähren. der Bewährung im Alltag. ™ ™ Es ist jetzt nicht die Zeit, immer nur Wer nur neue Forderungen stellt, ohne neue Forderungen zu stellen, ohne zu zu neuen Leistungen bereit zu sein, wird neuen Leistungen bereit zu sein. der Lage, auch der eigenen Interessenla- ge, nicht gerecht. ™ ™ Mehr Wachstum und mehr Produktion be- Mehr Produktion bedeutet aber noch deuten nicht automatisch mehr Freiheit nicht automatisch mehr Freiheit für den für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqua- Einzelnen. Lebensqualität ist mehr als lität mehr als Lebensstandard, mehr als Lebensstandard. Konsum- oder Einkommensniveau. ™ ™ Die Qualität des Lebens … heißt für Lebensqualität hat mit Freiheit zu uns: Freiheit, auch Freiheit von Angst tun. Freiheit, das heißt: Freiheit und Not, Sicherheit auch durch mensch- von Angst und Not. liche Solidarität. J. H. DARCHINGER J. MARC DARCHINGER MARC Schröder Brandt

BEHÖRDEN lar ein, das Programm errechnet dann die Rangliste der Bewerber. Für die Ent- Aufträge im Netz wicklung des Projekts hat die Stadt rund 200000 Euro ausgegeben. amburg will als erstes Bundesland Auch dem Bürger soll das Netz Behör- Hab 2003 seine öffentlichen Aufträge dengänge abnehmen. Spätestens 2004 regulär über das Internet abwickeln. Die sollen die Hamburger ihr Auto im Inter- Finanzbehörde, die als zentrale Ein- net anmelden, Bebauungspläne einse- kaufsstelle der Behörden jährlich Aufträ- hen oder, schon ab Frühjahr 2003, Aus- ge in Höhe von 67 Millionen Euro von künfte aus dem Melderegister erhalten der Gebäudereinigung bis zur Anschaf- können. Wer sich anmeldet, wird kurz fung von Fahrzeugen vergibt, erhofft überprüft und bekommt dann ein Pass- sich dadurch Einsparungen in Höhe von wort, das bei Anträgen und Formularen fünf Prozent und weniger Korruption. die Unterschrift ersetzen soll. Diese Wo- „Das schafft mehr Wettbewerb und che startet die Hansestadt ein EU-geför- größere Transparenz“, sagt Finanzsena- dertes Experiment in Online-Demokra- tor Wolfgang Peiner (CDU). Die Firmen tie: Bürger können im Netz Vorschläge tragen ihr Angebot in ein Online-Formu- zur Verbesserung der Stadt machen.

der spiegel 45/2002 19 Werbeseite

Werbeseite Panorama

Bsirske: Für uns sind drei Punkte von grundsätzlicher Bedeu- tung: keine pauschalen Leistungskürzungen, kein Missbrauch bei der Subventionierung von Selbständigkeit und kein Drehtüreffekt, der lediglich Stammar- beitsplätze durch Leih- arbeit ersetzt. Sonst haben wir ein beschäf- tigungspolitisches Null- summenspiel. SPIEGEL: Beim Arbeits- losengeld will die Bun-

MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN desregierung auf eine Bsirske Kürzung verzichten. Reicht das aus? GEWERKSCHAFTEN Bsirske: Das begrüßen wir. Es geht jetzt darum, die Hartz-Vorschläge kon- kret auszugestalten. Wir müssen ein „Zeichen auf Diskriminierungsverbot für Leiharbeit durchsetzen. Das heißt, dass für Leih- arbeiter die gleichen Arbeitszeit- Sturm“ und Lohnbedingungen herrschen wie für die Mitarbeiter der ausleihenden Frank Bsirske, 50, Ver.di-Vorsitzender, Betriebe. über die anstehende Tarifrunde SPIEGEL: Bundeswirtschaftsminister im Öffentlichen Dienst und die Um- Wolfgang Clement hatte angedacht, die setzung der Hartz-Pläne Arbeitslosenhilfe grundsätzlich abzu- senken. SPIEGEL: Das Land Berlin will mit einer Bsirske: Die Hartz-Kommission hat sich so genannten Öffnungsklausel im Be- gegen kollektive Leistungskürzungen soldungsrecht erreichen, dass Beamten- ausgesprochen. Das muss die Marsch- bezüge künftig nicht mehr bundes- route bleiben. weit gleichmäßig steigen. Was halten Sie von diesem Versuch, die Finanz- probleme der öffentlichen Hand zu Nachgefragt lösen? Bsirske: Das ist kein tragfähiges Modell und verfassungsrechtlich nicht machbar. Solidarität reicht nicht Zudem können Sie sich die praktischen Wie sollte sich die Bundesre- Probleme am Beispiel von Thüringen gierung nach dem Moskauer und Hessen anschauen. Wegen der un- Geiseldrama verhalten: Sollte terschiedlichen Gehälter in Ost und sie die russische Führung eher West wandern Lehrer nach Hessen ab, die in Thüringen fehlen. Solche Proble- auf eine friedliche Lösung des me würden weiter verschärft. Tschetschenien-Konfliktes drängen oder ihr vor allem Un- SPIEGEL: Welche Folgen hat dieser Vor- stoß für die anstehende Tarifrunde im terstützung im Kampf gegen Öffentlichen Dienst? den Terrorismus zusichern? Bsirske: Wenn dieser Weg weiter be- Friedliche Lösung des schritten wird, ist dies ein deutli- Tschetschenien- 74 % ches Signal, dass wir auf eine sehr Konfliktes ist vorrangig schwierige Tarifrunde zusteuern und uns auf einen größeren Konflikt vor- Unterstützung gegen bereiten müssen. Terrorismus ist wichtiger 20 % SPIEGEL: Die kommunalen Arbeitgeber fordern eine Nullrunde. weiß nicht Bsirske: Wenn das die Linie ist, dann 4% stehen die Zeichen auf Sturm. SPIEGEL: Die Bundesregierung möchte die Hartz-Pläne zur Arbeitsmarktre- NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 29. bis 31. form rasch umsetzen. Unter welchen Oktober; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; Bedingungen werden Sie mitmachen? an 100 fehlende Prozent: keine Angabe

der spiegel 45/2002 21 Liberale Westerwelle, Gerhardt (vergangenen Freitag in Berlin): „Persönlich schwierige Erfahrungen“ MARC DARCHINGER Projekt Größenwahn Guido Westerwelle ist ein Parteichef auf Abruf: Den mit antisemitischen Ressentiments geführten Möllemann-Wahlkampf hat er lange unterstützt, seine Beteuerung, über den Flyer nichts gewusst zu haben, wirkt unglaubwürdig: Enge Mitarbeiter der FDP-Spitze waren präzise informiert. Nach dem Höhenrausch der vergangenen Monate versinkt die Partei in Depression.

n seinen besseren Zeiten genoss er das Westerwelle, der sich vor sechs Wochen spaßt hat und dass dieser Mann sie nicht Gedränge der Fotografen wie ein bele- noch als Kanzlerkandidat bezeichnen ließ. glaubwürdig in einen weiteren wichtigen Ibendes Schaumbad. Das grelle Licht Schmal die Lippen, hohl die Wangen, die Wahlkampf führen kann. Denn selten sind der Kameras brachte seine stets übermü- Augen wie erloschen: So stand der FDP- die Ideale des politischen Liberalismus, der deten Augen zum Glühen, die frechen Fra- Chef da und fremdelte erkennbar mit sich für die Freiheit des Einzelnen gegenüber der gen regten ihn an, weil sie sich frech selbst. In seiner Erklärung nach Abschluss Staatsmacht eintritt, in so kleiner Münze ge- beantworten ließen. Und originelle Ideen der Klausur von Fraktion und Präsidium handelt worden wie in der Zeit des Vorsit- hatte er auch – Anfang 2000, auf dem tauchten Worte auf, aus denen höchste Not zenden Westerwelle. Allen öffentlichen Höhepunkt der CDU-Spendenaffäre um sprach: Westerwelle druckste etwas von Treueschwüren zum Trotz: Viele Liberale Altkanzler , forderte er mit „Vorkommnissen und Problemen“ und von sehen in dem 41-jährigen Rechtsanwalt nur maximalem Pathos („Ich bin erschüttert“) „persönlich schwierigen Erfahrungen“. Ar- noch einen Parteichef auf Abruf, der als Mo- eine „parteiübergreifende Ethikkommis- tig dankte er für „Rückendeckung unisono“ tivator für künftige Erfolge kaum mehr taugt. sion“. und versuchte verzweifelt, den alten Guido War es erst, schlimm genug, bloß die So viel pralles Selbstbewusstsein – es zu markieren: „Die FDP wird gestärkt aus Entzauberung des politischen Wunderkin- kommt wohl nie wieder. Der Mann, der dieser Klausur hervorgehen.“ des durch das schwache Wahlergebnis von am Freitagmittag vor die Kameras trat, war Da dürfte er irren, wie so oft. Auch die 7,4 Prozent am 22. September, so drückt nur noch ein Schatten jenes Dr. Guido Parteifreunde wissen ja, dass es sich ausge- den FDP-Vorsitzenden nun eine Bürde, un-

22 der spiegel 45/2002 Titel ter der schon standfestere Figuren ein- knicken mussten. Offenbar gab es schwarze Kassen in seinem Landesverband Nord- rhein-Westfalen – wer in das System ein- geweiht war, muss nun aufgeklärt werden, innerparteilich, öffentlich und vielleicht auch durch den Staatsanwalt (siehe Seite 28). Dazu kommen die drängenden Fra- gen, wer wann was über ein Flugblatt mit antisemitischen Untertönen wusste, das NRW-Parteichef Jürgen Möllemann im Wahlkampf verteilen ließ. Aufstieg und Niedergang des Guido Wes- terwelle ähneln frappierend jenen Firmen- geschichten am Neuen Markt, die im Traumland anfingen und im Nebel des Du- biosen zu Ende gingen. Im Zeitalter von In- ternet und Multimedia, in dem Geschwin-

digkeit mehr zählte als alles andere, schien AM SONNTAG BILD der verkäuferisch begabte Parteimanager Gran-Canaria-Urlauber Möllemann: Die Partei in Richtung Abgrund gezogen der richtige Mann zur richtigen Zeit. Das Projekt 18 wurde zur Chiffre für den Sprung über die Fünfprozenthürde – oder Größenwahn einer Ära, in der das Denk- eben, wie so häufig, nicht. In Gerhardts bare als das Mögliche ausgegeben wurde, Stammland verbuchte die FDP 1999 gerade in der die alten Regeln auch im politischen mal 5,1 Prozent, und bei der Bundestags- Geschäft scheinbar nicht mehr galten. Se- wahl ein Jahr zuvor musste sich die Partei riosität wurde mit „Langeweile“ übersetzt, mit 6,2 Prozent begnügen, einem der das Marketing rückte an die Stelle der po- schwächsten Ergebnisse ihrer Geschichte. litischen Debatte. Doch damit, dass immer wieder mal das Die Spekulationsblase ist mittlerweile Sterbeglöckchen für die FDP geläutet wird, geplatzt – erst am Neuen Markt und nun sind die meisten Mitglieder groß gewor- auch im politischen Geschäft. Das Projekt den. Sie halten dagegen nach der Devise, 18 gilt heute als Peinlichkeit, an die kein dass sie so schnell nichts umhaut. Mit ei- führender FDP-Politiker mehr erinnert nem brutalen Absturz, der auf den Höhen- werden möchte. Die Spaßpartei FDP – be- rausch folgt, können sie weit weniger ge- erdigt. Das Guidomobil – ausrangiert. Der lassen umgehen. Vorsitzende, der sich seine Partei „groß Die Zeit arbeitet gegen den Amtsinhaber. und famos“ wünscht, ist zur tragikomi- Was als Möllemann-Skandal begann, hat schen Figur geworden, der selbst zum sich längst zur Westerwelle-Affäre ausge- Rücktritt noch die nötige Kraft fehlt. weitet. Unstrittig ist, dass der FDP-Vorsit- Bis auf weiteres darf er im Amt bleiben, zende den antisemitischen Kurs seines da- doch ein schlechtes Ergebnis in drei Mo- maligen Vize aktiv unterstützte – und zwar naten bei den Landtagswahlen in Hessen monatelang. Selbst seine jüngste Behaup- und Niedersachsen kann ihn, der unter tung, er habe nichts gewusst von Mölle- Freunden nur noch als Leichtgewicht ta- manns Flugblatt, das kurz vor der Bundes- xiert wird, aus dem Sessel wehen. Viele tagswahl in einer Auflage von 8,4 Millionen Funktionäre sehnen sich nach dem ehe- Exemplaren verteilt wurde, ist nicht lebens- maligen Parteichef Wolfgang Gerhardt nah. Viele Indizien sprechen dafür, dass die

zurück, der stärker denn je an der Spitze Spitze des Thomas-Dehler-Hauses – der Par- / DPA GERTEN MARTIN der Bundestagsfraktion steht. teichef, die Generalsekretärin und deren Möllemann-Flugblatt In verschiedenen Gesprächen wurde er Büroleiter – sehr wohl wussten: Möllemann Kick im Wahlkampf zum Neustart aufgefordert, was Gerhardt fürs Erste ausschloss. Er hat, obwohl von Westerwelle gestürzt, dem Parteichef die enge Kooperation angeboten – womöglich enger, als dem recht ist. „Gemeinsam mit Guido Westerwelle“, so Gerhardt nach sei- ner Wiederwahl zum Fraktionsvorsitzen- den, „werde ich die Partei führen.“ Dass der sechs Jahre währende Auftritt Gerhardts als Nummer eins der FDP be- sonders glanzvoll gewesen sei, behaupten allerdings nicht einmal die Anhänger des Hessen. Unter seiner Ägide kamen die Li- beralen bei Landtagswahlen aus dem Zit- tern nicht heraus, ob es denn reiche für den

* Vergangenen Mittwoch auf dem Flughafen Münster- / JUERGEN PEPERHOWE NACHRICHTEN WESTFAELISCHE Osnabrück. Möllemann-Heimkehr*: Düstere Prophezeiungen

der spiegel 45/2002 23 Titel hatte noch was vor. Sie ließen ihn gewähren, wohl in der Hoffnung, ein Wahltriumph werde lästige Fragen übertönen – und We- sterwelle ins Bundeskabinett katapultieren. Es ging dem ungleichen Duo darum, die FDP „neu zu navigieren“, wie es der Par- teienforscher Franz Walter nennt: Dyna- misch und skrupellos wollten die zwei aus Nordrhein-Westfalen eine „Kampftruppe der Staatsverdrossenen, der Steuerverwei- gerer, der Verächter der politischen Kor- rektheit, der mittel- und unterschichtigen Empörtheiten“ zu- sammentrommeln. Beide träumten nämlich, bei aller persönlichen Riva- lität, den gemein- samen Traum vom Durchbruch zur „Partei für das ganze Volk“ (Westerwelle). Dem „Projekt 18“

wurde in den ent- OSSENBRINK FRANK scheidenden Wahl- Westerwelle-Vertrauter Kapferer, Kapferer-Brief: Doppelmoral des Vorsitzenden kampfmonaten alles untergeordnet – die politische Moral und Doch stoppen wollte er Möllemann of- Der Großteil der 8,4 Millionen Wurf- auch die Eifersüchteleien des Spitzenduos. fenbar zu keinem Zeitpunkt – auch nicht in sendungen lag bei der Post; am nächsten Wie siamesische Zwillinge, die in Hass- der Endphase des Wahlkampfs, als der Tag, dem Dienstag vor der Bundestags- liebe verbunden sind und erst im Tod von- NRW-Chef seinen heute umstrittenen Fly- wahl, wurden sie an sämtliche Haushalte in einander loskommen, haben sie ihren er in Auftrag gab. Westerwelle behauptet, Nordrhein-Westfalen verteilt. schmutzigen Wahlkampf geführt. Der eine er habe erst am Montag, dem 16. Septem- Am vergangenen Mittwoch musste Wes- gab den Scharfmacher, der andere ge- ber, am „Rande einer Wahlkampfveran- terwelle auf einer eilig angesetzten Presse- währte den Flankenschutz. Der Vize rü- staltung“ davon erfahren. Im Ruhrgebiet konferenz zugeben, dass zumindest sein pelte offen gegen Juden und den Staat Is- hatten Postboten bereits einige Faltblätter Büro schon sehr viel früher mit der Ange- rael, der Vorsitzende ließ ihn gewähren, so zugestellt. Zu spät also, um die Aktion legenheit befasst war. Am 7. September ist lange wie möglich. noch verhindern zu können. dort der Brief eines nordrhein-westfäli-

tag in Nürnberg wirbt Mölle- DEZEMBER Chronik eines mann für seine 18-Prozent- Westerwelle erklärt in einer Machtkampfs Strategie. Vorstandssitzung in Dort- AUGUST mund, auf dem Bundes- parteitag im Mai nun doch Möllemann erklärt, er wolle 2000 gegen Gerhardt antreten selbst Parteivorsitzender MAI zu wollen. werden, wenn die FDP- Jürgen W. Möllemann fordert Spitze beim Projekt 18 2001 FDP-Chef Wolfgang Gerhardt nicht mitziehe. auf, den Parteivorsitz zu JANUAR Gunsten von Guido Wester- OKTOBER Bei einem Vier-Augen-Ge- welle aufzugeben. Wester- Möllemann wiederholt spräch im Hamburger Hotel Moderator welle betont, er werde nicht seine Angriffe gegen Ger- Atlantic gibt Gerhardt auf. Friedman gegen Gerhardt antreten. hardt und fordert Wester- Westerwelle soll im Mai STRATMANNOLIVER / DPA JUNI welle auf, den Parteivorsitz neuer FDP-Chef werden. betriebene Nominierung ei- 2002 zu übernehmen. Gerhardts Bedingung: kein Auf dem FDP-Bundespartei- nes FDP-Kanzlerkandidaten 4. APRIL Spitzenkandidat Möllemann festlegen. Sein Argument: Möllemann sagt in einem im Bundestagswahlkampf. Das sei eine „Umdrehung Interview, wenn er Palästi- Möllemanns Pressestelle der Schraube zu viel“. verbreitet eine Karikatur, die nenser wäre, würde er sich Möllemann als Raubfisch MAI „auch wehren, und zwar zeigt, der gegen den Strom mit Gewalt“. Viele sehen Westerwelle wird neuer FDP- kleiner Fische schwimmt. darin eine Rechtfertigung Titel: „Einer muss es ja tun“ Bundesvorsitzender, Mölle- für Selbstmordattentate. mann einer seiner Stell- MÄRZ vertreter. Westerwelle dankt 23. APRIL Auf einem Landesparteitag Möllemann, dass er das Der Deutsch-Syrer Jamal in Bochum verhindert Wes- Projekt 18 entwickelt habe, Karsli tritt von den Grünen terwelle, dass sich die nord- lehnt aber dessen Forde- zur FDP-Fraktion im Düssel- Möllemann- rhein-westfälischen Libera- rung nach einem FDP-Kanz- dorfer Landtag über. Die Freund Karsli

YAVUZ ARSLANYAVUZ / FOTOARCHIV DAS len auf die von Möllemann lerkandidaten erneut ab. Aufnahme stößt auf heftige

24 der spiegel 45/2002 der Fax-Kennung der Neusser FDP berichtet der libera- le Stadtrat Michael Riedl seinem Partei- vorsitzenden von ei- nem Möllemann- Auftritt am Abend zuvor: „Mit Entset- zen habe ich gestern auf einer Veranstal- Westerwelle-Büroleiterin Tampe, Erklärung: „Alles, was dazu gehört“ tung deutsch-arabi- scher Vereine die Ankündigung von Jürgen Möllemann gehört, jetzt kurz vor der entscheiden- den Wahl am 22. September einen Flyer/Folder an alle Haushalte in NRW (8,4 Mio. Ex.) her- auszubringen, wo

FRANK OSSENBRINK FRANK drei Fotos (Mölle- Pieper-Büroleiterin Renatus, Erklärung: „Jeder Tag wird zum Erlebnis“ mann, Scharon, Friedman) auf einer schen Kommunalpolitikers eingegangen, die beiden verantwortlichen Mitarbeiter um- Seite erscheinen sollen mit der Unter- der auf Möllemanns Pläne hinwies. „Der gehend von ihrer Funktion entbunden. schrift: Sie haben die Wahl. Ich bitte Sie in- Brief ist mir selbst nicht vorgelegt worden. Das klang so und sollte auch so klingen, ständig, versuchen Sie alles, diesen Son- Die Abzeichnungen der Mitarbeiter auf als hätten zwei untergeordnete Angestellte derwahlkampf in NRW zu verhindern.“ dem Schreiben dokumentieren dies“, be- im Thomas-Dehler-Haus die Sache versiebt. Vor überwiegend arabisch geprägtem hauptet Westerwelle. Eine Büropanne eben, wie sie Tag für Tag in Publikum berichtete Möllemann am Vorsorglich streute er sich Asche aufs jeder großen Organisation passieren kann. Abend des 6. September von der Son- Haupt: „Die Tatsache, dass mir der Brief Westerwelle weiß es besser. deraktion, die er für die letzte Woche vor nicht vorgelegt wurde, ist jedoch auch unter Am Samstag, dem 7. September, sprang der Bundestagswahl plante. Wieder kriti- Berücksichtigung der Vielzahl der Postein- in seinem Büro um 9.15 Uhr das Faxgerät sierte er Israel und verband dies mit der gänge eindeutig ein Fehler.“ Und so habe er an. In einem halbseitigen Schreiben mit Aufforderung, FDP zu wählen. Riedl ver-

öffentliche Kritik. Karsli hat- Der befördere mit seiner 6. JUNI holt. Westerwelle findet das 4. OKTOBER te Israel „Nazi-Methoden“ „intoleranten, gehässigen Nach einem Ultimatum „nicht sehr vernünftig“. FDP-Schatzmeister Günter vorgeworfen, in einem Inter- Art“ den Antisemitismus. Westerwelles entschuldigt Rexrodt fordert Möllemann view für die Rechtspostille sich Möllemann bei „jüdi- 22. SEPTEMBER 18. MAI auf, die Spender für seinen „Junge Freiheit“ tönt er schen Menschen“. Gleich- Bei der Bundestagswahl Flyer zu nennen. später, eine „zionistische Nach den Ehrenvorsitzenden zeitig wiederholt er seine erreicht die FDP nur 7,4 Lobby“ habe „den größten und Angriffe gegen Friedman. Prozent. Westerwelle sieht 7. OKTOBER Teil der Medienmacht in Hans-Dietrich Genscher der Welt inne“. fordert schließlich auch Möllemann liegt mit Herz- Parteichef Westerwelle, rhythmusstörungen in 12. MAI die Aufnahme Karslis in die einer Klinik. Der NRW- Auf dem Bundesparteitag in FDP rückgängig zu machen. Sonderparteitag, der über Mannheim wird Westerwelle sein weiteres politisches zum FDP-Kanzlerkandidaten 22. MAI Schicksal entscheiden soll, gewählt. Zu seinem Mei- Karsli zieht seinen Antrag wird verschoben. nungswandel sagt er: zur Aufnahme in die FDP „Was vor einem Jahr falsch wieder zurück. In der FDP- 20. OKTOBER Landtagsfraktion will er Möllemann, der sich auf war, kann in diesem Jahr Vorsitzender richtig sein.“ als Parteiloser mitarbeiten. Gran Canaria aufhält, erklärt Westerwelle, seinen Rücktritt als NRW- Möllemann spricht von Vize Möllemann

15. MAI „öffentlicher Hetzjagd“ und BENSCHFABRIZIO / REUTERS Landes- und Fraktionschef. Karsli wird im Kreisverband wiederholt seine Angriffe Karsli verlässt die FDP- in Möllemann die „Haupt- 30. OKTOBER Recklinghausen als FDP- gegen Friedman. Landtagsfraktion. ursache“ für das Wahl- Westerwelle räumt ein, Mitglied aufgenommen. debakel. 31. MAI 17. SEPTEMBER dass sein Büro bereits 16. MAI Anfang September schrift- Auf einer Krisensitzung des Möllemann lässt in NRW 23. SEPTEMBER Möllemann verteidigt Karsli FDP-Bundesvorstands ge- per Postwurfsendung einen lich vor dem anti-israeli- und greift den Vizepräsi- lingt es Westerwelle nicht, Flyer verteilen, in dem er Möllemann tritt von schen Flyer Möllemanns denten des Zentralrats Möllemann zu einer Ent- seine Kritik an Israels seinem Amt als stell- gewarnt worden sei. der Juden in Deutschland, schuldigung bei Friedman Premier Ariel Scharon und vertretender FDP-Bundes- Er selbst sei jedoch nicht Michel Friedman, an. zu bewegen. an Michel Friedman wieder- vorsitzender zurück. informiert worden.

der spiegel 45/2002 25 Titel

leiterin von FDP-Generalsekretärin Cor- nelia Pieper. Auch Renatus („Lebensmotto: Öffnet man die Augen, wird jeder Tag zum Er- lebnis“) soll die Brisanz des Schreibens nicht erkannt haben. Auch sie versichert in einer „Dienstlichen Erklärung“, sie habe Westerwelle „weder mündlich noch in an- derer Weise“ über den Brief informiert und ihn stattdessen am 10. September „mit der Bitte um Bearbeitung an den Hauptge- schäftsführer des Landesverbandes Nord- rhein-Westfalen“, den Möllemann-Ver- trauten Hans-Joachim Kuhl, weitergelei- Auf einem Krisentreffen fragt Westerwelle, ob er Konsequenzen ziehen müsse.

tet. Angeblich erfährt auch die Generalse- kretärin nichts von der Möllemann-Aktion. Ihr Büro habe den Brief nicht erhalten, ließ Pieper am Freitag ausrichten. Sie habe ihn bis zum 30. Oktober nicht gekannt. Stattdessen also landete der Warnhin- weis auf der Täterseite. Kuhl, einer der

FRANK OSSENBRINK FRANK engsten Möllemann-Spezis, ist inzwischen Parteifreunde Westerwelle, Möllemann*: Kampftruppe der Staatsverdrossenheit beurlaubt und hat sich in sein Ferienhaus im südspanischen Alicante zurückgezogen. ließ die Versammlung mit einer „gehörigen Ausgerechnet Westerwelles engste Mit- Mit der Außenwelt kommuniziert er per Wut im Bauch“, wie er später berichtete. arbeiterin also soll die Brisanz des Briefs Anwalt. Westerwelle, so hoffte er, werde Mölle- nicht erkannt haben? Dabei hatte Mölle- Fassungslos musste Briefschreiber Riedl mann noch rechtzeitig stoppen können: manns Spiel mit antisemitischen Klischees mit ansehen, wie Westerwelle später immer „Ich danke Ihnen, dass Sie dieses Thema doch wochenlang die politische Debatte wieder behauptete, er habe von dem Flug- ernst nehmen, und hoffe, dass diese Aktion der Republik beherrscht. blatt erst am 16. September erfahren. Es sei nicht Realität werden wird.“ Die Büroleiterin („Meine persönlichen „ein Schock“ gewesen, dass Möllemann Riedl hoffte vergebens. Er hat bis heute Favoriten: Wolken gucken, die Seele bau- diese „alte und unappetitliche Debatte“ keine Antwort auf seinen Brief erhalten. meln und die Phantasie laufen lassen“) wieder aufgewärmt habe, sagte der Partei- Doch das Schreiben ist der Parteizen- zeichnete das Fax in hellblauer Tinte mit chef dann im Fernsehen. trale keineswegs entgangen. Am Montag, ihrer Paraphe ab und bat dann die Abtei- Am 26. Oktober schrieb Riedl einen dem 9. September, fand Heidrun Tampe, lung „Strategie und Kampagnen“ im Deh- zweiten Brief, dieses Mal an Schatzmeister Westerwelles Büroleiterin, das Fax auf ler-Haus, den Vorgang zu übernehmen Günter Rexrodt („persönlich“). Noch ein- ihrem Schreibtisch. („suk bitte ü“). Dort erhält Gabriele Re- mal schildert er den Abend in Neuss und Auf der Homepage der FDP beschreibt natus den Brief des Neusser Kommunal- bittet nun Rexrodt einzuschreiten: „Viel- sie ihre Aufgaben so: „Komplettmanage- politikers. Sie ist die stellvertretende Lei- leicht kann dies ein kleiner Baustein sein, ment des Bundesvorsitzenden-Büros mit terin der Abteilung und gleichzeitig Büro- die Affäre zu lösen.“ allem, was dazu gehört (Rede- Ungeöffnet landete das und Textbausteine, Korre- Schreiben am Dienstag ver- spondenz, Kontakte, Termine, gangener Woche auf Rexrodts Termine, Termine etc. pp.).“ Abgeordnetenschreibtisch. Der In einer „Dienstlichen Er- Schatzmeister war nicht da. klärung“ vom vergangenen Sein Sohn hatte sich um einen Mittwoch versichert Tampe, Studienplatz an der London sie habe das Riedl-Fax am 9. School of Economics bewor- September „direkt, ohne dass ben, und so war der Vater für es dem Bundesvorsitzenden einen Tag in die britische Dr. Guido Westerwelle zur Hauptstadt gereist. Kenntnis gebracht worden Rexrodt öffnete Riedls war, in den Geschäftsgang der Brief erst am Mittwochvor- Bundesgeschäftsstelle“ der mittag. Dass er politischen FDP gegeben: „Ich habe Herrn Sprengstoff in den Händen Westerwelle bis zum 30. Ok- hielt, erkannte der Polit-Profi tober 2002 weder mündlich sofort. Bereits „drei Minuten noch in anderer Weise über später“ habe er sich mit Wes- dieses Schriftstück informiert.“ terwelle verbinden lassen. Der aufgescheuchte Partei-

* Im Februar im Gelsenkirchener Park- SIMON SVEN chef trommelte um zwölf Uhr stadion. FDP-Politiker Scheel, Flach (1972): Liberale Größen am Rande der Bundestagssit-

26 der spiegel 45/2002 Werbeseite

Werbeseite Titel Glatte Beträge, viel Bares In NRW suchen Liberale und Fahnder nach weiteren Spuren dubioser Möllemann-Gelder.

Auch während der Vor- bereitung des Bundes- tagswahlkampfs 2002 ha- be Möllemann „hoch und heilig geschworen“, so ein Landesvorständ- ler, für die geplanten 75 Absprünge würde der Landesverband „kein Geld“ zahlen müssen. Aber wo kam es her? Schließlich dürften Möl- lemanns Sprünge mindes- tens 50000 Euro gekostet haben, schätzen Insider, andere sprechen von ei- ner Viertelmillion. Seit Dienstag letzter Woche liegt beim Land- gericht in Münster eine 15-seitige Schrift nebst zwölf Anlagen. Die Partei will die Wahrheit einkla- gen; ihre Düsseldorfer Anwälte haben beantragt, Möllemann müsse inner- halb von zwei Wochen Auskunft über den tat-

FRANK OSSENBRINK FRANK sächlichen Ablauf der Düsseldorfer FDP-Landtagsfraktion, Ex-Chef Möllemann*: „Hoch und heilig geschworen“ Flyer-Aktion sowie die wahre Herkunft der Gel- s war ein schöner Wahlkampfgag, Schattenfinanzierung, vielleicht Steuer- der geben, und er müsse an Eides statt die und noch schöner – er war „um- hinterziehung, um schwarze Kassen. Richtigkeit seiner Angaben versichern. Esonst für den Kreisverband“, er- Bislang dreht sich alles um eine Million Möllemanns Kieler Anwältin Annette innert sich Ute Dreckmann, Vorsitzende Euro und die Finanzierung eines anti- Marberth-Kubicki, die den angeblich noch der Liberalen in Bochum und Mitglied israelischen Flyers Möllemanns, der sich immer gesundheitlich Angeschlagenen ge- des Landesvorstands in NRW: Vor der dabei mal einer offiziellen Kasse bedien- meinsam mit dem Frankfurter Rechtsan- Bundestagswahl 1998 war der FDP- te, mal einer geheimen. walt Eberhard Kempf vertritt, gibt sich Zampano und Fallschirmspringer Jürgen Aber der Verdacht liegt nahe, er könn- dazu wortkarg: „Es geht ihm nicht gut. W. Möllemann auch auf Bochum her- te noch anderswo dubiose Gelder lie- Deshalb wird es unsererseits auf abseh- abgeschwebt, wie auf so viele deutsche bare Zeit keine Stellungnahme geben.“ Städte. „Ich habe den Verdacht, Kaum war die Auskunftsklage in Müns- Fallschirmspringen ist ein teurer Spaß, ter eingetroffen, wurde freilich auch die doch niemand fragte den Mann damals, dass hier Mitarbeiter Düsseldorfer Staatsanwaltschaft aktiv: wer das alles bezahlte, es war einfach missbraucht wurden.“ Am Mittwoch voriger Woche teilte sie „üblich, dass Möllemann Wahlkampf auf den Präsidien von NRW-Landtag und eigene Kappe machte“, so Dreckmann. gen haben. Und besonders schwer wie- Bundestag mit, sie wolle gegen den Ab- Inzwischen ist sie schlauer: „Aus heutiger gen die Vorwürfe, die erboste Liberale geordneten Möllemann ein Ermittlungs- Sicht hätten wir uns das fragen müssen – selber gegen ihren einstigen Vorturner verfahren einleiten – wegen eines mögli- aber wer hätte Möllemann schon krimi- erheben. chen Verstoßes gegen das Parteiengesetz. nelle Energie zugetraut?“ Bei der NRW-Landtagswahl im Jahr Noch schützte da die parlamentarische Jetzt ermitteln Staatsanwälte gegen den 2000 etwa klotzten die Liberalen gewaltig: Immunität den Doppel-Mandatsträger. zweifachen Minister außer Diensten: Angeblich lag ihr Etat bei drei Millionen Von Beginn dieser Woche an aber ist Razzien drohen, die FDP zerrt ihn vors Mark. Aber sie langten hin wie die Kon- Möllemann nicht mehr sicher: Weder Gericht. Es geht um viel Bargeld, um kurrenz von der CDU mit gut sechs Mil- Bundestagspräsident lionen Mark – teure Großplakate, Fern- noch NRW-Landtagspräsident Ulrich * Bei einer Fraktionsreise nach Prag im Juni 2001. sehspots, Kinowerbung. Schmidt (beide SPD) legten Veto ein.

28 der spiegel 45/2002 Bald schon könnten Er- mittler also weitläufig durch- suchen: bei Möllemann da- heim in Münster, beim Lan- desverband und in der Frak- tion. Darüber hinaus werden möglicherweise Kassen und Banken um ihre Unterlagen gebeten. Ein Fahndungsmit- tel dürfte die Ermittler be- sonders interessieren – Vi- deofilme von den Schaltern der Geldinstitute. Die könn- ten bei der Enttarnung jener Einzahler hilfreich sein, die ein spezielles Möllemann- Konto für die Finanzierung des Flyers füllten. Vielleicht begegnet den Fahndern dabei ein bekann- tes Gesicht: Landesgeschäfts- führer Hans-Joachim Kuhl, fürchten inzwischen rang- hohe Düsseldorfer und Ber- liner FDP-Leute, könnte wo- möglich einer von Mölle- manns Geldboten gewesen Flyer-Rechnungen von Druckerei, Post: „Kriminelle Energie“? sein. Parteiinterne Aufklärer fragen sich, ob Kuhl möglicherweise gen sei als Verwendungszweck meist zung alle verfügbaren Präsidiumsmitglie- Mitarbeitern der FDP-Geschäftsstelle „BT092202“, „WKJWM“, „WK“, „Spen- der zu einem eiligen Krisentreffen zusam- Schecks überreicht hat – mit der Bitte, de“ oder „bekannt“ vermerkt. men. Der Stuttgarter Landeschef Walter die darauf vermerkten Beträge über ihre Die beiden Geldverschiebe-Aktionen Döring und Generalsekretärin Pieper wur- privaten Girokonten auf ein FDP-Partei- liefen nach dem gleichen Muster: glatte den per Telefon zugeschaltet. konto bei der Deutschen Bank in Düs- Einzahlungsbeträge, häufig 1000-Euro- Westerwelle zeigte den Brief herum, den seldorf zu überweisen. Kuhl war am letz- Summen, viele Barspenden. Auf das amt- er wegen eines Fehlers seiner Mitarbeiter ten Freitag für eine Stellungnahme nicht liche FDP-Konto überwiesen freilich auch leider nicht bekommen habe. Ob es rei- zu erreichen. identifizierbare Mitarbeiter der NRW- che, wenn nur die beiden von ihren Auf- Tatsächlich gingen, so die Auskunft des FDP – direkt von ihren Girokonten. gaben entbunden würden, wollte er wissen. FDP-Landesschatzmeisters Andreas Rei- In dienstlichen Erklärungen haben in- Oder müsse er womöglich selbst Konse- chel, ab dem 20. September insgesamt zwischen drei Mitarbeiter der FDP-Lan- quenzen ziehen? Reihum, so berichten spä- 113000 Euro auf einem offiziellen FDP- desgeschäftsstelle behauptet, sie hätten nur ter Teilnehmer der Sitzung, habe man dem Konto bei der Deutschen Bank 24 in Düs- eigenes Geld gespendet. Schatzmeister verunsicherten Parteichef den Rücken ge- seldorf ein – annähernd die Summe, die Reichel bezweifelt das, weil es sich um stärkt. Erst einmal. die Druckerei Rademann aus Lüding- hohe Spendenbeträge handle. Zu den Rexrodt war zu diesem Zeitpunkt schon hausen für die Herstellung des Mölle- Möchtegern-Spendern sollen Kuhl und nicht mehr anwesend. Im TV-Talk mit mann-Flugblatts verlangte. Das Geld soll vermutlich sein Buchhalter Uwe C. Sandra Maischberger erklärte er, so etwas in 60 Tranchen überwiesen oder einge- gehören. könne man „nicht nur den Mitarbeitern zahlt worden sein. Ob die gleiche Mannschaft, ergänzt um anhängen, sondern verantwortlich ist auch Zeitgleich füllte sich auf geheimnisvol- Möllemanns Sekretärin Cordula O. aus der Chef. Das ist nun mal so“. le Weise bei dem Bankhaus Lampe in seiner Firma Web/Tec, auch die ge- Um 14.30 Uhr desselben Tages war ein Düsseldorf das Konto „Jürgen W. Mölle- stückelten Gelder auf das Wahlkampf- graugesichtiger Westerwelle vor die Kame- mann w/Wahlkampf“, eingerichtet am konto Möllemann überwiesen hat, müssen ras getreten und hatte die Öffentlichkeit 20. September. Einziger Verfügungsbe- nun die Staatsanwälte klären. „Ich habe über Riedls Brief informiert. Von einem rechtigter dieses Kontos, so die FDP-Kla- den Verdacht“, sagt Reichel, „dass hier eindeutigen „politischen ge, sei da Möllemann gewesen. Bis zum Mitarbeiter missbraucht wurden.“ Fehler“ war nun die Rede, 11. Oktober gingen auf diesem Konto in Der Verdacht hätte Reichel freilich den allerdings nicht er, 145 Teilbeträgen insgesamt 839504 Euro schon erheblich früher kommen können. sondern zwei Mitarbeiter ein – fast auf den Cent genau der Betrag, Erst vergangene Woche verfiel der Fi- zu verantworten hätten: den die Post später für den Vertrieb des nanz-Verantwortliche der NRW-Libera- „Deshalb sehe ich auch Flyers abbuchte (SPIEGEL 44/2002). Es len auf die Idee, sich die Bewegungen auf keine Notwendigkeit, die könne nicht ausgeschlossen werden, so dem FDP-Hauskonto anzuschauen. Das Vertrauensfrage zu stel- die FDP-Klage, dass es sich um die allzu späte Eingreifen begründete er in- len.“ Stattdessen habe er „Stückelung einer oder mehrerer Spen- tern damit, er betreibe den Schatzmeister- die beiden von ihren Auf- den handelt, um ihre wahre Herkunft zu Job ja nur ehrenamtlich. Georg Bönisch, gaben entbunden – aber verschleiern“. Auf den Einzahlungsbele- Barbara Schmid, Andrea Stuppe Möllemann-Gegner Riedl Wut im Bauch

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Werbeseite Titel nicht entlassen. Die Büroleiterinnen Kubicki. Auch dem FDP-Fraktions- werden weiterhin im Thomas-Deh- chef in Schleswig-Holstein erzählte er ler-Haus beschäftigt. von der geplanten Großaktion. Ku- Und: Das angeblich in Wester- bicki plauderte gegenüber dem Kor- welles Vorzimmer versackte Fax respondenten der „Leipziger Volks- war nicht die einzige Gelegenheit zeitung“. für den Parteichef, von Möllemanns Der Journalist erkannte sofort die Treiben zu erfahren. Brisanz. Am 9. September berichtete So konnte Westerwelle bereits am die Zeitung, Möllemann plane einen 30. August in Kiel live miterleben, Vorstoß, „um die Partei wieder in die dass sein Parteifreund aus Düssel- Schlagzeilen zu bringen“: „Dabei soll dorf auch nach dem Ende der er- offenbar an seine zurückliegende ‚An- bitterten Antisemitismus-Debatte tisemitismus- und Friedman-Debatte‘ vom Frühjahr das Thema Israel angeknüpft werden. Er wolle, so sag- nicht von seiner Agenda gestrichen te Möllemann-Freund Wolfgang Ku- bicki unserer Zeitung, die Wahl zur „Die Wahl zur Abstim- Abstimmung über die Meinungsfrei- heit machen, z. B. nach dem Motto mung über die Meinungs- ‚Friedman oder Möllemann‘.“ freiheit machen.“ Im Thomas-Dehler-Haus wurde der Artikel aufmerksam registriert hatte. Bei einer Großkundgebung und dem täglichen Pressespiegel bei- der FDP kam Möllemann schnell gelegt, zu dessen Beziehern selbst- auf sein Lieblingsthema. verständlich auch der Parteivorsit- Er halte an seiner Kritik an Isra- zende gehört. Ein enger Mitarbeiter els Ministerpräsident Scharon fest, wies ihn ausdrücklich auf den Text rief er den etwa tausend Gästen zu, hin. Es gab mehrere Anrufe im Büro und er werde sich gegen „jeden der „Leipziger Volkszeitung“, auch Journalisten und Moderator“ zur aus der FDP, in denen sich nach Hin- Wehr setzen, der ihm den Mund tergrundinfos erkundigt wurde. Der verbieten wolle. Tosender Beifall. Artikel, erinnert sich ein Mitarbeiter Guido Westerwelle stand in der ers- der Redaktion, wurde an diesem Tag ten Reihe – und lächelte. „mehrfach aufs Fax gelegt“. Drei Tage später übergab Mölle- / AP 77 ZOOM Am 10. September lieferte die mann Uwe Tönningsen, einem Druckerei Rademann auf etlichen langjährigen Freund, einstigen Ge- Paletten 33 Tonnen bedrucktes Pa- schäftspartner und früheren Spre- pier aus – „frei Postamt Langenfeld“. cher der FDP-Bundestagsfraktion, Die Verteilung der Flugschrift sollte einen Text und drei Fotos. Er möge bald darauf beginnen. doch bitte daraus ein Flugblatt für Auch ein drittes Signal erreichte die die heiße Phase des Wahlkampfs FDP-Zentrale, aber angeblich nicht de- gestalten. Als Besitzer einer Agen- ren Chef. Es ging diesmal um eine In- tur in Münster habe er Möllemann formation, die Sebastian Ratjen, Ge- gern den „Freundschaftsdienst“ ge- neralsekretär der FDP in Mecklen- tan, sagte Tönningsen später. burg-Vorpommern, wenige Tage vor Am 4. September erteilte Lan- Verteilung der Wurfsendung dem Tho- desgeschäftsführer Kuhl dem mas-Dehler-Haus zu Gehör brachte. Druck- und Medienhaus Rademann Der FDP-Landespolitiker hatte an in Lüdinghausen bei Münster einen der Bar eines Hotels den NRW-Chef Großauftrag: 8,4 Millionen „Flyer Möllemann getroffen. Der prahlte FDP“ seien zu drucken und „hand- mit bevorstehenden Großtaten, er lich in Kartons“ zu verpacken. plane, so erfuhr Ratjen, eine „große Schon am 29. Juli hatte er, so steht Aktion“, an der sich die FDP in es in der Auskunftsklage der FDP Mecklenburg-Vorpommern beteiligen gegen Möllemann, mit der Deut- könne. Ratjen lehnte zunächst ab. schen Post einen Vertrag über Doch er war neugierig geworden „Postwurfsendungen“ ausgehan- und rief in der Parteizentrale an, um delt und unterschrieben. sich zu erkundigen. Dort gab man Möllemann machte gar kein Ge- sich ahnungslos. Eine „große Ak- heimnis aus der neuerlichen Aktion, tion“? Nie gehört. Der Anruf des die dem müden FDP-Wahlkampf Schweriner Generalsekretärs – ei- noch mal einen Kick verschaffen gentlich wäre der Vorfall eine Mel- sollte. So traf er am 8. September im dung nach ganz oben wert gewesen. Berliner Estrel-Hotel seinen alten Am Dienstag, dem 17. September, Freund und Verbündeten Wolfgang war alles zu spät. Möllemanns Flyer ging flächendeckend in Nordrhein-

ANDREAS SCHOELZEL ANDREAS Westfalen an alle Haushalte. Die * Oben: am 27. Mai in Jad Waschem mit Israels Botschafter in Deutschland, Schimon Stein; un- Israel-Besucher Westerwelle, Anti-Möllemann-Demo* Landesgeschäftsstelle in Düsseldorf ten: im Juni in Berlin. Öffentliche Standpauke vom israelischen Premier bot sämtlichen Landesverbänden an,

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Werbeseite Titel DOMINIK BUTZMANN / ZENIT DOMINIK BUTZMANN Liberale Wahlverlierer (am 22. September in Berlin): Die Spekulationsblase ist geplatzt das Pamphlet kostenlos zu übernehmen. So lief es einen ganzen Wahlkampf lang: Welche Haltung das war, hatte Mölle- Vier FDP-Direktkandidaten aus Thüringen Westerwelle störte sich nur an der Form, mann Anfang des Monats in einer Be- nahmen das Angebot an und bestellten nicht am Inhalt, versprach er sich doch da- merkung über palästinensische Selbst- rund 6000 Exemplare. von, seine kleine Partei auch für größere mordattentäter zu Protokoll gegeben: Das Medienecho fiel gewaltig aus – vor Wählerschichten attraktiv zu machen. „Ich würde mich auch wehren, und zwar allem gewaltig negativ. Und so kam ihm auch der Fall Jamal mit Gewalt … auch im Land des Aggres- Westerwelle gab sich betroffen. Öffent- Karsli, mit dem alles begann, wohl gar sors.“ lich distanzierte er sich von dem Flugblatt, nicht ungelegen. Am 23. April verließ der demonstrativ suchte er die Einigkeit mit Abgeordnete der Grünen im nordrhein- Bei einer Großkundgebung den FDP-Idolen Hans-Dietrich Genscher westfälischen Landtag seine Fraktion, un- und Otto Graf Lambsdorff. Möllemann mittelbar danach trat er der FDP im Düs- kam Möllemann schnell wurde von der Abschlusskundgebung der seldorfer Parlament bei. Begründung: „Die auf sein Lieblingsthema. Liberalen in Bonn ausgeladen. Haltung von Jürgen Möllemann im Nah- Jäh verflüchtigten sich bei der Bundes- ostkonflikt stimmt mit meiner Einstellung Schon vor seinem Übertritt zur FDP hat- tagswahl die Ministerträume, denen sich die völlig überein.“ te der Deutsch-Syrer durch Ausfälle gegen führenden Liberalen so ausgiebig hin- Juden auf sich aufmerksam gemacht. Mal gegeben hatten. Der Fall Möllemann warf er der israelischen Regierung Nazi- zog die Partei in Richtung Abgrund. Methoden vor, dann fabulierte er von einer Die Doppelmoral des Vorsitzenden „zionistischen Lobby“ , die die „Medien- – mit der er schon den Wahlkampf macht in der Welt“ innehabe. Solche Be- bestritten hatten – wurde nun über- griffe könnten in Deutschland als antise- deutlich. Stefan Kapferer, Wester- mitisch „missdeutet“ werden, tadelte För- welles Abteilungsleiter für „Strategie derer Möllemann milde. und Kampagnen“, kommt am 1. Ok- Irritiert beobachteten die FDP-Granden, tober in einem Antwortbrief an zwei dass ihr Vorsitzender dem Treiben Karslis Parteifreunde zu einer entlarvenden tatenlos zusah. Liberale wie Fraktionschef Erkenntnis: „Im Mittelpunkt der Kri- Gerhardt, sein Amtsvorgänger Hermann- tik an dem Wahlkampf-Flyer von Jür- Otto Solms oder der frühere Außenminis- gen W. Möllemann“, schreibt Kapfe- ter Klaus Kinkel beschworen ihren Partei- rer im Auftrag Westerwelles, „steht chef, dem Spuk ein Ende zu machen – ver- nicht der Inhalt. Im Mittelpunkt der gebens. Karsli durfte zwar Mitte Mai nicht Kritik steht die Tatsache, dass dieser auf dem Parteitag auftreten, und der Kon- Flyer millionenfach ohne Rückspra- vent verabschiedete eine Resolution, die che mit dem Spitzenkandidaten des das Existenzrecht Israels anerkannte. Aber Landesverbandes, Dr. Guido Wester- Möllemann konnte vor den Delegierten welle, in Nordrhein-Westfalen verteilt wieder sein Lieblingsthema intonieren: Es

wurde. Dies ist ein klarer Vertrau- KNOSOWSKI / AP HERBERT gehe nicht an, in die antisemitische Ecke ensbruch. Um diesen Vertrauens- FDP-Schatzmeister Rexrodt geschoben zu werden, nur weil man bruch dreht sich die Debatte.“ Politischer Sprengstoff Israels Premier Scharon kritisiert habe.

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Genauso äußerte sich Westerwelle, als drehte bei, Karsli verließ die Düsseldorfer neralsekretär Westerwelle anschließend. der Zentralrat der Juden Möllemanns Ter- Landtagsfraktion – und Westerwelle rich- Andere wie Ex-Parteichef Kinkel zeigten rorphantasien als „moralischen Bankrott“ tete „den Blick nach vorn, gemeinsam mit sich skeptisch. Das Wort von der Haideri- bezeichnete. Dem fassungslosen Zentral- Jürgen Möllemann“. sierung machte erstmals die Runden. ratspräsidenten Paul Spiegel beschied Wes- Sie waren ein eigentümliches Duo seit Einer musste weg: Parteichef Wolfgang terwelle kühl, er verwahre sich gegen „eh- langem, gemeinsam entzweit im Kampf um Gerhardt, der als zu altmodisch galt. Nach- renrührige Unterstellungen“. Und dann die Macht in der FDP. Zugleich verbünde- dem Möllemann den redlichen, traditions- folgte wieder der ominöse Satz: „Wer die ten sie sich für ein gemeinsames Ziel: Die bewussten Hessen mit Dauerkritik zer- israelische Regierungspolitik kritisiert, ist Liberalen sollten von der Partei der Bes- mürbt hatte, stieß Westerwelle den ver- deswegen noch lange kein Antisemit.“ Das serverdienenden zur „Protestpartei der dutzten Vorsitzenden ein halbes Jahr nach hatte allerdings auch niemand behauptet. Mitte“ werden. dem Parteitag vom Thron. Statt die Machtprobe mit seinem Stell- Vor allem wollte Westerwelle in neue Der Weg war nun frei für die beiden vertreter zu wagen, ging Westerwelle im- Wählerschichten vorstoßen. Man müsse die Volkstribune. Noch fehlte zunächst ein mer wieder auf Konfrontationskurs zum „stille Tyrannei der Gutmenschen“ been- Thema, das die Massen mobilisieren konn- Zentralrat der Juden. Das oberste Len- den, forderte er 1998 in seinem Buch mit te. Die Debatte um die deutsche Leitkultur kungsgremium der Liberalen stellte sich dem Titel „Neuland“. Die FDP wolle auch vom Herbst 2000 bot Westerwelle die Mög- unter Leitung des Parteichefs hinter Möl- Wähler der rechtsradikalen DVU oder der lichkeit, seine neue Strategie auszupro- Republikaner gewinnen, so der Parteichef bieren. Ein eigentümliches Duo, zuletzt im Juni dieses Jahres: „Uns ist jeder Er wolle die deutsche Jugend von dem willkommen, der seinen Frust in konstruk- Zwang befreien, „mit gebeugtem Haupt gemeinsam entzweit im Kampf tives politisches Verhalten umsetzen will.“ und gebeugtem Gang“ durch das Leben um die Macht. Auf bis zu 25 Prozent schätzte er das zu gehen, tönte der Ober-Liberale im Stil Potenzial für die FDP ein. Auch Mölle- rechter Demagogen. Einen Aufsatz in der lemann: „Der Vorwurf des Antisemitismus mann träumte von einer liberalen Partei „Frankfurter Allgemeinen“ überschrieb er gegen Führungsmitglieder der FDP ist ehr- in neuen Dimensionen. mit den Worten: „I’m proud to be a Ger- verletzend und unberechtigt.“ Schon im letzten Jahr der Regierung von man“. Selbst als er sich später zu der Aussage Helmut Kohl hatten die beiden verabre- In der eigenen Partei rieb man sich ver- bequemte, Möllemann habe einen Fehler det, die FDP nach ihren Vorstellungen um- wundert die Augen. Ein Massenpublikum gemacht, galt Westerwelles schärfste zuformen. Möllemann, so die Absprache, erreichte Westerwelle damals nicht. Attacke wieder einem Juden. Zentralrats- werde sich um NRW kümmern, Wester- Die Chance ergab sich erst, als Mölle- vize Friedman müsse seine „ehrverletzen- welle um die Bundespartei. mann, gerissener und skrupelloser als sein den Behauptungen aus der Welt schaffen“, Der Angriff startete auf dem Nürnberger Kumpan, die Karsli-Debatte zur Entfesse- so der FDP-Chef. „Er hat den schwersten Bundesparteitag im Juni 2000: Nach seinem lung antisemitischer Ressentiments nutz- Vorwurf erhoben, den man in Deutschland unerwarteten Erfolg bei der Landtagswahl te. Mit leuchtenden Augen berichtete der erheben kann: dass man antisemitische im Mai 2000 begeisterte Möllemann die De- Parteivize von „Zehntausenden von be- Ressentiments bedient.“ legierten mit seinem „Projekt 18“, das die geisterten E-Mails“, die er für seinen Anti- Erst als sich Anfang Juni Möllemanns Liberalen zur neuen Partei für das ganze Israel-Kurs erhalten habe. Westerwelle war politischer Ziehvater, der FDP-Ehrenvor- Volk machen werde – jenseits von angeblich elektrisiert, so erinnert sich ein Mitarbeiter sitzende Hans-Dietrich Genscher, ein- modernisierungsunfähigen Sozialdemokra- des Dehler-Hauses. schaltete und den Ausschluss Karslis aus ten und orientierungslosen Unionschristen. Selbst Vertraute des Parteichefs began- der Fraktion forderte, wagte sich auch Wes- Der Parteitag sei eine Zäsur in der Ge- nen sich ungemütlich zu fühlen. „War das terwelle aus der Deckung. Möllemann schichte der Liberalen gewesen, jubelte Ge- Vorgehen abgesprochen, steckt eine Stra-

Altkanzler Kohl nach seiner Vernehmung durch den CDU-Parteispenden-Untersuchungsausschuss (im Juni 2000): Maximales Pathos FABRIZIO BENSCH / REUTERS FABRIZIO Werbeseite

Werbeseite Titel tegie dahinter?“, wollte Ex-Fraktionschef sen. „Die Dinge, die ge- Solms auf einer Vorstandssitzung Ende Mai gen die jüdische Ge- wissen. Möllemann schwieg, Westerwelle meinde in Deutschland wand sich. Später gab er immerhin zu: ausgesprochen werden, „Möllemann und ich haben vieles mitein- beunruhigen uns sehr“, ander abgestimmt: die Strategie 18, meine zürnte der Regierungs- Kandidatur als Kanzlerkandidat“, so Wes- chef. Der sonst so for- terwelle zum Magazin „Stern“. sche Liberale schaute Indirekt hatte der Parteichef die Ant- wie ein Schuljunge wort ohnehin bereits gegeben – und das drein. ausgerechnet bei seinem Besuch in Israel Eine öffentliche im Juni, auf dem Höhepunkt des Streits Standpauke vom israeli- um Karsli. Bewundernd äußerte sich Wes- schen Premier – nichts terwelle abends beim Bier in kleiner Run- kam dem FDP-Chef, der de über den holländischen Rechtspopulis- mit dem Außenamt lieb- ten Pim Fortuyn, der mit der hemmungs- äugelte, ungelegener.

losen Ausbeutung der Fremdenangst einen Zurück in Deutschland / AP WINFRIED ROTHERMEL kometenhaften Aufstieg geschafft hatte und war Westerwelle daher Guidomobil, Verkäufer: Ende der Spaßpartei am 6. Mai ermordet worden war. Fortuyn endlich bereit, Mölle- habe die Political Correctness durchbro- mann zu opfern – was dieser ihm natürlich und bei nur drei Enthaltungen – ein 16 chen und die Sorgen der Bürger aufge- übel nahm. Blatt starkes Papier („Aufbruch 2006“) ab- nommen, und zwar aus der Mitte der Ge- Der Vize registrierte die Abkehr des segnen. Treu bestätigten Fraktion und Vor- sellschaft, nicht von den Rändern. Damit Partners sehr genau: „Westerwelle hat mei- stand den diffusen Kurs einer „unabhängi- nen Israel-kritischen Kurs lange Zeit aus- gen, eigenständigen und starken FDP“, Die kabbelige Partnerschaft drücklich gebilligt. Er hat sich mehrere auch wenn gar nicht so fernab der hessi- meiner Formulierungen zu Eigen gemacht, sche Fraktionschef Jörg-Uwe Hahn mo- schlug um in nachdem er gemerkt hat, dass diese bei nierte, „dass es ein Fehler war, auf die offene Feindseligkeit. den Leuten gut ankommen“, sagte Mölle- Koalitionsaussage zu verzichten“. Es sei, mann nach der Trennung. Erst nach der Is- lobte Westerwelle die Getreuen, „ein ganz war ziemlich genau die Strategie beschrie- rael-Reise sei der Vorsitzende umge- besonders kostbares Gut, dass man in sol- ben, die Westerwelle selbst umsetzen woll- schwenkt, offenbar auf Druck Scharons. chen Zeiten eine Partei, eine Fraktion hun- te – zusammen mit Möllemann. Seither ist die kabbelige Partnerschaft in dertprozentig hinter sich weiß“. Besonders beeindruckt zeigte sich der offene Feindseligkeit umgeschlagen. Viele Dabei war die Kritik an den Gaukeleien Liberale davon, dass der bekennende Ho- Liberale fürchten, dass der gestürzte Mölle- des Noch-Vorsitzenden nicht zu überhören. mosexuelle Fortuyn den Mut hatte, die mann noch die Kraft findet, die Partei tiefer Vor allem Vorgänger Gerhardt wurde – für Ressentiments gegen seine sexuelle Orien- und tiefer in die Depression herabzuzerren. seine Verhältnisse – deutlich: Die FDP tierung politisch in seinem Sinn auszu- Bei ihrer Klausurtagung in der vergan- habe nur auf die Laufkundschaft geschielt spielen. In Israel wurde Westerwelle aller- genen Woche redete sich die FDP-Führung und dabei die Stammkundschaft vernach- dings auch bewusst, dass seine Strategie dennoch Mut zu. Die Symbolmarke „18“, lässigt, sagte er. „Die Partei hat ihren Stil die FDP ins Verhängnis führen könnte. Mit der Krawallkurs als „Spaßpartei“ – gar verloren. Wir müssen ihn uns wieder erar- hochrotem Kopf musste er sich von Minis- nicht mehr darüber sprechen. Parteichef beiten.“ Anders als Westerwelle erhielt der terpräsident Scharon die Leviten lesen las- Westerwelle ließ sich – ohne Gegenstimme Fraktionschef, der sich liberalen Größen wie Karl-Hermann Flach oder Walter Scheel verpflichtet fühlt, großen Beifall. In der Partei und ihren Landesverbän- den herrscht Lauerstimmung: Packt er es oder packt er es nicht? In peinlichen Vier- Augen-Gesprächen musste sich Wester- welle fragen lassen, ob mit weiteren Ent- hüllungen zu rechnen sei: Er schüttelte den Kopf. Ob er mehr wisse über das System der schwarzen Kasse, die offenbar in Düs- seldorf betrieben wurde? Westerwelle ver- neinte, obwohl er selbst dem Landesver- band seit 22 Jahren angehört. Widersacher Möllemann will so schnell nicht aufgeben. Vom Krankenbett aus bemüht sich der Mitstreiter von gestern nun um die Veröffentlichung seiner Me- moiren. Der geplante Titel: „Klartext“. Der explosive Inhalt: belastendes Material – auch über den Parteichef. Dem Bundesvorsitzenden, so die düste- re Prophezeiung aus Münster, werde in nächster Zeit Gerechtigkeit widerfahren. Karen Andresen, Georg Bönisch, Markus Dettmer, Konstantin von Hammerstein, Felix Kurz, Roland Nelles, Alexander DIETER ZEHENTMAYR Neubacher, Ralf Neukirch, Gabor Steingart berliner zeitung

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REGIERUNG „Tun Sie was, Herr Schröder“ Nach dem verpatzten Auftakt seiner zweiten Amtszeit probt der Kanzler schon wieder einen Neustart: Er sucht die Nähe von Unternehmern und Gewerkschaftern, drückt aufs Tempo, bessert großflächig nach – und wirbt um die Zustimmung der Länder.

egeistert? Nein. Hingerissen? Ach was. Die Genossen klatschten eher Baus Pflichtgefühl. Als Erster legte nach 40 Sekunden Ex- Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der ganz hinten im Plenarsaal saß, seine Hände in den Schoß. Wenig später hatten auch die übrigen 249 SPD-Parlamentarier genug. Danke Gerd, das war’s. Eine Stunde und fünf Minuten lang ver- suchte der Kanzler am vergangenen Diens- tag dem Bundestag zu erklären, wofür er sich einsetzen will. Er sprach von „Erneue- rung“ und von „Zusammenhalt“, von „neu- er Gerechtigkeit“. Streckenweise hörte sich das an, wie es einst Willy Brandt formulier- te – bei dessen Regierungserklärung von 1973 hatten sich Schröders Redenschreiber großzügig bedient (siehe Seite 19). Pflichtschuldig huldigten die versam- melten Sozialdemokraten ihrem promi- nenten Parteifreund, dessen Rede seltsam uninspiriert daherkam. Was sie von sei- nem Programm wirklich halten, hatte Schröder schon am Tag zuvor, während der Sitzung der SPD-Fraktion, zu spüren gekriegt. „Wir müssen sehr aufpassen, was wir da machen“, warnte der Parlamentarier Bernd Scheelen. „Ich kann kein Konzept erken- nen“, schimpfte die Abgeordnete Waltraud Lehn, und der Hesse Michael Roth stöhn- te hinterher: Eigenheimzulage runter, Energiesteuern rauf, Beitragssätze für Ren- te und Gesundheit ebenfalls rauf – das sei-

en „richtige Klöpse“. ECKEHARD SCHULZ / AP Kaum sechs Wochen ist die Wahl vorbei, Kanzler Schröder, Minister Clement, Eichel: Das Streichpaket wieder aufgeschnürt und schon entwickelt sich in der SPD eine gespannte, gereizte Atmosphäre. Die Um- „Bild“-Zeitung und zeigte Finanzminister Selten ist eine Bundesregierung direkt fragen sind im Keller, die Stimmung ist Hans Eichel als Dracula mit blutigen Vam- nach der Wahl so heftig attackiert worden, mies und der Glanz – sollte er je da gewe- pirzähnen. „Sie tun nicht, was sie wissen“, selten zuvor war auch der Aufschrei in der sen sein – bis auf weiteres weg. höhnte der „Tagesspiegel“. Der Kanzler, Bevölkerung derart laut: Häuslebauer, Pa- Und die Schlagzeilen? Vernichtend. warnte die „Frankfurter Allgemeine“, füh- tienten, Anleger, Landwirte, Bauarbeiter, „Jetzt saugen sie uns richtig aus“, titelte die re Deutschland „ins Desaster“. Mittelständler – sie alle erregen sich über Steuererhöhungen von Rot- Grün, die im Wahlkampf niemand angekündigt hat. Selbst die Topmanager der Wirtschaft haben ihre sonst übliche Zurückhaltung aufgegeben: „Tun Sie was, Herr Schröder“, forderte Heinrich von Pierer, Vor- standsvorsitzender von Sie- DPA RAINER JENSEN / DPA RAINER SEAN GALLUP / GETTY IMAGES SEAN GALLUP JOSE GIRIBAS FRANK DARCHINGER FRANK mens. „Wenn die Wirtschaft Kanzler-Kritiker Ackermann, Schrempp, Pischetsrieder, Wiedeking, Reitzle: Unmut bei Wein und Zigarren weiter so abgewürgt wird“,

40 der spiegel 45/2002 sorgt sich Kajo Neukirchen, der Chef des Mischkonzerns MG Technologies, „besteht die Gefahr, dass aus dem Sanierungs- ein Konkursfall wird.“ Die Botschaft scheint beim Regierungs- chef angekommen zu sein. Jetzt will er tatsächlich etwas tun, um zunächst einmal die Stimmung ein wenig aufzuhellen. Und so plant er, kaum dass das rot-grüne Pro- jekt Teil zwei richtig losgeht, schon wieder den Neustart: • Der Kanzler sucht die Nähe der Ge- werkschaften und versucht zugleich, sein gestörtes Verhältnis zur Wirtschaft zu entspannen. • Er macht Zugeständnisse an alle Seiten. Gesundheit, Rente, Steuern, selbst die Details des Hartz-Konzepts – fast alles steht wieder zur Disposition. • Er pflegt den Kontakt zu den Ländern. Am Freitag will er zur Inthronisierung des neuen Bundesratspräsidenten Wolf- gang Böhmer (CDU) in der Länder- kammer reden – ein völlig unüblicher Auftritt für einen Regierungschef. • Und er drückt aufs Tempo. Schon diese Woche sollen die Fraktionen über die Gesetzentwürfe zu Rente, Arbeitsmarkt, Gesundheit und Energiesteuern beraten. In Rekordzeit will Schröder die Vor- haben durch Bundestag und Bundesrat treiben und bis zum 20. Dezember ver- abschieden. Der Koalitionsvertrag dient dabei allen- falls noch als hübsches Beiwerk, als grobe Richtschnur. Stattdessen wird nun korri- giert, justiert und „abgeschliffen“, wie SPD-Fraktionschef Franz Müntefering es nennt. Selbst Eichel hat damit kein Problem. Klar, der einmal festgelegte Finanzrahmen dürfe nicht gesprengt werden, sagt er – aber ansonsten? Alles verhandelbar. „Der Koalitionsvertrag ist ja kein Gesetz.“ Und so schnürt der weich gewordene Kassenwart, auf Geheiß des Kanzlers, sein Streichpaket in Windeseile wieder auf: Als Erstes fiel der Plan, die Abzugsfähigkeit von Unternehmensspenden zu streichen. „Allen, die da etwas anderes planen, sage ich, so geht’s nicht“, dekretierte Schröder und gab dem Drängen von Kulturschaf- fenden und Sportvereinen nach. Das solle, beteuerte er am Montag vori- ger Woche, der einzige Eingriff in das Spar- paket sein – ein Versprechen, das keine 48 Stunden hielt. Am Mittwoch beschlossen die Koalitionäre, nun auch die Steuer auf Heizöl zu erhöhen. Dafür soll im Gegenzug die geplante Anhebung auf Gas nicht ganz so hoch ausfallen. Noch am gleichen Tag verkündete auch Sozialministerin Ulla Schmidt, dass jetzt alles anders kommt als von ihr geplant: Noch diese Woche will sie ein Notpaket auf den Weg bringen, das Einsparungen von 3,5 und nicht bloß 1,4 Milliarden Euro ermöglicht (siehe Seite 100). Darüber hinaus könnte der der spiegel 45/2002 41 Deutschland

Rentenbeitrag nicht nur auf 19,3, sondern len gelassen und das fehlende Geld an- runde fortführen, so steht es im Koali- auf 19,5 Prozent steigen. derswo im Etat erwirtschaftet. tionsvertrag. Ebenfalls am Mittwoch versammelten • Der Vorschlag, dass Beschäftigte über Was das heißen kann, ließ das Kanzler- sich die Bauexperten der Koalition, um die 50 Jahre generell befristet angestellt wer- amt vorsichtig durchblicken: Statt sich die Änderung der Eigenheimzulage neu zu re- den dürfen, wird entschärft und auf äl- ewigen Klagen der Verbandsvertreter an- geln. Ihnen war aufgefallen, dass ihr Vor- tere Arbeitslose beschränkt. zuhören, könnten ja auch die wichtigsten haben, die Zulage auf Bauherren mit Kin- • Das Vorhaben, Jobsuchende bei eigenen Konzernbosse mit dem Regierungschef am dern zu beschränken, doch nicht so fami- Leiharbeitsagenturen der Arbeitsämter Verhandlungstisch sitzen. lienfreundlich ist wie zunächst gedacht. Vor anzustellen, wird gewerkschaftsgängig Die Funktionäre ihrerseits mühen sich allem Paare, deren Kinder erst nach dem rundgehobelt. Für die Personal-Service- nach Kräften, selbst Vorschläge für eine Hausbau geboren werden, würden bestraft. Agenturen sollen die Tarife der auslei- neue Bündnis-Konstruktion zu unterbrei- Deshalb gibt es die Förderung in diesem henden Betriebe zum Maßstab werden. ten. Weniger Kommuniqués, weniger TV- Fall nun auch nachträglich. Zudem erhal- Vor allem der letzte Punkt, warnen Bilder, dafür mehr Substanz, lautet ihre ten alle Eltern, anders als bisher vorgese- Ökonomen, könnte zur entscheidenden Forderung – die Runde müsse ein effekti- hen, einen Sockelbetrag von etwa 500 Bremse für das Hartz-Projekt werden: ves Beratungsgremium werden, keine MARC DARCHINGER MARC ANDREE / ULLSTEIN BILDERDIENST ANDREE / ULLSTEIN Reformer Hartz, staatlich geförderter Ausbau eines Eigenheims: „Der Koalitionsvertrag ist ja kein Gesetz“

Euro. Pro Kind schießt der Staat dafür nur Die Leiharbeitnehmer vom Amt werden Showveranstaltung. Am besten sei es des- noch einmal 1000 Euro hinzu – 200 weni- dadurch so teuer, dass sie kaum ein Un- halb, sagt ein hoher Verbandsfunktionär, ger als ursprünglich kalkuliert. Auf diese ternehmer einstellen dürfte. Das „Herz von wenn Superminister Clement künftig die Größenordnung läuft die Lösung hinaus, Hartz“, urteilt der Münchner Ifo-Chef Leitung übernehme: „Der ist, als Minister die die Runde in dieser Woche beschließen Hans-Werner Sinn, werde „schlicht unfi- für Wirtschaft und Arbeit, ja schon das will. Im Ergebnis kommen jetzt auch Fa- nanzierbar“. Bündnis in persona.“ milien mit zwei und nicht erst mit drei Kin- Doch auch Schröder weiß: Wenn er sein Diese Lösung hätte für Schröder Char- dern so gut weg wie bisher; zumindest, wichtigstes Ziel, den Abbau der Arbeits- me. Denn er könnte, während Clement die wenn sie einen Altbau sanieren. losigkeit, wirklich erreichen will, kann er Kärrnerarbeit leistet, weiterhin den direk- In ihrem Eifer machen die Koalitionäre nicht nur den Gewerkschaften entgegen- ten Kontakt zu den Vorstandschefs pfle- selbst vor ihrem Heiligtum, dem Hartz- kommen. Ausgewogen soll seine Politik gen, mit denen er weitaus besser zurecht- Konzept, keinen Halt. Entgegen allen Be- sein – „vernünftig“, wie er es nennt. kommt. teuerungen des Kanzlers, die Pläne der Und so sucht der Konsenskanzler, in So bat der Kanzler vor kurzem wieder Kommission für die Reform des Arbeits- aller Stille, neuerdings auch wieder die einige Topmanager in seine Regierungs- markts „eins zu eins“ umzusetzen, ist auch Nähe zu den Spitzen der deutschen Wirt- zentrale, darunter den künftigen Linde- dieses Prestigeprojekt längst nicht mehr sa- schaft, die ihn im Wahlkampf so häufig Chef Wolfgang Reitzle, Deutsche-Bank- krosankt. enttäuschten. Mehr oder weniger offen Boss Josef Ackermann, Hans-Jürgen Kaum ist die Wahl gelaufen, stellen vor hatten die meisten Verbandsfunktionäre Schinzler von der Münchener Rück und allem die Arbeiterführer ihr bisheriges Ver- den Unionskandidaten Edmund Stoiber VW-Chef Bernd Pischetsrieder. Roland halten in Frage. Natürlich würden die Ge- unterstützt. Berger, der umtriebige Unternehmensbe- werkschaften Hartz „weiter unterstützen“, Am vergangenen Donnerstag schickte rater und Schröder-Freund aus München, deutete etwa DGB-Chef Michael Sommer Schröder zunächst Clement und Eichel vor. hatte das Treffen diskret arrangiert. an – aber nur zu ihren Bedingungen. Wenn Im Zwei-Stunden-Takt empfingen die bei- In der Runde ging es zunächst um die Rot-Grün diesen Vorgaben nicht folge, den Minister für Wirtschaft und Finanzen Beziehungen zwischen den USA und der drohte IG-Metall-Boss Klaus Zwickel, nacheinander die Spitzen von BDI, DIHK Bundesrepublik – und die Widerstände, „müssen wir unser Ja überdenken“. und Arbeitgeberverbänden. Diese Woche auf die auch Deutschlands internationale Wolfgang Clement – Schröders „Super- ist auch noch die Führung des Handwerks Firmen durch das gestörte Verhältnis zu mann für Superwirtschaft“ (Angela Mer- zu Gast. Washington treffen. Gemeinsam wurde kel) – speckte daher seine ursprünglichen Die Minister wollten die Wünsche der überlegt, einen PR-Fonds zur Förderung Pläne, die auch teils schmerzhafte Kür- Bosse ausloten – und zugleich die Chancen des Deutschland-Bildes in den Vereinigten zungen vorsahen, umgehend ab: für eine zweite Auflage des Bündnisses für Staaten aufzulegen. • Die Absicht, das Arbeitslosengeld für Arbeit testen. In „neuen Strukturen“ will Später dann, bei Rotwein und Zigarren, Joblose mit Kindern zu kürzen, wird fal- die Regierung die umstrittene Konsens- taten die Manager ihren Unmut über den

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Die Gegner des Berliner Plans fürch- ten vor allem neue Kosten. „Wir sind Kampf um die Krippen-Quote gebrannte Kinder“, stöhnt Schelzke. Anfang der Neunziger hatte der Bund Länder und Kommunen wehren sich gegen im Zuge der Abtreibungsreform einen neue, teure Pläne der Regierung zur Kinderbetreuung. Betreuungsanspruch für alle Drei- bis Sechsjährigen festgeschrieben – zahlen um Hüten ihrer drei Enkel wird Prozent-Krippenquote soll nun allen mussten Länder und Gemeinden. in nächster Zeit Ländern gesetzlich vorgeschrieben Zwar verspricht die Regierung dies- Zkaum kommen. Als Gerhard werden. mal 1,5 Milliarden Euro für die Klein- Schröders Familienministerin hat die Westliche Bundesländer und Kom- kinderversorgung. Doch der Zuschuss Großmutter und Ex-Chefin der bayeri- munen sind in Aufruhr. „Geradezu un- basiert auf ungewisser Grundlage: Er schen SPD wieder einen Vollzeitjob. verschämt“ findet Baden-Württem- soll aus Einsparungen durch das Hartz- Die 58-Jährige soll das, laut Koali- bergs Sozialminister Friedhelm Repnik Konzept kommen, die die Gemeinden tionsvertrag, „oberste Ziel“ rot-grüner (CDU) den „massiven Eingriff“ in die ab 2004 behalten dürfen. Einen „unge- Familienpolitik umsetzen, Deutschland Zuständigkeit der Länder; die Pläne deckten Scheck“ biete der Bund an, bei der Vereinbarkeit von Kindern und seien „ordnungspolitisch falsch“ und zürnt Landesministerin Stewens: „Die- Beruf voranzubringen. „verfassungsrechtlich bedenklich“. se Finanzierung ist ein Hohn.“ Nicht nur 10 000 neue Ganztags- „Es macht keinen Sinn, von Berlin Ohnehin wären die 1,5 Milliarden nur schulen wollen die rot-grünen Partner aus festzusetzen, dass jedes fünfte Kind eine Starthilfe – wieder blieben auf den laufenden Kosten die Gemein- den sitzen. Das wollen selbst sozialdemokratisch regierte Län- der nicht mitmachen: „Wir er- warten vom Bund einen dau- erhaften finanziellen Beitrag“, heißt es etwa im Sozialministe- rium Schleswig-Holsteins. Die Berliner Ressortchefin Schmidt will Ländern und Kommunen „weitere finanziel- le Anstrengungen“ abverlan- gen. Schließlich werde der Bund – Hartz hin, Hartz her – seinen Beitrag auf jeden Fall er- bringen: „In dieser Frage kön- nen wir uns etwas anderes po-

MARTIN LEISSL / VISUM LEISSL MARTIN litisch gar nicht leisten.“ Kinderkrippe (in Bielefeld): „Die Finanzierung ist ein Hohn“ Vorerst möchte sich die Ministerin mit einer „Gruppe gründen, in seiner Regierungserklärung einen Krippenplatz braucht“, wettert von Sachverständigen“ behelfen, die am vergangenen Dienstag versprach Repniks bayerische Amtskollegin Chris- zur Ankündigung des Bundeskanzlers der Kanzler auch mehr Krippenplätze: ta Stewens (CSU). Der Flächenstaat hat das Konzept nachliefern soll. Erst Ende Für jedes fünfte Kind unter drei Jahren, für sich einen Bedarf von sieben Pro- 2003 würden dann Bund, Länder, so Schröder, werde die Koalition einen zent ermittelt. In der Großstadt Ham- Kommunen, Kirchen und Wohlfahrts- Betreuungsplatz garantieren. burg dagegen rechnen die Behörden verbände auf einem „Gipfel für Bil- Ein ehrgeiziges Projekt: Derzeit damit, dass etwa jede dritte Mutter ihr dung und Betreuung“ in der Krippen- gibt es bundesweit nicht einmal für Kleinkind betreuen lassen will. „Kein frage niederkommen. „Dort wird über 8 Prozent der Pampers-Träger staatli- Bürgermeister braucht ein Bundesge- alles und ergebnisoffen diskutiert“, che Zuwendung, mit erheblichen Un- setz, um zu wissen, dass Krippenplätze rudert Renate Schmidt schon jetzt terschieden zwischen den Betreuungs- gebraucht werden“, erregt sich Karl- zurück. Sie jedenfalls wolle die Quote quoten in West (3,8 Prozent) und Ost Christian Schelzke vom Hessischen „niemandem überstülpen“. (36,7 Prozent). Die Erfüllung der 20- Städte- und Gemeindebund. Hans Michael Kloth

rot-grünen Wirtschaftskurs kund. Der Schrempp oder Porsche-Boss Wendelin Eichels Unternehmen- als auch die Mehr- Plan, auf breiter Front die Abgaben zu er- Wiedeking, ihrem regierenden Duz- wertsteuereinnahmen. höhen, passe überhaupt nicht in die Land- Freund Gerhard klar. Sie rechneten dem Ein Argument, das den Kanzler offenbar schaft, kritisierte Berger. Bundeskanzler vor, was die beabsich- überzeugt hat. Wenn die Ministerpräsi- VW-Chef Pischetsrieder wurde noch tigte Erhöhung der Dienstwagensteuer denten der Länder, in denen Autofabriken deutlicher: Wenn sich die Stimmung im bringe: keine Mehreinnahmen, aber sehr stehen, sich nur hartnäckig genug gegen Lande so verdüstere, dass alle den Kauf viel Ärger. diese Steuererhöhung wehrten, signali- eines neuen Autos um ein, zwei Jahre ver- Umsätze und Gewinne bei Herstellern sierte Schröder, werde er den Plan wieder schöben, habe die Industrie ein Problem. wie Mercedes-Benz, BMW, VW oder Audi aufgeben. Dietmar Hawranek, Das machten auch andere Granden würden, so ihr Angst erzeugendes Szena- Horand Knaup, Christian Reiermann, Michael Sauga, Ulrich Schäfer vom Fach, etwa Daimler-Chef Jürgen rio, massiv einbrechen – und damit sowohl

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wohl Kapelke, der bis heute bei seiner AFFÄREN Version bleibt, als auch Fischer be- streiten, die beiden Gespräche mit- Verräterisches geschnitten zu haben. Sicher ist nur: Nachdem Detektiv Kapelke seinen LKA-Kontaktleuten von dem angeb- Band lichen Plan erzählt hatte, liefen alle Vorbereitungen für das Verbrechen In einem grotesken Kriminalfall nach dem Drehbuch der Polizisten: Den Laptop, auf dem der Detektiv gerät Sachsens höchster Polizist Entwürfe für Erpresserbriefe verfass- unter Druck: Ein V-Mann te, stellte das LKA. Jedes Telefon- soll einen vermutlich Unschuldigen gespräch mit Fischer führte Kapelke regelrecht hereingelegt haben. im Beisein von Fahndern. Die un- orthodoxen Methoden waren auch in as Corpus delicti ist fünf Zentime- der Behörde umstritten. Ein Ermitt- ter lang und 2,5 Zentimeter breit. ler: „Das hat doch mit der Verhinde- DAuf der Mikrokassette Olympus rung eines Verbrechens nichts mehr MC 60 sind Gespräche zweier Männer zu zu tun.“ hören. Eines, rund 15 Minuten lang, wur- Doch der damalige und heutige de auf einer Parkbank geführt, das andere, LKA-Chef Peter Raisch war in dem 20 Minuten lang, im Büro. Zwar rauscht Fall nicht mehr zu bremsen. Die und hallt es mitunter recht kräftig auf dem ganze Klaviatur sollte gespielt wer- Band, aber beinahe jedes Wort der ver- den: Telefonanschlüsse wurden ange- traulichen Treffen im Oktober 1995 ist gut zapft, per Richtmikrofon ließ Raisch zu verstehen. Fischers Mittweidaer Domizil belau- Der Inhalt des jetzt aufgetauchten Bands schen – etwas außerhalb der Lega- ist für die sächsischen Polizeibehörden lität: Seine Beamten hatten den brandgefährlich. Denn die Kassette lässt Großen Lauschangriff gestartet, be-

nicht nur einen grotesken Kriminalfall aus SEIDEL ANDREAS vor sie die Genehmigung eines Richt- der ostdeutschen Provinz in einem ganz Lauschopfer Fischer: Privatdetektiv angeheuert ers dafür hatten, angeblich zunächst anderen Licht erscheinen. Sie legt vor al- zur Probe. lem den Verdacht nahe, dass ein V-Mann Die Richter stützten sich vor allem auf Dass die Gespräche im Oktober 1995 mit Wissen von Beamten des Landeskri- die Aussagen des Privatdetektivs. Was sie zwischen Kapelke und Fischer ebenfalls minalamts einem unbescholtenen Bürger nicht wussten: Spürnase Kapelke hatte illegal mit Wissen oder gar im Auftrag eine Falle stellte, die diesem eine drei- schon mehrfach für Geheimdienste und die des LKA mitgeschnitten wurden, bestrei- jährige Gefängnisstrafe einbrachte.Und Polizei gearbeitet. Diesmal schaltete er die tet LKA-Sprecher Lothar Hofner: „Uns noch schlimmer: Die Beamten hielten mög- Fahnder ein, kurz nachdem Fischer ihn an- sind auch keine Mitschnitte von solchen licherweise still, um eine dubiose Ab- geblich für die Entführung angeheuert hat- Gesprächen aus der damaligen Zeit be- höraktion zu vertuschen. te. Präzise gab er später zu Protokoll, wie kannt.“ Im November 1996 hatte das Landgericht der Banker sich die Details gedacht haben Wer auch immer lauschte oder aufnahm Chemnitz Kurt Fischer, den ehemaligen soll. Einen „genialen Plan“ habe er, soll Fi- – so viel steht fest: Seit nunmehr fast vier scher ihm auf der Bank eines Parks in Mün- Jahren kann sächsischen Ermittlungs- chen erklärt haben. Schramm sollte behörden die Existenz von Mitschnitten während Fischers Urlaub auf Teneriffa ent- aber schwerlich verborgen geblieben sein. führt und nach der Zahlung des Lösegeldes Im wieder aufgerollten Verfahren vor dem wieder freigelassen werden. Das Erdloch, in Landgericht Zwickau 1998, da war Fischer dem dann das Lösegeld deponiert werden nach zwei Jahren Haft bereits wieder frei, sollte, so gab Kapelke das Gespräch wieder, legte er zu seiner Entlastung ein Tonband wollte Fischer rechtzeitig vorbereiten. vor, das einen vierminütigen Ausschnitt Nur: Auf dem jetzt aufgetauchten Mit- des Gesprächs mit Kapelke am 26. Oktober schnitt dieses Gespräches findet sich von all 1995 enthielt. Ein offenbar wohlmeinender dem überhaupt nichts. Der Banker erkun- Anonymus hatte Fischer den Mitschnitt zu- digt sich da nur, was denn die Recherchen gespielt.

WOLFGANG THIEME / DPA WOLFGANG Kapelkes in der Causa Schramm machen: Doch die Richter durften ihn nicht LKA-Chef Raisch Fischer hatte den Detektiv in der Tat be- hören. Noch im Gerichtssaal ließ die Krimi nach Polizei-Drehbuch auftragt, die DDR-Vergangenheit des Land- Staatsanwaltschaft das Band beschlagnah- rats auszuforschen – mehr aber offenbar men, die Begründung: Es müsse erst ge- Chef der Kreissparkasse Hainichen in Mitt- nicht. Der Banker und Schramm lieferten prüft werden. Fischer forderte das Band weida, zu drei Jahren Haft verurteilt. Die sich damals erbitterte Gefechte um die dann zurück. Die Staatsanwaltschaft will es Richter hielten es für erwiesen, dass Sparkassenpolitik. auch abgeschickt haben. Bei Fischer ist es Fischer den Regensburger Privatdetek- Von einer Entführung aber spricht auf aber nie angekommen. tiv Rainer Kapelke am 21.Oktober 1995 dem Band allein Detektiv Kapelke („ein Ein Band mit dem kompletten Ge- bei einem Treffen in einem Münchner paar Tage verschwinden lassen“). Fischer sprächsinhalt wurde jetzt dem SPD-Land- Park angeheuert hatte, um den Land- reagiert darauf sogar eher belustigt: „Nicht tagsabgeordneten Karl Nolle zugespielt. rat des Kreises Mittweida, Andreas dass Sie da auf irgendeinen Schmarrn kom- Prompt erstattete der Parlamentarier am Schramm, zu entführen. Angeblich wollte men, ich sehe auch gerne Krimis.“ Freitag vergangener Woche Strafanzeige Fischer damit 16 Millionen Mark Lösegeld Wie dieses Band, das den Banker entlas- wegen des „Verdachts der Beweisunter- erpressen. tet, zu Stande kam, ist noch unklar. So- drückung“. Andreas Wassermann

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Werbeseite Ingenieur Gerhardt (1991 in Kuweit) „Zweites Mal Opfer der Weltpolitik“

ein einziges Mal hörte seine Familie da- heim etwas von ihm direkt: „Ich möchte mitteilen, dass es mir gut geht und dass es mir an nichts fehlt“, musste Gerhardt in die Kamera des irakischen Staatsfernse- hens sprechen – die Bilder gingen um die ganze Welt. Wenig später bekamen die Geiseln aus dem Ausland auch noch Besuch von ei- nem irakischen General, der sie zynisch als „Helden des Friedens“ bezeichnete. Da wurde den Deutschen klar, dass Saddam sie von nun an als menschliche Schutz- schilde für seine Chemieanlagen miss- brauchen würde. In der Fabrik war Gerhardt in einem Raum untergebracht, durch dessen Wände CHEMIEWAFFEN sich ätzende Flüssigkeit gefressen hatte. Der Gestank war beißend, er nahm ihm den Atem. Der Kölner bekam kaum noch Gift oder Knoblauch Luft: „Mein ganzer Hals war ein Schleim- klumpen.“ Der Fall einer ehemaligen deutschen Geisel von Saddam Hussein Erst später erfuhren Gerhardt und die anderen Gefangenen, wo sie sich befan- zeigt, wie schwer sich Gerichte mit Kriegsopfern tun. den: in einem Labor, rund 80 Kilometer westlich von Bagdad – einer Fabrik zur uf 120 Seiten hatte Wolfgang Ger- Gerhardt könne schließlich keinen „si- Chlorherstellung und Wasseraufbereitung, hardt seine Erinnerung an die cheren Nachweis“ darüber beibringen, dass wie die Wächter sie beruhigten. Doch in Aschrecklichsten Tage seines Lebens Saddams Gas die Krebskrankheit verur- dem Report eines US-Senators wurde aufgeschrieben. „Mein Weg durch die sacht habe. Und so wird der Fall Gerhardt die Anlage nach dem Krieg als Giftgas- Angst“ nannte der Techniker aus Köln sein auch zu einem Musterbeispiel dafür, wie fabrik bezeichnet. Vorprodukte chemischer Buchmanuskript. Es handelte von einem schwer sich die deutsche Gerichtsbarkeit Kampfstoffe sollen dort hergestellt worden Martyrium – das freilich da noch ein gutes damit tut, über die menschlichen Folgen sein – für die Nervengase Sarin und VX so- Ende zu nehmen schien. kriegerischer Auseinandersetzung zu ur- wie Senfgas. Während der Golfkrise, wenige Monate teilen. Nachdem der heutige Uno-Generalse- vor dem Krieg, hatte Saddam Hussein den Wolfgang Gerhardt lag am 2. August 1990 kretär Kofi Annan mit dem Versuch ge- Monteur der Firma Klöckner-Humboldt- frühmorgens in Zimmer 170 des Kuwait scheitert war, die gefangenen Ausländer Deutz (KHD) als menschlichen Schutz- Sheraton Hotels; der Fachmann für Diesel- schild gegen die möglichen Luftangriffe der motoren hatte in Kuweit für seine Firma Alliierten gefangen gehalten: 86 Tage lang, die Boote eines holländischen Unterneh- bis Gerhardt am 27. Oktober 1990 freikam. mens betreut. An diesem Tag überfielen „Eigentlich wäre diese Geschichte nach Saddams Truppen nicht nur den Nachbar- den 120 Seiten zu Ende gewesen“, sagt staat, sie nahmen auch Ausländer fest, die Gerhardt – wäre da nicht im November sie später als Geiseln benutzen wollten. 1993 das Karzinom an seinem linken Zusammen mit einem Kollegen und Stimmband entdeckt worden. Saddams sechs weiteren Deutschen wurde Gerhardt ehemalige Geisel war an Kehlkopfkrebs in den Irak verschleppt, dort mehrmals hin erkrankt, nach Meinung von Medizi- und her transportiert – bis er in einer streng nern die Folge seiner Kasernierung in ei- bewachten Industrieanlage landete. Nur

ner irakischen Giftgasfabrik: GETTY IMAGES „Auf diese Weise wurde ich Mutmaßliche Chemieanlage im Irak kleiner Sack nun ein zweites Schleimklumpen im Hals Mal Opfer der Weltpolitik.“ Doch das war nur der An- aus dem Irak zu holen, erschlich sich Ger- fang. Offenbar wurde Ger- hardt mit einem Gedicht an den großen hardt, 58, nach seiner Frei- Führer Saddam die Entlassung, sein Werk lassung auch noch Opfer endete mit Strophe vier: der deutschen Bürokratie. Dieses Volk hat Blut gegeben, Denn seit nunmehr acht Jah- hat geopfert vieler Leben, ren versagt ihm die Maschi- auf das Irak ewig lebt. nenbau- und Metall-Berufsge- 17 Tage nachdem er seinen Aufpassern nossenschaft in Düsseldorf die das schmeichlerische Stück Lyrik überge- Anerkennung des Krebsge- ben hatte, war der Kölner Techniker frei. schwürs als Berufskrankheit Doch daheim litt er bald immer stärker

und damit eine Entschädi- HAIDER / AP ALI an Heiserkeit und Schluckbeschwerden. gung. Irakische Militärs: „Blut gegeben“ Nach einer Operation stellten Mediziner

48 der spiegel 45/2002 Deutschland schließlich die Diagnose: Plattenepithel- karzinom – Kehlkopfkrebs. Mehrere Ope- rationen folgten. Danach dauerte es jeweils mehrere Wochen, bis Gerhardt seine Stim- me wieder zurückbekam. Ein Arzt von KHD beantragte für ihn die Anerkennung des Krebses als Berufs- krankheit. Doch die Berufsgenossenschaft wollte nicht zahlen, und so landete die Sa- che vor dem Sozialgericht. Ein Gutachter- marathon begann. Der erste Sachverständige hielt einen Zusammenhang mit Giftgas für unwahr- scheinlich. Thomas Deitmer, damals Chef- arzt der Klinik für Hals-Nasen-Ohren- heilkunde in Augsburg, hingegen erklärte, der Zusammenhang zwischen Senfgas- produktion und Krebs sei belegt. Das ha- be Zahlenmaterial aus dem Zweiten Welt- krieg gezeigt. Vieles, so der Professor, spreche dafür, dass die „kriegerische In- ternierung“ Gerhardts die Ursache für das Karzinom sei. Heinz Maier, Professor am Bundes- wehrkrankenhaus Ulm, arbeitete sich in Berichte aus den USA ein und plädierte schließlich ebenfalls für die Anerkennung als Berufskrankheit – auch wenn Gerhardt früher einmal eine Weile lang geraucht habe. Doch ein Assessor der Berufsgenos- senschaft hielt die Erklärungen des Gut- achters „nicht für überzeugend“. Und so zog sich der Streit um die Aner- kennung als Berufskrankheit hin. Zwi- schenzeitlich hatte Gerhardt bei der Dort- munder Firma Uhde nachgefragt, ob sie ihm nicht helfen könne. Bei seiner Inter- nierung war er darauf gestoßen, dass die Tochterfirma der ThyssenKrupp AG einst- mals am Bau der irakischen Anlage betei- ligt war. Im Februar 2000 antwortete Uhde lapidar, dass es sich dabei um eine Ver- wechselung handeln müsse. Wenig später gab die Firma dann aber doch zu, die Chloranlage geliefert zu haben – diese sei „aber nicht in der Lage gewesen, chemische Kampf- und Nervengase zu pro- duzieren“. Am Schicksal Gerhardts trage sie deshalb keine Schuld – das Gegenteil kann niemand beweisen. Der Fall entfachte vor Gericht bald zu- dem einen bizarren Streit über die Gerüche in fremden Ländern. Gerade der von Ger- hardt „geschilderte Knoblauchgeruch“ sei ein „weiteres wichtiges Indiz“ für eine mögliche Gefährdung durch Senfgas, stell- te Gutachter Maier fest – das gefährliche Gift riecht ein wenig wie Senf, Meerrettich oder Knoblauch. Gerhardt selbst habe früher darauf hin- gewiesen, entgegnete die Berufsgenossen- schaft kühl, dass „in arabischen Staaten die Entwicklung von Knoblauchgeruch nicht ungewöhnlich sei“. Um seine Vergiftung mit Senfgas belegen zu können, sagt Gerhardt inzwischen resi- gniert, „müsste ich wohl schon eine Be- stätigung von Saddam Hussein bekom- men“. Udo Ludwig der spiegel 45/2002 49 Deutschland

CDU-Parteichefin Merkel MARCO-URBAN.DE

KARRIEREN Angela rennt Noch nie hatte eine Frau in Deutschland so viel politische Macht wie Angela Merkel. Vielen Westlern ist die CDU-Chefin aus dem Osten immer noch etwas unheimlich. Förderer staunen darüber, wie virtuos sie Menschen für ihre Ziele gewinnt – oder benutzt. Von Matthias Geyer

s sind lange, hässliche Gänge, die zu sammlung fand in seiner Wohnung statt. Er alt und die Frau mit der meisten Macht in den Anfängen von Angela Merkel arbeitete im „Haus der Demokratie“ an Deutschland. Die Männer schlagen die Eführen. Man läuft über einen Plaste- der Friedrichstraße – und an irgendeinem Hacken zusammen. steht auf- Fußboden, der schon da lag, als es die DDR Tag im Dezember 1989 war sie da. „Sie recht vor ihr und küsst ihr die Hand. noch gab, und kommt an einem schall- fragte, ob sie mal zugucken könne“, sagt Es ist der Dienstag voriger Woche, An- isolierten Raum vorbei, in dem Erich Neubert. Sie begann als Bürohilfe. Dann gela Merkel tritt zum ersten Mal als Oppo- Honecker noch vor wenigen Minuten eine gab er ihr für ein paar hundert Ost-Mark sitionsführerin auf. Gerhard Schröder liest ZK-Sitzung abgehalten haben könnte. einen Vertrag als Pressesprecherin. seine Regierungserklärung vor, er spricht Ehrhart Neubert sitzt in einem Zimmer Er hat sie nur noch ein paar Wochen er- wie jemand vom Verband der Allgemei- am Ende des Gangs, ein schmaler Mann lebt. Es war die Zeit, in der der Demokra- nen Ortskrankenkassen – dann kommt sie. mit langen dünnen Haaren, 62 Jahre alt. Er tische Aufbruch damit beginnen musste, Sie macht kurze schnelle Schritte, ihre trägt einen grauen Pullover, der so aussieht, richtige Politik zu machen. Es ging nicht Arme fliegen an den Hüften entlang, sie hat als wäre er noch mit Ost-Mark bezahlt wor- mehr um Widerstand, es ging um Interes- den Kopf nach vorn geschoben, sie sieht den. Neubert raucht viel, der Dampf seiner senvertretung, um Kompromisse, darum, aus, als wollte sie Schröder wegrammen. Camel-Filter liegt über den Akten, er hat mitzumachen. Neubert hatte sein ganzes Sie nennt ihn „den Kennedy-Verschnitt aus Türme davon in seinem Zimmer. Er ist Leben in der Opposition verbracht. Er Hannover“. Schröder guckt, als täte ihm et- Fachbereichsleiter für Bildung und For- konnte das nicht und zog sich zurück. was weh. Sie hat eine Runde gewonnen, schung bei der Stasi-Unterlagen-Behörde. Angela Merkel blieb. „Sie hat die Macht, schon wieder eine. „Das hat Spaß ge- Neubert war der erste Mann im politi- die andere zurückgelassen haben, einfach macht“, sagt sie. schen Leben von Angela Merkel, vielleicht aufgehoben“, sagt Neubert. Am Abend vorher hatte sie noch an den war er deshalb der wichtigste. Es ist gut Ganz da vorn sitzt sie, auf einem blau- Feinheiten gearbeitet, sie saß in ihrem möglich, dass Angela Merkel niemals Poli- en Stuhl in der ersten Reihe, es ist ein paar Büro, von dem aus man die Reichstags- tikerin geworden wäre, wenn sie ihn nicht Minuten vor Sitzungsbeginn im Deutschen kuppel sehen kann. Hinter der Kuppel liegt kennen gelernt hätte. Bundestag, und sie wartet auf die Männer. das Kanzleramt, es ist nicht weit von hier. Er war einer der Erfinder des Demokra- Angela Merkel ist Partei- und Fraktions- Angela Merkel hat meistens müde Au- tischen Aufbruchs, die Gründungsver- chefin der Christenunion. Sie ist 48 Jahre gen. Sie trinkt ständig Kaffee. Sie muss

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Werbeseite wie jemand, der eine Mario- nette bewegt: Wenn ich an dieser Strippe ziehe, dann wackelt’s da. Es ist der Spaß an der Herrschaft über die Me- chanik, aber auch an der Herr- schaft über Menschen.“ Sie ist umstellt von Män- nern, deshalb achtet sie dar- auf, dass sie immer mächtig wirkt. Sie hat vor längerer Zeit in der „FAZ“ einen Beitrag gelesen, der davon handelte, dass ihr die Aura der Macht fehlt, und sprach mit Vertrau- ten darüber, weil sie das än- dern wollte. Sie bekam viele Ratschläge: dass sie niemals zu

MICHAEL EBNER / MELDEPRESS den Leuten gehen soll, son- DDR-Bürgerin Merkel (1990)*: Sie hat gelernt, misstrauisch zu sein dern dass die Leute zu ihr kommen müssen. Dass sie wach bleiben, sie darf jetzt nichts falsch immer aussah wie jemand, der im Osten eine Handtasche tragen soll, wie Maggie machen, sonst stimmt am Ende das Ergeb- nicht genug zu Essen gekriegt hat. Thatcher sie hatte. Dass sie niemals allein nis nicht. Sie ist mitten in einem Experi- „Ich habe ihr zweimal angeboten: Wenn irgendwo auftaucht, sondern immer mit ment, und wenn es aufgeht, wenn sie alle du Zeit hast, komm vorbei, eine Tasse Kaf- Begleitern. Sie fand das alles nicht dumm. nächsten Schritte richtig gemacht hat, fee kriegst du immer“, erzählt de Maizière. Sie lässt inzwischen ganz gern die Leute zu könnte sie die erste Kanzlerin der Bun- „Aber sie ist leider noch nicht ein Mal hier sich kommen. Wenn ein Mann sie fragt: desrepublik Deutschland werden. gewesen. Ich habe das Gefühl, dass Ange- „Wollten Sie zu mir?“, dann antwortet sie: Man kann es sich sparen, sie danach zu la Berührungsängste hat mit allen Leuten, „Nein, Sie wollten zu mir.“ fragen. Vor kurzem hat es Reinhold Beck- die sie in ihrer Karriere gefördert haben Es funktioniert. „Netzwerke spinnen, mann in seiner Talkshow versucht. Ihr oder mal wichtig waren.“ Deals machen“, vermutet Angela Merkel, Mund wurde spitz, und dann sagte sie: „Den Lothar de Maizière versteht das nicht. Er seien Fähigkeiten, die man gemeinhin Fall sprechen wir jetzt mal nicht durch.“ ist Jurist. Sie ist Physikerin. Physiker den- eher in männlichen Skatrunden findet. Sie ist in Templin aufgewachsen, als ken anders als Juristen. Wahrscheinlich Aber das kann sie auch, „inzwischen ganz Tochter eines Pfarrers. Im Wohnzimmer wird er sie nie ganz verstehen. gut sogar“. ihres Vaters wurden Gespräche geführt, Früher hat Angela Merkel in Physikla- Vor wenigen Wochen hat der CDU- die draußen keiner hören durfte, sie hat ge- bors chemische Reaktionen beobachtet. Bundestagsabgeordnete ein lernt, misstrauisch zu sein. Wahrscheinlich Sie musste ausrechnen, wie lange es dau- neues Büro bezogen. Es ist ein paar Qua- guckt sie deshalb die Medienleute manch- ert, bis Kohlenwasserstoffmoleküle unter dratmeter größer als ein normales Abge- mal an, als kämen die von der Stasi. hohen Temperaturen zerfallen, um dann ordnetenbüro, und er kann jetzt auch auf Angela Merkel ist von außen in die Bun- Kohlenwasserstoffketten zu bilden. Heute die Kuppel gucken. Kauder war mal einer desrepublik gekommen. Sie musste mehr beobachtet sie Berufspolitiker und rech- der größten Gegner, die Angela Merkel über das Land nachdenken als die, die in net sich aus, wie es weitergehen wird. hatte. Kauder hat Stimmung gegen sie ge- dem Land groß wurden. Vielleicht hat sie Vielleicht ist diese Berliner Republik so macht, er war gegen die von ihr ange- es deshalb besser begriffen. „Man sieht die etwas wie Angela Merkels großes Ver- strebte Kanzlerkandidatur. Er traute ihr Schwachstellen besser. Man hat einen an- suchslabor. „Ich denke vom Ende her, nicht zu, dass sie das kann. deren Blick als jemand, der mit dem Sys- aber induktiv, ich reihe eine Perle an die Kauder saß in Berlin in den hinteren tem verwoben ist“, sagt sie. nächste“, sagt sie. Reihen. Als Merkel Fraktionschefin der Sie wohnt jetzt in Berlin-Mitte, ganz Wenn man Lothar de Maizière fragt, was Union wurde, rief sie ihn an und bot ihm oben in einem Haus gegenüber vom Per- der Unterschied ist zwischen seiner frühe- den Posten des Ersten Parlamentarischen gamon-Museum. Im Erdgeschoss ist eine ren Pressefrau und der CDU-Chefin von Geschäftsführers an. In diesem Amt macht Anwaltskanzlei untergebracht, aber sie heute, dann sagt er: „Sie ist wie eine West- man die Drecksarbeit für einen Fraktions- sieht den Anwalt nie; wenn er morgens um politikerin geworden. Sie hat Spaß daran chef, aber man steigt auch auf dabei. zehn kommt, ist sie schon „Mit allem habe ich gerechnet“, sagt wieder weg. Die Kanzlei Kauder, „aber damit nicht.“ gehört Lothar de Maizière. Er sitzt im Bundestag neuerdings in der Merkel war de Maizières ersten Reihe, direkt neben ihr. „Zu kluger stellvertretende Pressespre- Machtpolitik gehört es eben, Mehrheiten cherin, damals, als er der ers- zu organisieren“, sagt Frau Merkel. te und letzte frei gewählte Ehrhart Neubert, der Mann, durch den Regierungschef der DDR sie Politikerin wurde, sieht hinter den Tür- war. De Maizière ist nicht men von Akten hervor, die in seinem Zim- mehr so dünn wie damals, mer stehen, und sagt: „Nach Hannah als er neben Helmut Kohl Arendt ist Macht die Fähigkeit, Beziehun- gen herzustellen und diese Beziehungen * Oben: in einer Fischerhütte im Ost- zu konsolidieren.“ Angela Merkel habe das seebad Baabe auf Rügen; rechts: am 12. schon damals gekonnt. Der Unterschied zu September 1990 auf dem Flug zum

Zwei-plus-Vier-Außenministertreffen in H. DARCHINGER J. früher sei, dass sie nicht mehr nur in Moskau. Merkel-Chef de Maizière, Merkel*: „Komm vorbei“ Lücken reinspringe, die andere frei mach-

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Werbeseite Deutschland ten. „Inzwischen kann sie auch Situationen Clement werden, der Super-Vize-Frak- könnte fast Mitleid kriegen bei so einem schaffen, in denen Lücken entstehen.“ Man tionschef gewissermaßen. Sie hatte danach Satz. Wahrscheinlich bedeutet er aber habe das am Beispiel von Friedrich Merz auch noch mal mit ihm telefoniert, es war nichts anderes, als dass sie nicht so gern schön beobachten können, sagt Neubert. eigentlich alles klar, und jetzt liest sie so zurückguckt. Sie hat meistens eine Arm- Merz hatte als Fraktionschef die Macht, was. Sie steckt die Zeitungen in ihre Hand- banduhr vor sich liegen, wenn sie Ge- die Merkel noch fehlte. Dieses Mal hat sie tasche zurück, dann packt sie Briefpapier spräche führt. Es gibt noch immer etwas auf die Kanzlerkandidatur verzichtet, weil aus und einen grünen Stift. Sie schreibt danach zu tun, was wichtiger zu sein die meisten Männer, auch Merz, meinten, Merz einen Brief. Sie macht ihr Angebot scheint. Sie muss ständig weiter. Stoiber könne das besser. Manchmal, wenn noch einmal schriftlich, zur Sicherheit. Als Angela Merkel noch in der DDR leb- Stoiber während der Morgenkonferenzen Die mächtigste Frau Deutschlands hat te, ging sie jeden Donnerstagabend mit ei- einen Satz anfing und den dann ins Nir- eine klare, runde Handschrift, sie würde in ner Freundin in die Damensauna. Der gendwo ausfliegen ließ, hat sie den Satz der Schule beim Schönschreiben gewin- 9. November 1989 war ein Donnerstag. Im für ihn an ein Ende gebracht. nen. Wenn man nur ihre Handschrift ken- Fernsehen sah sie Günter Schabowski, der etwas von „Privatreisen nach dem Ausland“ stammelte. Die meisten Berliner gingen an die Grenzübergänge – Merkel ging in die Sauna. Als sie zurückkam, war die Grenze an der Bornholmer Straße auf. Sie lief einfach den anderen hinterher, mit ihrer Saunatasche in der Hand. So hat sie es immer ge- macht. Sie beobachtete erst mal, wohin sich die Dinge entwickelten, dann rannte sie los und blieb nicht mehr stehen. Manche behaupten, Merkel habe auf ihrem Weg nach oben jede Menge Män- ner geopfert. Wenn Wolfgang Schäuble über Angela Merkel spricht, beugt er sich manchmal in seinem Rollstuhl nach vorn und guckt an die Decke. „Sie ist einer der intelligentesten Menschen, die ich in der Politik kennen gelernt habe“,

DPA (L.); UTA RADEMACHER (R.) RADEMACHER (L.); UTA DPA sagt er dann. Er macht den Merkel-Opfer Kohl, Schäuble, Merz*: Netzwerke spinnen, Deals machen Eindruck, als müsse er sich zu diesem Satz quälen. Sie war loyal, aber jetzt ist sie dran. Mer- nen würde, könnte man meinen, sie sei Schäuble war mal genauso mächtig, wie kel hat Merz aus dem Weg geräumt, so wie noch immer Helmut Kohls „Mädchen“. sie es jetzt ist. Als er nach Helmut Kohl man Bäume umhaut, wenn man eine neue Man würde sie wieder unterschätzen. Parteichef wurde, machte er sie zur Gene- Autobahn bauen muss. Vielleicht hat dieser Brief noch gefehlt. ralsekretärin. Dann flogen Helmut Kohls Vier Wochen danach ist sie im Flugzeug Jedenfalls sagte Merz zu, nachdem er ihn schwarze Kassen auf, die Spendenaffäre unterwegs, es ist Sonntag, sie kommt von gelesen hatte. Mit Merz war es wie mit ei- klebte an der CDU und an ihrem Vorsit- Düsseldorf und muss nach Berlin. Sie sitzt nem Kohlenwasserstoffmolekül. Erst ist es zenden Schäuble, und die Generalse- auf Platz 3D und liest die neuen Zeitungen. unter großer Hitze zerfallen, und dann hat kretärin veröffentlichte einen Artikel in In den Zeitungen steht, dass Merz gekränkt es mit anderen eine Kette gebildet. Es war der „FAZ“. Es hieß darin, die CDU müsse ist, dass er diese Niederlage nicht vergisst, nur eine Frage der Zeit. sich von Kohl befreien. „Die Partei muss dass er ein starker Gegenspieler für sie Es ist schon lange dunkel draußen, die laufen lernen“, schrieb sie. werden kann und dass sie dann nicht nur CDU-Chefin ist noch in ihrem Büro, die Angela Merkel hat mit diesem Artikel auf den Hessen Roland Koch aufpassen Kuppel vom Reichstag ist erleuchtet, man gleich zwei Männer erledigt, Kohl und muss, der in vier Jahren natürlich auch sieht ein paar Touristen, die darin spazieren Schäuble. Schäuble wusste nichts von dem Kanzler werden will. gehen. „Als ich zum ersten Mal im Kabinett Beitrag, und er selbst hätte die Partei nie- Bevor diese Artikel erschienen waren, saß, habe ich gedacht, ich bin hier auf Be- mals von Kohl befreit, weil ihm der Mut hatte sie eine Stunde lang mit Merz gere- such.“ Sie betreibt gerade mal zwölf Jahre dazu fehlte. De Maizière sagt, Merkel habe det und ihm angeboten, ihr Stellvertreter Politik, aber sie war schon von allem etwas. mit diesem Brief die Strategie der Partei an zu werden. Sie brauchte ihn, weil sie weiß, Sie war Frauenministerin, Umweltministe- Schäuble vorbei bestimmt: „Sie hat ihn de- dass er auf dem weiten Feld der Wirtschaft rin, Generalsekretärin, sie wurde Partei- montiert, auf Deutsch gesagt.“ der Beste ist, den die Union hat. Merz soll- chefin und jetzt Fraktionschefin. Die Frage „Ha ja“, sagt Schäuble. Ha ja heißt bei te der Gegenspieler zum Superminister ist, ob sie sich noch über sich wundern kann. ihm immer, dass er etwas kleiner machen Sie überlegt etwas länger als sonst. Dann will, als es ist. * Links: im Mai 1998 auf dem CDU-Parteitag in ; sagt sie: „Wenn ich mehr Zeit hätte, dann Er braucht sie ja noch. Sie hat ihn in der rechts: Ende September im Bundestag. würde ich mich über mich wundern.“ Man Fraktion als einen ihrer Stellvertreter

54 der spiegel 45/2002 durchgesetzt. Ohne sie wäre er jetzt nur ein Neulich, am 3. Oktober, sind sie zum gestürzter Parteichef mit einem einfachen Festakt der Deutschen Einheit zusammen- Bundestagsmandat. Auch sie braucht ihn gekommen, die ganzen Männer aus dem noch. Sie muss die Richtung bestimmen. Westen und die Frau aus dem Osten. Es gab Schäuble hat schon Kohl geholfen, als der einen Empfang im Konzerthaus am Gen- die Richtung suchte. darmenmarkt, Angela Merkel stand etwas Von Wolfgang Schäuble weiß die CDU, am Rand und guckte sich die Männer an. warum er ausgerechnet in dieser Partei ist. Die Männer nickten immer freundlich, Von Angela Merkel weiß die CDU das im- wenn sie sie sahen. mer noch nicht so genau. „Manchmal komme ich mir vor, als Die Pfarrerstochter wuchs in einem lin- wenn ich in einem permanenten Fernseh- ken Milieu auf, und sie hat damals, als die Interview wäre“, sagt sie. Sie mag keine Mauer gerade weg war, auch bei der SPD Fernseh-Interviews. Sie fühlt sich zu sehr vorbeigesehen. Aber bei der SPD sprach beobachtet. Die Leute vor dem Fernseher man sich mit „Genosse“ an und sang „Brü- könnten darauf warten, dass sie einen Feh- der, zur Sonne, zur Freiheit“, und deshalb ler macht, und manchmal glaubt sie, dass gefiel es ihr da nicht. Sie ging zum Demo- auch die CDU-Männer aus dem Westen kratischen Aufbruch, und der ließ sich ir- darauf warten. gendwann von der CDU verschlucken. Sie hat noch vier Jahre vor sich. Sie Manchmal ist sie in ihrer Partei noch im- darf nicht viel falsch machen in diesen mer so fremd wie damals bei der SPD. Als vier Jahren, sonst kommt Roland Koch aus die letzte Wahl verloren war, hat sie eine seinem Versteck und wird Kanzlerkan-

kleine Debatte losgetreten, es war gewis- BISKUP / BOEHMEDIA.DE DANIEL didat. Koch sagt nichts über Merkel, er sermaßen ein Experiment im Experiment. Christdemokratin Merkel wartet nur. Sie sagte, um die Leute in den Städten zu „Ich reihe eine Perle an die nächste“ Ehrhart Neubert sitzt unten vor dem erreichen, müsse sich die CDU auch ande- Eingang zur Stasi-Behörde auf seinem ren Lebensformen öffnen. Natürlich gab mehr. „Wofür Frau Merkel steht“, sagt er, Fahrrad, er will nach Hause, in die Woh- es Geschrei. Für Angela Merkel geht es um „ist nicht so schnell so klar erkennbar wie nung, wo der Demokratische Aufbruch ge- Mehrheiten. Für die Konservativen geht es bei anderen gestandenen CDU-Politikern.“ gründet wurde. Bevor er losfährt, sagt er ums Prinzip. Dann brummt er: „Wir passen schon auf.“ noch: „Sie wird es werden. Sie wird Kanz- Jörg Schönbohm ist ein Konservativer. Wir. Die Männer aus dem Westen. Sie ist lerin.“ Angela Merkel hebt die Macht auf, Der Innenminister von Brandenburg ist 65 eine Frau aus dem Osten. Sie sind sich noch die andere fallen lassen, sagt er. Sie lässt sie Jahre alt, er macht jetzt keine Karriere immer nicht geheuer. nicht fallen. ™ Werbeseite

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Werbeseite Außenminister Fischer „Kalter Hauch aus dunkler Grube“

(Schröder) im Brüsseler Verfassungskon- vent hatte, sieht „ein gewaltiges Stück Ar- beit“ vor sich. Der Konvent mit seinen 105 Vertretern von Regierungen und Parlamenten der alten und der neuen Mitgliedstaaten, des Europaparlaments und der EU-Kommis- sion will Mitte 2003 den Entwurf der Ver- fassung samt neuem Gemeinschaftsvertrag fertig haben. Fischer hat sich bis zum Som- mer Urlaubssperre auferlegt. Mit dem, was der Konvent seit März er- reicht hat, ist der deutsche Außenminister nicht zufrieden. Das sei ja alles „ganz nett“, mache aber „nur den zehnten oder fünften

ANNA-MARIA ROMANELLI ANNA-MARIA Teil eines wirklichen Schrittes“ hin zur politischen Integration Europas aus. Fischer im Konvent – er könnte der rich- EUROPA tige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Gerade mal zweieinhalb Jahre sind seit seinem großen Wurf vergangen. „Ein gewaltiges Stück Arbeit“ An der Berliner Humboldt-Universität hatte er seine Ideen vorgetragen zur Voll- Der Jubel über die Erweiterung kommt endung der europäischen Integration in einer Föderation, die auf einer „Souverä- zu früh – die EU der 25 Staaten ist nicht handlungsfähig. nitätsteilung von Europa und National- Joschka Fischer will nun die Reform vorantreiben. staat“ gründe. Was damals noch illusionär schien, wird jetzt wie selbstverständlich im er deutsche Kanzler griff zu den auf Antrag eines Landes, auch 62 Prozent Konvent umgesetzt. „Schon irre, wie ganz großen Vokabeln. Sein der Gesamtbevölkerung der Union – und schnell plötzlich alles voranging“, wundert DAußenminister neben ihm neigte obendrein muss die Mehrheit der im Rat sich der Minister. den Kopf zur Seite, zog die Augenbrauen vertretenen EU-Staaten dafür sein. Sollten Eine umfassende Erweiterung der EU, so hoch und lächelte gekünstelt vor sich hin. nach dieser Methode auch nur mittel- Fischer bei seinem Humboldt-Vortrag im Jetzt wachse endlich zusammen, was zu- schwere Probleme zur Lösung anstehen, Mai 2000, sei für Deutschland von „obers- sammengehöre, pries Gerhard Schröder orakelt Fischer, werde „ein kalter Hauch tem nationalem Interesse“ und setze einen beim Brüsseler EU-Gipfel am vorvergan- aus der dunklen Grube“ die Verantwort- „Verfassungsvertrag voraus, der festlegt, genen Freitag die Zustimmung der Staats- lichen schaudern lassen. was europäisch und was weiterhin national und Regierungschefs zur Aufnahme von Gelingen kann das große Abenteuer geregelt werden soll“. Gelingen könne die zehn neuen Mitgliedern, das sei ein „his- Osterweiterung nur, wenn der Nizza-Ver- große Reform nur, prophezeite der Grüne, torischer Tag für Europa und damit ein trag schleunigst revidiert wird – durch eine „durch eine konstitutionelle Neugründung guter Tag für Deutschland“. Joschka Fi- Verfassung mit klaren Regeln für das künf- Europas“. scher wusste es besser. „Die Erweiterung tige Zusammenleben. Fischer, der vorigen Heute sagt auch Valéry Giscard d’Es- bringt die EU in die Handlungsunfähig- Montag seinen ersten Auftritt als „persön- taing, der Präsident des Konvents, mit der keit“, sagte der grüne Chefdiplomat hin- licher Beauftragter des Bundeskanzlers“ Verfassung werde die Staatengemeinschaft terher, als die Mikrofone aus waren. Der Nizza-Vertrag, der nach dem späten Ja der Iren nun doch in Kraft tritt, schafft Reformvorschläge für die Ämter der EU-Präsidenten nur die formalen, nicht die wirklich not- Vorschlag von: Giscard Aznar-Blair- Fischer wendigen Voraussetzungen für die ver- d’Estaing Chirac deutscher größerte Union. Die Brüsseler Gesetzge- EU-Konvents- „ABC“-Vorschlag Außenminister Vorsitzender Nizza-Vertrag bungsmaschinerie steuert auf Stillstand zu. für den Immer noch müssen zu viele Entschei- Präsidenten ständiger Präsi- auf mehrere ständiger Präsi- halbjährlich dungen durch den Ministerrat, das Legis- des Minister- dent, für mehrere Jahre vom Rat dent, für mehrere wechselnde Jahre vom Rat bestellter mächti- Jahre vom Rat Präsidentschaft lativorgan der Mitgliedstaaten, einstimmig rats Vorbereitung und ergehen. Würde demnächst beispielsweise gewählt ger Präsident mit gewählt „Gesetzgeber“ weitgehenden Leitung der Sitzun- Malta mit seinen gerade mal 390000 Ein- Befugnisse nach Befugnisse nach gen; Vertretung der Nizza-Vertrag Kompetenzen Nizza-Vertrag EU nach außen wohnern ein Veto einlegen, hätten die für den restlichen 442 Millionen EU-Bürger zu pa- Präsidenten Übereinstim- Kommissions- erhält zusätzliche nach Zustimmung rieren. Aber selbst bei den mit Mehrheit der EU- mung mit dem präsident wird Kompetenzen; de- des Parlaments möglichen Beschlüssen, etwa zur Finanz- Nizza-Vertrag damit in seiner mokratische Legiti- durch den Rat für Kommission 5 Jahre ernannt und Wirtschaftspolitik, kann eine kleine „Regierung“ Stellung automa- mation durch Wahl tisch geschwächt im Parlament mit bestimmt die interne Staatengruppe den Rest blockieren. Organisation der Hinter einer Entscheidung mit qualifi- Zustimmung des Kommission Rats; ist dem Parla- zierter Mehrheit müssen, das schreibt das kann den Rücktritt Nizza-Verfahren vor, 73,9 Prozent der Rats- ment auch politisch einzelner Kommis- verantwortlich stimmen der Mitgliedstaaten stehen, dazu, sare verlangen

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„neu gegründet“. Die ewige Reformbau- schon auf Vordermann“? Wie solle das stelle Europa könne geschlossen werden. gehen mit Leuten vom Schlage Schröders Fischer hat seine eigenen Vorstellungen oder Chiracs? von der Architektur: Es gehe sowohl um Zwar wird es wohl einen permanenten die „Union der Staaten“ als auch um die Ratspräsidenten geben, denn das bisheri- „Union der Bürger und der Demokratie“. ge System der halbjährlich wechselnden Beide müssten sich in den Entscheidungs- Präsidentschaften hat bei 25 Mitgliedstaa- verfahren des Rats wiederfinden. Deutsch- ten ausgedient. Aber das dürfte ein Amt land favorisiert deshalb die „doppelte ohne Macht sein. Nach Fischers Vorstel- Mehrheit“: Ein Beschluss braucht die lung würde der Präsident „eher ein Ge- Mehrheit der Stimmen im Rat und der ver- neralsekretär des Rates sein, der allen brav tretenen EU-Bürger. Vom Nizza-Vertrag grüß Gott sagt“. Der Konventsvorsitzende unterscheidet sich das Procedere durch Giscard pflichtet bei, ein Präsident, ge- Einfachheit und Effizienz. wählt vom Rat, solle sich auf die bisheri- Außerdem gehe es, so der Außenminis- gen Aufgaben der rotierenden Ratspräsi- ter, um einen „fairen Kompromiss zwi- dentschaften beschränken, also Sitzungen schen Großen und Kleinen“. In der alten leiten und die EU nach außen protokolla- EU mit ihrem Zwang zu einstimmigen Ent- risch vertreten. Fischer möchte im Gegenzug den Kom- missionspräsidenten mit mehr Kompeten- zen ausstatten, auch seine demokratische Legitimation durch seine Wahl im Eu- ropäischen Parlament erhöhen – um den Preis, dass der Kommissionschef dann auch politisch zur Verantwortung gezogen wer- den kann. Hier sieht der deutsche Außenminister ein Kernproblem Europas: Brüssel müsse endlich auch für das zu belangen sein, was es anrichte. Noch werde ja nicht der ei- gentlich zuständige Wettbewerbskommis- sar Mario Monti, sondern der deutsche Kanzler „in den Werften in Rostock ge- steinigt, wenn dort Aufträge vorliegen, aber nicht angenommen werden dürfen“. Der Kommissionspräsident müsse künftig für seine Kommissare und deren Politik gera- destehen – sei es dank Mehrheiten im Par-

THIERRY ROGE / REUTERS THIERRY lament, sei es andernfalls durch Abwahl. Konventspräsident Giscard d’Estaing Die Bestellung des Kommissionspräsi- „Die Staatengemeinschaft neu gegründet“ denten stellt sich Fischer so vor: Eine Mehr- heit der Europaparlamentarier bestimmt scheidungen sitzen die kleinen Staaten als einen Kandidaten. Der Rat soll das Recht Gleiche unter Gleichen am Tisch. Wird nun erhalten, ihn abzulehnen. Ist der Kommis- die Mehrheitsentscheidung zur Regel, ver- sionspräsident im Rat akzeptiert und im lieren die Kleinen erheblich an Gewicht. Europaparlament gewählt, soll er Wei- Entsprechend gereizt reagierten die auf sungsbefugnis gegenüber den Kommissa- den Versuch einiger Großer, sich auch noch ren erhalten. institutionell mehr Macht zu verschaffen. Und der Konventsnovize aus Berlin „Der ABC-Vorschlag ist mausetot“, lernte wünscht sich ein gemeinsames neues Fischer aus seinen Gesprächen mit Vertre- Gremium europäischer und nationaler tern kleiner Staaten beim Brüsseler Gipfel. Abgeordneter, „die Verbindung von euro- Der Spanier José María Aznar, der Brite päischem und nationalem Souverän“ in Tony Blair und der Franzose Jacques Chi- einem Kongress, wie ihn Giscard ins rac – ABC – hatten sich gemeinsam für Gespräch gebracht hat. Dort solle nicht das den neuen Posten eines auf mehrere „große Labern“ angesagt sein, so Fischer. Jahre zu bestellenden, mächtigen Rats- Trete der Kongress viermal im Jahr zu- präsidenten stark gemacht. Die EU-Kom- sammen, könne er Strategien des Rats mission würde zu einer Art Sekretariat überprüfen, in der Außen- und Sicher- abgewertet. heitspolitik mitreden, Militäraktionen der Die Regierungschefs der kleineren EU- EU zwar nicht befehlen, wohl aber been- Staaten befürchten, eine solche Präsi- den. Auch über künftige Erweiterungen dentenfigur würde sie zu sehr in den hätte der Kongress zu befinden. Hintergrund drängen. Aber auch bei Reformen dieses Kalibers will Fischer den Großen gäbe es, davon ist Fischer mit Hilfe von Profis befreundeter Regie- überzeugt, nur Krach: Ob man sich ernst- rungen, vornehmlich aus Frankreich, vor- haft vorstellen könne, „George W. Bush antreiben. Er ist sicher, sein Beispiel wer- ruft bei einem EU-Präsidenten an, und der de Schule machen: „Da kommen bald noch sagt dem dann zu, ich bringe meine Jungs andere in den Konvent.“ Dirk Koch

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PARTEIEN Junge Keiler Die nächsten beiden Landtagswahlen, in Hessen und in Niedersachsen, entscheiden auch über die Zukunft der Nachwuchsstars von CDU und SPD, Roland Koch und Sigmar Gabriel. Behaupten sich die Ministerpräsidenten, gehören sie zur jeweiligen Kanzlerkandidaten-Reserve. MARCO-URBAN.DE PETER MÜLLER / REUTERS PETER MÜLLER SPD-Vorleute Gabriel, Schröder, Christdemokraten Merkel, Koch: Kronprinzen mit Prince-Charles-Risiko

s war im ZDF, eines dieser Streitge- gibt, die künftige Machtansprüche im Bund Auch deshalb gelten beide – trotz der spräche, bei denen man eine Minute mit der Macht ihrer Sprüche und Sprache neuen Machtfülle einer Angela Merkel, Edanach nicht mehr weiß, was gesagt begründen können, dann der Hesse und trotz eines Kanzlers Gerhard Schröder, der wurde, und fünf Minuten danach nicht der Niedersachse. Jeder der beiden ist be- seine politische Endlichkeit neu definiert mehr, welche Farbe die Krawatte von Bodo gnadet darin, eine Mülltonne so umzutre- hat – nach dieser Bundestagswahl als Kron- Hauser hatte. ten, dass es das ganze Land scheppern hört. prinzen und potenzielle Kanzlerkandidaten Natürlich war auch kein Politiker auf der Gerade erst, ein paar Tage nach der Bun- ihrer Parteien für 2006. Allerdings mit dem Stelle tot umgefallen, obwohl die Sendung destagswahl, stand auf so einer Tonne Prince-Charles-Risiko, dass es noch dauern „Nachtduell“ hieß und entweder der Dicke „Steuererhöhung“, und Gabriel traf sie mit kann, bis sie randürfen. Und unter dem links oder der Dünne rechts auf der Strecke voller Wucht, so wie Koch vor einem Jahr, Druck, dass sie unbedingt ihre nächsten hätte bleiben müssen. Doch egal wie viele da stand auf der Tonne „Sozialhilfe“, und Wahlen gewinnen müssen. Stichtag für Wortsalven herübergerattert waren, im- sein Reformmodell ging landauf, landab. Karriere oder Katastrophe: der 2. Februar mer Attacke, immer Schnellfeuer, dass es schwächere Gegner weggepustet hätte, Landtagswahlergebnisse in Prozent getroffen wirkte keiner der beiden, nicht mal ein bisschen angekratzt. Niedersachsen Hessen Also blieb eigentlich nur eines im Ge- SPD-Alleinregierung seit 1994 CDU/FDP-Koalition seit 1999 47,9 dächtnis: ein rhetorisches Kunststückchen, 45 als von links ein scharfer Schuss kam und 44,3 44,2 44,3 43,4 der Rechte die Kugel lächelnd zwischen 42,1 40,8 42,1 42,0 SPD 40,2 CDU den Zähnen auffing. „Sie sind ja ein wirk- 40 40,2 39,2 39,4 licher Maulheld“, höhnte der niedersäch- SPD 38,0 sische Ministerpräsident Sigmar Gabriel 35 CDU 36,4 35,9 (SPD) abends kurz vor elf über den hessi- schen Ministerpräsidenten Roland Koch 15 (CDU). Und Koch lachte den Spott einfach B’90/Grüne weg: „Da stehen Sie mir sicher nicht nach.“ 11,2 10 B’90/Grüne „Maulheld“. Was bei anderen für einen 9,4 8,8 Eklat reicht – bei Koch und Gabriel ist man 7,1 6,0 7,4 7,0 7,8 7,4 7,4 7,2 6,0 sich am Ende nicht mal sicher, ob sie sich 5,5 4,4 4,9 5,1 durch das Wort geschmäht oder geschmei- FDP FDP chelt fühlen. Denn wenn es in den beiden 0 Volksparteien CDU und SPD zwei Politiker 1986 1990 1994 1998 1987 1991 1995 1999

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2003, dann wird in Niedersachsen und in Hessen zeitgleich gewählt. Koch ist 44, Gabriel 43, jeder regiert ein Flächenland und tut das mit einem Selbst- bewusstsein, als hätte er nie etwas anderes gemacht – und als könnte das auch kein anderer besser. Beide eilten an die Macht, angetrieben von einer fixen Denke, der Summe aus Intelligenz und Reaktionsge- schwindigkeit. Die Kombination lässt Koch eher gewieft, Gabriel eher gewitzt erschei- nen, führt aber im Ergebnis zur gleichen Dominanz über blass wirkende Opposi- GOSLARSCHE ZEITUNG GOSLARSCHE Parteifreunde Gabriel, Schröder (1989) „Lieber dick als doof“

tionsführer, Gerhard Bökel in Hessen, Christian Wulff in Niedersachsen, jeder zurzeit nur Außenseiter bei den Wahlen. Beide, Koch und Gabriel, haben das glei- che Ziel erreicht, mit dem gleichen Willen, dem gleichen Tempo, nur: Gekommen sind sie aus ganz verschiedenen Richtungen, und deshalb ist selbst das Gleiche nur scheinbar gleich – sogar ihr Maulheldentum. Wenn Gabriel nämlich ein Maulheld ist, dann die Art, die niemals das Maul hält, zu allem etwas zu melden hat, zu Fußball- Übertragungsrechten, Kirch-Pleite, Rock- musik, immer mit der Gabe zur Zuspit- zung oder zum Plattmachen. „Quatsch“, sagt er dann einfach, wenn ihm eine Frage nicht gefällt, oder er übersetzt ein hoch komplexes Thema wie die Gesundheits- politik in vox populi: „Der Medizinmann ist auch in Zukunft nicht nur für die Häupt- linge da.“ Ein „Trüffelschwein für das Erspüren von Themen“ sei er, lobt eine Parteifreundin, allerdings immer in Gefahr, „übers Ziel hinauszuschießen“. Wenn dagegen Koch zum Maulhelden wird, dann, weil er bei Bedarf jeden über- brüllen kann. Noch heute brüstet er sich damit, dass er mal im Landtag so lange herumgezetert hat, bis ein SPD-Mann am Ende seiner fünfminütigen Redezeit nur „Herr Präsident, meine Damen und Her- ren“ herausbekam. Und im März war es der Ministerpräsident von Hessen, der bei der Bundesratsdebatte zur Zuwanderung am lautesten krakeelte. „Brüllen war das einzige Mittel, das ich in diesem Moment hatte“, sagt Koch. Dass für ihn in der Politik „erlaubt ist, was nicht verboten ist“, auch Geschrei als

64 der spiegel 45/2002 sammelt, mit denen Koch heute seine Macht befestigt hat: unter ihnen , immer noch Strippenzieher, selbst wenn er sich als Staatskanzleichef in der Spendenaffäre opfern musste, auch Karlheinz Weimar, nun Finanzminister. 260 Kilometer weiter nordöstlich sieht es dagegen für einen jungen Lehrer zu jener Zeit so aus, als hätte er seine Zukunft schon hinter sich: Einstellungsstopp, das Land Niedersachsen verwehrt Sigmar Gabriel, Lehrer für Deutsch, Politik und Soziologie, nach dem Referendariat die Übernahme in den Staatsdienst. Für Ga- briel schon wieder eine Wand, vor der er steht. Als er drei war, trennten sich seine Eltern; seine Mutter, eine Krankenschwes- ter, kämpfte sieben Jahre, bis sie das Sor-

MARC DARCHINGER MARC gerecht hatte und ihren Sohn zurückbe- Vorbild Kohl, Jungpolitiker Koch (1985): Schlachten gegen die Sozis kam. Der aber war in mehreren Fächern so abgesackt, dass seine Lehrerin ihn auf die taktisches Mittel, hat mit Kochs Herkunft Animal: 1972, mit 14, gründet Roland Sonderschule schicken wollte. Schon da- zu tun – so wie die Angst, nicht rechtzei- Koch seine eigene Ortsgruppe der Jungen mals hat er sich durchgebissen, erst auf der tig den Mund aufzumachen, mit dem Mi- Union. Mit 19 sitzt er im Stadtparlament Realschule, dann auf dem Gymnasium. lieu zu tun hat, aus dem Gabriel stammt. von Eschborn, wo er das politische Pöbeln, Die karge Kindheit in einem Arbeiter- Für Roland Koch war das Milieu die Par- Blöken und Motzen lernt. Und mit 20 über- viertel, die allein erziehende Mutter, der tei, und die Partei war immer rechts – die nimmt er den Kreisverband Main-Taunus, Kampf um sein Stück Bildung, dies alles ist erzkonservative Hessen-CDU aus Wehr- was die Hessen-SPD als Beitrag der CDU weit entfernt vom Frühfördersystem, das machtsoffizieren und Herrenreitern, die zum „Jahr des Kindes“ veralbert. Roland Koch in seiner Partei-Familie er- immer noch an einer Ostfront gegen Rote Doch Koch junior ist kein schutzbedürf- fährt. Doch genau das wird später Gabriels kämpften, nur dass sie die Front jetzt an die tiger Frischling in Papas Schwarzwild- Grundkapital an sozialdemokratischer Werra zurückverlegt hatten und im eigenen Reservat. Ohne Zeit mit einer Protestpha- Wirklichkeitserfahrung sein, das er immer Land überall Verräter vermuteten. Hier se zu vertrödeln, macht er für die hessische wieder einsetzt, um es sich mit Popularität war Koch schon als Kind Christdemokrat, CDU den jungen, angriffslustigen Keiler – verzinsen zu lassen. ein geborener Parteiaktivist, beklebte vor allem nach 1987, im Landtag gegen den Nun aber steht er erst mal vor der Wand, Streichholzschachteln mit Parteilogos und Grünen Joschka Fischer. und diese umgeht Gabriel, seit 1987 SPD- kauerte unter der Tischplatte, wenn oben Damals ahnen schon alle, dass er der Kreistagsabgeordneter, indem er im CDU- die Dreggers und Kanthers mit seinem Va- kommende Mann der Hessen-CDU ist, Herzland, im Wahlkreis Goslar, für den ter Karl-Heinz neue Schlachten gegen die doch Koch ist Stratege, einer, der die Din- Landtag kandidiert. Er hat eigentlich kei- Sozis planten. ge nicht einfach laufen lassen kann: Er ne Chance, redet seine Gegner in Grund Ihr größter Erfolg, abgesehen von vier sichert sich beim Klettern mit einer Seil- und Boden – und gewinnt. Jahren CDU/FDP-Regierung unter Walter schaft ab, die nach ihrem Treffpunkt Der Rest ist Geschichtsbuch: Kochs Sen- Wallmann mit Vater Koch als Justizminis- „Tankstellen“-Runde heißt und vor Jun- sationssieg bei der Landtagswahl 1999, wie ter, war deshalb ein frühreifes Political ge-Union-Kongressen jene Freunde ver- er – noch so ein Trüffelschwein, kurz vor Deutschland der Wahl, 14 Prozentpunkte zurück, „kein Also tut Gabriel immer etwas, oder zu- Thema, keine Chance“ – eine Debatte über mindest sagt er, dass er was tun werde, die doppelte Staatsbürgerschaft lostrat. oder er fordert, dass einer jetzt was tun Und Gabriels Griff nach der Macht, als er, müsse, und das tut er bevorzugt im Al- gerade eineinhalb Jahre Fraktionschef, leingang: Verlangte selbst die Einführung dem SPD-Ministerpräsidenten Gerhard von Studiengebühren, auch wenn seine Glogowski das Amt entwand, seinem Zieh- Landesvorsitzende, Bundesbildungsminis- vater „Glogo“, der sich die Flitterwochen terin , ganz anderer von der TUI hatte sponsern lassen. Meinung war. Oder kritisierte die EU- Seitdem haben beide Profil gewonnen, Sanktionen gegen das von Niedersachsen auch das aber auf sehr unterschiedliche ziemlich weit entfernte Österreich, obwohl Weise: Koch ist es mit der Axt eingehauen der Kanzler sich für Sanktionen einsetzte. worden, während der Schwarzgeldaffäre Egal bei welchem Thema – Gabriel pro- der hessischen CDU, die seinen Vorgänger duziert Vorschläge wie ein Ideenautomat, als Parteivorsitzenden, Manfred Kanther, keineswegs immer linke, Hauptsache, pro- so vollständig ruinierte wie die Spenden- vokant und originell. Dann sitzt er nachts affäre der Bundes-CDU Kochs Übervater zu Hause in Goslar am Schreibtisch (Partei- Helmut Kohl. Dass Koch dage- gen als selbst ernannter „bru- talstmöglicher Aufklärer“ alle Schläge überstanden hat, dass er sogar seine Lüge überlebte, was er wann wusste, machte ihn politisch zum Mann. Nicht unbedingt zu einem be- liebten. Aber der tödlichen Ge- fahr wie durch ein Wunder ent- ronnen, wird er nun als so eine Art Harry Potter der Partei be- staunt; was er sagt, was er tut, hat Bedeutung, wird gedeutet. Nur so ist rational zu verstehen, dass das Modell des US-Bundes-

staats Wisconsin – Sozialfälle AP mit Hilfe, aber auch Härte wie- Hessischer CDU-Chef Koch, Vorgänger Kanther* der in Lohn und Brot zu brin- Profil mit der Axt eingehauen gen – quasi von Koch entdeckt werden konnte, obwohl es schon zahlreiche spott: „Kompetenzzentrum Goslar“) und Politiker vor ihm besichtigt hatten. Erst als baut das Schulsystem um, wovon Kultus- Koch aber im Sommer 2001 von einer USA- ministerin Renate Jürgens-Pieper erst Tour heimkehrte, begriff die Republik das durch Journalisten beim Friseur erfährt. „Modell Wisconsin“ als neue Heilslehre, Oder er liest in der Zeitung etwas über verkündet vom Propheten Roland. einen jungen Serientäter und schreibt Dagegen hat Gabriel sich sein Profil anschließend eigenhändig die Kabinetts- selbst schnitzen müssen, Rille um Rille, vorlage des Justizministers zum Umgang und was ihn Koch ebenbürtig macht, ist mit solchen Jugendlichen um. das Geschick, mit dem er es geschafft hat, Weil er aber nicht nur über alles im Bil- im Land der Langeweile zum bundesweit de, sondern auch auf jedem Bild sein will, bekannten Politiker zu werden. chartert er – einer plötzlichen Eingebung Im August zum Beispiel, als die Flut je- folgend – schon mal einen Flieger, der ihn dem Ministerpräsidenten entlang der Elbe nach dem Amoklauf von Erfurt noch auf einen großen Auftritt zuspülte, stand Ga- den letzten Drücker zur Trauerfeier bringt. briel nicht nur im Wendland auf dem Deich Oder er düst nach Berlin, wo er für ein herum und schaute besorgt. Als sich Sol- paar gut belichtete Zehntelsekunden Jor- daten über die Mücken beklagten, zog er daniens König Abdullah II. trifft. sein Handy, wählte Bayer in Leverkusen So was zahlt sich offenbar aus: Egal ob und bestellte eine Ladung Autan, aber bit- sein Land die zweithöchste Arbeitslosig- te hopp, hopp. keit oder das zweitniedrigste Pro-Kopf- Der ständige Juckreiz des Niedersachsen Bruttoinlandsprodukt aller westdeutschen ist die Sorge, er könne das Beta-Image sei- Flächenländer hat, in einer Forsa-Umfrage ner Landeskinder annehmen: brav, bieder, liegt seine SPD mit 47 Prozent über zehn bedächtig. Gabriel dagegen ist Alpha-Tier: Prozentpunkte vor der CDU. aktiv, arbeitswütig, allgegenwärtig. Weil er Dafür müssen sich Mitarbeiter bis hoch jahrelang bei den SPD-nahen „Falken“ zum Minister schon mal gefallen lassen, Jugend-Zeltlager organisiert hat, glaubt er, wie Aushilfskräfte dazustehen oder gar auf dass große Politik im Grunde auch nichts Büroklammerhöhe zusammengestaucht zu anderes ist, als ständig für irgendeinen Erb- sensuppen-Topf irgendwoher einen Gas- * Bei der Pressekonferenz zur Enttarnung der schwarzen kocher zu besorgen. Parteikonten am 14. Januar 2000 in Hofheim.

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dergänger seiner selbst. Was er sich selber als niedersächsischer SPD-Jungspund gern leistete, verzeiht er nun seinem Nach- Nachfolger. Und dass Schröder schon mal über den „Weltökonomen aus Niedersach- sen“ spottet, wenn Gabriel über Finanz- minister Hans Eichel mosert, ist auch nur ein Schlag auf die Finger: kurz, schmerz- haft, aber schnell vergessen. Dabei ist Gabriel einer der ganz wenigen Genossen, die Schröder die Stirn bieten. Als Schröder sich mal öffentlich über Ga- briels Pfunde amüsierte, konterte der mit dem Satz „Lieber dick als doof“. Das war zwar so listig wie lustig, eben so, wie man dem Kanzler kommen darf. Richtig Re- spekt aber verschafft sich Gabriel in der Partei, wenn er tatsächlich den großen Vor- sitzenden zum Einknicken bringt. Kurz vor der Wahl kam es im SPD-Präsidium zu solch einem Showdown, als Gabriel an einem Detail der Hartz-Reform herum- mäkelte, Schröder ihm mit dem Satz „Lass

JOCHEN LUEBKE / DDP JOCHEN LUEBKE doch den Scheiß“ das Wort abschneiden Landesvater Gabriel*: Gespür für gut belichtete Zehntelsekunden wollte und Gabriel sich durchsetzte: „Wenn ihr das nicht hören wollt – ich kann auch werden. „Er kommt wie Schröder aus in der Bundes-CDU. Dass der Hesse vor draußen eine Pressekonferenz geben.“ kleinbürgerlichen Arbeiterverhältnissen, wenigen Wochen am Rande einer Präsidi- Viele Parteifreunde sahen deshalb den hat den Aufstieg geschafft. Nun hält er sich umssitzung für Friedrich Merz einen neu- Schnell-Aufsteiger schon als Nachfolger für unschlagbar“, sagt ein niedersächsi- en Machtposten forderte, als Angela Mer- des SPD-Chefs Schröder, hätte der seine scher Fraktionsmann. kel Merz den Fraktionsvorsitz wegnahm, Bundestagswahl verloren. Nun, da Ga- In Hessen dagegen hat Koch den Vorteil, werteten Unionsgranden gleich als Ver- briel nicht gleich Parteivorsitzender wer- dass er seit der Spendenaffäre von vielen such, die künftige Konkurrentin um die den muss, stehen die nächsten Schritte tatsächlich für unschlagbar gehalten wird – Kanzlerkandidatur zu schwächen. bereits fest: Im Dezember erscheint sein nur mit dem Handicap, dass er dafür Entsprechend gilt Koch im Lager Mer- Buch („Mehr Politik wagen“), eine Art außerhalb Hessens so geliebt wird wie Bay- kels schon lange als mächtigster Gegner. Bewerbungsschreiben für höhere Ämter. ern München in deutschen Bundesliga- Die Kandidatur Edmund Stoibers habe er Wenn er bei der Landtagswahl im Fe- stadien. Ein Meister der Herzen wird aus bruar siegt, wird er bald ihm nie, dazu schaut er schon beim Reden Parteivize. zu lange an Gesprächspartnern vorbei und Genauso poliert Koch wirkt so, als käme zu viel vom Hirn und zu sein bundespolitisches Er- wenig von Herzen. scheinungsbild auf, etwa Umso mehr bemüht er sich anders als wenn er jetzt in Berlin im Gabriel intern um einen menschenfreund- renommierten Aspen Insti- lichen Führungsstil, es wird viel geredet in tut über „Die deutsche Hessen, selbst Bürgermeister erhalten Außenpolitik nach den schon mal einen Anruf ihres Ministerprä- Wahlen“ dozierte – bisher sidenten, der sich zugute hält, dass er noch äußerte er sich über Äuße- nie einen Mitarbeiter angeschrien habe. res nur im Äußersten. Mehr Vor allem aber hat Koch alles, auch als solche Fingerzeige gibt die Solidität des Landesetats, darauf ver- Koch nicht, denn natürlich pfändet, seine Wahlkampfversprechen zu weiß er, dass jeder Weg ins erfüllen – mehr Lehrer, mehr Sicherheit Zentrum der Macht nur

zum Beispiel. Denn anders als Gabriel darf HUSCH / TERZ STEFAN über Merkel führt; ob der sich Koch nach der Lügendebatte um Landesvater Koch*: Viel mit Hirn, zu wenig von Herzen Weg je frei wird, hängt seine Schwarzgeld-Kenntnisse keine un- davon ab, wie erfolgreich gedeckten Ankündigungen mehr leisten. unterstützt, um einen Sieg Merkels bei der Merkel Fraktion und Partei führt, nicht, Der Niedersachse darf noch versprechen Bundestagswahl zu verhindern und seine wie erfolgreich ein Roland Koch regiert. und sich widersprechen, der Hesse muss eigene Chance für 2006 zu wahren, unkt Auch Gabriel ist abhängig, von Schrö- sich überlegen, wie leicht er widerlegt wer- ein Merkel-Vertrauter. Umgekehrt hält sich ders Zukunftsplanung, vielleicht auch von den kann. im Lager Kochs die Sympathie für die den Ambitionen des Superministers Wolf- So kalkuliert deshalb Kochs Auftritte CDU-Chefin schon deshalb in den engen gang Clement, 62. So stehen Koch und Ga- wirken, selbst wenn er mit populistischen Grenzen der Parteiräson, weil Merkel den briel, die aus so unterschiedlichen Welten Tiraden einen Saal in Wallung bringt, so schwer krängenden Koch auf dem Höhe- losgesprintet und heute am gleichen Kar- ernst wird er dann aber genommen – auch punkt des Spendenskandals untergehen rierepunkt angelangt sind, nun auch vor lassen wollte. der gleichen, der unbekannten Herausfor- Um wie viel leichter hat es da Gabriel derung: Sie brauchen Geduld. * Oben: bei einer Techno-Parade in Hannover im August Jürgen Dahlkamp, Michael Fröhlingsdorf, 2001; unten: beim Sommerfest des Ministerpräsidenten mit der SPD-Spitze. Tatsächlich sieht Horand Knaup, Andreas Wassermann im Weilburger Schloss im August 2001. Schröder in ihm so etwas wie einen Wie-

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Erstklässler bei der Einschulung „Fehler sind auch wichtig“

Noch gilt allerdings: Wenige Länder schätzen die Primarschule so gering wie die Deutschen. Für einen Grundschüler gab Deutschland 1999 gut 4000 Euro aus, weit weniger als die OECD-Länder im Durch- schnitt (siehe Grafik). Ein Oberstufenschüler am Gymnasium schlägt dagegen in Deutsch- land mit etwa 10100 Euro zu Buche. „Die gymnasiale Oberstufe ist das Hätschelkind der Gesellschaft“, kritisiert Horst Bartnitz- ky, Vorsitzender des Grundschulverbands. Tatsächlich sind gerade dort die Klassen groß, wo die meiste Betreuung nötig wäre. 24 Kinder sitzen im Schnitt in einer Grundschulklasse. „Bei lauter lernwilligen Schülern ist das gar kein Problem“, sagt Gi- sela Meißner, Leiterin der Berliner Zin- nowwald-Grundschule, „aber wehe, es

UTE SCHMIDT / BILDFOLIO SCHMIDT UTE sind ein paar auffällige Kinder darunter.“ Auf 21 Grundschüler kommt in Deutsch- Im Hamburger Südosten lässt sich beob- land ein Lehrer, in der gymnasialen Ober- BILDUNG achten, was eine Grundschule leisten muss, stufe ist das Verhältnis mit 12 Schülern pro jeden Tag und überall in der Republik. Die Pauker weitaus günstiger. Atlanten statt Lehrer sind nicht nur fürs Lesen und Schrei- Der OECD-Bildungsstatistiker Andreas ben zuständig, sie spielen auch Sozialar- Schleicher findet es „absurd, dass in beiter, Sprachlehrer, Elternersatz. Doch ob- Deutschland an Studiengebühren gar nicht Klopapier wohl an der Grundschule die Fundamente zu denken ist, die Kosten für den Kinder- für spätere Lebenswege gelegt werden, ist garten aber vorwiegend privat finanziert Eine neue OECD-Bildungs- sie das Kellerkind des Bildungswesens. werden“. Die Pisa-Sieger haben das längst Die Organisation für wirtschaftliche Zu- erkannt. In allen Staaten, die beim Leis- studie bescheinigt den sammenarbeit und Entwicklung (OECD) tungstest gut abschneiden, hat Schleicher Deutschen schwere Versäumnisse hat jetzt in der Studie „Bildung auf einen eine Gemeinsamkeit entdeckt: „Kinder- in den Grundschulen. Blick“ den Deutschen erneut bescheinigt: garten und Grundschule haben innerhalb Die Grundschulen kommen zu kurz. des Bildungssystems das größte Gewicht.“ pa, Oma, Maus, Haus, Hunt“ hat Die Quittung für die schon seit vielen Angesichts leerer Staatskassen ist kaum Lucas in sein Heft geschrieben, und Jahren beobachtete Vernachlässigung der zu erwarten, dass die Deutschen in den Ojetzt soll Lehrerin Gudrun Her- frühen Bildung kam Ende vergangenen nächsten OECD-Berichten besser dastehen menau endlich mal gucken. Im Flur baut Jahres ebenfalls von der OECD – in Ge- könnten. Bildungsministerin Edelgard Bul- Medina einen Turm aus Zahlenwürfeln: stalt der blamablen Ergebnisse deutscher mahn (SPD) erklärte vergangene Woche „Fünf, sechs, sieben, neun?“ Die Kleine Schüler im internationalen Pisa-Test. Wer zwar, gute Bildung müsse künftig „schon schaut fragend. „Ich wäre dumm, wenn ich als 15-Jähriger nicht in der Lage ist, sim- im Kindergarten beginnen“. Doch als kon- einfach sagen würde, das ist falsch“, erklärt pelste Informationen aus einem Text her- krete Maßnahme führte sie nur ihr frag- Hermenau. „Fehler sind auch wichtig.“ auszufiltern, bei dem muss schon lange würdiges Vier-Milliarden-Euro-Programm Zweite Stunde in der „Drachenklasse“ zuvor allerhand versäumt worden sein. zum Ausbau von Ganztagsschulen an, das der Clara-Grunwald-Grundschule im Ham- Prompt entdeckten die entsetzten Bil- schon nach dem innerdeutschen Pisa-Ver- burger Stadtteil Neuallermöhe-West: 27 dungspolitiker die Frühförderung. gleich als Wunderwaffe herhalten musste. Kinder von der Vorschule bis Klasse 2 wer- Manche Schulen suchen derweil eigene den gemeinsam unterrichtet. Das Tempo Wege aus ihrer Finanzmisere – wie etwa bestimmen die Kleinen selbst, alle bekom- Arme Grundschulen die Zinnowwald-Grundschule im Berliner men ihre individuelle Hausaufgabe. Der Jährliche Ausgaben für den Primarbereich Nobelstadtteil Zehlendorf. Als Schulleite- Output scheint zu stimmen: „Wenn die in pro Schüler 1999 rin Meißner entdeckte, dass Verbrauchs- die dritte Klasse wechseln, dann sind sie in Tausend Euro material und Bücher aus dem gleichen Etat fit“, versichert die Lehrerin. Quelle: OECD 024681012bezahlt werden sollten, entschied sie sich Dabei sind die Bedingungen eher ungüns- Dänemark für ein paar schöne Atlanten und strich tig: 80 Prozent Sozialwohnungen gibt es USA ihren 500 Schülern das Toilettenpapier – nach Angaben der Schule im Einzugsge- Österreich das sollten die Kinder künftig selbst mit- biet, bei nur 40 Prozent der knapp 500 Kids bringen. So sehe, beharrt Meißner, „ein Schweden wird zu Hause Deutsch gesprochen. Die verantwortungsvoller Umgang mit Haus- Clara-Grunwald-Schule ist eine „integrati- Japan haltsmitteln“ aus. ve Regelschule“, auch lernbehinderte oder Frankreich weiterführende Sogar im Berliner Abgeordnetenhaus verhaltensauffällige Kinder können nicht Finnland Schulen wurde die Klopapier-Affäre diskutiert. an eine Förderschule weitergereicht wer- Eine politische Lösung war aber nicht Deutschland den. „Das zwingt uns zu überlegen, was nötig: Ein Vater spendete der Schule 500 wir selbst tun können“, sagt Schulleiterin Großbritannien Euro – genug, um Toilettenpapier für mehr Angelika Fiedler, „statt ein Kind einfach Südkorea Hochschulen als ein Jahr zu kaufen. Annett Conrad, auszusortieren.“ Julia Koch

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Werbeseite LESENLESEN Punkte NATURWISSENSCHAFTEN Punkte MATHEMATIK Punkte Helene-Lange- Helene-Lange- Pisa-Siegerland Schule 579 Schule 598 Japan 557 Pisa-Sieger-LandPisa-Siegerland 546 Pisa-Siegerland 552 Helene-Lange- 540 Finnland Korea Schule Deutschland 484 Deutschland 487 Quelle: OECD Deutschland 490 Pausenhof der Helene-Lange-Schule FOTOS: STEFAN HUSCH / TERZ STEFAN FOTOS:

bereichen Lesen und Naturwissenschaften Werte, mit denen sie nicht nur weit vor allen Bundesländern liegen, sondern so- Jeden Tag Theater gar vor den besten ausländischen Staaten wie Finnland oder Kanada. Selbst in Ma- Eine Reformschule in Wiesbaden macht fast alles thematik, dem schwächsten Gebiet der Wiesbadener Jugendlichen, reicht es noch anders als die meisten Lehranstalten – zu einer ausgezeichneten Punktzahl (siehe und stößt damit in die internationale Pisa-Spitze vor. Grafik). Dass die HLS eine normale Paukanstalt nter dem wehenden schwarzen Nun stellt sich heraus: Die Wiesbadener sein könnte, glaubt niemand, der jemals Umhang, der Jan bis an die HLS, wie die Helene-Lange-Schule von dort war. Die Mittelstufenschule mit 600 UKnöchel reicht, ist sein nackter Schülern und Lehrern kurz genannt wird, Schülern ist seit langem ein Wallfahrtsort Oberkörper zu sehen. Barfuß schreitet der zählt zu den besten Schulen im Lande. der Reformpädagogik. Schüler nun von der Bühne, seine rechte Bei Pisa E, dem deutschen Teil der in- In dem Gebäude aus den späten fünfzi- Faust umklammert einen hölzernen Stock. ternationalen Schulstudie, hat die Lehr- ger Jahren gibt es keine endlosen Flure, die Mehrmals schon hat der 14-Jährige an anstalt mit Blick auf den Taunus exzel- an Krankenhäuser oder gar Kasernen er- diesem Morgen als Prediger Brosam in lente Ergebnisse erzielt. So erreichten die innern. Überall schmücken von Schülern Elias Canettis „Komödie der Eitelkeit“ Helene-Lange-Schüler in den Kompetenz- gestaltete Bilder, Figuren, Fotos oder Tex- gegen die Geltungssucht seiner Mitmen- te die Wände. Die Türen der Klassenzim- schen gewettert. Jetzt ist erst mal Pause – mer genauso wie die der Schulleitung ste- große Pause sozusagen. Zwei Unterrichts- hen immer offen. stunden sind bei den Proben im Nu ver- Die Schüler entscheiden über ihren gangen, doch daran denkt im Theaterraum Stundenplan mit, mindestens vier Stun- der Wiesbadener Helene-Lange-Schule den pro Woche steht „Offenes Lernen“ keiner. auf dem Programm, permanent lockern Vier Wochen lang machen Jan und Projekte oder Exkursionen den Unter- seine Mitschüler der Klasse 9 A nichts an- richt auf. deres, als Theater zu spielen – jeden Tag, Wenn etwa „tätige Nächstenliebe“ an- von morgens um acht bis nachmittags um gesagt ist, müssen alle Schüler der achten zwei, manchmal auch bis drei oder vier Klassen ein Vierteljahr lang einen alten Uhr. Statt Geometrie zu üben oder Vo- oder behinderten Menschen einen Nach- kabeln zu pauken, lernen sie Texte aus- mittag in der Woche betreuen. wendig, bauen Bühnenbilder, entwerfen Besonders gern wird Theater gespielt, Kostüme und proben, proben, proben – wofür die Schule sogar immer wieder ei- mitten im Schuljahr. nen professionellen Regisseur oder Schau- „Hier ist eben alles anders als an ande- spieler engagiert. Das Geld dafür erwirt- ren Schulen“, sagt Jan und lacht wie einer, schaften die Pennäler selbst, indem sie zu der weiß, dass er Glück gehabt hat. „Ich Lappen und Staubwedel greifen und ihre will ja nicht an eine stinklangweilige Schu- Schulleiterin Riegel Schule – abgesehen von den Toiletten – le gehen.“ „Ich will die Wagemutigen“ selbst putzen. Jeden Tag um 13.15 Uhr ha-

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Werbeseite Deutschland ben die Reinigungstrupps ihren Einsatz. mehr der pädagogische Geist, der Schüler, sechs Jahre lang derselbe. Dadurch ist der Die Stadt Wiesbaden zahlt dafür 27 000 Lehrer und Eltern verbindet. „Eine Schu- Kontakt zwischen Lehrern und Schülern Euro im Jahr. le darf keine Einrichtung sein, die um eng: Fehlt ein Junge oder Mädchen, wer- Während das pädagogische Abenteuer- acht Uhr morgens die Türen öffnet, in der den meist noch am gleichen Morgen die El- land einerseits fast ehrfurchtsvoll bestaunt alle 45 Minuten die Glocke klingelt und in tern angerufen. Lassen bei einem die Leis- und bewundert wird, verdächtigen es an- der jede Woche eine Klassenarbeit ge- tungen nach, wird frühzeitig nach Ursa- dere, ein Hort weltfremder Kuschel-Päd- schrieben wird“, sagt HLS-Schulleiterin chen gesucht. An der Schule gibt es keine agogik zu sein, stellen es als angebliche In- Enja Riegel. unerwünschten Graffiti, keinen Vandalis- sel verschrobener Öko-Pauker unter den In Wiesbaden soll jeder zeigen können, mus, für Laisser-faire ist kein Platz. Generalverdacht der Leistungsfeindlichkeit. was er geleistet hat, und sehen, was die „Wir arbeiten viel, oft bis an unsere In der fünften und sechsten Klasse wer- anderen können. So werden die Arbeits- Grenzen“, sagt Doris Hanewald-Misterek, den keine Noten verteilt – wo leben die ergebnisse der Schüler grundsätzlich offen „aber dafür ist die Arbeit auch sehr be- denn? Niemand bleibt sitzen – das kann präsentiert, sei es in Referaten – in den friedigend.“ Für die Deutsch-, Gesell- doch nicht sein! Und vor allem: Das ehe- meisten Klassenzimmern stehen Redner- schaftslehre- und Mathematiklehrerin gilt malige Gymnasium hat sich 1986 freiwillig pulte – oder in Ausstellungen. wie für die meisten ihrer Kollegen: „Die in eine integrierte Gesamtschule umge- So weit wie möglich besteht der Unter- Schüler hier werden zur Privatsache, je- wandelt. richt zudem aus Theorie und Praxis. Für der einzelne liegt mir am Herzen.“ FOTOS: STEFAN HUSCH / TERZ STEFAN FOTOS: Schüler bei der Theaterprobe, beim täglichen Schulputz: Eigenständig arbeiten und Verantwortung übernehmen

Auf Anfrage der Schule ist es nun amt- das Thema „Urzeit“ etwa müssen Schüler Kritiker merken immer wieder an, die lich: Die Testergebnisse liegen weit über der Klassenstufe 6 sich zuerst anhand von Helene-Lange-Schule leiste auch deshalb den für die HLS erwarteten Leistungen. Büchern informieren, dann selbständig Außergewöhnliches, weil sie als hessische Denn die Bildungsforscher am Max- Aspekte wie Kleidung oder Nahrung erar- Versuchsschule sieben Lehrerstellen zu- Planck-Institut, die in Deutschland die beiten und anschließend aus Ästen und sätzlich habe. Außerdem sei sie unter dem Pisa-Studie koordinieren, haben für jede Fellen einen Unterschlupf bauen. früheren sozialdemokratischen Kultus- teilnehmende Schule vorab ein mut- Die Kinder sollen vor allem lernen, ei- minister Hartmut Holzapfel besonders maßliches Ergebnis errechnet, ein Leis- genständig zu arbeiten und Verantwortung gehätschelt worden. Schulleiterin Riegel tungsziel, das sich aus der Schulform, der zu übernehmen. Doch dieser Unterricht entgegnet: „Wir betreuen Besucher, wir jeweiligen Schülerschaft und anderen Fak- kostet viel Zeit. „Wir behandeln weniger entwickeln Unterrichtsmaterialien, wir toren ergibt. Die Wiesbadener haben die Stoff, den dafür aber in die Tiefe gehend“, veröffentlichen unsere Erfahrungen.“ Da an sie gerichteten Erwartungen grandios sagt die Schulleiterin. Und wenn mehr im bleibe nicht viel übrig von den zusätz- übertroffen. Die Schüler sind am Ende der Lehrplan steht? Riegel lacht: „Da findet lichen Stellen. Klasse 9, was ihr Wissen und Können be- sich schon eine Lösung.“ Den Schülern scheint die Penne jeden- trifft, um bis zu einem Jahr weiter, als sie Die Rektorin sieht sich mal als Pädago- falls gut zu tun. Dies belegt auch eine Un- sein müssten. gin, mal als Managerin: Generell fordert tersuchung der Absolventen. Die Mehrheit So schreiben die Berliner Bildungsex- sie für die Schulen mehr Autonomie, auch derer, die nach Ende der 10. Klasse auf ein perten in einer Analyse für die Schullei- in Finanzfragen, sowie Konkurrenz unter- Gymnasium wechseln, verbessert dort ihre tung: „Der Mittelwert Ihrer Schule liegt einander. Und Riegel würde, wenn sie dürf- Noten noch einmal im Vergleich zur Ge- bedeutsam über dem Wert, den Schulen te, sofort den Beamtenstatus der Lehrer samtschule. Die Schulleiterin eines benach- mit vergleichbarer Schülerschaft erzielen.“ abschaffen. Jeden Pauker fragt sie beim barten Gymnasiums erklärt, bemerkens- Dass die HLS damit zur Pisa-Spitzenklas- Einstellungsgespräch erst einmal: „Was wert sei „der starke Leistungsanspruch, se zählt, lassen die Berliner Forscher gern können Sie denn überhaupt?“ Damit meint den nahezu alle ehemaligen Schülerin- durchblicken, doch welchen Rang sie ge- sie nicht sein Fachwissen. „Viele Lehrer nen und Schüler der Helene-Lange-Schu- nau einnimmt, wollen die Max-Planck- sind lebende Klagemauern, ich will an mei- le an ihre eigene Entwicklung und ihr Leute nicht verraten. Ein bundesweites ner Schule aber die Wagemutigen.“ Potenzial haben“. Schul-Ranking mag das Institut nicht ver- An der HLS verstehen sich die Lehrer So ist Jan, der Prediger auf der Thea- öffentlichen – sehr zum Bedauern der nicht nur als Wissensvermittler, sondern terbühne, auch in den Herbstferien jeden Wiesbadener Pauker und Pennäler. auch als Erzieher. Ein Team von acht bis Tag in die Schule gekommen und hat mit Nach Meinung von Experten ist die zehn Pädagogen unterrichtet gemeinsam den anderen geprobt. „Das macht doch Frage der Schulform für die Qualität einen ganzen Jahrgang von Klasse 5 an bis Spaß.“ Schließlich wollten sie ein tolles nicht entscheidend. Als wichtig gilt viel- zur Klasse 10, der Klassenlehrer bleibt Stück abliefern. Joachim Mohr

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Werbeseite ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH Rekrutinnen, Rekruten (in Rheinland-Pfalz): Unsicherheit und Regelungswut

BUNDESWEHR „Verführerische Situationen“ Mit abstrusen Dienstvorschriften versucht die Armeeführung, das Liebesleben der deutschen Soldaten zu reglementieren. Doch Prozesse vor Dienstgerichten zeigen, dass Auslandseinsätze und die steigende Zahl von Frauen beim Bund die Offiziere vor kaum lösbare Probleme stellen.

chier unglaublich schien einem Sol- alle der Leitspruch „Wir sind nicht zum schriften erlauben – und kläglich scheitert daten der Bundeswehr, was er Mitte Vergnügen hier“ prangte, hatte der Soldat die Bundeswehrführung bei dem Versuch, SJuni in einem Lager im Kosovo be- genug. Er petzte bei Vorgesetzten, und so- das Sexualleben ihrer Mitarbeiter mit rigi- obachtete: In aller Frühe, gegen 5.30 Uhr, gleich wurde die Affäre zum disziplinari- den Erlassen und Urteilen zu reglementie- trat eine Obergefreite im Pyjama aus dem schen Vorgang. ren. Verschärft werden die Probleme durch Wohncontainer eines hochrangigen Offi- Mit einer Geldbuße von 1000 die zunehmende Zahl der Auslands- ziers. Sie hatte die Nacht mit ihrem Chef Euro auf Bewährung kam einsätze. Gerade fernab der Heimat verbracht – obwohl das streng verboten ist. der Offizier zwar noch davon bändeln Kameraden und Kame- Wiederholt hatte sich der Soldat daran recht glimpflich davon. radinnen miteinander an – und gestört, dass der Offizier seine Affäre mit Aber die Strafe für die 4982 wer Single bleibt, betätigt sich der als „Obergefreiter (w)“ eingestuften verbotene Lager-Liebe Sanitätsdienst schon mal außerhalb des La- Frau ungeniert pflegte. Er notierte, dass gibt Einblick in das Di- inkl. Militär- gers, teils mit erheblichen Ri- der Vorgesetzte mit der Kameradin im lemma, das die Bun- musikdienst 2752 siken (siehe Kasten Seite 88). Dienst-Jeep „Wolf“ gern ohne Fahrer auf- deswehrführung immer Truppendienst Ein Stück ziviler Alltag hat brach, und er hielt die Ratlosigkeit fest, die drängender plagt, seit inkl. Militärgeo- die Armee überfallen, seit der im Lager herrschte, wenn das Liebespaar Frauen in Regimentsstär- grafischer Infor- Europäische Gerichtshof sie bei seinen Touren in die Umgebung von ke in die Armee einzo- August mationsdienst vor knapp drei Jahren dazu Prizren länger als drei Stunden verschollen gen. Täglich kommen 7734 verurteilte, Frauen nicht nur, blieb: Sollte dann, fragten sich die Zurück- sich Soldaten und 7500 wie bis dahin, im Sanitätsdienst oder gebliebenen, die „Nachsuche“ beginnen? Soldatinnen viel Musikkorps, sondern auch in der kämp- Nach der Liebesnacht im Offizierscon- näher, als es 7000 fenden Truppe zu beschäftigen. Fast 8000 tainer, auf dem auch noch als Mahnung an die Vor- 7013 Soldatinnen leisten jetzt neben mehr als 6500 280 000 Männern ihren Dienst, in weni- gen Jahren werden es wohl doppelt so vie- 6000 le sein. Karrieren in Uniform Soldatinnen in der Bundeswehr Frauen und Männer leben in Kasernen Von 1975 bis Ende 2000 Beschäftigung von Seit 2. Januar 2001 5500 zusammen, mitunter sogar auf demselben Frauen nur im Sanitäts- und haben Frauen Zugang Flur. Finden sich die Kameraden aber all- 5000 zu sympathisch, müssten Liebespaare ihre Musikdienst 4513 zu allen Laufbahnen 4908 Schäferstündchen, klagt ein Unteroffizier, 4173 4500 „im Sommer in den Wald und im Winter in ein Hotel“ verlegen. „Sexuelle Betätigung“ 4000 ist nach einer Anlage zur Zentralen Dienst- 1999 2000 2001 2002 vorschrift 14/3 „innerhalb militärischer Lie-

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ten einzumischen, aus denen sie sich bes- ser heraushalten sollten – und es gibt kein Indiz dafür, dass sich die skurrile Lage un- ter dem neuen Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) ändern könnte. So verurteilte das Truppendienstgericht in München einen Heeres-Unteroffizier wegen einer familiären Dreiecksgeschich- te zu einer Gehaltskürzung. Der Unterof- fizier hatte eine Beziehung zu der Ehefrau seines Cousins aufgenommen, sie wollten heiraten. Alle drei wohnten in einem thüringischen Dorf. Das Pech des Heeressoldaten: Sein Cou- sin war Unteroffizier der Luftwaffe, und so konnte der Gehörnte bei seinem pri- vaten Vergeltungsschlag auf den Beistand der Armee zählen. Obwohl der Luftwaffen- Mann in Nordrhein-Westfalen und der Heeressoldat mehr als 500 Kilometer ent- fernt in Bayern diente, meldete der Betro- gene das dörfliche Familiendrama seinen

VALDRIN XHEMAJ / DPA VALDRIN Vorgesetzten. Prompt wurde der Heeres- Deutsche Soldaten (im Kosovo, 2000): „Ich weiß, was meine Jungs brauchen“ soldat angeklagt und zu einer Gehaltskür- zung verurteilt – mehr als 30 Jahre nach- genschaften“ auch dann verboten, wenn reits, wer mit der Freundin eines Kollegen dem der Bundestag 1969 die Strafbarkeit sie nach Dienstschluss stattfindet. im Bett landet. des Ehebruchs aufgehoben hatte. Wehe dem, der seinen Dienst nicht, wie Schon bisher führte die Sexdoktrin zu Auch konservative Verteidigungsexper- es der Erlass fordert, „sexuell neutral“ leis- grotesken Urteilen. Eine Kammer des ten wie der CDU-Abgeordnete Thomas tet. So bestätigte das Bundesverwaltungs- Truppendienstgerichts Süd verurteilte ei- Kossendey halten die soldatenrechtliche gericht ein Urteil des Truppendienstge- nen Unteroffizier des Heeres zu einem Be- Ahndung ehelicher Untreue für nicht mehr richts Süd vom Oktober 2000, wonach ein förderungsstopp, nachdem er sich mit der zeitgemäß. Es dürfe „nicht Aufgabe des Hauptfeldwebel, damals 35, eine Gehalts- schwangeren Ehefrau eines im Kosovo sta- Staates sein, emanzipierten Bürgern die kürzung um ein Zwanzigstel für ein Jahr tionierten Kollegen eingelassen hatte. Ehe zu sichern“, sagt Kossendey. Es schüt- hinnehmen musste. Dabei war der Anteil der Frau offen- ze „ja auch niemand Ehefrauen beim fröh- Nach einer Weihnachtsfeier in der Gäu- kundig nicht gering. Ein militärisch-knap- lichen Betriebsausflug einer Sparkasse“. bodenkaserne im bayerischen Feldkirchen pes „Ich brauch’s“ war eine der zurück- Kaum jemand bestreitet, dass es, wie im hatte der verheiratete Mann eine Oberge- haltendsten Formulierungen, mit denen sie zivilen Leben, klarer Regeln bedarf, wenn freite, zur Tatzeit 20, gegen Mitternacht in ihrem Geliebten Bedürfnisse per SMS Frauen und Männer in Kasernen auf engs- seine Unterkunft gelockt. Wie das Bun- übermittelte. Ein Grund wohl, warum der tem Raum miteinander arbeiten müssen. desverwaltungsgericht etwas umständlich Mann nach den Worten seines Koblenzer Deshalb akzeptieren die meisten Soldaten feststellte, „kam es nach einem Nebenein- Anwalts Mathias Schaefer „mit einem blau- Urteile wie das des Zweiten Wehrdienst- andersitzen auf dem Bett und dem ge- en Auge davonkam“. senats des Bundesverwaltungsgerichts. Es meinsamen Ausziehen der jeweiligen Be- Die Bestimmungen des Soldatengeset- bestätigte die Degradierung eines Inspek- kleidung zum Geschlechtsverkehr“. zes über die Kameradschaft zwingen Vor- tionschefs zum Leutnant der Reserve, weil So etwas darf nicht vorkommen beim gesetzte dazu, sich in Privatangelegenhei- der Mann sechs Unteroffiziersanwärterin- Bund – auch wenn „die Lebenserfahrung“ nen während eines Lehrgangs aufs Gesäß zeige, so das Gericht, „dass selbst Vorge- klopfte, an die Brüste fasste oder sie frag- setzte nicht immer immun gegenüber se- te, wann sie zuletzt Sex hatten. xuellen Reizen sind“. Gerade vom Chef Niemand lehnt sich auf, wenn ein Mari- aber werde „Zurückhaltung, ja Selbstbe- nesoldat, wie geschehen, mit einer Diszi- herrschung in sexuell verführerischen Si- plinarbuße belegt wird, weil er einer Kol- tuationen verlangt“. legin unterstellt, sie fahre nur deshalb zur Das nahezu bischöfliche Verhältnis zur See, um dort „durchgevögelt“ zu werden. Libido hat seine Wurzeln. Traditionell, sagt Niemand fand eine Disziplinarbuße von die grüne Verteidigungsexpertin Angelika 600 Mark für einen Soldaten unangemes- Beer, habe die Bundeswehr „ein von der sen, der eine Sanitätsärztin mit den Wor- Wirklichkeit längst überholtes Verständ- ten beleidigte, sie habe ihn „doch bereits nis von Sexualität“. Auf die wachsen- im Wartezimmer angefickt“. Es sei „völlig den Probleme der Mitarbeiter mit dem in Ordnung“, wenn Soldaten „Orientie- Geschlechtlichen hat die Bundeswehr- rung gegeben wird“, sagt Hans-Joachim führung im August, wie stets zuvor, re- Ahnert, Rechtsanwalt beim Deutschen pressiv reagiert. Ein Erlass aus dem Jahr BundeswehrVerband (DBwV). 2000, mit dem das sexuelle Verhalten ge- Die Gewerkschaft der Soldaten hat je- regelt werden sollte, wurde erheblich ver- doch auch Unsicherheit und Regelungswut schärft. Disziplinarrechtlich verfolgt wird in den Kasernen beobachtet, die oft abstru-

jetzt nicht allein das „Eindringen“ eines GREGOR FEINDT se Folgen zeitigen: Muss ein hoch dekorier- Soldaten „in die Kameradenehe“, gegen Vergewaltiger Ronny P. ter Soldat, wie in diesem Sommer gesche- das Hausrecht der Armee verstößt nun be- Den Fall vertuscht hen, mit zweijährigem Beförderungsstopp

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belegt werden, weil er während eines Lei- stungsmarsches eine Sanitäterin anzutrei- ben versuchte, indem er sagte: „Beim ersten Mal tut’s noch weh, das ist wie beim Ficken“ „Trage das passende Kondom“ – oder reicht bei der ersten Verfehlung die- ses Kalibers ein ordentlicher „Anschiss“ Wie die Bundeswehr Soldaten auf Auslandseinsätze vorbereitet (Bundeswehrjargon) des Vorgesetzten? Muss ein Feldwebel aus Rheinland-Pfalz ür jeden Soldaten, wissen Medi- Eine Hure nämlich, die „blass und bestraft werden, der, im vorigen Dezember, ziner der Bundeswehr, werde der krank“ aussehe, könne etwa an Aids der Verlobten eines gerade im Kosovo ein- FUmgang mit seiner Sexualität leiden. gesetzten Kollegen aus der Eifel sagt, er während eines Auslandseinsatzes zum Gefechtsklar sollen deutsche Solda- würde sie „nicht von der Bettkante schub- Thema – früher oder später. Fern der ten auch auf ihren Missionen ins Rot- sen“? Ein Truppendienstgericht wird dem- Heimat soll nicht darben, wer nicht dar- lichtmilieu sein. „Trage immer das nächst darüber entscheiden müssen. ben will, und so kümmert sich, etwa passende Kondom“, heißt es in den Und ist es ein Fall für ein Gericht, wenn für Angehörige der Uno-Beobach- Tipps für die Freizeit. Bevor Soldaten ein im belgischen Nato-Hauptquartier be- tungsmission in Georgien, ein speziel- zu einem Ausflug nach Sotschie auf- schäftigter Bundeswehrfeldwebel die Frau les „German Medical Team“ geradezu brächen, sollten sie kurz beim Ärzte- fürsorglich um das sexuelle Wohl der team der Uno-Mission vorbeischauen, Halbnackte Fliegerinnen Soldaten. Wie eine Aufklärungsfibel für „um ein paar kostenlose Kondome mit- ließen sich von Fliegern in jugendliche Sex-Novizen liest sich ein zunehmen“. Leitfaden, den Bundeswehrärzte ver- Andernfalls sei es wirklich das Geld der Kaserne massieren. fasst haben. wert, einen „guten Sex-Shop“ aufzu- Von georgischen Frauen sollten die suchen und 20 Dollar „für das kom- eines Kollegen befummelt, der sich bei ei- Soldaten die Finger lassen, werden die plette Arsenal an Kondomen auszuge- nem privaten Essen schon angetrunken aus zeitweise 11 deutschen und 125 Solda- ben, um das perfekte für dich zu fin- dem Geschehen verabschiedet hatte? Der ten aus 22 weiteren Staaten in dem Pa- den“. Ein gutes Kondom dürfe nicht Feldwebel bezahlte seinen Fehltritt mit ei- pier gewarnt. Wer sich ohne Heirats- billiger sein als einen Dollar, und „sieh nem Monatsgehalt. absicht auf ein sexuelles Tête-à-Tête auf das Verfallsdatum, bevor du es Besonders hilflos reagiert die Vorge- mit einer Georgierin einlasse, riskiere, kaufst!“. Reiße das Verhütungsmittel setztenschar, wenn sich die jungen Mitar- dennoch, sollten die Uno- beiter in Uniform auf einem dieser langen Kämpfer besser „sofort“ ei- Kasernenabende näher kommen. Nicht sel- nen Arzt aufsuchen. Eine ten reagieren Offiziere auf tatsächliche weitere Grundregel für die oder vermeintliche Vorkommnisse mit se- Männer in Uniform: „Nimm xuellem Hintergrund geradezu hysterisch. mehr Kondome mit, als du Sie fürchten, wegen eines Vertuschungs- denkst, dass du braucht.“ versuchs Ärger zu bekommen. „Im Zwei- Als würden sie Aufklärungs- fel landet derzeit jeder Vorfall vor Gericht“, unterricht für eine Teen- sagt der Münchner DBwV-Vertragsanwalt agerklasse geben, beschrei- Willi Weber – und dort verhängen die Rich- ben die Ärzte in allen Ein- ter als „generalpräventive Maßnahme“ zelheiten, wie ein Präservativ harte Urteile. zu benutzen ist, und sie ent- Es war ein Alltagsgespräch in lockerer lassen die Soldaten mit einer Atmosphäre, als eine Soldatin der Luft- Art Hausaufgabe: „Bevor es waffe am 27. Juli in einer nordbayerischen zur Sache geht“, solle der Kaserne während einer Party frotzelte, die Umgang „geübt“ werden. Bundeswehr verkörpere in Sachen Sexua- Wichtig ist den deutschen lität „antiquierte Ansichten“. Es sei doch Ärzten ein kleiner Ausflug „albern“, wenn ein Soldat nach dem Du- in die Lehre von den Infek- schen nicht mit freiem Oberkörper in sei- tionskrankheiten. So geben ne Stube gehen dürfe und sich „vermum-

KNUT MUELLER KNUT sie handfeste Tipps, wie sich men“ müsse, weil im selben Gebäude auch Hure (in Sarajevo): Warnung vor Billigangeboten erkennen lässt, ob eine Pro- Frauen lebten. Für sie sei es „normal“, sich stituierte Syphilis oder Trip- „oben ohne“ in ihre Stube zu legen und „von ihrer Familie getötet“ zu werden per haben könnte. Gerüche, aber auch sich gar von einem Kameraden den ver- – so seien die Sitten. Hautveränderungen und Augenrötun- spannten Rücken massieren zu lassen. Doch keine Bange, in dem Memo- gen könnten auf Pilzinfekte oder gar Einfach so. randum empfiehlt das deutsche Ärzte- Schlimmeres hindeuten. Ein Stabsunteroffizier, 21, widersprach: team eine praktikable Alternative: We- Anzuraten sei also eine gewissen- Für Massagen seien Sanitäter zuständig. niger gefährlich sei eine Begegnung mit hafte Inspektion der Huren, wobei die Man könne doch auch einen Penis „nicht Prostituierten in den georgischen Orten Ärzte auf die Bedeutung angemesse- nur massieren“, kalauerte er weiter. In dem Sotschie oder Tiflis. Dabei raten die Ex- ner Beleuchtung hinweisen. So sollten lockeren Gespräch, bei dem viel gelacht perten entschieden von Dienstleistun- Prostituierte vor Arbeitsbeginn „nackt wurde, kam heraus, dass sich eines Tages gen in den unteren Preisklassen des ört- und in hellem Licht“ begutachtet wer- drei weibliche Flieger halbnackt in der Ka- lichen Angebots ab: „Versuche nicht, den. Und die Mediziner raten: „Gefällt serne von männlichen Fliegern massieren Geld beim Sex mit einer billigen, aber dir nicht, was du siehst, zahle ihr für ließen. Dann kam die Rede auf die angeb- kranken Prostituierten zu sparen!“ den Strip und schicke sie weg.“ lich segensreiche Wirkung von Vibratoren – und wieder wurde viel gelacht. War das witzig? War das anzüglich? Der Fall be-

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Werbeseite Deutschland schäftigte die Bundeswehr wochenlang, und so ist vieles ins Ermessen der Vorge- nachdem eine Soldatin einer Rekrutin von setzten gestellt. dem Party-Talk berichtet hatte. Die wie- Soldaten-Ehepaare etwa, die gemeinsam derum wandte sich an ihren Chef, der um- in Mazedonien Dienst tun, dürfen nicht in gehend Meldung machte – und so zog der einem Wohncontainer übernachten. Wohl- Fall Kreise. Der Stabsunteroffizier wurde meinende Kommandeure sorgen freilich am 1. August um 17 Uhr zur Vernehmung schon Mal dafür, dass sich Verheiratete im ins Zugführerbüro befohlen, bis um 4.45 Container des Mannes treffen und unge- Uhr ohne Schlaf festgehalten und erst ab stört bleiben können. Eine solche Praxis, 10.30 Uhr drei Stunden lang verhört. Er fordert der SPD-Verteidigungsexperte musste sein Büro räumen, war blamiert Hans-Peter Bartels, sollte die Regel sein, und wurde ins Rheinland abkommandiert. die Bundeswehr dürfe „Ehen nicht behin- Erst am 10. September teilte der Kom- dern“. Dürften Paare gemeinsam in Con- paniechef seinem Unteroffizier mit, dass tainern leben, „würden weit mehr Ehe- nun doch „von einer disziplinaren Ahn- paare ins Ausland gehen“, glaubt ein Offi- dung abgesehen werde“ – als ob nichts wei- zier mit Kosovo-Erfahrung. ter gewesen wäre. Inzwischen darf der Noch heikler ist die Frage, was Bundes- Mann wieder an seinem gewohnten Ar- wehrsoldaten tun dürfen, die keinen Part- beitsplatz Dienst tun. ner vor Ort haben. Vor neun Jahren, beim Um ernsthafte Belästigungen in den Griff Out-of-area-Einsatz der Bundeswehr in So- zu bekommen, plädiert der Wehrbeauf- malia, war der private Kontakt zwischen deutschen Soldaten und einheimischen Frauen noch strikt untersagt. Voller Neid beobachteten deutsche Wachhabende am Abend auf den Tür- men des Lagers von Belet Huen, wie sich italieni- sche Soldaten aus ihrem benachbarten Camp in die Zelte somalischer Frauen schlichen. Heute lassen auch die deutschen Kommandeu- re ihren Untergebenen, je

BMVG / ACTION PRESS BMVG / ACTION nach der Sicherheitslage Minister Struck, Soldaten (in Kabul): Vorschriften verschärft im Einsatzgebiet, mehr Freiheit. Beliebt sind un- tragte Wilfried Penner für „weisungsun- ter deutschen Soldaten etwa Ausflüge in abhängige Ansprechstellen für weibliche die mazedonische Stadt Ohrid, wo, laut Ei- Soldaten“. Bislang ohne Erfolg. Dabei hät- genwerbung der Kommune, „sogar Engel te eine Vertrauensfrau den Leidensweg der Urlaub machen“. Bundeswehrsoldaten tra- Bundeswehrbewerberin Juliane S., damals fen, wie sie später im Internet berichteten, 17, in der Münchner Ernst-von-Bergmann- offenbar einige von ihnen und zahlten 100 Kaserne verkürzen können. Im März Euro pro Begegnung. vorigen Jahres offenbarte sich die junge „Was soll ich machen? Ich will nicht den Frau einem Feldwebel. Der Zeitsoldat Ehebruch fördern, aber ich weiß, was mei- Ronny P., 22, berichtete sie, habe sie stun- ne Jungs brauchen“, sagt ein ranghoher Of- denlang misshandelt und vergewaltigt. fizier mit Mazedonien-Erfahrung. Er hoffe Doch der Mann, den sie ins Vertrauen nur, dass er „Unterstützung von oben“ be- gezogen hatte, mühte sich mit aller Macht, komme, wenn auf den Ausflügen „irgend- den Fall zu vertuschen. Niemand woll- etwas schief geht“. te die Polizei in der Kaserne haben (SPIE- Manche, denen die lange Enthaltsamkeit GEL 18/2001). Mühe macht, tricksen die Bundeswehr mit Allerdings: Wegen versuchter Strafver- großer Raffinesse aus. Im Lager bei Tetovo eitelung brummte ihm ein Gericht nachher etwa wurden ein Sanitäter und eine Sa- eine Geldbuße von 3000 Euro auf; Ronny nitäterin erwischt, als sie kaum noch Klei- P. wurde im August zu einer Freiheitsstra- dung trugen. Die Strafe folgte auf den Fuß: fe von fünfeinhalb Jahren verurteilt. ab nach Hause. Waren Exzesse auch Folgen des Ein- Genau das aber war das Ziel ihres marsches der Frauen in die Kasernen, so Dienstvergehens. Beide spürten Sehnsucht entfachten sich die Diskussionen über den nach ihren Partnern daheim. Ihren Repa- Umgang mit dem Geschlechtlichen erst so triierungsplan hatten sie mit deren Kennt- richtig durch die meist monatelangen Aus- nis gefasst. landseinsätze der Bundeswehr. Doch die „Die haben das ziemlich raffiniert Sexualität von Soldaten, sagt der Wehrbe- getürkt und eine Lösung für ihr Problem auftragte Penner, könne dabei „weder gefunden“, sagt ein Oberstleutnant voller förmlich noch en detail geregelt werden“ – Respekt. Carsten Holm, Udo Ludwig

der spiegel 45/2002 91 Der kleine Urnen-Grenzverkehr BESTATTUNGEN soll bald zumindest in Nordrhein- Westfalen überflüssig werden: Die Opa im rot-grüne Landesregierung will – als erste in Deutschland – den Friedhofszwang für Urnen ab- Kofferraum schaffen und den Sargzwang bei Begräbnissen gleich obendrein. In NRW sollen Hinterbliebene ihre Künftig sollen Rheinländer die Toten bald schon daheim Asche ihrer Liebsten etwa im eige- nen Garten beisetzen können – je- bestatten dürfen. Moralisten sind denfalls wenn die Verstorbenen empört, Unternehmer und sich dies zu Lebzeiten schriftlich Kirchen fürchten um ihre Pfründen. gewünscht haben. Und Muslime dürften nach dem geplanten Ge- ma kam mit der Post. Jetzt steht setz ihre Toten überall in NRW ihre Urne in der Wohnzimmer- gemäß ihren Riten beerdigen – Ovitrine des Sohnes in Berlin-Span- ohne Sarg, direkt im Leinentuch. dau. Neben ihr steht der Topf von Opa, Einen Termin für die Verab- dessen Asche die Kinder schon vor zwei schiedung der Gesetzesvorlage von Jahren abgeholt hatten – aus Rücksicht auf Gesundheitsministerin Birgit Fi- den damals bereits schlechten Gesund- scher, SPD, gibt es aber noch nicht heitszustand der alten Dame. – und seit Mittwoch vergangener „Als er starb“, sagt Schwiegertochter Woche dürfte den Abgeordneten Luisa Umlauf, 54, „war sie schon zu krank, im Landtag klar sein, dass der Wi-

um auf den Friedhof zu gehen.“ Im Inter- derstand heftig wird: Aufgebrachte / DPA SAUER STEFAN net entdeckten Umlaufs dann einen Weg, Vertreter von Leichenbusiness und um den deutschen Friedhofszwang auszu- Kirchen beschworen vergangene tricksen, der eine Bestattung daheim ver- Woche bei einer Anhörung die Ab- bietet: Von einem Berliner Krematorium geordneten, „das, was sich in vie- ließen die Umlaufs die elterlichen Urnen len hundert Jahren eingebürgert in die Niederlande exportieren, angeblich hat, nicht per Gesetz abzuschaf- zur dortigen Bestattung. Anschließend re- fen“, so Rolf Lichtner vom Bundes- importierten sie die Asche aus dem libera- verband Deutscher Bestatter. len Nachbarland, in dem Bürger die Asche „Alle sind dagegen“, mokiert ihrer Verstorbenen schon lange mit nach sich der SPD-Abgeordnete Horst Hause nehmen dürfen. Vöge, „der Städtetag fürchtet um „Wir haben Monate auf Opa gewartet“, das Ausbleiben der Friedhofsge- sagt Luisa Umlauf. „Oma hat vor Freude bühren und Ver.di um die Stellen geweint, als seine Urne kam.“ Die Schwie- der Totengräber; Bestatter, Stein- gertochter sagt, ihr selbst sei die heimische metze und Floristen bangen um Gedenkstätte nun auch „ein großer Trost“. Kundschaft und die Kirchen um ihre Schäfchen.“ Teures Ende Ein evangelischer Würdenträger verstieg sich bei der Debatte gar Kosten einer Standard-Beerdigung in Euro zu dem Argument, der moderne Quelle: Aeternitas Mensch müsse vor sich selbst ge- Friedhofsgebühren schützt werden: „Das Recht auf Beisetzungsgebühr 460 – 1000 Selbstbestimmung darf nicht das

Erdwahlgrab 700 – 1750 Recht auf die eigene Menschen- / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL 4 Träger ab 80 würde verletzen.“ Und ein katho- Seebestattung, Urnen der Familie Umlauf lischer Kollege sekundierte, wenn „Oma weinte vor Freude“ Bestatterleistung die Asche demnächst auf der Wie- Sarg, Holz massiv 300 – 6000 se verstreut werde, lande sie doch schon kneipe gewährt. Am freizügigsten aber beim nächsten Rasenmähen auf dem Kom- sind die Niederländer, die ihre fein 20 – 250 Kissen, Decken, Polster post. Pfui Teufel. Konservative Politiker- gemahlenen Altvorderen überall verstreu- Bekleidung 30 – 125 seelen teilen derlei Horrorvisionen: „Es en dürfen – zu Lande, zu Wasser und aus Ankleiden und Einsargung 20 – 150 kann nicht sein, dass sich jeder eine Urne der Luft. in den Kofferraum packen darf“, poltert „Friedhöfe sollen ja nicht verboten wer- Steinmetz der Unionsabgeordnete Norbert Post. den“, spottet Hermann Weber von Aeter- Grabstein 300 – 4000 Dabei läutet NRW keineswegs den Nie- nitas, dem Verbraucherschutzverein für Inschrift (bei 25 Buchstaben) 250 – 325 dergang des Abendlands ein, sondern Bestattungskultur, über den Widerstand all gleicht seine Vorschriften nur denen vieler jener, die um ihre Einkünfte bangen: „Die Gärtner EU-Länder an: Selbst in katholischen meisten werden sich weiterhin traditionell Kranz 50 – 300 Hochburgen wie Spanien und Italien wer- bestatten lassen, auch wenn sie die Aufhe- Gärtner, erste Grabanlage 200 – 600 den Hinterbliebenen auf Wunsch die bung des Friedhofszwangs befürworten.“ Urnen ausgehändigt. In Großbritannien Und dass die Mehrheit im Lande für die Li- Gesamtkosten 2410 – 14 620 wurde einem Zechbruder gar der Wunsch beralisierung ist, ahnen auch die Sarg-Lob- nach der letzten Ruhe in seiner Stamm- byisten: Mehr als die Hälfte der Totengrä-

92 der spiegel 45/2002 Deutschland ber glaubt nach einer internen Befragung des Verbandes, dass ihre Kundschaft sich die neue Freiheit für Urnen wünscht. Doch es geht um viel Geld: Rund 5000 Euro müssen im Schnitt für herkömmliche Bestattung, Trauerfeier und Grab berappt werden. Regelmäßig unterstützt Aeterni- tas Musterprozesse gegen Städte wegen Beutelschneiderei bei den Friedhofsge- bühren – in Hessen etwa variiert der Qua- dratmeterpreis für ein Urnengrab zwischen 2,30 Euro pro Jahr in Limburg an der Lahn und 91,61 Euro in Langen. Kein Wunder, dass sich immer weniger Bürger den Luxus noch leisten können. 40 Prozent aller Toten werden mittlerweile ein- geäschert (Spareffekt: etwa 500 Euro). Und beinahe 15 Prozent wählen die Billigbeiset- zung der Urne im Massenreihengrab: an- onym, ohne Stein oder Kreuz. So nämlich ist es seit längerem erlaubt – die Methode zeigt, dass längst nicht jeder den Friedhof als „Ort der Erinnerung“ nutzt, wie Bran- chenvertreter das gern hätten. Ebenso anonym ist die längst übliche Seebestattung – und deren Regelungen zei- gen die ganze Absurdität der deutschen Vorschriften, die zum Teil schon seit dem 18. Jahrhundert gelten. So soll die Toten- asche auch bei der See-Variante wieder auffindbar sein, der Abwurfort wird des- halb im Schiffstagebuch festgehalten. Großer Unfug, höhnen Kritiker: Da See- Urnen laut Gesetz aus wasserlöslichem Ma- terial sein müssen, werde ihr Inhalt sowie- so schnell verteilt. „Wir begrüßen jede Veränderung, wenn alles so bleibt, wie es war“, belächelt NRW- Bestatter Fritz Roth die Haltung seiner Kol- legen. Er hat leicht spotten: Roths Geschäft blüht auch außerhalb von Eichensarg und Friedhofsruh. Die Trauer um Tote sei ein Akt der Liebe, so sein Credo, und Liebe mache kreativ. Deshalb bricht das Enfant terrible der Bestatterszene immer wieder die antiquierten Vorschriften – was zwar verboten, aber kein Straftatbestand ist – und zeigt damit, was künftig in NRW alles gehen könnte. Unter seiner Obhut erfüllen Trauernde selbst ausgefallene letzte Wünsche Ver- storbener: Drei seiner Kunden etwa teilten die Asche ihrer freigeistigen Mutter unter sich auf und ließen sie von einer Brücke in den Rhein wehen. Roth ist nicht der Einzige, der sich in Grauzonen des Bestattungsrechts bewegt: So hat das private Krematorium Celle den Niederländern einen neuen Gedenkfetisch abgeschaut. Es liefert Hinterbliebenen auf Wunsch ein „Am-Urn-Lett“, einen Hals- anhänger mit Totenasche. Celle vermittelt auch den direkten Weg ins Himmelreich: Für 11000 Euro wird Totenasche aus Deutschland in die USA verschickt. Dort verlädt das Unterneh- men Celestis die sterblichen Überreste in Raketen – und schießt sie zu den Sternen. Annette Bruhns der spiegel 45/2002 93 Werbeseite

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LUFTFAHRT Concorde in der Flaute eine frühere Anziehungskraft Shat das Überschallflugzeug Concorde mehr als zwei Jahre nach der Absturzkatastrophe von Paris noch nicht wiedererlangt. Die Auslastung der Maschinen ist mäßig: In den Flugzeugen von Air France sind im Schnitt nur etwa zwei von drei Plätzen belegt, Bri- tish Airways bietet noch immer keinen zweiten Flug pro Tag an, obwohl die Fluggesellschaft dies bereits mehrfach angekündigt hat. Die Briten hatten nach dem Ab-

sturz der Air-France-Maschine im / GETTY IMAGES PARKER DAVID Juli 2000, bei dem 113 Menschen Concorde ums Leben kamen, ihre Flieger für rund 50 Millionen Euro umgerüstet, seit einem Jahr sind sie deren Angeboten: Eine Weihnachts-Shopping-Tour nach New wieder in der Luft. Damit in den Maschinen zwischen London York und zurück kostet inklusive drei Übernachtungen rund die und New York (Flugzeit: knapp vier Stunden) künftig weniger Hälfte des Normaltarifs – das sind allerdings immer noch 6943 Sitze leer bleiben, lockt British Airways Passagiere mit beson- Euro.

BANKENVERBAND STAATSFINANZEN desbank oder Regierung er- stellt, hinterlassen die Deut- Wahltermin wackelt Erblast von 4,2 schen ihren Nachkommen derzeit offene Rechnungen ie Wahl des neuen Bankenverbandspräsidenten verzögert Billionen Euro von rund 4,2 Billionen Euro, Dsich wahrscheinlich. Ursprünglich wollte der Bundesver- rund 200 Milliarden Euro band Deutscher Banken am kommenden Montag den Posten it ihrem Koalitionsver- mehr als zuvor. Gesteigert besetzen, doch hochrangige Verbandsmitglieder drängen dar- Mtrag hat die rot-grüne hat die Koalition die Gene- auf, den Termin zu verschieben. Der Verband tut sich schwer, Regierung die Finanzlast er- rationenlast vor allem durch einen Nachfolger für Rolf Breuer zu finden. Eigentlich wäre der höht, die künftige Genera- ihre Beschlüsse, zusätzliche Chef einer kleineren Privatbank an der Reihe, doch wegen der tionen zu tragen haben. Schulden aufzunehmen so- tiefen Krise im Gewerbe suchen die Nach der jüngsten so ge- wie die Rentenbeiträge zu Banker lieber einen Kandidaten aus nannten Generationen- erhöhen. In der vorigen Le- der Hochfinanz – bislang freilich ohne bilanz, die der Freiburger gislaturperiode hatte die Re- Erfolg. Josef Ackermann, Breuers Ökonom Bernd Raffelhü- gierung mit Haushaltskonso- Nachfolger an der Spitze der Deut- schen regelmäßig für Bun- lidierung und Rentenreform schen Bank, will den Posten nicht. Die- die Erblast noch re- ter Rampl, dem designierten Lenker duzieren können. der HypoVereinsbank, werden als New- Mit Generationen- comer wenig Chancen eingeräumt. bilanzen messen Bernd Fahrholz von der Dresdner Volkswirte, wie poli-

TIM WEGNER / LAIF Bank trifft auf Vorbehalte, weil er als tische Entscheidun- Breuer Allianz-Vorstand quasi für die Konkur- gen die Finanzlasten renz tätig ist. Und Klaus-Peter Müller für künftige Genera- von der Commerzbank, bislang der Favorit für den Job, wird tionen erhöhen. inzwischen skeptisch betrachtet: Er fiel zuletzt vor allem mit Dazu tragen Staats- massiver Kritik an der Bundesregierung auf – weswegen er in schulden bei, für die Berlin keinen leichten Stand hätte. Alle aktiven Bankchefs haben später Zinsen ge- zudem erhebliche Probleme in ihren Instituten zu lösen – und zahlt werden müs- deshalb wenig Zeit für externe Aufgaben. Einige Verbands- sen, oder neue Sozi- vertreter erwägen bereits eine ungewöhnliche Alternative: Sie alansprüche, die

wollen Breuer bitten, das Amt weiter auszuüben – obwohl FOTOARCHIV R. OBERHAEUSER / DAS nicht ausreichend er nicht mehr Vorstandssprecher der Deutschen Bank ist. Spielende Kinder gedeckt sind.

der spiegel 45/2002 97 Trends

MOBILCOM Ex-Debitel-Chef soll Treuhänder werden ünftig soll Ex-Debitel-Chef Joachim KDreyer als Treuhänder 50 Prozent der Anteile an der angeschlagenen Telekommunikationsfirma MobilCom verwalten. Darauf einigten sich vergan- genen Freitag der Gründer des Büdels- dorfer Unterneh- mens, Gerhard Schmid, und der von der Bundes- regierung einge- setzte Vermittler, der ehemalige Thyssen-Manager Dieter Vogel.

Anschließend MARCO-URBAN.DE kam es allerdings Soldat am Computer

FABIAN BIMMER / AP FABIAN zum Streit über Schmid den Inhalt des RÜSTUNG Treuhandver- trags, der eine wesentliche Vorausset- zung für die Bundesbeihilfen zur Ret- 500 Millionen verpulvert tung des Unternehmens ist, ohne einen solchen Vertrag werden auch die Ban- assive Probleme hat das Deutsche Heer mit dem neuen Computersystem ken kein weiteres Geld mehr geben. MHeros-2/1. Als „Fiasko“, berichten Militärs, erwies sich kürzlich ein Probelauf Zwar unterzeichneten Schmid und bei der Düsseldorfer 7. Panzerdivision; der Rechnerverbund, der den raschen Da- Dreyer am vergangenen Freitag einen tenaustausch zwischen Stäben und Gefechtsständen leisten soll, stürzte immer Vertrag, der aus Schmids Sicht auf alle wieder ab. Für das Projekt, dessen Entwicklung noch zu Zeiten des Kalten Krie- wesentlichen Forderungen der Bundes- ges in den achtziger Jahren begann, wurden nach Aussage von Fachleuten bisher regierung eingeht und zugleich ihm und rund 500 Millionen Euro verpulvert. Die Einführung wurde bereits mehrmals ver- seiner Familie, die zusammen rund 50 schoben. Experten plädieren daher dafür, Heros-2/1 abzubrechen, um ein Milliar- Prozent an dem Unternehmen halten, den-Desaster zu verhindern. Die Heeresleitung und der Informationstechnologie- ein Minimum an Sicherheit bietet. Das Stab des Wehrressorts wollen dagegen den Lieferanten unter Führung der Münchner bedeutet zum Beispiel, dass der Firma ESG, hinter der sich Rüstungskonzerne wie EADS und Thales verbergen, Treuhänder die Anteile nicht ohne Zu- noch „eine letzte Chance“ zum Nachbessern geben – bis zum Jahresende. Selbst stimmung von Schmid veräußern darf. wenn das gelingt, wird das Heros-Netzwerk für die Auslandseinsätze der Bundes- Die Regierung jedoch behauptet, der wehr nur wenig taugen: Der Datenaustausch mit den Führungssystemen von Luft- Text des Vertrages entspreche nicht der waffe und Marine ist bislang nicht möglich; die Verkopplung mit der EDV von Bünd- abgestimmten Fassung und enthalte in- nispartnern erfordert, wie sich bei Übungen zeigte, immensen technischen Aufwand. akzeptable Forderungen Schmids.

US-AUTOMARKT ke. Der etwas klobig wirkende Wa- gen trifft offenbar den Geschmack Siebener-BMW der amerikanischen Kundschaft. In Deutschland dagegen startete das überholt S-Klasse Münchner Modell eher langsam. Hier führt die bereits mehrere Jahre älte- er in Deutschland wegen seines re S-Klasse (7875 Neuzulassungen) Deigenwilligen Designs umstritte- noch immer klar vor dem Siebener ne neue Siebener von BMW feiert (6326). BMW und Mercedes-Benz zumindest in den USA große Erfol- halten die beiden anderen Konkur- ge. In den ersten neun Monaten die- renten in der Oberklasse, Audi und ses Jahres überholte er bei den Ab- VW, deutlich auf Distanz. Vom A 8, satzzahlen (16296) eindeutig die dessen neues Modell Audi gerade S-Klasse von Mercedes-Benz (14534) einführt, wurden in den ersten neun und liegt damit erstmals seit drei Monaten 2841 Autos verkauft. VW Jahren vor dem Stuttgarter Rivalen. konnte bislang 1295 Phaeton abset-

„Das ist mehr, als wir erwartet ha- / GETTY IMAGES PUGLIANO BILL zen, der Wagen wird allerdings erst ben“, sagt BMW-Chef Helmut Pan- Siebener-Modell von BMW seit kurzem ausgeliefert.

98 der spiegel 45/2002 Geld

für für für ZINSEN Zins-Vergleich 100 ¤ 3000 ¤ 50000 ¤ Tagesgeld Bonus für Sparer DaimlerChrysler Bank AG Tagesgeldkonto 3,6 % 3,6 % 3,6 % irektbanken wie die Santander Direkt Bank oder die DiBa konn- DiBa Allgem. Deutsche Dten innerhalb weniger Monate Hunderttausende von Neukunden Direktbank Extrakonto 3,5 % 3,5 % 3,5 % gewinnen, weil sie für Tagesgeldkonten Zinsen von bis zu 3,5 Prozent bieten. Von den Börsen abgeschreckte Anleger parken ihr Geld auf BMW Bank GmbH den Konten, weil sie es kostenfrei und ohne Kündigungsfrist wieder Online-Tagesgeld 3,25 % 3,25 % 3,5 % abziehen können. Attraktivster Wettbewerber ist die DaimlerChrys- Santander Direkt Bank AG ler Bank, die ab dem ersten Euro 3,6 Prozent Zins verspricht. Um kon- 3,25 % 3,25 % 3,25 % Santander Geldkonto kurrenzfähig zu bleiben, bietet die Postbank nun für Neugelder auf KarstadtQuelle Bank GmbH bestimmten Sparkonten einen Zins von maximal fünf Prozent und hat DailyPlus 2,0 % 3,0 % 3,25 % seit Anfang Oktober 300 Millionen Euro von zinshungrigen Anlegern einkassiert. Das Angebot hat im Vergleich zu den Tagesgeldkonten al- zum Vergleich: lerdings ein paar Haken. Der maximale Zinssatz gilt nur für neue Gel- Postbank (Spargeld mit dreimonatiger Kündigungsfrist) der von 50000 Euro auf einem Online-Konto. Außerdem muss das * * Sparen 3000 plus 1,25 % 3,0 % 4,5 % Geld vom 30. November bis zum 31. Mai auf dem Sparkonto liegen, * * sonst gibt es Abzüge. Wer an sein Geld heranwill, muss außerdem eine Sparen 3000 plus direkt 1,25 % 3,4 % 5,0 % (Online-Variante mit SparCard) dreimonatige Kündigungsfrist beachten. Ab dem 31. Mai gibt es bei *inkl. Bonus dem Lockvogelangebot keinen Zinsbonus mehr.

NEBENWERTE Quelle: Unternehmen mit Verlustvorträgen Aktien in Euro Thomson Financial Deutsche Bank verkauft die 3,50 8,00 Datastream 46 Aktien des Meisters 7,50 3,00 orussia Dortmund gewinnt, doch die Aktie des 42 BFußballclubs macht den Fans wenig Freude. Seit 7,00 der Emission ist das BVB-Papier von 11 Euro auf 3,85 2,50 38 Euro am vorigen Freitag gefallen – ein Verlust von 65 6,50 Prozent, obwohl der Club in diesem Sommer Deut- scher Meister wurde, das Uefa-Cup-Finale erreichte 2,00 34 6,00 und nun auch in der lukrativen Champions League in Daimler- der 2. Runde steht. Zur tristen Performance der An- Chrysler WCM MG Technologies 30 1,50 5,50 teilsscheine trägt wohl auch die Deutsche Bank bei. Sie Aug. Sept. Okt. Aug. Sept. Okt. Aug. Sept. Okt. platzierte den Fußballbundesligisten im Oktober 2000 als Konsortialführerin an der Börse – und übernahm bis Anfang dieses Jahres rund 28 Prozent der Anteilsschei- AKTIEN land noch Verluste von etwa ne, um den Kurs zu stützen. Schon im Februar redu- zwei Milliarden Euro vor sich zierte das Institut seine Anteile auf unter 25 Prozent. Schatten der her. Die WCM hatte die Klöck- Nach Informationen von Marktbeobachtern soll das ner-Werke vor allem übernom- Kreditinstitut auch danach noch kurzzeitig steigende Steuerreform men, um dank der hohen Ver- Kurse immer wieder dazu genutzt haben, um eigene lustvorträge auf absehbare Zeit Anteile abzustoßen. rhebliche Auswirkungen auf deutlich weniger Steuern zahlen 11 Borussia Dortmund Mittlerweile hat die Edie Kurse einzelner Unter- zu müssen. Auch bei renom- Aktie in Euro Deutsche Bank ihre nehmen wird die Umsetzung mierten Konzernen wie Daim- 10 Beteiligung weiter re- der Steuerpläne der Bundes- lerChrysler (Verlustvortrag duziert – wie viele regierung haben. In den ver- Ende 2001: 4,7 Milliarden Euro) 9 Aktien das Institut gangenen Wochen gerieten kurz- oder BMW (Rover-Desaster) noch hält, will ein zeitig bereits Unternehmen wie könnte möglicherweise die 8 Banksprecher jedoch MG Technologies oder WCM Höhe ihres Eigenkapitals sin- 7 nicht sagen. Wenn unter Druck, weil diese erhebli- ken, weil sie künftige und nun der Verkaufsdruck che Verlustvorträge mit sich her- möglicherweise hinfällige Steuer- 6 seitens der Bank umschleppen, die künftig nach ersparnisse bereits nach interna- stoppt, hat der Ak- dem Willen der Berliner Politi- tionalen Standards in ihre Bi- 5 tienkurs Potenzial ker spätestens nach sieben Jah- lanz eingestellt haben. Aller- 4 nach oben – zumin- ren verfallen sollen. Aus der dings wird es letztlich auf die Quelle: Thomson Financial Datastream dest wenn der BVB Existenzkrise der früheren Me- genauen Bestimmungen in dem weiterhin so erfolg- tallgesellschaft 1993/94 schiebt Gesetzentwurf ankommen, der 2000 2001 2002 reich ist. MG Technologies in Deutsch- Ende November vorliegen soll.

der spiegel 45/2002 99 ULRICH BAATZ / LAIF BAATZ ULRICH Krankenhausärzte (im Klinikum Düsseldorf): Die Medizinerlobby organisiert bereits den Widerstand

GESUNDHEITSREFORM Gut gelaunt in den Ruin Allzu lange hat Gesundheitsministerin Ulla Schmidt den Problemen tatenlos zugesehen, jetzt will sie die ausufernden Gesundheitskosten mit einer Hauruck-Reform eindämmen. Die Patienten müssen sich auf Engpässe einstellen – und auf weitere Beitragserhöhungen.

ie liebt Schokolade und Aachener Ärzte und Kliniken sollen im nächsten Printen, singt am liebsten „Happy Jahr auf Honorarsteigerungen verzichten, SBirthday“ und möchte „mit nieman- Pharmakonzerne die Preise senken, Kas- dem tauschen – nicht mal für einen Mo- sen ihre Beiträge einfrieren. Nicht einmal nat“. Wo ihre persönlichen Stärken liegen, die finale Kassenleistung bleibt tabu. Das weiß Ulla Schmidt selbst am besten: in Sterbegeld, das die Kassen beim Tod eines ihrem „Optimismus“ und der Eigenschaft, Mitglieds auszahlen, wird um ein Drittel „das Lachen trotz allem nicht verlernt zu gekürzt. „Alle müssen einen Sparbeitrag haben“. bringen“, verlangt die Ministerin. Spätestens seit vergangener Woche wirkt Die Schmidtsche Radikalkur ist das Ein- das Lachen der stets so fröhlichen „Super- geständnis der rot-grünen Regierung, dass ministerin“ für Rente und Gesundheit et- sie mit ihrer bisherigen Politik gescheitert was gequält. Gut gelaunt steht sie vor dem ist. Ähnlich wie Finanzminister Hans Ei- Ruin ihrer Politik. Um einen Rekordan- chel, der das Wahlvolk monatelang über stieg der Krankenkassenbeiträge zu ver- das wahre Ausmaß der staatlichen Finanz- hindern, verhängte die SPD-Sozialexpertin misere im Unklaren ließ, beschönigte die ein beispielloses gesundheitspolitisches Gesundheitsministerin konsequent die dra- Notprogramm. Preisstopp, Nullrunde, matische Finanzlage der Kassen. Zwangsrabatt: Mit einem Instrumenten- Noch Anfang September hatte sie „sta- mix, der an das Arsenal kommunistischer bile Beiträge“ in Aussicht gestellt. Nun Planwirtschaften erinnert, will des Kanz- lers oberste Sozialarbeiterin die medizini- Ministerin Schmidt

sche Ausgabenflut eindämmen. „Alle müssen einen Beitrag bringen“ / DDP JOHANNES EISELE

100 der spiegel 45/2002 Wirtschaft

2000 Alles andere: Panikmache, Wahlkampf, Entwicklung der gesetzlichen Schwarzmalerei. +323% Parteifreunde, die ihr zu weit reichenden Krankenversicherung Reparaturen am Medizinsystem rieten, ließ sie abblitzen. Mehr Wettbewerb zwischen 1995 Kassen und Ärzten? Eine neue Finanzie- Beitragssätze Leistungsausgaben +293% rungsordnung? Mehr Eigenvorsorge? Den in Westdeutschland Veränderung Reformkonzepten etwa des früheren rhein- gegenüber 1975 land-pfälzischen Sozialministers und jetzi- 1950: 6,0% gen Chefs der Bundesanstalt für Arbeit, 1960: 8,4% Florian Gerster (SPD), oder ihres eigenen 1970: 8,2% wissenschaftlichen Chefberaters Karl Lau- terbach setzte sie ein entschiedenes Weiter- 1980: 11,4% 1990 so entgegen. Statt großer Reform ständige 1990: *12,5% +131% Reförmchen, lautete Schmidts Mantra. 2001: 14,0% Ihr Versuch, mit einem „runden Tisch“ *Ostdeutschland: 12,8% aus Pharma-, Ärzte- und Kassen- Krankengeld Verwaltungs- funktionären eine konsensfähi- 1985 5,6 kosten +87% 5,2 ge Kostensenkungsstrategie 1980 Zahnersatz, zu entwickeln, endete als zahnärztliche Behandlung Krankenhaus- folgenlose Quasselrunde. 8,2 behandlung +48% 32,6 Nach knapp einjährigen Beratungen kamen die 1975 Verteilung sonstige Beteiligten zu der ge- Leistungen meinsamen Erkenntnis, 10,2 der Leistungen % dass im Gesundheitswe- 1. Halbjahr 2002 ärztliche sen am besten alles beim 562 562 511 Behandlung Alten bleibt: kein System- 311 16,0 Arznei-, Heil- wechsel, keine Leistungs- Hauruck-Reform: und Hilfsmittel abstriche, keine Zuzahlun- 19961997 1998 1999 2000 2001 2002 Unter dem Diktat des 22,2 gen der Patienten. Die „grund- 1.Halb- jahr Ausgabestopps wird in legenden Gestaltungsprinzipien der Regel nur so lange be- der gesetzlichen Krankenversiche- Defizite und handelt, wie das Geld reicht. rung“ müssten unbedingt „erhalten blei- Dass die staatliche Kostenbremse dabei ben“ – darin stimmten Ministerin und Lob- Überschüsse wenigstens die Sozialabgaben stabil hält, byisten überein. in Millionen Euro glaubt nicht einmal die Gesundheitsminis- Schmidts Versuche, die Kosten in den –2421 terin. Bereits in den nächsten Tagen wollen Griff zu bekommen, missrieten in der Regel. manche Versicherungen ihre Sätze anhe- Zum Beispiel ihr Bemühen, den rasanten –2801 ben. Andere werden nachziehen, wenn das Anstieg bei den Arzneimittelausgaben zu –3221 Quelle: Bundesgesundheitsministerium Defizit weiter steigt. Andernfalls müssten stoppen. Erst hob sie die entsprechenden sie Konkurs anmelden. Schmidt selbst Budgetvorschriften für Praxismediziner auf. muss sie einräumen, dass das Gesund- rechnet mit Beitragssätzen von 15 Prozent Dann verzichtete sie gegen eine Abschlags- heitswesen nur noch mit Verzweiflungs- und mehr. zahlung der Pharmaindustrie auf eine ge- maßnahmen vor dem Bankrott zu retten Arbeitnehmern und Betrieben droht der plante Preisreform bei Medikamenten. ist. Ein „dreister Wahlbetrug“ sei das, größte Belastungsschub seit Jahren. Ein Die unglückliche Flickschusterei endete schimpft Unions-Sozialexperte Horst See- Durchschnittsverdiener muss im nächsten schließlich im finanziellen Desaster. In den hofer (CSU). Jahr knapp 130 Euro zusätzlich an Sozial- vergangenen Jahren stiegen die Arznei- Die Medizinlobby organisiert bereits den beiträgen bezahlen. Seinem besserver- mittelausgaben um fast 30 Prozent oder Widerstand gegen die Koalitionsbeschlüs- dienenden Kollegen drohen gar Jahres- knapp fünf Milliarden Euro. se: Ärzte wollen vorübergehend ihre Pra- einbußen in vierstelliger Höhe – ein ein- Nicht weniger kostentreibend wirkte ein xen schließen, Krankenhäuser drohen mit samer Rekord. weiteres Schmidt-Projekt: die neuen Be- Personalabbau, Pharmafirmen erwägen die Jetzt rächt sich, dass die SPD-Sozial- handlungsprogramme für Diabetiker oder Flucht ins Ausland. Die Patienten müssen expertin der heraufziehenden Krise mo- Krebskranke. Von den groß angekündigten sich auf Versorgungsengpässe spätestens natelang tatenlos zugesehen hat. Bereits Vorhaben spüren die Patienten noch wenig, im nächsten Jahr einstellen. im vergangenen Jahr hatten Gesundheits- dafür treibt das Projekt schon einmal Immerhin: Einen Beauftragten für Patien- politiker, Kassenfunktionäre und Sachver- großflächig die Kosten in der aufgeblähten tenschutz will die Gesundheitsministerin er- ständige unisono vor baldigen Beitrags- Kassenbürokratie. nennen, um die Patientenrechte zu stärken. erhöhungen gewarnt. Um sich auf die komplizierten Behand- Zu seinen Aufgaben soll es gehören, „den Doch die Ministerin wollte es nicht lungs- und Budgetvorschriften der so ge- Kassen klarzumachen, dass sie geschaffen wahrhaben. Mal waren es die günstigen nannten Disease-Management-Programme wurden, um die Patienten zu versorgen und Tarifabschlüsse, auf die sie ihre Hoffnun- vorzubereiten, mussten die Kassen auf- nicht Ärzten und Apothekern ein hohes gen gründete, mal die Aussicht auf hohe wendige Computerprogramme anschaffen Einkommen zu sichern“. Der Mann ist vom Weihnachtsgeld-Zahlungen am Jahresen- und jede Menge zusätzliches Personal ein- Fach: Karl Hermann Haack ist gelernter de. Auf jeden Fall, so verkündete sie gut stellen. Auch deshalb stiegen die Verwal- Apotheker und seit vier Jahren Beauftrag- gelaunt noch im Frühherbst, würden „posi- tungsausgaben im vergangenen Jahr um ter der Bundesregierung für Behinderte. tive Effekte auf der Einnahmeseite“ spä- rund vier Prozent. Um die Patientenrechte ist es in der Tat testens „in der zweiten Jahreshälfte“ die Ihre gewichtigsten Fehler jedoch beging schlecht bestellt – vor allem nach Schmidts Finanzprobleme der Kassen entschärfen. die Ministerin, als sie noch gar nicht im

der spiegel 45/2002 101 Der Schmidtschen Tu-nix-Doktrin wird der Sozialexperte, so viel ist sicher, dabei nicht folgen. Rürup hat schon im vergan- genen Jahr eine 14-seitige Expertise über eine „Reform des Gesundheitssystems“ im Kanzleramt abgeliefert. Folgt der Profes- sor dieser Linie, dann steht dem Medizin- betrieb der Republik noch in dieser Legis- laturperiode jener grundlegende Wandel ins Haus, den die Ministerin bisher stets vermieden hat. So plädiert Rürup unter anderem dafür, • den Wettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Krankenkassen zu verstär- ken, • den Versicherten den Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil ihres Krankenversi- cherungsbeitrags als Lohnbestandteil auszuzahlen, • die heutigen Kartelle von Ärzten und Kassenverbänden auszuhebeln, • ärztliche Leistungen künftig als Fallpau- schalen zu vergüten. Egal wie stark die Blaupause des Profes- sors bei den Beratungen der Kommission Arzneimittelproduktion (bei Fresenius in Friedberg): „Staatlicher Zwangsrabatt“ noch verändert wird – die grundlegende Richtung der Reform zeichnet sich schon Amt war. Als zuständige SPD-Parlamenta- Ob das Vorhaben gelingt, ist mehr als ab: eine breitere Finanzierungsbasis für das rierin für Rente und Soziales ließ sie zu, fraglich. Schon stößt Schmidt mit mehreren Krankenkassensystem und mehr Wettbe- dass die Regierung zahlreiche Projekte mit ihrer Sparpläne auf den Widerstand der werb zwischen Kassen und Medizinanbie- dem Griff in die Kassen der gesetzlichen Grünen. Und ungewiss ist auch, ob das tern. Krankenversicherung finanzierte. Von der Kostendämpfungspaket überhaupt recht- Ulla Schmidt ist da nicht gefragt. Sie Riester-Rente bis zu Kürzungen bei der zeitig in diesem Jahr verabschiedet wer- muss sich um Näherliegendes kümmern. Arbeitslosenhilfe: Die Verschiebeaktionen den kann. summierten sich nach Schätzung der Kas- Das Risiko ist hoch: Ziehen sich die Par- sen bald auf Zusatzkosten von mehreren lamentsberatungen bis ins nächste Jahr, Milliarden Euro pro Jahr. bleibt die erhoffte Sparwirkung vorerst aus. Als Ministerin sah Schmidt trotzdem Im Gegenteil: Solange die Kostenbremsen noch ausreichend Finanzmasse, um in den nicht in Kraft sind, werden Ärzte und Kli- vergangenen Monaten fleißig Wahlge- niken an Leistungen abrechnen, was nur schenke unters Volk zu streuen. Hier ein irgend geht. paar Honorarzuschläge für Ostmediziner, Die eigentlichen Aufräumarbeiten im dort einige Milliönchen für Mutter-Kind- Gesundheitswesen will der Kanzler oh- Kuren – stets folgte die Ministerin ihrer nehin nicht seiner glücklosen Ministerin ständig wiederholten Überzeugung, die überlassen. Die geplante große Gesund-

Krankenkassen hätten vor allem „ein Qua- heits- und Sozialreform, die Gerhard RADEMACHER UTA litätsproblem“. Schröder an das so genannte Vorschaltge- Unions-Sozialexperte Seehofer Unterdessen verschlechterten sich die setz anschließen will, darf nicht Schmidt „Dreister Wahlbetrug“ Kassenfinanzen immer stärker. Über Mo- konzipieren, sondern der kabinettsferne nate stiegen die Ausgaben schneller als die Darmstädter Finanzwissenschaftler Bert Gegen ihr Notstandsprogramm formierte Einnahmen, der erhoffte Beitragsschub Rürup. sich am vergangenen Wochenende bereits blieb aus. Schon in wenigen Wochen könnte der eine breite Opposition: Ärztefunktionäre Nun sind die Reserven der meisten Kas- Professor die ersten Sitzungen einer Ex- wollen schon in dieser Woche über Pro- sen aufgebraucht, manche stehen gar vor pertenrunde nach dem Vorbild der Hartz- testaktionen beraten, Kassenchefs kündig- der Pleite. Bis zum Jahresende wird das Kommission leiten. Spätestens Ende nächs- ten Verfassungsklage gegen den geplanten Defizit der Krankenkassen nach Schätzung ten Jahres wird der Abschlussbericht er- Beitragsstopp an. von Experten mehr als 1,5 Milliarden Euro wartet. Weitere Gefahr droht von den Län- betragen, das zweite Milliarden-Minus in Der offizielle Auftrag ist hinreichend va- dern. Die Gesundheitsminister aus dem Folge. ge formuliert, um dem Expertengremium unionsgeführten Süden werden nicht mit- Jetzt, nach monatelangem Zaudern, Zö- den nötigen Freiraum zu geben. So muss machen, etliche Schmidt-Vorhaben drohen gern und Zuwarten, hat auch Schmidt die die Kommission die „langfristigen Finan- am Bundesrat zu scheitern. katastrophale Lage erkannt – und die zierungsgrundlagen der sozialen Siche- So muss die Ministerin schon über Ände- Reißleine gezogen. Mit ihrem Notpro- rungssysteme ausleuchten“, und das im rungen verhandeln, noch bevor das Spar- gramm, das sie in den nächsten Wochen im Hinblick auf die „vielfältigen Anforderun- paket überhaupt im Parlament angekom- Eilverfahren durchs Parlament bringen will, gen des gesellschaftlichen und sozialen men ist. Sie wolle zwar „im Grundsatz bei sollen die Kassenfinanzen notdürftig sta- Wandels“ sowie der „Veränderungen der den Maßnahmen bleiben“, ließ Schmidt am bilisiert und zugleich der nötige Freiraum Erwerbsbiografien“. Im Klartext: Rürup vergangenen Freitag wissen. Doch zugleich für eine grundlegende Reform geschaffen darf alles reformieren, was er für not- könne es an der einen oder anderen Stelle werden. wendig hält. noch „Ausnahmen geben“. Michael Sauga

102 der spiegel 45/2002 Werbeseite

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findung der Pauschalreise durch Josef der TUI-Chef noch Ende August verspro- LUFTFAHRT Neckermann. chen, ähnlich verlockende Ziele anzubieten Wer frühzeitig bucht, kann bei Aldi-Air- wie der Lufthansa-Preisbrecher. Revolution lines wie Easyjet, der Deutschen BA (DBA) Statt der angekündigten acht Maschinen oder der neuen TUI-Tochter Hapag-Lloyd- schickt die TUI-Truppe ab Dezember Express schon ab neun Euro abheben – zunächst nur vier Jets ins Rennen. Die am Himmel Steuern und Gebühren inklusive. Die Lufthansa setzt dagegen sechs Airbusse ein Lockvogelangebote lohnen sich für die An- und will demnächst zusätzliche Flieger an Im hart umkämpften Geschäft mit bieter trotzdem, weil die nur einen Teil der die Startrampe schieben. Ziehen die Bu- Billigflügen mischen erstmals Sitze so billig verhökern und die übrigen chungen weiter an, ist das auch dringend Plätze kurz vor Abflug deutlich teurer ver- nötig. „Mittlerweile sind über 180 000 auch Großkonzerne wie TUI und kaufen. Selbst etablierte Chartercarrier wie Tickets verkauft“, frohlockt Germanwings- Lufthansa mit. Das bessere Air Berlin wollen an dem Billig-Boom teil- Geschäftsführer Joachim Klein. Konzept hat die Airline ausgeheckt. haben und steuern neuerdings im Shuttle- Nun rächt sich, dass die TUI-Manager Verkehr europäische Großstädte an. den Start ihrer neuen Billig-Airline viel zu er vom exklusiven Terminal C Lange Zeit sah es so aus, als hätten sich lange hinausschoben und mit Köln/Bonn des Kölner Flughafens zu eu- der irische Marktführer Ryanair und sein noch dazu denselben Startflughafen wähl- Wropäischen Metropolen wie Rom, britischer Erzrivale Easyjet, der 2003 die ten wie ihr Hauptwettbewerber Lufthansa. Madrid, Zürich oder London startet, fühlt DBA übernehmen will, die Lufthoheit über Um die Maschinen besser auszulasten, wol- sich neuerdings fast wie ein VIP-Passagier. Deutschland gesichert. Doch nun gehen len die TUI-Manager in ihrer Not ab De- Lange Warteschlangen vor den Check-in- mit der Lufthansa und der TUI erstmals zember auch mehrmals pro Tag inner- Schaltern oder der Sicherheitskontrolle zwei Schwergewichte an den Start, die den deutsche Ziele wie Berlin oder Hamburg gibt es nicht. Auch an Bord der Airbus- Höhenflug der Eindringlinge stoppen wol- anfliegen – und machen nach Einschätzung Jets vom Typ A 319 ist alles vom Feinsten. len. Scheitert der Gegenangriff der Kon- von Branchenkennern damit erneut einen Die grauen Ledersitze verströmen de- zerne, riskieren Lufthansa-Chef Jürgen gravierenden Fehler. Demnächst wird die zente Gediegenheit. Wer will, kann zu Weber und sein TUI-Kollege Michael Fren- Strecke Köln–Berlin von Aldi-Carriern

Flugstrecken ausgewählter deutscher Billigcarrier Hamburg Berlin- Germanwings London-Stansted Düssel- Tegel Hapag-Lloyd dorf Express London-Luton (ab 3. 12.) Köln/Bonn Deutsche BA (nur innerdeut- sche Strecken) Paris Stuttgart Wien Zürich München Mailand/ Mailand/Bergamo Malpensa Venedig Istanbul Nizza Barcelona Pisa Madrid Rom/ Fiumicino Neapel RAINER JENSEN / DPA RAINER ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH Germanwings-Geschäftsführer Klein, TUI-Chef Frenzel: Kampf um die Lufthoheit bei Schnäppchentrips fairen Preisen einen Cappuccino oder zel nicht nur ihre Rendite, sondern auch mehr als ein Dutzend Mal pro Tag bedient. ein Sandwich der Lufthansa-Tochter LSG- ihren guten Ruf. „Das gibt ein gigantisches Blutbad“, pro- Sky-Chefs erstehen. Vor der – fast im- Monatelang arbeiteten enge Vertraute phezeit ein enger Berater des Lufthansa- mer pünktlichen – Landung verteilen die der Firmenchefs in Frankfurt und Hanno- Chefs. freundlichen Stewardessen Schokoladen- ver an Strecken- und Flugplänen für die Bitter bereuen könnten Frenzel und sei- täfelchen. So werden bei traditionellen Li- neuen Billiglinien. Die besseren Experten ne Mannen auch ihre Entscheidung, die nienfluggesellschaften sonst nur Business- hat offenbar die Lufthansa, wie das Ange- Lufthansa demnächst auf ihrer Monopol- Passagiere verwöhnt. bot ihrer Konzerntochter Eurowings zeigt, strecke von Köln nach Hamburg anzugrei- Was auf den ersten Blick wie ein maß- die den neuen Aldi-Ableger seit Anfang fen. Sollten die TUI-Manager ihre Ankün- geschneidertes Angebot für gestresste Ge- vergangener Woche betreibt. Während die digung wahr machen, wollen Webers Netz- schäftsreisende anmutet, ist bei dem Luft- Lufthansa-Enkelin Germanwings für Tou- planer eigene Billigflieger in den Abwehr- hansa-Ableger Germanwings schon ab risten und Geschäftsreisende gleicher- kampf schicken. 19 Euro buchbar – und die Antwort des maßen attraktive Ziele wie Rom, Madrid, Gegenwärtig reißen die Lufthanseaten Marktführers auf die wachsende Konkur- Zürich oder Wien bedient, und das häufig zudem bei einem Teil ihrer Jets die Bord- renz durch immer neue Billigkonkurren- sogar mehrmals pro Tag, verkehren Fren- küche heraus, um zusätzliche Sitze ein- ten. Seit der irische Preisbrecher Ryanair zels Flieger überwiegend zu abgelegene- zubauen und innerdeutsche Angreifer vor gut drei Jahren die Startbasis Hahn im ren Destinationen wie Bergamo, Pisa oder mit eigenen Super-Schnäppchenangeboten Hunsrück für seine Schnäppchentrips aus- Neapel, wo sich zum Teil schon andere auszubremsen. Dann können sie sogar wählte, tobt am deutschen Himmel eine Low-cost-Carrier breit gemacht haben – ihren bislang günstigsten Rückflugtarif Verdrängungsschlacht, die das Fliegen ähn- eine Todsünde im knapp kalkulierten Ge- noch unterbieten. Der kostet gerade mal lich revolutionieren dürfte wie einst die Er- schäft mit Schnäppchentrips. Dabei hatte 88 Euro. Dinah Deckstein

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Krise wird vorübergehen“ Die Gründer Friedrich von Bohlen und Halbach (Lion Bioscience), Peter Heinrich (Medigene) und Karsten Henco (Evotec OAI) über den Kurssturz der Biotech-Aktien, die Überlebensfähigkeit ihrer Unternehmen und die Zukunft der Branche

SPIEGEL: Herr Bohlen, Herr Heinrich, Herr dienen ist. Hat sich daran etwas Henco, seit der Hochphase der Börse ha- geändert? ben die Aktien der Biotech-Branche im Henco: Nachdem die US-Unter- Schnitt um 80 Prozent verloren. Den ersten nehmen Genentech und Biogen Unternehmen geht das Geld aus. Ist die das bakteriell hergestellte Insulin Erfolgsstory der Zukunftsbranche Bio- beziehungsweise das Interferon technologie zu Ende, bevor sie richtig be- erfunden hatten, dauerte es im- gonnen hat? mer noch zehn Jahre, bis sie nach- Bohlen: Wir stehen am Anfang einer ganz haltig hochprofitabel wurden. normalen Konsolidierungswelle. Die An- Auch bei ihnen fiel der Börsen- laufphase dieser neuen Branche ist noch kurs in der Zwischenzeit stark ab. nicht abgeschlossen. Etwa 90 Prozent der Deshalb glaube ich, dass die Er- börsennotierten Biotech-Unternehmen in folgsgeschichte der Biotechnolo- den USA und Europa schreiben nach wie gie noch nicht vorbei ist. vor Verluste. Deshalb trifft sie die Krise SPIEGEL: Wann erreichen die deut- der Kapitalmärkte natürlich besonders schen Unternehmen die Gewinn- hart. Aber Konsolidierung heißt ja nicht zone? Konkurs. Die Werte, die geschaffen wur- Henco: Das hängt von ihrem Ge- den, bleiben im Wesentlichen erhalten, schäftsmodell ab. Bei Unterneh- auch wenn das eine oder andere Unter- men, die mit eigenen Produkten nehmen in der jetzigen Krise zahlungsun- an den Markt wollen, dauert fähig wird. das sieben, acht Jahre. Bei Unter- SPIEGEL: Aber das Geld der Anleger ist nehmen wie Evotec OAI oder weg. Qiagen … Bohlen: Zum Teil richtig, aber ich habe ja SPIEGEL: … Ihren beiden Grün- von der Situation der Biotechnologie als dungen, die sich auf Zulieferun- solcher gesprochen. gen für andere Biotech-Unter- SPIEGEL: Das wird die Anleger wenig trös- nehmen spezialisiert haben …

ten. Sie haben darauf vertraut, dass nach TIM WEGNER / LAIF Henco: … sind Gewinne erheblich einer Durststrecke von fünf bis sechs Jah- Biotech-Pioniere Henco, Bohlen, Heinrich früher möglich. ren mit der Biotechnologie Geld zu ver- „Die Aktionäre bestimmen den Kurs, nicht wir“ SPIEGEL: Soll das heißen, dass sich an den Erfolgsaussichten dieser Branche trotz des tiefen Falls der Aktien- kurse nichts geändert hat? Heinrich: An dem Zukunftspotenzial der Biotechnologie hat sich überhaupt nichts geändert. Die Pharmaindustrie ist mehr denn je auf Innovationen aus der Biotech- nologie angewiesen. 2005 werden etwa 20 Prozent aller neu zugelassenen Medika- mente aus den Labors der Biotechnologie- Unternehmen kommen. Aber auch in un- serer Branche gibt es keine Wunder. Es dauert eben sehr lange, um ein Medika- ment an den Markt zu bringen, und es kos- tet sehr viel Geld. Als wir im Jahre 2000 zum Börsengang angetreten sind, haben wir den Anlegern deshalb gesagt, wir kön- nen nicht heute und nicht morgen profita- bel werden, sondern erst in einigen Jahren. SPIEGEL: So lange können Sie durchhalten? Heinrich: Wir fahren bei Medigene ein ge- mischtes Modell. Wir haben derzeit neben

RONALD FROMMANN / LAIF FROMMANN RONALD Das Gespräch führten die Redakteure Armin Mahler und Forschung bei Medigene: „Da wurde ein unglaublicher Wert geschaffen“ Heiko Martens.

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Unternehmen in Deutschland werden Wachstumschancen 1045 ... und international überleben? BIOTECH-UMSÄTZE 2001 Heinrich: Auf die Zahl kommt es letztlich im Labor nicht an. Sondern darauf, was in den ver- 786 Biotechnologie in gangenen acht Jahren in Deutschland ge- Deutschland ... USA schehen ist. Eine ganz neue Branche mit derzeit über 14000 Mitarbeitern ist ent- 517 standen. Allein 200 Patente, bezogen auf Quelle: Ernst&Young 31,82 UMSATZ 384 Milliarden ¤ neue Medikamente, sind angemeldet. In 289 Mio. ¤ 14 408 den USA sind es 800. Da wurde ein un- glaublicher Wert geschaffen. Jetzt wird es 10 673 Großbritannien so kommen wie vor 15 Jahren in den USA: BESCHÄFTIGTE 8124 Unternehmen werden sich zusammen- 5650 2,47 schließen, um kritische Massen und über- 4013 lebensfähige Größen zu erreichen. Deutschland Henco: Wir müssen aufpassen, dass wir ZAHL DER UNTERNEHMEN 1,05 nicht die falsche Messlatte anlegen. Ein Un- ternehmen wie Evotec könnte morgen pro- 173 222 279 332 368 Frankreich fitabel sein. Evotec macht in 2001 bereits 63 1997 1998 1999 2000 2001 0,81 Millionen Euro Umsatz und „verbrennt“ trotzdem Geld. Aber wir generieren damit drei eigenen Technologie-Plattformen vor der Tür, und plötzlich gab es einen strategisch wichtige Forschungsergebnisse. sechs Medikamente in der Entwicklung, Kurssprung der Aktien. Damit könnten wir von heute auf morgen davon zwei, die wir zusammen mit einem SPIEGEL: Wir reden nicht von einem nor- Schluss machen, um unmittelbar profita- Pharmapartner entwickeln. Ganz allein malen Auf und Ab der Aktien. Wir reden bel zu sein. Sinnvoll wäre das aber nicht. schaffen wir es nicht. Klinische Studien von einem wirklichen Desaster, von 80, 90 Bohlen: Wir haben letztes Jahr 40 Millionen kosten bis zu 10000 Euro pro Patient. Und Prozent Wertverlust. Die Anleger haben Euro Umsatz gemacht … Sie müssen Ihren Wirkstoff an Tausenden Angst, ob die Firmen über- von Patienten testen. haupt überleben oder ob SPIEGEL: Sie haben Ihre Unternehmen vor nicht bald das Geld ausgeht. Karsten Henco zwei, drei Jahren an die Börse gebracht, Bohlen: Die Aktionäre be- ist seit kurzem Aufsichtsrat seines 1993 gegründeten und auf dem Höhepunkt der Aktieneuphorie. stimmen den Kurs, nicht wir. jahrelang von ihm geführten Unternehmens Evotec OAI. Unter normalen Umständen wäre das gar Die Indizes sind in nur zwei Evotec entwickelt Systeme, die mittels Laser automa- nicht möglich gewesen. Welcher Anleger Jahren um über 80 Prozent tisch mögliche Wirkstoffe gegen Krankheiten testen – kauft denn Aktien und wartet dann zehn gesunken. Das ist dramatisch. bis zu 100000 Substanzen pro Tag. Ende 1999 brachte Jahre, bis das erste Medikament – viel- Henco: Da hat er Recht. Die Henco, 50, der schon das erfolgreichste Biotech-Unterneh- leicht – einschlägt? Unternehmen sind nur für men Deutschlands, Qiagen, mitgegründet hatte, Evotec Heinrich: Der normale Anleger denkt an ihre Zahlen verantwortlich. an die Börse. Das Hamburger Unternehmen nutzte seine Kurssteigerungen. Und in der deutschen Biotech- damals hoch bewerteten Aktien, um im Herbst 2000 für SPIEGEL: Erwartungen kann man nicht über Branche wurden nie falsche 506 Millionen Euro das britische Unternehmen Oxford zehn Jahre steigern. Zahlen veröffentlicht. Natür- Asymmetry zu übernehmen. Henco: Genau das ist in den USA passiert. lich gab es Unternehmen, die Bei Biogen oder Amgen haben sich am An- nicht börsenreif waren. Die Friedrich von Bohlen und Halbach fang die Kurse rasant entwickelt, als die sind ihre Aktien nur losge- gründete 1997 in Heidelberg das Bioinformatikunterneh- ersten klinischen Daten sichtbar waren. worden, weil es diese Nach- men Lion Bioscience. Der Börsengang im August 2000 Dann hat sich die Zulassung hingezogen. frageblase gab. Diese Firmen brachte 220 Millionen Euro. Seit ihrem Höchststand ist die Das quittierte der Markt mit einem Fall der werden im Konsolidierungs- Aktie um mehr als 90 Prozent gefallen. Lion beliefert Aktien. In allen Phasen über fast zehn Jah- prozess verschwinden. Biotech-Firmen und Pharmaindustrie mit maßgeschnei- re hatten die Unternehmen noch kein Pro- SPIEGEL: Wie viele der in- derter Software für die Laborarbeit. Pro Jahr verbrauch- dukt am Markt. Dann stand die Zulassung zwischen über 300 Biotech- ten die Heidelberger 50 Millionen Euro ihres Kapitals. Bohlen, 40, Betriebswirt und promovierter Neurobiologe, will sein Unternehmen ganz auf die Bioinformatik fokussie- ren. Die Entwicklung eigener Medikamente hat er deshalb kürzlich aufgegeben. Peter Heinrich hat sich mit seinem 1995 gegründeten Biotech-Unterneh- men Medigene ganz auf die Entwicklung von biotechni- schen Medikamenten konzentriert. Seine Wissenschaftler arbeiten in Martinsried bei München an Mitteln gegen Krebs. Klinische Tests eines Wirkstoffs gegen Leber- metastasen wurden jetzt erfolgreich abgeschlossen. Von seiner Forschungsabteilung gegen Herzkrankheiten will sich der promovierte Biochemiker Heinrich, 48, bis zum Jahresende trennen, nachdem Tests mit dem Herzmit- tel Etomoxir, das schon im nächsten Jahr auf den Markt kommen sollte, wegen problematischer Nebenwirkungen

WOLFGANG STECHE / VISUM STECHE WOLFGANG abgebrochen werden mussten. Wirkstofftests bei Evotec: „Unternehmen fusionsfähig machen“

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SPIEGEL: … im laufenden Geschäftsjahr er- warten Sie allerdings 25 Prozent weniger. Bohlen: Wir könnten die Kosten massiv runterfahren, um mit aller Macht den Break-Even zu erreichen … SPIEGEL: … und das Überleben garantieren? Bohlen: Das würde nur eine kurzfristige Profitabilität garantieren, aber nicht die langfristige Wettbewerbsfähigkeit. Wir müssen aber das Überleben und gleichzei- tig die Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen. Deshalb investieren wir weiter Geld. SPIEGEL: Was Ihnen aber derzeit niemand gibt, weder die Aktionäre, noch Venture- Capital-Fonds. Glauben Sie, dass Sie allein überleben können? Bohlen: Es ist unsere erklärte Absicht, als Unternehmen allein zu bleiben. Allerdings: Die Biotech-Industrie ist im Umbruch. Es gibt für alle drei von uns in unserem je- weiligen Markt Möglichkeiten für Zusam- menschlüsse. Die Frage ist, ob man selbst konsolidiert – also dazukauft – oder kon- solidiert wird. SPIEGEL: Lion bietet maßgeschneiderte Software für die Biotech-Branche. Können das die Computerriesen nicht genauso gut? Bohlen: Ich bin von unserem Geschäfts- modell überzeugter denn je. Biotechnolo- gie ist Informationstechnologie – Punkt. 40 Millionen Euro Umsatz zeigen, dass die Industrie bereit ist, dafür Geld aus- zugeben. Computerkonzerne bieten in erster Linie Technik, wir bieten bio- chemisch-medizinisches Informationsma- nagement. SPIEGEL: Hat sich denn der Anteil der Bio- technologie-Produkte am gesamten Phar- mamarkt erwartungsgemäß entwickelt? Heinrich: Absolut. Henco: Vielleicht mit etwas anderen Schwerpunkten als vorhergesagt. Im Mo- ment sind acht Prozent der Apotheken- produkte richtige Biotechnologie-Produk- te. Für 2005 gehen wir davon aus, dass es etwa 20 Prozent sind – gemessen am Wert. Das ist etwa das, was man vor fünf bis zehn Jahren prognostiziert hat. SPIEGEL: Aber etliche dieser Produkte wur- den von den großen Pharmafirmen ent- wickelt, die ja auch in die Biotechnologie eingestiegen sind. Henco: Wir reden hier ja über die gesamte Industrie. Niemand weiß, wie sich das Verhältnis zwischen Biotechnologie und Pharmaindustrie entwickeln wird. Warum sollten alle Biotech-Firmen tatsächlich zu Pharmaunternehmen mit eigenen Medi- kamenten werden und unbedingt eigen- ständig bleiben? Jeder Unternehmer in der Biotechnologie-Industrie sollte nicht nur einen Börsengang und die eigenständige Unternehmensentwicklung im Auge ha- ben, sondern er sollte sein Unternehmen gleichzeitig fusionsfähig machen. SPIEGEL: Herr Heinrich, ist Medigene fu- sionsfähig? Heinrich: Natürlich müssen wir auch an das Interesse der Aktionäre denken. Wenn ein

110 der spiegel 45/2002 attraktives Übernahmeangebot von einem großen Pharmaunternehmen käme, das ei- nen Mehrwert für die Shareholder darstellt, dürften wir uns dem nicht entziehen. Aber wir sind darauf angelegt, aus eigener Kraft zu wachsen, allerdings unterstützt durch die eine oder andere Kooperation mit Phar- maunternehmen. Wir versuchen, eigenstän- dig zu bleiben und profitabel zu werden. SPIEGEL: Wie realistisch ist das, nachdem Ihr Herzmittel Etomoxir vor kurzem die klinische Prüfung nicht bestanden hat? Heinrich: Psychologisch war das ein un- glaublicher Rückschlag. Das Medikament war in der Phase zwei mit einem riesigen Umsatzpotenzial. Wir wollten es 2006 ein- führen. Wir haben von jedem Medikament geglaubt, dass es eventuell Probleme geben könnte, aber nicht von diesem. Aber jetzt zahlt sich aus, dass wir ein diversifiziertes Portfolio aufgebaut haben. SPIEGEL: Was haben Sie in der Pipeline? Heinrich: Derzeit haben wir sechs Produk- te in der klinischen Entwicklung. Davon steht eines vor der Markteinführung. Für das zweite haben wir gerade bekannt ge- geben, dass die Phase drei, die letzte kli- nische Studie, begonnen hat. SPIEGEL: Werden Sie es mit dem Wirkstoff von Etomoxir noch einmal versuchen? Heinrich: Wir haben die Studie vorzeitig abgebrochen, weil toxische Effekte bei Pa- tienten aufgetreten sind. Momentan ist es ethisch nicht vertretbar, dieses Produkt noch einmal für herzkranke Patienten ein- zusetzen. SPIEGEL: Herr von Bohlen, Herr Henco, Herr Heinrich, wie lange wird die Krise der Biotechnologie-Branche dauern? Bohlen: Die Biotechnologie wird die Leis- tungsfähigkeit von Pharma, die Leistungs- fähigkeit von Diagnose und Therapie und letztlich auch die Gesundheitssysteme weltweit nachhaltig beeinflussen. Die Rol- le der Biotechnologie in der strategischen Planung der Pharmaindustrie ist synergis- tisch und essenziell. Deshalb meine Pro- gnose: ein bis zwei Jahre. Henco: Die Krise wird vorübergehen, weil der Markt real ist. Keiner zweifelt an dem Markt der Biotechnologie. Wir haben eine Vielzahl großer unbehandelbarer Erkran- kungen. Dieser Markt wird durch die Bio- technologie erschlossen werden. Heinrich: Wir haben es mit einer Vertrau- enskrise im gesamten Technologiesektor zu tun, von der die Biotechnologie eben auch betroffen ist. Aber: Die Innovations- kraft der Biotechnologie und ihre Bedeu- tung für die Pharmaindustrie sind unbe- stritten. Wenn die ökonomischen Faktoren wieder positiver werden, wird auch das Vertrauen der Anleger und Investoren in unsere Branche zurückkommen. Das Re- vival der deutschen Biotechnologie kommt in den nächsten ein, zwei Jahren. SPIEGEL: Herr Bohlen, Herr Heinrich, Herr Henco, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. der spiegel 45/2002 111 Wirtschaft

der irakischen Regierung und der herr- Die spektakuläre Brüsseler Zivilklage ZIGARETTENINDUSTRIE schenden Familie“ gelungen sein. in den USA, von zehn Mitgliedstaaten ge- Sohn Udai Hussein, spinnt das „Wall stützt, hat vor allem ein Ziel: Am Ende soll Moral und Street Journal“ unter Berufung auf US- nicht nur Reynolds, sondern auch Philip Staatsanwälte das Garn weiter, habe einen Morris gezwungen werden, zwischen 10 guten Teil der im Lande kassierten Ziga- und 30 Milliarden Euro in den EU-Haushalt Moneten rettensteuern privatisiert, unabhängig da- zu überweisen. Dieser Betrag geht Europa von, ob die Rauchwaren legal oder illegal jährlich durch den Zigarettenschmuggel, Geldwäsche, Schmuggel und in den Wüstenstaat gelangt seien. Die Kla- den die Konzerne nach Meinung der EU- geschrift erwähnt den berüchtigten Dik- Experten wissentlich dulden oder gar för- Geschäfte zu Gunsten eines Sohnes tatorensohn gar als Profiteur kurdischer dern, verloren. Saddams – eine Klageschrift der Schmuggler. Eine erste Klage, die dieses Ziel direkt EU enthält schwere Vorwürfe gegen Die Richtung passt. Hohe Beamte in anpeilte, war im Februar in New York den US-Konzern Reynolds. Brüssel geben zu, dass die Beweise für ihre jedoch gescheitert. US-Gerichte seien nicht Reynolds-Anklage eine „Melange“ von dazu da, anderen Staaten zu Steuern er US-Zigarettenkonzern R. J. Rey- Dokumenten, Zeugenaussagen, Ermittlun- und Zöllen zu verhelfen, urteilte Richter nolds in North Carolina steht seit gen der EU-Antibetrugsbehörde OLAF Garaufis kurz angebunden. DDonnerstag der vergangenen Wo- und auch von US-Geheimdienstinforma- Die EU legte Berufung ein und klagte che unter einem gefährlichen Verdacht – tionen seien. Die Vorwürfe gegen Saddam gleichzeitig erneut, jetzt aber erst einmal dem des Vaterlandsverrats. Jährlich soll der habe man aus psychologischen Gründen nur gegen Reynolds. Von entgangenen Zöl- Sohn des irakischen Diktators, Udai Hus- gern berücksichtigt: Der Richter in Brook- len und Steuern ist in der aktuellen Schrift sein, zehn Millionen Dollar verdient ha- lyn soll gleich merken, dass auch amerika- mit keinem Wort mehr die Rede. Auf viel- ben, weil Reynolds ganz unpatriotisch das nische Interessen massiv berührt sind. fältige Weise versuchen die EU-Anwälte Embargo gegen den Schurken- jetzt zu belegen, dass Reynolds bis in die staat in Mittelost gebrochen höchsten Etagen dabei mitgespielt hat, mit und im letzten Jahrzehnt Hilfe von Zigarettendeals Kokain-Profite Millionen und Abermillionen oder Heroin-Gewinne in sauberes Geld von Camel-, Winston- oder umzuwandeln. Salem-Glimmstängeln über Ein Beispiel aus der Klageschrift: In den die Türkei und Zypern in neunziger Jahren wurden spanische und Saddam Husseins Reich ver- südamerikanische Mafiosi Partner. Sie schoben haben soll. brachten massenhaft Kokain in die Eu- So steht es in einer Zivil- ropäische Union und erwarben mit dem klage der Europäischen Uni- Profit Reynolds-Zigaretten. Die verkauf- on gegen den Tabakkonzern, ten sie mit Gewinn, und schon war das der die Wahl des Saddam- Drogengeld gewaschen. Feindes George W. Bush zum Eines der beteiligten Netzwerke der Or- US-Präsidenten mit vielen ganisierten Kriminalität trug den kenn- Dollar gefördert hat. In ihrer zeichnenden Ehrennamen „Los Matade- Attacke beschuldigt die ver- Saddam-Sohn Udai (r.)*: Profiteur des Schmuggels? ros“ (Schlachthof). 1999 nahm die spani- antwortliche deutsche Haus- sche Polizei diese Bande hoch. Mit deren haltskommissarin Michaele namentlich genannten Mitgliedern, heißt es Schreyer das US-Unterneh- in der Klage, machte Reynolds lange Zeit men auf 150 Seiten, in gute Geschäfte – obwohl die Konzernma- großem Stil an der Wäsche nager den Gangster-Hintergrund kannten, von Kokain- und Heroin-Ge- sollen sie die Zusammenhänge bewusst winnen des organisierten Ver- ignoriert haben. So ist jedenfalls die Lesart brechens beteiligt zu sein. der EU-Anwälte. Die über zehn Seiten aus- Der Vorwurf der Geldwäsche sei „voll- gebreitete Irak-Connection in ständig absurd“, reagierte Reynolds umge- der EU-Klage ist dabei noch hend. Brüsseler Experten glauben dennoch der schwächste Teil. Rey- an einen Erfolg: Der soll dann, so die Hoff- nolds-Zigaretten, heißt es nung, den laufenden Berufungsprozess, in da, seien massenhaft in den dem es nicht um Moral, sondern um Mo- Irak gelangt. Konzernmana- neten geht, positiv infizieren. Wenn die ger, Nahost-Mittelsmänner US-Administration ein nationales Interes- und zwielichtige Geschäfts- se entdeckt, den Schmuggel in Europa leute, die den voluminösen durch US-Gerichte untersuchen zu lassen, Zigarettentransfer besorgt ha- kann der New Yorker Richter sich über das ben, hätten dabei zusammen- Gesetzesverbot, ausländische Steuern ein- gearbeitet. Doch der Saddam- zutreiben, doch noch hinwegsetzen. Clan kommt zunächst nur Die Börsianer zeigten sich unbeein- durch einen lapidaren Satz druckt. Nachdem die Reynolds-Aktie in ins Spiel. Angesichts der den Vortagen an Wert verloren hatte, ver- Mengen könne das Geschäft harrte sie am vergangenen Donnerstag auf nur in „Komplizenschaft mit gleichem Niveau. Entweder halten die Anleger Geldwäsche

* Mit Bruder Kussei am 20. Mai 2001 in REDMOND (U.) NELL AFP (O.); nicht für rufschädigend – oder sie trauen Bagdad. Reynolds-Zentrale in Winston-Salem: Bruch des Embargos den Europäern nicht. Winfried Didzoleit

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Werbeseite Chefsache Die dringendsten Probleme für den künftigen Vorstandsvorsitzenden der Telekom Die enorme Nettoverschuldung von über 64 Milliarden Euro führt zu einem Zinsaufwand von ca. 4 Milliarden Euro in diesem Jahr. Bei Voicestream ist eine Wertberichtigung in zweistelliger Milliardenhöhe erforderlich. Der anstehende Verkauf des Kabelnetzes bringt voraussichtlich weniger ein als er- wartet. Ob sich die teuren UMTS-Lizenzen rech- nen werden, ist sehr umstritten. Das Festnetz trägt fast 50 % zum Umsatz des Konzerns bei. Das ehemalige Monopol gerät unter Druck, und der Wettbewerb führt zu sinkenden Preisen und Einnahmen.

FRANK DARCHINGER FRANK Es wird bezweifelt, ob der deutsche Markt Telekom-Zentrale in Bonn: „Schonungslos überprüfen“ eine ausreichende Wachstumsperspektive für die Telekom darstellt. Die Präsenz im Ausland ist jedoch sehr schwach. TELEKOM Bis Ende 2005 sollen rund 50 000 der 255 000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Das Kandidatenkarussell Ein US-Gericht lässt eine Schadensersatz- klage wegen angeblich falscher Börsen- angaben zu. Telekom-Chef Ron Sommer musste gehen, weil … Ja, warum eigentlich? Seine alte Strategie soll fortgesetzt werden, und king, 50, gehören ebenso dazu wie Ex- als Favorit für die Nachfolge gilt einer seiner engsten Vertrauten. Wirtschaftsminister Werner Müller, 56, Ex- Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff, 49, m besonderen Charakter seiner Bundesrepublik nicht noch mehr Schaden und diverse Manager aus der zweiten Rei- Mission ließ Helmut Sihler von nimmt, muss der Kanzler die Spitzenper- he. Selbst der an seinen hochfliegenden AAnfang an keinen Zweifel. „Mein sonalie beim wichtigsten Bundesunterneh- Plänen gescheiterte MobilCom-Gründer Alter sagt schon, dass dies nur eine Inte- men endlich zur Chefsache machen.“ Gerhard Schmid, 50, tauchte kurz auf dem rimszeit sein kann,“ scherzte der 72-jähri- Kaum ein Tag vergeht, an dem in den Kandidatenkarussell auf – und sagte ab. ge Österreicher, nachdem er die Nachfol- Medien nicht neue Kandidaten für die T- Einer, der sich selbst eine „unzweifel- ge des wenige Minuten zuvor geschassten Vakanz ins Spiel gebracht werden. Fast ge- hafte Eignung“ als Sommer-Nachfolger at- Telekom-Chefs Ron Sommer angetreten nauso oft erklären Spitzenmanager im In- testiert, wurde gar nicht erst gefragt: Ex- hatte. Nur sechs Monate bleibe er im Amt, und Ausland öffentlich, für das mit jährlich Mannesmann-Chef Klaus Esser, 54. Solan- Verlängerung ausgeschlossen. fast vier Millionen Euro dotierte Amt nicht ge die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Seine Aufgaben für den 180-Tage-Job zur Verfügung zu stehen. seiner Millionen-Abfindung ermittelt, umriss der ehemalige Henkel-Manager ge- Mehr als 20 solcher öffentlichen Absagen kommt Esser kaum in Frage. nauso klar und deutlich: Die gesamte Kon- hat es inzwischen gegeben. Gestandene Die chaotische Kandidatenkür ist auch zernstrategie werde er „schonungslos über- Firmenlenker wie Ex-Krupp-Chef Gerhard im internationalen Vergleich ohne Beispiel. prüfen“. Daneben werde er zusammen mit Cromme, 59, TUI-Chef Michael Frenzel, Obwohl in den vergangenen Monaten die seinem Henkel-Kollegen Hans-Dietrich 55, oder Porsche-Chef Wendelin Wiede- Chefs bei fast allen großen europäischen Winkhaus, 65, der den Telekom-Aufsichts- Telekom-Konzernen ausgetauscht wurden, rat führt, den „besten Kandidaten“ für den vollzog sich der Wechsel meist reibungslos. vakanten Chefsessel des größten europäi- Jüngstes Beispiel: Thierry Breton, der An- schen Telefonunternehmens suchen. Mög- fang Oktober den Chefsessel bei France licherweise, ließ Winkhaus durchblicken, Telecom besetzte – nur 19 Tage nach dem werde er den neuen Konzernchef noch vor Rücktritt von Michel Bon. der Bundestagswahl benennen. Da hilft es auch nichts, dass Telekom- Gut drei Monate sind seit dem Rücktritt Oberaufseher Winkhaus tapfer versichert: von Sommer vergangen. Doch statt einen „Es gibt sehr viele Luftblasen unter den geeigneten Kandidaten zu präsentieren, gehandelten Namen.“ Längst nicht alle, die gerät die Suche der beiden Henkel-Senio- da öffentlich absagen, seien „überhaupt ren mehr und mehr zur Posse. gefragt worden“. Einige – angeblich nicht „Entsetzt über die Art der Suche“ ist gefragte – Kandidaten konnten allerdings der frühere Telekom-Aufsichtsratschef eine von Winkhaus unterzeichnete Ge- Rolf-Dieter Leister, der 1990 Helmut Ricke sprächseinladung vorweisen: die K-Frage und fünf Jahre später Ron Sommer schnell als Komödienstadl?

und diskret nach Bonn geholt hatte. Das VON BRAUCHITSCH WOLFGANG „Was da abläuft“, empört sich Dieter ganze Verfahren, so Leister, sei „nur noch Telekom-Vorstände Ricke, Sommer (1999) Rickert, der als einer der renommiertesten peinlich“. Leister: „Damit das Ansehen der Entlassung als Farce? Headhunter in Deutschland gilt, „ist abso-

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Chaos der vergangenen Mo- Drei von zwanzig Manager, die als Telekom-Chef im Gespräch waren nate“, so ein Aufsichtsrat, „brauchen wir Ruhe und ei- Postchef Porsche-Chef nen Chef, der jetzt nicht Klaus Zumwinkel, 58, Wendelin Wiedeking, 50, noch eine lange Einarbei- wurde vom Mehrheitsaktionär galt für viele als Wunsch- tungszeit benötigt.“ Bund als Telekom-Chef ins Ge- kandidat – er hat jedoch Vertreter der Kapitalseite spräch gebracht – und lehnte gerade einen bis 2007 ab: „Ich bin Postchef, ich bin laufenden Vertrag bei im Aufsichtsrat sind aller- das gern und bleibe es auch.“ Porsche unterschrieben dings skeptisch: Ricke, 41,

und will nicht wechseln. MARIO FOURMY / LAIF wie auch der ebenfalls ins Gespräch gebrachte Tele- FEDERICO GAMBARINI / DDP / FEDERICO GAMBARINI kom-Finanzchef Karl-Ger- Fast täglich werden neue Namen für die Sommer- Ex-Bertelsmann-Chef hard Eick, 48, haben alle Nachfolge ins Spiel gebracht. Doch bereits mehr als Thomas Middelhoff, 49, problematischen Entschei- 20 Topmanager lehnten es öffentlich ab, als Tele- wurde noch vor dem Rücktritt Sommers dungen Sommers zumindest kom-Chef anzutreten. Als aussichtsreichster Kandi- als Telekom-Chef gehandelt – offiziell mitgetragen – darunter auch dat für den Spitzen-Job in Bonn gilt derzeit T-Mobile- hat er nicht abgesagt, aber seine Wahl den völlig überteuerten Vorstand Kai-Uwe Ricke. gilt als unwahrscheinlich.

MICHAEL DANNENMANN Kauf der US-Mobilfunkge- sellschaft Voicestream, der lut dilettantisch.“ Rickert: „Selbst ein Top- Besetzung, spekulieren Telekom-Mitarbei- jetzt eine Schadensersatzklage enttäuschter Mann muss sich doch jetzt als zweite Wahl ter, könnten die Henkel-Männer am ein- US-Anleger nach sich zieht. fühlen und mit dem Klammerbeutel gepu- fachsten davon ablenken, dass sie bis zu- Nach jüngsten Erkenntnissen muss das dert sein, wenn er sich auf das Abenteuer letzt alle Entscheidungen Sommers mitge- aber nicht unbedingt ein Makel sein. Denn Telekom einlassen würde.“ tragen hätten. Sommers Strategie, hat Sihler nach drei Mit professioneller Rasterfahndung hat Winkhaus weist solche Spekulationen Monaten der intensiven Prüfung heraus- das Wirken der beiden „Henkel-Männer“, weit von sich: „Es gibt keinerlei Vorfestle- gefunden, war gar nicht so falsch. Einen so die Telekom-interne Bezeichnung für gung, ob es ein interner oder ein externer Kurswechsel wird er bei der mit Spannung Sihler und Winkhaus, in der Tat wenig zu Kandidat sein soll.“ erwarteten Pressekonferenz am 14. No- tun. Hochrangige Kandidaten wie Postchef Bis Ende vergangener Woche, so Wink- vember deshalb auch nicht verkünden. Klaus Zumwinkel, 58, Philips-Vorstands- haus zum SPIEGEL, habe er mit neun Be- Die von Sommer propagierte Vier-Säu- mitglied Gottfried Dutiné, 50, oder der her- werbern gesprochen. Fünf davon seien nun len-Strategie (Festnetz, Internet, Mobilfunk vorragend Deutsch sprechende Chef von in der engeren Wahl. Er sei deshalb „sehr und Service) soll weitergeführt werden. British Telecom, Ben Verwaayen, 50, wur- zuversichtlich, dass wir spätestens im De- Der ursprünglich erwogene Verkauf von den nicht einmal angesprochen, obwohl sie zember einen Top-Kandidaten bestimmen Voicestream wird nach derzeitiger Planung zumindest von der Papierform viele Qua- werden“ – dabei sei kein externer Kandi- nicht stattfinden. Weil sich der umstrittene lifikationen für das Amt mitbrächten. dat aus der Endrunde bislang in den Me- US-Ableger bestens entwickele und im Wochenlang verhandelten die Henkel- dien aufgetaucht. Winkhaus: „Diskreter, dritten Quartal 35 bis 40 Prozent aller Neu- Männer dagegen mit Infineon-Chef Ulrich besser und schneller kann man die Sache kunden in Amerika gewonnen habe, sei Schumacher, 54, der sich zurzeit müht, den kaum machen, als sie bei uns abläuft.“ nicht einmal mehr ein Partner nötig, will angeschlagenen Chip-Hersteller aus der Zweifel sind angebracht. Denn in der Sihler verkünden. Nur die längst überfäl- Krise zu führen. Er werde in seinem Un- Telekom mehren sich die Anzeichen, dass lige Abschreibung der viel zu hohen Buch- ternehmen noch gebraucht, ließ er den T-Mobile-Chef Kai-Uwe Ricke, der Sohn werte der US-Tochter will er vornehmen. Bonner Emissären schließlich mitteilen. des ersten Telekom-Chefs, den Zuschlag Außerdem soll der von Sommer einge- Und selbst Jens Alder, 45, Chef der soliden, erhalten soll. Im Aufsichtsrat, wo die Ar- leitete Sparkurs verschärft werden: Lei- aber vergleichsweise winzigen Swisscom, beitnehmerseite nach Sihlers Wechsel in tende Angestellte müssen sich beim Ge- für den der Telekom-Job in Bonn einen den Vorstand nun eine Mehrheit hat, plä- halt mit einer Nullrunde begnügen, Reise- riesigen Karrieresprung bedeutet hätte, dieren zumindest viele Mitarbeitervertre- kosten werden im nächsten Jahr um 20 lehnte nach einer Bedenkzeit ab. ter für eine interne Lösung. „Nach dem Prozent reduziert und bei Dienstwagen Auch das Institut für Perso- wird die Nutzungsdauer von nal- und Unternehmensbera- drei auf vier Jahre verlängert. tung (IFP), das Winkhaus vor Vor dem Hintergrund die- kurzem mit der Suche beauf- ser Ergebnisse, spottet ein tragte, zählt nach Ansicht von Aufsichtsrat, „wird die Ent- Kennern nicht zu den ersten lassung Sommers zu einer Adressen der Branche. IFP- Farce, zumal mit Aufsichtsrats- Gründer Horst Will und sein chef Winkhaus der eigentlich Sohn Jörg, der jetzt die Kölner Schuldige an dem Desaster Familienfirma führt, arbeiten noch immer im Sattel sitzt“. überwiegend mit Zeitungsan- Das könnte sich bald än- noncen. „Die besetzen sonst dern. Beim Hauptaktionär Chefposten bei der Sparkas- Bund wächst die Unzufrie- se“, spottet ein Headhunter. denheit mit Oberaufseher Alles nur Zufall? Oder be- Winkhaus, an einer Nachfol- treiben Winkhaus und Sihler gelösung wird in Berlin schon nur eine Scheinsuche, um eifrig gearbeitet. Erst einmal dann eine längst abgesproche- soll aber ein neuer Telekom- ne interne Lösung zu präsen- Chef gefunden werden.

tieren, wie T-Insider vermu- VON BRAUCHITSCH WOLFGANG Frank Dohmen, ten? Mit einer hausinternen Telekom-Aufseher Winkhaus, Sihler: „Sehr viele Luftblasen“ Klaus-Peter Kerbusk

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Werbeseite Panorama Ausland ALBERTO PIZZOLI / AFP / DPA PIZZOLI ALBERTO Zerstörte Schule in San Giuliano di Puglia

ITALIEN des – nicht nach den entsprechenden Sicherheitsnormen gebaut. Viele Häuser würden nach wie vor illegal hochgezogen. Die vor- geschriebenen Kontrollen öffentlicher Gebäude sind extrem Tod in der Schule lasch. Das jetzt kollabierte Schulhaus war vor fünf Jahren offi- ziell als „erdbebensicher“ eingestuft worden. Nun bekannten um tragischen Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in Mittel- die Prüfer, sie hätte nur bestimm- Zitalien trug offenbar menschliches, vor allem behördliches te Teile untersucht. Dazu gehör- Versagen entscheidend bei. Mindestens 26 Schüler und 3 Er- ten nicht die Decken, die die Kin- wachsene kamen in der Kleinstadt San Giuliano di Puglia ums der erschlugen. Vor zwei Jahren Leben, als am Donnerstag Erdstöße bis Stärke 5,4 (Richter- war sogar noch ein zusätzliches Skala) die Region Molise erschütterten und das Schulgebäude Stockwerk auf das rund 50 Jahre zusammenbrach. Am Freitag bebte die Erde erneut, nahe der alte Gebäude gesetzt worden. Stadt Campobasso stürzte ein Kirchturm ein. Menschen flüch- Auch Regierungschef Silvio Ber- teten in Panik aus ihren Häusern. San Giuliano di Puglia wur- lusconi, der seine Karriere einst de evakuiert, Tausende Menschen obdachlos. Experten erhoben als Bauunternehmer begonnen inzwischen schwere Vorwürfe gegen die Behörden. So wie die hatte, stufte das Objekt bei seiner

Unglücksschule seien etwa 60 Prozent aller Gebäude in erd- Visite spontan als nicht fachge- / AP MAIZZI VINCENZO bebengefährdeten Gebieten – dazu zählen weite Teile des Lan- recht ein. Erdbebenopfer

SERBIEN mafiosi“ aus Belgrad, Banja Luka, Sara- Kriminalität gehindert werden. Allein jevo und Zagreb, die um ihre Pfründen Belgrad wird von elf Mafia-Clans be- Vielköpfiger Drache aus Drogen- und Zigarettenschmuggel herrscht. Seit der Machtübernahme des fürchteten. Deshalb sollte seine Regie- Anti-Milo∆eviƒ-Bündnisses DOS im Ok- ach „Irak-gate“, der Affäre um ju- rung destabilisiert und am Kampf gegen tober 2000 wurden 45 Personen ermor- Ngoslawische Militärexporte an Sad- det. Unter den jetzt Fest- dam Hussein, folgt nun „Chicago-gate“. genommenen befinden Etwa hundert Personen verhaftete die sich auch zahlreiche Poli- serbische Polizei vergangene Woche un- zisten. Allerdings stößt ter dem Verdacht, an mehreren Attenta- die Massen-Razzia in ei- ten – wie etwa im Juni auf Polizeigeneral nigen serbischen Medien Bosko Buha – beteiligt gewesen zu sein auch auf Skepsis. Zoran und neue geplant zu haben. Mit den Djindjiƒ war in der Ver- Festnahmen sei allerdings nur ein Haupt gangenheit von seinen des vielköpfigen Drachens abgetrennt Gegnern häufig selbst worden, schränkte Serbiens Innenminis- enger Kontakte zur Ma- ter Du∆an Mihajloviƒ den Erfolg ein: fia beschuldigt worden. Die Hintermänner und Auftraggeber Spektakuläre Erfolge seien flüchtig. Der schnelle Zugriff war beim Aufräumen mit der laut Serben-Premier Zoran Djindjiƒ Unterwelt, so die Wo- nötig, da ein Mordanschlag auf ihn per- chenzeitung „vreme“,

sönlich unmittelbar bevorstand. Die Tä- / AP PETROVIC MIKICA seien deshalb dringend ter ortete er im Umfeld von „business- Tatort des Buha-Mordes nötig gewesen.

der spiegel 45/2002 123 Panorama

REUTERS Abu Sabaya (l.), Abu-Sayyaf-Kämpfer

TERRORISMUS der Göttinger Familie Wallert vor zwei Jah- ren als politisch motivierte Islamisten gel- ten. Ende des Monats wurden fünf mut- Ausweitung der Kampfzone maßliche Abu-Sayyaf-Bombenleger festge- nommen und vergangenen Mittwoch noch eit den Anschlägen von Bali verstärken in Verhören mit US-Sicherheitskräften. einmal 28 Milizionäre. Soldaten hatten zu- Sdie südostasiatischen Regierungen ih- Vergangenen Mittwoch wurden die ersten vor ein Bergversteck auf der Insel Jolo ge- ren Kampf gegen den Terrorismus. Die als Phantombilder mutmaßlicher Bali-Atten- stürmt, wo Waffen und Funkgeräte lagerten. Drahtzieher geltende Islamistengruppe täter veröffentlicht; ein Täter, heißt es, sei Die philippinischen Behörden sind sicher, Jemaah Islamiah wurde auf die US-Liste identifiziert. dass es Querverbindungen zu al-Qaida und der terroristischen Vereinigungen gesetzt, Erfolgreicher im Anti-Terror-Kampf sind zur Jemaah Islamiah gibt. Für eine Bombe, ihr angeblicher Anführer Abu Bakar Ba’a- derzeit die Philippinen: Das Inselreich war die Mitte Oktober im Großraum Manila ei- syir, 64, den manche bereits zum regiona- allein im Oktober das Ziel von sechs Bom- nen Bus zerfetzte, 2 Menschen tötete und len Osama Bin Laden stilisieren, ist in Haft benanschlägen, hinter denen hauptsächlich 19 verletzte, sei der gleiche Plastikspreng- – und schweigt. Bei dem Anschlag soll die die Abu-Sayyaf-Rebellen vermutet wer- stoff C-4 verwendet worden wie auf Bali Qaida eine Schlüsselrolle gespielt haben, den, jene notorischen Freibeuter, die seit und bei einem Anschlag an Silvester 2000 sagte ein Aktivist des Terrornetzwerkes der Entführung einer Touristengruppe mit auf einem Bahnhof in Manila.

BULGARIEN ner Art Balkan-EU mit 55 nationale Atomenergieorga- Millionen Konsumenten über- nisation als betriebssicher „Moralisches zeugen. eingestuft. Von Kosloduj Parwanow: Wir wollen weder hängt die Stromversorgung Schulterklopfen“ eine EU-Außenstelle sein Bulgariens und in großem noch ein Bündnis mit Staaten Maß auch die des Bal- Staatspräsident Georgi Parwanow, 45, bilden, die wirtschaftlich hin- kans ab. der in dieser Woche zu einem Staats- ter uns zurückgeblieben sind. SPIEGEL: Bulgarien wurde besuch nach Berlin kommt, über Es gibt keine Alternative zur früher spöttisch die 16. Re- die EU-Ambitionen seines Landes direkten und vollen europäi- publik der Sowjetunion ge- schen Integration. Ich werde nannt. Jetzt wollen Sie so SPIEGEL: Bulgarien machte in den ver- Bundeskanzler Schröder bei schnell wie möglich Nato- gangenen Monaten mehr Schlagzeilen meinem Besuch bitten, unsere Mitglied werden. Kann die als Transitroute für Drogen- und Men- EU-Mitgliedschaft ab 2007 zu Bevölkerung bei diesem to- schenschmuggel als durch wirtschaftli- unterstützen. talen Ideologiewechsel noch

chen Aufschwung. Hat die vom Westen SPIEGEL: Dann sollten Sie aber / AP DEINOV DIMITAR mithalten? unterstützte Reformpolitik versagt? Ihren Widerstand gegen die Parwanow Parwanow: Über 60 Prozent Parwanow: Nein, aber die realen Finanz- Brüsseler Forderung nach einer der Bulgaren und alle politi- hilfen, die wir erhielten, hinken sicher Schließung des bulgarischen Atomkraft- schen Parteien hoffen, dass Bulgarien dem moralischen Schulterklopfen hin- werks Kosloduj aufgeben. Der Westen noch in diesem Monat in die Nato auf- terher. Dazu zählen auch die Leistun- fürchtet ein bulgarisches Tschernobyl. genommen wird. Unsere nationale Si- gen aus dem Balkan-Stabilitätspakt. Parwanow: Die Abschaltung der unsi- cherheit wird dadurch erhöht, und die SPIEGEL: Der Koordinator für den Stabi- cheren Blöcke 1 und 2 ist okay. ausländischen Investitionen werden litätspakt, Erhard Busek, will Sie von ei- Aber die Blöcke 3 und 4 hat die Inter- steigen.

124 der spiegel 45/2002 Ausland

BRASILIEN oben, die Landeswährung stabilisierte sich. „Lula ist nicht zum Präsidenten Kult um Lula seiner Arbeiterpartei gewählt worden“, bekräftigt sein Berater Marco Aurélio ach dem ersten Sieg eines Linken Garcia, „sondern zum Präsidenten von

BULLIT MARQUEZ / AP MARQUEZ BULLIT Nbei Präsidentschaftswahlen ist das 175 Millionen Menschen.“ Dennoch be- Muslime unter Terrorverdacht ganze Land im Lula-Fieber – doch seine kommt der gewählte Präsident bereits politischen Spielräume sind eng. Die jetzt einen Vorgeschmack darauf, wie Medien, die Luiz Inácio „Lula“ da Silva schwer das Amt sein wird, das er im PHILIPPINEN früher als radikalen Bürgerschreck prä- neuen Jahr antritt. Sein Sofortpro- sentierten, entdecken in ihm nun gramm zur Bekämpfung des Hungers MINDANAO Mr. Brasil, das Maskottchen für alle. wird mit gemischtem Echo aufgenom- e S e Zamboanga Die Lula-Ausgaben der großen Magazi- men, da ähnliche Programme bereits u - Philippinen ne sind vergriffen, aber es gibt täglich existieren. Gleichzeitig verlangt die u l S Nachschub. Selbst ein Friseurbesuch konservative Oppositionspartei PFL BASILAN wird zur Schlagzeile. In Lula erkennt listig von Lulas Arbeiterpartei (PT), so- das Land, das bisher politisch von Oli- fort die Anhebung der Mindestlöhne Jolo e garchen bestimmt war, seine Wurzeln: auf 240 Reais (67 Euro) zu beschließen. S e JOLO e s - einer von unten. Silva heißt hier jeder Sie weiß, dass das im Moment nicht fi- C e l e b 50 km Zweite. Sogar die Märkte haben die nanzierbar ist. So ist die PT-Führung Furcht vor dem politisch moderaten gezwungen, einen Vorschlag abzubü- Kleine-Leute-Lula abgelegt. Seit seinem geln, den sie selbst als Opposition vor Anders als im arabischen Raum bleiben die Wahlsieg ging die Börse stramm nach kurzer Zeit gemacht hat. USA bei Operationen gegen die Islamisten- Szene im Hintergrund. Sie wollen vermei- den, dass anti-amerikanische Ressentiments in der Bevölkerung wachsen und die Re- gierungen destabilisieren. So waren zwar bei einem nächtlichen Zu- griff auf den Abu-Sayyaf-Häuptling Abu Sabaya zwei Eliteteams der U. S. Navy sowie US-Kampfhubschrauber vom Typ MH-47 „Chinook“ beteiligt. Leiter der Ak- tion zur See aber war ein philippinischer Kommandeur. Abu Sabaya wurde erschos- sen, mehrere Gefolgsleute wurden ge- fangen. Der philippinische Oberst Juancho Sabban: „Allein hätten wir das nicht

geschafft.“ X / STUDIO / GAMMA / STRANA RICARDO FASANELLO Wahlsieger Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2. v. l.)

DROGEN dem sich eine israelische Kriminellen- Enforcement Administration und ihre organisation raffinierter Tarnmethoden belgischen Kollegen konnten beim Arglose Kuriere bedient: In einem Diamantencontainer Schmuggel im Diamantenschiff jetzt eines Schiffs, das von Antwerpen nach mutmaßliche Hintermänner des Netz- rogenfahnder in Belgien sind einem New York fahren sollte, wurden jüngst werks festnehmen. Im Hafen von Ant- Dgigantischen Ecstasy-Schmuggel von 1,39 Millionen Ecstasy-Tabletten werpen waren zunächst zwei Israelis da- Europa in die USA auf der Spur, bei (Straßenwert: 40 Millionen Euro) ent- bei beobachtet worden, wie sie Drogen- deckt. Sie waren in den päckchen in das Diamantenschleifgerät Hohlräumen von Edelstein- im Schiffscontainer stopften. An- Schleiftischen verborgen. Die schließend flogen die beiden nach New Bande bedient sich überdies York, um die Ladung in Empfang zu junger jüdisch-orthodoxer nehmen. Die 1,39 Millionen Ecstasy-Pil- Studenten, die sie als Dia- len stellte die belgische Polizei später si- mantenkuriere für Flüge cher, ließ das Schiff aber zum Schein nach New York anheuert. weiterlaufen. Im US-Hafen Port Eli- Statt der Edelsteine tragen zabeth schnappte die Falle zu: Drei die zumeist arglosen Trans- Israelis, die beiden Männer aus Antwer- porteure jedoch Drogenpil- pen und ein Dealer, wurden festgenom- len im Handelsgepäck. Die men. „Die belgische Hafenstadt ist jungen Männer werden in schon seit Jahren eine der Zwischensta- Synagogen angeworben, für tionen auf der Route von Tel Aviv nach eine Prämie von 200 Euro. New York“, verrät ein US-Drogenfahn-

ISOPRESS / ACTION PRESS ISOPRESS / ACTION Fahnder vom Brüsseler Büro der. „Wir rechnen mit weiteren Fest- Hafen von Antwerpen der amerikanischen Drugs nahmen.“

der spiegel 45/2002 125 Ausland

RUSSLAND Ein zweifelhafter Sieg Nach dem Desaster der Geiselbefreiung von Moskau: Mangelhafte Informationen über den Gifteinsatz verunsichern noch immer Ärzte und Opfer. Präsident Putin fordert westliche Solidarität für einen verschärften Kurs im Tschetschenien-Konflikt.

rigorij Jawlinski ist 50 und von gehörigen zu übergeben. Auch den Ort wohl eingestellt – weil der Krieg am Kau- Haus aus eigentlich Ökonom. Aber ihrer Beisetzung hält der Staat künftig kasus als „Anti-Terror-Operation“ gilt. Be- Gauch seine historische Lektion hat geheim. Schon vorher hatte das Gerücht reits Freitagabend suchte ein Rollkom- der liberale Politiker schon in frühen die Runde gemacht, die Verantwortlichen mando zwecks „Überprüfung“ die Redak- Jahren gelernt: Gewalt und Blutvergießen hätten sich eine besonders perfide Form tion der Wochenzeitung „Wersija“ heim. in Moskau hätten „für Russland immer der Rache ausgedacht: Die toten Tsche- Vergebens warnte Jawlinski-Kollege Ser- schlimme Folgen gehabt“. tschenen sollten, eingenäht in Schweins- gej Juschenkow das Parlament vor einem Ihm schwane Schlimmes, gab Jawlinski häute, in der Erde verscharrt werden – weil Verfassungsbruch: „Dieses Gesetz ist die zu Protokoll, kaum war die Moskauer Gei- ein derart verpackter Muslim nach islami- Wiedereinführung der Zensur.“ selnahme vorbei. Nun sei es möglicher- schen Vorstellungen nicht in den Himmel Möglichst kein fremdes Auge soll mehr weise bis zum Polizeistaat nicht mehr weit. kommt. erblicken, auf welche Weise der russische Jawlinski behielt Recht. Knapp eine Wo- Die zweite Duma-Zäsur betraf das Staat seine Konflikte löst. Ganz im Sinne che nach der Tragödie im Musical-Theater Pressegesetz. Kritik an Einsätzen russischer Josef Stalins, der dieses Prinzip einst für an der Melnikow-Straße schlug letzten Sicherheitskräfte ist nicht mehr erlaubt. den internen Dienstgebrauch formulierte: Freitag die Kreml-treue Staatsduma zu. Im Propaganda oder mahnende Stimmen ge- „Ist der Mensch erst mal weg, ist auch das Eilverfahren paukten die Volksvertreter gen ein gewaltsames Eingreifen bei Aktio- Problem erledigt.“ eine Fülle von Gesetzesnovellierungen nen wie jener in der Spielstätte des Musi- Bereits am Sonnabend vorvergangener durch. Thema: „Der Kampf gegen den Ter- cals „Nord-Ost“ sind ebenso verboten wie Woche erschien der russischen Obrigkeit rorismus“. Berichte über Spezialeinheiten oder Kri- die Anwendung dieser Methode mitten in Anordnung Nummer eins verbietet, die senstäbe. Auch die Berichterstattung über Moskau geboten, wohin der Krieg jählings Leichen getöteter Terroristen deren An- den Tschetschenien-Konflikt wird nun zurückgekehrt war: In der teuflischen Ver-

Beisetzung von Opfern des Geiseldramas (letzten Mittwoch in Moskau), Abtransport Verletzter nach dem Sturm auf das Musical-Theater: „Sie SERGEI CHIRIKOV / AFP / DPA SERGEI CHIRIKOV Und nicht einmal die war halbwegs si- zu Abstrichen von seiner harten Tsche- cher. „Sie haben“, zürnt der renommier- tschenien-Politik bewegen lassen, ja kal- te Menschenrechtler, Duma-Abgeordnete kulierte Schwäche zeigen. Trotz der fre- und ehemalige Gulag-Häftling Sergej Ko- chen Erpressung – allein der Geiseln we- waljow, „das Leben aller riskiert.“ gen. Auf dem privaten Fernsehkanal NTW Dem überforderten Krisenstab fiel nichts verlangten Angehörige der Opfer verzwei- Besseres ein, als den Teufel mit dem Beel- felt eine Verhandlungslösung. zebub auszutreiben: mit der schweren Gift- Doch in den Höfen gegenüber dem Musi- keule für Täter und Opfer gleichermaßen. cal-Theater, in dem Darsteller und das ge- Noch drei Stunden nach dem Sturmangriff samte Publikum des Erfolgsstücks „Nord- leugneten seine Befehlshaber, chemische Ost“, zusammen über 800 Menschen, in die Mittel überhaupt eingesetzt zu haben. Hände eines Terroristentrupps gefallen wa- Erst am fünften Tag nach dem Einge- ren, legten zu dieser Zeit bereits Angehörige ständnis eines Vize-Innenministers, dass von Spezialeinheiten ihre Panzerwesten an. ein Betäubungsmittel verwendet worden Günstigstenfalls hätte es zu diesem Zeit- war, lüftete Moskaus Gesundheitsminister punkt, wie Politiker Jawlinski später an- Jurij Schewtschenko das Staatsgeheimnis, nimmt, noch „zwei Szenarien“ geben kön- aber auch nur nach massivem internatio- nen: „ein humanes und ein gewalttätiges“. nalem Druck: Ein bislang noch nicht völlig Doch im Stab der Geheimdienst-, Poli- entschlüsselter Stoff auf der Basis von Fen- zei- und Armee-Strategen, die von Anfang

RODIONOV / EAST NEWS / GAMMA / STUDIO X / STUDIO NEWS / GAMMA / EAST RODIONOV tanyl-Derivaten sei durch die Lüftung in an alle Verhandlungsansätze in der Haupt- Präsident Putin (nach der Geiselbefreiung) das besetzte Gebäude eingeleitet worden sache – Beendigung des Tschetschenien- Tolerable Opferquote (siehe Kasten Seite 128). Kriegs – hatten ins Leere laufen lassen, Weitere Nachfragen verbat sich Ge- war die Entscheidung längst gefallen: Kom- mummung massenhafter Geiselnahme, mit heimdienst-General Alexander Sdano- mando zum Sturm. der Androhung eines Blutbades unter Hun- witsch Ende voriger Woche: Die russische Das war das Einzige, was Wladimir Pu- derten unschuldigen, meist jungen Leuten. Versicherung müsse reichen, „dass dieses tin von seinen Anti-Terror-Experten ver- Zu Beginn der Aktion war jedes einzel- Gas für nicht einen einzigen Toten verant- langt hatte. Ein auch nur „scheinbares Ein- ne bedrohte Leben von Präsident Wladi- wortlich gemacht werden“ könne. Schließ- gehen auf die Terroristen-Forderungen“ mir Putin zum höchsten Gut erklärt wor- lich hätten „ausländische Geheimdienste habe, so ein Mitarbeiter der Präsidialver- den. Doch die Anti-Terror-Spezialisten höchste Anerkennung gezollt“. waltung, der Präsident „stets untersagt, verstanden das auf ihre Weise: In Russland Als das Geiseldrama am Freitagabend weil nicht weniger als die Autorität des gilt bei der Befreiung von Geiseln eine vorvergangener Woche in seine dritte Staates auf dem Spiel stand“. 30-prozentige Opferquote als durchaus Nacht ging, gab es in Moskau noch eine Dass solche Autorität steht und fällt mit tolerabel. winzige Hoffnung, der Kreml würde sich der Glaubwürdigkeit der Führung, mag einigen Angriffsplanern gerade noch hatten Zeit, auf die Knöpfe zu drücken“ gedämmert haben. Und so hatten sie sich generell grünes Licht geben lassen für „den Fall, dass die latente Lebensgefährdung der Geiseln in eine akute umschlägt“. Eine nochmalige Genehmigung des Sturms aus dem Kreml war damit am frühen Samstagmorgen nicht mehr erfor- derlich. „Für diese angenommene Situa- tion“, sagt der Kreml-Beamte, „hatten die Spezialeinheiten eine Carte blanche.“ Erst viele Stunden später wird klar, dass Putins Staatsschützer entweder sich oder die Öffentlichkeit getäuscht haben. Die Rechtfertigung ihres Einsatzbefehls: Das tschetschenische Kommando beginne mit der Erschießung seiner Geiseln. Tatsächlich, so gibt später Ex-Geisel Olga Chuchrina, 25, aus St. Petersburg zu Protokoll, sei ein junger Mitgefangener durchgedreht und habe sich auf die in der Saalmitte verdrahtete Bombe stürzen wol- len. Die Terroristen hätten das Feuer eröff- net, aber nicht ihn getroffen, sondern einen anderen Mann. Dessen Leiche und die eines Vaters – der von den Geiselnehmern erschossen wurde, als er vor Sturmbeginn von außen in das Theaterzentrum eindrang, um sein Kind zu retten – waren die einzigen Opfer, welche die Befreier später mit feindlichen Schussverletzungen vorweisen konnten. Ihnen standen bis zum vergangenen Wo-

DMITRY LOVETSKY / AP LOVETSKY DMITRY chenende 117 unmittelbar oder mittelbar 127 Ausland Hilflose Retter Der Narkose-Einsatz im Moskauer Geiseldrama war professionell – doch die Versorgung der Bewusstlosen verlief katastrophal.

er Einsatz von Narkosemitteln thrax-Sporen über große Flächen zu bei der Moskauer Geiselbefrei- verteilen“, berichtet Biologe van Aken. Dung war nicht improvisiert: Halothan, das zweite mutmaßliche Nach Einschätzung westlicher Exper- Narkosemittel, ist einfacher zu vertei- ten müssen die russischen Streitkräfte len: Die Flüssigkeit verdampft bei Zim- jahrelang an der Dosierung und Ver- mertemperatur von selbst zu einem

breitungstechnik von schnell wirken- Gas. Der Münchner Toxikologe Tho- REUTERS den Betäubungsstoffen geforscht ha- mas Zilker konnte Halothan im Blut Getöteter Geiselnehmer Mowsar Barajew ben. „Das lief äußerst professionell ab“, und Urin der zwei deutschen Geiseln Sprengkraft von 120 Kilogramm TNT urteilt Jan van Aken, Experte für Che- nachweisen. Den Einwand, das Narko- mie- und Biowaffen aus Hamburg. segas sei womöglich erst bei der künst- vom Gift-Aerosol Getötete gegenüber – Ganz im Gegensatz zur dilettanti- lichen Beatmung der befreiten Geiseln und 41 überwiegend durch Kopfschüsse schen medizinischen Versorgung der in deren Körper gelangt, hält der Wis- aus nächster Nähe getötete Kidnapper. bewusstlosen Geiseln: Ein Großteil von senschaftler für wenig stichhaltig. Zil- Eine vertretbare Bilanz, wenn man einem ihnen ist offenbar noch lebend aus dem ker: „Im Gegensatz zu dem 18-jährigen Oberst des Inlandsgeheimdienstes FSB fol- Musicaltheater getragen worden. Bis Mädchen ist der 43-jährige Mann über- gen will, der anhand von Schautafeln und sie aber in Krankenhäusern ärztliche haupt nicht beatmet worden.“ Anschauungsstücken das Mordwerkzeug Hilfe erhielten, hat es mitunter über Dass der Münchner Experte im Kör- der Banditen zu einer Sprengkraft von 110 eine Stunde gedauert, weil es an Hel- per der Geiseln hingegen kein Fentanyl bis 120 Kilogramm TNT addierte. fern und Krankenwagen mangelte – das gefunden hat, liegt an der kurzen Zer- Augenzeugin Chuchrina freilich be- kostete vermutlich vielen das Leben. fallszeit des Opioids: Nach rund sechs zweifelt, dass ihre Bedrücker wirklich zum Versprüht wurden offenbar zwei ver- Stunden ist es im Blut abgebaut. Aller- Massenmord bereit waren: „Das waren kei- schiedene Betäubungsmittel: das syn- dings untersucht das Wehrwissen- ne Kamikaze-Leute. Sie hatten Zeit, auf thetische Opiat Fentanyl und das Nar- schaftliche Institut der Bundeswehr in die Knöpfe zu drücken. Ich selbst bin erst kosegas Halothan. Bei- Munster derzeit noch nach 15 oder 20 Sekunden ohnmächtig ge- des sind Substanzen aus die Kleidung der Gei- worden.“ dem Standard-Reper- seln auf Fentanylspuren. Während Aussagen über Brutalität und toire jedes Kranken- Auch die Rettungs- Gewaltbereitschaft des tschetschenischen haus-Anästhesisten. kräfte wussten oft nicht, Kommandos weit auseinander gehen, gibt Schon während des welche Narkosemittel es in einem Punkt kaum Differenzen: Kalten Krieges erforsch- verwendet worden wa- Das Mittel wirkte ungeheuer schnell, ten amerikanische und ren und agierten daher aber es war sichtbar, und es hatte einen sowjetische Militärs das reichlich hilflos. Gegen scharfen Geruch. Geisel Natalja Chomuz- Potenzial von Narkose- Fentanyl hätte sofort das kaja aus Kiew berichtet später: „Wir mitteln im Kampfein- Gegengift Naloxon ge- konnten es gut sehen, wie dunkelgrauer satz. Der amerikanische spritzt werden müssen; Rauch.“ Anästhesist Theodore dabei hätte es gereicht, Wie mit den bewusstlosen Opfern zu Stanley von der Univer- die Nadel einfach in ei- verfahren sei, welche medizinischen Maß- sity of Utah empfahl nen Muskel zu stechen – nahmen zu ergreifen waren, wusste tage-

1982 als Berater der US- PETER KNEFFEL / AFP / DPA wozu jeder Sanitäter in lang in Moskau niemand. Mutmaßungen Streitkräfte Carfentanyl Toxikologe Zilker der Lage gewesen wäre. über den geheimnisvollen Stoff reichten als geeignete Substanz: Spurensuche im Geiselblut Um die Wirkung von von Lachgas bis zum chemischen Kampf- „Wenn ich ein Bierglas Halothan abzumildern, stoff Sarin, vom Narkosemittel Halothan voll mit Carfentanyl hier auf den Boden hätte mit simplen Beatmungsbeuteln bis zum so genannten „Mittel Nr. 78“. schmeiße, sind alle in diesem Raum so- Luft in die Lungen der Opfer gepumpt Auf diesen Stoff, der in den achtziger fort bewusstlos.“ werden müssen. Rasch wäre die Kon- Jahren am UdSSR-Institut für organische Das Fentanylderivat ist allerdings zentration der Narkosemittel gesunken, Chemie in Moskau entwickelt wurde und kein Gas, sondern ein Feststoff. Des- die Atmung hätte wieder eingesetzt. im Westen auch unter dem Kürzel „BZ“ halb benötigten die russischen Sicher- Damit ihre Zunge nicht die Luftröh- firmiert, tippte der Chemiewaffen-Experte heitskräfte spezielle Geräte, um den re blockiert oder Erbrochenes in die Wil Mirsajanow, der vor einigen Jahren aus Stoff in mikrometerkleine Partikel zu Lunge läuft, hätten die Geretteten auch Russland in die USA übersiedelte: „Mittel zerstäuben. Vermutlich brachten sie sofort in die stabile Seitenlage gebracht Nr. 78“ sei anästhesiegeeignet, bei Über- Großtechnologie aus dem ehemaligen werden müssen – eine Übung, die jeder dosierung jedoch tödlich. Biowaffen-Programm der Sowjets in Autofahrer im Erste-Hilfe-Kurs lernt. So behandelten die Ärzte der 17 Mos- Stellung. „Aus Unterlagen und Augen- Stattdessen hockten viele der Bewusst- kauer Kliniken, in die befreite Geiseln ein- zeugenberichten wissen wir, dass die losen auf den Sitzen Moskauer Stadt- geliefert wurden, ihre Patienten nach Gut- Sowjets damals riesige Aerosol-Ma- busse – den Kopf lebensgefährlich nach dünken, während die Staatsmacht über schinen entwickelt haben, um etwa An- hinten verrenkt. Gerald Traufetter ihre Wunderwaffe eisern schwieg. Gerüch- te machten die Runde, wonach ein Ge- genmittel in begrenzten Dosen zur Verfü-

128 der spiegel 45/2002 Werbeseite

Werbeseite Kanzlers und seines grünen Außenminis- ters fielen „da wenig ins Gewicht“. Den besonderen Unmut Moskaus erreg- te das kleine Dänemark: Ein letzte Woche in Kopenhagen abgehaltener Weltkongress der Tschetschenen (siehe Seite 132) reich- te dem Vorsitzenden des außenpolitischen Duma-Ausschusses, die dänische Regie- rung der Komplizenschaft mit „Banditen“ und „Kopfabschneidern“ zu verdächtigen. Im Stil seiner Sowjet-Vergangenheit zählte das damals wie heute staatstragen- de Blatt „Iswestija“ die Sünden der Skan- dinavier auf: Dänemark habe Russland im- mer wieder „verraten“ – von der Verwei- gerung des Exils für die Romanows 1917 bis zu dänischen Freiwilligen der SS-Division „Wiking“ 1941. Zugleich nutzten Moskaus Propagan- disten die Gunst der Stunde, um Tsche-

SERGEI GRITS / AP SERGEI GRITS tscheniens gewählten Präsidenten wieder Angehörige vor dem Moskauer Krankenhaus Nr. 13: Patienten nach Gutdünken behandelt einmal zu attackieren: Der in den Unter- grund gegangene Separatistenführer Aslan gung stand, doch die seien an die Sturm- Gewiss, da ist – noch – jenes Andere, was Maschadow habe die Geiselnahme ange- truppe ausgegeben worden. zu Sowjetzeiten nicht vorstellbar gewesen ordnet, geplant und kontrolliert. Selbst der Vizedirektor des Sklifossow- wäre: Die öffentliche Bitte Putins um Ver- Am Freitag freilich kam das Dementi ski-Instituts, einer Vorzeige-Einrichtung für gebung für die Todesopfer. Jene paar Duma- aus dem Kaukasus. Per Internet nahm der schwere Fälle, war noch Tage später em- Abgeordneten, die eine parlamentarische tschetschenische Feldkommandeur Scha- pört: „Wir haben mit allen möglichen Untersuchungskommission fordern. Die mil Bassajew alle Verantwortung auf sich. schweren Brand- und Schussverletzungen kleine Medienschar, die den vielen Merk- Er bat Maschadow um Nachsicht, dass er gerechnet. Wenigstens uns hätte man sagen würdigkeiten des Sturms und seiner Fol- die „Operation in der Höhle der Feinde“ müssen, dass Gasopfer zu erwarten sind.“ gen unbeirrt nachspürt – jedenfalls bisher. nicht mit ihm abgesprochen habe – ab so- Tagelang standen Angehörige, von Poli- Aber die Momentaufnahme zeigt zu- fort werde der Krieg auf dem ganzen rus- zeiposten zusammengepfercht, im Regen gleich, wie wenig abzuräumen, gleichzu- sischen Territorium geführt. Eher unwahr- vor den Krankenhäusern. Drinnen musste, schalten wäre, um zu früherem Gebaren scheinlich, dass dieses Bekenntnis seinen gleich nach der ärztlichen Fürsorge, erst minus Kommunismus zurückzukehren. Chef vor verstärkten Nachstellungen durch der staatsschützerische Dienst am Nächs- Um der Armee, wie von Putin gefordert, russische Sondertrupps rettet. ten erledigt werden – von Staatsanwälten freiere Hand zu geben bei der Terroristen- Die Front zwischen Russland und dem und FSB-Agenten, die Verhöre führten und bekämpfung daheim und jenseits der Lan- Kaukasus wird sich verhärten. Zurück- Fingerabdrücke nahmen. schlagen heißt jetzt die De- Gegen Wochenende, als erste Opfer des vise in Moskau, mit harter Sturms, darunter auch Kinder, in Moskau Hand – und sie kommt an: beerdigt wurden, kehrten bereits entlasse- Fast die Hälfte aller Rus- ne Patienten in die Kliniken zurück. Ins sen, 46 Prozent, wollen nun Städtische Krankenhaus Nr. 7 vor allem in Tschetschenien weiter- mit „Atmungs- und neurologischen Pro- kämpfen, 12 Prozent mehr blemen“, so der Leitende Arzt Wjatsches- als vergangenen Monat. law Afanasjew, „die nun stationär weiter- Mit des Präsidenten Hand- behandelt werden müssen“. Wie lange, lungsweise im Geiseldrama weiß keiner. sind 85 von 100 Russen voll Kaum war der zweifelhafte Sieg über die oder überwiegend einver- tschetschenische Stadtguerrilla errungen, standen. galt es gleich an neuen Fronten weiterzu- Auge um Auge, Zahn um kämpfen: im ganzen Land gegen verdäch- Zahn, propagiert nun selbst

tige Kaukasier, deren Fingerabdrücke in / AP LOVETSKY DMITRY ein liberales Blatt wie die großem Umfang von der Polizei genom- Evakuierung der Geiseln: „Das Leben aller riskiert“ „Moskowskije nowosti“: Es men werden. Und ein bisschen auch ge- müsse „auch auf 15-jährige gen die anwachsende Pogromstimmung, desgrenzen. Um veröffentlichte Meinung Jungen oder auf Frauen geschossen wer- die einige Provinzstädte bereits meldeten. mit dem Niveau jener Aufkleber gleichzu- den, die mit Hass schwanger gehen“. Und gegen den „grenzenlosen Zynis- schalten, die nun an Moskauer Metro-Zü- Wladimir Putin hat Fortune. Seit zwei mus“ von Medien, so Kreml-Gehilfe Sergej gen kleben und auf denen steht: „Spezial- Jahren surft er auf den hausgemachten Ka- Jastrschembski, die den Verdacht äußer- einheiten – Pfundskerle – Danke“. tastrophen und Havarien, die sein noch ten, eine von den Terroristen angebotene Solch Lob in so verständnisvollen Tö- immer angeschlagenes Staatswesen so re- Freilassung ausländischer Geiseln sei hin- nen gab es in der letzten Woche sonst nur gelmäßig treffen wie der Stundenschlag tertrieben worden. Ein westlicher Bot- von jenseits des Atlantiks: die rückhalt- vom Spasski-Turm des Kreml. Und jedes schafter hatte im Krisenstab wenig Infor- lose Anerkennung durch George W. Bush. Unglück, jedes Attentat trägt ihn höher in mations- und Kooperationsbereitschaft ge- „Das ist der Schulterschluss“, freute sich der Anerkennung daheim und in manchem funden und sprach später von „deutlichem ein Putin-Berater. Erstmals seit Mona- fernen Land. Jedenfalls bislang. Rückfall in Sowjet-Verhaltensweisen“. ten kritische Anmerkungen des deutschen Uwe Klussmann, Jörg R. Mettke

130 der spiegel 45/2002 Werbeseite

Werbeseite Ausland

ter internationaler Aufsicht“ TSCHETSCHENIEN erhalten und selbst die künf- tige Form seiner inneren Kniefall vor Verfassung wählen, so der Moskauer Ökonomiepro- fessor. Friedensverhandlun- dem Kreml gen müssten unter ausländi- schem Patronat verlaufen. Die Festnahme des Exil-Tschetsche- „Reichlich moskaufreund- lich“ sei dieser Plan, hatte nen Sakajew in Kopenhagen könnte Sakajew dem SPIEGEL in endgültig eine friedliche Lösung Kopenhagen gesagt. Aber des Kaukasus-Konflikts torpedieren. ein Weg zum Kompromiss schon: Das Wichtigste für ine „Komödie“ sei das, glaubt der Tschetschenien wäre „nicht kleine Mann im Zweireiher. „Ein for- Unabhängigkeit, sondern Si- Emelles Einlenken der Dänen ge- cherheit“, also das Ende des genüber dem Kreml – ein Manöver, das „anhaltenden Völkermords“. nicht allzu lange dauern wird.“ Das Papier war bereits Ruslan Chasbulatow, 59, einst Parla- Grundlage von Sondie- mentschef und einer der mächtigsten Män- rungsverhandlungen in Zü- ner Russlands, bevor ihn Präsident Boris rich und in Liechtenstein, Jelzin mit Panzern aus seinem Amtssitz wo Sakajew sich mit dem schoss, sitzt in Zimmer 508 des Radisson früheren Sicherheitsratsse- Scandinavia Hotel am Kopenhagener Ama- kretär Iwan Rybkin traf – ger Boulevard und saugt an seiner Pfeife. wohl nicht ohne Wissen von Es ist Mittwoch, acht Uhr früh, die Son- Präsident Putin. Gesponsert ne steigt über der Altstadt auf. In weni- hatte das Treffen Zbigniew gen Stunden startet der Flieger nach Mos- Brzezinski, Ex-Sicherheits- kau, Chasbulatows Visum läuft heute ab. berater von US-Präsident Aber er kann nicht weg, „ich kann einen Carter. Vor einem Jahr war

Menschen nicht allein im Dreck sitzen MIKHAIL KLIMENTIEV Sakajew sogar mit Putins lassen“. Getötete Tschetschenen: An Terrorangriffen beteiligt? Nordkaukasus-Beauftragtem Vor sechs Stunden hat- Kasanzew bei Moskau zu- ten sechs dänische Polizis- turminister der Kaukasus- sammengekommen – ohne dass der ten 14 Stockwerke höher Republik und zeitweilig den vermeintlichen Terroristen festneh- den Tschetschenen Ach- Kommandeur von Mas- men ließ. med Sakajew verhaftet, sei- chadows persönlicher Gar- Damit ist klar, was die Hatz auf Mas- nen wichtigsten Ansprech- de, habe sich an „Terror- chadows Auslandsgesandte bezweckt: die partner, und Chasbulatow angriffen“ beteiligt und die einzig noch denkbaren Verhandlungspart- hat davon nichts bemerkt. Moskauer Geiselnahme ner mundtot zu machen. Er wurde erst von einem mit geplant. Das behaup- Front macht Moskau vor allem gegen Moskauer Radiosender in- tet die russische Führung Georgien, Aserbaidschan, Katar und die formiert. im Auslieferungsbegehren, Türkei, wo prominente Tschetschenen Un- Im Ballsaal des Scandi- das sie per Interpol nach terschlupf gefunden haben. Auch fünf EU- navia war am Abend der Kopenhagen sandte. Staaten, Deutschland inklusive, sehen sich Welt-Tschetschenen-Kon- Die Beweise würden dem Vorwurf der „Parteinahme für Terro-

gress zu Ende gegangen – / AP JENS NOERGAARD LARSEN sorgfältig geprüft, rechtfer- risten“ ausgesetzt. Ist die Verhaftung Sa- mit einem Lob auf den „ho- Emissär Sakajew tigte Dänemarks Premier kajews das erste Zeichen, dass der Westen hen demokratischen Stan- Lob für die Dänen Anders Fogh Rasmussen gegenüber Putin einzuknicken beginnt? dard“ der dänischen Behör- Sakajews Festnahme: Sie sei Dabei hatten die in Kopenhagen ver- den. „Beeindruckend“, so die 80 Gäste, eine „normale Polizeiaktion“. Kein „Bau- sammelten Tschetschenen das Schlimmste wie Außenminister Per Stig Møller Mos- ernopfer“, um den Kreml zu beruhigen. noch abzuwenden versucht. Als Chasbula- kaus Forderung zurückgewiesen habe, das Aber das war es wohl doch. Denn in der tow zu Konferenzschluss einen Brief an angebliche Terroristentreffen zu verbieten. Auslieferungsliste sind neben Sakajew 77 Präsident Putin vorlas, baten sie ihn drin- Das freilich war am Wochenende gewe- weitere Namen aufgeführt – Putins Man- gend um einen gemäßigteren Ton. Das Pa- sen. Die Teilnehmer seien alle überprüft, nen hatten gleich die Überstellung fast pier hatte die Geiselnahme verurteilt, aber die Tagung „rein privat“, hatte Møller da sämtlicher Tagungsteilnehmer verlangt. mit beißender Ironie Putins Kaukasus-Poli- noch gesagt. Die Regierung nahm sogar in Zum Weltkongress, den ein Professor tik karikiert. Man müsse trotz allem die Kauf, dass der „tief empörte“ Kreml den aus dem amerikanischen Princeton leitete, Tür für Kontakte mit dem Kreml-Chef of- für kommende Woche avisierten Kopen- waren allseits bekannte und gemäßigte fen halten, warnten die Kritiker. hagen-Besuch von Präsident Putin strich. Tschetschenen angereist, russische Kriti- Chasbulatow, der zwei seiner Brüder in Nun, über Nacht, hatte sie überraschend ker der Moskauer Kaukasus-Politik und der Kriegsrepublik weiß, strich die Passa- dessen zentrale Forderung erfüllt und Ach- ausländische Sympathisanten wie die bri- gen ohne Widerspruch. Auch „Freunde med Sakajew festgesetzt – den Auslands- tische Schauspielerin Vanessa Redgrave. von daheim“ hätten ihn gerade telefonisch vertreter von Untergrund-Präsident Aslan Ex-Parlamentschef Chasbulatow, selbst vor zu forschem Vorgehen gewarnt. Denn: Maschadow und wichtigsten Gast des Exil- Tschetschene, hatte seinen Plan für ein Der tschetschenischen Diaspora in Moskau tschetschenen-Kongresses. Der gehbehin- Ende des Kaukasus-Krieges vorgelegt: gehe es nach der Geiselnahme „extrem derte 43-jährige Schauspieler, einst Kul- Tschetschenien solle eine „Autonomie un- dreckig“. Christian Neef

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wissheit werden lassen: dass es sei Zeit zu verschwinden – Muslime aus Deutschland RUSSLAND ein Himmelfahrtskommando, Kämpfer für auch an der Tschetschenien- TSCHETSCHENIEN denn die Russen verstärkten Front im Einsatz sind. 10 bis Pankisi-Tal Grosny in Erwartung der militanten 20 Freiwillige, glauben Ge- Schwarzes Heimkehrer ihre Grenzwa- den Kaukasus heimdienstler, ziehen jedes Meer GEORGIEN chen und bombardierten Jahr von der Bundesrepu- Tiflis das Tal. In Kleingruppen Deutsche Islamisten werden blik aus in den weltweiten TÜRKEI mussten sich die Gelajew- Heiligen Krieg. Nach Afgha- Getreuen nach Tschetsche- auch für den Krieg gegen 100 km ARMENIEN nistan, fürchten Ermittler, nien durchschlagen, während Russland rekrutiert: In Tsche- könnte Tschetschenien zum neu- Gelajew nach russischen Anga- tschenien starben jetzt zwei en Brennpunkt eines weltweiten ben in Georgien blieb. Muslime aus der Bundesrepublik. Dschihad werden – und die martialischen Ein zehnköpfiger Trupp, zu dem auch Bilder von der Moskauer Geiselnahme Tarek B. gehörte, geriet Anfang Oktober 25 m Abend bevor Tarek B. für immer könnten das Öl sein, das den Feldzug be- Kilometer südwestlich von Grosny in ein ging, lachte er. Er sagte, sie würden feuert. Gefecht mit einer Spezialeinheit, drei der Anoch erfahren, wohin. Dann ver- Mit Hochdruck suchen deutsche Fahn- zehn fielen – unter ihnen wohl auch der schwand er. Zwei Wochen später, Mitte der deshalb nach jenen Hintermännern, Stuttgarter. Juni, brachte ein Unbekannter der Familie die hier zu Lande Kämpfer für den Kau- Dass Tarek B. und Mevlüt P., den baye- in Schorndorf bei Stuttgart Tarek B.s Han- kasus rekrutieren: Wer warb die beiden rische Verfassungsschützer vor seinem dy. Der Fremde war einsilbig, er sagte Deutschen an? Und wer vermittelte sie in Verschwinden dem Umfeld der islamis- nichts darüber, wohin B. gegangen war. den tschetschenischen Untergrund? tischen Organisation Milli Görüs zurech- Nur ein Zettel lag anbei. Auf dem stand in Noch bevor Osama Bin Laden zur Iko- neten, tot sind, scheint sicher – auch arabischer Schrift: „Schöne Grüße an alle“. ne militanter Muslime wurde, rekrutierten wenn erst eine Identifizierung der Lei- chen durch Angehörige oder etwa anhand einer DNA-Analyse letzte Zweifel ausräu- men kann. 1987 war der Tunesier Tarek B. nach Deutschland gekommen, 2000 hatte er sich einbürgern lassen. Mit seiner Frau lebte er unter dem Dach eines Mehrfamilienhauses. Ein „ruhiger, gebildeter, unauffälliger Typ“ sei der Ex-Lehrer aus Tunis gewesen, der „gegen niemanden und nichts wetterte“, sagen Bekannte. Vormittags habe er Zei- tungen ausgetragen, danach Schülern Nachhilfe in Französisch gegeben. Doch schon vor Jahren, glauben Ermitt- ler, habe er offenbar eine religiöse „Er- leuchtung“ gehabt. Manchmal hörte man ihn Koran-Suren rezitieren. Tarek B., sagt ein Verwandter, sei unglücklich gewesen mit seinem Leben und mit seiner Ehe, er habe deshalb weggewollt: „Die Idee vom C. MORRIS / BLACK STAR C. MORRIS / BLACK Tschetschenische Kämpfer: Himmelfahrtskommando an der Grenze

Es war das letzte Lebenszeichen. Am 16. radikale Vorbeter ihre Jünger mit Verweis Oktober traf ein Fax beim Polizeipräsidium auf die russischen Untaten im Kaukasus. Schwaben ein, es war eine „Bitte um An- Auch unter Bekannten von Mevlüt P. wur- gehörigenermittlung“. Absender: das Aus- de für Tschetschenien gesammelt. wärtige Amt. Russische Soldaten hatten die Das Sammeln hat den beiden Deut- Daten zweier in Tschetschenien gefunde- schen, die vermutlich über die Türkei und ner Pässe übermittelt. Eines der Doku- über das Pankisi-Tal (Nord-Georgien) in mente ist ausgestellt auf den Neu-Ulmer den Kampf zogen, offenbar nicht gereicht. Mevlüt P., geboren in der Türkei, inzwi- Dort erwarteten sie tschetschenische Todesanzeige für Tarek B. schen Deutscher, 37 Jahre alt. Der zweite Kämpfer, mit dabei einer der schillernds- „Idee vom Paradies“ Pass gehört Tarek B., 40, wohnhaft im ten unter den Kaukasus-Warlords: Ruslan schwäbischen Schorndorf, auch er einge- Gelajew, der Anfang der neunziger Jahre Paradies und dass dort ein Krieger eintritt bürgert, verheiratet mit einer Deutschen, Karriere als Kampfkommandeur machte. hat ihn wohl in den Kampf getrieben.“ geboren in Tunesien. Er brachte es zum Vizepremier und Ver- In den „Schorndorfer Nachrichten“ er- Die beiden Deutschen waren Kämpfer teidigungsminister Tschetscheniens, bevor schien jetzt eine Todesanzeige gezeichnet Allahs, an der Seite tschetschenischer Re- er sich nach Georgien absetzen musste. mit dem Namen von B.s Frau, mit einem bellen. Nach bisherigem Kenntnisstand sol- Doch die Gastfreundschaft Georgiens Zitat des Propheten Mohammed: „Wenn len sie am 8. Oktober bei Gefechten mit war seit Februar bedroht, nachdem der Gott beschließt, dass ein Mensch an einem russischen Militärs gestorben sein. US-Geschäftsträger in Tiflis geraunt hatte, bestimmten Ort sterben soll, gibt er ihm ei- Der Tod der Männer aus der süd- im Pankisi-Tal hielten sich wohl Qaida- nen Grund, dorthin zu gehen“. deutschen Provinz hat einen Verdacht, Kämpfer versteckt. Georgien signalisierte Dominik Cziesche, Uwe Klußmann, den Ermittler schon länger hegen, zur Ge- dem bewaffneten Haufen im September, Caroline Schmidt

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Werbeseite US-Soldaten beim Manöver (in Kuweit) Auf Kriegskurs getrimmt

shington möchte vielmehr den „Schwer- punkt“ des Bündnisses nach Osten ver- schieben – und Staaten der vormaligen Sowjetunion am Kaukasus und in Zentral- asien eng an die Nato binden. Von Geor- gien bis Usbekistan müssten alle, erläuter- te Burns, „Mitglied der Familie“ werden – ein Plan, den Berlin skeptisch betrachtet. Obendrein will Washington der Nato eine neue – und vor allem: weltweite – Rol- le im Kampf gegen den Terror zuweisen. Dazu soll der Gipfel den Europäern bin- dende „Verpflichtungen“ zum Erwerb neu- er „militärischer Fähigkeiten“ auferlegen, samt „Zeitplan“ für die Erfüllung. Statt schwerer Panzertruppen müssten

JOHN MCCONNICO / AP leichte Kräfte her, ausgerüstet mit Präzi- sionswaffen und moderner Elektronik für So verlangte vergangene Woche der die Kommunikation. Dazu neue Trans- USA amerikanische Nato-Botschafter Nicholas portflieger, um die Soldaten rasch in jeden Burns, Berlin solle endlich die „statische“ Winkel der Erde zu schaffen. Einsätze Guter Freund Wehrpflichtarmee abschaffen und mehr außerhalb des traditionellen Nato-Gebiets Geld in die Ausrüstung „professioneller“ seien doch schon die Regel, dröhnt Burns, Joschka Fischers Besuch in Streitkräfte stecken. Selbst ein armer Nato- „der alte ,Out of Area‘-Begriff ist tot“. Beitrittskandidat wie Rumänien habe es So sieht das auch Nato-Generalsekretär Washington hat den deutsch- geschafft, ein Kampfbataillon mit eigenen George Robertson. Der Lord will diese Wo- amerikanischen Konflikt Flugzeugen nach Afghanistan zu bringen, che bei Schröder für die Pläne werben. nicht beendet. Die Amerikaner hämte Burns, „Deutschland nicht“. Politisch besonders knifflig für die Deut- stellen nun neue Forderungen. Gemeinsam mit Kanada und Luxemburg schen ist dabei die Forderung nach einer trage Deutschland bei den Wehrausgaben neuen multinationalen Eingreiftruppe („Re- ie Bilanz seiner diplomatischen in der Nato die rote Laterne, rügte der Di- sponse Force“), künftig die Speerspitze der Mission in den USA formulierte plomat. Berlin solle tunlichst zwei Prozent Nato. Rund 21000 Soldaten sollen in Trai- DJoschka Fischer schon auf dem Hin- des Bruttoinlandsprodukts für das Militär ning und Ausrüstung dann mit der High- flug, irgendwo südlich von Grönland. „Das aufwenden – was satten 40 Milliarden Euro tech-Armee der USA mithalten können. Wichtigste an der Reise war, dass sie statt- entspräche. Das wäre ein mächtiger Sprung Binnen sieben Tagen muss ein Verband in fand“, sinnierte der Außenminister. Brigadestärke – etwa 3000 Mann – Bessere Ergebnisse waren kaum zu er- abmarschbereit sein, kleinere Vor- warten. 46 Minuten mit dem „alten und kommandos noch schneller. guten Freund“ und Kollegen Colin Powell Dieses Tempo verträgt sich im Außenministerium, noch einige Presse- kaum mit der langwierigen Ge- termine und Fernsehinterviews – das war’s. nehmigungsprozedur von heute: Trotz aller Bemühungen konnte Fischer Hat das Kabinett einen Bundes- keinen Gesprächspartner in George Bushs wehreinsatz beschlossen, berät Weißem Haus ergattern. der Bundestag darüber – in Ple- Eine Normalisierung der Beziehungen narsitzungen sowie in den zu- sähe anders aus. Anhänger der deutsch- ständigen Ausschüssen. Erst da- amerikanischen Freundschaft müssen sich nach kann es losgehen. noch gedulden, bis die „Differenzen in Dies zeitraubende Verfahren der Familie“ (Fischer) wieder ausgeräumt wollen Peter Struck und Joseph sind. Auf dem Rückweg zur Freundschaft Fischer rabiat verkürzen – mit ei- liegen, so Powell, noch einige „Schlag- ner Machtverschiebung zu Guns- löcher“. ten des Kabinetts.

Denn der Grundsatzkonflikt bleibt – / DPA TIM BRAKEMEIER Zwar wollte das rot-grüne Duo auch nach der amerikanischen Kongress- Kollegen Fischer, Powell*: Weg voller Schlaglöcher seinen Plan nicht in die Koali- Wahl in dieser Woche. Bush ist auf Kriegs- tionsvereinbarung aufnehmen, kurs getrimmt, Gerhard Schröder verharrt im derzeit für 2003 geplanten Wehretat von das schien wegen des drohenden Irak- in Opposition: „An militärischen Inter- 24,4 Milliarden, den Finanzminister Hans Kriegs zu heikel. Aber im nächsten Jahr ventionen im Irak“, wiederholte der Kanz- Eichel freilich noch kürzen möchte. soll ein neues Gesetz der Regierung mehr ler vorige Woche in seiner Regierungs- Auch sonst haben die Amerikaner noch Kompetenz und Spielraum geben. Dass erklärung, „werden wir uns nicht be- einige Zumutungen im Köcher. dem Bundestag dann eher eine Nebenrol- teiligen.“ So soll der Prager Gipfel nicht nur sieben le bei der Entscheidung über Bundeswehr- Ob es gelingt, Bush und Schröder beim neue Länder – Rumänien, Bulgarien, Est- einsätze zukommen soll, erschließt sich jetzt anstehenden Prager Nato-Gipfel zu land, Lettland, Litauen, Slowenien und schon aus dem Titel, den die Koalitionäre einem Versöhnungsplausch zu vereinen, die Slowakei – in die Allianz einladen. Wa- für das Regelwerk erdacht haben: „Parla- ist ungewiss. Zudem stellen die Amerika- mentsbeteiligungsgesetz“. ner neue Forderungen. * Am 30. Oktober in Washington. Ralf Beste, Alexander Szandar

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innerte mich Martha Mautner, eine unbe- sungene langjährige Deutschland-Spezia- listin aus dem State Department. „Anfangs haben wir das nie öffent- Der deutsche Weg lich zugegeben“, fuhr Frau Mautner fort, „und im Korea-Krieg waren wir klug Warum Schröder im Streit mit Washington Recht hatte und genug, die Vereinten Nationen und die Alliierten zu bemühen. Allerdings ge- Europa die USA herausfordern sollte. Von David Binder wöhnten wir uns langsam daran, allein zu handeln, weil wir die Ein- un haben sich die Wogen des Irak- zigen waren, die wirklich et- Disputs, die im August und Sep- was bewegen konnten.“ Seit Ntember die transatlantischen Be- dem Ende des Kalten Krieges, ziehungen so heftig aufgewühlt hatten, ein warnt sie heute, „halten die wenig beruhigt, der Sturm hat sich verzo- anderen uns für einen Amok gen, die Sicht wird klarer. laufenden Riesen“. Angefangen hatte das Unwetter mit der Was uns fehlt, ist ein halb- „Ohne uns“-Erklärung des deutschen wegs ebenbürtiger Rivale, der Kanzlers Gerhard Schröder, mit der er die uns zwingt, das verlorene Kriegspläne von Präsident Bush gegen Sad- Gleichgewicht wiederzugewin- dam Hussein ablehnte. Nun hieß die De- nen. In dieser Liga sind die vise nicht mehr „Germans to the front“, Taliban, der Irak, Iran oder wie so oft und so schrecklich im vergange- Nordkorea nur Federgewich- nen Jahrhundert, sie hieß vielmehr: „Für te. Der einzige mögliche Ri- Abenteuer stehen wir nicht zur Verfü- vale für die Vereinigten Staa-

gung.“ Das entsprach im Übrigen auch der / AFP / DPA TIM SLOAN ten, dazu nicht einmal ein Mehrheitsmeinung des deutschen Volkes, Verbündete Schröder, Bush*: Vorbote des Umbruchs unfreundlicher, wäre die Eu- Christdemokraten eingeschlossen. ropäische Union. Zwar waren es wenig später die Franzo- zu einer verschwindenden Minderheit der- Um Europa klein zu halten, hat Wa- sen, die in dieser kritischen Auseinander- jenigen, die begeistert sind, dass es füh- shington schon 1994 unter Präsident Clin- setzung die Meinungsführerschaft der Kon- rende deutsche Politiker gibt, die ihre Mei- ton die verstärkte Rolle der USA in der tinentaleuropäer übernommen und, an- nung klar ausdrücken, auch wenn sie im Nato forciert. Auch die Nato-Kampfhand- scheinend, zum Erfolg gebracht haben. Gegensatz zur offiziellen Haltung Ameri- lungen in Bosnien und im Kosovo können Bush muss im Sicherheitsrat der Vereinten kas steht. als Probeeinsätze Amerikas in seiner Nationen einlenken, um seine Kampagne Für ein solches Deutschland haben die Selbstdarstellung als „europäische“ Vor- gegen die Massenvernichtungswaffen des Amerikaner im Zweiten Weltkrieg ge- macht gesehen werden. Schließlich findet Irak fortsetzen zu können. Es sieht so aus, kämpft, haben über den Marshall-Plan Mil- die Erweiterung der Nato ebenfalls unter als sei es gelungen, eingehende Waffen- lionen Dollar gezahlt, haben sich Mühe ge- amerikanischer Führung statt. inspektionen zu erzwingen, ehe es zu den geben, den Deutschen einen freiheitlichen So gesehen ist Kanzler Schröders Al- schon geplanten einseitigen Kampfhand- und friedlichen Weg zu ermöglichen. leingang – der inzwischen von Frankreich lungen kommt. „Wir gehen unseren deutschen Weg“, weitergeführt wird – von bahnbrechender Doch Frankreichs Vorstoß auf dem di- hieß es bei Schröder. Wenn sich dieser Weg Wichtigkeit oder zumindest doch der Vor- plomatischen Parkett ist ohne Schröders durch jene moralische Autorität auszeich- bote eines Umbruchs. Auch mit seiner klärende Worte im August und ohne die net, die er bei Willy Brandt und Heinrich hauchdünnen Mehrheit im Deutschen breite Zustimmung seiner Landsleute un- Böll ausstrahlte, dann bin ich glücklich. Bundestag sollte er Kurs halten. Vielleicht denkbar. Vermutlich gehöre ich alter Ami Zugegeben, es gibt noch einen anderen können wir letztendlich etwas von den Grund, warum ich das deutsche „Ohne Deutschen lernen, wie Amerikaner es so uns“ so hoch schätze: Seit dem Zweiten gern im 19. Jahrhundert taten, als Deutsch- Binder, 71, war langjähriger Deutschland-Korrespondent der „New York Times“. Weltkrieg wussten die Amerikaner, dass land noch das Land der Dichter und Den- * Am 9. Oktober 2001 in Washington. sie die Nummer eins auf der Welt sind, er- ker hieß. ™ Ausland

Ahmed Tibi bereits als das „extremistischs- Bill Clinton und Ehud Barak Ende 2000 ISRAEL te in der Geschichte Israels“ geißelte? stehen geblieben waren. Je krasser der neue Regierungszuschnitt Der General a. D., der sich in seinem zi- Ausbruch der ausfällt, desto bequemer wird die Lage da- vilen Amt im jüdisch-arabischen Haifa zum gegen für die abspenstige Arbeitspartei. Versöhnungspolitiker wandelte, führt in Denn nach dem Schmusekurs mit Scha- der Gunst des frustrierten Parteivolks der- Lämmer ron, „der uns fast die Identität gekostet zeit vor Ben-Elieser, dem das Aufmucken hat“, wie Spitzengenossen kritisieren, müs- gegen Scharon immerhin einen Sympa- Nach dem Rückzug aus der sen die frustrierten Erben Jizchak Rabins thiebonus verschaffte. Der andere Heraus- Regierung knüpft die Arbeitspartei wieder Profil gewinnen. Selbst der lange forderer Chaim Ramon, Minister in der abgetauchte Jossi Beilin, einer der Archi- Regierung Barak, liegt derzeit abgeschla- an ihren alten Friedenskurs an. tekten der Friedensverträge, sieht die Par- gen auf Platz drei, obwohl er mit seiner Doch Scharon will weiterregieren – tei wieder auf dem „Rückweg zur Macht“. heftigen Kritik („Wir sind doch nur noch notfalls mit der extremen Rechten. Bekommt Israel nun endlich eine starke die Schafe auf Scharons Farm“) mit zum Bruch der Koalition beigetra- is zum Schluss hatte Ari- gen hatte. el Scharon nicht ge- Doch egal, welcher Kandi- Bglaubt, dass die Linken dat das Rennen macht, alle drei tatsächlich den Mumm auf- stehen vor dem gleichen Pro- bringen würden zu gehen. So blem: Links ist in Israel derzeit sicher fühlte sich der Premier, nicht in. Nach wie vor bevor- dass er mitten im Koalitions- zugt die Mehrheit eine große knatsch launig über seinen Ver- Koalition und, solange der Ter- teidigungsminister Benjamin ror anhält, auch einen harten Ben-Elieser herzog: „Ich erin- Kurs gegen die Palästinenser. HERZEL SHAPIRA / AP HERZEL SHAPIRA nere mich noch an unsere ge- / AP 77 ZOOM So mögen Ben-Elieser und meinsame Armeezeit. Damals Ex-Partner Ben-Elieser, Scharon, Mizna: Grimmige Wut seine Genossen nun versuchen, war er dünn, sehr nett – und er die linke Stammklientel wieder hatte etwas weniger Geduld mit Arabern Opposition, die den tödlichen Stillstand im zu mobilisieren, wie sie es auch mit ihrer als heute.“ Konflikt mit den Palästinensern aufbricht? Kritik an den üppigen Pfründen für die Die Häme ist längst grimmiger Wut ge- Eifrig sind die Genossen bemüht, sich nun Siedler taten – Auslöser für den Koali- wichen. Seit Ben-Elieser, Chef der Arbeits- erneut als Partei des Friedensprozesses tionsbruch. „Doch die Wahl“, warnt der partei, vergangene Woche im Streit über zu profilieren. „Israel braucht dringend Politologe Efraim Inbar, „wird in der Mit- den Haushalt tatsächlich den Bettel hin- wieder einen diplomatischen Horizont“, te gewonnen.“ Dafür sehen die Chancen warf und mit seinen Ministern aus der Ko- redete Verteidigungsminister Ben-Elieser der Arbeitspartei düster aus. Wären mor- alition der Nationalen Einheit auszog, dem Generalstab ins Gewissen, von dem er gen Wahlen, so jüngste Umfragen, würde kämpft Scharon um das Überleben seiner sich am Freitag verabschiedete. sie erhebliche Stimmen einbüßen. Scha- Rest-Regierung. Nach nur 20 Monaten Sein parteiinterner Herausforderer Am- rons Likud wäre der klare Gewinner. Amtszeit drohen ihm Neuwahlen – und ram Mizna geht noch weiter. Am Freitag „Wir brauchen eine alternative Strategie, das mitten im anhaltenden Konflikt mit den sandte der Bürgermeister von Haifa erste die uns durch ein Ende unserer Herrschaft Palästinensern und einer schweren Wirt- Signale an die Palästinenser, indem er sich über die Palästinenser zu Sicherheit und schafts- und Finanzkrise. für die „rasche Wiederaufnahme von Ver- Frieden führt“, warnt auch Ex-Premier Ba- Zwar könnte der gewiefte Taktiker wei- handlungen ohne Vorbedingungen“ aus- rak. Doch eine echte Chance dafür sieht er terregieren, wenn er das Misstrauensvotum sprach. „Mit dem Abbruch der Gespräche nur, „wenn es wieder einen Partner für an diesem Montag übersteht und sich die ließ die bisherige Regierung zu, dass Ex- den Frieden gibt“. Der Appetit auf diese Unterstützung einzelner Abgeordneter tremisten den Nahen Osten kontrollieren“, Alternative könnte deutlich wachsen, je oder gar der Ultra-Rechten sichert. Doch so Mizna, der sich auf dem Parteitag am mehr prominente Extremisten Scharon um wie lange kann es sich Israel tatsächlich 19. November neben Ben-Elieser um die seinen Kabinettstisch sammelt. Wenn etwa leisten, von einer Minderheitsregierung Spitzenkandidatur seiner Partei für die neben Effi Eitam von den Nationalreligiö- oder einem Kabinett geführt zu werden, nächsten Wahlen bewirbt. Mizna will im sen, der die Palästinenser am liebsten nach das der arabische Knesset-Abgeordnete Friedensprozess dort wieder anfangen, wo Jordanien vertreiben will, auch Scharfma- cher Awigdor Lieberman Platz nähme. Zu Sicherheitskontrolle in Hebron: „Israel braucht einen diplomatischen Horizont“ dessen anti-arabischen Gedankenspielen gehört es etwa, den Assuan-Staudamm zu bombardieren. Liebermans ultranationa- ler Block „Nationale Einheit/Israel unser Haus“ hält die sieben Stimmen, die Scha- ron zur Mehrheit verhelfen würden. Allein dass Scharon dem Ex-Armeechef Schaul Mofaz, einem ausgewiesenen Hard- liner, das Verteidigungsministerium über- tragen will, versetzt die Palästinenser in Angst und Schrecken. Ein solches Bünd- nis, so das Kalkül der Linken, könnte nicht nur internationale Proteste auslösen, son- dern Scharon vor allem seine landesweite Popularität kosten. Zu der hatte ihm vor allem die Kumpanei der Arbeitspartei ver-

HAZEM / AFP BADER / DPA holfen. Annette Großbongardt Werbeseite

Werbeseite Ausland JUNG / IFA Altstadt von Sanaa: Vom Touristenziel zum Hot Spot im Krieg gegen den Terror

JEMEN Die Weihrauch-Connection Heimat der legendären Königin von Saba, kühner Festungen und spezieller Düfte: Das „Glückliche Arabien“ des Altertums ist zu einem bedrohlichen Rückzugsgebiet des Terrornetzwerks al-Qaida verkommen. Steuern Bin Ladens Anhänger von hier Anschläge gegen den Westen? Von Erich Follath

ie britische Botschaft in der jemeni- oder Pistolen pro Mann. Hier ist der Ge- ker für ausgeschlossen, ein Crew-Mitglied tischen Hauptstadt Sanaa ist immer nuss einer Droge namens Kat legal und so berichtete von einem kleinen Boot, das die Dnoch von Kugeln durchsiebt – Fol- weit verbreitet, dass praktisch die gesamte „Limburg“ absichtlich und mit hoher Ge- gen einer wilden Schießerei vor einem männliche Bevölkerung einschließlich Po- schwindigkeit gerammt habe. „Es kann nur Monat. Über den Tathergang gibt es un- litiker und Polizisten jeden Nachmittag ab ein Unglück gewesen sein, alles andere sind terschiedliche Berichte. 14 Uhr berauscht ist. Hier werden Grana- Unterstellungen, die unser Land verleum- Nach Auskunft der Regierung des Je- ten auf einem legalen Waffenmarkt ver- den sollen“, erklärten dagegen jemeniti- men haben zwei Söhne des islamistischen kauft. Hier häufen sich „ganz normale Un- sche Behörden, wiederholten das tagelang Oppositionsführers Scheich Abdullah al- fälle“ ganz bedenklich. hartnäckig. Ahmar aus Ärger über eine abgesperrte Im April explodierte in der Nähe der Seit Mitte Oktober sind sie widerlegt: Straße die Waffen gezogen und drei Poli- US-Botschaft von Sanaa eine Bombe; kei- Französische und amerikanische Fachleu- zisten sowie einen Passanten erschossen. ne Verletzten, nur Sachschaden, von Tä- te vermaßen das Wrack und stellten mittels Nach Auskunft Ahmars haben die staat- tern keine Spur. Im August detonierte ein an Deck gefundener Teile des Motorboots lichen Ordnungshüter während einer klei- Sprengsatz offensichtlich vorzeitig und fest, dass Terroristen einen Anschlag ver- nen Meinungsverschiedenheit das Feuer tötete zwei gesuchte Terroristen. Im Sep- übt hatten. Déjà vu: Ganz ähnlich waren eröffnet, seine Sprösslinge seien gezwun- tember fand die Polizei 295 Kilogramm vor knapp zwei Jahren die Täter im je- gen gewesen, sich zu wehren: „Es war ein C-4-Sprengstoff, versteckt in 14 Kisten von menitischen Hafen Aden beim Anschlag ganz normaler Unfall.“ Westliche Geheim- Granatäpfeln. Und am 6. Oktober, eine auf das amerikanische Kriegsschiff USS dienstkreise glauben keine dieser Versio- Woche nach der Schießerei vor der briti- „Cole“ vorgegangen – auch damals hatte nen – sie halten einen Terrorangriff auf die schen Botschaft, stand drei Seemeilen vor die Regierung in Sanaa zunächst geleugnet, Botschaft für wahrscheinlich. Sie sind ent- der jemenitischen Hafenstadt Mukalla dass Terroristen verantwortlich waren. setzt über die Nähe der Täter zur Füh- der französische Öltanker „Limburg“ in 17 amerikanische Soldaten kamen ums rungsspitze des Staates. Und empört dar- Flammen. Ein bulgarischer Seemann starb, Leben, die Haupttäter sind bis heute über, dass es nur freundliche Ermahnungen andere Besatzungsmitglieder konnten nicht gefasst. Aber alle Spuren führen zum für die Schuldigen gab. sich mit tollkühnen Sprüngen von der Re- Qaida-Netzwerk. Willkommen in der arabischen Republik ling retten. Im pakistanischen Karatschi schnappten Jemen, einem Land mit Zuständen, von In dem modernen Schiff klaffte ein gro- sich jetzt im September die Qaida-Jäger denen selbst Texaner nur träumen kön- ßes Loch, 90000 Barrel Öl traten aus und einen dicken Fisch: Sie verhafteten den Je- nen! Hier besitzen 18 Millionen Einwohner verschmutzten Fischgründe in einem Um- meniten Ramzi Binalshibh, 30, einen der 50 Millionen Schusswaffen; wenn man kreis von 500 Quadratkilometern. Kapitän mutmaßlichen Drahtzieher der Attentate Kleinkinder und Frauen als Besitzer ab- Hubert Ardillon hielt einen technischen auf World Trade Center und Pentagon; zieht, heißt das: etwa vier Kalaschnikows Defekt in seinem erst zwei Jahre alten Tan- dazu noch sieben Landsleute. Und auch in

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als sicher gilt und der darauf hindeutet, Medina Riad VER. ARAB. dass die jüngsten Anschläge koordiniert EMIRATE OMAN sind: „Wir gratulieren der islamischen Na- Weihrauchstraße tion zu den wagemutigen und heldenhaften Mekka (historische JEMEN Operationen des Heiligen Kriegs, die un- Handelsroute) sere tapferen Söhne im Jemen gegen den SAUDI-ARABIEN Bevölkerung 18 Mio. christlichen Öltanker und in Kuweit gegen Lebenserwartung die amerikanischen Besatzungs- und Ag- gressionskräfte ausgeführt haben.“ Männer 56 Jahre Alles Missverständnisse – meinen Je- Frauen 57 Jahre mens Behörden. „Sie müssen die Abwie- Analphabetenrate gelungsversuche verstehen“, sagt auf der t Marib a u Männer 32% Dachterrasse des „Golden Dar“-Restau- H a d r a m rants in der Altstadt von Sanaa ein ameri- Sanaa Frauen 75% ERITREA kanischer „Berater“, während die bis auf JEMEN Mukalla Bruttosozialprodukt die Augen schwarz verschleierte Bedie- Taiss pro Kopf 370 US$ B nung Kardamom-Tee reicht und sich a b zurückzieht, als auch die Wasserpfeifen a Aden l-M a serviert sind. „Dieses Land, ohnehin eines nd der zehn ärmsten der Welt, steht vor dem ÄTHIOPIEN ab 300 km wirtschaftlichen Kollaps, wenn die Versi- SOMALIA cherungsgesellschaften wie angedroht ihre Risiko-Gebühren für hier anlegende Öl- tanker verdreifachen.“ den USA wurden Fahnder fündig: Sie nah- al-Sandani angefreundet, der gemeinsam Über 90 Prozent der jemenitischen Ex- men fünf Jemeniten mit amerikanischen mit ihm Mudschahidin, „Gotteskämpfer“, porterlöse stammen aus Sanaas spärlich Pässen fest, die zu einer Qaida-Zelle ge- im Jemen rekrutierte. Bis zu 60000 zogen sprudelndem Erdöl. Der US-Experte glaubt, hören sollen. Auf der Basis in Guantanamo von Sanaa aus in den Krieg – und kamen dass das Attentat auf den französischen Bay, wo US-Spezialisten besonders „viel- später mehrheitlich zurück, viele hoch mo- Tanker Ausdruck einer neuen Qaida-Stra- versprechende“ Terrorverdächtige verhö- tiviert für den „Heiligen Krieg“ gegen alle tegie ist, die sich vor allem gegen den Tou- ren, sollen schätzungsweise 70 Jemeniten „Gottlosen“. rismus und andere „weiche“ Wirtschafts- einsitzen. 1998 machte der Qaida-Chef Jemens ziele richtet. Er erwartet weitere Attacken Immer wieder Jemen: Der arabische Hauptstadt angeblich sogar kurzfristig zu gegen Öltanker an der Meerenge von Staat ist „an die Spitze der Hot Spots beim seinem Stützpunkt. Die engen Beziehun- Hormus, durch die fast ein Viertel aller Krieg gegen den Terror gerückt“ („Inter- gen blieben offensichtlich bestehen. Bin Welt-Erdölexporte transportiert werden. national Herald Tribune“). US-Präsident Laden forderte wegen der US-Bombardie- „Braucht man militärische Kontrollen für George W. Bush hat in einem Geheimauf- rungen in Afghanistan einige seiner Kämp- jeden dieser Supertanker“, sagt er, „dann trag 800 Mann, die Hälfte von ihnen gehört fer – und seine 22-jährige jemenitische Ehe- wird der Ölpreis sprunghaft steigen, viel- Sonderkommandos an, im nahen Dschi- frau – dazu auf, in den Hadramaut zu leicht sogar die Weltwirtschaft ruinieren.“ buti an der afrikanischen Küste zusammen- gezogen. Die meisten sollen permanent auf dem speziell zur Terroristenjagd ausgerüs- teten Landungsschiff „Belleau Wood“ sta- tioniert bleiben, das jetzt ausgelaufen ist, um in den Gewässern vor der jemeniti- schen Küste zu patrouillieren – als Ein- satzzentrale für Kommandounternehmen. Es gilt die höchste Alarmstufe. Kann es Zufall sein, dass bei den Atten- taten auf die „Cole“ und auf Bali die glei- che Art des C-4-Sprengstoffs benutzt wur- de, wie man ihn kistenweise in Sanaa fand? Was ist mit den von Geheimdiensten mit- AP (L.); AFP / DPA (R.) AP (L.); AFP / DPA geschnittenen Telefonprotokollen, die be- AHMED REZA / BRUCE MULLER weisen, dass der indonesische Prediger und Jemenit Bin Laden, Sohn Osama, französischer Tanker „Limburg“*: Fluchtpunkt Hadramaut? bekennende Bin-Laden-Fan Abu Bakar Ba’asyir – seine Eltern stammen aus dem fliehen. Geheimdienstkreise halten es für Der Blick von der Altstadt-Terrasse geht Jemen – noch in den Tagen vor dem Dis- möglich, dass er ihnen in einer Nacht-und- in enge Gässchen mit braunen, kunstvoll co-Terror seine Freunde in Sanaa angeru- Nebel-Operation ins dortige Stammes- verzierten Häusern, hinüber in das Laby- fen hat? Und wie steht es mit den Wurzeln gebiet gefolgt ist. Vermutungen eines Infor- rinth der Suks und Karawansereien. Hin- von „OBL“ selbst, wie der Qaida-Chef im manten des SPIEGEL (10/2002) in diese ter Fenstern von Alabaster und Buntglas Agentenjargon heißt? Richtung wurden jetzt in der US-Presse erleuchten Öllampen die einsetzende Dun- Sein Vater Mohammed Bin Laden wur- aus anderer Quelle genährt: Der Jemen kelheit und werfen geheimnisvolle Schat- de in der Jemen-Provinz Hadramaut ge- sei „sein Rückzugsland, die Alternative zu ten. In der Luft liegt ein Hauch von Weih- boren, der Hochebene nahe der saudi-ara- Pakistan“. rauch. Nirgendwo hat der Orient so viel bischen Grenze. Bin Laden hat sich schon Der Fernsehsender al-Dschasira veröf- von Tausendundeiner Nacht wie in Sanaa, in den Zeiten des Kampfs gegen die so- fentlichte Mitte Oktober einen mit „Osama wjetischen Besatzer Afghanistans mit dem Bin Laden“ unterschriebenen Bekenner- * Nach dem Sprengstoffanschlag am 6. Oktober vor der jemenitischen Islamisten Abd al-Madschid brief, dessen Ursprung aus Qaida-Kreisen Hafenstadt Mukalla.

der spiegel 45/2002 141 der Stadt, die der Legende nach Die Königin von Saba soll hier Noahs Sohn Sem gegründet hat nach den Worten der Bibel un- und in der schon zu Lebzeiten terwegs gewesen sein – deutsche des Propheten Mohammed eine Archäologen suchen jetzt nach Moschee erbaut wurde: ein ar- ihren Spuren. Die berühmte chitektonisches Juwel, von den Weihrauchstraße verlief östlich Vereinten Nationen zum „Welt- von hier, machte den Jemen im kulturerbe“ erhoben. Lange Zeit Altertum durch ihre bis nach ein Touristenziel – bis Entfüh- Ägypten und Rom transportier- rungen und Terror das Jemen- ten Gewürze und Gerüche wohl- Bild zu prägen begannen. habend. „Arabia felix“, das Nach den Anschlägen vom 11. „Glückliche Arabien“, nannten September hatte Staatspräsident antike Geschichtsschreiber die Ali Abdullah Salih, 60, ähnlich Region. wie sein pakistanischer Kollege Ein Reich in den heutigen Pervez Musharraf nur die Wahl, Grenzen des Jemen hat es vor von den USA auf die Liste der 1990 in der Geschichte nie gege- Achsenstaaten „des Bösen“ ge- ben – und eine Vereinigung un- setzt zu werden oder zumindest gleicherer Brüder wohl selten. formal seine Bereitschaft zur Der religiös konservative, lange Bekämpfung radikaler Kräfte zu Zeit von Despoten regierte Nord- erklären. Der frühere Armee- jemen erlangte nach Abzug der stabschef, der seine Ausbildung Osmanen nach dem Ersten Welt- in einer Koranschule begann, krieg die Unabhängigkeit; 1962 entschied sich bei einem Besuch wurde das Fundamentalisten- im Weißen Haus im November reich durch einen Militärputsch 2001 in Washington für Koopera- in einen siebenjährigen Bürger- tion mit den USA. krieg gestürzt, bevor die Repu-

Die Amerikaner bildeten je- / AFP MOGHRABI / DPA RABIH blik ausgerufen wurde. Primär menitische Anti-Terror-Einheiten Waffenhändler, Kinder in Dschihana: Freier Markt für Granaten aber blieb der Nordjemen eine (geführt von Salihs Sohn Ahmed) Stammesgesellschaft. aus und stockten ihre Zahlungen an Sanaa halten, wenngleich beim Anti-Terror-Krieg Der Südjemen war bis 1967 britische Ko- massiv auf. Die Staatsbürger des Jemen noch ein weiter gemeinsamer Weg vor uns lonie, Aden („das Paradies“) eine der pro- erfuhren kaum etwas davon, und auch die liegt.“ Dann zieht er sich wieder zu Ge- sperierendsten Hafenstädte der Welt. Nach islamistische Opposition hielt der Präsi- sprächen mit Botschafter Edmund Hull der Unabhängigkeit setzten sich bald mar- dent auf Distanz: Salih möchte nicht als zurück, der vor seiner Berufung nach xistische Dogmatiker durch, die „Frei- Befehlsempfänger der Amerikaner er- Sanaa die Anti-Terror-Abteilung des Wa- heitskämpfern“ aller Art – auch Baader- scheinen – er sieht sich gleich mehreren shingtoner Außenministeriums leitete. Al- Meinhof-Terroristen – den Aufbau von Fronten gegenüber: Die Stammesfürsten les tuschelt von einer großen Aktion, die Ausbildungslagern erlaubten. Der Zusam- des Nordens und Ostens verbitten sich tra- demnächst gegen die „Weihrauch-Connec- menbruch der Sowjetunion führte bald ditionell jede Einmischung; die Islamisten tion“ erfolgen soll. auch in dem von Moskau alimentierten von der Oppositionspartei Islah könnten Die Straße von Sanaa nach Aden führt Südjemen zum Offenbarungseid. bei den nächsten Parlamentswahlen im nahe Taiss über einen Ort, der al-Qaida Die Einheit kam für die Jemeniten Frühjahr 2003 erheblich an Stimmen ge- heißt und in dem die Weltbank ein Ent- knapp ein halbes Jahr früher als für die winnen; die Sozialisten aus dem noch vor Deutschen. Der wesentlich bevölkerungs- 13 Jahren unabhängigen marxistischen reichere Norden (9,6 Millionen gegenüber Südjemen schreien Verrat wegen der wirt- 2,3 Millionen im Süden) bestimmte, wo es schaftlichen Vernachlässigung Adens und langging; die Südler wurden abgewickelt. kämpfen im Untergrund für eine neue Nordjemens Präsident, damals schon Ali Trennung. Abdullah Salih, wurde zum Staatschef der Zerrieben zwischen den Ewiggestrigen neuen Republik, Sanaa die Hauptstadt, die und den Ewigvorgestrigen, bedrängt vom islamische Rechtsordnung, Scharia, Gesetz. Westen, weiß Salih möglicherweise selbst Immerhin entstanden in der neuen Repu- nicht genau, wo seine Loyalitäten liegen. blik Dutzende Parteien, es gab, anders als Sympathisanten der Terroristen gibt es in fast allen anderen arabischen Staaten, nach Auffassung westlicher Geheimdienste faire Wahlen, über die eine relativ freie

in höchsten Regierungskreisen, sogar in HOUSE / THE WHITE ERIC DRAPER Presse kritisch berichtete. der Präsidentenfamilie: Salihs Halbbruder Staatschef Salih, US-Präsident Bush* 1994 probten Rebellen in Aden noch ein- General Ali Muhsin al-Ahmar werden Ver- „Bisher Wort gehalten“ mal den Aufstand. Er wurde blutig nieder- bindungen zur Qaida und zur einheimi- geschlagen. Kampfbomber aus Sanaa zer- schen „Islamischen Armee Aden-Abjan“ wicklungsprojekt durchführt. Sie geht störten Industrieanlagen und legten auch nachgesagt. durch wildes Hochland hinunter zu ei- die letzte Bierfabrik des Landes in Schutt Die Amerikaner geben sich zufrieden ner heißen Küste – eine landschaftlich auf- und Asche. Die Stadt östlich vom „Tor der mit Sanaas Kooperationsbereitschaft – we- regende Strecke. Und gleichsam auch Tränen“ („Bab al-Mandab“), der Meerenge nigstens nach außen hin. Anti-Terror-Spe- ein Weg durch Jemens dramatische Ge- zwischen dem Golf von Aden und dem Ro- zialist Frances Tailor aus dem State De- schichte. ten Meer, versank in Bedeutungslosigkeit partment sagte während seines Jemen-Be- – weit jenseits von Eden. suchs Mitte Oktober: „Der Präsident und * Am 27. November 2001 mit Sicherheitsberaterin Con- Und doch haben sich die strengen Sit- seine Berater haben bisher ihr Wort ge- doleezza Rice im Weißen Haus. tenwächter des Nordens in Aden nicht ganz

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Werbeseite Ausland

Jeder Jemenit scheint ein Connaisseur. Begutachtet die grünen Blätter auf den Märkten. Kaut sie nach dem Mittag im Freundeskreis, wendet sie genüsslich im Mund, saugt sie aus. Und schiebt, wenn die euphorisierende Wirkung nachzulas- sen beginnt, neues Material nach, bis der Zustand über eine Phase leichter Wirrnis in einen dämmrigen Halbschlaf mündet. Der Konsum der milden Droge steht in Saudi-Arabien unter Strafe. Im Jemen aber ist gegen Kat kein Kraut gewachsen, ob- wohl sein Anbau das Land wirtschaftlich ausblutet; selbst im Parlament gibt es einen Kat-Raum, von einem Minister zu einer der allnachmittäglichen Tagungen im kleinsten Kreise geladen zu sein verschafft höchstes Prestige. Eine Kat-Sitzung mit Stammesältes- ten aber ist noch etwas anderes: eine Ein-

KRAUSE / LAIF KRAUSE ladung, die man nicht ausschlagen darf. Sie Dorfbewohner bei Schießübungen: Verhältnisse, von denen Texaner nur träumen tragen silberverzierte Krummdolche am Gürtel, sie halten die Kalaschnikow in durchsetzen können. Die Sünde ist in die wieder auf ihr Kriegsschiff vor der Küste Reichweite. Sie sind Muster an Gast- Stadt zurückgekehrt, dorthin, wo sich nach geflogen. Jemens GSG-9 kann erste Erfol- freundschaft. Allerdings sind sie auch Welt- der Legende Gut und Böse schon in bibli- ge vermelden: Angeblich sind inzwischen meister im Kidnapping. Mehr als 200 Aus- schen Zeiten trafen: Hier soll Kain aus Ei- 89 Qaida-Verdächtige gefasst. länder wurden in den letzten Jahren ins fersucht seinen Bruder Abel erschlagen ha- Ins Land der wilden Stämme im Nor- zerklüftete Stammesgebiet verschleppt, ben. Heute haben örtliche Schlägereien den und Osten des Landes haben sich die Touristen, Geschäftsleute, Diplomaten. eher etwas mit somalischen Prostituierten Spezialisten allerdings noch nicht gewagt – Erst im letzten Jahr erwischte es den gera- zu tun. Und mit dem Alkohol, der in Eta- dort erlitt die reguläre Armee erst im De- de neu angekommenen Wirtschaftsattaché blissements wie dem „Sailors Club“ wieder zember eine schreckliche Niederlage. der deutschen Botschaft. Knapp drei Mo- frei ausgeschenkt wird. Sanaas Militärspitze hatte einen Tipp be- nate war er in der Hand seiner Entführer; Um dringend benötigte Devisen ins kommen, dass sich zwei Qaida-Terroristen die meisten anderen Geiseln kamen gegen Land zu locken, toleriert die Regierung so- in der Nähe des Dorfes Husun versteckt angebliche Zugeständnisse der Regierung gar Discos und Bauchtanz. Die Besucher in hielten. Doch als sie ankamen, waren die früher frei. den neu eröffneten Hotels „Sheraton“ und Gesuchten schon verschwunden, offen- Mit jeder Biegung des Wegs in ein neu- „Continental“ stammen vorwiegend aus sichtlich gewarnt durch einen Spitzel in es zerklüftetes Hochtal, mit jeder Abzwei- Saudi-Arabien – und aus Sanaa. Die rei- gung in eines der abenteuer- chen Jemeniten fliehen vor den Zwangs- lich auf Bergkuppen geklebten vorschriften ihrer strengen Hauptstadt. Ge- Dörfer wird deutlicher, warum legentlich sitzen sie an den Hotelbars in amerikanische Militärs den der Nähe ausländischer Herren, die auch Jemen als „das andere Afgha- ganz für sich bleiben wollen – muskulösen nistan“ fürchten. Parteizuge- Amerikanern, ihren potenziellen Befrei- hörigkeit zählt hier nichts, ern vom Terror der Qaida oder potenziel- Clan-Zusammenhalt alles. „Der len Besatzern, je nach Sicht der Dinge. Präsident gehört wie der Op- Die Amerikaner erzählen von Vorfällen, positionsführer zum Stamm die auch die kühnsten einheimischen Jour- der Haschid“, erklärt einer der nalisten nicht zu berichten wagten, so sie Dorfältesten. „Aber der Oppo- davon erführen. Dass der gefasste Terrorist sitionsführer steht in der Stam- Binalshibh wie ein Wasserfall erzählt und meshierarchie höher.“ hohe Herren in Sanaa als Terror-Planer Vielleicht ist auch das ein

bloßstellt – unter anderem den früheren / LAIF GARTUNG Grund dafür, warum der Ame- Bin-Laden-Intimus Sandani, der als Vize- Jemeniten beim Kat-Kauen: Jeden Tag berauscht rika-Partner Salih gegenüber chef der islamistischen Oppositionspartei dem Islamisten-Chef Ahmar immer noch im Parlament sitzt. Dass der den Sicherheitskräften. Die Dörfler zeig- immer mal wieder einknickt. Jemenitische Präsidentensohn knapp einem Angriff mit ten, auf welcher Seite sie standen. Bei dem Terroristen werden grundsätzlich nicht aus- Stinger-Raketen entgangen ist. Und dass Feuergefecht mit den Stammeskriegern geliefert. Eine von den Islamisten ange- im letzten Monat auch auf den Helikopter verloren 18 Soldaten ihr Leben. regte Kommission darf alle als Mittäter am des Präsidenten sowie das Haus des Ge- Der undurchdringliche Bergjemen be- Terroranschlag gegen die USS „Cole“ Ver- heimdienstchefs geschossen wurde. ginnt schon 50 Kilometer nördlich von hafteten „betreuen“. Scheich Hamud al- Washington achtet in Absprache mit der Sanaa. Solange die Straße nicht über 2500 Hitar ist ihr Vorsitzender und hat gerade in Regierung in Sanaa darauf, dass nie mehr Meter führt, bedecken leuchtend grüne, Sanaa bekannt gegeben, es sei in Einzel- als ein gutes Dutzend der amerikanischen terrassenförmig angelegte Felder die steilen gesprächen mit den „Fehlgeleiteten“ ge- Anti-Terror-Spezialisten in Aden auftau- Abhänge. Früher gab es hier Kaffeepflan- lungen, sie wieder auf den richtigen Weg chen. Sie bilden in einwöchigen Kursen zen, doch heute wird fast nur noch Catha zu bringen. Die Täter wollten künftig alle jemenitische Kommandos aus und werden edulis angebaut: der Strauch, der den Kat- Gesetze beachten. Ihrer Freilassung stün- danach im Austausch gegen frische Kräfte Rausch liefert. de bald nichts mehr im Wege. ™

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Werbeseite Putztrupp am Platz des Himmlischen Friedens Top-Kader ohne Zukunftsvisionen

Wen dagegen konnte seine Karriere retten. Von Zukunftsvisionen dieser beiden Top- Kader ist nichts bekannt. Als sicher gilt nur: An den Wirtschaftsreformen will kei- ner rütteln, und mit Demokratie nach westlichem Vorbild haben alle nichts im Sinn. Um den wegen Korruption und Machtmissbrauch angeschlagenen Ruf der Partei aufzupolieren, will der kommende Parteichef Hu die „Auslese der Kader“ verbessern, Wen hat den Umweltschutz auf seine Fahnen geschrieben.

GETTY IMAGES Beide Nachrücker in der Machtpagode repräsentieren eine Partei, deren Herr- CHINA schaft im merkwürdigen Widerspruch zum modernen China steht. Die KP regiert ihr Land wie einen geheimen Revolutionszir- Mit eiserner kel: mit eiserner Faust und bis zur Arro- ganz verschwiegen. Der nach 13 Jahren Amtszeit scheidende Jiang hat immerhin Faust erkannt, dass die 66 Millionen Mitglieder in einer Identitätskrise stecken. Zu groß ist Geordneter Führungswechsel der ideologische Spagat, den sie täglich zu statt Putsch: Der 16. meistern haben: zwischen beinhartem Ka- Parteitag der KP bestallt neue pitalismus mit Massenentlassungen und

GREG BAKER / AP dem „Sozialismus chinesischer Prägung“. Führer, aber verordnet KP-Junior Hu, Premier Zhu, Präsident Jiang Jiangs Allheilmittel ist sein Dogma von keine demokratischen Reformen. „Denken vereinheitlichen“ den „Drei Vertretungen“, das die 2120 De- legierten auf dem Parteitag ins Statut auf- ünktlich um 18.10 Uhr schreitet er ter als Präsident, Premier und Parlaments- nehmen sollen. Danach vertritt die KP unter dem Flutlicht der TV-Kameras chef antreten. fortan „die fortschrittlichen Produktiv- Pan zwei riesigen roten Vasen vorbei Zum ersten Mal in der Volksrepublik kräfte, die fortschrittliche Kultur und die in die Große Halle des Volkes: Gefolgt von wird sich damit eine Führung ohne Sturz, Interessen des Volkes“. seiner gebrechlichen Frau, Ministern und Putsch oder Blutvergießen verabschieden Im Klartext heißt das: Chinas Kommu- hohen Beamten kehrt Staats- und Partei- – ohne Intrigen und Machtkämpfe ging es nisten fühlen sich nicht mehr nur als Avant- chef Jiang Zemin, 76, von seiner USA- und freilich auch dieses Mal nicht ab: Jiang garde der Arbeiter und Bauern, sondern Mexikoreise zurück. habe bis in den Herbst versucht, sich an die auch als Repräsentanten von Mittelständ- Ihn erwarten, brav am Rande eines ro- Macht zu klammern, heißt es. Vermutlich lern bis Millionären. Die einst als „Aus- ten Teppichs aufgereiht, der Premierminis- bleibt er weiterhin Chef der einflussrei- beuter“ verteufelten Unternehmer dürfen ter, der Vizepräsident und andere Mitglie- chen Militärkommission. künftig in die Partei eintreten. der des Politbüros. Sie schütteln seine In den illustren Kreis der mächtigsten Um ihre Aufgabe ist die neue Garde Hände, murmeln warme Worte. Dann ent- Politiker Chinas sollen Funktionäre in den nicht zu beneiden. Trotz steigender Wachs- schwindet der oberste Mandarin Chinas, Fünfzigern und Sechzigern aufrücken – die tumsraten, satter Devisenreserven und ei- Gattin und Genossen lässt er hinter sich. gelten in Peking als jung und unverbraucht. ner Inflationsrate, die gegen null tendiert, Dieses Ritual zelebrieren Chinas Spit- Als künftiger Parteichef wird Vizepräsident wird die Kluft zwischen Arm und Reich zenkommunisten stets, wenn einer der Hu Jintao, 59, gehandelt. Für die meisten immer größer. Die Mitgliedschaft Chinas in Ihren von einer Visite aus dem Ausland Chinesen ist er ein unbeschriebenes Blatt. der Welthandelsorganisation allein wird in wiederkommt. Doch für KP-Chef Jiang Hu, der an der Pekinger Eliteuniversität den kommenden Jahren vermutlich 20 Mil- war das Abschreiten der Promi-Garde am Qinghua Wasserbau studierte, begann sei- lionen Bauern die Existenz rauben, wenn vorigen Dienstagabend diesmal auch ein ne Laufbahn als Schützling eines links- ausländische Konkurrenz auf den Markt Abschied. konservativen Funktionärs. In den Augen drängt. Schon jetzt schätzen Experten die Denn das Reich der 1,26 Milliarden steht der Partei bewährte er sich in Tibet: Dort Zahl der unterbeschäftigten Landarbeiter vor einer historischen Wende. Der 16. Par- ließ er als KP-Chef 1989 das Kriegsrecht auf 100 Millionen. teitag, der an diesem Freitag in Peking be- ausrufen und in Lhasa auf Demonstranten Die maroden Staatsindustrien müssen in ginnt, wird den Übergang von der so ge- schießen. Danach tauchte Hu wieder in den kommenden Jahren erneut Millionen nannten dritten Generation – die auf der grauen Masse der Genossen unter. Arbeiter entlassen. Längst können Betrie- Staatsgründer Mao Tse-tung und Wirt- Der als künftiger Regierungschef ge- be vielerorts Löhne und Renten nicht mehr schaftsreformer Deng Xiaoping folgte – zur handelte Vizepremier Wen Jiabao, 60, hin- pünktlich auszahlen, den Sozialkassen feh- vierten Generation einleiten. gegen ist kein Unbekannter: Er stieg auf len nach Erkenntnissen der Weltbank Neben Jiang sollen Ministerpräsident als Protegé des damaligen Parteichefs knapp 230 Milliarden Dollar. Parteiforscher Zhu Rongji, 74, und der konservative Vor- Zhao Ziyang. Mit seinem Mentor besuch- warnen vor wachsenden Protesten. sitzende des Nationalen Volkskongresses, te Wen am 19. Mai 1989 die hungerstrei- Kein Wunder, dass ein deutscher Minis- Li Peng, 74, ihre Posten an der Parteispit- kenden Studenten auf dem Platz des terpräsident, der in Peking mit chinesi- ze aufgeben. Ihre Regierungsämter behal- Himmlischen Friedens. Zhao wurde nach schen Politikern über die Lage sprach, fest- ten sie bis zum kommenden März, wenn dem Tiananmen-Massaker am 4. Juni ge- stellte: „Sie wirken alle wie gehetzt. Ihnen die Nachfolger im Politbüro auch ihre Äm- stürzt und steht seitdem unter Hausarrest, läuft die Zeit davon.“ Andreas Lorenz

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Werbeseite Kaliningrader Hafen mit restauriertem Dom „Verteidigung der Menschenrechte“

Parolen und politischem Druck hatte der Kreml davon abzulenken versucht. Die Osterweiterung der EU sei wie die brutale Eroberung der Gegend durch den Deutschen Orden im Mittelalter, dräuten Provinzpolitiker. Selbst Ex-Regierungschef Jewgenij Primakow warnte vor der „nächst- liegenden Bedrohung“ für sein Land – und meinte die EU. Eine „paranoide Rhetorik“, wunderten sich sogar russische Experten. Um die Staatsduma mit ins Boot zu ho- len, setzte Präsident Putin den Chef des Außenpolitischen Ausschusses, Dmitrij Ro- gosin, als Kaliningrad-Sonderbeauftragten ein – er kenne „kaum einen ungeeignete- ren Mann dafür“, reagierte Litauens Ex-

ALEXANDER NEMENOV / AFP NEMENOV ALEXANDER Präsident Vytautas Landsbergis. Rogosin, 38, Generalssohn und früherer finden: Wie bleibt die Exklave mit Kern- Komsomolfunktionär, hatte einst auf Kuba KALININGRAD russland verbunden, wenn auch in Litauen die „psychologische Kriegführung der und Polen für Russen Visapflicht gilt? Amerikaner“ studiert. Als Kaliningrad-Ge- In der Im „Transitstreit“ blieb Brüssel lange sandter trat er sofort in jedes Fettnäpfchen. Zeit eisern: Jeder russische Staatsbürger, EU-Politiker schimpfte er Betonköpfe, der die Grenzen der Union überschreite, den Finnen drohte er mit Problemen im Mausefalle müsse ein gültiges Visum in der Tasche ha- Fernverkehr, sollten sie die russische Posi- ben. Ausnahmen dürfe es keine geben – tion nicht unterstützen. Und Litauen stell- Im Streit um den Zugang zur aus Furcht vor illegalen Immigranten, die te er ein Ultimatum: Moskau werde den Kaliningrad als Loch im Zaun der Schen- Grenzvertrag nicht ratifizieren, wenn es Ostsee-Exklave hat Moskau gen-Staaten entdecken könnten. sich gegen den Korridor sträube. Duma- die EU zum Einlenken gezwungen – Moskau dagegen hatte die geopolitische Kollegen forderten gar das Memelgebiet mit plumper Propagan- Karte gespielt. Trieb den Kreml vor Jahren samt Klaipeda (früher Memel) zurück. da und politischem Druck. die Angst vor einer „Germanisierung“ der Kaliningrads Statthalter im Moskauer Exklave um, befürchtet er jetzt deren wirt- Föderationsrat, Walerij Ustjugow, verließ en Marineoffizieren im Hafen Bal- schaftlichen Kollaps – und die Absorp- nach Rogosins Ernennung verbittert das tijsk war allein schon die Idee ein tion Kaliningrads durch die Europäische russische Oberhaus – weil die eigentlichen DGräuel – und natürlich, dass die Zu- Union. „Probleme unserer Region in die Ecke ge- mutung von einem Zivilisten kam: Sergej Hektisch hatten Unterhändler nach Aus- drängt“ würden. Mehrfach hatte er auf die Iwanow, gelernter Philologe und nur durch wegen gesucht. Für den Fall, dass es nicht 100000 Umsiedler aufmerksam gemacht, seine KGB-Karriere ins Amt des Verteidi- mal einen Korridor durch Litauen gebe, die derzeit ohne Anmeldung in Kaliningrad gungsministers gerückt, wollte ihnen einen drohte Kremlchef Putin mit dem Boykott lebten: Armenier, Aserbaidschaner, Tsche- Teil des Flottenstützpunktes wegnehmen. des Gipfels. Brüssel knickte am 22. Okto- tschenen oder Russlanddeutsche. Leute, Unmöglich, nörgelten die verstimmten ber ein: Auf die Visumspflicht will es nun die „keinerlei Beziehung zu Kaliningrad“ Militärs. Damit wäre der einzige Kriegs- vorläufig verzichten. Das künftige Mitglied hätten, von denen manche nur den Ab- hafen der Ostsee-Exklave Kaliningrad nicht Litauen soll in eigener Regie Passierschei- sprung Richtung Westeuropa suchten. mehr gefechtsbereit, Russland im Ernstfall ne ausstellen – ein Modell, über das jetzt in Rauschgift, so der Volksvertreter, würde an der Nordwestflanke entblößt. Brüssel befunden werden muss. „kofferweise aus Tadschikistan“ nach Ka- Iwanow blieb hart. Der Umbau von Ha- Der Korridorstreit verdeckt das eigent- liningrad gebracht. Die Zahlen über den fenbecken Nr. 3 zum zivilen Fähranleger liche Problem: Die Region ist auf ihre In- Zustand der Region, die Gouverneur Je- sei längst beschlossen. Von Januar 2003 an selrolle in der EU so unvorbereitet wie bis- gorow zuletzt auch in deutschen Zeitungen würden zwei 400-Mann-Schiffe zwischen her. Mit einem Feuerwerk nationalistischer verbreiten ließ, sind schlicht geschönt. dem früheren deutschen Pillau und St. Pe- Erbaut sind die Kaliningrader von Mos- tersburg pendeln – um „die Schengenzone RUSS- kaus plötzlichem Beistand nicht. Sie sehen zu umschwimmen“, so der Minister. Das keinen Lichtblick für ihre lange vernach- sei ein Akt zur „Verteidigung der Men- LETTLAND LAND lässigte Stadt. Als im Oktober ein neuer schenrechte“ in Russland. Kaliningrad Bürgermeister zur Abstimmung stand, er- Hehre Worte, die nur dürftig Moskaus Hauptverkehrs- schien nicht mal jeder Dritte im Wahllokal. LITAUEN wachsende Panik verdecken. Immer näher Baltijsk achse nach Da wachse das Gefühl, „in einer Mause- rückt der Tag, an dem Litauen und Polen Vilnius Kaliningrad falle zu sitzen“, recherchierte die SPD-Eu- EU-Mitglieder werden und Russlands west- ropa-Abgeordnete Magdalene Hoff. licher Vorposten als Insel in der Union wei- Um eine spezielle Kategorie seiner Un- terleben muss. 2004 ist es so weit. POLEN Minsk tertanen sorgt sich der Staat allerdings Monatelang wogte zwischen Moskau schon. Straftäter, die in Gefängnissen rund und Brüssel der Streit, was dann aus dem Warschau WEISSRUSSLAND um Kaliningrad einsitzen, jedoch kein ehemaligen Nordostpreußen wird. Über Wohnrecht in der Exklave haben, wer- die wichtigste Frage soll kommenden Mon- 250 km EU-Beitrittskandidaten den bis Jahresende ins Mutterland eva- tag ein EU-Russland-Gipfel in Brüssel be- kuiert. Christian Neef

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NAMIBIA Vertreibung aus der Savanne Staatspräsident Nujoma will ausländische Grundbesitzer THEMBA HADEBE / AP THEMBA enteignen – und so von einer verpatzten Landreform ablenken. Staatschef Nujoma Jetzt bangen vornehmlich Deutsche um ihre Güter. „Dies ist Afrika, alles ist möglich“

ls Verwalter einer Touristenranch Farm „Etendero“. Niemals in all den Jah- der weißen Farmer beglückwünschte, fragt im Nordwesten Namibias verfügte ren, in denen Rust Touristen im Jeep zum sich Rust, ob er noch eine Zukunft in sei- Ader deutschstämmige Namibier Ha- Sonnenuntergang auf den Lallas-Berg fuhr, ner afrikanischen Heimat hat. rald Rust stets über ein ordentliches Aus- hätte er es für möglich gehalten, dass eines Zwar weiß er, dass das dünn besiedelte kommen. Doch seit er den Job gekündigt Tages Landhunger die Wohlstandsinseln Namibia im Gegensatz zu Simbabwe gar hat, um die Ländereien seines Vaters zu im Durstland gefährden könnte. nicht genug Menschen mobilisieren könn- übernehmen, beschleicht ihn immer häufi- Umso schockierter war der junge Ver- te, um eine Invasion der weißen Farmen zu ger der Gedanke, womöglich einen Fehler walter, als der Staatschef der einstigen orchestrieren. Zwar geloben überdies die gemacht zu haben. deutschen Kolonie Ende August seinen zuständigen Minister, dass es in Namibia Zwar fühlt sich Rust nirgends heimischer Landsleuten und der Weltöffentlichkeit niemals zu einer gewaltsamen Landnahme als in der baumlosen Savanne des trockens- unmissverständlich zu verstehen gab, dass kommen werde. Doch ist die Enteignung ten Staats im südlichen Afrika. Doch Land- die Besitzverhältnisse in Namibia nicht so von 192 Großgrundbesitzern, die, wie Rusts wirtschaft im so genannten Durstland Na- bleiben können, wie sie sind. Arbeitgeber Schleyer, ihre Farmen aus der mibias, jener extrem regenarmen Region Auch zwölf Jahre nach der Befreiung Ferne managen, bereits beschlossene Sa- am Rande der Namib-Wüste, war selten von den südafrikanischen Besatzern, wel- che. Und das, mutmaßt der junge Verwal- profitabel. Auch muss der 34-jährige Far- che die deutschen Kolonialherren nach ter, könnte der Anfang vom Ende sein. mer neuerdings befürchten, dass Politiker dem Ende des Ersten Weltkriegs ablösten, „Dies hier ist Afrika“, sagt er, „da ist al- ihn von seinem Land treiben wollen. ist ein Großteil des nutzbaren Bodens in les möglich.“ Erst kürzlich hat etwa Isak Viele Rinder- und Schafzüchter, die nicht weißer Hand. Allein den etwa 240 auslän- Katali, der stellvertretende Minister für rechtzeitig auf Gäste- oder Jagdfarmen um- dischen, überwiegend deutschen und süd- Land, Umsiedlung und Landgewinnung, er- gestiegen waren, hatten während einer afrikanischen Grundbesitzern gehört mehr klärt, die Regierung würde die Landlosen Dürreperiode in den achtziger Jahren auf- Nutzfläche als dem Staat. Die 1,8 Millionen nicht unter Kontrolle halten können, sollten geben müssen. Mehr als die Hälfte des Schwarzen müssen sich mit Feldern und diese rebellieren. Das würde Rust in seinen Landes im Bezirk Omaruru befindet sich Weiden auf kommunalem Land begnügen. schlimmsten Befürchtungen bestätigen. deshalb heute in ausländischer Hand. Die Dass Rust nach seinen Lehrjahren auf Dabei haben Namibias kommerzielle neuen Besitzer sind Fabrikanten aus der Schleyer-Farm das väterliche Jagdgut Viehzüchter dem Staat seit der Unabhän- Deutschland, Zahnärzte aus der Schweiz übernehmen würde, war eigentlich immer gigkeit mehr als 900 Farmen zum Kauf an- und Mafiabosse italienischer Abstammung. eine ausgemachte Sache. geboten. Katalis Minis- Selten leben sie selbst auf der Farm. Doch seit Sam Nujoma ANGOLA SAMBIA terium aber erwarb nur Damals kam auch Rusts in Berlin woh- auf dem Uno-Gipfel in jedes achte Gut. Die ange- nender Arbeitgeber, der Generalsekretär Johannesburg Simbab- N dienten Weideflächen sei- a Waterberg des deutschen Handwerks Hanns-Eberhard wes Staatschef Robert m Bezirk en zu klein, zu verbuscht, i BOTSWANA Schleyer, an seine 10 000 Hektar große Mugabe zur Vertreibung b Omaruru zu verkarstet, begründet - W Katali die staatliche Kauf- 300 km ü Windhuk unlust. Und Präsident Nu- Atlantik s t joma schimpft, die Farmer e würden Wucherpreise für NAMIBIA AFRIKA ihr Land verlangen. Jetzt soll der Etat für den An- SÜDAFRIKA kauf von Ranches von jährlich 20 auf 100 Millio- nen namibische Dollar (etwa 10 Millionen Euro) erhöht werden; dabei war er bis zum vergangenen Jahr nicht ein einziges Mal ausgeschöpft worden. Wie in Simbabwe, so scheint es, werden nun auch in Namibia weiße Landwirte zu Sündenböcken für eine seit Jahren nur schleppend vorangetriebene Landreform gemacht. Denn die Regierungspartei ist zerstritten, muss sich aber 2004 zu den Prä- sidentschaftswahlen stellen. Und kein The- ma eignet sich besser, die Partei zu einen, als das einer gerechteren Verteilung von Grund und Boden.

EMMLER / LAIF EMMLER Dass es Nujoma dabei jedoch um eine Weißer Farmer: „Wir wollen dieses Land doch nicht zerstören, sondern aufbauen“ Wiedergutmachung historischen Unrechts

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Werbeseite geht, bezweifeln selbst die eigentlichen Opfer kolonialen Landraubs, die Stämme der Herero, Nama und Damara. Für die von den Deutschen unterworfenen Hirten- völker hat die Regierung noch selten Interesse ge- zeigt. So forderte John Tji-

kuua, 71, ein Leben lang, / LAIF EMMLER dass die Besitzverhältnis- Deutsche Bäckerei: „Wer weiß, was in zehn Jahren ist?“ se in Namibia nicht so bleiben können, wie sie sind. Der Stammes- an die hundert Siedler. Bei der anschlie- chef der Herero von Okakarara lebt am ßend von Kaiser Wilhelm II. angeordneten Fuß des Waterbergs, jenes Hochplateaus, Strafexpedition starben bis zu 60000 He- das einst seinen Vorfahren zu einem Wa- rero, drei Viertel der damaligen Bevölke- terloo wurde; ein sandiger Flecken Erde rung. Die meisten von ihnen verdursteten ist heute der Weidegrund für seine Ziegen in der wasserlosen Ebene nordöstlich des und Rinder. Waterbergs. Jahrzehntelang hatten die Herero wi- Die Nachfahren der Überlebenden fris- derstandslos hingenommen, dass sich die ten heute, wie Tjikuua, ihr Dasein in Ende des 19. Jahrhunderts aus dem deut- überweideten Reservaten oder ernähren schen Kaiserreich zugewanderten Händler sich in Vorstadtslums vom Verkauf selbst und Jäger ihrer Weidegründe bemäch- gebrauten Biers. Eine Rückübereignung tigten. Am 12. Januar 1904 erhoben sie der ehemaligen Herero-Weidegründe zwi- sich schließlich; fünf Tage später erreich- schen Namib- und Omahekewüste zu Prei- te der Aufstand Omaruru. Gut bewaffne- sen, die auch für Reservatsbewohner er- te Trupps stürmten die Farmen ihrer Her- schwinglich wären, scheiterte bisher an ren und mordeten binnen weniger Tage der mangelnden Bereitschaft der neuen „Hoffen, dass die Vernunft siegt“ Hanns-Eberhard Schleyer über die drohende Enteignung ausländischer Grundbesitzer in Namibia

Schleyer, 58, ist lines investiert, Strom gelegt und Gäs- Generalsekretär tehäuser gebaut. Wir haben 15 Angestellte. des Zentralver- Das sind mitsamt den Familienangehörigen bandes des Deut- fast 100 Menschen, die davon leben, dass ich schen Handwerks in diese Farm investiere. Ich bin ganz be- und ein Sohn des stimmt kein ausbeuterischer fremder Groß- 1977 ermordeten grundbesitzer. Im Gegenteil: Ich habe noch Arbeitgeberpräsi- keinen einzigen Dollar außer Landes ge-

MICHAEL EBNER / MELDEPRESS denten Hanns bracht, alles dient Erhalt und Ausbau der Martin Schleyer. Farm. 1980 erwarb er im Westen des Landes die SPIEGEL: Dennoch will Ihnen die Regie- 10000 Hektar große Rinderfarm „Eten- rung diesen Flecken möglicherweise wie- dero“, die heute eine Touristen-Ranch ist. der abnehmen, um den Landhunger der Bevölkerung zu stillen. Hat das Ihre Fas- SPIEGEL: Herr Schleyer, Sie sind kein Land- zination verringert? wirt, und das regenärmste Land südlich Schleyer: Ich würde jedenfalls im Moment der Sahara lässt sich nur schwer bewirt- keine zusätzlichen Investitionen in Nami- schaften. Was hat Sie an diesem Stück bia tätigen. Und wenn Touristen das Ge- Afrika gereizt? fühl haben, dass sich das südliche Afrika Schleyer: Etendero ist eine emotionale, zunehmend zu einem Unruheherd ent- keine wirtschaftliche Investition. Ich war wickeln sollte, dann werden sie wegblei- 1971 zum ersten Mal im damaligen Süd- ben. Sie haben genügend Alternativen. westafrika und war so fasziniert von diesem SPIEGEL: Drohen in Namibia Verhältnisse Land, seiner Natur und seinen Menschen, wie in Simbabwe? Dort sind inzwischen dass ich leichtsinnigerweise gesagt habe: fast alle weißen Farmer gewaltsam von „Hier möchte ich irgendwann Mal ein paar ihren Gütern vertrieben worden. Quadratmeter Land kaufen.“ Inzwischen Schleyer: Die Landfrage ist sehr emotional, haben wir in Bohrlöcher und Wasserpipe- und das Beispiel Simbabwe könnte eine

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Eigner, für Sünden der Vergangenheit zu zahlen. Dennoch ist Tjikuuas Misstrauen ge- genüber der Regierung Nujoma größer als der Wunsch, alte Rechnungen gewalt- sam zu begleichen. „Wir wollen dieses Land doch nicht zerstören, sondern auf- bauen“, sagt er. Er träumt von Fleischfa- briken und Gerbereien in Okakarara. Und wer anders als die Weißen verfügt über die notwendigen Mittel, bei deren Aufbau zu helfen? Vom namibischen Staat jedenfalls er- wartet der Herero schon lange keine Hilfe mehr. Bisher habe die Regierung alle auf- gekauften Farmen an Ovambos verteilt, beschwert sich Tjikuua, und seinen Here- ro nur schwer zu kultivierendes Land über- lassen. Die Folgen der verpfuschten Landreform bekommt auch Rust im 250 Kilometer ent- fernten Omaruru täglich zu spüren: Immer häufiger brechen Wilddiebe in die afrika- nische Idylle von Etendero ein. Doch mit der Ungewissheit leben Nami- bias weiße Farmer schon seit Generatio- nen. Und so wird auch Rust bleiben und sich Mut zusprechen mit dem Satz: „Wer weiß, was in zehn Jahren ist.“ Mit dieser Devise hatten schon Vater, Großvater und Urgroßvater ausgeharrt. Birgit Schwarz gewisse Eigendynamik entwickeln. Präsi- dent Nujoma wird sich entscheiden müs- sen: Er kann nicht einerseits um auslän- dische Investitionen werben und ande- rerseits Schritte einleiten, die Investoren abschrecken. Schon jetzt bekommt auch Südafrika die Folgen seines merkwürdi- gen Schweigens zu Simbabwe zu spüren: Südafrikas Währung, der Rand, hat er- heblich an Wert verloren, ausländische Investoren sind zurückhaltender gewor- den. Man kann nur hoffen, dass die Ver- nunft siegen wird. SPIEGEL: Wären Sie bereit, Ihre Farm ei- ner Landreform zu opfern? Schleyer: Nach dem Engagement der letzten 22 Jahre würde ich das nicht gern tun. Die Farm liegt mir sehr am Herzen. SPIEGEL: Den Herero, die ihre Siedlungs- gebiete einst an die deutsche Kolonial- macht verloren, liegt die Landfrage eben- so am Herzen. Schleyer: Ja, aber eine Rückkehr in die Vergangenheit, zu nomadischer, nicht kommerzieller Landnutzung kann nicht der Weg in die Zukunft sein. Zudem soll- te man doch zunächst einmal versuchen, das, was an Farmen angeboten wird, auf- zukaufen und zu verteilen. Im Übrigen, wem ist denn damit geholfen, wenn mei- ne 10000 Hektar an 10 Leute verteilt wer- den? Dafür müssten die 15 Leute, die ich beschäftige, gehen. Das ist doch ein Null- summenspiel.

der spiegel 45/2002 155 Werbeseite

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Aginmar an die Zeit vor gut 30 Jahren. Seine Aufnahme von Klüger werden mit: einer Kommune in Wolfenbüttel stammt aus den frühen Siebzi- gern; als eines von 282 Bildern Gunther Hirschfelder ist sie vom 5. November an in der Ausstellung „Forever young“ Der 41-jährige Kulturwissenschaft- zu besichtigen. Aginmars Fotos ler über moderne Ernährungsge- im Braunschweigischen Landes- wohnheiten museum sind Reise und Spuren- suche zugleich, durch 34 Jahre SPIEGEL: Sie haben ein Buch über die Jugendkultur, vom legendären „Europäische Esskultur“ verfasst – der Trend, schreiben Sie, gehe zum Steinzeit-Snack? Hirschfelder: Das Phänomen der Mahlzeit, also ein Essen zu einem festgelegten Zeitpunkt und in einer definierten Gruppe, nimmt ab. Et- was, das über Jahrtausende gewach- sen ist. Damit bröckelt die emotio- nale Sicherheit, die eine gemeinsa- me Mahlzeit gibt.

FOTOS: AGINMAR.DE SPIEGEL: Wir essen ganz anders? Aginmar-Fotos von 1972 und 2002 Hirschfelder: Wir essen nebenher: den Schokoriegel im Bus, die Minisalami JUGEND Jahr 1968 bis 2002. Provinzkommunen im Fahrstuhl. Oder gehen Sie mal zu und Anti-AKWler, Popper, Punker und einem Großstadtbahnhof, was da Post-Punker – die Ausstellung zeigt nos- mittags im Stehen verschlungen wird. Frühstück talgische Ach-ja-Erlebnisse wie auch äs- SPIEGEL: Das klingt postmodern. thetische Brachialitäten, etwa das auf Hirschfelder: Aber gleichzeitig grei- Leinwand gedruckte Farbbild zweier fen wir unbewusst auf die Essge- mit Ché Punker im Format 6,50 mal 4,30 Meter. wohnheiten der Steinzeit zurück – Ergänzt wird die Ausstellung durch Ku- wo man im Vorübergehen Beeren, s war einmal: „Lange Bärte, kleine riositäten wie den schwarz-weißen Insekten, Schnecken zu sich nahm. EKatzen, der Frühstückstisch war Stummfilm „L.A.F.-Parade/Love- Dieser Wandel ist fundamental. niedrig, man begann den Tag also schon Parade“, nämlich Bilder von einer Raver- SPIEGEL: Warum? unangepasst – und über allem schwebte Parade, die alle zwei Jahre im beschauli- Hirschfelder: Weil Ché und ein Aroma von Aufbruch.“ chen Edemissen stattfindet – im Gegen- Essen ein sozia- So erinnert sich der Fotograf Hartmut schnitt zur Mammut-Show in Berlin. les Totalphänomen ist. Hochzeiten, Fes- te, Begräbnisse, das sind die Ausnah- SACHBUCH bel nach – beginnend in Betlehem, me-Momente einer kreuz und quer durch Europa, bis zur Kultur. Aber jeder Heilige Karriere missionarischen Verbreitung in Fernost, Mensch isst mehr- Afrika, im Südpazifik. Das Resultat ist mals täglich, ein

m Anfang war das Wort, man ein prachtvoll illustriertes Nachschlage- Deutscher nimmt im HANS-GÜNTHER OED Aschrieb es auf, man druckte es, werk, faktenreich und ergänzt um eine Lauf seines Lebens Hirschfelder Johannes Gutenberg etwa, aufwendige Bibliografie. 105 120 Mahlzeiten Mainz 1455/56, und so Vielleicht liest sich das ein, wir essen gleichsam sechs Jahre machte das Buch Karriere. Werk nicht gerade wie ein unseres Lebens – meistens zu beiläu- Und wie: Aus dem Mittel- Krimi; vielleicht muss aber fig, zu ungesund. alter seien mehr Bibelab- der Historiker, der so was SPIEGEL: Und wieso schmeckt uns schriften erhalten als sons- schafft, auch noch geboren dieses Fast Food so gut? tige Artefakte, schreibt werden. Doch immerhin Hirschfelder: Es ist fett, und Fett hat Christopher de Hamel; schreibt Hamel, Experte einen hohen kulturellen Stellenwert. und die Bibel sei das seit für mittelalterliche Hand- Außerdem schmeichelt die Molekül- über tausend Jahren am schriften, einen klaren Stil, struktur einer Currywurst unserem weitesten verbreitete er reichert seine zwölf Ka- Gaumen, die Glimmermoleküle Buch. Diese heilige Karrie- pitel mit amüsanten His- kommen unserer Mundsensorik ent- re hat Hamel, britischer törchen an und führt den gegen, sie erinnern außerdem an den Historiker aus Cambridge, Leser durch die Jahrtau- Saugreflex, leider! nachgezeichnet; sein Buch sende und die Kulturen. SPIEGEL: Das klingt, als wären Sie per- ist allerdings keine theolo- sönlich betroffen? gische Auseinanderset- Hirschfelder: Trotz aller Wissenschaft Christopher de Hamel: „Das Buch. zung, sondern erzählt die COLLEGE TRINITY CAMBRIDGE Eine Geschichte der Bibel“. Phaidon – manchmal brauche ich Pommes. Verbreitungsstory der Bi- Bibel-Illustration Verlag, Berlin; 352 Seiten; 39,95 Euro.

der spiegel 45/2002 161 Szene

Was haben Sie da gedacht, Herr Beckmann?

Der Potsdamer Rechtsanwalt Karsten Beck- mann, 40, über den ersten Prozesstag gegen den Gewaltverbrecher Frank Schmökel

„Es war gegen zehn Uhr morgens, mein Kol- lege Matthias Schöneburg und ich warteten im Gerichtssaal auf unseren Mandanten Frank Schmökel. Als ich ihn hereinkommen sah, in seinem lockeren Outfit mit Sonnenbrille und Kapuze auf dem Kopf, wusste ich sofort, dass der Vorwurf kommt, Schmökel wolle sich als Popstar stilisieren. Fakt ist: Nur im Film bera- ten sich Anwälte mit ihren Mandanten über die richtige Kleidung vor Gericht, nur im Film können Angeklagte sich passende Anzüge für ihren Prozess besorgen. Schmökel wollte sich verstecken, nach fast zwei Jahren Isolation war er extrem nervös und aufgeregt. Auf Grund der völlig übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen wirkte die Szenerie gespenstisch: Handschel- len, Fußfesseln und vermummte SEK-Beamte – für einen Moment dachte ich, es ginge um die

Vorführung von Hannibal Lecter.“ PRESS ACTION

Anwalt Beckmann, Mandant Schmökel

FITNESS klamotten. Brave Verkäufer wiederum zei- INTERNET gen abends ihren wahren Ehrgeiz: Sie legen Abseits schwitzen sich Extra-Gewichte auf die Kraftmaschi- Goldfinger nen und bevorzugen modische Shirts und ehrer, vom lautstarken Gezeter und Ge- Schuhe. Eine britische Studie im Auftrag in 17-jähriger Brite will seine Lzappel ihrer Schüler zermürbt, suchen der Holmes Place Health Clubs, einer der EFinger versichern lassen – für sich eine stille Ecke. Investment-Banker, de- großen britischen Fitness-Ketten, zeigt: Das 375000 Pfund, rund 590000 nen modische Wildheiten tagsüber versagt Sein bestimmt das Sportiv-Sein. Mehr als Euro. Alex Nikitin aus London bleiben, hüllen sich in abgerissene Trainings- tausend Männer und Frauen wurden für die ist Computerspieler und damit Studie nach Jobs, auf gesunde Finger so sehr ange- Trainingsgewohnhei- wiesen wie Fußballspieler auf ten und ihrem Dress ihre Beine oder Fotomodelle auf befragt – so enthüllt ihren Busen. Vergangene Woche die Studie etwa, dass flog Nikitin zu den World Cyber Sekretärinnen am Games nach Korea, das ist sozu- liebsten erst mal in sagen die Weltmeisterschaft im die Sauna flüchten, Daddeln. Wettkampfdisziplinen um ihren Ärger über bei den Cyber Games sind Bal- den nervigen Chef lerspiele wie das umstrittene auszuschwitzen. „Im „Counterstrike“, aber auch Si- Fitness-Club spielen mulationsspiele wie „2002 Fifa manche Menschen World Cup“ stehen auf dem Pro- eine Show“, so der gramm. Preisgeld insgesamt: Londoner Psychothe- 300000 US-Dollar. Dank guter rapeut Sidney Crown, Internet-Anbindungen und leis- der die Studie inter- tungsfähiger Computer würden pretiert hat, „andere „die Spiele heutzutage immer hingegen lassen ihre schneller“, sagte Nikitin der Masken fallen – und BBC. Das sei gut für den Wett- alle zeigen letztlich kampf, aber dadurch steige auch ihre wahre Persön- das Verletzungsrisiko für sein Sportlerin im Fitness-Club lichkeit.“ wichtigstes Kapital: die Finger.

162 der spiegel 45/2002 Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE fiel ihm ein. Er zerrte das Ding aus sei- ner Brusttasche, wählte, traf die winzi- gen Tasten nicht. Jetzt! Kein Netzemp- fang. Nur für Sekundenbruchteile fand Vom Eise befreit sein Handy eine Verbindung, obwohl er es über dem Kopf schwenkte wie ein Wie ein Snowboarder sein Leben rettete – per SMS Gestrandeter eine Laterne. Seine zwei- te Idee: eine SMS. Die Botschaft würde r wachte auf, sah nichts. Wie lan- lang. Die Trennung lag drei Jahre in kleinsten Portionen gesendet und an- ge war er ohnmächtig gewesen, zurück. Ihre Freundschaft blieb. „Wir kommen, vielleicht, hoffentlich. Füße, Efünf Minuten, zehn? Seine graue sind seelenverwandt“, sagt sie. „Karin Beine fühlten sich an, als müssten sie Fleece-Mütze war blutdurchtränkt, das ist wunderbar“, sagt er. gleich zerbrechen, die Finger zitterten, Blut war kalt. Er wollte nachdenken, ir- Landbeck war am Freitagmittag los- er schickte die erste SMS los, sie laute- gendwas hatte Karin erwähnt, aber sei- gefahren. Im „Neuen Hintertuxer Hof“ te AXLQJFS. Verdammt. Er bezwang ne Gedanken flatterten. hatte er sich mit Freunden getroffen, alle sich, tippte um sein Leben. Plötzlich wurde ihm übel, er zitterte, begeisterte Snowboarder. Am nächsten Um 16.08 ging bei Karin Schulze in seine Zähne schlugen aufeinander. Der Morgen um neun Uhr standen sie auf Karlsruhe die Botschaft ein: SITZE IN Schock, dachte er. Seine Augen hatten dem Tuxer Gletscher, 3250 Meter hoch, GLETSHERSPALTE RETTET MICH!! sich inzwischen an das Dämmerlicht Karin starrte das Display an. „Der gewöhnt, er sah sich um, dachte: Wo Manfred“, sagte sie, „der macht doch bin ich? keine Witze mit so was, oder?“ Die Gletscherspalte, in die Manfred „Glaub ich auch nicht“, sagte ihre Landbeck gestürzt war, die Beine vor- Freundin zögernd. Und dann sprang Ka- an, war eine A-Spalte: oben eng, unten rin auch schon auf: „Wir müssen ihm breiter, 45 Meter tief. In einer Tiefe von helfen!“ 15 Metern aber befand sich eine Art In der Altbauküche in der Händel- Zwischensockel von zwei mal zwei Me- straße telefonierten die beiden Frauen tern. Diese Schneebrücke hatte ihn auf- um das Leben von Manfred Landbeck. gefangen, dort stand er jetzt: 38 Jahre Auslandsauskunft, Tourismuszentrale in alt, Mechaniker aus Karlsruhe, Winter- Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Hintertux, das Rote Kreuz, der Handy- sportler, Besitzer eines Snowboards Typ Betreiber, die Polizei in Österreich, Po- „Renntiger“. Links und rechts und vor lizei in Karlsruhe. Sie sprachen auf drei ihm: der Abgrund. Landbeck verlager- Telefonen, erklärten, drängten, flehten. te sein Gewicht, um aus dem Snow- Oberkommissar Wolfgang Müller hat- board zu steigen, der Schmerz jagte bis te seine Schicht in der Karlsruhe Ein- in die Hüfte. Sein Bein war gebrochen. satzleitstelle um kurz vor zwölf Uhr an- Er fror, begann wieder zu zittern. Es getreten. Der Nachmittag war ruhig. Bis war kurz vor vier Uhr nachmittags, um 16.11 Uhr der Anruf Nummer 171016 Samstag, der 28. September 2002. einging: „Fr. Schulze, Freundin d. Ver- Landbeck blickte nach oben. Sah ein unglückten, extrem aufgebracht“. Stück blauen Himmels, dort gab es Ski- Müller kannte Hintertux vom Som- lifte, Hotels, Menschen, unerreichbar. merurlaub. Seine Idee: die Hotels an- Er befühlte die glatten Wände der Glet- rufen, da kennt jeder jeden. Sein erster

scherspalte. Ich werde hier sterben, / KRONEN ZEITUNG BIRBAUMER CHRISTOF Anruf hatte Erfolg. Der Schwager der dachte er. Irgendwas hatte Karin gesagt. Landbeck Hoteliersfrau war der Leiter der Pis- Etwa 470 Kilometer weiter, in Karls- tenrettung, Norbert Pichelsberger. 20 ruhe, Händelstraße 28, in der kleinen man sah die Dolomiten, der Himmel Minuten später machte sich das drei- Küche ihrer Altbauwohnung, nahm Ka- konnte blauer nicht sein. köpfige Rettungsteam auf den Weg, per rin Schulze gerade die Espressokanne Ein Gletscher aber ist nicht nur ein Pistenbully, einem Kettenfahrzeug mit vom Herd. Sie schäumte Milch auf, Ka- Eisklotz. Ein Gletscher wandert, bewegt einem 300-PS-Dieselmotor. kaopulver: der perfekte Cappuccino, sich wie ein lebendiges Wesen, er bildet In seiner Gletscherspalte stand Man- der perfekte Samstagnachmittag. Ihre Tische, Zungen, Schründe, Spalten. Auf fred Landbeck und rief um Hilfe. Freundin Gaby war da. Durchs Küchen- dem Tuxer Gletscher gibt es abseits der In ihrer Küche saßen Karin und Gaby fenster schien die Nachmittagssonne, Pisten einige hundert dieser Spalten, bis und hatten nur einen Gedanken. die Korbstühle hatten weiche Kissen. zu 120 Meter tief. Manfred Landbeck Am Steuer des Pistenbullys saß Mar- Die zwei Frauen würden den Nach- fuhr um halb vier Uhr nachmittags die tin Wechselberger, Pistenretter, er fand mittag verquatschen, abends dann zum letzte Abfahrt. Plötzlich verschluckte die Spuren und die Spalte. Um 17.35 Italiener. Und später in eine Bar, einen ihn der Gletscher. Uhr, zwei Stunden nach seinem Sturz, netten Mann kennen lernen, wer weiß. Landbeck liebt Filme, Abenteuer, wurde Landbeck nach oben gezogen, Karin Schulze, Einkäuferin beim Hei- Brad Pitt, Bruce Willis. Er selbst wollte zurück ins Leben, er blinzelte in die un- ne Versand, spezialisiert auf Damen- nie ein Held sein, jetzt musste er. tergehende Sonne. Sieben Minuten spä- oberbekleidung und -unterwäsche, ist Er musste den Ausweg finden. ter wussten Karin und Gaby Bescheid. eine selbstbewusste Frau, groß, blond, „Nimm’s Handy mit hoch“, hatte Ka- Sie riefen Oberkommissar Müller an, attraktiv. Manfred Landbeck und sie rin gesagt. „Wozu?“, hatte er gefragt, dann weinten sie, dann öffneten sie eine waren ein Paar gewesen, drei Jahre lachend. Aber er hatte es eingesteckt, Flasche Sekt. Ralf Hoppe

der spiegel 45/2002 163 Gesellschaft

EXTREMSPORT Der tiefste Mensch der Welt Sind sie verrückt? Haben sie Fähigkeiten, die normale Menschen nicht haben? Apnoe-Taucher sind ohne Pressluftflasche unterwegs und riskieren ihr Leben für den Traum von der Tiefe. Tanya Streeter schaffte 160 Meter, Benjamin Franz kam gelähmt wieder nach oben. Von Klaus Brinkbäumer

ie geht nicht auf die Straße, wenn es dem Boot kauert, und sieht „Angst und dunkel ist. Sie speist allein in ihrem Terror“. Sie nimmt ihre Maske ab, denn sie SHotelzimmer, wenn ihr Mann nicht muss blind tauchen; wegen des steigenden da ist und sie beschützt. Sie fährt sehr lang- Drucks würde sich die Maske dort unten in sam Auto. Sie ist „a complete chicken“, ihr Gesicht fressen. Dann klammert sich sagt sie, feige wie ein Hühnchen, und die Tanya an den Schlitten und setzt ihre Na- Frage ist, warum sie nun tut, was sie tut. senklemme auf. Tanya Streeter, 29 Jahre alt, grünäugig, 60, 45, 30, 15 Sekunden, Tanya Streeter sommersprossig, blond, sitzt in ihrem sil- nimmt den letzten Atemzug und packt; so bernen Taucheranzug und mit ihren nennen Taucher das, wenn sie durch Luft- schmalen Flossen auf einer Plattform, und schnappen und Muskelkraft einen Liter die Plattform liegt auf dem Wasser. Sehr oder zwei in ihre längst gefüllte Lunge blaues, sehr tiefes Wasser ist das. pressen. Packen ist nicht gesund, aber ohne Es sind noch zehn Minuten bis zum Luft wäre es nicht gesünder dort unten. Weltrekord, senkrechte 160 Meter. 15, 10, 5, „go“, Tanya Streeter schaut Tanya Streeter hat gemacht, was sie im- ihren Ehemann und Manager Paul an und mer macht, wenn sie sich vorbereitet. Sie der lässt eine Hand fallen, und der Kapitän ist für 45 Sekunden auf 10 Meter abge- löst die Winde. Der Schlitten klatscht ins taucht, mit wenig Luft in der Lunge; das Wasser, hart und wackelig. war der Reiz, diese E-Mail an ihren Körper, Apnoe-Tauchen heißt dieser Sport; „Ap- wie Tanya das nennt: „Sei bereit, Körper, noe“ ist griechisch und heißt „ohne At- gleich wird es tief. Verdammt tief.“ Sie ist mung“. Apnoe-Taucher, Freitaucher, sind ein zweites Mal abgetaucht, für 90 Sekun- Puristen wie jene Bergsteiger, für die nur den auf 20 Meter, wo sie wie schwerelos eine Everest-Besteigung ohne Sauerstoff- schwebte und sich auf den Rücken drehte. geräte eine wahre Everest-Besteigung ist. Sie hat die Sonnenstrahlen gesehen und Apnoe-Taucher können nur lächeln über das Boot, die Fische und die Korallen am die Millionen von Sporttauchern, die sich Riff, all diese Farben hat sie gesehen, und mit Pressluftflaschen an den halb toten Ko- dies war der Moment, in dem sie fühlte, rallenriffen der Weltmeere entlanghangeln was sie fühlen muss, bevor es hinabgeht: und niemals mit Delfinen schwimmen wer- „Dass dies mein Element ist, dass ich mei- den, weil sie zu schwerfällig sind und zu ne Unsicherheit oben lasse, dass Tauchen laut. Apnoe-Taucher brauchen nichts als das ist, was ich besser kann als alles ande- Flossen, Maske und Schnorchel, sie liegen re im Leben.“ oben auf dem Wasser und schießen hinab, Man kann das nüchterner formulieren. wenn es unten etwas zu sehen gibt. In Tanya Streeters Körper hatte der so ge- Oder sie setzen sich auf den Grund des nannte Tauchreflex eingesetzt, und der Meeres und warten. Auf Delfine, Schild- Tauchreflex ist das Gegenteil dessen, was kröten, Haie. Anfänger erleben, die in ein paar Minuten Es gibt eine Menge Rekorde und viele eine ganze Flasche leer atmen. Tanya Disziplinen in der Sekte der Freitaucher. Streeters Körper wurde ruhig, sehr ruhig, Mal müssen sie mit dem Bleigürtel, der sie da ihr Körper im Wasser auf Energiesparen hinabzieht, auch wieder hinauf („constant schaltet. Die Herzfrequenz sank. weight“). Mal dürfen sie sich von einem Acht, sieben, sechs Minuten, Tanya Stree- Gewicht hinabziehen und dieses in der Tie- ter ist bereit. Sie hält sich an dem Schlitten fe zurück lassen („variable weight“). fest, der sie gleich hinabziehen wird und Aber es gibt nur eine Königsdisziplin, deshalb an einem Seil hängt, das zu einer und Tanya Streeter ist die Königin. Winde oben auf dem Boot führt; gleichzei- „No Limits“ heißt die Übung mit dem tig ist der Schlitten über Rollen mit jenem Schlitten, die die Taucher am tiefsten hin- Seil verbunden, das in die Tiefe führt. abführt, ehe sie per Ballon oder Hebesack Fünf, vier, drei, zwei Minuten, Tanya wieder emporsteigen; die Arbeit machen Streeter schaut zu ihrer Mutter, die auf die Geräte, denn „No Limits“ ist Höchst-

CHRISTOPH GERIGK ( O.); TIM AYLEN / AP (U.) TIM AYLEN GERIGK ( O.); CHRISTOPH leistungssport ohne Bewegung, Folter für * Auf ihrem Tauchschlitten beim Weltrekord-Tauchgang Apnoe-Taucherin Streeter* menschliche Innereien, eine Quälerei, die am 17. August. 160 Meter in die Tiefe, mit einem Atemzug viele nur verwundet überstehen und eini-

164 der spiegel 45/2002 ge gar nicht. Es gibt Tote bei dieser Re- kordjagd, aber es gibt eben auch diesen Rausch in der Welt der Delfine und natür- lich den Ruhm: Wer ist der tiefste Mensch der Welt? Es ruckelt, Tanya Streeter schließt die Augen, es geht hinab. Tiefer. Tiefer als jemals eine Frau getaucht ist und jemals ein Mann. 160 Meter, mit einem Atemzug. Es ist 11 Uhr am 17. August vor der Küs- te der Turks- und Caicos-Inseln in der Ka- ribik, und die Frage ist: Warum tut ein fei- ges Hühnchen das?

anya Streeter, geboren auf den Cay- Tman Islands, amerikanische Staatsbür- gerin, weil ihr Vater Amerikaner ist, konn- te schwimmen, bevor sie laufen konnte. Ihr Vater hatte eine Tauchschule, und des- halb war die Tochter Apnoe-Taucherin, be- vor sie wusste, was das ist. Damals ließ sie sich von ihrem Labrador Tarka durchs Wasser ziehen; Tarka jagte Fische, und Tanya hielt sich am Schwanz fest. Tanya wurde dann aufs Internat in Brighton (Eng- land) geschickt, blieb bis nach dem Studi- um, lebt heute in Austin (Texas), und was hat sie in all den Jahren vermisst? „Den Ozean, die Klippen, die Delfine“, sagt sie. Benjamin Franz, 31, war Holzbildhauer in Willmering im Bayerischen Wald. Als Kind war er Fußballer und später Sport- schütze, aber kicken konnte er nicht, und schießen war ziemlich stupide. Benja- min Franz sah die Unterwasserfilme von Jacques-Yves Cousteau, kaufte sich eine Taucherbrille im Supermarkt, fuhr zum Satzdorfer See und blickte in eine andere Welt. Dann, 1988, sah er „The Big Blue“ (deutsch: „Im Rausch der Tiefe“), einmal, 30-mal, und das war’s. So geht es allen Tauchern. Natürlich liebte auch Benjamin den stil- len Franzosen Jacques, der die Delfine liebt, aber noch mehr liebte er Enzo, den verrückten Italiener, denn der liebt das Leben und die Frauen. Man kann „The Big Blue“, Luc Bessons Werk über ein Duell in der Tiefsee, für kitschig halten, aber für Taucher ist es der Film. So wie Enzo und Jacques wollen sie sich bewegen im Wasser, und Benjamin Franz wollte mehr – er wollte leben wie Enzo und Jacques. Benjamin Franz ist ein Kerl mit Dreita- gebart, ein Kerl, der eine goldene Schwanz- flosse an einem Lederband um den Hals trägt, einer, auf dessen rechtem Oberarm drei Delfine um eine Sonne kreisen. Ben- jamin Franz hält zwei Weltrekorde, ist seit zwei Jahren Tauchprofi, als er am 15. Juli in den Condor-Flieger steigt, der ihn nach Ägypten bringt, ans Rote Meer. Warum tut einer wie er, was er tut? „Wer Streeter beim Training einmal mit Delfinen geschwommen ist,

CHRISTOPH GERIGK CHRISTOPH fragt nicht mehr“, sagt er und guckt wie 165 Wenn sich oben eine Wolke vor die Sonne schiebt, wirken 70 Meter hier unten wie 100. Tanya orientiert sich am Summen des Schlittens, an den Schmerzen in ihren Gehörgängen, sie lauscht in sich hinein. Ihr Körper ist anders hier unten. Das Herz schlägt nur noch 40-mal pro Minute, mit Sauerstoff werden fast nur noch Herz und Gehirn versorgt. Und alles, was mit Luft gefüllt ist, wird gequetscht. Weil alle zehn Meter der Druck um ein Bar steigt, hat sich die Lunge längst auf die Größe eines Apfels zusammengezogen. „Es fühlt sich an wie ein Lastwagen auf der Brust“, sagt Tanya. Und weil die Luft komprimiert ist, wird der Auftrieb geringer und die Schussfahrt

PETER SCHINZLER (L.); PETER SCHINZLER (R.) FÜHRMANN MANFRED / DPA rasanter; Tanya Streeter muss den Schlitten bremsen. Der Druckausgleich funktioniert noch, denn noch kann sie Luft in die Ohrtuben pressen. Die Schmerzen verge- hen, auf 80 Metern geben die ersten ihrer Sicherungstaucher Klopfzeichen. Und Tanya blinzelt Taucher Franz beim Training, beim Tauchgang und führt Daumen und Zeigefin- Eine Folter für menschliche Innereien ger zusammen – das Okay-Zei- chen der Taucher. bekifft. Wie Taucher gucken, wenn sie zu- Tiefer. rückkommen an die Oberfläche. 100 Meter. Sie darf die Kon- Der Sommer 2002 ist ein heißer Sommer zentration nicht verlieren, weil je- für Freitaucher, denn Tanya und Benjamin der Fehler tödlich sein kann. Es trainieren gleichzeitig, er vor Safaga im gibt ja wirklich so etwas wie Tie- Roten Meer, sie vor den Turks- und Caicos- fenrausch; man denkt ziemlich Inseln. Beide wissen voneinander und auch, langsam da unten. Dass Jacques, dass im Oktober vor Nizza der Franzose ruhiger Mann, einer, der viel liest über sei- der Franzose in „The Big Blue“, am Ende Loïc Leferme antreten wird und vor Santo nen Sport, aber er ist auch ein ehrgeiziger des Films einem Delfin in die Nacht folgt, Domingo noch eine Vierte: Audrey Mestre, Mann, und obwohl er weiß, was er tut, finden die wenigsten Freitaucher absurd. 28, eine Französin, eine Journalistin, die glaubt er, „mir kann nichts passieren“. 130 Meter. Tanya Streeter kann sechs sich in ihr Thema verliebt hat. Ihr Thema Benjamin steigert sich in den ersten vier Minuten lang die Luft anhalten, das ist war der kubanische Freitaucher Francisco Tagen von 126 auf 137 Meter und meint, nicht das Problem. Das Problem ist der „Pipin“ Ferreras, der behauptet, er habe nun könnte er einen Tag Pause gebrau- Druck. Es presst, es reißt, es schmerzt, und schon 162 Meter geschafft, leider nach sei- chen. Aber das Wetter ist gut, das muss wo die Grenze ist, an der ihr Trommelfell nen eigenen Regeln. Nun will Audrey selbst man nutzen. platzt, weiß Tanya nicht; das wissen Frei- Tanya Streeter taucht in der taucher erst hinterher. Tanya weiß nur, dass DAS HERZ SCHLÄGT NUR NOCH Karibik alle zwei Tage einmal. dieser Druckausgleich der letzte sein wird, Niemand weiß wirklich, was im da sie von nun an nicht mehr genug Luft 40-MAL PRO MINUTE. DIE LUNGE IST Körper in 160 Meter Tiefe pas- hat, um irgendeinen Hohlraum zu füllen. siert, weil niemand jemals dort Sie rauscht an Dave vorbei, dem australi- SO GROSS WIE EIN APFEL. unten war, aber dass durch die schen Sicherungstaucher, der auch hier un- Quetschung der Lunge beim Ab- ten nur Shorts und natürlich die Flasche hinab; „um Audrey sorge ich mich“, sagt stieg oder durch die Ausdehnung der Lun- mit dem Gasgemisch der Tiefseetaucher Tanya eines Abends ziemlich beiläufig, „sie ge beim Aufstieg oder durch Stickstoffbläs- trägt, und Dave folgt ihr bis 150 Meter und macht zu viele Tauchgänge an einem Tag.“ chen im Blut oder wodurch auch immer brabbelt etwas ins Salzwasser, und das Man kennt sich, und man duzt sich in Embolien entstehen können, das weiß klingt wie: „Weiter, Tanya, du bist fast da!“ der Sekte der Freitaucher, denn die Sekte Tanya. „Alle zwei Tage einmal tiefer als 160. Metall schlägt auf Metall, der Schlit- ist klein. „Eine Nette“, sagt Benjamin über 100 Meter, mehr geht nicht“, sagt sie. ten stoppt. Das Seil ist geeicht, die Juroren Tanya, „a nice guy“, sagt Tanya über Ben- Benjamin weiß das nicht. haben es überprüft. Die Kamera, die am jamin. Ihn nimmt die Sekte ernst, obwohl Benjamin will Ende August 165 Meter Schlitten hängt, ist versiegelt, Betrug un- auch Tanya zwei Rekorde hält; Apnoe-Tau- tief tauchen, Tanya 160, und Tanyas Plan möglich. 160 Meter. Sehr langsam legt chen ist ein europäischer Sport und ein halten die Männer für wahnwitzig – der Tanya ihre linke Hand um den Haltegriff Sport für Männer. „Das Mädchen aus Te- Frauen-Rekord liegt bei 136 Metern. des Ballons, der sie wieder emportragen xas fickt die Juroren“, heißt es bei den wird; sehr langsam öffnet ihre rechte das Männern. ie ersten 80 Meter sind Kinderkram. Ventil. Aber Tanya Streeter wartet. Die beiden Rivalen trainieren sehr un- DTanya Streeter steht in ihrem Korb Haucht einen Kuss ins Meer. Öffnet die terschiedlich. und hört den Schlitten in die Tiefe rau- Augen und sieht schwarzes Wasser. Denkt, Benjamin Franz taucht in Ägypten mor- schen. dass sie gerade die gewaltigste Leistung ih- gens viermal und viermal am Nachmittag, Es summt. Laut. res Lebens vollbracht hat. Denkt, dass kein und zwischen den Tauchgängen macht er Sie lässt ihre Augen geschlossen, denn Mensch jemals so tief war. „Ich hatte mir ein paar Minuten Pause. Benjamin ist ein was sie sehen würde, würde sie täuschen: vorgenommen, es nicht zu schnell vorbei-

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Werbeseite Gesellschaft gehen zu lassen“, sagt sie, „ich wollte mich hinterher erinnern können.“ Sie bleibt 17 Sekunden lang dort unten, fühlt die Kälte nicht, aber sehr langsam wird ihr klar, dass sie jetzt vor einer Wand aus Wasser steht, und die Wand ist 160 Meter hoch. Es wird Zeit. Sie startet den Ballon.

as Apnoe-Tauchen ist so alt wie die DMenschheit. Archäologen haben in Mesopotamien 4500 Jahre alte Perlen ge- funden, die vom Meeresgrund stammen und natürlich von Freitauchern heraufge- holt wurden, von wem sonst? Phönizier und Karthager setzten auf ihren Flotten Apnoe-Taucher ein. Und an den Küsten Japans tauchen noch heute rund 10 000 Ama, jene Frauen, die ihre Dörfer mit Mee- resgetier versorgen, Frauen, die zum My-

thos in der Sekte der Freitaucher wurden, DEFD weil viele von ihnen, so verlangt es die Tra- Unterwasser-Film „Im Rausch der Tiefe“ (1988): Mythisches Duell, von dem Taucher träumen dition, im Wasser nichts als Tanga und Kopftuch tragen. Enzo Maiorca schaffte 46 Meter, dann te Sizilianerin abgebildet wurde. Deshalb Der Sport Apnoe-Tauchen wurde 1949 49, er war der beste Taucher der sechziger hatte Maiorca den Film in Italien jahrelang erfunden, als der Italiener Raimondo Bu- Jahre. Die Ärzte sagten ihm, 50 Meter verbieten lassen. cher, ein Pilot, in einer Bar auf Capri er- würde er nicht überleben, aber Enzo Aber auch Jacques gab es wirklich: Der zählte, er habe ohne Pressluft und in 30 schaffte 90, 94 und 101 Meter. Und darum Franzose Jacques Mayol war in den späten Meter Tiefe einen Zackenbarsch gefangen. wurde der echte Enzo Maiorca zum fikti- Sechzigern zu Enzo Maiorcas Gegenspieler „Niemals“, sagte sein Gegenüber. ven „Enzo Molinari“, jenem Italiener, der geworden. Voriges Jahr, kurz vor Weih- Die Wette galt. Und am nächsten Mor- das Leben liebt und die Frauen, gen tauchte der andere mit Pressluft 30 dem Helden von „The Big MAN DENKT ZIEMLICH LANGSAM Meter tief und hielt eine Dose mit 20000 Blue“. Lire in der Hand; dann kam Bucher und Dieser Spielfilm ist die Ge- DA UNTEN. UND JEDER nahm ihm den Wetteinsatz ab. schichte des Zweikampfes zwi- 30 Meter, der erste Weltrekord. schen Enzo und Jacques. Im FEHLER KANN TÖDLICH SEIN. Enzo Maiorca, heute 71, hörte diese Film übernimmt sich Enzo, ver- Geschichte in einer Bar in Syrakus im Süd- letzt sich, und als er sterbend in Jacques nachten, erhängte sich der wahre Jacques osten Siziliens und beschloss, so etwas Armen liegt, sagt er: „Ich muss dahin, Mayol in seinem Haus auf Elba. könne er auch. Er war Pharma-Vertreter wo ich hingehöre, bitte.“ Und Jacques Und Enzo Maiorca, ein Herr mit kurzen für Boehringer damals, aber er war auch ei- bringt ihn hinab und lässt ihn ins Weite weißen Haaren und riesigen Ohren, mit ner der besten Speerfischer Siziliens. schweben. Octopus-Tätowierung auf dem Oberarm Enzo hatte mit der Taucherei angefan- Enzo Maiorca hat seinen Filmtod gehasst, und Taucheruhr am Handgelenk, blickt aus gen, als er zwölf Jahre alt war. Da fand er aber noch viel mehr hat er gehasst, dass seinem Fenster auf die Bucht von Syrakus am Strand eine Gasmaske, die die Eng- seine Mutter, in Wirklichkeit eine Signora und spricht von Verrat. „Jacques Selbst- länder oder die Amerikaner verloren aus Florenz, von Regisseur Besson als fet- mord war Verrat“, sagt Maiorca, „das Meer hatten, und damit blickte er zum war doch unsere Schule. Das Meer hat uns ersten Mal hinab ins Mittelmeer. doch beigebracht, dass es im Leben darum Nach ein paar Sekunden war das geht zu kämpfen.“ Ding voll wie ein Aquarium, aber Aber vielleicht, sagt Maiorca dann, war dieser Blick reichte, sagt Enzo. der Franzose ja wirklich zu weich. Das Es war „amore fisico“, körper- Meer heißt „la mer“ auf Französisch, und liche Liebe, das zwischen Enzo „la mer“ ist weiblich. und dem Meer. Im Italienischen heißt es „il mare“. Das Enzo hörte auf mit der Jagd, Meer, sagt Enzo Maiorca, ist ein Mann. nachdem er tief unten einen Zackenbarsch in der Hand gehabt s ist 15.45 Uhr am 21. Juli, als Benjamin und das Herz des Fisches gefühlt EFranz aus dem bayerischen Willmering hatte; „es war falsch zu töten“, in der Tiefe des Roten Meeres zum siebten sagt er heute. Enzo begann mit Mal an diesem Tag den Ballon mit Luft dem Training, und er trainierte, füllt, der ihn wieder nach oben bringen indem er die 50 Stufen zu seiner soll. Der Aufstieg ist die Kunst beim No-Li- Wohnung in der Altstadt von Sy- mits-Tauchen. Weil sich die Luft nun wie- rakus hinauf- und hinabrannte, der ausdehnt, schießt der Ballon immer zehnmal, ohne Luft zu holen. schneller nach oben. Und weil während „Dort auf den Stufen, mit Luft di- der letzten zehn Meter der Druck von zwei rekt vor meiner Nase, wurde ich auf ein Bar, also um die Hälfte sinkt, ver-

stark“, sagt er, „das war wie Hun- IDELSON-GNOCCHI / VERLAG AUS DEM BUCH: HOMO DELPHINUS doppelt sich nun in wenigen Sekunden die gern vor dem gedeckten Tisch.“ Film-Vorbilder Mayol, Maiorca (1969): Die Schule Meer Größe der Lunge, und der Sauerstoffdruck

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Werbeseite s ist wenige Minuten nach rapie, Laufband, Schwimmen, jeden Tag, Eelf Uhr am 17. August, als vermutlich geht das noch eineinhalb Jahre Tanya Streeter aus Austin (Te- lang so. „Zum Wiedererlernen von Bewe- xas) vor den Turks- und Caicos- gungsmustern sind 10000 Wiederholungen Inseln die Oberfläche erreicht. nötig“, sagt sein Therapeut. Drei Minuten und 26 Sekunden Es sind lange Tage in der Klinik. Benja- hat ihr Tauchgang gedauert, und min Franz liegt in seinem Zimmer, als ihn 20 Meter unter der Oberfläche die Nachrichten erreichen. hat wie immer ihr Ehemann und Tanya Streeter schreibt Autogramme Manager Paul auf sie gewartet. in der Karibik, als sie die Nachrichten er- Nase an Nase tauchen sie auf. reichen. „It’s a new world record“, ru- Diese Nachricht: Der Franzose Loïc Le- fen die Männer an Bord. ferme hat vor Nizza 162 Meter geschafft. „Freitauchen ist der einzige Und überlebt. Sport, in dem eine Frau den Und diese Nachricht: Beim Versuch, Weltrekord der Männer gebro- 171 Meter zu tauchen und damit Tanya chen hat“, sagt Tanya Streeter. Streeters Weltrekord zu brechen, ist die

LISTIN DIARIO / AP LISTIN Sie sei zwei Köpfe kleiner als Französin Audrey Mestre, jene Journalis- Taucherin Mestre: Den Rekordversuch nicht überlebt die Kerle, und ihre Lunge fasse tin, die sich in ihr Thema verliebt hatte, am fünf Liter weniger Luft, „aber 12. Oktober vor der Küste der Dominika- im Blut stürzt ab. Daran liegt es, dass vie- sie taucht ruhiger auf als jeder Mann“, sag- nischen Republik tödlich verunglückt. le Taucher ohnmächtig an die Oberfläche te Luigi Magno, der Arzt. Nach 1:42 Minuten ruckelte es am Seil. kommen. Es ist Mitte Oktober, und Benjamin Franz Audrey war unten, auf 171 Metern, auf Welt- Es war ein guter Tag, am Morgen ist er liegt im Klinikum Maximilian von Kötzting rekordtiefe, aber Rekorde gelten nur, wenn viermal hinuntergeschossen, 70, 100, 127 in der Oberpfalz. Er spricht wieder, langsa- die Taucher lebend auftauchen. Audrey, da- und 137 Meter tief, dann hatte er dreiein- mer zwar, aber klar und konzen- halb Stunden Pause. Und dies war nun der triert. Er fährt mit dem Rollstuhl DER SIEBTE TAUCHGANG AN dritte von den geplanten vier 100-Meter- durch die Gänge, und ganz lang- Tauchgängen am Nachmittag, und es war sam kommt die Kraft zurück. DIESEM TAG? „DAS IST DOCH SELBST- ein guter Tauchgang, sehr entspannt, das Benjamin Franz sagt, er sei Wasser sehr warm, Benjamin konnte die froh, dass es vorbei ist. Dieser MORD“, SAGTE DER ARZT. Fische am Riff beobachten. Stress. Diese Jagd nach dem Re- Er kommt oben an, aber er kann sich kord. Er sagt, er wolle nie wieder tauchen. mit begann das Drama, brauchte dort unten nicht mehr bewegen. Er will schreien, aber Er sagt, er habe verstanden, was wichtig ist 25 Sekunden, um den Ballon zu füllen. Sie er kann nicht mehr sprechen. Er liegt ein- im Leben, seine Frau Birgit, sein Sohn kam nur 7 Meter hoch und blieb dann für fach da, und seine Leute ziehen ihn aus Noah, zwei Jahre alt, und man wünscht 30 Sekunden auf 164 Metern hängen. Wie- dem Wasser. ihm, dass er das ernst meint. so? Erst nach 3:50 Minuten erreichte sie Es dauert eine Stunde, bis das Boot Sein Trainingsplan ist so voll wie früher 120 Meter, dort wurde sie ohnmächtig, ließ zurück ist an der Küste; es dauert weite- und trotzdem anders: Sprechen, Neuro- die Geräte los, sackte in die Tiefe. Audrey re eineinhalb Stunden, bis der Kranken- physiologie, Krankengymnastik, Ergothe- trug kein Sicherungsseil, mit dem ihr Team wagen in der Klinik ist, und noch eine sie hätte hinaufziehen können. Der Stunde, bis Benjamin Franz in der Druck- Sicherungstaucher Paul griff sie kammer liegt. Die Ärzte simulieren erst und brachte sie auf 90 Meter, wo er 20 Meter Tiefe, dann 9 Meter, und das warten musste, weil ein zu schnel- ist vermutlich eine gute Idee, aber sehr ler Aufstieg ihn selbst gefährdet spät. hätte. Von oben kam Pipin, Au- Benjamin Franz, 31 Jahre jung, hatte ei- dreys Thema und Ehemann, mit nen Schlaganfall. Der Rechtshänder, der Sauerstoff herab. Pipin brauchte früher mal Holzbildhauer war, ist halbsei- 90 Sekunden für den Abstieg; er tig gelähmt, und es ist die rechte Seite. trug Audrey nach oben. Nach 8:38 „Wir haben mit allem gerechnet“, sagt er, Minuten war Audrey Mestre an „aber nicht mit einem Schlaganfall.“ der Oberfläche. Tot. Luigi Magno, Arzt der italienischen Tau- Wo ist das Limit der No-Limits- cher-Nationalmannschaft, sagt, durch den Taucher? schnellen Aufstieg und die schnelle Aus- „Es muss eine Grenze geben, dehnung der Lunge „entstehen Bläschen, irgendwo, aber wir sind ihr noch die direkt in die Arterien und Sekunden nicht einmal nahe“, sagt Tanya später ins Hirn gelangen“. Ein Schlaganfall Streeter. sei erstens zu verhindern, indem Taucher „Man kann sich perfekt vorbe- nicht zu viele Tauchgänge machen, und reiten“, sagt Benjamin Franz, „der zweitens zu kurieren, indem sie sofort in Haken ist, dass man nicht weiß, die Druckkammer gelegt werden und dort was man nicht weiß.“ Sauerstoff atmen: „So kannst du die Bläs- Er wohnt jetzt in Zimmer 290 in chen ersticken.“ Kötzting, und in seinem Regal ste- Entschuldigung, sagt Dottore Magno hen Delfine. Delfine aus Holz, aus dann, der wievielte Tauchgang des jungen Glas, aus Stoff, Geschenke von Deutschen war das an diesem Tag? Der Fans und Freunden. „Ich kann die

siebte? „Das ist doch Selbstmord, dann hat PETER SCHINZLER Scheiß-Viecher nicht mehr sehen“, er Glück, dass er noch lebt.“ Tauchopfer Franz: Nie wieder in die Tiefe? sagt Benjamin Franz. ™

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Alpha-Tier und Omega Ortstermin: Der Kampf um die besten Sitzplätze im deutschen Bundestag in Berlin

as ist hier wie am Pool in Mallorca“, einsam wie ein Springer auf der Planke. Er Abonnement, mit Namensschildchen. Alle sagt Ditmar Staffelt und eilt durch ist sauer wegen der Stuhlordnung. Die FDP anderen platzieren oder deplatzieren sich Ddie Lobby zum Eingang des Ple- hatte zwei Plätze in der ersten Reihe ver- selbst, in jeder Sitzung neu. narsaals. „Da gibt es Figuren, die kommen langt. Dann hätte Gerhardt den Wester- Die besten Plätze sind die mit Tischchen, eine Dreiviertelstunde vor der Sitzung, welle neben sich und nicht ständig im in den ersten sechs Reihen. Wer einen werfen ihre Aktentasche auf die besten Nacken, so wie jetzt. Doch es gibt nur 13 Tisch hat, ist präsent. Den sehen die Ka- Plätze und gehen dann Kaffeetrinken.“ Tischchen in der ersten Reihe, und der meras. Nur wer Akten und Zeitung vor Staffelt selbst kann sich Zeit lassen. Als kommissarische Ältestenrat hat jeweils fünf sich packen kann und lauernd mit dem parlamentarischer Staatssekretär hat er einen den beiden großen Fraktionen und zwei Stuhl nach vorn und hinten schieben, so Platz auf der Regierungsbank. Keine Ge- den Grünen zugesprochen. Es ist unheim- wie’s Joschka gerade macht, der hat noch fahr, dass da jemand sein Handtuch hinlegt. lich, ganz allein an der Front. Sind die an- eine Zukunft. Der zählt. Es ist die erste wichtige Plenarsitzung deren überhaupt noch da? Macht heißt, sich ein Terrain erkämp- des 15. Deutschen Bundestages. Der Saal Der PDS hat der Ältestenrat die schlech- fen zu können. Und sei es ein blauer Ses- ist voll, die Garderobieren blättern mit, als testen Plätze zugewiesen. In einem Res- sel genau hinterm Fraktionschef. In einem Schröder seine 21 Seiten Regierungser- taurant wäre das der Tisch neben den Toi- System freier Platzwahl bedarf es erhebli- klärung herunterliest, und cher Autorität, um seinen ein Saaldiener äußert sich Ort zu halten. Der Alt- enttäuscht, dass nach der kanzler konnte das. Auch Wahl die belegten Brötchen ohne Aktentasche. im Haus teurer geworden Der Plenarsaal ist ein sind. Einige Abgeordne- Raum, in dem sich die Teile te studieren „Kürschners nach unsichtbaren Kraftlini- Volkshandbuch. Deutscher en anordnen, nach Launen, Bundestag“: Who is who? Strategien, gruppenpsycho- Und wo? logischen Mechanismen. Na- Während der Kanzler türlich würde niemand zu- vom Staat erzählt, der nicht geben, dass die Sitzordnung „in das private Leben der nur eine zivile Form der Menschen hineinregieren“ Hackordnung ist. soll, ist im Saal ein Orten, Aber ist es ein Zufall, Sichten und Taxieren zu dass Rezzo Schlauch nur spüren. Wer sitzt wo und noch im Mittelfeld seiner weshalb? Schäuble scheint Fraktion sitzt, jedoch genau

sich noch nicht aufgegeben DARCHINGER MARC FOTOS: dort, wohin mittags ein zu haben, sitzt geradezu in PDS-Abgeordnetenduo im Bundestag: Kein Anrecht auf einen Tisch Sonnenschein fällt und auf Polposition, während sich seiner Platte spielt? Auch der Neuling ganz hinten letten. Durch breite Pestgräben von der Helmut Kohl hatte sich nach seiner Ab- befindet: „Wie in der Kirche“, hat er ge- SPD-Fraktion getrennt, sitzen die beiden wahl einen Sonnenplatz gesucht. sagt, „wer hinten sitzt, der kann auch Abgeordneten am Ausgang, so verloren, Ist es Zufall, dass Herta Däubler-Gmelin schnell wieder gehen.“ Die Grünen haben als hätte man ihnen aus Mitleid noch einen ohne Not in der vorletzten Reihe Platz ge- zwei Frauen als Sichtblende in der ersten Schemel hingestellt. „Wir kämpfen“, sagt nommen hat? Dass ganz hinten ein Herr Reihe, die SPD eine Phalanx, deren Män- . „Wir kämpfen um einen Tisch. mit gelber Krawatte so viel Leere um sich nerschweiß man zu riechen meint. Es geht nicht, dass wir auf den Knien gesammelt hat, dass er seine langen Arme Nach der Wahl vom 22. September ist schreiben müssen.“ Es habe auch einen noch über die Nebenstühle hängen kann? ein Ruck durch die deutsche Politik ge- Briefwechsel mit Thierse gegeben. Doch Als wollte er sagen: Mir doch egal, wenn gangen. 174 Abgeordnetensessel wurden der habe gemauert: „Sie haben kein An- ich nicht mehr Verteidigungsminister bin? abgeschraubt und umgesetzt. 66 Sitze ver- recht auf einen Tisch.“ Sie nicht. Hier hinten ist Arlington, der Ruheplatz schwanden für immer im Depot, darunter Aus Protest gegen Thierses Regiment hat der Helden. Da rastet auch der ehemalige die letzte Reihe komplett. Die Hinterbank. Pau einen Picknickkorb mit in die Sitzung Außenminister Meckel im Sessel, da lecken Durch das Verschwinden der PDS-Frak- gebracht. Mit Thermoskanne und Stullen. sich die Geschassten ihre Wunden. Es gibt tion sind die Grünen in die linke Hälfte Ein Campingtisch als nächste Stufe der Es- Alpha-Tiere, und es gibt die Omegas. Das des Plenarsaals gerutscht. Hans-Christian kalation? sind im Wolfsrudel jene, die als Letzte fressen Ströbele hat das gefreut. Aber warum hat Ein voll besetzter Plenarsaal ist die zur und von jedem gebissen werden dürfen. er sich heute ganz an den rechten Rand ge- Sitzordnung geronnene Verteilung der par- Manch einer muss nicht getrieben werden. setzt, in die Blicklinie des Kanzlers? lamentarischen Macht. Nur für Fraktions- Manch einer geht freiwillig ganz nach hinten. Wolfgang Gerhardt sitzt währenddessen vorsitzende, Stellvertreter und parlamen- Im deutschen Bundestag ist es ein wenig allein an der Spitze seines Tortenstücks, tarische Geschäftsführer gibt es Sitze im so wie in der Politik. Alexander Smoltczyk

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Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Rucksack-Illusionen ies ist das beklemmende Porträt Deiner Freundschaft, die ihr unheim- liches Ende auf einer Reise findet – und das Leben aller Beteiligten für immer verändert. Zwei Engländerinnen, die schöne, selbstbewusste Esther und die dickliche, zurückhaltende Gemma, rei- sen nach Indien, um sich dort zu amü- sieren. Doch vor Ort sind die Mädchen bald überfordert – von der Hitze, den Menschenmassen und dem Elend. Esther möchte für eine erfahrene Ruck- sacktouristin gehalten werden und alles vermeiden, was nicht zum coolen Hip- pie-Image passt, merkt aber, dass Gem- ma mit dem anstrengen- den Land besser zu- rechtkommt als sie. Gemma wehrt sich zu-

nehmend gegen Esthers PUBLICAD Versuche, sie zu bevor- Szene aus „Mamma Mia!“ munden, und verschwin- det eines Tages überra- MUSICAL schend. Das temporeich erzählte Debüt der Eng- länderin Katy Gardner, 38, ist nicht nur Vater verzweifelt gesucht das spannende Psychogramm einer ver- meintlich innigen Mädchenfreundschaft, ieder so eine Geschichte, die nun auch im Hamburger Operettenhaus es ist auch die anschauliche Darstellung Wkein Leben schreibt: Tochter einer an der Reeperbahn für volle Kassen eines farbensatten Landes. Autorin allein erziehenden Hippie-Mutter in sorgen wird, einzig und allein um eine Gardner hat immer wieder in Indien als Griechenland will heiraten und vorher Hommage an die schwedische Kultfor- Anthropologin gearbeitet. Treffend und endlich wissen, wer ihr Vater ist. Drei mation Abba und ihre Hits aus den Sieb- ironisch schildert sie auch die Rucksack- Herren kommen in Frage, alle werden zigern. Verpackt in die leicht törichte touristen mit all ihrer Naivität, ihren zum Fest eingeladen und einem verbalen Tochter-sucht-Vater-Handlung, verbreitet spießigen Vorurteilen, ihren Erlösungs- Vaterschaftstest unterzogen. Die Sach’ ein stimmlich und tänzerisch agiles En- sehnsüchten und ihrem Gejammer, geht selbstverständlich anders aus als ge- semble mit eingedeutschten Evergreens wenn sie mal der Durchfall plagt. dacht. Aber die Story ist so banal wie wie „Dancing Queen“, „Waterloo“ oder egal, denn in Wahrheit geht es in „Mam- „The Winner Takes It All“ letztlich nur Katy Gardner: „Die fremde Freundin“. Droemer Verlag, ma Mia!“, dem Welterfolgsmusical, das eines: lautstarke gute Laune. München; 320 Seiten; 19,90 Euro.

KULTURPOLITIK stärkt sich der Gegenwind. Wesentliche Aspekte seien noch nicht geklärt worden, verrät Hans-Jochen Waitz, Mitglied des Hanseatische Verwirrung Aufsichtsrats. Der wichtigste: Besteht Gundlach tatsächlich dar- auf, alleiniger Herr über die Deichtorhallen zu sein, oder sollte n dieser Woche soll es sich entscheiden – was wirklich aus den man nicht dringend einen (jüngeren) Nachfolger für Felix su- IHamburger Deichtorhallen wird. Vor drei Monaten hatte chen? Noch sei auch nicht sicher, wie viele der städtischen Mit- Hamburgs Kultursenatorin Dana Horáková mit der Mitteilung tel Gundlach für sein Haus der Fotografie beanspruche und ob für Verblüffung gesorgt, als neuen Direktor des bekannten Aus- genügend Geld für die zeitgenössische Kunst zu verteilen blei- stellungshauses den Fotografen und be. Mit denen habe sich die Institution Sammler F. C. Gundlach, 76, gewonnen Gundlach, Felix schließlich einen Namen gemacht, so zu haben. Er soll den langjährigen Leiter Waitz. Bei einem informellen Gespräch Zdenek Felix, 64, ablösen, der im kom- sollen die Fragen nun endlich geklärt menden August in den Ruhestand geht. werden. Bis dahin sei alles offen – viel- Gundlach darf ein Haus der Fotografie leicht ist es das aber anschließend auch einrichten – und bringt als Gegenleistung noch. Gundlach jedenfalls ist vor allem seine berühmte Fotografiesammlung als daran interessiert, „ein vitales Institut Leihgabe ein. Allein: Noch ist der Ver- und eine zentrale Adresse für Fotogra- trag mit ihm nicht unterschrieben. Und fie“ zu gründen, und benötigt erst einmal im Aufsichtsrat der Deichtorhallen, der Gelder für den Einbau von Foto-Depots:

einer Ernennung zustimmen muss, ver- / DPA SOEREN STACHE „Alles andere muss sich dann ergeben.“ 175 Szene MATTHIAS HIEKEL / DPA (L.); JOSE GIRIBAS (R. + U.) (L.); JOSE GIRIBAS HIEKEL / DPA MATTHIAS Raffaels „Sixtinische Madonna“ in der Galerie Alte Meister in Dresden, sanierungsbedürftige Depoträume

MUSEEN Bildermagazine wird Millionen ver- schlingen, sagt Martin Roth, 47, Ge- neraldirektor der Dresdner Kunst- Nach der Flut ist sammlungen. „Warum“, fragt er, „er- laubt man uns nicht, ein neues Depot zu bauen? Eines, das oberhalb der vor der Flut Erde liegt und die Bestände aller Dresdner Sammlungen angemessen rei Monate nach dem Jahrhunderthochwasser wird am unterbringen kann?“ Ein solches La- DSamstag dieser Woche das Herzstück der Dresdner Kunst- ger könne sogar für das Publikum sammlungen wieder eröffnet: die weltberühmte Galerie Alter zugänglich sein und endlich auch die Meister im Semper-Bau am Zwinger mit ihren Vorzeigewerken Werke zeigen, die bislang vor der von Raffael, Dürer und Vermeer. Doch die Katastrophe ist da- Öffentlichkeit verborgen im Keller mit noch längst nicht überwunden: Die Kellerdepots des Mu- Roth lagen. Zurzeit aber heiße die Vor- seums, in die das schlammige Wasser eingedrungen war, sind gabe, so ärgert sich Roth, dass alles noch nicht wieder benutzbar, und so müssen die meisten der wieder auf den alten Stand gebracht werden muss – also auf den über 4000 Bilder aus den Magazinen in den nächsten Monaten vorsintflutlichen. Dabei könne niemand sicher sein, warnt er, noch in Seitenkabinetten der Ausstellungssäle gelagert wer- dass die nächste Jahrhundertflut nicht schon wieder vor der Tür den. Quasi in letzter Minute waren sie während der Flut eva- stehe: „Geht man so mit Staatsschätzen um, deren Wert Mil- kuiert und damit gerettet worden. Allein die Sanierung der liarden beträgt?“

KULTURGESCHICHTE angemeldet. 1949 eröffnete in Halle die ges Essen und niedrige Preise. Im Jahre erste Mitropa-Bahnhofsgaststätte, bei- 1961 kostete ein „Hackbraten in Sahne- Essen auf Rädern nah zeitgleich kam der Speise- und sauce mit Salzkartoffeln und Misch- Schlafwagenbetrieb wieder ins Rollen. gemüse“ ganze 2,20 Mark. Am Ende der on Konsum ist nur sehr wenig und Mitropa war das Zeichen für internatio- DDR beschäftigte der Konzern 15000 Vvon der Handelsorganisation (HO) – nales Flair, volkseigenen Luxus, kräfti- Mitarbeiter und machte 1,5 Milliarden die beiden größten Versorgungsketten Mark Umsatz – auf der Schiene, auf der DDR – ist gar nichts übrig geblieben. Mitropa-Schlafwagenabteil Fährschiffen, in Bahnhöfen, Raststätten, Aber die Mitropa-Speisewagen rollen Kneipen und Kiosken. Von der alten noch immer übers Land, „ein Hort der Pracht haben noch ein paar Speise- Toleranz“ und „der wahre Ort der deut- wagen überlebt, die nach und nach still- schen Einheit“, wie es der Autor Tilo gelegt werden. Doch in Berlin gibt es Köhler in seiner „Geschichte der Mitro- einen Verein „Freunde der Mitropa“, pa“ schreibt. („Sie werden platziert!“, der die Erinnerung an eines der größten Transit Buchverlag). Im Jahr 1916 mit gastronomischen Unternehmen der Hilfe ausländischer Geldgeber und deut- DDR pflegt. Tilo Köhlers Buch, witzig scher Banken als Mitteleuropäische geschrieben und opulent illustriert, zeigt Schlafwagen- und Speisewagen Aktien- ein Stück deutscher Geschichte aus der gesellschaft gegründet, baute das Unter- Perspektive von Reisenden. Der letzte nehmen ein dichtes Netz auf, überstand Gang zum volkseigenen Buffet wird zwei Weltkriege und wurde schon im ehemalige Mitropisten trösten und alle Mai 1945 in der Sowjetischen Besat- Speisewagen-Fans und Ostalgiker mit

zungszone als Aktiengesellschaft neu VERLAG TRANSIT Wehmut erfüllen. 176 Kultur

LITERATUR Lessing: Sie treten meist sehr bestimmt auf. Das Problem ist, dass sie bei immer „Die Buchhalter mehr Verlagen verschwinden. Gerade gestern schaute ich mir eine Neuerschei- herrschen“ nung an: ein wunderbares Cover, sehr schöner Druck – aber voller Fehler. Doris Lessing, 83, in London lebende Auch in meinem letzten, vor einem Jahr Schriftstellerin („Das goldene Notiz- erschienenen Roman „The Sweetest buch“, 1962), über den Qualitätsverfall Dream“ sind ein paar kleinere Fehler bei der Herstellung von Büchern drin; zum Beispiel eine ärgerliche Wort- wiederholung. SPIEGEL: Ms Lessing, Sie beklagen in der SPIEGEL: Bekommt nicht einmal Doris Londoner „Times“, dass die Qualitäts- Lessing mehr einen Copy Editor? standards bei der Produktion von Bü- Lessing: Ich hatte einen, aber einen chern verfallen. schlechten. Lessing: Ich beobachte seit Jahren, dass SPIEGEL: Wen machen Sie für den Qua- sich die Fehler in Büchern immer mehr litätsverfall verantwortlich? häufen, und dies ist, fürchte ich, Lessing: Seit die großen Konzer- nicht nur ein britisches, sondern ne und Verlagsgruppen das ein internationales Phänomen. Buchgeschäft dominieren, herr- SPIEGEL: Warum wird mittler- schen die Buchhalter. Für sie weile oft so schlampig produ- geht es vor allem darum, die Kos- ziert? ten zu senken, und sie sehen die Lessing: Im britischen Verlags- Copy Editors als nicht unbedingt wesen gab es die Institution der notwendig an. Also werden sie Copy Editors: sehr effiziente, abgeschafft, oder es werden billi- hochgebildete Menschen, die in ge, aber schlechte angeheuert.

den Manuskripten zielsicher / EFE DPA DALMAU SPIEGEL: Sollten die Leser sich jede Wortwiederholung und an- Lessing zu einer Protestbewegung zu- dere stilistische Mängel aufspür- sammenrotten? ten oder auch anmerkten, wenn die Lessing: Warum nicht? Ich befürchte Konstruktion unlogisch war. Sie haben allerdings, dass die heutigen Leser die jedes Manuskript Wort für Wort durch- hohen Standards, die früher einmal gearbeitet. üblich waren, gar nicht mehr kennen. SPIEGEL: Sie nennen diese Art von Lek- Sie haben sich an Fehler in Büchern toren „Drachen“. gewöhnt.

Kino in Kürze

„Lantana“. Ein Auto steht leer an einer Ray Lawrence und seinem Autor An- einsamen Straße. Eine Frau ist ver- drew Bovell ist ein Psychothriller gelun- schwunden. Ein Polizeidetektiv geht gen, der sich tief ins Beziehungsgeflecht fremd. Eine Nachbarin hat etwas sehr zwischen vier Paaren wagt. Eine rot Merkwürdiges beobachtet. Ein Psycho- leuchtende Pflanze im australischen Dschungel heißt Lantana.

„Scherbentanz“ beruht auf dem gleich- namigen Roman des Regisseurs Chris Kraus und erzählt von einer Blutsver- wandtschaft besonderer Art: Der an Leukämie erkrankte Jesko (Jürgen Vo- gel) kommt als verlorener Sohn nach Hause zurück und wird dort mit seiner ihm verhassten, völlig verwahrlosten Mutter (Margit Carstensen) konfron- tiert, die ihm durch eine Knochen- markspende vielleicht das Leben retten

DEFD könnte. Das klingt alles recht trübselig, Szene aus „Lantana“ doch Kraus und sein großartiges En- semble lassen diesen Film, in dem es analytiker traut sich selbst einen Mord stets ans Eingemachte geht, vor Leben zu. Eine einsame Frau tanzt mit einem und Leidenschaft pulsieren. Ein scho- Fremden Tango. Zwei verdächtige Män- nungsloser und doch hoffnungsvoller ner werden in einem Hotelbett über- Trümmerfilm über Familienbande, trau- rascht. Dem australischen Regisseur rig und humorvoll, brutal und liebevoll.

der spiegel 45/2002 177 Kultur

KUNST Leid-Bilder unter Triumphbögen Im Irak, Wiege der Kultur, dominieren die Monumente Saddam Husseins. In deren Schatten blüht allerdings die lebendigste Kunstszene der arabischen Welt. Viele irakische Künstler hoffen dennoch auf die Rückkehr der Uno-Waffeninspektoren: Sie fehlen als Käufer.

Gemälde in der Sabti-Galerie, Bagdad

orman Schwarzkopf hätte das Ding am liebsten gleich in die Luft gejagt. N„Ich hatte mich den ganzen Tag lang mit Colin Powell unterhalten“, erin- nerte sich der General später an die ersten Stunden des Golfkriegs. „Am Ende war ich so müde, dass ich mich nur mehr sagen hörte, wie gern ich den Triumphbogen in Downtown Bagdad sprengen würde. Powell war auch dafür, aber er meinte, wir sollten vorher den Präsidenten fragen.“ Ein paar Tage später hätten Anwälte des Pentagon die Idee dann aber verworfen. „Cowboys“, sagt Mohammed Ghani Hikmat, 73, milde. „Amerikaner. Einfache Leute.“ Ghani hat sich nicht gerissen um den Riesenauftrag auf dem Paradefeld im Wes- ten Bagdads. Irgendwann in den achtziger Jahren, am Schatt al-Arab tobte noch der Krieg gegen Iran, hatte Saddam Hussein ein paar Striche auf ein Stück Papier gekritzelt: zwei Krummsäbel zu einem Triumphbogen stilisiert, darunter seine

siegreichen Truppen. Der irakische Staats- (L.);MOHAMED EL-DAKHAKHNY (R.) STAR HENDEN / BLACK HARALD künstler Chalid al-Rahal sollte den Geistes- Bild-im-Bild-Komposition von Mohammed Ali Chalil in der Saddam-Kunstgalerie, Bagdad blitz des Präsidenten zum Monument Moderne irakische Kunst: Nachwehen der mesopotamischen Vergangenheit

178 der spiegel 45/2002 ausarbeiten. Er war gerade mit den ersten Präsidentenloge rufen: „Gut gemacht, „Nie hat sich im Irak das Bilderverbot Modellen fertig, da starb er. Meister.“ Dann bestieg er einen Schimmel des Islam wirklich durchgesetzt“, sagt Muail So traf es Ghani, einen akademischen und ritt unter dem Triumphbogen durch. Said Damardschi, früher Chef der Anti- Bildhauer, der sich dem ewig Weiblichen Für den irakischen Essayisten und Ar- quitätenverwaltung und heute Berater des verschrieben hat, den Heldinnen aus den chitekten Kanan Makiya, der in den USA Kulturministers. Kaum sei mit dem Ende großen Erzählungen des Orients, den le- im Exil lebt, ist das Siegesdenkmal auf dem des Osmanischen Reiches die Herrschaft gendären Frauen der sumerischen, assyri- Paradeplatz von Bagdad der Ausbund ei- des Sultans gebrochen gewesen, sei auch schen und muslimischen Vergangenheit des ner dem Monumental-Kitsch huldigenden das mesopotamische Erbe wieder erwacht. Zweistromlandes. Einen Künstler, der sie- Staatskunst und zugleich ein erschrecken- Porträts, Gesichter, selbst Akte verdrängten ben Jahre in Rom gelebt hat und seither des Beispiel dafür, wie politisch verfügbar die kalligrafische Ornamentik und die Ara- mit weichem Strich die Rundungen der Na- postmoderne Ästhetik sei, die nur mehr beske, und die Herrscher des neuen Staa- tur nachempfindet, am liebsten aber in ein leeres Spiel mit den Versatzstücken der tes machten regen Gebrauch von der sprich- Holz und Bronze arbeitet. Tradition treibe. wörtlichen Kreativität ihres Volkes. MOHAMED EL-DAKHAKHNY (L.) MOHAMED EL-DAKHAKHNY Gemälde von Ahmed al-Sati in der Sabti-Galerie, Bagdad Gemälde von Dschawad Salim in der Sabti-Galerie, Bagdad

„Am schwierigsten war es, mit den gi- Westliche Architekten wie Robert Ven- König Feisal I. ließ Porträts von sich an- gantischen Dimensionen zurechtzukom- turi, Frank Gehry oder Rem Koolhaas fertigen und Standbilder errichten, Putsch- men“, sagt er. „Am Ende musste ich vier mochten ganz anderes im Schilde führen, general Abd al-Karim Kassim 1960 am zen- 40 Meter lange Repliken des berühmten räumt Makiya ein, als sie in EuroDisney tralen Tahrir-Platz ein gigantisches Wand- Kadissija-Schwertes aus der Frühzeit des oder in den Universal Studios in Los An- relief aufstellen, das den Weg des Irak in Islam errichten. Die Herausforderung für geles ihre „Kathedralen des Entertain- die Unabhängigkeit feierte. Die 1968 an die die Statik war enorm.“ Monatelang pen- ments“ errichteten. Doch nirgendwo sei Macht gekommene Baath-Partei, säkulär delte Ghani zwischen Werkstätten in Bag- der Effekt dieser Art von Kunst drastischer und zumindest in ihren ästhetischen Idea- dad, London und Deutschland hin und spürbar als im niederschmetternden An- len strikt abendländisch ausgerichtet, sub- her, wo die Einzelteile des Monuments blick von Saddams Großbauten: Eine „pro- ventionierte die irakische Künstlergemein- hergestellt wurden. funde Leere“ umwehe diese Bauwerke, de mit den seit 1973 überreich sprudelnden Und dann die Sitzungen beim Präsiden- keinerlei „organische Verbindung stellt sich Petro-Dollars. ten. Sein Vorgänger hatte die Idee gehabt, her zwischen der Öffentlichkeit und den Ende der siebziger Jahre, bevor mit dem die Arme, welche die Schwerter in den Monumenten, die in ihrem Namen errich- ersten Golfkrieg das abertausendfach re- Himmel strecken, nach denen Saddams zu tet wurden“. Am Ende stehe der „Verlust produzierte Konterfei Saddam Husseins modellieren. Ghani war es, der dann zwei- des öffentlichen Raums in allen seinen Di- das Land am Tigris in Besitz nahm, blühte mal drei Stunden lang im Palast am Tigris mensionen“. Es sei, so Makiya, als hätte in Bagdad eine der vielfältigsten Kunst- Konversation machen musste, während er „Bagdad von Disneyland gelernt“. szenen des Orients. Sammler aus Europa Gipsabdrücke vom Unterarm und der rech- Makiya polemisiert nicht ohne Melan- und den Vereinigten Staaten gingen in den ten Hand des Präsidenten anfertigte. „Wir cholie, denn er weiß auch: In keinem Land Galerien und Cafés an der Abu-Nuwas- haben vor allem über Kunst geredet. Der der arabischen Welt wird die bildende Promenade aus und ein. Was der Irak bot, Präsident ist ein Laie, doch Architektur Kunst so hoch geschätzt wie im modernen war kreative Malerei und zeitgenössische und Bildhauerei interessieren ihn.“ Irak. In Kairo, so die herkömmliche Ar- Plastik, nicht historisierendes Kunsthand- Im Sommer 1989, fast eine Million Ira- beitsteilung zwischen den traditionsreichen werk für die Souvenirläden in den Hotel- ker und Iraner hatten im ersten Golfkrieg islamischen Kulturen, werden Romane ge- lobbys. ihr Leben gelassen, war schließlich die schrieben, in Bagdad ist man begeistert von „Heute“, sagt der Maler und Galerist Einweihung. Saddam ließ Ghani in die Gemälden und Plastiken. Kassim al-Sabti, „sind es fast ausschließ-

der spiegel 45/2002 179 Kultur

werklich zum Teil hervorragenden Gemäl- de sind meist grell farbig, häufig abstrakt, zum Teil folkloristisch. Dem irakischen Pu- blikum scheint der Sinn zurzeit eher nach Gauguin zu stehen als nach Schiele oder Munch. Frei nach Karl Kraus wird Kunst, die der Zensor versteht, zu Recht verboten. Dar- an gemessen, erlaubt die Zensur in Bagdad erstaunlich viel. So erregte der genialische Bildhauer Ismail Fattah al-Turk, einer der wenigen, die ihre Arbeiten auch im Aus- land ausstellen können, Aufsehen mit einer Skulptur, die einen Mann darstelle, der sich eine Maske vors Gesicht hält. Wahr- haftige Kunst muss sich eben doch ver- stecken – könnte das heißen. In Sabtis Ga- lerie stehen expressive Bronzeplastiken zum Verkauf, die ausgezehrte Figuren zei- gen, wie sie sich verzweifelt die Innereien aus dem Leib reißen. Dass für offene Regimekritik im Irak kein Platz ist, versteht sich von selbst. Dutzende Künstler und Schriftsteller sind in den Säuberungswellen vor und nach dem Golfkrieg verhaftet worden oder spurlos verschwunden. Die Intelligenz hat

PATRICK BAZ / AFP PATRICK sich zum größten Teil ins Ausland ab- Irakerin, Wandgemälde*: Subtile Formen des Aufbegehrens gesetzt, nach Amman, Paris oder New York – traditionelle Zentren des irakischen lich Leute von den Botschaften und aus- im Irak“, sagt Sabti, „die kaufen sich Au- Exils. ländische Journalisten, die meine Objekte tos statt Bilder.“ Die Dagebliebenen müssen sich mit sub- kaufen.“ Mindestens ebenso teuer wie das Früher habe der Staat seinen Künstlern tileren Formen des Aufbegehrens behel- Regime selbst ist die Bagdader Galeristen alles Material kostenlos zur Verfügung fen, und dafür bietet der politische Gegner der Abzug der Waffeninspektoren der Ver- gestellt, erinnert sich Sabti wehmütig, in Washington reichlich Gelegenheit. War- einten Nationen vor vier Jahren zu stehen wenn er an Importfarben aus Frankreich, um seine weiblichen Akte, in den sechziger gekommen. „Die Inspektoren waren die an italienische Leinwand und jene einzig- und siebziger Jahren noch dralle, kraft- Besten“, sagt Sabti. „Die haben Hunderte artigen Van Gogh-Pinsel aus Holland strotzende Amazonen, seit Jahren als zu- von irakischen Gemälden über Amman, denkt. „Heute ist alles Schmuggelware, sammengekauerte Hungerleiderinnen mit Dubai und Abu Dhabi in den Westen ge- billigste Qualität.“ Die Uno verbiete die vertrockneten Brüsten daherkommen – schafft. Professionelle Galeristen eigent- Einfuhr derartiger Waren – Verdacht auf darauf hat Mohammed Ghani Hikmat eine lich. Wir waren für dieses Geschäft sehr „dual use“. wasserdichte, doch am Ende nicht restlos dankbar.“ Trotzdem habe die künstlerische Pro- auflösbare Antwort: Die Sanktionen drück- Das Problem, im heutigen Irak Kunst duktion gewaltig zugenommen seit der ten sie nieder, das Depressive in seinem zu produzieren, so stellen es Sabti und Verhängung der Sanktionen, sagt Samira Spätwerk habe doch einen ganz verständ- viele seiner Kollegen dar, sei kein ideo- Abd al-Wahhab, Besitzerin der renom- lichen Grund. Schon wahr. Aber die so an- logisches, schon gar kein polizeiliches – es mierten Bagdad-Kunstgalerie. 400 ein- geklagte Schrumpfung des Humanen kann sei das Geld, das fehle für Arbeitsmate- getragene Studenten habe die Kunstaka- durchaus auch als Kritik am Regime ver- rial, aber auch bei der irakischen Kund- demie der Universität Bagdad 1989 ver- standen werden. schaft, die sich Kunst kaum mehr leisten zeichnet, heute seien es über 3000. Beim Ghani, der Vollender des monumenta- könnte. „Die Leute, die jetzt Geld haben Dekan gehen bereits Beschwerden von len Triumphbogens mit den gekreuzten Nachbarn ein, weil die Studenten mit ihren Schwertern, arbeitet jetzt seit Monaten an * Auf dem Campus der Universität Bagdad (1999). heruntergekommenen Pick-ups das vor- der Fertigstellung eines Sakralkunstwerks. nehme Wasirija-Viertel zuparken. Ein überlebensgroßer gekreuzigter Chris- Nach einfach zu entziffernden Bot- tus dominiert die Werkstatt des sunni- schaften politischen Unmuts sucht man in tischen Muslims. An der Wand hängen den Galerien am Tigris ebenso vergebens Reliefs mit Szenen aus dem Matthäus- wie nach platter Panegyrik. Die hand- Evangelium, bestimmt für die chaldäisch- katholische Suud-Kirche in der Bagdader Innenstadt. Begonnen, sagt Ghani, habe er diese Entwürfe vor fast zwölf Jahren, in den ersten Nächten des Bombardements von Bagdad. „Es war kalt, wir hatten keinen Strom, bei jedem Raketeneinschlag ging ein Teil meines riesigen Studiofensters

INE DEHANDSCHUTTER / REPORTERS / LAIF / REPORTERS INE DEHANDSCHUTTER zu Bruch. Ich habe mir ein paar Kerzen Triumphbogen in Bagdad, Bildhauer Ghani angezündet und mit dieser Passions-

Herausforderung an die Statik / AFP HAIDAR RAMZI geschichte angefangen.“ Bernhard Zand

180 der spiegel 45/2002 Werbeseite

Werbeseite Kultur

Fast alle Italiener, die in den sechziger er sie gar nicht sieht, sind ihm zwei kleine FILM Jahren als angeworbene Gastarbeiter nach Spielfilme gelungen („Kurz und schmerz- Duisburg oder sonst wohin kamen, ließen los“ und „Im Juli“), die vergleichsweise Heimweh ihre Familien zu Hause, bis sie nach ein großen Erfolg fanden, weil sie ihrem An- paar Jahren halbwegs Fuß gefasst hatten. spruch gerecht wurden, frei von Filmkunst- Insofern ist die „Solino“-Familie untypisch. Verdacht handfest und unterhaltsam zu nach gestern Fast alle fuhren Sommer um Sommer in sein. Der Beifall gab Akin Flügel. Mit sei- Sonderzügen, deren Zahl das Schienen- ner ganzen Begeisterungsfähigkeit hat er Fatih Akins italienisch-deutsche netz der Bundesbahn dem Zusammen- sich in das unvergleichlich größere, wirk- bruch nahe brachte, mit Sack und Pack lich große Projekt „Solino“ gestürzt. Familiensaga „Solino“: Nichts und allen Ersparnissen in die Heimat Aber haben all die älteren, schlaueren Halbes, aber auch nichts Ganzes. zurück, um sich vom Himmel über der Branchenhasen, die das Projekt dieses Ruhr zu erholen. schönen neuen Familienfilms schon hät- n Italien, wo ja sowieso alles schöner Auch insofern ist die „Solino“-Familie schelten, bevor Akin als Regisseur dazu- ist, soll das Kino in seiner besten alten untypisch, denn sie scheint – nicht aus ir- stieß, nie überlegt, wo denn eigentlich Opa IZeit ein echtes, Familienfrieden stif- gendeinem begreifbaren Grund, sondern und Enkel noch gemeinsam ins Kino ge- tendes Gemeinschaftserlebnis gewesen bloß weil es für die Filmstory bequemer ist hen? Sie sitzen doch nur nebeneinander sein. Stühle wurden herbeigeschleppt, das – mit dem Tag der Abreise die Verbindung vor der Glotze. Und haben all die Geber ganze Dorf versammelte sich abends auf ei- zu ihrer apulischen Verwandtschaft abge- und Gönner sich nie ernsthaft gefragt, wo- ner Piazza, vom Opa bis zum Enkel, auch brochen zu haben. Und da die Kamera her ihr Jungregisseur ganz plötzlich kön- die Mutter mit dem Jüngsten an der Brust, auch fortan kaum über den Tellerrand der nen sollte, was da verlangt war? und auf eine weiß getünchte Mauer proji- Pizzeria hinausschaut und sich also zum Fördergelder aus Berlin, Brandenburg, zierte der Wandervorführer einen Film, Beispiel kaum für die Funktion des „Soli- Düsseldorf, Köln, Hamburg, Straßburg und damit alle zusammen von Brüssel sind in den großen „Solino“-Topf Brot, Liebe und Phanta- geflossen, doch seine Substanz war und sie träumen konnten. Wer blieb ein dünnes, dürftiges Drehbuch aus nicht dabei war, soll nicht der Hand der fleißigen Hamburgerin Ruth behaupten, das habe es Toma („Liebesluder“, „Gloomy Sunday“), nie gegeben. das viel behauptete, aber wenig anschau- In den tristeren sechzi- lich machte, und also dem Regisseur kaum ger Jahren jedoch haben – half, dem Familienroman über das Amü- aus Gründen, die man sant-Anekdotische hinaus epische Fülle sich denken kann, aber und Festigkeit zu geben. Die Saga, die wohl nicht muss – mehr und am ehesten als fetter TV-Dreiteiler ihr mehr Leute Abschied ge- Publikum fände, kommt im Kino in einer nommen von dieser Idyl- zweistündigen Magermilchversion daher. le und sind nordwärts ge- Aber halt! Es ist ja keineswegs so, dass zogen, in eine abweisen- nicht Akins vitales Kinotemperament eine de, unwirtliche Fremde, ganze Reihe geglückter und bewegender

wo mit „dolce far niente“ WÜSTEFILM FOTOS: kleiner Episoden zusammengekriegt hätte, Schluss war, aber die har- „Solino“-Familie in Duisburg: Es fährt kein Zug zurück besonders im italienisch gesprochenen ers- te Mark lockte. Zum Bei- ten Drittel, das der unverschämte Laus- spiel die Familie Amato bubencharme der Kinderdarsteller in aus dem apulischen Dorf Schwung hält. Als dann allerdings, nach Solino, von deren Schick- einem eleganten Zehnjahressprung, Mo- sal über gut zwei Jahr- ritz Bleibtreu und Barnaby Metschurat in zehnte hin nun der Film die Rollen der herangewachsenen „Soli- „Solino“ erzählt: Mama, no“-Söhne eingestiegen sind, kommt die Papa und zwei kleine Geschichte nur noch ruckelnd und zu- Söhne stehen eines Tages ckelnd vom Fleck, und oft ist es allein die im Jahr 1964 im grauen, Musik, die mit unverdrossenem Gedudel verrußten Duisburg auf gute Laune simuliert. dem Bahnsteig, und es Am Ende, in den bitteren achtziger fährt für sie lange kein Jahren, ist auch das Duisburger „Solino“ Zug zurück. nicht mehr, was es einmal war. Der Vater Dass Papa kein Händ- und der ältere Bruder schlagen sich, jeder chen für die Maloche im für sich, weiter soso, lala im Kohlenpott Pütt hat, bekennt er schon durchs Leben; der Jüngere ist als Pfleger nach dem ersten Tag, und Hochbetrieb im „Solino“: Pasta für die Heimwehkranken mit der nun ewig kränkelnden Mutter ins Mama mit ihrer uner- wahre Solino heimgekehrt und findet dort, schöpflichen Lebensdynamik muss sich zur no“ in einem sich eben entwickelnden was des Sängers Höflichkeit das Glück Retterin aufschwingen: Man mietet ein leer duisburgisch-italienischen Nachbarschafts- seines Lebens nennt. Er restauriert die stehendes Lokal, man eröffnet das „Soli- biotop interessiert, bekommt der Film un- Idylle: Die hohe Mauer an der Piazza ist no“, das sich Pizzeria nennt, obwohl Mama gewollt etwas Klaustrophobisches. frisch getüncht, die Stühle sind herbeige- eigentlich immer nur in riesigen Töpfen Der junge Hamburger Regisseur Fatih schleppt, das Volk sitzt erwartungsvoll, rührt – und das Ristorante wird zur Wärm- Akin, 29, hat Talent, stürmische Energie Opa neben Enkel – also Augen zu und Film stube für all die entwurzelten Kohlenpott- und den unwiderstehlichen Charme eines ab! Man wird „Solino“, was das Publikum Itaker, denen ein Teller Pasta asciutta hilft, Sonntagskindes. Mit dem Glück des Leicht- angeht, gern alle Daumen drücken. Er hat ihr Heimweh zu stillen. fußes, der über Hürden nicht stolpert, weil es nötig. Urs Jenny

182 der spiegel 45/2002 Werbeseite

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Das Gregor-PrinzipESSAY Juli Zeh über die neue Bescheidenheit junger Leute

Zeh, 28, lebt in Leipzig und Zagreb, sie veröffentlichte zuletzt das Umgebung über andere Dinge definierten. Ihre Lieblingssätze lau- Buch „Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien“ teten: Geld macht nicht glücklich. Zweitens: Glück macht nicht satt. (Verlag Schöffling & Co.). Drittens: Denkt an unsere Worte. Ein paar Dinge hatten alle gemeinsam. Alle wussten, dass man beim Ausbruch des Dritten Weltkriegs einen feuchten Waschlappen rüher gab es Gregor. Auf die Frage, was er seinem Studium mit Backpulver bestreut und vor den Mund presst. Alle sollten es im der Betriebswirtschaft abgewinnen könne, pflegte er zu ant- Leben besser haben als ihre Eltern und wurden gleichzeitig wegen Fworten: Ich will eine goldene Kreditkarte mit meinem Namen Anspruchsdenken und Wohlstandskindertum verunglimpft. Sie darauf und einen Porsche 911 mit einer blonden Frau darin. Das waren hochintelligent, überdurchschnittlich begabt, körperlich bei Prinzip Gregor war in der kleinen Universitätsstadt stark vertreten: Kräften, kurz: Musterbeispiele künftiger Leistungsträger, Hoffnungs- Seine Anhänger waren notorisch gut gekleidet und schon vor schimmer einer gerade wiedervereinigten Republik. Orientierungs- Markttauglichkeit des ersten Mobiltelefons in der Lage, jedes losigkeit hatte man ihnen schon nachgesagt, bevor sie auf die Welt Caféhaus in das Büro einer Unternehmensberatung zu verwandeln, kamen. indem sie sich einfach nur hinsetzten. Es war nicht schwierig, Gre- Oft markiert ein unscheinbares Ereignis die Sollbruchstelle im gor unerträglich zu finden. Ein materialistischer Mensch in einer System. Die Jahrtausendwende ist schon vorbei, und Gregor, materialistischen Welt, ohne Begeisterung, ohne Ideen und Wer- Füsser, Nina und Nele haben sich in alle Winde zerstreut, als der te. Wenigstens machte er keinen Hehl aus seinem umfassenden Des- Reissack umfällt. Nicht in China, sondern auf einer der Garten- interesse gegenüber Dingen, deren mo- partys, von denen die Elterngeneration netärer Gegenwert im Unklaren liegt. nicht genug bekommt, seit die Kinder aus Zum Prinzip Gregor gehörte auch Füs- dem Haus sind. ser. Er war die andere Seite der Medail- Auf einem dieser Feste im Sommer le. Füsser wusste nicht, ob er das Philo- 2002 stellt sich durch Zufall heraus, dass sophiestudium in Tübingen beginnen soll- erstens der gesamte mitgebrachte Wein te, der Wissenschaft zuliebe, oder wegen und Sekt von Aldi stammt und zweitens des Biers in Köln. Seine Bücher bewahr- alle Anwesenden inklusive der Gastgebe- te er in Haufen auf dem Boden auf, weil rin dies längst an den Etiketten erkannt er in Regalen nichts wiederfand. Füssers haben. Plötzlich erzählen die Mütter von Freunde waren zu dick oder zu dünn und Leuten wie Gregor, Füsser, Nina und mochten Geld, wenn es in einen Zigaret- Nele, wie sie drei Jahrzehnte lang beim tenautomat passte. Ihr geisteswissen- Aldi-Einkauf hinter dem Gebäude ge- schaftliches Studium betrachteten sie als parkt, die Einkäufe in mitgebrachte Ede- perfekte Vorbereitung auf die Arbeits- ka-Tüten gepackt und für den Fall, dass ih- losigkeit: Man lernte, mit freier Zeitein- nen ein Bekannter begegnete, den immer teilung, innerer Leere und sozialer De- gleichen Satz bereitgehalten hätten: Aldi gradierung zurechtzukommen. fülle teure Markenprodukte in billige Ver- Gregor und Füsser begegneten sich nie, packungen – da wäre es doch idiotisch, weil der eine aufstand, wenn der andere mehr Geld auszugeben. Die Erleichterung zu Bett ging – die Natur hatte ihnen un- ist groß, das ausbrechende Gelächter laut terschiedliche Lebensräume geschaffen. und lang. Es läutet eine Zeitenwende ein. Trotzdem ähnelten sie sich wie die ent- Wenig später ruft Gregor bei mir an. Er gegengesetzten Enden einer Fahnenstan- hat meinen Namen im Internet gefunden

ge. Beide begehrten auf unterschiedliche / LAIF JÖRG GLÄSCHER und will erzählen, was er so macht. Nach Weise dieselbe Sache: Gregor die Anwe- Autorin Zeh seinen beiden Prädikatsexamen ist er in senheit, Füsser die Abwesenheit von mög- „Verzicht schafft Freiraum“ die Hauptstadt gezogen und arbeitet lichst viel Geld. bei Whoever & Whoever Incorporated. Nina und Nele waren mit beiden befreundet. Sie studierten Jura, „Wie schön!“, rufe ich und freue mich ehrlich für ihn, „wie geht’s weil man damit „alles Mögliche“ machen kann, und Geld war ih- dem Porsche?“ – „Weiß nicht“, sagt Gregor langsam, „plötzlich nen egal, solange die Rotweinbestände gut gefüllt und Second- wollte ich doch keinen haben.“ Außerdem überlegt er, zum Jahres- hand-Läden samstags bis 16 Uhr geöffnet waren. Aus purem In- ende zu kündigen. Und schweigt. Auch mir fällt nichts mehr ein. Als teresse lernten Nina und Nele drei Sprachen, belegten Doppel-, ich das Gespräch beende, klingt mir etwas in den Ohren. Es ist das Zweit- und Aufbaustudiengänge, absolvierten Praktika in den Echo eines langen Gelächters. globalen Machtzentren der Welt und sprachen auf Partys über die Ich rufe Freunde an und deren Freunde, Bekannte und deren Be- Osterweiterung der EU. Meisterhaft täuschten sie sich selbst und kannte und stelle ihnen eine Frage: Braucht ihr Geld? die Eltern darüber hinweg, dass ihre Paradeausbildung nicht auf Die Ähnlichkeit der Antworten ist verblüffend: Nö. Ein bisschen. eine Berufswahl hinauslief. Wenn ich was brauche, geh ich arbeiten. Nur für Unabhängigkeit, Gregor und Füsser fanden sie rührend: Angehörige einer Gat- Freiheit und Selbstbestimmtheit. Alles Wichtige ist unkäuflich. tung, die noch nicht weiß, dass sie vom Aussterben bedroht ist. Nina Meine Ego-Probleme löse ich beim Sport. Verzicht schafft Freiraum. und Nele nämlich waren Prophetinnen eines neuen Zeitalters. Sie Nur eine Befragte antwortet: Ich habe mir einen hohen Lebens- konnten mit oder ohne viel Geld leben, weil sie sich selbst und ihre standard erarbeitet und will ihn behalten. Sie kommt aus Russland.

184 der spiegel 45/2002 Werbeseite

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„Freunde“, rufe ich in die unendlichen Weiten der Telefonlei- Wer viel fragt, wird von F. mit einer Theorie bestraft. Es ist ganz tungen, „wir befinden uns in einer Wirtschaftsrezession. Wie wäre einfach: Unsere Gesellschaft fällt sukzessive vom Glauben ab. Der es, wenn ihr euch zusammenreißt, jede Menge Geld verdient und Tod Gottes liegt lang zurück, auch die Trauerzeit ist vorbei. Der es wieder unter die Leute bringt?“ Keine Antwort. Jemand gähnt, so genannten Politikverdrossenheit sehen wir mit schreckgeweiteten ein anderer lacht. „Herzchen“, erwidert Nina, „fährst du eigent- Augen entgegen, während sie längst eingetreten ist. Nach der lich immer noch diesen schicken, 16 Jahre alten VW Polo?“ Wie- Emeritierung von Religion und Politik verlieren nun die Götzen so, das ist ein super Auto, 250000 Kilometer gelaufen und noch über der Wirtschaft an Sinn stiftender Kraft. Die Abkehr vom Wirt- ein Jahr TÜV. Nach zwanzig Anrufen und einem Blick in den Spie- schaftlichen ist die letzte Stufe eines logischen Dreischritts. Wir gel weiß ich Bescheid. Wir sparen nicht, wir geben bloß kein Geld glauben nicht mehr daran, dass Mars mobil macht, Edeka besser aus. Kreditkarten-Gregor ist die Galionsfigur einer sinkenden Han- als Aldi ist und in tollen Autos tolle Typen sitzen. Abgesehen delsflotte. Die Besatzung hat sich ein Floß gebaut und treibt zu den von global organisierter Globalisierungsgegnerschaft gibt es eine Blockhütten an den Ufern einer Inselgruppe. stille, private und gerade deshalb ernst zu nehmende Verweige- rung. Sie speist sich aus der Erkenntnis, dass, wer kein Geld ver- as man weder mit autoritärer braucht, auch keines verdienen muss. Ir- noch mit antiautoritärer Erzie- gendwann muss schließlich zu Ende Whung vermitteln kann, ist Exis- geführt werden, was die Aufklärung an- tenzangst. Nach den Ergebnissen der gezettelt hat. Sich mit Ersatzsystemen Shell-Jugendstudie vom August dieses durchschlagen – das kann jeder. Jahres schaut die junge Generation trotz Fliegen wir also demnächst aus dem Börsencrash, Pleitewelle, Massenarbeits- letzten transzendentalen Obdachlosen- losigkeit und Terror optimistischer denn heim? Wenn ja, werden wir vielleicht fest- je in die Zukunft. Jeder in seine eigene, stellen, dass das Wetter draußen wärmer versteht sich. Nach wie vor fehlt es am und trockener ist als befürchtet. Im Grun- ideellen Überbau – der wohlvertraute de sind wir dabei, Uneigentliches durch Werteverlust bleibt unausgebügelt. Trotz- das Eigentliche zu ersetzen. Genau wie dem wäre der übliche Schluss auf frei Religion und Politik dient der Wirtschafts- flottierenden Egoismus und ichbezogenes kreislauf den sich gegenseitig bedingenden Meistbegünstigungsprinzip voreilig. So- Essenzialien menschlichen Zusammenle- ziales Engagement ist dem Befragten bens: Regulierung und Kommunikation. wichtig, viel wichtiger als politisches. Durch Geld, beim Verdienen und Aus- Überschüssiges Geld würden sie lieber an geben, drückt der Einzelne seine Aner- eine private Hilfsorganisation abtreten als kennung oder Ablehnung bestimmter Pro- ans Finanzamt. Als „Gewinner“ bezeich- dukte, Ideen und Entwicklungen aus und net die Studie das Lager der „pragmati- erfährt umgekehrt Wertschätzung oder schen Idealisten“, während die „robusten Ablehnung seiner selbst. Seit technische Materialisten“ auf der Verliererseite ste- Mittel den Gedankenaustausch eines je- hen. Nicht umgekehrt? Nein, so rum. den mit jedem zu ermöglichen beginnen,

Freundschaften, Liebe, Unabhängigkeit / ARGUM LEHSTEN CHRISTIAN wird Geld als Medium der Wertschätzung und Freizeit stehen als Ein-Mann-Werte Studenten (in München) überflüssig. Inzwischen widmen Men- hoch im Kurs. Und kosten nichts. Die jun- Zeitenwende eingeläutet schen Stunden um Stunden dem Erstellen ge Generation, als Vorbote einer künfti- einer Homepage oder dem Schreiben gen Gesellschaft gern mikroskopiert, wendet sich entgegen den einer neuen Software, nicht, um daran zu verdienen, sondern, um Prognosen nicht einem immer oberflächlicheren, konsumorien- zu hören, dass ihre Arbeit gut war und anderen weitergeholfen hat. tierten und sinnentleerten Dasein zu. Und bei Ebay ist der beste Verkäufer nicht der mit den teuersten Pro- Das müsste all jene freuen, die in der Konsumversessenheit den dukten, sondern jener mit den meisten positiven Bewertungen. ewig bevorstehenden Untergang des Abendlandes heraufdämmern sahen. Weniger froh wird sein, wer Konsum als notwendige Vor- topp“, unterbreche ich F., „erzähl mir nichts von der Einlei- aussetzung der Marktwirtschaft begreift. Das Nachkriegsmotto tung des Postkapitalismus durch Internet-Kommunikation. „Wer essen will, muss auch arbeiten“ hat schon seit längerem an SDaran glaube ich, wenn die erste Open-Source-Bäckerei in Durchschlagskraft verloren. Nun gerät auch ein zweites, unge- meiner Nachbarschaft eröffnet hat.“ – „Darum geht’s nicht“, sagt schriebenes Gesetz in Vergessenheit: Wer arbeiten will, muss auch F. „Die Kommunikationstechnologie ermöglicht es, ein grundle- essen. Und zwar etwas Teures. Oder anders: Ohne Konsumenten gendes menschliches Bedürfnis zu befriedigen. Wenn dieses Be- keine Investoren und keine Jobs. dürfnis nicht mehr über ökonomisches Verhalten vermittelt werden Wie immer, wenn ich nicht weiterweiß, rufe ich meinen Freund muss, verliert der Konsum seine Kompensationsfunktion und die F. an. „F.“, sage ich, „seit ich dich kenne, schläfst du auf einer alten Wirtschaft damit eine Triebfeder.“ – „F.“, sage ich, „willst du mir Matratze. Deine Kleider hängen auf einem fahrbaren Gestell, das erklären, dass du keinen Kleiderschrank besitzt, weil du E-Mails Geschirr stapelst du auf der Fensterbank. Warum kaufst du nicht schreiben kannst?“ Bett, Schrank und Küchenregal?“ – „Was!“, ruft F. entsetzt. Sobald meine Telefonrechnung die Mietzahlungen übersteige, „Modernität ist Mobilität, heutzutage braucht man Luftwur- würde ich ihn verstehen, sagt F. und legt auf. zeln. Eigentum verpflichtet, und zwar zum Möbelschleppen beim Wer oder was auch immer dabei ist, das Prinzip Gregor zu ver- nächsten Umzug.“ Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Wer viel abschieden – die endgültige Suspendierung hätte jedenfalls ein verdient, kann sich ein Umzugsunternehmen leisten. „Stimmt“, gibt Gutes. Arbeitszeitverkürzungen als Jobsharing-Maßnahme wer- F. zu, „aber große Summen für nichts auszugeben hat etwas Un- den wir mit Freude entgegennehmen. Der bevorstehenden Sen- appetitliches.“ Deshalb trinkt F. auch keinen Cappuccino bei Mitro- kung des Lebensstandards erwidern wir achselzuckend: schon ge- pa. Aus Prinzip. „Geldausgeben“, sage ich, „war mal ein nettes schehen. Wir warten auf Nachricht, ob Gregor tatsächlich zum Hobby. Ist es dermaßen in Verruf geraten, bloß weil ein paar Kon- Jahresende bei Whoever & Whoever Incorporated kündigt. Danach sumextremisten es eine Weile übertrieben haben? Stellen wir jetzt werden wir uns Abend für Abend mit einem Lächeln auf den Lip- eine neue Kollektion auf dem Laufsteg der Weltanschauungen vor: pen und einem recycelten Teebeutel in der Tasse auf unsere die Neo-Askese? Was ist mit dem Prinzip Gregor passiert?“ Strohmatten legen. ™

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MANFRED WITT Schlussbild der Konwitschny-„Meistersinger“ in Hamburg: Aus „welschem Tand“ wird üble Globalisierung

OPER Klangrausch mit Notbremse Skandalregisseur Peter Konwitschny traut sich an Richard Wagners heikelstes Musikdrama: Seine verstörende Hamburger Inszenierung der „Meistersinger“ hebt sich die große Überraschung bis ganz kurz vor Schluss auf.

etzt hat es der Ritter wirklich satt. Da nicht“, ruft Schuster-Poet Hans Sachs sei- vouröse Bassist, der gerade seine gewal- musste er vor Nürnbergs Spießern nem erbosten Schützling hinterher und tige Sachs-Partie in die Schlusskurve steu- Jbuckeln und barmen, musste in einem zeigt auf Eva: „Wie kann die Kunst wohl ern wollte. Alle im Saal wissen es: Jetzt idiotischen Liedermacher-Wettbewerb ge- unwert sein, / die solche Preise schließet käme sie, die Stelle. Die schlimme Stelle, gen den piefigen Stadtschreiber Beckmes- ein?“ Die Kunst, also gut. Sollen Sachs und wo Sachs von „üblen Streichen“ gegen ser bestehen, nur um seine süße Eva zu be- seine bizarren Meisterkumpane – alle in Deutschland tönt, gegen die „falsche wel- kommen: Nun, wo er Sieger ist, möchten grünen Samtröcken und Barett wie ein sche Majestät“ wettert und „deutscher die alten Herren von der Festgilde ihn Haufen Richard-Wagner-Klone – ihren Wil- Meister Ehr“ verteidigt. plötzlich auch noch zum Ehrenmitglied len haben. Erst ganz spät, 1867, baute Wagner sie ins machen. Nein danke: „Will ohne Meister Doch da, auf einmal, hat auch Kon- Textbuch ein. Die Knittelverse hatten Knüp- selig sein“, ruft Walther von Stolzing ge- witschny es satt. „Habt Acht! Uns dräuen pelwirkung: Nirgendwo sonst in Wagners nervt und wirft das Barett, üble Streich“, bringt Sachs Opern fanden teutonische Strammsteher, das ihm eben feierlich auf gerade noch heraus. Aber Revanchisten und später auch Rassisten sich die Locken gedrückt wur- seine Warnung vor „wel- besser bestätigt. Schon 1924 ertönte im Publi- de, in hohem Bogen fort. schem Tand“ bleibt ihm in kum zur Antwort hinterher das Deutsch- Bloß weg, ab in die Zwei- der Kehle stecken. Ringsum landlied; seit 1933 waren die „Meistersinger“ samkeit. auf der voll besetzten Büh- praktisch offiziell die Staatsoper Groß- Das lässt ihm Richard ne hat wütendes Gemurmel deutschlands. Noch 1943, mitten im Bom- Wagner nicht durchgehen – eingesetzt, und schon – so benkrieg, gab es in Bayreuth eine bombas- und auch Peter Konwitsch- will es tatsächlich die Insze- tische Fest-Inszenierung mit ganzen Regi- ny nicht, dessen neue nierung – platzt einer laut mentern von Statisten – einige sogar aus der „Meistersinger“-Inszenie- los: „Wolfgang, wie kannst SS –, und wie seit Jahren schon konnten die

rung vergangenen Sonntag LANDSBERG J. du das bloß singen!“ versammelten Nazi-Größen im Saal auf das in Hamburg Premiere hatte. Regisseur Konwitschny Wolfgang – das ist Wolf- Signal „deutsch und wahr“ wieder ge- „Verachtet mir die Meister „Werte bewahren“ gang Schöne, 62, der bra- schlossen den rechten Arm erheben.

188 der spiegel 45/2002 Hier gewiss nicht: Das Orchester ist ver- schmoren oder das zuckrige stummt, auf der Bühne geht es zu wie beim Schlussterzett des „Rosenkava- Palaver einer Bürgerinitiative. Was sollen liers“ von Schaufensterpuppen die dumpf tümelnden Worte? „Dazu in eisiger Nacht intonieren. braucht man ein historisch-dialektisches Auch bei Wagner kannte der Verständnis von Geschichte, hat Herr Kon- sensible Radikalinski kein Par- witschny uns gesagt“, ruft Sopranistin Anja don: Tristan zum Beispiel durf- Harteros, das Evchen, dazwischen. te ganz gegen Wagners Willen Wie bitte? Gelächter bricht aus, Unruhe. auferstehen, damit er seine Isol- „Man muss die Stelle übersetzen“, meint de doch noch kriegte. Parsifals Schöne pikiert. „Leider haben wir ja kei- Gralsgrotte, o Schreck, wurde ne dritte Strophe wie beim Deutschland- mit einer Marienfigur ins Femi- lied.“ Kollegen fallen ein: Welscher Dunst nine umgepolt. Und die hehre und welscher Tand, damit könne heute, im Mär vom Schwanenritter Lo- Jahr 2002, doch nur kultureller Einheits- hengrin fand gar im Seelenker- brei gemeint sein, „überall die gleiche Spei- ker eines Klassenzimmers statt, sekarte“, schlechte Globalisierung. Sogar samt Kreidewerfern, Prügelstra- die verknöcherte Meistertruppe versteht fe und einer entgleisten Reife- das sofort: „Fun, Fun, Fun“, skandiert sie prüfung auf der Turnmatte. höhnisch. Doch so keck lassen sich die „Ich würde jetzt gern weitermachen“, „Meistersinger“ nicht aushe- meldet sich Dirigent Ingo Metzmacher aus beln. Seit der Uraufführung dem Orchestergraben. Gesagt, getan: „Ehrt 1868 ist die Komödie vom Lu- eure deutschen Meister“ und „Heil Nürn- therzeit-Ritter, der im gelebten bergs teurem Sachs“ schmettert das be- Liebestraum alle bürgerlichen lehrte Ensemble einem belehrten Publi- Kunstregeln niedersingt, als kum entgegen. Und während das Licht Selbstgänger berühmt. Wer langsam ausblendet, darf ungedämpft die bloß museal inszeniert, was im C-Dur-Breitseite des Schlussakkords er- Textbuch steht – wie etwa

klingen. Wolfgang Wagner noch 1996 in WITT MANFRED Was soll dieser Illusionsbruch auf offener Bayreuth –, braucht um Lacher „Meistersinger“-Szenenbild*: Poussieren vor Trümmern Bühne? Darf hier mitten während des bis heute nicht zu bangen. Will Spiels die Abteilung Politische Korrektheit einer dagegen das Stück „knacken“, ris- komik und seine erstaunlichen Reim-Ka- den Zeigefinger heben? Oder sollte Richard kiert er den dramaturgischen Scherben- priolen oft schwer zu verstehen sind. Nur Wagners aufwendigste, fatal deutscheste, haufen: Die fiesen, allzeit gewaltbereiten der komplette Text macht klar, dass Wagner aber auch komischste Oper bloß ihren ul- Wirtschaftswundertypen, die Hans Neuen- keineswegs deutschtümelnde Pappfiguren, timativen Schlussgag bekommen? Sicher fels 1994 in Stuttgart vorführte, blieben sondern gewitzte, manchmal gerissene, ist vorerst nur: Peter Konwitschny, 57, hat bestenfalls als grelle Horrorbande im aber durchaus erlösungsbedürftige Men- es wieder mal geschafft, sich und seine Gedächtnis. schen dargestellt hat. neue Arbeit zum Gespräch zu machen – Der gescheite Konwitschny mag derlei Wenn Konwitschny um diese Menschen auf so sparsame Art wie noch nie. Holzhammermethoden sowieso nicht. Er herum neue, lebendige Bilder gruppiert, Bis vor kurzem krempelte er ingrimmig findet es schade, sagte er bei der General- dann nicht um jeden Preis. Er wolle „kei- lustvoll ganze Opern um, ließ Verdis Prin- probe vergangenen Donnerstag, dass selbst zessin Eboli ein Hähnchen im Herd ver- in seiner Inszenierung Wagners Situations- * Mit Wolfgang Schöne (Sachs), Anja Harteros (Eva). Kultur ne falschen Assoziationen“ in Gang set- gen genau zum Oberlehrerclub der Meis- zen, gab er kurz vor der Premiere zu Pro- ter, bekam Beckmesser aus der Schüler- tokoll. Andererseits könne ein Stück horde sogar eine echte Harfenistin als Be- durchaus klüger sein als sein Autor. So hat gleitung, so mischen sich nun unter die er die quälende Grübelei, ob Wagners Meistergilde allerlei nette Mythenwesen: herrliche Komik am Ende „eine Falle wär“ Lohengrin mit Plastikschwänchen, der – wie es Stolzings glückloser Nebenbuh- blond gelockte Hüne Siegfried, drei schnu- ler Beckmesser vom gefundenen frem- den Lied argwöhnt –, produktiv gemacht und sich entschieden, die Frage kurzer- Bestseller hand ans Publikum weiterzugeben. Das geht verblüffend ein- Belletristik fach: Beinahe zwei gewaltige 1 (–) Henning Mankell Die Rückkehr Akte lang regiert – zum des Tanzlehrers Zsolnay; 24,90 Euro etwas blechlastigen, aber enorm farbenreichen Or- 2 (1) Ken Follett Die Leopardin chestersound – auf der Büh- Lübbe; 24 Euro ne gepflegte Szenen-Schus- terei wie im guten Stadt- 3 (3) Diana Gabaldon Das flammende theater von 1965. Vor karger Kreuz Blanvalet; 29,90 Euro Kulisse nach Dürer-Motiven 4 (4) Elke Heidenreich/Bernd Schroeder stellt der Ritter (John Tre- Rudernde Hunde Hanser; 15,90 Euro leaven) seiner Schönen nach; Schweden-Krimi zur Sitzung der Meister ohne Wallander, 5 (5) Nicholas Sparks Das Lächeln genügen ein paar zusätzliche aber mit der Sterne Heyne; 17 Euro Bänke und ein Vorhang. einer Leiche, die in die 6 (2) Jonathan Franzen Die Korrekturen Im zweiten Akt ist das Nazi-Zeit Rowohlt; 24,90 Euro Einheits-Holzpodest auf der zurückführt Bühne sogar von einem 7 (6) Ian McEwan Abbitte türmchensatten Nürnberg-Bild umrahmt, Diogenes; 24,90 Euro so dass Meister und Stadtschreiber Beck- messer (exzellent: Hans-Joachim Ketelsen) 8 (7) Paulo Coelho Der Alchimist leidlich glaubhaft zu Evchens Fenster hin- Diogenes; 17,90 Euro aufsingen kann, während ein paar Meter 9 (10) Joanne K. Rowling Harry Potter weiter Schuster Sachs schadenfroh dazwi- und die Kammer des Schreckens schenhämmert. Carlsen; 14,50 Euro Erst als ihr Gezänk die Nachbarn aus dem Schlaf gerissen hat, setzt Konwitschny 10 (8) Doris Dörrie Das blaue Kleid ein düsteres Unheilszeichen: Die berühm- Diogenes; 16,90 Euro te Prügelszene – eine Doppelfuge, die dem 11 (12) Joanne K. Rowling Harry Potter Chor das Äußerste abverlangt – endet nicht und der Gefangene von Askaban in allgemeiner Erschöpfung, sondern in ei- ner veritablen Feuersbrunst. Die Häuslein- Carlsen; 15,50 Euro Kulisse geht in Fetzen; ringsum setzt es 12 (9) Joanne K. Rowling Harry Potter blaue Augen, zerschrammte Gesichter und und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro Knochenbrüche. Wie wahnwitzig brutal es zugegangen sein muss, zeigt am Anfang 13 (11) Henning Mankell Wallanders des Schlussaktes ein wandgroßes Foto des erster Fall und andere Erzählungen kriegszerbombten Nürnberg. Zsolnay; 24,90 Euro Oder ist das ganz anders gemeint? Es 14 (13) Günter Grass Im Krebsgang bleibt ein Rätsel, wie Eva mit dem Schuster Steidl; 18 Euro vor Trümmern poussieren kann. Nur als die drei mit Sachs’ Lehrbuben David (Jür- 15 (14) Stephen King/Peter Straub gen Sacher) und seiner Freundin, Evas Das Schwarze Haus Heyne; 26 Euro Amme Magdalene (Katja Pieweck), das le- 16 (17) Joy Fielding Nur wenn du mich gendäre Quintett anstimmen, sinken die Ruinen langsam weg: Kunst triumphiert liebst Goldmann; 22,90 Euro über den Tod. Gleich danach aber erscheint 17 (20) Minette Walters Der Nachbar die Johannistags-Festwiese in Form eines Goldmann; 22,90 Euro monströsen Grashalm-Horizontes, vor der bald Sängermassen mit Kopf- und Bein- 18 (–) Patricia Cornwell Das letzte Revier verbänden wie blessierte Insekten her- Hoffmann und Campe; 21,90 Euro umwuseln. Spätestens da hat der Opern- 19 (19) Joanne K. Rowling Harry Potter abonnent jeden Halt verloren: eine Gras- und der Stein der Weisen wurzel-Revolution der Bürgerkriegsopfer? Carlsen; 14,50 Euro Aber auch jetzt noch, bei aller Verunsi- cherung, ködert Konwitschny mit humori- 20 (15) Jostein Gaarder Der Geschichten- gen Details. Passten schon anfangs die fre- verkäufer Hanser; 19,90 Euro chen Singschüler mit ihren Matrosenanzü-

190 der spiegel 45/2002 ckelige Rheintöchter mit Rheingoldklümp- chen und ein sichtlich in Sängerturnieren bewanderter Tannhäuser. Wagner, Wagner über alles – potz Tod und Wunden, jetzt gibt es ein Volksfest, oder? Genau für diesen Moment hat Kon- witschny, der Moralist, seine größte Über-

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Sachbücher 1 (1) Dieter Bohlen mit Katja Keßler Nichts als die Wahrheit Heyne; 20 Euro

2 (2) Allan Pease/Barbara Pease Warum Männer lügen und Frauen immer Schuhe kaufen Ullstein; 16,95 Euro

3 (15) Markus Wolf Freunde sterben nicht Das Neue Berlin; 17,50 Euro

4 (4) Stefan Klein Die Glücksformel Rowohlt; 19,90 Euro

5 (3) Werner Tiki Küstenmacher/ WITT MANFRED Lothar J. Seiwert Simplify your life „Meistersinger“-Prügelszene Campus; 19,90 Euro Von der Rauferei zur Feuersbrunst

6 (5) Dalai Lama Der Weg zum Glück raschung aufgespart: Musik aus, Diskus- Herder; 16,90 Euro sion an. Wie mit der Notbremse stoppt er 7 (7) Jana Hensel Zonenkinder die Klangschwelgerei, hebt die Plattenna- Rowohlt; 14,90 Euro del, haut dazwischen. Als wollte er wenigs- tens einmal gegen Wagners musikalisch 8 (10) Mende Nazer/Damien Lewis wie dramaturgisch schlechthin perfektes Sklavin Schneekluth; 19,90 Euro Meister-Massiv anrennen, einmal schrei- 9 (–) Wolf von Lojewski/Helmut Reitze/ en: Leute, lasst euch bloß nie mehr einlul- Marietta Slomka Die Flut len von dumpfem Kulturstolz, vom Natio- nalwahn, der mit solchen Klängen die deut- Ullstein; 17,95 Euro sche Katastrophe zu untermalen wagte. 10 (11) Peter Scholl-Latour Der Fluch des Seine Fans wird er mit der seltsamen neuen Jahrtausends C. Bertelsmann; 22 Euro Fußnote gewiss enttäuschen. Dabei will er doch nur Wagners opernlange Kunst-Re- 11 (8) Martin Doerry „Mein verwundetes flexion, so komödiantisch sie daherkommt, Herz“ DVA; 24,90 Euro im Großen ernst nehmen 12 (9) Peter Merseburger dürfen. Schließlich gehe es Willy Brandt 1913 – 1992 DVA; 32 Euro um „Werte, die wir bewah- ren müssen“, wie er dem En- 13 (16) Maurice Philip Remy semble vorweg erklärte. Zu Mythos Rommel List; 22 Euro Recht sperre sich Wagner ge- 14 (12) Hans-Olaf Henkel Die Ethik gen den „billigen Pessimis- mus, der uns mit Coolness des Erfolgs Econ; 22 Euro und Fun das Ende erwarten 15 (13) Oriana Fallaci Die Wut lässt“. Da spricht ein Huma- und der Stolz List; 18 Euro Der Wandel nist aus Leidenschaft. eines Menschen Respektvoll, schonend und 16 (14) Roger Willemsen im Bannkreis doch unerbittlich verordnet Deutschlandreise Eichborn Berlin; 17,90 Euro Hitlers: präzises Psychogramm er deshalb dem Werk eine 17 (18) Waris Dirie Nomadentochter des „Wüsten- kurze Auszeit. Und sollten Blanvalet; 21,90 Euro fuchses“ orthodoxe Wagnerianer ihm noch zürnen, dann erklärt 18 (20) Spencer Johnson Die Mäuse- ihnen das Programmheft mit den Worten Strategie für Manager Ariston; 14,90 Euro eines anderen deutschen Dichters, wie 19 (19) China Keitetsi Sie nahmen mir die Konwitschny es meint. Da steht, kommen- Mutter und gaben mir ein Gewehr tarlos und auf schwarzem Grund: „Anmut Ullstein; 20 Euro sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand. / Dass ein gutes 20 (17) Marion Gräfin Dönhoff Deutschland blühe / wie ein andres gutes Was mir wichtig war Siedler; 18 Euro Land.“ Es ist die „Kinderhymne“ von Ber- tolt Brecht. Johannes Saltzwedel

der spiegel 45/2002 191 RECHTSCHREIBUNG Der Mutter Zunge Erst grassierte der „Deppen- Apostroph“, nun hat eine zweite Sprachseuche die Republik befallen: Aus dem Schriftdeutschen verschwindet der Bindestrich. enn sich der angehende Wissen- schaftshistoriker Philipp Oelwein, W34, vorstellt, fügt er gern hinzu: „Mit oe – wie Goethe.“ Die Sprache des Johann Wolfgang von Goethe zu pflegen zählt zu den Lieblings- beschäftigungen des Hamburgers. So do- kumentiert Oelwein in einer „Apostroph- Gruselgalerie“ im Internet die modische Verwendung des angelsächsischen Apo- stroph-s nicht nur in Genitivkonstruktio- nen („Waldemar’s Grillcorner“), sondern auch bei der Pluralbildung („T-Shirt’s“, „Kid’s“, „Snack’s“). Bereits vor zwei Jahren hatte Oelwein so viele Fälle von „Apostrophitis“ gesammelt, dass ihn angesichts all der „Hit’s des Mo- nat’s“ in deutschen Schaufenstern und all der „Link’s“ und „Info’s“ im Web tiefe Resignation befiel (SPIEGEL 26/2000). Seit kurzem plagt den Sprachpfleger eine neue Seuche, die er „Agovis“ nennt. Das Kunstwort, abgeleitet vom grie- chischen Agora (Platz; im übertragenen Sinne: Leere), soll die Abwesenheit eines Satzzeichens beschreiben: des Binde- strichs, Fachbezeichnung „Divis“. Kurz nach der Wende zum dritten Jahrtausend fiel die Unsitte erstmals rich- tig auf. In einem Newsletter aus dem Goethe-Institut bemängelte ein Pädagoge im April 2000 den Titel der „Shell Ju- gendstudie“: „Warum eigentlich ,Shell Stu- die‘ und nicht ,Shell-Studie‘?“ Er hoffe, dass demnächst nicht noch die Schreib- weise „Goethe Institut“ folge. Noch im selben Jahr begann die Leer- taste den Buchmarkt des Dichter- und Den- kerlandes zu erobern, und sie stieß nur auf schwachen Widerstand. Lediglich die – Tradition und Konservatismus verpflichte- te – „Frankfurter Allgemeine“ rügte in ei- ner Sachbuch-Rezension, ein Buchtitel wie „Euro Crash“ ohne Bindestrich sei „ein modischer Anglizismus, wie ihn Schreiber gebrauchen, die zu viel im ,Wall Street Journal‘ gelesen und darüber ihrer Mutter Zunge verlernt haben“. Fortan war kein Halten mehr. BMW rühmte die „Service Qualität“ der „BMW Service Stützpunkte“. In München ent- steht eine „Allianz Arena“, in Hamburg gibt es eine „AOL Arena“ und demnächst auch noch eine „Color Line Arena“. In sei-

192 der spiegel 45/2002 Kultur FOTOS: CHRISTIAN AUGUSTIN CHRISTIAN FOTOS: Mehrzweckhalle, Theaterportal, Tankstellenwerbung (in Hamburg): Abwesenheit von Satzzeichen ner Regierungserklärung versprach Ger- für eine „Operetten Gala“ oder für die Allmählich wächst auch zusammen, was hard Schröder vorige Woche die Schaffung „Berliner Barock Solisten“ werben. Eine zusammengehört: Apostrophitis und Bin- von „Personal Service Agenturen“. der ältesten Bühnen Hamburgs schreibt destrichdefizit vermählen sich zu Unge- Kritiker sehen im Bindestrich-Verzicht sich „Thalia Theater“. tümen wie „Aktion’s Wochenende“. In ei- ebenso wie in den Deppen-Apostrophen Die ersten Industrie- und Handelskam- ner E-Mail, über die sich das Rechtschreib- Beispiele für den deutschen Drang zum mern sehen bereits Handlungsbedarf: Sie Forum www.vds-ev.de mokierte, sucht „pseudoweltläufigen Neusprech“, den der bieten Sprachseminare zu Themen wie einer einen „Studium’s Platz als Informa- Dortmunder Professor Walter Krämer, Vor- „Stiefkind Binde-Strich“ und „Apostrophi- tiker“. sitzender des Vereins Deutsche Sprache, tis“ an – und sie haben allen Grund dazu. Allerdings: In demselben Forum ist, aus- vor allem bei Unternehmen mit angestaub- Denn nachdem Multis wie Esso dazu gerechnet in der Rubrik „Anglizismenver- tem Image registriert. Der einstige Staats- übergegangen sind, an Tankstellen „Brem- meidung in Webseiten“, von einem „Ma- betrieb Post etwa verwirrt seine Kundschaft sen Dienst“ und „Motor Inspektion“ an- the Lehrer“ die Rede. nun mit Ausdrücken wie „Postage Point“, zubieten, drängt es nun auch Kleingewer- Können womöglich die Schulpolitiker „Global Mail“ und „Funcard Mailing“. betreibende, Internationalität zu demon- der Länder für Abhilfe sorgen? Wer deren Belege für mangelnde Sprachloyalität strieren. Beispiele, gesehen an der B 73 bei Website www.kultusministerkonferenz.de finden sich mittlerweile landauf, landab. Hamburg: „Küchen Zentrum“, „Textil anwählt, lässt alle Hoffnung fahren. Gleich So hat der Bindestrichverzicht längst auch Druck“, „Grill Imbiss“, „Selbsthilfe Werk- auf der Startseite grüßt ihn – die „Kultus- den Kulturbetrieb erobert, dessen Plakate statt“, „Motor Roller“, „Schuh Markt“. minister Konferenz“. Jochen Bölsche Kultur

VERLEGER r nahm sich wichtig auf altmodische Art: indem er die Auf- Egabe wichtig nahm, auf die er seine ganze Tatkraft warf. Und Kraft hatte er wahrlich, das spürte jeder, der ihm gegenüber- Siegfried Unseld stand, auf den er beschwörend einredete, dem er die Hand auf die Schulter legte, vor dem er seine imposante Erscheinung 1924 bis 2002 inszenierte. Als der Verleger Siegfried Unseld am vorvergan- genen Samstag in Frankfurt am Main starb, ging ein Gigant dahin – so spiegelten es die fast schwärmerischen Nachrufe schon in den Überschriften: „Gefällter Baum“ oder „Der Mann, der die Bundesrepublik war“. Er hat den Suhrkamp Verlag nicht gegründet, sondern 1959 übernommen, aber er erst hat ihn zu einem Imperium des Geistes geformt, hat den Insel- und den Jüdischen Verlag dazugeholt, den Deutschen Klassiker-Verlag erfunden. Der Geist, das war und ist die linke Intelligenz von Adorno über Bloch bis Habermas, das sind Querdenker wie Barthes, Derrida, Foucault, Sloterdijk und Tugendhat. Die literarischen Autoren lagen Unseld besonders am Herzen: „Hier werden keine Bücher publiziert, sondern Autoren“, war sein Credo. Brecht, Frisch, Hesse hatte er als Mitgift bekommen, an- dere wie Enzensberger, Handke, Johnson und Martin Walser fest ans Haus gebunden, dabei auch die Autoren des Exils nicht vergessen. Der österreichische Eigenbrötler Thomas Bernhard (1931 bis 1989) zählte zu seinen Lieblingen. Die hier erstmals (gekürzt) in Deutschland veröffentlichten Erinnerungen an Bernhard schrieb Unseld im April 2001 für eine kleine franzö- Volker Hage MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF MARKUS sische Zeitschrift – sein letzter größerer Text. Bruchstücke einer großen Rebellion Siegfried Unseld über seine Begegnungen mit Thomas Bernhard m 22. Oktober 1961 erhielt ich von Verlag in diesem Jahr übernommen hatte, keit, im Literarischen wie im Ökonomi- einem unbekannten Thomas Bern- sein erster Roman überhaupt: „Frost“. schen, war ihm äußerst wichtig. So kam es Ahard – er hatte bis zu diesem Zeit- Bei dem Menschen Thomas Bernhard – im Januar 1965 in Frankfurt zur ersten per- punkt erst wenig veröffentlicht – folgen- das habe ich in meiner mehr als zwanzig- sönlichen Begegnung zwischen Thomas den Brief: „Sehr geehrter Herr Dr. Unseld, jährigen intensiven Zusammenarbeit er- Bernhard und mir. Über sie schrieb er im vor ein paar Tagen habe ich an Ihren Ver- kannt – gilt es zunächst zu unterscheiden Rückblick so, als hätten er und ich eine lag ein Prosamanuskript geschickt. Damit zwischen dem in der Öffentlichkeit agie- Bernhardsche Komödie aufgeführt: wollte ich mit dem Suhrkamp Verlag in renden Autor und der Privatperson. Bei Der Anfang meiner Beziehung zu Unseld Verbindung treten. Ich besitze einige Bü- seinen Interviews, Leserbriefen und öffent- war eine Forderung gewesen, um nicht cher Ihrer Produktion, und sie gehören lichen Stellungnahmen, die stets heftige sagen zu müssen, eine Erpressung mei- zum Besten aus der neueren Zeit. Das ist Kontroversen provozierten, musste man nerseits. Ich forderte von Unseld zwei es auch, was mich veranlasst hat, gewisse den Eindruck gewinnen, einer seiner mo- Jahre nach dem Erscheinen von „Frost“ andere Verbindung, die ich eingegangen nologisierenden, die Welt verachtenden und zwei Jahre vor dem Erscheinen von bin, zu vernachlässigen. Vielleicht lässt und die Menschen anklagenden Protago- „Verstörung“…40000 (in Worten: vier- sich ein Gespräch mit Ihnen arrangieren: nisten sei einem seiner Romane entsprun- zigtausend Mark) Mark; weil ich es eilig Ich komme Ende November durch Frank- gen und trete leibhaftig auf. In dieser Rol- hatte, in zwanzig Minuten. Angeblich furt. Ich kenne Sie nicht, nur ein paar Leu- le bot Thomas Bernhard glänzende schau- hatte Unseld zu diesem Zeitpunkt, wie te, die Sie kennen. Aber ich gehe den spielerische Auftritte – er betrachtete sich seine Frau mir neunzehn Jahre später Alleingang.“ dabei jedoch selbst in einer ironischen versicherte, vierzig Grad Fieber gehabt. Das Treffen in Frankfurt ließ sich nicht Perspektive. Ich forderte also damals, wie ich heute arrangieren. Schlimmer noch: Nach der Er akzeptierte für sich die Bezeichnung denke, für jeden Fiebergrad des Verlegers Prüfung des Manuskriptes mit dem Titel „Übertreibungskünstler“, empfand sich oder für jede halbe Minute des Verlegers, „Der Wald auf der Straße“ mussten wir nicht als Schriftsteller, sondern als „je- tausend Mark. Nach diesem Geschäft, eine Publikation ablehnen. Eine normale mand, der schreibt“, und schickte immer das mich im Höchstmaß befriedigte und und nachvollziehbare Reaktion des Autors mehr Bruchstücke einer großen Rebellion. das zur Rettung meines Ohlsdorfer Nar- hätte darin bestehen können, dieses Ma- Bei der Privatperson Thomas Bernhard renhauses notwendig war, fuhr ich nach nuskript einem anderen Verlag anzubieten waren Aufgeregtheiten die Ausnahme. Der Gießen, um einen Vortrag zu halten, und und weitere Texte nicht mehr an Suhrkamp „Alleingänger“ lebte ausschließlich für sein dachte die ganze Zeit, dass gute Ge- zu senden. Nicht so Thomas Bernhard. Das Schreiben. Dabei war ihm bewusst, dass schäfte machen wenigstens so schön ist abgelehnte Manuskript publizierte er über- er trotz aller Distanz zum offiziellen und wie Schreiben und dass ich, zu allem Un- haupt nicht. Stattdessen erschien im Jahr offiziösen literarischen Leben auf den Ver- glück meiner Person, auch noch gelernter 1963 im Insel-Verlag, den der Suhrkamp lag angewiesen war. Dessen Verlässlich- Kaufmann bin.

194 der spiegel 45/2002 Übrigens: in all den Jahren unserer Zu- Naturgemäß konnte das Verhältnis zwi- terredung mit einem anderen (bei mehr als sammenarbeit haben wir uns nie wieder schen einem solchen Autor und dem Ver- einem Partner fühlte er sich in der Regel über geldliche Forderungen unterhalten. lag nicht ohne Spannungen sein, die sich unwohl), existenziell notwendig. Deshalb Es schien: das Thema war für ihn ausge- aber immer wieder lösten. Zum Ausklang suchten er und ich bei allen wichtigen An- standen. Die zweite Begegnung fand im des Jahres 1973 schrieb er in einem Brief an gelegenheiten die persönliche Begegnung. November desselben Jahres in Wien statt mich: „Lieber Siegfried Unseld, während Eines dieser zahlreichen Gespräche fand und diente diesmal literarischen Zwecken. ich eine gute Musik höre, um sechs Uhr am 16. Dezember 1986 in einer Hotelhalle Ich lernte ihn als ungemein liebenswürdi- in Wien statt. Dort erklärte er mir, eine gen Menschen kennen, den höflichsten Stunde lang, die ganze Literatur, die die unter meinen Autoren. Thomas Bernhard deutschen Verlage veröffentlichen – es war stand vor dem Abschluss eines neuen Ro- offensichtlich, dass er auch den Suhrkamp mans, dessen Arbeitstitel „Die Ruhe“ hieß Verlag meinte – tauge nichts, sei Mist, und der zwei Jahre später unter dem Titel Schund, und dann ginge ausgerechnet sein „Verstörung“ vorgelegt wurde. Verleger her und würde für das scheuß- Bei diesen Gesprächen wurde mir be- lichste Buch werben, werben und werben. wusst, dass Bernhard einen generellen Ver- Sicher, ihm sei alles egal, aber er müsse dacht gegen Verleger hatte, den er später in sich fast schämen, für einen solchen Verlag die Worte kleidete: Der Verleger „macht zu schreiben. halt sein Geschäft unter dem Deckmantel, Inzwischen kann man, nicht nur in Be- dass er für den Geist was tun will. Wenn er zug auf den literarischen Charakter, son- aber für den Geist nicht fünf Schilling Verleger Unseld, Autor Bernhard (1981) dern auch in Bezug auf die Verbreitung kriegt, wird er für den Geist nichts tun“. „Ich gehe gern mit Ihnen“ von einem „Bernhard-Kontinent“ reden, Also mussten meine Anstrengungen darauf da sein Werk in 26 Sprachen übersetzt wur- gerichtet sein, dieses Misstrauen durch die früh, denke ich, dass wir nicht voneinander de. Bis Ende 2000 hat der Suhrkamp Ver- Arbeit des Verlags und durch meine Arbeit zu trennen sind und etwas machen, was an- lag insgesamt 1511949 Bücher Bernhards an zu widerlegen. Die Antwort auf die Frage, dere nicht machen können…Das Jahr geht den Leser gebracht. Welch ein Erfolg! So ist ob dies gelungen ist, kann nur der Autor zu Ende, das ist ein Grund, diesen einen es ihm, dem „Alleingeher“, gelungen, sei- geben: Er schrieb nach mehr als zwanzig- Brief zu schreiben. Ein paar Zeilen des In- ne eigene Devise Wahrheit werden zu las- jähriger Zusammenarbeit: „Aber unser halts: mit größter Aufmerksamkeit, mit al- sen: „Ausstrahlen! Und das nicht nur welt- Verhältnis ist, darüber besteht kein Zwei- len Möglichkeiten, gehe ich gern mit Ih- weit, sondern universell. Jedes Wort ein fel, ideal geworden. Unseld, denke ich, ein nen.“ Entgegen allen in der Öffentlichkeit Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Name, der alles, nur kein Glück bringen zirkulierenden Stereotypen war für Tho- Und alles zusammen eine totale Weltrevo- kann! Mir hat er Glück gebracht!“ mas Bernhard das Zwiegespräch, die Un- lution bis zur totalen Auslöschung.“ ™ Sport ARIS MESSINIS / AP Olympische Baustelle Galatsi-Halle, Calatrava-Modell des Olympiazentrums, Bauarbeiter an der Ringerhalle: „Die Griechen sind sonderbar – sie

OLYMPIA Die geschrumpften Spiele Die Idee, die Olympischen Wettkämpfe nach Griechenland zurückkehren zu lassen, hatte zweifellos Charme. Inzwischen weiß das IOC jedoch: Athen bekommt seine Sommerspiele 2004 allenfalls in einer Sparversion hin.

ls die Minister und Staatssekretäre Der dreitägigen Herbst-Visite, so hatte Die Treffen mit den Aufpassern der so um Punkt zwölf Uhr im Megaron Simitis seinen Ministern unmissverständ- genannten Koordinierungskommission un- AMaximou, dem Amtssitz des grie- lich aufgetragen, sei „besondere Aufmerk- ter Führung des Schweizers Denis Oswald chischen Regierungschefs, zusammentra- samkeit zu schenken“. Man will die Ge- sind immer Tage der Abrechnung und der ten, war der Gastgeber bestens präpariert. duld der Gäste aus Lausanne nicht unnötig Abbitte gewesen. Denn Anwohnerprotes- Entschieden ermahnte Premier Kostas Si- strapazieren. te, Kompetenzgerangel und rechtliche mitis den interministeriellen Ausschuss, das höchste Gremium zur Vorbereitung der Olympischen Spiele 2004: Alle „Prozedu- ren zur Bewältigung großer und kleiner Probleme“ seien jetzt dringend zu be- schleunigen. Eine halbe Stunde vor Konferenzbeginn hatte er sich am vorvergangenen Dienstag von der Präsidentin des olympischen Or- ganisationskomitees Athoc, der Milliar- därsgattin Gianna Angelopoulos-Daskalaki, über die Lage auf den Baustellen ins Bild setzen lassen. Im Protokoll wurden ent- sprechend klare Instruktionen festgehalten. Kulturminister Evangelos Venizelos etwa, dem das Generalsekretariat Sport unter- steht, wurde das Versprechen abgefordert, den Bauauftrag für die Verschönerung der Sportstätten im Olympiazentrum OAKA – ungeachtet befürchteter juristischer Pro- bleme – möglichst bis kommenden Mitt- woch zu erteilen. So könnten die Entwürfe des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava zum Lifting des Olympiastadions und der umliegenden Plätze vielleicht doch noch umgesetzt werden – weite Bögen und Dächer aus Glas wider die Tristesse der Zweckbauten. Das wäre ein Signal. Denn dieser Mittwoch ist für Athens Olympiaplaner ein wichtiger Tag. Die In- spekteure des Internationalen Olympi-

schen Komitees (IOC) kommen zu Besuch. BANK ROSSI / THE IMAGE GUIDO ALBERTO 196 Doch täglich gibt es neue Probleme oder Korrekturen. Olympia, nach Angaben Ve- nizelos’ „der wichtigste postindustrielle Entwicklungsmotor für unser Land“, ge- rät in Athen zur Aneinanderreihung von Zwischenlösungen und Zugeständnissen. Im olympischen Reitzentrum in Marko- poulo etwa soll jetzt auf Sand statt auf Ra- sen um Medaillen gekämpft werden. Die Beachvolleyball-Anlage in Faliro wird um ein Feld reduziert. Das Zentrum der Seg- ler sowie die Strecke für Kanuslalom wer- den mit preiswerten Fertigbauten für Ka- binen und Siegerehrungen ausgestattet.

YIORGOS KARAHALIS / REUTERS YIORGOS KARAHALIS / REUTERS YIORGOS KARAHALIS Dass sich solche mobilen Sportanlagen müssen jedes Projekt erst reifen lassen“ nach Olympia bequem wieder abtranspor- tieren lassen, hilft den listigen griechischen Scharmützel um Bauaufträge und Enteig- mer vergangenen Jahres wurde Oswalds Offiziellen aus der Erklärungsnot. Die ab- nungen sorgten für jahrelangen Stillstand Vorgänger als Inspektionschef, dem heuti- gemagerten Bauten, heißt es nun, folgten auf den Baustellen in der Vier-Millionen- gen IOC-Präsidenten Jacques Rogge, die nur strikt der neuen Line des IOC, das seit Metropole. Mittlerweile diktieren Zeitnot rege Bautätigkeit beim Ortstermin nur vor- Rogges Amtseinführung gegen „den olym- und Geldknappheit die neuen Pläne. gespielt: Unmittelbar nach der Besichti- pischen Gigantismus“ kämpft. Längst ist nämlich auch dem IOC klar gung rückten die Baufahrzeuge wieder ab. „Wir wollen“, behauptet Minister Veni- geworden, dass im August 2004 nur noch Dann nahm Oswald vor einem Jahr „mit zelos plötzlich, „dass die Spiele wieder eine Light Version jenes Spiele-Konzepts großer Überraschung“ erste Abstriche menschliche Dimensionen erhalten.“ Man offeriert wird, für das Athen 1997 den Zu- am Konzept Athens zur Kenntnis: Eine müsse halt, verlautet aus dem Athoc, „die schlag bekam. „Wir haben keine andere U-Bahn-Verbindung zum Olympiastadion Kapazitäten an den Bedarf anpassen“. Wahl“, bekannte Oswald inzwischen. Die musste entfallen, auch der Bau der Schnell- Das gelingt nicht immer. So sollten die Verlegung der Spiele an einen anderen Ort straße vom OAKA-Komplex zum Athle- Boxwettkämpfe vom Küstenareal in Faliro ist logistisch nicht zu bewerkstelligen. tendorf wurde storniert. Manche Haltesta- aus Kostengründen in die schon bestehen- Selbst als im Frühjahr 2000 der damalige tion der Vorstadtbahn zum neuen Flug- de Papandreou-Halle in der Gemeinde Pe- IOC-Chef Juan Antonio Samaranch Athen hafen verschwand aus den Plänen, zudem risteri verlegt werden, wo normalerweise mit dem Entzug der Spiele drohte, habe werden aus Zeit- und Kostengründen Zu- Basketballer spielen. Im August stand je- man nur auf die griechische Regierung ein bringer zu Athens neuer Ringstraße ein- doch nach heftigen Regenfällen das Spiel- wenig „Druck ausüben“ wollen. gespart. feld unter Wasser. Jetzt wird in Peristeri Die ließ sich nicht davon abhalten, die Der Trend zur Sparvariante hat auch eine neue Boxhalle gebaut. Anderswo wird Kontrolleure zu nasführen. Noch im Som- schon die Wettkampfstätten erreicht. So prä- auf Druck von Umweltschützern reduziert. Eine Initiative unter Führung des World Wildlife Fund, die sich um 176 Vogelarten und den Erhalt seltener Pi- nien im Marschland des für die Ruderstrecke vorgesehenen Gebietes nahe Marathon sorgt, erreichte einen Teil- erfolg: kleinere Tribüne, weniger Parkplätze am künstlichen Regattasee. Notgedrungen sinkt vermutlich auch die Zu- schauerzahl beim Fina- le des olympischen Fuß- ballturniers. Aus Sorge, das Stadion von AEK

JEFF HAYNES / AFP JEFF HAYNES Athen, das für rund 60 Akropolis in Athen, Fahnenübergabe in Sydney (2000) Millionen Euro moder- „Postindustrieller Entwicklungsfaktor für unser land“ nisiert werden soll, kön- ne nicht rechtzeitig fer- sentierte Venizelos im Juni – drei Tage nach tig werden, wird nun das Stadion des der Visite der Oswald-Gruppe – ein Doku- Zweitligisten Apollon als Endspiel-Schau- ment der geschrumpften Spiele von Athen: platz favorisiert. Die Arena fasst nur knapp eine Liste mit 15 Streichobjekten. Das Ein- 15000 Besucher. sparvolumen: rund 300 Millionen Euro. Von den „magischen Spielen“, die nach Zwar sind nach Verhandlungen mit IOC Einschätzung Oswalds von der Weltöffent- und entsetzten Vertretern der betroffenen lichkeit in Athen erwartet werden können, Fachverbände nur acht Punkte im Katalog bleibt vielerorts nur ein Kompromiss. Er- der Einschränkungen übrig geblieben. folgreich wehrte sich der internationale

der spiegel 45/2002 197 Sport

standschef der Athener Flughafen-Gesell- Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Es wer- schaft und zuvor Manager etwa bei der den 190 Kilometer Straße gebaut sowie – Deutschen Bank, der Deutschen Babcock wider den Autokult in der ständig ver- und der Hochtief AG, berät die Athoc-Prä- stopften und vom „Nefos“ genannten sidentin in Bau- und Transportfragen. „Es Smog geplagten Stadt – neue Bahnstrecken bedurfte eines ständigen Drängens, Drü- mit rund 50 Kilometern. ckens und Mahnens“, resümiert er die ver- Doch auch auf dem Verkehrssektor meh- gangenen Jahre. ren sich die Hindernisse. Und wirklich geregelt ist noch lange • Die Straßenbahn, die bei Olympia täg- nicht alles. Eindreiviertel Jahre vor der lich 80000 Besucher vom Zentrum zu Eröffnungsfeier bremsen juristische Strei- den Sportstätten an der Küste des Saro-

THANASSIS STAVRAKIS / AP STAVRAKIS THANASSIS tigkeiten den olympischen Fortschritt. Mal nischen Golfs bringen soll, muss auf IOC-Kontrolleur Oswald* ist es der Vorwurf der Begünstigung bei Intervention von Archäologen einen Tage der Abrechnung und der Abbitte einem Ausschreibungsverfahren, mal eine Umweg nehmen. Auf der ursprünglich erschlichene Baugenehmigung. Eine Grup- geplanten Strecke hätte sie den Hadri- Hockey-Verband gegen Pläne, eines der pe um die ehemalige Speerwerferin Sofia ansbogen erschüttert. zwei Stadien auf dem Gelände des alten Sakorafa rief das oberste Verwaltungsge- • Die Arbeiten zur Bahnanbindung des Flughafens Hellenikon einzusparen. Jetzt richt an, um das Mediendorf-Projekt im Flughafens schreiten zwar endlich voran, werden beide Arenen verkleinert und mit Vorort Maroussi zu Fall zu bringen. Ihre allerdings werden bis 2004 nicht genü- Fertigtribünen bestückt. Allerdings verzö- Begründung: Auf 64 Prozent des eigentlich gend Elektrotriebwagen verfügbar sein. gern sich die Bauarbeiten. Die Hockey-Fel- für die Beherbergung von Journalisten aus- Womöglich werden dann überall im der müssen um zwölf Grad gedreht wer- gewiesenen Terrains werde in Wahrheit ein Land Loks ausgeliehen. den, weil sie andernfalls den Beton der Geschäftszentrum gebaut. • Von den Rängen des Gewichthebersta- ehemaligen Landebahnen tangieren. Auch gegen eine Straßenverbreiterung dions hat man einen herrlichen Blick bis Sobald erst einmal die Bulldozer an- auf der olympischen Marathonstrecke klag- zum Meer. Nur ist von der angekündig- gerückt seien, gehe es überall schnell vor- ten Anwohner. Ärger droht zudem aus der ten Zufahrtsstraße nichts zu sehen. an, verspricht Athoc-Transportmanager Pa- Stadt Vrilissia. Dort hat der TV-Journalist • Im Hafen von Piräus sollen elf Kreuz- nagiotis Protopsaltis. „Die Griechen sind Argiris Dinopoulos die Bürgermeisterwahl fahrtschiffe 13000 betuchten Besuchern, sonderbar – sie müssen jedes Projekt erst gewonnen. Angetreten ist er mit dem Vor- Sponsoren und IOC-Mitgliedern luxu- reifen lassen.“ satz, den Bau einer Verteilerstation der riöse Schlafplätze bieten. Doch werden So wächst das olympische Dorf am Fuße Elektrizitätsgesellschaft zu verhindern. Die die Gäste auf dem Weg zu den olympi- des Berges Parnitha im Epizentrum eines Station soll helfen, an einigen Olympia- schen Zentren womöglich im Stau Erdbebens, das vor drei Jahren 139 Men- stätten die erhöhte Stromnachfrage wäh- stecken bleiben: Der Bau der Schnell- schenleben forderte, seit wenigen Monaten rend der Spiele zu decken. straße kam wegen Widerstands der An- in erstaunlichem Tempo. Vier Baukonsor- So wird sich manches Projekt verzögern. wohner zum Erliegen. tien haben sich das Zwölf-Hektar-Areal für „Wir lernen gerade, unter strikten Zeit- Die Athener, denen die meisten der 28 17000 Wohnplätze der olympischen Familie vorgaben zu arbeiten“, bekennt OK-Präsi- olympischen Sportarten ohnehin ziemlich aufgeteilt. Kritiker warnen jedoch vor zu dentin Angelopoulos-Daskalaki, die sei- fremd sind, sehen insgeheim in der Ver- großer Eile. Der Staatssekretär im Arbeits- nerzeit als Bewerbungschefin für Athen kleinerung der Sportanlagen den Schlüssel ministerium, Eleftherios Tsiolas, mahnte die Spiele akquirierte – und respektable zur Lösung ihres wohl größten Problems, nach drei Todesfällen auf der Olympiadorf- Bewerber wie Rom und Kapstadt ausstach. den Unterkünften. Für weniger Zuschauer Baustelle, unbedingt die Si- werden weniger Hotelbetten gebraucht. cherheitsbestimmungen zu be- Historisches Stadion Panathinaikon*: Kein Zurück mehr Die Nachrichten zur Logisfrage haben achten. Wenige Tage nach dem auch Chefkontrolleur Oswald schon „be- Appell starb ein vierter Arbei- unruhigt und enttäuscht“. Selbst mit den ter, der aus zehn Meter Höhe 82000 Hotelbetten aus den Nachbarprä- gestürzt war – ohne Gurt, ohne fekturen fehlen noch Zimmer. „Wir können Sicherheitsstiefel, ohne Helm. nicht Hotels für zwei Wochen bauen“, er- So pendeln die Olympia- klärte Minister Venizelos. Vorbereitungen oft unbere- So wirbt Athoc jetzt für ein kombiniertes chenbar zwischen Sorglosig- Olympia-Erholungsprogramm: Gäste sollen keit und Beflissenheit. Mit auf den Ägäis-Inseln wohnen und nur für dem Ausweis „A 3“ gelangen die Dauer der Wettkämpfe, zu denen sie Besucher erst nach ausgiebi- Tickets gekauft haben, in die Stadt reisen. gem Sicherheitscheck in die Für die Pünktlichkeit der Fähren, räumen dritte Etage des Athoc-Ge- aber selbst Athoc-Manager ein, gebe es bäudes in Nea Ionia. Dort sitzt „keine hundertprozentige Sicherheit“. an drei Wochentagen vormit- Also bleibt neben Campingplätzen nur tags der in Freiburg geborene die Hoffnung auf genügend Privatunter- Manager Jörg Schill. künfte. Doch auch diese Alternative erlitt Der Wirtschaftswissenschaft- neulich einen mächtigen Dämpfer. Der Fi- ler, bis Sommer 2000 Vor- nanzminister kündigte an, die Mieteinnah- men pauschal mit zehn Prozent besteuern * Oben: mit der Athener Organisations- zu wollen. Die Athoc-Manager befürchten chefin Gianna Angelopoulos-Daskalaki bei den Athener Bürgern nun eine erhebli- am 27. Juni; unten: bei der Eröffnungs- che Unlust, sich Fremde ins Haus zu holen. feier zur Leichtathletik-WM 1997. In der Berater Schill zürnte bereits: „Ich weiß gar Anlage wurden die Olympischen Spiele 1896 ausgetragen. 2004 finden hier die nicht, warum die Regierung hier kassieren

Wettbewerbe der Bogenschützen statt. ERIC FEFERBERG / AFP will.“ Jörg Kramer, Fotini Mavromati 198 Werbeseite

Werbeseite neu zu erbauende Spielstätte in München- Fröttmaning ein. Alles schien gerichtet. Und wer, bitte schön, ist La Coruña oder Lens? Doch nun, nach dem internationalen Aus, landet der FC Bayern in einer neuen Wirklichkeit. War der Club in den vergan- genen Jahren vornehmlich aus Image- gründen zum Gewinnen verdammt, gerät er nun auch aus wirtschaftlichen Zwängen unter Erfolgsdruck. Einnahmeverluste von rund 30 Millionen Euro brutto sind nach dem Scheitern in der Champions League zu beklagen. Der teure Spielerkader ist für einen Verein ohne internationale Einsätze überdimensioniert. Als wäre er nun ein ganz gewöhnlicher Bundesligist, tritt der FC Bayern erstmals seit langer Zeit ohne das wohlige Gefühl eines dicken Bank- kontos als Sicherheitspolster an.

FOTOS: SANDRA BEHNE / BONGARTS SANDRA FOTOS: Wie schwer sich die Cluboberen mit dem Bayern-Profi Zé Roberto, Kollegen*: Landung in einer neuen Wirklichkeit Umstand tun, in Zukunft sogar einen Wett- bewerb wie den DFB-Pokal als Einnahmequelle ernst nehmen FUSSBALL zu müssen, bekam vor allem der Mann zu spüren, der sich Totes Ballett schon seit Monaten den wech- selnden Launen der Vereins- Nach der Champions-League- führung ausgesetzt sieht. So forderte vor der Saison Blamage hat sich die Präsident Franz Beckenbauer Spitze des FC Bayern auf Trainer von Trainer Ottmar Hitzfeld, Ottmar Hitzfeld eingeschossen. das Team habe nicht nur zu ge- Das lenkt von eigenen Fehlern ab. winnen, sondern auch „schön zu spielen“. Der Meistercoach ie Ersten, die beim FC Bayern die verstärkte prompt das En- Initiative ergriffen, waren zwei Manager Hoeneß, Coach Hitzfeld: Krachend gescheitert semble mit dem brasilianischen DMänner von der vereinseigenen Ballvirtuosen Zé Roberto statt Security. Vergangenen Mittwoch, wenige kordmeisters, der Umbruch vom Mittel- mit einem rustikalen Innenverteidiger. Als Stunden nach der 1:2-Schlappe in La ständler zum Konzern, fürs Erste krachend der FC Bayern wegen ansprechender Früh- Coruña, drängten sie auf dem Clubgelän- gescheitert ist. form tatsächlich schon zum „weißen Bal- de die Trainingszuschauer in bayerisch- Über Jahrzehnte war der familiär struk- lett“ hochgejubelt wurde, schien Hitzfeld barschem Ton zurück. Dann erweiterten turierte FC Bayern stolz darauf, mit ver- wieder einen ruhigeren Job zu haben. sie mit schweren Gittern die Sperrzone vor gleichsweise bescheidenen Mitteln Clubs Doch das ist jetzt vorbei. dem Profitrakt. Die von der Kritik mäch- wie Manchester United oder Real Madrid Denn seit der Pleite gegen La Coruña ist tig angeschlagenen Kicker sollten wenigs- Paroli bieten zu können. Der Gewinn der alles, was vor Wochen noch richtig war, tens unbehelligt zum Auslaufen auf den Champions League 2001 diente als Beweis, natürlich falsch. Beckenbauer diagnosti- Übungsplatz gelangen. dass auch konservative Vereinspolitik – zierte „eine tote Mannschaft“ und riet – so Andere, auf deren Krisenmanagement wenn das Schicksal es gut meint – zum schnell ändern sich in München die Vorga- es noch mehr angekommen wäre, zeigten Ziel führt. ben – dem Trainer, statt teuer einzukaufen, sich da weniger zupackend. Karl-Heinz Um sich aber auf Dauer im Konzert der „mal einen jungen Spieler auszubilden“. Rummenigge, der Vorstandsvorsitzende ganz Großen zu etablieren, so die vor- Auch dass der verletzte Torwart Oliver der FC Bayern München AG, glaubte, für herrschende Meinung in der Vorstands- Kahn sich jüngst in einer Karlsruher Disco den Rest der Woche mit seiner Bestands- etage, war mehr Risiko vonnöten. Hoeneß bis in die Morgenstunden amüsierte, war ir- aufnahme während des Banketts („eine plünderte das Festgeldkonto und kaufte gendwie Hitzfelds Schuld. Mit der Vereins- Blamage, eine Schande“) der Öffentlichkeit für zusammen knapp 50 Millionen Euro spitze, bemerkte Rummenigge kühl, sei das genug Einblick in sein Seelenleben gegeben die Stars Michael Ballack, Sebastian Deis- freie Wochenende des vom Rest der Mann- zu haben. Der ansonsten wortgewaltige ler und Zé Roberto. schaft eher entkoppelten Kapitäns Kahn Manager Uli Hoeneß hatte sich gar in eine Dass da ein deutsches Unternehmen der nicht abgesprochen gewesen. Art verbale Schutzhaft genommen: „Nix Sportunterhaltungsindustrie zum Sprung Stoisch nahm Hitzfeld die Demontage sag ich, gar nix.“ auf Weltniveau ansetzte, fand die werbe- hin. Beckenbauer zürnte via Vertragspartner Die Sprachlosigkeit zeigt, wie ernst treibende Wirtschaft ganz prima. Die Deut- Premiere, Rummenigge und Hoeneß duck- die Bayern-Verantwortlichen die Situation sche Telekom schnappte sich die Brustre- ten sich weg, Hitzfeld musste als Sünden- nach dem vorzeitigen Ausscheiden aus klame (für 20 Millionen Euro im Jahr), Audi bock vor die Presse treten. Und während sei- der Champions League nehmen. Die Sai- diente sich als Hoflieferant an (3 Millionen ne Spieler die Anhänger nach dem Training son ist gerade mal drei Monate alt, da Euro plus 50 Automobile), Adidas beteilig- im Regen stehen ließen, schrieb Hitzfeld müssen sie erkennen, dass der geplante te sich gar mit zehn Prozent (76,6 Millionen Autogramme. Als ein Fan wissen wollte, wie Entwicklungsprozess des Deutschen Re- Euro) an der Aktiengesellschaft des Fuß- es ihm gehe, log der angeschlagene Coach: ballvereins. Die Allianz schließlich stieg als „Danke, es geht mir gut.“ Er tat eben seine * Am vergangenen Dienstag nach dem 1:2 in La Coruña. Namensgeber (92 Millionen Euro) für die Pflicht. Gerhard Pfeil

200 der spiegel 45/2002 Werbeseite

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Werbeseite Prisma Wissenschaft · Technik FOTOS: M. HARVEY / WILDLIFE M. HARVEY FOTOS: Afrikanische Biene Elefantenherde

TIERE Flucht geschlagen hätten. In einem Feldversuch konnte Vollrath diese Legende jetzt bestätigen: Solche Felder, an denen er und seine Mitarbeiter volle Bienenstöcke angebracht hatten, blie- Bienen gegen Elefanten ben von den Elefanten vollkommen verschont. Selbst leere Stöcke hatten einen, wenn auch geringeren, Schutzeffekt. „Die in kleines Tier soll helfen, wilde Elefanten in Afrika davon Elefantenhaut ist am Bauch, hinter den Ohren und unter dem Eabzuhalten, Pflanzungen zu verwüsten: die Afrikanische Rüssel erstaunlich dünn“, erklärt Vollrath. Wenn einige Tiere Biene. Der Zoologe Fritz Vollrath von der University of Oxford erst einmal gestochen worden seien und die Herde in Panik ge- hatte bei Gesprächen mit Massai in Kenia gehört, dass die flohen sei, erinnere sich offenbar die ganze Herde noch jahre- Insekten – die deutlich aggressiver sind als die europäischen lang an den unangenehmen Vorfall und meide alles, was wie Unterarten – in Einzelfällen die Dickhäuter erfolgreich in die Bienen summt, nach Bienen riecht oder aussieht.

INTERNET MIKROBIOLOGIE fentlicht. Jetzt soll das nachgeholt wer- den: Der Mikrobiologe Milton Wain- Virtuelles Flemings Unvollendete wright von der University of Sheffield wertete akribisch Flemings Notizbücher Händchenhalten er Londoner Arzt Alexander Fle- jener Zeit aus und schrieb so den wissen- Dming (1881 bis 1955) hat als Ent- schaftlichen Aufsatz, den eigentlich wei Kollegen begrüßen sich, plau- decker des Penicillins seit 1928 seinen Fleming hätte verfassen sollen. „Flemings Zdern ein wenig und verabschieden Platz in der Medizingeschichte sicher – Unvollendete“ erscheint diesen Monat in sich per Handschlag. Doch die beiden und trotzdem blieb sein Werk unvollen- der Zeitschrift „Perspectives in Biology stehen nicht etwa im selben Raum, son- det: All das, was Fleming in den dreißiger and Medicine“. Als hypothetisches Er- dern sind durch den Atlantik getrennt Jahren an der Jahrhundert-Substanz scheinungsdatum wählte Wainwright den und nur über das Internet verbunden. sonst noch erforschte, wurde nie veröf- Mai 1940, als Zeitschrift das renommierte Dass sie sich dennoch die Hand schüt- „British Journal of Experimental teln können, verdanken sie einer Art Pathology“. Liebevoll passte er Videokonferenzsystem zum Anfassen, dabei seinen Schreibstil dem urei- das der Computerspezialist Mel Slater genen Ausdruck Flemings an; zur vom University College London mit sei- Illustration griff er auf die Origi- nen Kollegen vergangene Woche erst- naltabellen aus Flemings Notiz- mals der Öffentlichkeit vorstellte. Wäh- büchern zurück. Offenbar hat sich rend des virtuellen Treffens umfassen Fleming in den Dreißigern vor al- die Teilnehmer eine Art elastischen lem mit der Suche nach neuen Pe- Steuerknüppel, „Phantom“ genannt, der nicillin-ähnlichen Stoffen beschäf- ihnen die Fingerbewegungen des Gegen- tigt und dabei schon vorausgese- übers gefühlsecht übermittelt. Das Sys- hen, dass Bakterien gegen das tem könnte später Chirurgen oder De- Original-Penicillin resistent wer- signer bei der Telearbeit unterstützen. den können. Warum die Ergeb- Noch allerdings ist das Internet dafür zu nisse nie veröffentlicht wurden, langsam, Zeitverzögerungen von mehr kann auch Wainwright nicht er- als einer Zehntelsekunde werfen das klären. Möglicherweise, so speku-

transatlantische Händchenhalten immer AKG liert er, sei das Manuskript damals wieder aus dem Rhythmus. Penicillin-Entdecker Fleming in seinem Labor abgelehnt worden.

der spiegel 45/2002 203 Prisma Wissenschaft · Technik

BIOMETRIE VERERBUNG Verräterischer Gang „Gene sind nur in neuartiges Radarauge soll Men- Eschen im Vorübergehen erkennen – und zwar an ihrem Gang. Ähnlich Marionetten“ wie Radarfallen die Geschwindigkeit eines Autos messen, erfasst das von Gunnar Kaati, 60, Sozialmediziner US-Ingenieuren gebaute System die von der Universität Umeå in Schwe- Bewegungen bestimmter Bezugspunkte den, über seine Studie, nach der die wie das Pendeln der Hände und Ernährungsgewohnheiten der Groß- den Tritt der Füße. Das Gesamtbild

väter die Gesundheit der Enkel be- / SCANPIX CARLSSON ANDERS dieser Bewegungen ist bei jedem einflussen können. Sozialmediziner Kaati in Umeå Menschen einzigartig. Gedacht ist das neue System für Sicherheitskontrollen SPIEGEL: Sie haben entdeckt, dass das etwas wohl auch beim Menschen gibt. aus der Distanz: „Wir brauchen eine Diabetes-Risiko von Menschen vierfach Allerdings haben wir nur 239 Personen Technologie, die böse Jungs von wei- erhöht ist, wenn deren Großväter vä- untersucht, und das ist zu wenig, um terlicherseits vor der Pubertät im Über- wirklich zuverlässige Ergebnisse zu be- fluss lebten. Nun vermuten Sie, dass kommen. die Ernährungsgewohnheiten dauerhaft SPIEGEL: Fast hört es sich an, als würde das Erbgut in den Samenzellen der Ihre Forschung jetzt doch dem verfem- Großväter verändern und sich so noch ten Jean-Baptiste de Lamarck mit sei- bei den Enkeln auswirken – das klingt ner berühmten Giraffen-Theorie Recht alles sehr gewagt. geben. Der Forscher hatte Anfang des Kaati: Immerhin gibt es inzwischen einen 19. Jahrhunderts behauptet, die langen ganzen Wissenschaftszweig, der sich mit Hälse der Tiere seien dadurch entstan- dieser Frage beschäftigt, die so genann- den, dass sie sich nach Blättern gereckt, te Epigenetik. Immer mehr Forscher ge- dadurch ihre Hälse verlängert und die- hen davon aus, dass die Gene letztlich se Eigenschaft dann an ihre Nachkom-

nur so etwas wie Marionetten in den men weitergegeben hätten. / GEORGIA TECH LEARY STANLEY Händen von Enzymen sind, die die Gene Kaati: An Lamarck haben wir über- Gangerkennung mit Radar an- oder abschalten können. Auf diese haupt nicht gedacht! Aber in der Tat Weise kann das Erbgut durch Umwelt- müssen wir wohl davon ausgehen, tem entdeckt“, sagt Jon Geisheimer faktoren wie Ernährungsgewohnheiten dass bei der Vererbung viele noch vom Georgia Institute of Technology. verändert werden – und diese Prägung unentdeckte Faktoren eine Rolle spie- Bislang identifiziert das System 80 kann dann auch weitervererbt werden. len. Ich frage mich zum Beispiel, was bis 95 Prozent der Versuchspersonen SPIEGEL: Bisher ließ sich das aber nur in es für zukünftige Generationen be- aus einer Entfernung zwischen 5 Tierversuchen zeigen. deutet, wenn zurzeit eine ganze Ge- und 15 Metern. In fünf Jahren soll Kaati: Immerhin ist unsere Studie jetzt neration übergewichtiger Kinder her- die Technik reif für den Alltagseinsatz ein erster Hinweis darauf, dass es so anwächst. sein – unabhängig von Wetter und Lichtverhältnissen.

KRIMINALISTIK Blatt Papier in der Hand hiel- ten“, sagt Ian Findlay, der das Zellspuren Verfahren entwickelt hat. „Bei Erpressungen und Entführun- auf Erpresserbrief gen könnte dies den entschei- denden Hinweis liefern. Verbre- ustralische Forscher haben cher müssten schon einen Aeine Methode entwickelt, Raumanzug tragen, um keine mit der sie erstmals einen gene- Spuren zu hinterlassen.“ Auch tischen Fingerabdruck aus nur bei der Aufklärung von Mehr- einer einzigen Körperzelle er- fachvergewaltigungen (bei de- stellen können. Bislang sind für nen sich das Sperma verschie- eine DNS-Analyse Hunderte dener Täter mischt) oder bei Zellen nötig, die nicht mit den Verbrechen, die schon länger

Körperzellen einer anderen Per- / VISUM STEINMETZ MARC zurückliegen, soll die neue Me- son vermischt sein dürfen – was DNS-Analyse thode hilfreich sein. Findlay in der Praxis oft ein großes Pro- hofft, dass sie in wenigen Jah- blem darstellt. Zwar verliert jeder Mensch pro Minute rund ren vor Gericht als Beweismittel zugelassen wird. Kritiker 30000 Körperzellen und legt so eine DNS-Spur – doch ist die- wenden jedoch ein, dass das Verfahren für eine sinnvolle Ver- se oft durch fremde Erbgutreste verunreinigt. „Mit der neuen brechensaufklärung zu empfindlich wäre, weil häufig viel zu Methode können wir feststellen, welche Personen einmal ein viele Personen an einem Tatort ihre Gen-Spuren hinterlassen.

204 der spiegel 45/2002 Werbeseite

Werbeseite Eruptionen am Ätna, Satellitenaufnahme des Vulkanausbruchs*: Ströme aus erhitztem Gestein bohren sich wie ein Schweißbrenner

VULKANISMUS Der Berg brennt Nach nur einem Jahr Ruhe spuckte der Ätna schon wieder glühende Lava. Jüngste Untersuchungen von Vulkanologen offenbaren einen Trend zu heftigeren Eruptionen. Verwandelt sich der „gute Berg“ der Sizilianer in einen bösen Feuerspeier?

berheblichkeit bestraft „Mongibel- Um 11.02 Uhr erschütterte ein gewal- Mauern ebenso wie in der Carabinieri- lo“, der „Berg der Berge“, sofort. tiger Erdstoß die Hänge des Ätna. Zwölf Kaserne. ÜGerade erst hatte Catanias Polizei- Sekunden lang war die Welt aus den In Santa Venerina, nahe dem Zentrum chef Alberto Di Pace nach einem Helikop- Fugen: Straßen rissen auf, Hausdächer des seismischen Horror-Spektakels, verlo- terkontrollflug mit führenden Vulkanolo- stürzten ein, Marmorbalkons begruben ren über 1000 der rund 7700 Einwohner gen Italiens Entwarnung gegeben. Die Lage parkende Autos. In der Kirche der „Ma- ihr Zuhause. Menschen rannten in Panik stabilisiere sich, der Lavafluss verliere an donna del Carmelo“ zerbröselten die durch die Straßen. Dann ging wie schon in Tempo, jubelte Di Pace vorigen Dienstag- den Tagen zuvor ein dunkler Ascheregen morgen gegen zehn. Da bebte die Erde. * Vom 28. Oktober. über der Südflanke des Vulkans nieder.

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Erdmantel. Ströme aus erhitztem Gestein steigen dort aus der Tiefe auf und bohren sich wie ein Schweißbrenner durch die Erd- kruste. Oben angekommen, ergießt sich das Magma in zwar spektakulären, doch zumeist harmlosen Lavaströmen. Spätestens seit dem vorigen Jahr jedoch betrachten die Sizilianer ihren Berg mit neuen Augen. Ungewöhnlich heftig war schon damals der Ausbruch. Fünf Spalten öffneten sich im Juli 2001 innerhalb weni- ger Tage an der Südflanke des Ätna. Die Lavaströme zerstörten Pinienhaine, Skilift- masten und Teile der Touristenstation „La Sapienza“ auf 1950 Meter Höhe. Nur vier Kilometer vor der Ortschaft Nicolosi kam die Glut Anfang August schließlich zum Stillstand. Als die Forscher das aus der Flanke aus- getretene Gestein untersuchten, fanden sie Absonderliches. Zähflüssiger und von an- derer chemischer Zusammensetzung war die Lava als jene, die normalerweise aus den Gipfelkratern des Berges fließt. Ähn- liches Gestein war zuletzt vor etwa 15000 Jahren in größeren Mengen ausgetreten, als sich eine Serie katastrophaler explosi- ver Ausbrüche ereignete, die einen der Vorgängervulkane des Ätna zum Einsturz brachten. Vulkan-Experten um die Italienerin Luisa Ottolini unterfütterten das neue Katastrophenszenario nur wenige Wo- chen später im Wissenschaftsmagazin „Na- ture“ mit neuen Fakten: Lavaproben aus den letzten 100 000 Jahren offenbarten den Forschern, dass das Ätna-Magma tatsächlich immer zäher und damit explo- siver wird. Nach einer möglichen Quelle der ge- fährlichen Schmelze mussten die Forscher nicht lange fahnden. Nördlich von Sizilien im Tyrrhenischen Meer liegen die Äoli- VINCENZO PINTO / REUTERS (L.); FABRIZIO VILLA / AP (M.); REUTERS (R.) / AP (M.); REUTERS VILLA (L.); FABRIZIO / REUTERS PINTO VINCENZO durch die Erdkruste

Niemand wurde ernsthaft verletzt. Und Fruchtbare Lava wirft der Ätna den Si- ITALIEN doch fällt es den Bewohnern der Dörfer zilianern regelmäßig auf die Felder. Seine Eurasische Platte Stromboli und Städte um den Ätna diesmal nicht so Feuerfontänen locken jährlich Hundert- ln leicht, die Angst abzuschütteln. Nur ein tausende von Touristen an. Sollte sich der Äolische Inse Jahr nach seinem letzten Ausbruch öffne- von den Einheimischen folgerichtig „Mon- te der mit über 3300 Metern höchste Vul- te buono“ – „guter Berg“ – genannte Se- Vulcano kan im Mittelmeerraum vorletzten Sonntag gensspender nun zum Pulverfass wandeln? wieder seine Flanken und würgte 1100 Gerade weil er ständig aktiv ist, galt der Sizilien Ätna Grad heiße Lava aus seinen Schlünden. Ätna Fachleuten bislang eigentlich als bra- Gre Ganz gegen seine Gewohnheit schickte der ver Vulkan. Im Schnitt 18-mal pro Jahr- nze n tek tte Berg in der vergangenen Woche Lavaströ- hundert speit der Berg monatelang Feuer tonischer Pla Catania me, Geröll-Lawinen und Ascheregen gleich aus seinen Seitenhängen. Dazwischen an zwei Fronten – im Norden und im Sü- fließt die Lava mehr oder weniger konti- den – die Hänge hinab. nuierlich aus den Gipfelkratern. Afrikanische Platte „Die Eruption verläuft diesmal unge- Der Grund liegt in der Zusammenset- wöhnlich schnell“, kommentierte Chef-Vul- zung seines Magmas: Die Schmelze ist re- kanologe Enzo Boschi vom Institut für Geo- lativ dünnflüssig. In ihr enthaltenes Gas schen Inseln, eine Kette so genannter In- physik und Vulkanologie in Rom das über- kann schnell entweichen. Verstopfungen selbogen-Vulkane. Sie entstanden, weil im raschend heftige Glutspektakel. Und Luisa seiner Schlünde und explosive Ausbrüche sizilianischen Untergrund die Afrikanische Ottolini, Geowissenschaftlerin der Univer- sind am Ätna daher selten. Erdplatte unter die Eurasische abtaucht sität Pavia, übte sich gleich in Schwarzma- Die meisten Forscher vermuten, dass und dabei schmilzt (siehe Grafik). Für ge- lerei: „Der Vulkan verändert sich – seine sich der Vulkan über einem so genannten fährlich und unberechenbar halten For- Ausbrüche werden immer gewalttätiger.“ Hot Spot aufbaut: einer heißen Stelle im scher diesen Vulkan-Typ, zu dem bei-

der spiegel 45/2002 207 spielsweise der Stromboli und der Vulcano gehören. Einem Sektkorken gleich kann die zähe Lava die Schlünde der Berge ver- stopfen. Wird der Druck aus der Tiefe zu groß, entlädt sich das Höllenfeuer explo- sionsartig. Auch der Ätna, glaubt Ottolini, speise sich mehr und mehr aus dieser geologi- schen Knautschzone, die sich fortwährend nach Süden verschiebe. Die Metamor- phose von einem netten Dr.-Jekyll-Vulkan zu einem bösen Mr.-Hyde-Vulkan sei schon weit vorangeschritten: Der Ätna prä- sentiere sich jetzt mit einem Mix alter, ru- higer und friedlicher Verhaltensweisen – und seiner künftigen aggressiven Art. Zu- nehmend werde er „explosiver und ge- fährlicher“. Andere Forscher halten die Schlüsse der Italienerin für vorschnell. „Es ist unwahr- scheinlich, dass sich der Ätna drastisch verändert – vor allem nicht in so kurzer Zeit“, sagt etwa Hans-Ulrich Schmincke, Vulkanologe des Geomar-Forschungszen- trums in Kiel. Zwar sei der Berg derzeit tatsächlich in eine explosivere Phase ein- getreten. Forscher registrieren in den letzten 50 Jahren mehr Aktivität als in den 300 Jahren zuvor. Dabei könne es sich jedoch auch nur um ein kurzfristiges Phänomen handeln, gibt Schmincke zu bedenken. Die veränderte Lavazusammensetzung etwa führt Schmincke auf einfache geo- logische Vorgänge zurück. Das aus der Tiefe aufsteigende Gestein sammele sich häufig über Jahrhunderte in unterirdischen Reservoiren, bevor es an die Oberfläche trete. Schon bei dieser Zwischenlagerung könne sich die Chemie der Schmelze über die Zeit verändern, erläutert Schmincke: „Die tektonische Lage des Ätna ist sehr komplex – langfristige Trends lassen sich sehr schwer voraussagen.“ Die Bewohner von Nicolosi, Belpasso und Catania können also noch hoffen, dass ihr guter Berg zumindest nicht dauerhaft zum bösen Feuerspeier wird. Zwar schos- sen in der vergangenen Woche aus Dut- zenden von Rissen und Löchern glühende Gesteinsmassen in die Höhe. Gleich ein paar hundert Erdstöße bis zur Stärke 4,4 auf der Richter-Skala registrierten die Seis- mografen der Geophysiker. „Besonders heftig“ seien die Beben jedoch gar nicht ge- wesen, beruhigte Enzo Boschi Mitte der Woche eine Bevölkerung unter kollekti- vem Schock. Auch nehme der Nachschub der Lavaströme langsam ab, versicherte der Vulkan-Profi. Ende der Woche war es dann so weit: Vor dem Örtchen Linguaglossa erlahmte der Lavastrom. „Der Ätna ruht sich aus“, sagen die Sizilianer nun wieder – und war- ten. Denn eines zumindest ist Gewissheit für die Menschen an den Hängen des bren- nenden Berges: Der nächste Ausbruch kommt bestimmt. Philip Bethge, Hans-Jürgen Schlamp

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So subventionieren deutsche Rentenzah- den Professoren auch jenseits der Alters- FORSCHER ler die Ausbildung amerikanischer Stu- grenze als Angehörigen der Universität ge- denten. Die Verpflichtungen sind dabei ge- eignete Arbeitsbedingungen zu bieten“, Solange die ring – für beide Seiten: Jedes Jahr bewirbt heißt es in einer Resolution des Hoch- der Chemiker sich mit einer Veröffentli- schulverbandstags. Unter anderem werden chungsliste erneut um einen Jahresvertrag. darin flexiblere Altersgrenzen gefordert, Beine tragen „Amerikanische Universitäten sind fin- die ein Ausscheiden zwischen dem 63. und dig, die schreiben gezielt deutsche Emeriti dem 68. Lebensjahr ermöglichen. Gezielt werden Professoren kurz an, um sie anzuwerben“, berichtet Herbert Das Manifest könnte leicht missverstan- Walther, 67, der gleichzeitig am Max- den werden als Genörgel einer ohnehin vorm Ruhestand von Planck-Institut für Quantenoptik in Gar- privilegierten akademischen Oberschicht: US-Universitäten abgeworben. ching und an der Ludwig-Maximilians- Viel größer ist natürlich derzeit das Pro- Starre Regelungen verhindern es, Universität in München arbeitet. Er selbst blem, geeignete Stellen für den akademi- Forscherstars im Land zu halten. werde auch nach seiner Pensionierung in- schen Nachwuchs bereitzustellen. Doch die Reduzierung auf einen n seiner Freizeit joggt er gern, Generationenkonflikt greift womög- schwimmt und stemmt Gewichte. Mit lich zu kurz. In Zeiten knapper Kas- Iähnlich sportlichem Ehrgeiz erkundet sen sei es fahrlässig, erfahrene Hoch- er im Labor tödliche Eiweiße, die Rinder- schullehrer in den Ruhestand zu wahnsinn auslösen. Anfang Oktober ge- zwingen, argumentiert der Schwei- wann Kurt Wüthrich für seine wegweisen- zer Finanzwissenschaftsprofessor Rei- de Forschung den Chemie-Nobelpreis. ner Eichenberger, 41: Sie fehlen den Trotz dieses Erfolgs gilt der gelehrte Studenten als Lehrer und strapazie- Hobbysportler bald als zu alt zum Arbei- ren nur die ohnehin überlasteten ten: Mit seinem 65. Geburtstag im nächsten Rentenkassen. „Das Wissen der Al- Jahr wird der Chemieprofessor an der ten nicht weiter zu nutzen ist dumm; Eidgenössischen Technischen Hochschule denn wir haben viel Geld ausgege- Zürich in den Ruhestand geschickt – so ben, dieses zu schaffen“, so Eichen- will es das Schweizer Dienstrecht. Daher berger. „Zwangsemeritierungen ver-

wandert Wüthrich nach Kalifornien aus, ZÜRICH / DPA RUETSCHI / KEYSTONE MARTIN ursachen deshalb einen großen volks- wo ihm das renommierte Scripps Institute wirtschaftlichen Schaden.“ ein neues Labor einrichtet. So klar die volkswirtschaftliche Bi- „Wir haben noch nie so gute For- lanz auch sein mag: Die Integration schungsergebnisse gehabt wie in den letz- älterer Professoren in den Unruhe- ten fünf Jahren“, freut sich Wüthrich. Die stand erfordert Fingerspitzengefühl. Fachkollegen geben ihm Recht und schüt- Eine generelle Anhebung des Pen- teln den Kopf über bürokratische Hemm- sionsalters etwa hält der Psychologe nisse, die an vielen europäischen Univer- und Alternsforscher Paul Baltes, 63, sitäten zum Brain Drain pensionierter For- Direktor am Max-Planck-Institut für scher führen. Bildungsforschung in Berlin, für kei- Regelmäßig fliehen auch aus Deutsch- ne gute Lösung: „Je älter Menschen land jung gebliebene Forscher vor starren werden, desto mehr unterscheiden Pensionierungsregeln. Erst voriges Jahr sie sich in ihrer Gesundheit und Leis- sorgte einer der prominentesten Genfor- tungsfähigkeit.“

scher mit einer zweiten Karriere für Auf- JÜRGEN BINDRIM / LAIF Stattdessen plädiert Baltes für sehen. Kurz vor seiner Emeritierung ver- Chemiker Wüthrich, Genforscher Rajewsky mehr Flexibilität und Offenheit, zum ließ Klaus Rajewsky, 65, sein Institut an Flucht in den Unruhestand Beispiel durch die Einführung einer der Universität Köln, um fortan an der „Seniorprofessur“ mit kurzen Ver- Harvard Medical School zu forschen. Vie- nerhalb der relativ flexibel organisierten tragslaufzeiten von ein bis fünf Jahren. Bei le seiner jüngeren Mitarbeiter folgten ihm Max-Planck-Gesellschaft weiterarbeiten, der „beruflichen Renaissance“ pensionier- in die USA. „Ich will noch nicht aufhören“, sagt Walther: „Aber reine Hochschulpro- ter Mitarbeiter sollte es allerdings nicht begründete er seinen Weggang. „Ich finde fessoren haben diese Chance eben nicht.“ darum gehen, einfach eine Professur wei- es falsch, dass man wegen seines Alters Sein Kollege Theodor Hänsch, 61, der an terzuführen wie gehabt, warnt Baltes: „Es diskriminiert wird.“ denselben Einrichtungen lehrt, hat schon geht bei Seniorprofessuren um Neuein- Ähnlich erging es Manfred Winnewisser, jetzt etliche Angebote aus den USA, möch- stellungen mit neuen Akzenten – und zwar 68, bis vor zwei Jahren Chemieprofessor te sich aber noch nicht entscheiden. auf Grund der ernsthaften Bewertung des für Spektroskopie in Gießen und 1992 mit Vor allem für Naturwissenschaftler ist Antragstellers.“ dem Max-Planck-Forschungspreis geehrt. die transatlantische Zweitkarriere ver- In zwei Jahren steht auch für ihn die Als das Land Hessen seinen Antrag ab- lockend, weil sie für ihre Arbeit oft auf Emeritierung an. Wie er seine eigene be- lehnte, den Fachbereich auch nach der teure Labore angewiesen sind. Zwar gibt es rufliche Renaissance gestalten will, steht Emeritierung weiterzuführen, folgte er auch Emeriti, die mit ihrem alten Fachbe- noch nicht fest. „Nur eins habe ich mir einem Ruf an die Ohio State University, wo reich individuelle Lösungen aushandeln. vorgenommen“, sagt Baltes: „Es wird nicht er heute als Honorarprofessor arbeitet. Doch sind sie dabei dem Wohlwollen ihrer die Weiterführung dessen sein, was ich „Ich fühle mich wunderbar hier“, sagt Uni und des Kultusministeriums ihres je- jetzt tue, obwohl es mir noch Spaß macht.“ Winnewisser trotzig, „ich werde so lange weiligen Bundeslands ausgeliefert. Baltes wünscht sich zum Beispiel, es- weitermachen, wie meine Beine mich tra- Nun werden zaghaft Rufe nach klaren sayistischer als bisher über die Kultur des gen.“ Sein neuer Arbeitgeber spart viel Richtlinien für eine Art „Seniorprofessur“ Alters zu schreiben. Nebenbei liegen natür- Geld; denn schließlich sorgt die deutsche laut. „Der deutsche Hochschulverband ruft lich auch ihm schon Angebote aus den Rente bereits für einen Grundunterhalt. die Universitäten und Fakultäten dazu auf, USA vor. Hilmar Schmundt

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MEDIZIN „Ihre Tochter ist ein Sohn“ Bis heute weiß Jenny nicht, dass sie ohne eindeutiges Geschlecht zur Welt kam. Ärzte drängten die Eltern zu einer Operation, mit der das Kind zum Mädchen wurde. Trotzdem verhält sie sich manchmal wie ein Junge. Wie sollen die Eltern der Zwölfjährigen nun die Wahrheit sagen?

n jenem Tag, als die Mutter Gewiss- siebten Woche überfluten männ- heit erhielt, ging sie nach Hause liche Sexualhormone aus den Ho- Aund nahm das einzige Bild aus dem den den Körper und stellen die Album, auf dem es zu sehen war. Ohne Weichen vom ursprünglichen darüber nachzudenken, zerriss sie das Foto Programm „Frau“ auf „Mann“ in winzige Fetzen und warf es fort. um. Daraufhin springen wieder Das Bild zeigte ein pausbäckiges Baby, andere Gene an. Sie sorgen dafür, die Hände der Mutter beim Wickeln. Zwi- dass dem Kind keine Gebärmut- schen den Schamlippen des Babys befand ter wächst, sondern ein Penis, sich bei genauerem Hinsehen etwas unge- dass der Körper Samenzellen her- mein Beunruhigendes. Niemandem sollte vorbringt und keine Eizellen. eines Tages das verräterische Bild in die Normalerweise passt am Ende Hände fallen, auch nicht der Tochter. alles zusammen: Ein XX-Chro- Seit der Geburt ihres Kindes hatte es Sil- mosomensatz zu einem weibli- ke Brunner keine Ruhe gelassen. Die Ärz- chen Körper, ein XY-Satz zu ei- te hatten versichert, die Klitoris der Toch- nem männlichen. Doch manchmal ter sei zwar ein wenig groß geraten, aber kommt dieses Programm ins das werde sich auswachsen. Doch immer Stocken – etwa, weil ein Entwick- wieder beschlichen die Mutter Zweifel: So lungsgen defekt ist, weil die Ho- sah doch kein Mädchen aus? den keine männlichen Sexualhor- Reinhard Brunner hatte sich gewünscht, mone („Androgene“) ausschütten seine Frau möge endlich Ruhe geben. Sie oder die Rezeptoren der Körper- aber war mit der Kleinen von Arzt zu Arzt zellen „blind“ sind für die Andro- gelaufen. Dann hatte ein Labor die Chro- gene. Dann bleibt die Geschlechts- mosomen ihrer sieben Monate alten Toch- entwicklung des Kindes stehen ter getestet. Brunners waren in die Klinik wie ein Zug auf offener Strecke. des nahe gelegenen Städtchens beordert worden – es sei sehr dringend. „Ihre Toch- n jedem Winkel des adretten ter ist in Wahrheit ein Sohn“, hatte dort ein IHäuschens im Neubaugebiet Arzt Jennys Eltern ohne lange Vorrede mit- am Rande des Dorfes duftet es geteilt, „aber ziehen Sie sie weiter als nach Pflaumenkuchen. Jedes Mädchen auf.“ Dann hatte er die erschüt- Ding steht an seinem Platz. Frau terten Eltern einfach sitzen lassen. Brunner schaut ihrer Tochter zu, Nach der Diagnose warf Frau Brunner wie sie die Spülmaschine ein- wie im Rausch alle Babysachen in den räumt. Ein blondes, blauäugiges Müll, die eine falsche Farbe trugen: Gelb, Kind mit babyblau lackierten Fin- Grün und vor allem Blau. Das Kind sollte gernägeln, ein wenig dick, mit

nur noch Rosa tragen: rosa Kleidchen mit LANDESMUSEUM FÜR KÄRNTEN rundem Gesicht, kinnlangem Rüschen. Die Mutter wollte Eindeutigkeit. Hermaphrodit*: „Von Natur aus dazwischen“ blondem Schnittlauchhaar und Jahrelang dachten die Brunners, sie einer ganzen Sammlung von wären die einzigen Eltern auf der Welt, die einpasst: Tatsächlich passiert es bei unge- Schmucksteckern in beiden Ohren, das ohne so ein Kind haben. Wie ein Kalb mit zwei fähr 350 Kindern pro Jahr in Deutschland. Aufforderung die Gulaschteller einsammelt Köpfen. Deswegen wollen sie jetzt, dass Oft ist es nicht leicht, herauszufinden, wor- und zum Spülbecken trägt. In diesem Mo- ihre Geschichte in der Zeitung steht – nicht an das liegt. Denn das Programm für die ment ist es der Mutter schwer vorstellbar, mit ihren richtigen Namen, denn sie wol- Geschlechtsentwicklung eines Menschen dass das gleiche Kind sich vor kurzem un- len keine Einladung ins Fernsehen und ist ziemlich kompliziert. Eine ganze Men- bändig schreiend und heulend auf den blan- auch keine obszönen Offerten. Aber keiner ge kann dabei schief gehen. ken Küchenboden warf, weil wieder einmal soll mehr so einsam sein, wie sie es all die Am Anfang ist jeder Mensch weiblich. ein Untersuchungstermin anstand. Jahre gewesen sind. Es soll ein Ende haben Damit aus einem Embryo mit einem männ- Es scheint, als habe Jenny mit zwölf Jah- mit der Scham und der Heimlichkeit. Und lichen Chromosomensatz ein Junge wird, ren den Entschluss gefasst, endlich doch vielleicht versteht das Kind dann sogar ei- müssen Entwicklungsgene die Bildung der noch ein gutes Mädchen werden zu wollen. nes Tages besser, warum die Eltern nicht Hoden anregen. Dann kippen der Reihe „Dann hätten wir alles richtig gemacht“, anders gehandelt haben. nach verschiedene Schalter im Organismus sagt Silke Brunner, aber der Zweifel ist auf Nirgendwo hatte man ihnen gesagt, dass wie die Steine eines Dominospiels: Ab der ihrem Gesicht zu lesen. immer wieder mal ein Kind nicht in die In Wahrheit kann Jenny gar keinen sol- gängigen Muster von Mann und Frau hin- * Antike Statue im Landesmuseum für Kärnten in Klagenfurt. chen Entschluss gefasst haben. Bisher ha-

210 der spiegel 45/2002 ben ihr die Eltern nämlich noch gar nicht gesagt, dass sie mit einem XY-Chromoso- mensatz für „männlich“ geboren wurde und dass ihr im Mutterleib Hoden wuchsen anstelle von Eierstöcken. Brüste wird Jenny nur bekommen, wenn sie ab der Pubertät ihr Leben lang Hormone nimmt. Es gibt eine Diagnose, von der Jenny nichts ahnt, sie lautet: Pseudohermaphroditismus mas- culinus Typ IV b. „Von Natur aus ist sie lei- der Gottes dazwischen“, wie der Vater sagt. Der Fachausdruck für „dazwischen“ lautet „intersexuell“. Der Volksmund nennt sol- che Menschen Zwitter. Niemand, nicht ein- mal die Großeltern, durften wissen, dass Ärzte sie mit dem Skal- pell zum Mädchen ge- macht haben. Dass sie ihre Klitoris verkürzt und aus dem, was einmal ihre Vorhaut war, künstliche kleine Schamlippen geformt haben, als sie noch ein Baby war – zu jung, um sich heute daran zu erinnern. Herr Brunner hofft, Baby Jenny dass die Ärzte alles „Pfoten weg!“ richtig entschieden ha- ben. Brunner ist Kauf- mann, er handelt mit Eisenwaren. Im Dorf und in der ganzen Ge- gend kennt ihn jeder als ehrlichen Mann, der nicht lang herum- schwätzt. „Da gelten Fakten und Verträge“, sagt Brunner, von dem Jenny das nüchterne Naturell geerbt hat und wohl auch den Dick- schädel. „Wir können nicht rückgängig ma- chen, was gewesen ist. Warum soll man das

RONALD FROMMANN RONALD Kind jetzt belasten mit Mediziner Hiort diesem Wissen? Die „Volle Wahrheit“ Jenny ist meine Toch- ter, und so wird das im- mer bleiben.“ Seine Frau ist da nicht so si- cher. Sie hat das Gefühl, ein Unrecht sei dem Kind geschehen, die Zeit renne, jede Minute, die in Unaufrichtigkeit vergehe, werde noch mehr Unheil nach sich ziehen. Ahnt Jenny denn nicht längst etwas?

amals, vor zwölf Jahren, heulte Frau DBrunner nächtelang durch, aus Angst vor dem, was sie auf sich zukommen sah. Schon dieses Wort: Zwitter! „Das geht doch immer ins Sexuelle. Abartig klingt das, schmutzig, wüst, anrüchig.“ Sie stell- te sich vor, wie ihre Tochter eines Tages eine Existenz in einer Halbwelt führen der spiegel 45/2002 211 Wissenschaft würde, „ein unglückliches Wesen, nicht im Arztzimmer drin – zack, die Unterhose Loch zu graben, als einen Mast zu bauen“ Fisch nicht Fleisch“. Würde sie später ein- runter und dem Kind zwischen die Beine – ein Penis ist schwerer herzustellen als mal aussehen wie ein Transvestit? Und wie geguckt. Es war mir jedes Mal, als ob ich eine Vagina. Also wird aus einem Kind mit sollte sie jemals verkraften, keine eigenen selbst da liegen würde.“ unklarem Geschlecht meist ein Mädchen. Kinder bekommen zu können? Für die Ärzte stellt sich das Ganze als Die Operation unter Vollnarkose dauert Frau Brunner, Realschulabschluss, mitt- technische Herausforderung dar: „Klitoris sechs Stunden. Am Ende loben die Chir- lere Beamtenlaufbahn, bei Jennys Geburt 1,7 Zentimeter, prominent“, steht auf dem urgen das „ausgezeichnete kosmetische Er- Anfang 20, wälzte medizinische Fach- Arztbrief – 0,7 Zentimeter zu viel für ein gebnis“. Der Mutter graust es, als sie die bücher, die sie in der Bibliothek geliehen Mädchen und 0,9 Zentimeter zu wenig für grün und blau geschwollene winzige Schei- hatte. „Aber da stand nur, was es ist, und de sieht, vernäht mit OP-Zwirn. nicht, wie wir damit leben sollen.“ „Es war ein Schönheitsfehler“, so sieht Die Herren Professoren ließen die ah- Silke Brunner das heute. „Alles drehte sich nungslose junge Frau mit dem offenen um den einen Zentimeter. Die wollten, Mädchengesicht daneben stehen wie ein dass es der Norm entspricht. Kein Mensch Möbelstück, wenn sie sich auf ihr Kind hat gesagt, dass wir uns auch gegen den stürzten. „Die haben nie den Menschen Eingriff hätten entscheiden können.“ gesehen. Überall war sie die medizinische Heute grübelt sie, ob das Kind mit der Sensation.“ gekappten Klitoris jemals Lust empfinden Mit der 15 Monate alten Tochter, einem wird. Die viel gepriesene Mikrochirurgie vitalen Kind, stellen sich Brunners in der scheint an der empfindlichen Stelle längst Heidelberger Uniklinik vor. Am nächsten nicht immer die gewünschten Ergebnisse Tag bringt der Professor unerwartet all sei- Jenny im Laufgitter zu bringen. Wie das bei Jenny sein wird? ne Assistenten und Studenten zur Visite mit, „Alles drehte sich um einen Zentimeter“ „Ich kann sie ja schlecht danach fragen.“ an die 15 Leute in weißen Kitteln drängen Als die Tochter fünf ist, lassen Brunners sich plötzlich in dem kleinen Sprechzimmer einen Jungen. Kein gesundheitsgefährden- auch noch die Hoden aus ihrem Bauch ent- um das heulende Kind. Der Reihe nach in- der Zustand zwar, aber so lassen könne fernen. Zwar würde Jenny dann eines Tages spizieren die Experten das auffällige Geni- man das Kind auf keinen Fall. Es muss et- auch Hormone nehmen müssen, damit ihr tale. Herr Brunner steht hilflos daneben. was geschehen, geben die Mediziner den Schamhaare wachsen. Aber die Ärzte hat- Bis er sieht, dass seine Frau zu weinen an- Eltern zu verstehen, und zwar dringend. ten von einem Krebsrisiko gesprochen und fängt. Da besinnt er sich: „Schluss“, ruft er. Die Frage, ob Jenny nicht ebenso gut als dass sonst in der Pubertät doch noch das „Ich will, dass das sofort aufhört.“ Junge aufwachsen könnte, stellen sich die Männliche durchkommen könnte. Eine Psy- „Fortan“, berichtet Frau Brunner, „war’s Ärzte nicht, denn es gibt eine Regel in der chologin rät: „Sagen Sie ihr, der Blinddarm aber jedes Jahr einmal so: Kaum war man plastischen Chirurgie: „Es ist einfacher, ein muss raus.“ Das ist den Eltern nicht geheu- er. Was, wenn Jenny später wirklich eine Einen spektakulären Beweis für seine Hormone im Organismus, um männliche Blinddarmentzündung bekäme? Frau Brun- Theorie wollte Money mit einem Jungen Geschlechtsorgane auszubilden, aber genü- ner erklärt ihr, die Eierstöcke seien krank, erbringen, der wegen einer Vorhautveren- gend im Gehirn, um männliches Verhalten „das war wenigstens nur halb gelogen“. gung operiert worden war und dabei einen zu zeigen. Kürzlich erst fanden amerikani- Als das Kind halb betäubt auf dem OP- Teil seines Penis eingebüßt hatte. Money sche Forscher an Mäuse-Föten heraus, dass Tisch liegt und der Anästhesist damit be- hatte den Eltern geraten, ihren Sohn zur bei Männchen und Weibchen das unter- ginnt, ihr die Kleider auszuziehen, faucht Tochter operieren zu lassen. Chirurgen schiedliche Geschlecht in 50 Genen aus- die Fünfjährige den Arzt an: „Nimm dei- kappten daraufhin den Penisrest und leg- gedrückt ist – und zwar lange, bevor sich ne Pfoten weg, du Arschloch.“ ten eine künstliche Vagina an. Dann war Hoden oder Eierstöcke bilden. „Sie hat sich so gewehrt dagegen, dass der Junge als Mädchen aufgewachsen. Oft wird zwar erst in der Pubertät klar, einer sie anfasst“, flüstert Frau Brunner. In der Fachwelt präsentierte Money die in welchem Geschlecht ein intersexueller „Ich dacht, ich müsst sterben. Dass ich Verwandlung von Bruce in Brenda Reimer Mensch leben will. Aber der Sinn dafür, ob mein Kind dem ausgeliefert hab, das hätt als Erfolg. Tausende intersexuelle Kinder jemand weiblich oder männlich ist, scheint ich nicht machen sollen.“ angeboren und unveränderlich zu sein – Dass es Probleme mit dem verordneten Was sollen Eltern ihrem Sohn egal was Chirurgie oder Erziehung daraus Geschlecht geben könnte, glaubte die Ärz- sagen, der mit Jungs an einen Baum machen. teschaft bis vor kurzem nicht. John Mo- ney, ein berühmter Sexualforscher aus den pinkeln will – und es geht nicht? lans clitoridis erbsgroß. Unauffälliger USA, hatte schließlich in den siebziger Jah- GVaginaleingang“, steht nach der Ge- ren verkündet, geschlechtliche Identität sei wurden seither nach Moneys Doktrin be- nitaloperation auf Jennys Arztbrief. Das das Ergebnis sozialer Prägung. Der Mensch handelt – auch dann noch, als der ver- klingt beruhigend. Das Kind aber ent- komme gewissermaßen als Neutrum zur stümmelte Junge sich längst gegen die auf- wickelt sich nicht nach Wunsch. Die Mut- Welt. Erst unter dem Einfluss der Eltern gezwungene weibliche Identität auflehnte. ter schickt Jenny zum Ballett: Jenny mit ei- lerne er, ob er Mädchen oder Junge wer- Als vor ein paar Jahren bekannt wurde, nem rosa Tutu in der ersten Reihe. Aber den solle. Wenn die Eltern jedoch das Ge- dass Brenda nach mehreren Suizidversu- Jenny will nicht tanzen. Es fehlt ihr jegli- schlecht nicht klar vor Augen hätten, könn- chen heute wieder als Mann lebt, sah sich che Grazie, sie bockt. Sie fängt schon im ten sie ihm keine Identität vermitteln. Ein Moneys damaliger Konkurrent Milton Dia- Kindergarten an zu raufen. Mit Jungen. Kind mit uneindeutigen Genitalien müss- mond bestätigt. Diamond hatte an Meer- Sie spielt mit ihren Puppen nicht Vater- te also so schnell wie möglich operiert wer- schweinchen nachgewiesen, dass Hormone Mutter-Kind wie andere Mädchen, sondern den – um die Eltern nicht zu verwirren. das Gehirn des Kindes schon während der hackt der Barbie Kopf und Glieder ab und Anschließend dürfe vor allem das Kind nie Schwangerschaft auf ein Geschlecht prä- versucht anschließend, sie zu reparieren. etwas über das Geschehene und die Zwei- gen. Viele der intersexuell geborenen Kin- Sie lässt sich nicht in den Arm nehmen, fel an seinem Geschlecht erfahren. der hätten demnach zu wenige männliche duldet keine Zärtlichkeiten, schon gar nicht Wissenschaft von der Mutter. Mit fünf erklärt Jenny „Wie kommst du auf so was?“ Hiort, selber Vater zweier Jungen und ei- aus heiterem Himmel, sie könne niemals „Weil es so ist.“ nes Mädchens, macht nicht den Eindruck Kinder haben, das wisse sie genau. Frau Mittlerweile droht Jenny, aus dem Auto eines Haudegens. Er wählt jedes Wort mit Brunner schweigt betroffen. Woher weiß zu springen, wenn die Eltern sie zu einem Bedacht. Er sagt, er habe in Gesprächen sie das? neuen Arzt schleppen wollen. Zum Glück mit den Patienten viel dazugelernt. Nicht Dann macht die Familie im Urlaub Pau- hat der Wagen eine Kindersicherung. für alles, was in der Medizin machbar ist, se an einer Raststätte. Die Klotür steht of- „Stell dich nicht so an“, fährt ein Endo- sind Patienten am Ende dankbar. fen, und Frau Brunner fühlt die Angst in krinologe die Zehnjährige an, die sich un- Schon zu viele Menschen klagten ihm, sich hochsteigen, als sie sieht, wie das Kind ter Tränen weigert, ihre Unterhose auszu- Ärzte hätten sie zum Leben im falschen sich von vorn an die Schüssel drückt und ziehen. Warum nur wollen ihr alle zwi- Körper verurteilt. Mancher, der als Baby verzweifelt versucht, im Stehen zu pinkeln. schen die Beine schauen? Was gibt es dort zum Mädchen gemacht wurde, lebt später „Jetzt kommt es durch“, denkt die Mut- Schreckliches zu sehen? als Mann – obwohl ihm jedes Gewebefetz- ter auch, jedenfalls wenn sie beobachtet, chen herausgeschnitten wurde, was einmal wie Jenny einen Pullover auszieht. „Wie oyeurismus gibt es leider auch bei Ärz- auf eine männliche Identität deutete. Man- ein Junge“, findet Frau Brunner. Jenny Vten“, sagt Olaf Hiort. Manche Kinder che leben mit einer Penisprothese im Slip. greift sich nach hinten in den Kragen und seien völlig traumatisiert von der Behand- Die Lübecker beginnen gerade erst mit zerrt den Pulli kopfüber herunter. Wenn lung durch die Kollegen. „Ein Kind mit ei- einer Studie, die nicht wie üblich nach den andere Mädchen ihre Pullover aus- Abmessungen der Geschlechtsorgane fragt, ziehen, schaut Frau Brunner immer sondern danach, wie intersexuelle Men- genau hin: Alle fassen ihn mit ver- schen ihr Geschlecht empfinden. Hiort ver- schränkten Armen am unteren mutet aber schon jetzt, dass vielen für im- Bund und ziehen ihn nach oben, mer das Gefühl bleibt, zwischen den Ge- um Gewebe und Frisur zu schonen. schlechtern zu sein. „In welcher Rolle das Keines macht es wie Jenny. Kind aufwachsen soll, ist deshalb eine gna- Die Lage des Kindes wird immer denlos schwierige Frage.“ verzweifelter. Jenny hat keine Intersexualität tritt in völlig unter- Freundin. Sie spielt überhaupt nie- schiedlichen Erscheinungsformen auf. mals mit Mädchen, sondern ver- Manchmal ist der Körper eines Kindes achtet ihre Geschlechtsgenossin- äußerlich so unauffällig, dass erst in der nen. Sie prügelt sich in der Schule Pubertät oder im Erwachsenenalter Zwei- mit älteren Jungen. Sie schlägt den fel aufkommen. Für jedes der Störungs- kleinen Bruder und die Mutter. Bei bilder hat die Medizin eine Art Typen- einem Abendessen mit Geschäfts- bezeichnung, unterscheidet sorgfältig zwi- partnern des Vaters furzt sie ab- schen Hermaphroditen und Pseudoherm- sichtlich laut, immer wieder stellt aphroditen. sie die Eltern bloß. Sie fängt an zu Aber auf praktische Fragen hat sie oft fressen, nimmt in ein paar Wochen keine Antwort: Auf welche Schultoilette 10 Kilogramm zu, 55 Kilogramm bei soll ein Kind mit einem Mikropenis gehen? 1,43 Zentimetern. Ein Psychothe- Wie soll eine Halbwüchsige anderen er- rapeut in der nahe gelegenen Klein- klären, warum sie keine stadt scheitert. Schamhaare hat? Was Als sie acht Jahre alt ist, weist der sollen Eltern einem Fün- Arztbrief eine weitere Diagnose auf: fjährigen sagen, der mit „Aggressives Verhalten und eine anderen Jungs an einen nicht beherrschbare Fresssucht“. In Baum pinkeln will, und der psychosomatischen Abteilung es geht nicht? einer Kinderklinik wirft sie ein Buch Viele Familien breiten nach der Mutter: „Mach, dass du striktes Stillschweigen rauskommst, verschwinde!“ Später über ihr größtes Dilem- malt sie sich selbst als zotteliges Kunstfehleropfer Reimer* ma – oft auf ärztlichen Monster, schwarz, ohne klare Um- Nach mehreren Suizidversuchen Rat. Hiort ist dann der

risse. „Eine erkennbare Ursache ist lebt Brenda wieder als Mann D.C. / WASHINGTON NEWS SERVICE FEDERAL Erste, der die Karten auf nicht zu eruieren“, schreiben die den Tisch legt. „Nur wer Therapeuten. nem Herzfehler kommt gleich zum Spe- die volle Wahrheit kennt, kann eigenver- In den folgenden Monaten ruft jeden zialisten. An einem intersexuellen doktern antwortliche Entscheidungen treffen.“ Eine Abend irgendein Lehrer bei Brunners an, viele erst mal selber herum.“ Zwölfjährige müsse wissen, warum ihre Re- um sich zu beschweren. Andere Kinder Hiort leitet an der Universitätsklinik Lü- gelblutung ausbleibt; und selbst einer Vier- fürchten sich so vor Jenny, dass sie nicht beck die einzige deutsche Forschungsstel- jährigen könne man erklären, dass in ihrem mehr zur Schule gehen wollen. Manchmal le, die sich mit Intersexualität beschäftigt. Bauch das Haus fehlt, in dem die Kinder ängstigt sich auch die Mutter vor ihr: War- Ein festes Team aus Endokrinologen, Hu- bis zur Geburt im Bauch der Mutter woh- um macht sie alles kaputt? Warum ist sie so mangenetikern, Kinderärzten und Chirur- nen. „Die Kinder leiden meist weniger un- brutal mit sich und anderen? gen kümmert sich um die Familien. Auch ter dem unklaren Geschlecht“, sagt Hiort, Im Biologieunterricht fällt der Lehrerin Psychologen gehören neuerdings dazu. „als unter dem Misstrauen und der Un- auf, dass das Mädchen sonderbare Fragen Seit die Ärzte damit angefangen haben, ehrlichkeit in der Familie.“ stellt, zum Beispiel, ob es auch Frauen ihren Patienten zuzuhören, anstatt ihnen Noch kommt es selten vor, dass Eltern gebe, die nur einen Eierstock haben. So et- Maßnahmen zu verordnen, haben sie bereit sind, ihrem Kind später die Ent- was fragt kein anderes Kind. „Ich bin ja so- viel von ihrer Selbstgewissheit eingebüßt. scheidung zu überlassen. So wie das Paar wieso verkrüppelt“, sagt sie. Frau Brun- aus Norddeutschland, das Hiort kürz- ner ist geschockt: * Oben: mit zwei Jahren; rechts: als 34-Jähriger. lich erklärte, sie wollten die Klitoris ihres

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Kindes auf keinen Fall verkleinern las- gedacht. Sie hatte lauter normale Menschen Frau Brunner dagegen erscheint es, als sen. „Du bist ein ungewöhnliches Mäd- gesehen, keine schrillen Vögel. Und alle re- schritten sie alle pfeifend durchs Leben wie chen“, hatten sie ihrer Zweijährigen er- deten völlig frei über ihre Geschichten. Wie die Darsteller auf einer Theaterbühne, aber klärt. „Du hast manches von einem Jun- sie jahrelang gespürt hatten, dass mit ihnen jeden Moment könne eine Falltür weg- gen. Wenn du willst, kannst du später mal etwas nicht stimmte. Wie sie oft durch Zu- klappen, und ein schwarzes Loch würde einer werden.“ fall herausgefunden hatten, dass sie gar sich unter ihren Füßen auftun. Wenn die Eltern damit leben können, nicht als Mädchen auf die Welt gekommen Manchmal klingt der Boden schon ver- ist das in Ordnung, findet Hiort, schließlich waren. Wie manche nicht aufhörten, mit dächtig hohl, so wie neulich, als das Kind geht von einer vergrößerten Klitoris keine dem zugewiesenen Geschlecht zu hadern. über das Hausaufgabenheft gebeugt er- Gefahr für das Kind aus. Manchmal hat er Wie wütend sie auf ihre Eltern waren, die zählte, in der Klasse hätte sie nun einen allerdings den Eindruck, dass sich die El- sie jahrelang belogen hatten und die sie ah- Freund, so wie die anderen Mädchen. „Ist tern davon bedroht fühlen. nungslos in ihren ersten Flirt stolpern ließen das Kind jetzt schwul?“, fragte sich die Mut- Neulich kam ein Ehepaar mit seinem wie in ein aufgeklapptes Messer. ter da. Und auch der Vater kam nach der Sohn in die Sprechstunde, dessen Körper Eine wollte mit ihrem Freund schlafen, ersten Freude ins Grübeln. Ob ein Mann nicht auf männliche Sexualhormone an- und es ging nicht, weil ihre Scheide zu kurz merken würde, dass Jenny anders ist? Und sprach. Der 16-Jährige sah aus wie 12, kein war. Eine war von ihrem Partner betrogen welcher Partner, fragt sich Herr Brunner, Stimmbruch, kein Bartwuchs, und unter worden, weil der sich auf einmal nach ei- mache noch mit, wenn er erfahre: Hoppla, dem Sweatshirt zeichnete sich der Ansatz ner richtigen Frau gesehnt hatte. meine Freundin ist ja ein halber Mann? eines Busens ab. Als Hiort über die Dia- Keine Demütigung sparten diese Frauen Weil Brunners einfach nicht mehr wei- gnose sprach, sagte die Mutter zu dem Jun- aus. „Diese Offenheit“, sagt Frau Brunner, terwissen, haben sie jetzt eine Psychologin gefragt, ob sie ihnen helfen könne, dem Kind reinen Wein einzu- schenken. Ein erstes Strategie- gespräch gab es schon. Nun sitzen die beiden daheim am Küchen- tisch, im Backofen brät eine Pizza fürs Abendbrot, und Herrn Brun- ner ist mulmig zumute. „Vielleicht kann sie ja doch normal mit ei- nem Jungen schlafen, dann müss- ten wir ihr es nicht vorher sa- gen.“ Seine Frau winkt wütend ab: „Du verstehst wirklich über- haupt nichts.“ „Dass das Kind die Wahl nicht mehr hat, doch noch als Mann zu leben, das ist die Schuld, die ich auf mich geladen habe. Hätt ich nicht damals auf einer Dia- gnose bestanden, wir hätten viele Jahre in Frieden leben kön- nen.“ Aber dann verstummt ihre Selbstanklage, weil Jenny mit robustem Schritt herangetrabt

WALTER SCHEELS WALTER kommt. Ehepaar Brunner: „Keiner sagte uns, dass wir uns gegen den Eingriff hätten entscheiden können“ Das Kind hat auf dem Bauern- hof nebenan eine Hühnerschar gen: „Wenn ich das alles geahnt hätte, hät- „das hat mich völlig umgehauen, wo ich versorgt, mit dem kleinen Bruder um ten wir dich nie gekriegt.“ doch elf Jahre geschwiegen hab.“ den Roller gestritten, einen Hauch von In den Flyern einiger Selbsthilfegrup- Spät abends kommt Silke Brunner völ- hellblauem Lidschatten aufgelegt. Sie hat pen, die Hiort den Patienten mitgibt, steht lig aufgelöst von dem Treffen zurück. „Wir ihren guten Tag heute und lässt sich gnä- eine Forderung: Die Gesellschaft solle In- müssen es ihr sofort sagen“, drängt sie. Ihr dig zu Papa und Mama auf die Küchen- tersexualität nicht länger als behandlungs- Mann hält sie davon ab, das Kind aus dem bank plumpsen. „Vielleicht lass ich mir bedürftige Krankheit ansehen, sondern als Bett zu holen. Sie streiten, es fließen Trä- mal die Haare länger wachsen“, überlegt Variation der Natur. Als drittes Geschlecht, nen. Ja, es stimmt, in dem Kind brodelt Jenny laut und wickelt ein paar Sträh- einzutragen in Standesamtsregister und was, gibt der Vater zu. Aber ist sie nicht zu nen prüfend um ihre Finger. Seit einem Reisepass. Wenn aber schon die Eltern das jung für die Wahrheit? halben Jahr schluckt sie Hormone, damit Kind ablehnen, wie es ist, fragt Hiort, darf „Wir gehen in unserer Familie doch sie Brüste bekommt wie die anderen in ich mich dann als Arzt zurücklehnen und offen und ehrlich miteinander um“, fin- ihrer Klasse. Aber noch zeichnet sich un- auf die Toleranz der Gesellschaft hoffen? det Herr Brunner. Fahren sie nicht sogar ter dem Pullover kaum eine Rundung ab, zusammen in den FKK-Urlaub? Herr leider. s ist ein Schock, als Silke Brunner zum Brunner hat den Eindruck, mit dem ein- Am Sonntag wird das Kind sein erstes Eersten Mal erwachsene Frauen kennen zigen Tabu lebe es sich in letzter Zeit Reitturnier bestreiten – unter lauter Mäd- lernt, die am eigenen Leib erfahren haben, sogar immer besser. Jenny geht jetzt chen natürlich – und der Papa wird stolz was ihre Tochter durchlebt. Sie war zum viel seltener zum Fußballspielen. Neu- den Chauffeur machen. Jenny sitzt nahe Treffen einer Selbsthilfegruppe gereist, die erdings reitet sie wie die anderen Mäd- am Ofen, ihr Gesicht glüht. Sie greift mit unter www.xy-frauen.de im Internet ver- chen in ihrer Klasse. Sie ist ruhiger ge- der Rechten über den Kopf nach hinten, zeichnet steht. Danach scheint es ihr, als worden. Das ist doch eine Bestätigung, packt in den Kragen und zerrt sich den habe sie all die Jahre in die falsche Richtung oder nicht? Pulli vom Leib. Beate Lakotta

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TIERE Untergang der Meeresrösser Millionen Seepferdchen sterben jedes Jahr in Aquarien, für Potenzmittel oder Schlüsselanhänger. Artenschützer fordern strenge Handelskontrollen.

robleme mit der Manneskraft? Da chen auf der Agenda. Den Delegierten liegt helfen „Seahorse Genital Tonic ein Antrag vor, der den – bislang weitge- PPills“: Man nehme zerstoßenes See- hend unreglementierten – Handel mit den / VISUM MICHAEL WOLF pferdchen und Ginsengwurzel zu gleichen Tieren unter internationale Kontrolle stel- Getrocknete Seepferdchen (in Peking) Teilen und runde mit allerlei fernöstlichen len soll. Wirksam gegen Nieren-Yang-Schwäche? Kostbarkeiten ab – fertig ist der Munter- Gleich mehrere wundersame Eigen- macher. schaften machen Seepferdchen zum be- sagten Seepferdchen wundertätige Heil- Zweimal täglich zehn Pillen der Zau- gehrten Handelsgut. Mit Pferdekopf, Trom- kraft nach. Noch bis ins 18. Jahrhundert bermischung empfiehlt die traditionelle petenschnute und Glotzaugen wirken die waren sie auch in Europa äußerst gefragt. chinesische Medizin den weniger Stand- bizarren Fische wie Wesen von einem an- „Die Damen verwenden sie, um ihren haften. Und nicht nur den Lenden soll das deren Planeten. Schon der griechische Milchfluss zu steigern“, notierte 1753 das Zeug neues Feuer einhauchen. Auch gegen Meergott Nereus ritt auf einem Hippo- britische „Gentleman’s Magazine“. Debilität, Kurzatmigkeit und Schmerzen kamp, einem Mischwesen aus Pferd und Wunderlich ist auch ihre Färbung und in den Beinen hilft das Mittel angeblich. Fisch, durch die See. Griechen und Römer Größe. Vom zwei Zentimeter langen Pyg- Hippocampus, das See- mäen-Seepferdchen bis zum pferdchen, gilt in China, Sin- maximal 32 Zentimeter gro- gapur und Taiwan als Wun- ßen Hippocampus abdomi- derdroge. Mindestens 24 Mil- nalis reicht die Verwandt- lionen Stück der filigranen schaft. Innerhalb von Minu- Senkrechtschwimmer wur- ten können die Tiere die den allein in Asien im Jahr Farbe wechseln, sind je nach 2000 gehandelt – die meisten Art mal neongrün, mal tau- von ihnen getrocknet als benblau oder rot getupft. kostbare Ingredienz für Tink- Und erst die Fortpflan- turen, Pulver und Pillen. zung! Wenn sich Seepferd- Die Folgen sind verhee- chen binden, dann meist für rend: Alle 32 bekannten See- immer. Männchen und Weib- pferdchenarten stehen inzwi- chen bleiben sich ein Leben schen auf der internationalen lang treu. Die Hochzeit: ein Roten Liste bedrohter Arten. wahrer Liebesrausch. Mit an- In vielen Weltregionen haben mutigem Kopfnicken be- sich die Bestände der farben- grüßen sich die Tiere, schlin- frohen Meeresbewohner in- gen ihre Greifschwänze um- nerhalb von fünf Jahren hal- einander und umkreisen sich biert. Fischer müssen schon im Tanz. Neun Stunden kann die Jungtiere der marinen der Ritt d’amour dauern. Alle Rösser fangen, um die wach- paar Wochen, vor jedem Paa- sende internationale Nach- rungsakt, wiederholt er sich. frage zu befriedigen. Am Ende steht erneut Ab- „Immer mehr Länder han- sonderliches: Kinderkriegen deln mit immer mehr See- ist bei Seepferdchen Män- pferdchen“, klagt Brian Giles, nersache. Biologe des internationalen Mittels einer penisähnli- „Project Seahorse“ mit Sitz chen Legeröhre spritzt das im kanadischen Vancouver. Weibchen seine Eier in eine Giles und seine Mitstreiter Bruttasche des Männchens. engagieren sich seit Jahren Dort zieht der Gatte die Jun- für den Erhalt der Fische. gen heran. Sogar mit Nähr- Derzeit schöpfen sie neue substanzen und Sauerstoff Hoffnung: In dieser und der versorgt er den Nachwuchs. kommenden Woche tagt in Unter Zuckungen gebärt er Santiago de Chile die 12. schließlich die von Beginn an Vertragsstaatenkonferenz des voll seegängige Kinderschar. Washingtoner Artenschutz- Gerade ihre unkonventio- übereinkommens. Neben Ele- nelle Lebensweise wird den

fanten, Haien und Schildkrö- / WILDLIFE B. COLE Tieren jedoch zum Verhäng- ten stehen auch Seepferd- Stacheliges Seepferdchen: Kinderkriegen ist Männersache nis. Von der Natur mit knö-

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Werbeseite Wissenschaft cherner Rüstung und effektiver Tarnung Artenschutzübereinkommens verhandelt. gut gegen Feinde gewappnet, kennen See- Gelingt der Coup, wäre der Handel zwar pferdchen kein Fluchtverhalten mehr. Ge- noch legal. Künftig müssten die Exporteu- fahr begegnen sie – mit dem Greifschwanz re aber zumindest nachweisen, dass die an Seegras oder Korallen verankert – be- Seepferdchen nachhaltig gefischt wurden. wegungslos. Taucher mit geübtem Auge Genau darauf setzen auch die Seepferd- können die Tiere abpflücken wie Äpfel chenfans des kanadischen Project Sea- vom Baum. horse. Ihre Botschaft: Den Tieren ist nur zu Auch wird der Lebensraum rar. See- helfen, wenn die Menschen vor Ort mit- pferdchen sind vor allem in den flachen spielen. Denn für die Fischer in Thailand Küstenregionen der Welt zu Hause: Koral- oder auf den Philippinen sind Seepferd- lenriffe, Mangrovenwälder und Seegras- chen längst zum Brotfisch geworden. wiesen geben ihnen Schutz und Nahrung. Im philippinischen Küstendorf Handu- Doch diese Heimatgefilde sind bedroht: mon auf der Insel Handayan etwa leben Seit Anfang der achtziger Jahre schwanden viele Familien fast ausschließlich vom Ver- mindestens 35 Prozent der Mangroven der kauf der fragilen Tiere. Bis Mitte der neun- Welt. Mehr als ein Viertel der Korallenrif- ziger Jahre sank ihr Einkommen jedoch fe sind zerstört. Dynamit- und Giftfischerei tun ein Übriges. Das größte Problem jedoch se- hen Artenschützer in der stetig wachsenden Nachfrage nach den kuriosen Fischen. 75 Länder welt- weit sind in den Handel verstrickt. Nach Asien sind inzwischen auch Lateinamerika und Afrika ver- stärkt ins lukrative Seepferdchen- geschäft eingestiegen. Die kleineren und billigeren Exemplare gehen in den Souve- nirläden der Welt als skurrile Mo- biles oder Schlüsselanhänger – den Ring durch die Augen – über die Ladentheke. Die wertvollsten Exemplare dagegen werden auf Märkten in China, Japan, Taiwan und auf den Philippinen wie teu- re Schmucksteine feilgeboten. Hunderttausende der Tiere finden einen schnellen Tod in euro- päischen und nordamerikani- schen Aquarien. Die meisten Seepferdchen aber werden geröstet, gekocht oder zu Pulver zerrieben und in Salben, Pillen und Tinkturen verarbeitet. 30 bis 50 Arzneien enthalten al-

lein in China Seepferdchen als Be- / SEAPICS.COM D. WATT JAMES standteil. Mindestens acht solcher Pygmäen-Seepferdchen: Fluchtverhalten abgeschafft Mittel werden inzwischen auch in Nordamerika verkauft. Gegen Asthma, Ar- drastisch. Die Fänge gingen innerhalb von teriosklerose, Inkontinenz, Herzschwäche, zehn Jahren um 70 Prozent zurück. Abszesse und die so genannte Nieren- Ein Projekt der Artenschützer liefert den Yang-Schwäche inklusive der darauf fol- Fischern nun eine Perspektive. Ein 33 Hek- genden Impotenz soll das Zeug wirken. tar großes Seepferdchenreservat sorgt Nichts davon ist bewiesen. dafür, dass sich die Bestände wieder stabi- „Die millionenfache Verwendung der lisieren. Die Fischer haben gelernt, ihren Seepferdchen für die traditionelle chinesi- Fang sorgsam zu sortieren: Trächtige See- sche Medizin ist verheerend für die Tiere“, pferdchen setzen sie so lange in Unter- sagt Sandra Altherr von der Artenschutz- wasserkäfige, bis der Nachwuchs geboren organisation Pro Wildlife. Die Biologin rät, ist. Junge Meeresrösser kommen in Netz- die Ärzte vor Ort zum Umdenken zu be- gehege und können sich einige Male paa- wegen. Oftmals könne der Arznei-Rohstoff ren, bevor sie abgefischt werden. Seepferdchen durch ökologisch unbe- „Menschen nutzen diese Tiere seit Tau- denkliche Alternativen ersetzt werden. Vor senden von Jahren“, sagt Brian Giles. „Nur allem aber seien Handelsbeschränkungen wenn wir mit Fischern und Händlern unverzichtbar. zusammenarbeiten, werden wir auch künf- In Chile wird jetzt über die Aufnahme tig noch Seepferdchen in den Meeren ha- der Tiere in Anhang II des Washingtoner ben.“ Philip Bethge

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PAY-TV SÜDDEUTSCHER VERLAG Pornos im Directors Cut Noch ein ufgrund einer Lücke im neu gere- Agelten Jugendmedienschutz könn- ten demnächst Hardcorepornos im Interessent deutschen Fernsehen laufen. Bislang ist Pornografie im Fernsehen gesetzlich eben dem Stuttgarter Holtz- verboten. Der Schweizer Mitgesellschaf- Nbrinck-Verlag („Handelsblatt“, ter von Beate-Uhse-TV, Erotic Media, „Tagesspiegel“), dem Verleger Dirk will ab dem ersten Quartal 2003 mit Ippen („Münchner Merkur“) und zwei Hardcorekanälen beim Bezahl- der hannoverschen Verlagsgruppe sender Premiere starten. Auf den neuen Madsack („Hannoversche Allge- Kanälen sollen Werke wie „Sex Spell“ meine“) interessiert sich jetzt auch dann im Directors Cut, also in voller der Haupteigner der Medien Union Länge, ausgestrahlt werden. Kunden GmbH Ludwigshafen (MUL), Dieter müssen sich „pro Kauf“ telefonisch an- Schaub, für einen Einstieg in den fi- melden und bekommen für neun bis

nanziell schwer angeschlagenen / ARGUM NÜRBAUER WOLFGANG Süddeutschen Verlag (SV). Schaub, SV-Zentrale in München dessen MUL auch die Mehrheit an der Südwestdeutschen Medienholding in Stuttgart hält („Stuttgarter Zeitung“), habe vorige Woche Interesse signalisiert, aber noch kein konkretes Angebot ab- gegeben, heißt es in München. Unterdessen verknüpfen Holtzbrinck und Ippen ihre Einstiegsofferten mit weit reichenden Forderungen: So will Ippen etwa für die vom SV geforderten 100 Millionen Euro nicht nur einen Gesellschafteranteil, sondern auch die Rückgabe von SV-Beteiligungen an eigenen Unternehmen: Der SV hält 12,5 Prozent an Ippens Münchner Zeitungs-Verlag. Auch bei Holtzbrinck wäre man of- fenbar bereit, die 100 Millionen Euro aufzubringen, allerdings nur wenn der Kon- Beate-Uhse-TV zern das Recht bekäme, künftig zusätzlich frei werdende Anteile zu übernehmen. Dazu müsste der Gesellschaftervertrag des Süddeutschen Verlags verändert werden zehn Euro zwei bis drei Stunden Pro- – er sichert den bestehenden fünf Gesellschafter-Familien ein Vorkaufsrecht zu gramm. Eigene Sendungen werden Sonderkonditionen. Um die bisherigen SV-Inhaber zu der Satzungsänderung zu mo- nicht produziert, gezeigt werden täglich tivieren, will Holtzbrinck ihnen offenbar eine Garantie-Ausschüttung in Aussicht wechselnd Filme vorwiegend aus Ame- stellen. Die Madsack-Gruppe prüft noch die Bücher und hat bislang kein konkre- rika. Die Schweizer wollen ihr Angebot tes Gebot abgegeben. Wie knapp die Liquidität im Süddeutschen Verlag bereits ist, nur einem geschlossenen Nutzerkreis erfahren die Mitarbeiter derzeit beim Weihnachtsgeld: Anders als bisher üblich im öffnen, der sich per Ausweis identifizie- November wird es in diesem Jahr erst im Dezember ausbezahlt. ren muss. So glaubt man der neuen Ge- setzeslage zu entsprechen.

PRESSE Ignatius: Die „New York Times“ wird Ignatius: Die Neunziger waren geprägt sich nun vor allem mit der Frage be- von Geld und Finanzen, also genau „Sehr aggressiv“ schäftigen müssen, ob und wie man die richtig für „Financial Times“ und „Wall Marke „Tribune“ neu ausrichten wird. Street Journal“. Dieses Jahrzehnt ist an- David Ignatius, 52, Chefredakteur der Was wir bis jetzt hören, ist ermutigend: ders: Es geht um Krieg und Frieden, „International Herald Tribune“, über Name und internationaler Charakter Terrorismus, ein neues Europa. Alles die internationalen Expansionspläne sollen erhalten bleiben, vor allem soll Themen, die unsere große Stärke sind. der „New York Times“ frisches Geld investiert werden. Schon im letzten Jahr konnten wir so in SPIEGEL: Die „New York Times“ will einigen Märkten zulegen. In Asien ha- SPIEGEL: Nach 36 Jahren hat die „Inter- durch die „Tribune“ international expan- ben wir unsere Auflage um bis zu 80000 national Herald Tribune“ nur noch ei- dieren, vor allem in Europa. Angesichts Exemplare gesteigert. Und wir sehen nen Besitzer: Die „New York Times“ der Werbekrise ist das überraschend. die Chance, in China zu publizieren. drängte die „Washington Ignatius: Die „New York SPIEGEL: Die „Tribune“ kooperiert lokal Post“ aus dem Projekt. Wur- Times“ ist seit einiger Zeit mit vielen Zeitungen, darunter der de die Redaktion überrascht? der Meinung, eine interna- „FAZ“. Die werden eine Expansion in Ignatius: Wir haben erst am tionale Mission vor sich zu ihren Markt nicht gern sehen. Schluss davon erfahren. Wir haben. Dies scheint für Ignatius: Wir wollen auf jeden Fall wei- wussten von Diskussionen um sie so wichtig zu sein, dass ter mit unseren neuen Partnern zu- die Struktur der „Tribune“, sie unbedingt der einzige sammenarbeiten. Aber die „New York aber die fanden nur auf höchs- Besitzer der „Tribune“ wer- Times“ ist ein sehr aggressiver, finan- ter Ebene zwischen den Ver- den wollte. ziell sehr gut aufgestellter Zeitungs- legern Arthur Sulzberger Jr. SPIEGEL: Der Pressemarkt ist verlag. Die „Times“ spielt nie, um zu

und Don Graham statt. / AP LAURENT REBOURS eng. Wo können Sie Markt- verlieren. Sie hat diesen Schritt getan, SPIEGEL: Wie geht es weiter? Ignatius anteile gewinnen? um mächtiger zu werden.

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TV-KOCHEN heraushängen zu lassen. Ich habe den Laien im Auge. SPIEGEL: Dieser Laie wundert sich oft, „Mein Ruf ist wenn er die geleckten TV-Küchen sieht, all die wunderbaren Gerätschaften dar- in und den Satz des TV-Kochs hört: „Es Ehrlichkeit“ geht alles sehr schnell. Ich habe schon mal die Zwiebeln klein geschnitten, Vincent Klink, 53, einer der dienst- Gemüse geputzt, Nüsse geknackt, To- ältesten deutschen Fernsehköche, über maten blanchiert.“ In Wirklichkeit ist guten Geschmack und Echtheit auf das ja alles langwierige Arbeit. dem Bildschirm Klink: Bei mir ist das anders. Ich arbeite unter Live-Bedingungen. Mein guter SPIEGEL: Herr Klink, im Fernsehen bro- Ruf ist Ehrlichkeit. Auch wenn was delt und dampft es. TV-Kochsendungen schief geht, wird es gezeigt. sind auf allen Kanälen zu sehen. Sie SPIEGEL: Sie gelten als Gegner der Nah- stehen seit fünf Jahren in der Fernseh- rungsmittelindustrie. Was haben Sie küche, glauben Sie an ein Ende des gegen vorfabrizierte Suppen, Soßen Booms? und Knödel? Klink: Nein. Ich merke vor allem an jun- Klink: Es gibt Produkte, die völlig okay gen Leuten, dass sie sich mit Kochen in sind. Das Schlimme ist nur, dass die

die kleine heile Welt retten können. Die / ZEITENSPIEGEL SCHULTZE FRANK Nahrungsmittelindustrie mangelnde Zeiten werden hektischer, Kochen und Klink Qualität durch Aromastoffe übertönt. Genießen sind Möglichkeiten, die Welt Das verdirbt den Geschmack für Echtes. zu entschleunigen. sere Mütter auf Dinge wie Nescafé ab- SPIEGEL: Woher wissen Sie eigentlich, SPIEGEL: Das heißt: zurück zu Mutters gefahren sind. Sie empfanden Tüten- welches der richtige Geschmack ist? Rezepten? suppen als Erleichterung. Beim Wieder- Klink: Jede Epoche, das weiß ich aus Klink: Genau genommen Großmutters aufbau nach dem Krieg hatten sie ande- meiner großen Bibliothek für Koch- Rezepten. Vergessen wir nicht, dass un- re Sorgen, als gutes Essen auf den Tisch kunst, hat ihren Geschmack. Aber was zu bringen. wir momentan erleben, ist der Werbe- SPIEGEL: Das Gourmetgetue kann druck für schlechte Dinge. Jetzt haben schwer nerven. Die deutsche Filmkomö- wir im Fernsehen eine wunderbare Ge- die macht sich schon über Kochfanati- genbewegung. 20 bis 30 Prozent der ker lustig. Menschen machen sich jetzt Gedanken Klink: Hobbyköche, die sich in ihrer über gutes Essen. Küche zerfleischen, mag ich genauso SPIEGEL: Gehört dazu auch die Liebe wenig wie manische Weinsammler. Ich zur exotischen Kulinarik? halte sie weniger für Genießer als für Klink: Die ist etwas für aufstrebende Statussymbolsammler. junge Köche. Ich habe die Aufgabe, den SPIEGEL: Wen wollen Sie beglücken? Leuten das Kochen mit den Produkten Klink: Ich habe mir von Anfang an zur der Saison zu predigen. Schließlich hat Devise gemacht, nicht den Profikoch das auch etwas mit Identität zu tun.

QUOTEN Sturm vor Moskau erglichen mit anderen Katastrophen, haben sich die Deutschen für die tsche- Vtschenische Geiselnahme in Moskau relativ wenig interessiert. Dies zeigen die Quoten für die ARD-„Brennpunkte“. Im Schnitt erzielten die Sondersendungen über die Geiselnahme einen Markt- anteil von 14,7 Prozent. Das In- teresse für die „Brennpunkte“ zur Elbeflut lag mit 22,2 Pro- zent ebenso höher wie das am Terroranschlag auf Bali (21 Pro- zent). Auch die Ermordung des Bankiersohns Jakob von Metzler (23,5) und selbst der Sturm über Deutschland (18,5) verzeichneten mehr Quote als das Geschehen in der russi- schen Hauptstadt.

Sturmschaden bei Vechta NORDPHOTO

224 der spiegel 45/2002 Fernsehen TV-Vorschau ten Blick in unsere Augen gesenkt“. Broti & Pacek – Junge war überwältigt, zumal sie „niemals etwas Politisches oder Mi- irgendwas ist immer litärisches schreiben“ musste, nur Montag, 21.15 Uhr, Sat.1 Briefe und Reden. Fortan arbeitete sie „Ally McBeal“, die einst wunderbar Szene aus „Dinotopia“ für den „Führer“, wo immer er sich durchgeknallte US-Anwaltsserie, aufhielt: in der Wolfschanze, in der siecht mittlerweile dahin; Vox zeigt die drei Teile (noch Mittwoch und Reichskanzlei, auf dem Berghof. zurzeit die letzte Staffel. Doch als Sonntag) schon heute 90 Millionen Euro Doch die Nähe trübte offenbar den leuchtendes Vorbild für deutsche gekostet. Blick: „Ich hatte nie das Gefühl, dass Drehbuchautoren taugt „Ally“ noch er bewusst verbrecherische Ziele ver- allemal: „Verschleppte ,Ally-McBeali- Im toten Winkel folgt, für ihn waren es Ideale…Ich tis‘“ diagnostiziert „Hör zu“ ange- hab gedacht, jetzt bin ich an der sichts der neuen, auf acht Folgen an- Freitag, 21.45 Uhr, ARD Quelle der Information.“ Solche Sät- gelegten Sat.1-Ärzteserie „Broti & „Ich hab den Film freigegeben, jetzt ze sind schwer erträglich, machen Pacek“. Sicher, die frisch niederge- gibt mich das Leben frei“, sagte Traudl aber die Qualität der Dokumentation lassenen Doctores Pacek (Moritz Junge, Hitlers Privatsekretärin von 1942 aus. Heller und Schmiderer lassen Lindbergh) und Brotesser (Wolfgang bis 1945, nachdem André Heller und Junge reden, ohne den Originalton Wagner) sind ziemlich neurotische sein Co-Autor, der Dokumentarfilmer mit Archiv-Aufnah- Knallköpfe mit Männerängsten vom Othmar Schmiderer, der alten Dame men zu unterlegen. zu kleinen Penis, von drohender diese 90-minütige Dokumentation über Hitler kommt nur Versingelung und überhaupt vor ihr Leben vorgeführt hatten; sie starb als Name vor, keine den Frauen. Aber bis zum Ausbruch im Februar dieses Jahres, kurz nach der Bilder von der Premiere des Films bei den Berliner Front oder aus La- Filmfestspielen. Traudl Junge war 22, gern, keine KZ- als sie den Dienst in der Reichskanzlei Häftlinge und SS- antrat, und fand die Arbeit „ganz amü- Schergen. Der

sant“. Sie arbeitete für den „Führer“, Schrecken wird ORF der aber unsichtbar blieb. Mit den zehn nicht ausgewalzt, Junge (2001) Besten eines Schreibmaschinenwettbe- sondern genau be- werbs kam sie in die Wolfschanze nach nannt. Was Hannah Arendt mit der Ostpreußen, und da war er: „Ein „Banalität des Bösen“ gemeint hat, gemütlicher, älterer Herr, freundlich kann sich hier ungestört entfalten – und mit leiser Stimme.“ Er habe „jeder im Vertrauen auf die Urteilskraft des die Hand gegeben und seinen berühm- Zuschauers. TV-Rückblick Wasser viel zu tief ist, nichts ändern. Im Bodensee, den die Kamera lustvoll Tatort: 1000 Tode als schauriges Gewässer beschwor, ver- sank ein Stück aufklärerischer Vernunft. Wagner, Lindbergh in „Broti & Pacek“ 3. November, ARD Warum gefährdete junge Todessucher Suizidforen im Internet (SPIEGEL im Internet jeden Kontakt zur Wirklich- der herrlichen McBealschen Lach- 9/2001) sind eine gefährliche Angelegen- keit verloren haben, darüber schwieg krankheit ist es weit. Wahrscheinlich heit für alle, die sich mit Selbstmordge- sich der Film so gut wie aus. Fackel- wirkt die deutsche Humorschutz- danken tragen. Dass ein Krimi wie der schein, Schreie, Fesseln waren den Ma- impfung. vom vergangenen Sonntag (Buch: Doro- chern offenbar wichtiger. thee Schön, Regie: Jobst Oetzmann) ein Dinotopia solch heikles Thema aufgriff, erscheint auf den ersten Blick verdienstvoll, zu- Dienstag, 20.15 Uhr, RTL mal mit Eva Mattes als Kommissarin Den Weg ins Fantasy-Land finden die eine äußerst sensible Darstellerin die Gebrüder Scott (Tyron Leitso, Went- Fäden zog. Umso erstaunlicher fiel worth Miller) über einen Flugzeugab- dann aus, was über den Schirm kam: ein sturz – einfach à la Grimm mit „Es äußerst brutaler Krimi (wenn auch ohne war einmal…“ zu beginnen war den Leiche), der mit seiner Darstellung eines Londoner Machern wohl zu uncool. gefesselten Mädchens, die Henkerschlin- Egal, im Land der Riesenechsen geht ge um den Hals und von einem Sadisten es zu wie im Märchen: sprechende (Edward Piccin) verbal gequält, an die Saurier, schrullige Menschen, Schur- Grenze des öffentlich-rechtlich Darstell- ken, Liebe, Gute…die ganze Fanta- baren zur Hauptsendezeit ging. Da sy-Palette. Auch wenn sie irgendwann konnten literarische Inspirationen wie

gestorben sein werden, dann haben das Lied von den Königskindern, die SWR zueinander nicht kommen, weil das Mattes, Piccin in „Tatort: 1000 Tode“

der spiegel 45/2002 225 Medien

KONZERNE Bauers zweite Chance Das Rennen um die Relikte des Medienimperiums von Leo Kirch scheint entschieden: Der Hamburger Verleger Heinz Bauer soll den Zuschlag erhalten. Die Senderfamilie ProSiebenSat.1 will der Zeitschriftenmilliardär mit seinen Methoden sanieren: durch rigides Kostenmanagement.

iesmal war die hansea- 1984 in vierter Generation tisch-kühle Art ihres führt und 96 Prozent der An- DChefs selbst engen teile kontrolliert. Mitarbeitern unverständlich. Der stets betont unauffällig Dabei wissen die nur zu gut, und eher scheu auftretende dass der Hamburger Verleger Bauer, dessen Privatvermögen Heinz Bauer, 63, nicht zu Ge- nach seriösen Schätzungen bei fühlsausbrüchen neigt. etwa vier Milliarden Euro liegt, Aber wenn so einer erfährt, wittert die Chance, endlich in dass er beste Chancen hat, die Riege der Springers, Gru- neuer Herr über Programme ner+Jahrs und Burdas aufzu- wie ProSieben („Entertain- steigen, in die er nach Umsatz ment XXL“), Sat.1 („Powered (2001: 1,7 Milliarden Euro) und by Emotion“) und damit über Gewinn (als KG publiziert Bau- fast 50 Prozent des deutschen er keine Erlöse, die Rendite soll TV-Werbekuchens zu werden, aber auch 2002 im zweistelligen dann hätten Bauer-Vertraute Bereich liegen) längst gehört. auch bei ihrem Vorgesetzten Nicht aber nach Ansehen. einen Hauch von Begeisterung Denn in der bunten Welt der erwartet. Bauer-Blätter glänzt bislang Was aber tat der Chef von nicht viel – außer der Auflage. „Europas führendem Zeit- Mit allein sieben Programm- schriftenhaus“ („TV Movie“, Zeitschriften (zum Beispiel „Maxi“, „Bravo“), als ihn am „TV Movie“, „tv14“) ist Bauer vorigen Mittwoch die Nach- mit Abstand Marktführer bei richt erreichte, dass fortan ex- den Fernsehtiteln (56 Pro- klusiv mit ihm über die Relik- zent Marktanteil), bei der Ju- te der insolventen KirchMedia gendpresse hält der Verlag mit

verhandelt werde? Er ließ PRESS ACTION dem Teenie-Klassiker „Bravo“ kurz das Spitzenmanagement Ehepaar Bauer: Der Bär ist im Visier, aber noch nicht erlegt und seinen diversen Ablegern informieren und widmete sich („Bravo Girl!“, „Bravo Sport“, dann prompt wieder dem Tagesgeschäft: Die Aufgabe, das Ereignis öffentlich ins „Bravo Screenfun“) insgesamt 43 Prozent – Unter anderem mussten die Objektleiter rechte Licht zu rücken, blieb wie immer an genau wie mit seinem Riesen-Repertoire an der „Neuen Revue“ in der achten Etage seinem Kommunikationsbeauftragten An- Klatsch-, Tratsch- und Frauenpostillen wie des Bauer Verlags zum Rapport antreten, dreas Fritzenkötter hängen. Der langjähri- „Neue Post“, „Neue Revue“ und „Tina“. bei dem der Chef seine Untergebenen gern ge „Spin Doctor“ und Intimus von Alt- Neben dem guten Geschäft mit Promis, mal mit Detail-Fragen über den Papier- kanzler Helmut Kohl, immerhin, gibt sich Trash und TV-Tabellen findet sich kaum verbrauch düpiert. Kein Schampus, keine denn auch redlich Mühe: „Mit der Kirch- etwas, womit man sich schmücken kann in Jubelszenen, nicht mal ein Schulterklop- Insolvenz hat sich für uns wie damals bei der Firmenzentrale an der Hamburger fen, einfach nichts. der deutschen Einheit ein historisches Zeit- Burchardstraße: Anspruchsvollere Blätter Abends ging Bauer mit Ehefrau Gudrun fenster geöffnet“, sagt Fritzenkötter, „und wie – in frühen Jahren – „Quick“, „Esquire“ wie geplant ins Konzert. Und am nächsten das wollen wir jetzt nutzen.“ und „Wiener“ hat Bauer rigoros eingestellt, Morgen warnte er seine Umgebung noch Ein historischer Einschnitt wäre es alle- weil sie seine Rendite-Erwartungen nicht einmal vor allzu viel Enthusiasmus: Der mal, würde ausgerechnet Bauer in den erfüllten. Nach unten hin ist das Niveau Bär, so Bauer trocken, sei im Visier – aber nächsten Wochen die endgültig noch aus- hingegen offen: Die Bauer-Verlagstöchter noch lange nicht erlegt. zuhandelnden Verträge unterschreiben, um Pabel-Moewig und Helbert arbeiten mit Im Verlag spotten sie schon, Bauer füh- das Erbe von Kirch anzutreten: für das Titeln wie dem krawalligen Sexblatt re die Verhandlungen nur, um öfter mal duale Fernsehsystem, dessen privater „Coupé“ („Lust auf total gierigen Spontan- nach München düsen zu können: Der Ver- Zweig vor 18 Jahren mal als „Verlegerfern- Sex“), „Schlüsselloch“ und „Sexy“ hart leger ist leidenschaftlicher Pilot. Mehrfach sehen“ begann. Für den Bauer-Verlag, der an der publizistischen Schamgrenze. Noch flog er seine Delegation eigenhändig nach einst die Hamburger Lohnsteuertabellen schlüpfriger lässt es der streng protestan- Bayern, in seiner weiß-braunen Falcon 900 druckte und im 127. Jahr seines Bestehens tische Verleger mit Seiten wie schluck- mit Holz- und Lederausstattung, in deren zum zweitgrößten deutschen Medienkon- alles.de im Internet zur Sache gehen. Kabine es kein Service-Personal gibt, son- zern aufsteigen könnte. Vor allem aber für Dennoch hatte Bauer außerhalb der dern Kekse aus der Packung. den Patriarchen, der das Unternehmen seit Medienbranche bislang kein schlechtes

226 der spiegel 45/2002 • Die Kirch-Altgesellschafter um die In- vestment-Bank Lehman Brothers, zu de- nen in letzter Sekunde auch Silvio Ber- lusconis Mediaset stieß, boten alles in allem etwa 1,2 Milliarden Euro. • Die bislang öffentlich nicht als Mitbieter in Erscheinung getretene Investment- Gesellschaft KKR wollte etwa 1,8 Mil-

JENS KALAENE / DPA liarden Euro zahlen. • Und das Konsortium aus ProSiebenSat.1 Media dem US-Medien-Milliar- Umsatz 2001: där Haim Saban und dem Sat.1-Sendezentrale: „Jetzt wird der Rotstift tanzen“ französischen Privatsen- 2,02 Milliarden Euro der TF1 nannte in seinem Image – er hatte gar keines. Wenn es in Anteile (52 Prozent) an der Filmrechtehandel von Schreiben gar keine kon- Deutschland einen Medien-Mächtigen Senderfamilie ProSieben- KirchMedia krete Summe, sondern gibt, über den weniger bekannt ist als über Sat.1 Media AG überneh- Umsatz 2000: kündigte eine Offerte für Leo Kirch, dann ist es Heinz Bauer. Wie men. In einem zweiten 1,17 Milliarden Euro die nächsten Wochen an. bei Kirch gibt es von ihm kaum Fotos, Schritt, der vertraglich bin- So hat Bauer nun die besten wie Kirch meidet der Vater von vier Töch- dend vorgeschrieben ist, Chancen, und offenbar ist tern öffentliche Auftritte. Und wie Kirch soll dann der Filmstock aus der KirchMe- er gewillt, sie zu nutzen. Bislang allerdings gibt Bauer eigentlich keine Interviews. dia herausgekauft werden, um künftig ne- waren seine Ausflüge ins Audiovisuelle nicht Das sei seine „Natur“, sagte er bei ei- ben der börsennotierten Senderfamilie zu sonderlich erfolgreich. 1984, in der Ge- ner der raren Ausnahmen, einem Ge- firmieren. Über dem Ganzen, so der Plan, burtsstunde des deutschen Privatfernsehens, spräch mit der „WamS“: „Wer nicht möch- soll eine neue Holding thronen. mischte der Verleger schon einmal bei Sat.1 te, dass er dauernd im Scheinwerferlicht Wie groß der Appetit der Hambur- mit – ein Angebot, bei RTL plus einzustei- der Medien erstrahlt, der kann das auch ger ist, zeigen die geplanten Mehrheits- gen, hatte er vorher noch ausgeschlagen. erreichen.“ verhältnisse: Trat der Bauer-Verlag im Schneller als viele andere merkte Bauer Das dürfte erheblich schwieriger wer- Bieterverfahren immer als „Konsortium“ damals, dass die Verleger bei Sat.1 die Ver- den, wenn es ihm gelingt, künftig neben mit der HypoVereinsbank auf, wird nun ladenen sein würden und nur einer profi- seinem Presse-Imperium auch noch Deutsch- klar, dass die Bank eher eine taktische tierte – Leo Kirch. Schon 1986 stieg er des- lands größte Privatsender-Kette zu kon- Rolle spielt. 90 Prozent an der neuen Hol- halb wieder aus. Auch sein Engagement trollieren. Das Angebot, das seine Ver- ding will Bauer halten, nur 10 Prozent sind beim Frauensender TM3 war schnell wie- handlungsdelegation um Vorstand Man- für die Hypo reserviert. Die Verhandlun- der zu Ende; nur bei RTL II blieb Bauer bis fred Braun den Kirch-Abwicklern nach gen mit einem weiteren möglichen Part- heute im Boot, mit 31,5 Prozent. einer letzten Präsentation ihrer Pläne zu- ner, dem Hollywood-Studio Columbia, In Zukunft will Bauer nun auch elek- kommen ließ, lag jedenfalls mit insgesamt laufen noch. tronisch umsetzen, was ihn im Zeitschrif- rund zwei Milliarden Euro deutlich über Dem Ausschuss der Kirch-Gläubiger, der tenmarkt groß gemacht hat: Medien für denen seiner Mitbewerber und sieht ein am vorigen Mittwoch die Angebote son- die Massen. Ihn reizt die enorme elektro- abgestuftes Verkaufsverfahren vor. dierte, fiel die Entscheidung für die Bauer- nische Reichweite, hier will er die Markt- So will der Verleger zunächst für rund Offerte nicht schwer, die Alternativen wa- anteile zurückerobern, die ihm Boulevard- 850 Millionen Euro die bisherigen Kirch- ren nicht gerade verlockend: Sendungen bei seinen bunten Blättern ab- geknabbert haben. Das erste Echo fällt überraschend positiv aus. „Mit dieser Lösung kann man sehr gut leben“, sagt etwa der Kölner Medienexper- te Lutz Hachmeister. Auch der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma spricht „von einer ganz vernünftigen Entwicklung – immerhin hat Bauer immer be- Heinrich Bauer Verlag Bauers Erfahrungen mit * wiesen, dass er rechnen 1,70 elektronischen Medien kann“. Und Deutschlands 33 Zeitschriften Deutschland 1984–1986 beteiligt oberster Medienwächter darunter TV-Zeitschriften: 1,66 bei: mit: Norbert Schneider freut „TV Movie“ (verkaufte Auflage im 3. Quartal 2002: 2,2 Millionen), 6,1% sich, wenn so die „durch „tv14“ (2,1 Mio.), „auf einen Blick“ (1,8 Mio.), „tv Hören und die Insolvenz entstanden- Sehen“ (1,4 Mio.), „Fernsehwoche“ (0,9 Mio.) 1995–1997 de Instabilität beseitigt Frauenzeitschriften/Yellow Press: 50,0% und die Balance auf dem „Neue Post“ (1,2 Mio.), „Das Neue Blatt“ (1,0 Mio.), 1,58 deutschen Fernsehmarkt „Tina“ (0,9 Mio.), „das neue“ (0,4 Mio.) wiederhergestellt wäre“. Jugendzeitschriften: 1,54 1,54 31,5% Probleme könnte es „Bravo“ (0,8 Mio.), „Bravo Girl!“ (0,4 Mio.) indes bei der Medien- außerdem in Beteiligungsunternehmen: „Coupé“ Konzentrations-Kommis- (0,3 Mio.), „Blitz-Illu“ (0,1 Mio.), „Avanti“ (0,3 Mio.) Umsatz sion und beim Kartellamt Radio Hamburg 25,0% gesamt, geben: Durch seine RTL- 83 Zeitschriften Ausland in Milliarden * Wird gerade II-Beteiligung wäre Bau- in: China, Frankreich, Großbritannien, Mexiko, Euro Hoch- abgestoßen Polen, Portugal, Rumänien, Spanien, Tschechische rechnung er in beiden großen Sen- Fernseh- derfamilien aktiv. Auch Republik, Ungarn, USA 2001 produktion 2000 23,5% die dominante Stellung 1997 1998 1999 227 bei den TV-Zeitschriften weckt Bedenken, er könne seine Print-Macht zu Gunsten seiner Sender missbrauchen. Nicht alle se- hen das so entspannt wie ProSiebenSat.1- Chef Urs Rohner. Der witzelte unlängst, er gehe davon aus, dass in Bauer-Blättern wie „TV Movie“ jetzt nur noch seine Pro- gramme abgedruckt würden. Für die Politik ist der konservative Bau- er eine vergleichsweise verlässliche Größe. Zudem war man vorbereitet: Adlatus Frit- zenkötter, nun auch für den Bereich „Me- dienpolitik“ zuständig, führt seit Wochen „Informationsgespräche“ – etwa mit CSU- Staatsminister Erwin Huber. In den Kirch-Sendern schwankte die Stimmung Ende voriger Woche zwischen Hoffen und Bangen – hinter den Kulissen und sogar im laufenden Programm. „Jetzt wird hier der Rotstift tanzen“, frotzelte Sat.1-Entertainer Harald Schmidt, Band- Leader Helmut Zerlett sekundierte mit der Information, dass Bauer bekanntlich jede Spesen-Quittung einzeln prüfe. Tatsächlich könnte vielen Sendermitar- beitern das Lachen noch vergehen. Bauer

ist fest entschlossen, die Kanäle nach sei- / ARGUM BOSTELMANN BERT nen bewährten Methoden zu sanieren – „FAZ“-Zentrale in Frankfurt am Main: Stattliche Reserven durch ein rigides Kostenmanagement. Und das geht durchaus ins Detail: Nach einem seiner München-Flüge zeigte sich PRESSE Bauer ziemlich irritiert, als begleitende Springer-Nachwuchsmanager in ihre No- bel-Limousinen stiegen – und orderte sich Schnitte ins Fleisch selbst kopfschüttelnd ein Taxi. „Wir haben als Unternehmen bewiesen, Gerüchte um einen Wechsel von „Welt“-Chefredakteur dass wir sehr kostenorientiert wirtschaften können“, sagt Fritzenkötter, „und auch das Wolfram Weimer an die Spitze der „FAZ“ sorgten für Ärger – vor Fernsehgeschäft wird sich an dieser Bauer- allem beim bürgerlichen Konkurrenzblatt aus Frankfurt. Unternehmensphilosophie orientieren.“ Dazu zählen scharfe Schnitte: „Generell ie schlechte Nachricht hat Mathias Aufsichtsratschef der „Frankfurter Allge- muss bei uns jedes einzelne Objekt lang- Döpfner im Urlaub erreicht: meinen“. fristig eigenständig wirtschaftlich erfolg- D„Welt“-Chefredakteur Wolfram Größere Debatten hatte es zwischen den reich sein.“ Würde Bauer diese Maxime Weimer solle zur „Frankfurter Allgemei- beiden konservativen Verlagen in der Ver- strikt anwenden, wäre etwa der hochdefi- nen Zeitung“ („FAZ“) wechseln, wurde gangenheit schon mehrfach gegeben. Klei- zitäre Info-Kanal N24 akut gefährdet. dem Springer-Chef nach Ägypten gemel- nere Sticheleien sowieso: Mal brüstete sich Vorerst wird Bauer mit seinen Beratern det, wo er in einer illustren Gruppe rund Weimer – einst wie Döpfner selbst Re- aber noch ein paar Mal nach München jet- um Verlegerwitwe Friede Springer ent- dakteur der „Frankfurter Allgemeinen“ – ten; bis spätestens Mitte Dezember hat er spannte. in so genannten Freitagsbriefen an seine Zeit, exklusiv zu verhandeln. Nun müssen Das heiße Gerücht sorgte Redakteure, wie man „Tag für die Kirch-Manager vor allem die An- nicht nur im Land der Pharao- Tag die völlig orientierungslo- sprüche der Hollywood-Studios klären – nen für Aufruhr, sondern auch sen ‚FAZ‘-Blattmacher“ über- die Hamburger wollen den Filmstock nur in Frankfurt und Berlin. Erst flügelt habe. Dann wieder wur- schuldenfrei übernehmen. „Bauer ist kein sagte „FAZ“-Sanierer Wolf- de Weimer im Feuilleton des Typ, der ein unkalkulierbares wirtschaftli- gang Bernhardt einen harmlo- Frankfurter Mit-Herausgebers ches Risiko eingeht“, so Fritzenkötter. sen Kennenlern-Termin mit Frank Schirrmacher als „offen- Langjährige Weggefährten halten es so- Weimer, der schon in Frank- sichtlich überforderter Chef- gar für möglich, dass Bauer in letzter Mi- furt weilte, kurzfristig ab. Dann redakteur“ beschrieben. nute wieder abspringt. So wie bei „Ergo“, fiel das eigene Lager über den Inzwischen aber hat die Kri- dem geplanten Nachrichtenmagazin, das vermeintlichen Überläufer her. se der deutschen Tageszeitun- er von einem riesigen Team zwei Jahre ent- „Eine Kreuzfahrt auf dem Nil“, gen auch die „Frankfurter All- wickeln ließ und dann in einer einsamen lästern Kollegen, „wäre für ihn Sanierer Bernhardt gemeine“ erfasst. Während Entscheidung stoppte. Und so wie bei dem besser gewesen als die Irrfahrt Letzte Bastion Konkurrenten wie die „Süd- geplanten Einstieg bei dem polnischen Pri- am Main.“ deutsche Zeitung“ oder die vatsender RTL7, als alle Verträge schon un- Bei der Posse um den „Welt“-Chef ge- „Frankfurter Rundschau“ schon mit Liqui- terschriftsreif waren. „Das Aus kam da- rieten allerdings etwas unfreiwillig Ak- ditätsengpässen kämpfen, während die dau- mals nicht auf der Zielgeraden“, erinnert teure mit auf die Bühne, die sich sonst erdefizitäre „Welt“ gar ums Überleben ringt, sich ein Insider, „es kam in der Sekunde mit Vorliebe hinter den Kulissen aufhal- gerät nun selbst die letzte Bastion der über- vor dem Zieleinlauf.“ Marcel Rosenbach ten: die Herausgeber und der designierte regionalen Presse in ernste Finanzprobleme.

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tung ein Minus von rund 60 Millionen Euro Das dämmert nun auch den Verlagsstrate- zu erwarten. Hinzu kommen noch die gen: Das lukrative Geschäft mit den Stel- schlechten Ergebnisse in Randaktivitäten lenanzeigen, bis vor kurzem der Haupt- wie Internet, Buchverlagen, Anzeigenblät- umsatzbringer in Frankfurt, dürfte auch tern und FAZ-Business-Radio. bei anziehender Konjunktur nicht kom- Das zehrt an der Substanz – selbst bei ei- plett zurückkehren – sondern allmählich nem Verlag, der in guten Zeiten für die ins Internet abwandern. schlechten vorgesorgt hatte: Ende 2001 In dieser Krisenstimmung schien selbst standen immerhin stolze Rücklagen von das Ende des Herausgeberstatuts denkbar rund 200 Millionen Euro in der Bilanz des – dabei sind die fünf Chefjournalisten des vollkommen schuldenfreien Verlags. Nach Hauses nicht nur Mitgesellschafter, sie heutiger Lage wären diese stattlichen Re- müssten also über ihre eigene Abschaffung serven allerdings bis spätestens Ende 2004 mit entscheiden, sondern sie sind auch verbraucht – falls jetzt nichts passiert und noch bis zur Rente ernannt. „Die Ab- die Konjunktur sich nicht erholt. schaffung des Herausgeberstatuts käme in Die erste Kündigungswelle vom Früh- der Presselandschaft einem Nuklearschlag sommer jedenfalls, die über 100 Mitarbei- gleich“, sagt Mitherausgeber Günther ter den Job kostete, davon allein 70 in der Nonnenmacher. Daran könne man „schon Redaktion, reicht nicht aus. Auch die von aus geschäftlichen Gründen kein Interesse Bernhardt gerade verkündeten Verkäufe haben“. praktisch aller Randgeschäfte allein brin- „Man“ ist in diesem Fall die „FAZ“, die gen nicht die notwendigen Einsparungen. ihre Herausgeber mit erstklassigen Verträ- Ein zweites Sparprogramm ist unumgänglich. „In der ersten Runde ist schon viel Fett her- untergeschnitten worden“, sagt Herausgeber Günther Nonnenmacher: „Jetzt geht es Doch es geht nicht nur um Zahlen, ge- ans Fleisch.“ stritten wird auch um die publizistische Li- Bis Ende nächsten Jahres nie: Wie modern soll eine bürgerliche Zei- wird es wohl 100 Redakteure tung heute aussehen? Wie stark und unab- weniger geben – 70 davon hängig soll eine Redaktion gegenüber einer durch weitere betriebsbeding- Geschäftsführung sein, die ganz andere te Kündigungen. Mit dann 300 Qualitätsmaßstäbe hat? Redakteuren wäre wieder Nur vor diesem Hintergrund der aktu- der Stand von 1994 erreicht.

ellen Finanzprobleme war es möglich, dass „Und damals“, heißt es im JENS KALAENE / DPA ein banales Gerücht einen ganzen Verlag in Führungszirkel der Frankfur- Springer-Kollegen Weimer, Döpfner: „Offene Kabale“ Verwirrung stürzte. Die klugen Köpfe hal- ter, „war die ‚FAZ‘ auch kei- ten neuerdings alles für möglich. Chefsa- ne schlechtere Zeitung.“ Die harten Ein- gen beschenkte: Sie haben bis zur Rente nierer Bernhardt, ein ehemaliger Stahlma- schnitte sollen garantieren, dass der Verlag Anspruch auf nahezu volles Gehalt – auch nager, sah sich eigens zu Bestandsgaranti- auch bei weiterhin schlechter Konjunktur wenn der Verlag bis dahin auf ihre Mitar- en etwa für die „Frankfurter Allgemeine Ende nächsten Jahres zumindest eine beit verzichten wollte. Sonntagszeitung“ genötigt. schwarze Null erreicht. Und Weimer? Hat sich der „Welt“-Chef, Ansonsten steht in Frankfurt vieles zur So schön wie früher, als jeder neue Re- der zuvor vergeblich auf den Job des Zei- Disposition. Denn nach einem Verlust von dakteur mit Dienstwagen und einer Karte tungsvorstands bei Springer hoffte, für den rund 27 Millionen Euro in 2001 ist in die- für freies Tanken bedacht wurde, wird es Posten in Frankfurt selbst ins Gespräch ge- sem Jahr allein im Kerngeschäft der Zei- so schnell allerdings nicht mehr werden. bracht und damit grob illoyal gegen seinen eigenen Verlag gehandelt? Oder ist er, Wem gehört die FAZ? Anzeigenseiten wie er in einem offenen Brief an Sanierer Januar bis September 2002, Bernhardt schrieb, „aus schierem Zufall Frankfurter Fazit-Stiftung FAZ- Veränderung gegenüber 2001 mitten in die offenen Kabale der ‚FAZ‘-In- Societäts- 51,0% Herausgeber- terna geraten“? Druckerei Kollegium –35% Dem Duzfreund Döpfners droht nun Är- bei Anzeigen- –49% ger im eigenen Haus. Zahlreiche Indiskre- 27,63%37,0% 56,36% 4,75% seiten insgesamt bei Stellen- tionen kommen jetzt auf den Tisch: Die anzeigen FAZ GmbH (11,26% in Eigenbesitz) gegenüber Mediendiensten lancierte Mel- Gewinn/Verlust dung über eine „Welt“/„Morgenpost“-Fu- • „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (100%) der FAZ GmbH in Mio. Euro sion, der öffentliche Wirbel um einen • FAZ-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen (100%) 27,9 33,1 Führungswechsel in der „Welt“-Parla- • FAZ Electronic Media (100%) mentsredaktion – hat hinter alldem Wei- • Märkische Verlags- und Druck-Ges.: „Märkische Allgemeine“ (100%) mer gesteckt, obwohl der das bestreitet? • Druckereien unter anderem in Mörfelden und Potsdam (100%) 2001 2002 Als „Spitze des Eisbergs“ wird das jüngs- • Medienservice (51%) 1999 2000 te Ereignis in Springers Chefetagen be- • Habel Buchhandlung (50%) schrieben, als letztes Glied in einer langen • Buchverlage (100%) –27,0 Reihe von Intrigen. Das eigentlich harm- Deutsche Verlagsanstalt, Engelhorn Verlag, Julius Hoffmann Verlag, Keysersche Verlagsbuchhandlung, Klinkhardt & Biermann, Klöpfer & Meyer, lose Gerücht um seinen Wechsel kostet den Koehler & Amelang, Kösel Verlag, Manesse Verlag, Paracelsus, Xenos Verlag, 37-jährigen Journalisten nun möglicher- Prestel Verlag (60%) erwartet ca. – 60 weise den Job. Frank Hornig

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Redaktion: (009111) 4652118, Fax 4652739 Fax: (040) 3007-857006 Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Dr. Carolin Emcke, Manfred Ertel, NEW YORK Jan Fleischhauer, Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Service allgemein: (040) 3007-2700 Rüdiger Falksohn, Siegesmund von Ilsemann, Marion Kraske, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Fax: (040) 3007-3070 Dr. Christian Neef, Jan Puhl, Roland Schleicher, Dr. Stefan Simons, PARIS Dr. Romain Leick, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) E-Mail: [email protected] Thilo Thielke. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath, Claus 42561211, Fax 42561972 Christian Malzahn, Fritjof Meyer, Carlos Widmann, Erich Wiedemann PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-32, Abonnenten-Service Schweiz WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Jörg Blech, Rafaela von Bre- DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24221524, Fax 24220138 Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 dow, Manfred Dworschak, Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, E-Mail: [email protected] Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, Gerald Traufetter, RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Rua Antonio Christian Wüst. Autor: Dr. Hans Halter Mendes Campos, 57-1003, Glória Rio de Janeiro Cep 22211-140, Tel. Abonnement für Blinde KULTUR Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: (005521) 38267610, Fax 22450006 Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. 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(001202) 3475222, Fax 3473194 Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 278,20 Stegelmann WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Halbjahresaufträge und befristete Abonnements 5331732, Fax 5331732-10 werden anteilig berechnet. HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt ✂ CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen; Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Abonnementsbestellung Holger Wolters (stellv.) Bartels, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Heiko Buschke, Heinz bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SCHLUSSREDAKTION Reinhold Bussmann, Lutz Diedrichs- Egleder, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Schneider, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Anke Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke 20637 Hamburg. Jensen, Rolf Jochum, Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Geister, Dr. Dieter Gessner, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Oder per Fax: (040) 3007-3070. Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans- Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Gesa Höppner, Stephanie Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper- Ich bestelle den SPIEGEL BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- für ¤ 2,80 pro Ausgabe (Normallieferung) Gussek, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Kraus- ❏ gestaltung), Christiane Gehner, Claudia Jeczawitz, Michael König, pe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, ❏ für ¤ 8,95 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am Matthias Krug, Anke Wellnitz; Josef Csallos, Sabine Döttling, Torsten Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Ulrich Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Feldstein, Peter Hendricks, Andrea Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Meier, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Monika Rick, Sabine Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Gershom Schwal- Tobias Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte fenberg, Karin Weinberg. E-Mail: [email protected] Hefte bekomme ich zurück. Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Axel Pult, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Andrea Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, Renata Biendarra, Ludger Bollen, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Sauerbier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlü- das monatliche Programm-Magazin. Julia Saur, Michael Walter ter-Ahrens, Ekkehard Schmidt, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, LAYOUT Wolfgang Busching, Rainer Sennewald, Ralf Geilhufe; Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Spohn, Rainer Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Christel Basilon, Katrin Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Volker Fensky, Petra Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Rödiger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, PRODUKTION Sabine Bodenhagen, Frank Schumann, Christiane Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Name, Vorname des neuen Abonnenten TITELBILD Stefan Kiefer; Antje Klein, Iris Kuhlmann, Arne Vogt, BÜRO DES HERAUSGEBERS Brigitte Rolofs Monika Zucht LESER-SERVICE Catherine Stockinger REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Straße oder Hausnummer oder Postfach BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Post, New York Times, Reuters, sid Tel. 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232 der spiegel 45/2002 Chronik 26. Oktober bis 1. November SPIEGEL TV

MONTAG, 4. 11. 23.15 – 23.55 UHR SAT.1 SPIEGEL TV REPORTAGE Leben auf dem Zentralfriedhof – wie die Wiener ihre Toten feiern In Wien hat der Staat ein Monopol auf den Tod. Von der Abholung bis zum Schaufeln des Grabes: Das irdische Da- sein nach dem Ableben liegt in der Hand Wie Zwerge wirken die Menschen von städtischen Beamten. neben dem riesigen Walhai im größten Aquarium der Welt, das am DONNERSTAG, 7. 11. Freitag in der japanischen Stadt 22.00 – 22.55 UHR VOX Motobu eingeweiht wird. SPIEGEL TV EXTRA AP Mit Gewalt durch den Berg – SAMSTAG, 26. 10. keinen Sitz in einem Bundestagsaus- die Tunnelbauer vom Gotthard-Massiv schuss mehr geben. Zu Möllemanns Mit Sprengstoff und gigantischen Boh- ANGRIFF Russische Elite-Einheiten stür- rern wühlen sich Arbeiter und Ingenieu- men das Musicaltheater in Moskau und Nachfolger als Chef der Landtagsfraktion in Düsseldorf wird Ingo Wolf gewählt. re durch die Alpen. 57 Kilometer wird befreien 652 Geiseln. Dabei sterben 117 die Röhre messen – die längste unterirdi- der von den tschetschenischen Rebellen BLAMAGE Bayern München verliert in sche Strecke der Welt. seit drei Tagen festgehaltenen Zuschauer La Coruña 1:2 und scheidet aus der und 41 der Geiselnehmer. Champions League aus. FREITAG, 8. 11. PROTEST In mehr als 90 deutschen Städ- 22.15 – 0.20 UHR VOX ten gehen Zehntausende von Friedens- MITTWOCH, 30. 10. SPIEGEL TV THEMENABEND aktivisten auf die Straße, um gegen einen PARTEIKRISE II Laut Bundesschatzmeister drohenden Angriff der USA auf den Irak Günter Rexrodt hat es auf dem Konto Jung, gewalttätig, kriminell – zu demonstrieren. der Landes-FDP von Nordrhein-Westfa- Jugendkriminalität zwischen Prävention len „verdächtige“ Bewegungen gegeben. und Strafe SONNTAG, 27. 10. Parteichef Guido Westerwelle räumt ein, 12- bis 14-Jährige verüben in Deutschland mehr Straftaten als Männer über 25. Was ANSCHLAG Bei einem Selbstmordattentat dass sein Büro schon am 9. September tun, wenn Kinder klauen, dealen, schla- in der israelischen Siedlerstadt Ariel über Möllemanns Flugblattaktion infor- gen wie Erwachsene? sprengt sich ein Palästinenser in die Luft miert wurde, ihn aber nicht unterrichtet und reißt drei Menschen mit in den Tod. hat. SAMSTAG, 9. 11. ORKAN Der erste große Herbststurm VISITE Außenminister Fischer versucht in 22.00 – 0.05 UHR VOX rast über Europa hinweg, fordert Washington bei einem Treffen mit Amts- 30 Menschenleben und richtet schwere kollege Colin Powell, das deutsch-ameri- SPIEGEL TV SPECIAL Schäden an. kanische Verhältnis zu verbessern. 25 Jahre Deutscher Herbst EINSCHNITTE Gesundheitsministerin Ulla Die Provokation des Staates durch die ERUPTION Nach über einem Jahr der RAF eskalierte mit der Entführung von Ruhe bricht auf Sizilien der Vulkan Ätna Schmidt will den Wechsel von gesetz- lichen zu privaten Krankenkassen er- Hanns Martin Schleyer im September wieder aus. Das Naturschauspiel wird 1977 in Köln. Stefan Aust und Gunther von mehr als 200 Erdbeben begleitet. schweren. Die Rentenbeiträge könnten ab Januar auf 19,5 Prozent steigen. Latsch im Gespräch mit Peter-Jürgen Boock. MONTAG, 28. 10. DONNERSTAG, 31. 10. STRAFE Im Prozess um den Bomben- SONNTAG, 10. 11. anschlag in Merseburg, bei dem 1999 vor UNGLÜCK Bei einem Erdbeben in Mittel- 22.05 – 22.55 UHR RTL einem Lokal 20 Menschen zum Teil italien stürzt das Dach einer Schule in schwer verletzt wurden, verurteilt das dem Ort San Giuliano di Puglia ein. SPIEGEL TV MAGAZIN Landgericht Halle den Angeklagten 26 Kinder und zwei Erwachsene werden FDP in der Dauerkrise; Die Müllsamm- zu fünf Jahren und acht Monaten Haft. tot geborgen. ler von Buenos Aires; Miss-Wahlen in Libyen. SCHONFRIST Der Zürcher Schauspielhaus- KOMPROMISS Nach Protesten gegen die Intendant Christoph Marthaler darf vor- von der Regierung geplanten Kürzungen erst im Amt bleiben. Der Verwaltungsrat, der Eigenheimzulage zeichnet sich eine der den Regisseur ursprünglich entlassen Lösung ab. Die Zulage soll bis 2010 abge- wollte und damit heftige Proteste unter schmolzen werden, Kinderlose sollen den Marthaler-Anhängern auslöste, jedoch keine Förderung mehr erhalten. macht dem Theaterleiter nun strenge Sparauflagen. FREITAG, 1. 11. GEFÄNGNISBRAND Bei einem Feuer in der DIENSTAG, 29. 10. Haftanstalt der marokkanischen Stadt PARTEIKRISE I Dem von seinen Partei- El Jadida kommen mindestens 49 Insas- ämtern zurückgetretenen FDP-Politiker sen ums Leben. Das Gebäude war stark Staatschef Gaddafi bei Miss-Wahl Jürgen Möllemann will die Fraktion überbelegt.

der spiegel 45/2002 233 Register

gestorben auch in Deutschland berühmt machten, ge- lang es Bardem, das sozialkritische, poli- Richard Harris, 72. Der Ire repräsentierte tisch engagierte Kino in Spanien zu eta- in einigen seiner denkwürdigsten Rollen blieren. Seine schonungslose Darstellung das britische Empire in der Neuen Welt: des spanischen Alltags stieß bei der Zensur In dem Western „Der Mann, den sie Pferd im Franco-Regime auf unverhohlene Ab- nannten“ (1970) ver- lehnung – trotz zahlreicher internationaler körperte er einen eng- Auszeichnungen. Der überzeugte Kom- lischen Adligen unter munist erhielt Anfang des Jahres einen Indianern und in Clint „Goya“ – den spanischen Oscar – für sein Eastwoods „Erbar- Lebenswerk, eine Geste der Dankbarkeit mungslos“ (1992) einen und Anerkennung für den Mut, die Stim- Dandy unter Cowboys. me gegen das faschistische Regime erhoben Doch seine wehende zu haben. Juan Antonio Bardem starb am rote Mähne signalisier- 30. Oktober in Madrid.

te schon von weitem / DPA CONRAN WILLIAM jene Wildheit, die den Jason Mizell („Jam Master Jay“), 37. Kampf über die guten Manieren und die Im HipHop, wo Gewalt oft zum guten Ton vornehme Attitüde leicht gewinnen konn- gehört, zählte der DJ zu den freundlichs- te und eine elementare Lebenslust spüren ten Gemütern. Mit einem Mix von zeit- ließ. Wenn Harris als Bombenentschärfer gemäßen Beats und alten Soul-Rhythmen in dem Thriller „18 Stunden bis zur Ewig- zu euphorischen Texten über Turnschuhe, keit“ (1974) singt und trinkt, während er Mädchen und Basketball wurde er als seiner Arbeit nachgeht, vermittelt er dem Mitglied des New Yorker Trios Run-DMC Zuschauer, was es bedeutet, ein Leben zu in den achtziger Jahren weltberühmt und führen, das jederzeit enden kann. Wenn avancierte zum einzigartigen Virtuosen am man den mehrfach für den Oscar nominier- Plattenteller. Der Einfluss von Run-DMC ten Darsteller sah, hatte man oft das Gefühl, auf das damals noch junge HipHop-Genre dass da nicht nur Blut durch seine Adern war gewaltig. Run- floss. Doch was immer es war, es pulsierte DMC zählten zu den heftig – zuletzt in den beiden ersten „Har- ersten Rappern, die so ry Potter“-Verfilmungen. Richard Harris erfolgreich waren, dass starb am 25. Oktober an den Folgen der sie Gold- und Platin- Hodgkin-Krankheit in London. Platten verliehen beka- men. Mit dem Welt- Jacques Massu, 94. Der vierschrötige Fall- hit „Walk This Way“ schirmjäger schloss sich 1940 nach der Be- fusionierten sie Rock

setzung durch Hitlers Soldaten den Truppen mit Rap und verhalfen X / STUDIO / GAMMA CAVANAUGH LAURA de Gaulles an; er war zur Stelle, als Paris den Kollegen von Aero- und Straßburg befreit wurden. General Mas- smith zum Comeback. Aus Respekt wurden su war immer zugegen, wenn Frankreich Run-DMC oft „Beatles des HipHop“ ge- die Stunde schlug, und war verstrickt in die nannt. Jason Mizell wurde am 30. Oktober Ereignisse, die das Ende der französischen in New York erschossen. Kolonialpolitik einleiteten: die Indochina- Katastrophe, die Besetzung des Suez-Ka- Erling Persson, 85. In einem Kleidungs- nals und der algerische geschäft müsse es zugehen „wie in einem Unabhängigkeitskrieg, Gemüseladen“, sagte der Gründer des den er mit „allen Mit- schwedischen Textilunternehmens Hennes teln“ für Frankreich &Mauritz einmal – es müsse viel, schnell entscheiden sollte. Die- und billig verkauft werden. 1947 eröffnete se Mission endete 1960 Persson sein erstes Geschäft. Unter dem mit seiner Abberufung, Namen „Hennes“ („für sie“) verkaufte er weil er Zweifel an de Damenoberbekleidung. Der heutige Kon- Gaulles Willen, Algeri- zernname entstand 1968, nachdem Persson

AP en zu halten, angemel- das Jagdgeschäft Mauritz Widforss über- det hatte. Mit 92 Jah- nommen hatte. Zusammen mit seinem Sohn ren erleichterte der zeitweilige „Held von Stefan trieb Persson in den siebziger Jahren Algier“ sein Gewissen: Die Franzosen hät- die Expansion der Kleidungskette voran, ten dort systematisch gefoltert, und das sei die heute über 800 Filialen in 14 Ländern „nicht erforderlich“ gewesen. Jacques Mas- unterhält. Über ihn selbst erfuhr man we- su starb am 26. Oktober. nig, auch Unternehmenszahlen veröffent- lichte er ungern. Erst als Persson den Auf- Juan Antonio Bardem, 80. Der spanische sichtsrat verlassen hatte, wirkte der Textil- Regisseur hat die Filmkultur seines Landes riese nicht mehr so „Hemlig & Mystisk“ entscheidend mitgeprägt. Mit neorealisti- („heimlich und mystisch“), wie er vielen schen Filmen wie „Tod eines Radfahrers“ Schweden lange vorgekommen war. Erling (1955) oder „Hauptstraße“ (1956), die ihn Persson starb am 28. Oktober in Stockholm.

234 der spiegel 45/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Valérie Giscard d’Estaing, 74, ehemaliger xuelle Enthaltsamkeit im französischer Staatspräsident (1974 bis jugendlichen Alter. Die 1981), gibt seinen Landsleuten jetzt Ein- Schönheitskönigin schien blicke in das hinterhältige Taktieren seines perfekt ins politisch kor- damaligen Premierministers Jacques Chi- rekte Schema zu passen: rac, 69, der nun im Elysée-Palast residiert. Sie hat einen Platz an der In einer TV-Dokumentation verrät Gis- Harvard Law School, und card, wie der rechte Gaullistenführer, der ihre Vorfahren mütterli- ihm nach zweijähriger Fron 1976 frustriert cherseits waren schwarze das Amt des Regierungschefs vor die Füße Sklaven und Cherokee- geworfen hatte, seine Wiederwahl hinter- Indianer. Mehr noch als trieb. Um Chiracs Verlässlichkeit zu testen, ihr gutes Aussehen zähl- so Giscard jetzt, habe er vor der Wahl – in- ten ihre Geistesgaben. kognito – dessen Parteizentrale angerufen „Sie wurde gewählt, weil und um eine Wahlempfehlung gebeten. Die sie die Smarteste war“, verblüffende Auskunft: auf keinen Fall Gis- so ein Jurymitglied. Ihr card wählen. Entweder Stimmenthaltung mit den Organisatoren oder den Sozialisten Mitterrand. François vereinbartes Thema des Mitterand, der Giscard 1981 aus dem Amt Jahres (jede US-Schön- des Staatspräsidenten verdrängte, habe ihm heitskönigin wählt sich auf dem Totenbett anvertraut, was Chirac ein solches) sollte Teen- dem Sozialisten einmal gesagt habe: „Wir ager-Gewalttätigkeit und müssen Giscard loswerden.“ Mobbing sein. Uner- wähnt ließ sie, dass sie Erhan Albayrak, 25, türkischer Fußball- bei den Jugendlichen profi bei Arminia Bielefeld, kämpft gegen auch für sexuelle Ab- die Fehlinterpretation eines feurigen Kus- stinenz werben würde. ses. Auf der spontanen Feier der Mann- Dem massiven Druck der schaft nach dem Aufstieg in die Bundesliga Offiziellen des „Miss im Mai hatte der polnische Teamkollege America“-Wettbewerbs, Artur Wichniarek, 25, im Überschwang doch diesen Punkt in ih- den halb nackten Albayrak zu sich her- rer Jahreskampagne fal- angezogen und nach polnischer Sitte ge- len zu lassen, erteilte knutscht. Seitdem die türkische Presse das sie eine glatte Abfuhr: Foto der missverständlichen Szene aus der „Mich kann man nicht Umkleidekabine veröffentlicht hat, muss einschüchtern.“ So freu- en sich die amerikani- schen Streiter vom „Pro-

LAURA FARR / ZUMA PRESS / ZUMA FARR LAURA ject Reality“ für prä- Harold maritale Jungfräulichkeit über das attraktive Vor- Erika Harold, 22, jüngst zur „Miss Ameri- bild: „Viele junge Leute glauben, sexuelle ca“ gewählte Schöne, erschreckte die Or- Enthaltsamkeit sei was für ihre Großel- ganisatoren des US-amerikanischen Miss- tern“, sagt eine ihrer Sprecherinnen, „wun- Rummels mit einer nicht abgesprochenen derbar, dass nun auch eine so junge, intel- Kampagne – sie macht sich stark für se- ligente und schöne Frau darüber spricht.“

IMAGO Iris Berben, 52, Schauspielerin Wichniarek, Albayrak („Rosa Roth“), wirbt mal nicht mit verrutschtem Minirock und aufblit- sich Albayrak in seiner Heimat gegen Mut- zendem weißem Slip für einen Pri- maßungen erwehren, er sei schwul. Sogar vatsender, sondern mit ihrem Kon- seine Eltern, berichtet der Mittelfeldspieler, terfei und einem „Grußwort“ für hätten sich sofort besorgt erkundigt. Um einen Kalender des Jahres 2003. Äl- die Gerüchte aus der Welt zu schaffen, bie- tere Menschen, vorzugsweise Frau- tet Albayrak an, man möge ihn mit drei en, geben, fotografiert von Esther Frauen und einer Videokamera in einem Haase, Auskunft über ihre Träu- Zimmer einsperren – „damit man weiß, me. So erzählt die als Motorrad- zu welcher Richtung ich neige“. Ersatz- braut aufgerüschte Gertrud Burow, weise behilft er sich mit dem Hinweis, dass 80, auf dem März-Kalenderblatt: sich einst sogar die argentinischen Fuß- „Natürlich hat man in meinem Al- Berben (l.) auf dem Patientenkalender 2003 ballidole Diego Maradona und Claudio ter noch erotische Träume. Mein Caniggia im Siegestaumel wild geküsst hat- schönster: sie irgendwann noch einmal ausleben!“ Die bald 90-jährige Charlotte Frank, ten. Und die beiden, so klärt Albayrak auf, zurechtgemacht als Salondame für den Monat Juli, träumt „von einer Welt ohne Super- „haben ja von allen die meisten Frauen mächte, Umweltkatastrophen und Seniorenteller“. Oder Hanna Braun, 83, im schwarzen weggeputzt“.

236 der spiegel 45/2002 Patricia Hewitt, 53, che Untersuchungen. Fortan mussten britische Wirtschafts- sich Bedienstete der Botschaft um das ministerin und Staats- Federvieh kümmern, da Boldt in Kanton sekretärin für Frauen, seinen Dienst versah. Traurige Nachricht hatte auf der Fahrt für den Diplomaten: Ein Vogel leidet in- zur Eröffnung der zwischen an der ansteckenden Papagei- Automobilschau in enkrankheit. Die Tierärzte wollen ihn Birmingham ein ab- einschläfern, wenn Boldt ihn nicht stoßendes Erlebnis. schnell außer Landes schafft. Am Rande der Auto- bahn sah sie Werbe- Petra Reiber, 44, Bürgermeisterin von plakate für die Mo- Westerland auf Sylt, betreibt ihre Wie- tor-Show: Eine mit derwahl am 2. März auch mit militäri- weißem Spitzen-BH Motor-Show-Poster schen Mitteln. Gemeinsam mit 24 ande- mehr entblößte denn ren Führungskräften aus Wirtschaft, Po- bekleidete junge Frau empfiehlt ihren Ge- litik und Verwaltung nahm die gelernte schlechtsgenossinnen, einen „anderen Weg Juristin als „Oberleutnant zur See“ an einer zum Herzen Ihres Mannes“ zu finden, in- 13-tägigen Informationswehrübung der dem sie zur Ausstellung fahren, auf der Marineschule in Flensburg-Mürwik teil. eine „Menge Spielsachen für große Dabei ging es richtig zur Sache, etwa als die Jungen“ gezeigt werden – üblicherweise Bürgermeisterin an Bord eines Schnell- nicht nur die neuesten Automodelle, son- dern auch jede Menge attraktiver junger Mädchen, die auf den Ausstellungsständen repräsentieren. Ms Hewitt kritisierte das Plakat auf einer Pressekonferenz. Es sei nachgerade „zum Weinen“. Sie wisse wohl, „sex sells“, aber die Darstellung verstärke „alte Klischees“, das Poster sei „Plunder“ aus den fünfziger Jahren. Die britische Öf- fentlichkeit dankte Hewitts Kritik mit Zu- stimmung. So der Chef einer der größten Werbeagenturen in Großbritannien: Die- se „völlig überholten Plakate suggerieren, Reiber bei Wehrübung dass die Hersteller Autofahrer für Idioten halten“. boots auf der Ostsee von Jagdbombern ins Visier genommen wurde. Reiber, ganz Detlef Boldt, 59, deutscher Generalkonsul abgebrühter Marineoffizier: „Wir haben im südchinesischen Guangzhou (Kanton), dann geschossen, und in letzter Minute nervte Pekinger Kollegen mit seiner Liebe drehten die Tornados ab.“ Nach absol- zu Papageien. Der jüngst von New York vierter Wehrübung zeigte sich die partei- nach China versetzte Diplomat hatte bei lose Bürgermeisterin und Mutter dreier seiner Ankunft in Peking vier dieser Vögel Kinder besonders vom Teamgeist und dem im Gepäck – die allerdings die hauptstäd- modernen Führungsstil der Seestreitkräfte tischen Gesetzeshüter auf den Plan riefen: beeindruckt: „Auch ein Kommandeur Sie bestanden auf Quarantäne und ärztli- nimmt mal einen Besen zur Hand.“

Ballkleid (Dezember), seufzt: „Letzte Woche hat auf der Station ein neuer Pfleger an- gefangen. Charmanter junger Mann. Und so athletisch gebaut. – Wenn ich ein paar Jah- re jünger wäre …“ Für eine Spende ab 20 Euro an das„Behandlungszentrum für Fol- teropfer“ ist der Patientenka- lender der Pflegestation Jahnke in Berlin zu erwerben. „Hier ist eine Einrichtung entstanden und gewachsen“, so Berben, „die in Eigeninitiative etwas gegen die Einsamkeit alter Menschen un- ternimmt.“ Sie wünsche „den Hauptdarstellern, den alten und kranken Menschen, dass sie sich noch lange und gern an die Entstehung des Kalenders erin-

FOTOS: JAHNKEPFLEGE.DE FOTOS: nern“ werden.

Motorradbraut Burow

der spiegel 45/2002 237 Hohlspiegel Rückspiegel Aus einem Pressebericht der Pressestelle Zitate Polizei Detmold: „Auch das Telefonieren während der Fahrt (ohne Freisprechein- Der Branchendienst „kressreport“ richtung etc.) birgt erhebliche Risiken … zur Rezension des Antony-Beevor-Buchs Gefährden Sie nicht nur die Gesundheit „Berlin 1945. Das Ende“ durch den oder das Leben der Mitmenschen, sondern Historiker Joachim Fest „Zeitgeschichte denken Sie auch an Ihre eigene Sicher- – ,Wüste Siegerlaune‘“ (Nr. 44/2002): heit.“ In Bestform präsentiert sich Publizist und Historiker Joachim Fest im SPIEGEL (Aus- gabe 44/2002). Für das Hamburger Nach- richten-Magazin rezensiert er ziemlich ge- lungen das neue Buch „Berlin 1945. Das Ende“ aus der Feder von Antony Beevor. Nach den ersten Zeilen will man förmlich zum nächsten Buchladen springen und sich das offenbar bahnbrechende Werk kaufen. Dann aber holt Experte Fest ordentlich aus und haut Beevor gekonnt und süffisant in wenigen Sätzen seine zahlreichen Fehler um die Ohren. Rezensionen von solchen Anzeige einer Bestattungsfirma grandiosen Experten machen einfach Spaß.

Der Bandleader James Last auf Aus „Iserlohner Kreisanzeiger und Zei- einer Tournee durch China in tung“: „Brigitte Barbara Voss ist 51 Jahre einem Interview der „Süddeutschen alt und wurde in Hagen geboren. ,Seit die- Zeitung“ zum SPIEGEL-Titelbild ser Zeit male ich‘, berichtet sie weiter.“ „Die blockierte Republik“ (Nr. 39/2002):

Haben Sie das Titelbild des SPIEGEL vor dem Wahltag in Erinnerung? Ein Baum, dessen Stamm abgeschnürt wird von Ver- tretern verschiedener Interessensgruppen. Aus der „Ludwigsburger Kreiszeitung“

Aus den „Salzburger Nachrichten“: „Eu- ropäer hätten eher eine Schwäche für Wit- ze, die sich über etwas lustig machen, was einem normalerweise Angst einjagt, zum Beispiel Krankheit, Tod und Ehe.“

Aus dem „Westfalenblatt“: „Fischen wie der Sprotte steht das Wasser bis zum Hals.“

SPIEGEL Nr. 39/2002

Das fand ich treffend für Deutschland. Es wird zu viel geredet und zu wenig gehan- delt. Hier in China wird einfach gemacht. Aus der „Schwäbischen Zeitung“ Deshalb werden uns die Chinesen eines Ta- ges überholen.

Aus der „Badischen Zeitung“: „Auf Grund Der Mediendienst „rundy“ zum des besonderen Charakters dürften die Re- SPIEGEL-Titel „Allahs Selbstmord- sultate beider Spiele von der Form der be- Kommando in Moskau – Der teiligten Mannschaft abhängen.“ terroristische Weltkrieg“ (Nr. 44/2002):

Nahezu als einziges Blatt kommt der SPIE- GEL auf den Punkt, wenn er die Unter- stützung „… durch arabische Finanziers und die Qaida-Truppe Bin Ladens“ beim Moskauer Anschlag anprangert und mahnt: „Geheimdienste warnen vor einem neuen ,strategischen Schlag‘ gegen den Westen.“ Natürlich wird auch die mörderische Stra- tegie eines dilettierenden russischen Mi- Anzeige aus den „Erlanger Nachrichten“ litärs in Tschetschenien angeprangert.

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