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Deutscher

Stenografischer Bericht

136. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Inhalt:

Würdigung von Bundeskanzler a. D. Helmut Tagesordnungspunkt 5: Schmidt...... 13233 A Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann­ (Zwickau), , , wei- Erweiterung der Tagesordnung...... 13234 D terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Flüchtlinge auf dem Weg in Arbeit Nachträgliche Ausschussüberweisung. . . . 13235 A unterstützen, Integration befördern und Lohndumping bekämpfen Begrüßung des Vorsitzenden des Auswär- Drucksache 18/6644...... 13250 A tigen Ausschusses des Europäischen Par- laments, Herrn Elmar Brok, und des Gene- Sabine Zimmermann (Zwickau) ralsekretärs der OSZE, Herrn Lamberto (DIE LINKE) ...... 13250 B Zannier...... 13266 C (CDU/CSU) ...... 13251 D

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 4: DIE GRÜNEN)...... 13253 C Vereinbarte Debatte: 60 Jahre Bundeswehr...... 13235 B (SPD)...... 13254 C

Henning Otte (CDU/CSU)...... 13235 B Dr. (CDU/CSU). . . . . 13255 C

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)...... 13236 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE)...... 13257 A

Rainer Arnold (SPD)...... 13238 A (SPD) ...... 13258 B

Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... DIE GRÜNEN)...... 13240 A 13259 A Heike Hänsel (DIE LINKE)...... 13259 D Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU)...... 13241 C (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) . . . . . 13243 B DIE GRÜNEN)...... 13260 C

Wolfgang Hellmich (SPD)...... 13244 B Jutta Eckenbach (CDU/CSU)...... 13262 B

Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13246 C DIE GRÜNEN)...... 13263 A

Ingo Gädechens (CDU/CSU)...... 13247 B (SPD)...... 13264 A

Florian Hahn (CDU/CSU) ...... 13248 C Dr. (CDU/CSU) . . . . 13265 A II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. (SPD)...... 13266 D Umsetzung der Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (CDU/CSU) ...... 13267 D vom 20. November 2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Aner- kennung von Berufsqualifikationen und Tagesordnungspunkt 6: der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hil- a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und fe des Binnenmarkt-Informationssystems SPD: 40 Jahre nach Helsinki, 25 Jahre („IMI-Verordnung“) für bundesrechtlich nach Paris – Den deutschen OSZE-Vor- geregelte Heilberufe und andere Berufe sitz 2016 für neue Impulse hin zu einer Drucksache 18/6616...... 13281 C auf Dialog, Vertrauen und Sicherheit ruhenden Friedensordnung in Europa nutzen Drucksache 18/6641...... 13269 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Doris Wagner, b) Beschlussempfehlung und Bericht des ­, Dr. , wei- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- der Abgeordneten Katrin Kunert, Inge NIS 90/DIE GRÜNEN: Radargeschädigte Höger, , weiterer Abgeord- der Bundeswehr und der ehemaligen NVA neter und der Fraktion DIE LINKE: Den zügig entschädigen deutschen Vorsitz in der Organisation Drucksache 18/6649...... 13281 C für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahr 2016 für Frieden und Abrüstung nutzen Drucksachen 18/5108, 18/6377. . . . . 13269 B Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des von der c) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Auswärtigen Ausschusses zu dem An- eines Ersten Gesetzes zur Änderung des trag der Abgeordneten Lebensmittelspezialitätengesetzes (Bremen), Agnieszka Brugger, Annalena Drucksachen 18/6164, 18/6670. . . . . 13281 D Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 zur des von der Bundesregierung eingebrach- Stärkung der OSZE nutzen ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Drucksachen 18/6199, 18/6375. . . . . 13269 B kommen vom 28. März 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister der Volksrepublik China zur Vermei- AA...... 13269 C dung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung Katrin Kunert (DIE LINKE)...... 13271 C auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen Jürgen Hardt (CDU/CSU)...... 13272 D Drucksachen 18/6449, 18/6666. . . . . 13282 A Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ c) Zweite und dritte Beratung des von der DIE GRÜNEN)...... 13274 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Franz Thönnes (SPD)...... 13274 D eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1007/2011 und zur Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE). . . . . 13276 A Ablösung des Textilkennzeichnungsge- setzes Jürgen Klimke (CDU/CSU)...... 13276 D Drucksachen 18/6488, 18/6662. . . . . 13282 A

Katja Keul (BÜNDNIS 90/ d) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN)...... 13278 A Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Dr. (CDU/CSU)...... 13279 A – zu dem Antrag der Abgeordneten , Birgit Menz, , wei- Dr. (CDU/CSU). . . . . 13280 A terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Meeresumweltschutz national und international stärken Tagesordnungspunkt 33: – zu dem Antrag der Abgeordneten ­Steffi Erste Beratung des von der Bundesregierung Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wilms, weiterer Abgeordneter und der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 III

Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- NEN: Schutz der Meere weltweit ver- ten , Dr. , ankern Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Drucksachen 18/4809, 18/4814, Fraktion der SPD: Klimakonferenz in Paris 18/5243...... 13282 C muss ehrgeiziges Abkommen beschließen Drucksache 18/6642...... 13285 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und humani- b) Antrag der Abgeordneten Annalena täre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten ­Baerbock, Bärbel Höhn, , Inge Höger, Azize Tank, (Augsburg), weiterer Abgeordneter und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE LINKE sowie der Abgeordneten Tom NEN: Auf der Klimakonferenz in Paris Koenigs, , Dr. ­Wolfgang die Weichen für mehr Klimaschutz und Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordne- globale Gerechtigkeit stellen ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Drucksache 18/6648...... 13285 D GRÜNEN: Doppelstandards beenden – c) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt Schröter, Caren Lay, Dr. , zeichnen und ratifizieren weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Drucksachen 18/4332, 18/6184. . . . . 13282 D LINKE: Deutscher Beitrag zu den UN-Kli- f)–k) maverhandlungen – Kohlendioxid als Beratung der Beschlussempfehlungen des Umweltschadstoff definieren, Betriebszei- Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten von Kohlekraftwerken begrenzen ten 243, 244, 245, 246, 247 und 248 zu Drucksache 18/3313...... 13285 D Petitionen Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin Drucksachen 18/6561, 18/6562, 18/6563, BMUB...... 13286 A 18/6564, 18/6565, 18/6566...... 13282 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE). . . . . 13287 B (CDU/CSU)...... 13283 B Dr. (CDU/CSU)...... 13288 B

Tagesordnungspunkt 7: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13290 A Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremi- ums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaus- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD). . . . . 13290 C haltsordnung Drucksache 18/6629...... 13284 B Frank Schwabe (SPD)...... 13291 D

Matern von Marschall (CDU/CSU). . . . . 13293 B Wahl ...... 13284 A

Tagesordnungspunkt 10: Ergebnis ...... 13285 C Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Dr. , Dr. Franziska ­Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frak- Tagesordnungspunkt 8: tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Besonders Wahl von Mitgliedern des Sondergremiums gefährdete Flüchtlinge in Erstaufnahmeein- gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsme- richtungen und Gemeinschaftsunterkünf- chanismusgesetzes ten besser schützen Drucksache 18/6630...... 13284 C Drucksache 18/6646...... 13294 C Dr. (BÜNDNIS 90/ Wahlen ...... 13284 C DIE GRÜNEN)...... 13294 D (CDU/CSU) ...... 13296 A Ergebnisse...... 13293 A Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE). . . 13298 A

Tagesordnungspunkt 9: Gülistan Yüksel (SPD)...... 13299 C a) Antrag der Abgeordneten Dr. Anja Gudrun Zollner (CDU/CSU)...... 13300 C ­Weisgerber, Marie-Luise Dött, , weiterer Abgeordneter und der Frak- (SPD)...... 13302 A IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Tagesordnungspunkt 11: Tagesordnungspunkt 12: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Antrag der Abgeordneten , Bundesregierung eingebrachten Ent- ­Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias wurfs eines Gesetzes zum automati- W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der schen Austausch von Informationen Fraktion DIE LINKE: Für ein menschenwür- über Finanzkonten in Steuersachen diges Existenz- und Teilhabeminimum und zur Änderung weiterer Gesetze. Drucksache 18/6589...... 13311 D Drucksachen 18/5920, 18/6290. . . . 13303 A Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 13312 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU). . . . 13313 A wurfs eines Gesetzes zu der Mehrsei- tigen Vereinbarung vom 29. Okto- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn ber 2014 zwischen den zuständigen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). . . . . 13315 C Behörden über den automatischen (Wetzlar) (SPD) . . . . . Austausch von Informationen über 13316 C Finanzkonten Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 13317 A Drucksachen 18/5919, 18/6291, 18/6667 ...... 13303 A (CDU/CSU)...... 13318 D

– Bericht des Haushaltsausschusses ge- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE). . . 13320 A mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/6682 ...... 13303 A (SPD)...... 13321 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses Tagesordnungspunkt 13: – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna desregierung eingebrachten Entwurfs eines Karawanskij, weiterer Abgeordneter Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes und der Fraktion DIE LINKE: Die Ab- (Aktienrechtsnovelle 2014) geltungsteuer abschaffen – Kapita- Drucksachen 18/4349, 18/6681 ...... 13322 A lerträge wie Löhne besteuern – zu dem Antrag der Abgeordneten Lisa Dr. (SPD)...... 13322 A Paus, Dr. Thomas Gambke, Britta ­Haßelmann, weiterer Abgeordneter und Richard Pitterle (DIE LINKE)...... 13323 C der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Abgeltungsteuer abschaffen Dr. (CDU/CSU). . . . . 13324 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Lisa (BÜNDNIS 90/ Paus, Dr. Thomas Gambke, Britta DIE GRÜNEN)...... 13325 D ­Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU)...... 13327 A NEN: Transparenz von Kapitalein- kommen stärken – Automatischen (SPD) ...... 13328 A Austausch von Informationen über Kapitalerträge auch im Inland ein- Dr. (CDU/CSU)...... 13328 D führen Drucksachen 18/2014, 18/6064, 18/6065, 18/6667...... 13303 B Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Dr. (CDU/CSU). . . . 13303 C Katja Keul, Katharina Dröge, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Richard Pitterle (DIE LINKE)...... 13305 A GRÜNEN: Panzerlieferung nach Katar so- fort stoppen (SPD)...... 13305 D Drucksache 18/6647...... 13330 A

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). . 13307 A Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13330 A Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU). . . . 13308 D , Parl. Staatssekretär (SPD) ...... 13310 A BMWi...... 13331 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 V

Jan van Aken (DIE LINKE)...... 13333 A Tagesordnungspunkt 16: a) Erste Beratung des von den Abgeordne- (SPD)...... 13334 A ten Dr. André Hahn, Frank Tempel, Ulla ­Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Jan van Aken (DIE LINKE)...... 13334 D Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Sigmar Gabriel, Bundesminister BMWi. . . 13335 B wurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes über die parlamenta- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU)...... 13335 D rische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 13337 D Drucksache 18/6640...... 13349 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. André Hahn, (Peine) (SPD) ...... 13338 D Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer Ab- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ geordneter und der Fraktion DIE LINKE: DIE GRÜNEN)...... 13339 C Parlamentarische Kontrolle der nach- richtendienstlichen Tätigkeit des Bun- Jan van Aken (DIE LINKE)...... 13340 B des verbessern Drucksache 18/6645...... 13349 C Sigmar Gabriel (SPD)...... 13341 B Dr. André Hahn (DIE LINKE)...... 13349 C Jan van Aken (DIE LINKE)...... 13341 D (CDU/CSU)...... 13350 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Dr. André Hahn (DIE LINKE)...... 13352 D DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 30 GO)...... 13342 C Clemens Binninger (CDU/CSU)...... 13353 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Petra Ernstberger (SPD)...... 13343 B DIE GRÜNEN)...... 13353 C (SPD)...... 13354 D Tagesordnungspunkt 15: – Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 17: Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Bundesregierung: Fortsetzung – Beschlussempfehlung und Bericht des der Beteiligung bewaffneter deutscher Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Streitkräfte an der von den Vereinten der Bundesregierung: Fortsetzung der Be- Nationen geführten Friedensmission in teiligung bewaffneter deutscher Streit- Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der kräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation Resolution 1996 (2011) des Sicherheits- in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der rates der Vereinten Nationen vom 8. Juli Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra- 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2241 tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli (2015) vom 9. Oktober 2015 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2228 (2015) vom 29. Juni 2015 Drucksachen 18/6504, 18/6638. . . . . 13344 B Drucksachen 18/6503, 18/6639. . . . . 13358 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/6683...... 13344 B Drucksache 18/6684...... 13358 B (SPD) ...... 13344 C (SPD) ...... 13358 D Jan van Aken (DIE LINKE)...... 13345 C (DIE LINKE)...... 13360 A

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU). . . . . 13346 C Michael Vietz (CDU/CSU)...... 13361 A Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13347 B DIE GRÜNEN)...... 13361 D

Julia Obermeier (CDU/CSU)...... 13348 C Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU)...... 13362 C

Namentliche Abstimmung ...... 13349 B Namentliche Abstimmung ...... 13363 C

Ergebnis ...... 13355 D Ergebnis ...... 13366 C VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Tagesordnungspunkt 18: in Verbindung mit Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Zusatztagesordnungspunkt 3: Notz, Tabea Rößner, Renate Künast, weiterer Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- DIE GRÜNEN: Netzneutralität als Voraus- trag der Abgeordneten , Matthias setzung für eine gerechte und innovative di- W. Birkwald, Caren Lay, weiterer Abgeord- gitale Gesellschaft effektiv gesetzlich sichern neter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Drucksachen 18/5382, 18/6402 ...... 13363 D Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf Grundsicherung im Alter Matthias Ilgen (SPD) ...... 13364 A Drucksachen 18/3170, 18/5278 ...... 13373 D (DIE LINKE)...... 13365 A

Hansjörg Durz (CDU/CSU)...... 13368 D Tagesordnungspunkt 23: Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Zweite und dritte Beratung des von der Bun- DIE GRÜNEN)...... 13370 D desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seear- Lars Klingbeil (SPD) ...... 13371 D beitsgesetzes Drucksachen 18/6162, 18/6675 ...... 13374 B

Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Tagesordnungspunkt 24: regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Berufsqualifikations- Erste Beratung des von der Bundesregie- feststellungsgesetzes und anderer Gesetze rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Drucksachen 18/5326, 18/6632 ...... 13372 D zur Nachhaftung für Rückbau- und Ent- sorgungskosten im Kernenergiebereich (Rückbau- und Entsorgungskostennach- haftungsgesetz – Rückbau- und Entsor- Tagesordnungspunkt 20: gungskostennachhaftungsG) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Drucksachen 18/6615, 18/6671 ...... 13374 C ­Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anerkennung von Kriegsdienstverweige- rungen erleichtern Tagesordnungspunkt 25: Drucksache 18/6363...... 13373 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hochschulstatistikgesetzes Tagesordnungspunkt 21: Drucksache 18/6560...... 13374 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Tagesordnungspunkt 26: EU-Mobilitäts-Richtlinie Drucksachen 18/6283, 18/6673. . . . . 13373 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Ersten Gesetzes zur Änderung des Verkehrs­ § 96 der Geschäftsordnung infrastrukturfinanzierungsgesellschaftsge­ Drucksache 18/6685...... 13373 C setzes Drucksachen 18/6487, 18/6669 ...... 13374 D

Tagesordnungspunkt 22: Nächste Sitzung ...... Zweite und dritte Beratung des von der Bun- 13375 B desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Bu- ches Sozialgesetzbuch und weiterer Vor- Anlage 1 schriften Drucksachen 18/6284, 18/6674 ...... 13373 D Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . 13377 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 VII

Anlage 2 Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- EU-Mobilitäts-Richtlinie (Tagesordnungs- schen Bundestages, die an der Wahl eines Mit- punkt 21)...... 13392 B glieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung teilge- Dr . Martin Pätzold (CDU/CSU)...... 13392 C nommen haben...... 13378 A Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 13393 A

Ralf Kapschack (SPD) ...... 13393 C Anlage 3 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- Matthias W . Birkwald (DIE LINKE)...... 13394 C schen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds und der Wahl eines stellvertretenden Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Ab- DIE GRÜNEN)...... 13395 D satz 3 des Stabilisierungsmechanismusgeset- zes teilgenommen haben...... 13380 B Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Anlage 4 – des von der Bundesregierung eingebrach- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des von der Bundesregierung eingebrachten des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des und weiterer Vorschriften Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 19). . 13383 A – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag der Abgeordneten Roland (CDU/CSU)...... 13383 A Claus, Matthias W. Birkwald, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Frakti- (CDU/CSU)...... 13384 D on DIE LINKE: Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf Grundsicherung Dr . (SPD)...... 13385 D im Alter (Tagesordnungspunkt 22 und Zusatztagesord- Dr . (SPD)...... 13386 B nungspunkt 3)...... 13396 C Dr . (DIE LINKE)...... 13387 A (CDU/CSU)...... 13396 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13387 D (CDU/CSU)...... 13397 C Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD)...... 13398 B

Anlage 5 Dr . Wilhelm Priesmeier (SPD)...... 13399 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr . (DIE LINKE)...... 13399 D Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: (BÜNDNIS 90/ Anerkennung von Kriegsdienstverweigerun- DIE GRÜNEN)...... 13400 B gen erleichtern (Tagesordnungspunkt 20). . . 13388 D

Jörg Hellmuth (CDU/CSU)...... 13388 D Anlage 8 (CDU/CSU)...... 13389 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr . (SPD)...... 13389 D wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seearbeitsgesetzes (Tagesordnungspunkt 23) . . 13401 A Katrin Kunert (DIE LINKE)...... 13390 C (CDU/CSU) ...... 13401 A Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13391 C (SPD)...... 13402 A

Herbert Behrens (DIE LINKE)...... 13402 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr . Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ des von der Bundesregierung eingebrachten DIE GRÜNEN)...... 13403 B VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Anlage 9 (CDU/CSU)...... 13407 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (SPD) ...... 13408 B des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nachhaftung für (SPD)...... 13409 A Rückbau- und Entsorgungskosten im Kern- energiebereich (Rückbau- und Entsorgungs- (DIE LINKE)...... 13409 C kostennachhaftungsgesetz – Rückbau- und EntsorgungskostennachhaftungsG) (Tagesord- (BÜNDNIS 90/ nungspunkt 24)...... 13404 A DIE GRÜNEN)...... 13410 A

Thomas Bareiß (CDU/CSU)...... 13404 A Stefan Müller, Parl . Staatssekretär BMBF. . . . 13411 A

Hubertus Zdebel (DIE LINKE)...... 13405 A Anlage 11 Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13406 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Uwe Beckmeyer, Parl . Staatssekretär Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell- BMWi...... 13406 C schaftsgesetzes (Tagesordnungspunkt 26) . . 13411 D

Reinhold Sendker (CDU/CSU)...... 13412 A Anlage 10 Sebastian Hartmann (SPD)...... 13412 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten (DIE LINKE)...... 13413 B Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hochschulstatistikgesetzes (Tagesordnungs- Dr . Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ punkt 25)...... 13407 C DIE GRÜNEN) 13414 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13233

(A) (C)

136. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. : Die Universität der Bundeswehr trägt auch deshalb heute Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie alle bitten, von seinen Namen. den Plätzen erhoben zu bleiben. Aufbau und Ausrichtung der Bundeswehr waren auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun- nach der Entscheidung zur Wiederbewaffnung weiter destag, unser Land trauert um Helmut Schmidt, der am hochumstritten. Schmidt selbst profilierte sich in dieser vergangenen Dienstag in im Alter von 96 Jah- Zeit als entschiedener Gegner einer atomaren Bewaff- ren verstorben ist. Wer diese außergewöhnliche Persön- nung. Damals entstand das Bild, das die Öffentlichkeit lichkeit begreifen und würdigen will, muss die Perspek- lange vorrangig mit ihm verband und das erst in seiner tive weiten, auch zeitlich. Gestern haben viele unserer Amtszeit als Minister und Regierungschef und später als Nachbarn an das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 er- Elder Statesman in den Hintergrund trat: das des scharf- innert. Um zu erfassen, welche Jahrhundertgestalt mit züngigen Debattenredners. Er war nicht nur ein großer Helmut Schmidt von uns gegangen ist, reicht es fast aus, Redner, sondern vor allem ein leidenschaftlicher und an- (B) daran zu erinnern, dass er nur wenige Wochen später – steckender, gelegentlich provozierender Debattierer, wie (D) noch im gleichen Jahr: 1918 – geboren wurde. aus dem Lehrbuch des Parlamentarismus. Helmut Schmidt war ein Kind der Weimarer Republik. Pathos war seine Sache nicht; er suchte lieber die bis- Er erlebte seine Jugend unterm Hakenkreuz, und ihm selbst sige Pointe, die er meisterlich zu setzen wusste. Seine wurde der Zweite Weltkrieg zum Schicksal. Die Bedeu- Rededuelle mit Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß und tung dieser prägenden Erfahrungen in einem – wie er in der später , in denen er teils schneidende Atta- ihm eigenen, befreienden Deutlichkeit zu sagen pflegte – cken ritt, sind unvergessen. Zitat: „Scheißkrieg“ hat er immer wieder betont. Schmidt kämpf- Ich bilde mir ein, durch viele Reden – auch im Bun- te als Soldat in der Sowjetunion, später an der Westfront destag – eine ganze Menge moralischer und auch und geriet kurzzeitig in britische Kriegsgefangenschaft. geistiger Pflöcke eingeschlagen zu haben. Wir alle wollten damals nicht Altes einreißen – da So wusste er sich und sein Rednertalent richtig einzu- gab es gar nichts mehr einzureißen! –, schätzen. „Einige von denen haben auch Wirkung er- – erinnerte er sich an den Gestaltungswillen seiner Gene- zielt“, ergänzte er – und das bestätigen nicht nur die, die ration nach Kriegsende – ihn im Hohen Hause noch leibhaftig erlebt haben. sondern wir wollten etwas Neues aufbauen ... Verbindendes Element zwischen dem leidenschaftli- chen Streitredner und dem kühlen Analytiker in der Re- Bereits 1953 saß Helmut Schmidt erstmals im Deut- gierungsverantwortung war die Lust daran, argumentativ schen Bundestag, dem er über drei Jahrzehnte angehör- zu überzeugen – durch Rede und Widerrede. Schmidt te. Schon bald nach seiner ersten Wahl zählte er zu den war, so hat Sigmar Gabriel das anlässlich seines 95. Ge- profiliertesten Vertretern der jüngeren Generation im burtstages treffend ausgedrückt, eine Autorität, die sich Parlament. Die Militär- und Sicherheitspolitik wurde zu auf das Argument stützte. seinem eigentlichen Metier. Es ist deshalb nicht ohne In seiner Amtszeit als Bundeskanzler hatte ­Helmut Symbolik, dass heute genau vor 60 Jahren die Bundes- Schmidt große Herausforderungen zu bewältigen: wehr gegründet wurde; wir haben gestern Abend vor dem von der Wirtschaftsrezession der 1970er-Jahre bis zu Reichstagsgebäude daran erinnert. Deutschlands Rolle im Kalten Krieg. Klarsichtig und Helmut Schmidt war der Armee und den Soldaten in entschlossen hat er sie gemeistert. Früher als andere hat- besonderer Weise verbunden. Als Verteidigungsminis- te er die Bedrohung durch neue atomare Mittelstrecken- ter – der erste Sozialdemokrat in diesem Amt – reformier- waffen der Sowjetunion erkannt und voller Überzeugung te er 1969 im Kabinett von die Streitkräfte. für den NATO-Doppelbeschluss gestritten – wider den 13234 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Zeitgeist, der damals seinen Ausdruck in einer der größ- Die Protokolle des Deutschen Bundestages benötigen für (C) ten Demonstrationen im Deutschland der Nachkriegszeit die Aufzeichnung dieser Rede 16 Seiten. Nach zeitge- fand. Populär war diese Politik nicht – weder in der eige- nössischen Berichten soll er mit einem Manuskript von nen Partei noch in der Öffentlichkeit. 100 Seiten ans Podium gegangen sein. Unvergessen ist seine Standfestigkeit im sogenannten Hoher moralischer Ernst prägte das Selbstverständnis Deutschen Herbst. Schmidt sah sich damals vor unaus- dieses herausragenden Politikers. Es ist sein bleibendes weichliche Entscheidungen gestellt, die er nicht treffen Vermächtnis. Noch in diesem Jahr sagte er von sich in konnte, ohne Schuld auf sich zu laden, wie er das selber demonstrativer hanseatischer Bescheidenheit: später bekannt hat. Aber er hat sich nicht weggeduckt. Ich bin kein Vorbild. Das ist eine Rolle, die mir nicht Wer ihn auf zeitgenössischen Aufnahmen sieht, wer gefällt. ihn über diese Wochen und Monate reden hörte, spürt förmlich die Bürde seines Amtes, kann erahnen, welche Allerdings mochten ihm allenfalls militante Nichtrau- Spuren sie auch bei ihm, dem vermeintlich so kühlen cher in dieser Einschätzung folgen. Pragmatiker, hinterlassen hat. Dank seiner Entschlossen- (Heiterkeit) heit bestand unsere Republik ihre schwerste Belastungs- probe, ohne selbst die Freiheit zu gefährden, gegen die Die meisten Menschen faszinierte seine immense Le- der Terror gerichtet war. benserfahrung, sie bewunderten seinen scharfen Ver- stand, nicht zuletzt liebten sie seinen trockenen Humor. Helmut Schmidt erwarb sich damals hohes Vertrauen Für viele war er, der in Vorträgen als Autor und Mithe- und Ansehen – und das nicht allein in Deutschland, das rausgeber der Zeit bis zuletzt die politische Debatte und ihn als Inbegriff des nüchternen, disziplinierten Hansea- Kontroverse suchte, mit seiner Meinung ein unverzicht- ten verehrte. In der ganzen Welt genoss Helmut Schmidt barer Kompass. höchste Reputation als Staatsmann, der deutsche Politik berechenbar gemacht hat, weil sie auf Nüchternheit und Helmut Schmidt war Politiker, Publizist und Patriot. Rationalität, Toleranz und Weltoffenheit beruhte. Die Als Parlamentarier, als Bundesminister und vor allem als spontane Würdigung durch den französischen Minister- Bundeskanzler hat er sich auf herausragende Weise um präsidenten und die Abgeordneten in der französischen Deutschland verdient gemacht. Wir verneigen uns vor Nationalversammlung nach Bekanntwerden des Todes einem der bedeutendsten politischen und intellektuellen von Helmut Schmidt am vergangenen Dienstag sind ein Köpfe unseres Landes. eindrucksvoller Beleg dieser persönlichen Wertschät- Unsere Gedanken sind bei seiner Familie, seinen zung wie der besonderen Beziehungen zwischen unseren Freunden und Weggefährten. (B) beiden Ländern, und ich möchte die Gelegenheit gerne (D) nutzen, mich bei unseren französischen Kolleginnen und Vielen Dank. Kollegen dafür ausdrücklich zu bedanken. (Die Anwesenden nehmen Platz) Als sich Helmut Schmidt 1986 aus dem Bundestag verabschiedete, verband er das mit einem eindringlichen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie auf Appell an die Parlamentarier zur „Besinnung auf das die interfraktionelle Vereinbarung aufmerksam machen, Ethos eines politischen Pragmatismus in moralischer die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste auf- Absicht“. – Das kann man durchaus auch für eine pas- geführten Punkte zu erweitern: sende Orientierung für die aktuelle Flüchtlingskrise hal- ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen ten. – Das, was wir erreichen, was wir tun wollen, solle DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: moralisch begründet sein. Der Weg dahin müsse aber re- alistisch, er dürfe nicht illusionär sein. Und er fügte für Haltung der Bundesregierung zur Statusfrage ihn fast untypisch emphatisch hinzu: syrischer Flüchtlinge und zur Einschränkung des Familiennachzuges Es sollte keiner glauben, dass solch Ethos die po- litischen Ziele ihres Glanzes beraube oder den po- (siehe 135. Sitzung) litischen Alltag seines Feuers. Die Erreichung des ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- moralischen Ziels verlangt pragmatisches, vernunft- fahren gemäßes politisches Handeln, Schritt für Schritt. Und die Vernunft erlaubt uns zugleich doch auf die- (Ergänzung zu TOP 33) sem Weg ein unvergleichliches Pathos. Denn keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Leidenschaft zur praktischen Vernunft. Wagner, Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dass der Bundestag früher als andere die überragende NIS 90/DIE GRÜNEN Bedeutung dieses Parlamentariers erkannt hatte, kommt auch in der Souveränität zum Ausdruck, ihm für seine Radargeschädigte der Bundeswehr und der Abschiedsrede eine alle Proportionen, auch von Regie- ehemaligen NVA zügig entschädigen rungserklärungen, sprengende Redezeit von knapp zwei Drucksache 18/6649 Stunden zuzubilligen. Überweisungsvorschlag: (Heiterkeit) Verteidigungsausschuss Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13235

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Reichstag, zwei beeindruckenden Reden des Herrn Bun- (C) richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales destagspräsidenten und der Frau Verteidigungsministerin (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- sowie der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag fei- ten Roland Claus, Matthias W. Birkwald, Caren ern wir dieses Jubiläum. 60 Jahre Bundeswehr sind eine Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Erfolgsgeschichte für Deutschland. Die Bundeswehr ist LINKE der Garant für Sicherheit unseres Landes und Ausdruck von Stabilität und Souveränität. Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf Grundsicherung im Alter Dass die Bundeswehr 1955 gegründet worden ist, Drucksachen 18/3170, 18/5278 war keine Selbstverständlichkeit. Die Aufstellung einer neuen Armee, nur zehn Jahre nach Ende der Gewaltherr- Darüber hinaus mache ich noch auf eine nachträg- schaft des Nationalsozialismus: Wie viel Überzeugungs- liche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatz- arbeit war für diese neue wehrhafte Streitkraft wohl punkteliste aufmerksam: notwendig? Welch eine Weitsicht der damaligen Ent- scheidungsträger, wie es Konrad Adenauer war. Welch Der am 16. Oktober 2015 (131. Sitzung) überwiesene ein Vertrauensbeweis der alliierten Kräfte, die Bundes- nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- wehr als vollwertiges Mitglied der NATO aufzunehmen. schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Vertrauen und Verantwortung waren die zwei Pfeiler ei- schätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen ner neuen Sicherheitsstruktur. werden: Beratung des von der Bundesregierung einge- Das Vertrauen war gerechtfertigt. Die Verantwortung brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moderni- wurde angenommen. Mit der Ergänzung des Grundgeset- sierung des Vergaberechts (Vergaberechtsmo- zes um den Artikel 87 a hieß es ab sofort: „Der Bund stellt dernisierungsgesetz – VergRModG) Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Das war nur ein kur- zer Satz im Grundgesetz, aber mit einer großen Wirkung Drucksache 18/6281 für Deutschland. Mit der Festlegung auf eine allgemeine Überweisungsvorschlag: Wehrpflicht und der Konzeption der Inneren Führung Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) wurde ein Selbstverständnis geschaffen, wonach jeder Innenausschuss Soldat seinem Gewissen verpflichtet und für sein Han- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz deln selbst verantwortlich ist. Unter Berücksichtigung Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur der Erfahrungen des Widerstandes gegen ein Unrechts- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ regime und der daraus erwachsenden Verantwortung war (B) sicherheit der innere Geist der Bundeswehr gesetzt: das Leitbild des (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ Staatsbürgers in Uniform. Welch eine Bereicherung für abschätzung unser Land! Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ­Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO ordneten der SPD) Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein- Die Bundeswehr entwickelte sich zu einer Armee der verstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann Landesverteidigung. Mit einer Stärke von 495 000 Sol- ist das so beschlossen. daten sowie 1,2 Millionen Reservisten galt die Bundes- wehr im Rahmen der Bündnisverteidigung als ein unver- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 4: zichtbarer NATO-Partner. Sie sicherte uns allen somit Vereinbarte Debatte Frieden und Freiheit in der spannungsreichen Zeit des Kalten Krieges. 60 Jahre Bundeswehr Meine Damen und Herren, nach dem Ende des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ost-West-Konfliktes und dem Fall der Mauer übernahm diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Auch dazu die Bundeswehr eine wichtige Rolle im Einigungspro- gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann verfahren wir zess, als sie mit der Aufnahme von 90 000 Soldaten der so. ehemaligen Nationalen Volksarmee dem Einigungspro- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem zess wahrnehmbar ein Gesicht gab. Welch eine Leistung Kollegen für die CDU/CSU-Fraktion. aller Beteiligten, aus zwei verschiedenen Vergangenhei- ten eine gemeinsame Zukunft zu schaffen, eine Armee (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Einheit in einem vereinten Deutschland. Für diese ordneten der SPD) friedliche Revolution und für diese Integrationsleistung unserer Bundeswehr können wir alle nur dankbar sein. Henning Otte (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir ge- DIE GRÜNEN) denken heute des ehemaligen Bundeskanzlers und frü- heren Verteidigungsministers Helmut Schmidt – gerade Das wiedervereinigte Deutschland wurde in der am 60. Jahrestag der Bundeswehr, ein besonderes Ereig- Welt als machtvoller wahrgenommen und von Nach- nis. Mit dem gestrigen Großen Zapfenstreich vor dem barn durchaus auch mit Skepsis betrachtet. Hier galt es 13236 Deutscher Bundestag – 18. 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Henning Otte (A) einmal mehr, Vertrauen zu stiften. Deutschland hielt in schwierigste Aufgaben auch im Inland zu lösen. Vor al- (C) seiner Außen- und Sicherheitspolitik an den Werten des lem sind sie es, die bereit sind, unter Einsatz ihres Lebens Grundgesetzes fest, zeigte sich den Bündnispartnern eng in Krisen- und Kriegsgebieten fernab der Heimat für die verpflichtet und schuf somit das notwendige Vertrauen. Sicherheit unseres Landes einzustehen. Dafür sage ich ihnen als Abgeordneter des Deutschen Bundestages aus Nicht nur, dass man uns traute: Man traute uns auch fester Verbundenheit mit ihnen und ihren Familien mei- mehr zu und forderte uns mehr ab. Seit 1992 beteiligt nen herzlichen Dank. Stellvertretend geht dieser Dank an sich die Bundeswehr regelmäßig an Einsätzen zur Frie- den Generalinspekteur der Bundeswehr, Herrn General denssicherung und Konfliktbewältigung. Deutschland Volker Wieker. nimmt diese internationale Verantwortung durch die Wahrnehmung mandatierter Auslandseinsätze wahr: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mandatiert durch den Deutschen Bundestag, nie alleine, ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ sondern immer im Verbund mit Partnern, nie im Interesse DIE GRÜNEN) einer expansiven Machtpolitik, sondern für mehr Stabi- lität und Frieden in der Welt. Dabei geht es auch immer Sie dürfen für ihren Einsatz aber auch – ganz im Sinne um die Sicherheit unseres Landes. Deswegen hatte mein einer Parlamentsarmee – die volle Rückendeckung des zu früh verstorbener Wahlkreiskollege, der frühere Ver- Parlamentes erwarten. Das Parlament hat ihnen hierfür teidigungsminister Dr. Struck, recht, als er einst sagte: die notwendige Fürsorge und die notwendigen Mittel zur Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch Verfügung zu stellen. Viele gesetzliche Maßnahmen tra- verteidigt. gen zur Absicherung von Risiken bei. Vor allem denken wir heute an diejenigen, die im Dienst für unser Land ihr Militärisch allein wird kein Konflikt im 21. Jahrhun- Leben ließen oder an Leib und Seele verwundet wurden. dert – in einer globalisierten Welt, in der Finanz- und Warenströme eng miteinander verwoben sind – zu lösen Meine Damen und Herren, die Verbesserung der Bun- sein. Nur im vernetzten Ansatz von Diplomatie, wirt- deswehr ist ein dauerhafter Prozess. Die Bereitstellung schaftlicher Entwicklung und auch militärischer Absi- von modernem Material zu Lande, zu Wasser und zur See cherung, so wie es der damalige Verteidigungsminister muss weiter verbessert werden. Die finanziellen Mittel Dr. im Weißbuch 2006 entwickelt hat, müssen an den Aufträgen orientiert und dynamisch an die können wir heutzutage Konflikte eindämmen und befrie- jeweilige Sicherheitslage angepasst werden. den. Die Cyberabwehr muss weiter forciert werden. Si- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und cherheitspolitik 4.0 muss vorangebracht werden. Die Si- der SPD) cherheit unseres Landes hat einen Preis. Den müssen wir (B) (D) Und doch kommt das Unvorhergesehene immer un- zu zahlen bereit sein. vorhergesehener. Die sicherheitspolitische Entwicklung im Rahmen eines wachsenden internationalen Terroris- Ich danke daher Ihnen, Frau Bundesverteidigungsmi- mus, asymmetrischer Bedrohungslagen, einer hybri- nisterin, dass Sie mit dem Attraktivitätssteigerungsge- den Kriegsführung, zerfallender Staaten und weltweiter setz, der Prozessverbesserung, der konsequenten Moder- Armut und Umweltkatastrophen lässt heutzutage Kon- nisierung der Ausrüstung und nicht zuletzt der Erstellung fliktsituationen entstehen, die sich nicht mehr mit der Lo- eines neuen Weißbuches die notwendigen Entscheidun- gik der Abschreckung lösen lassen. Die Konfliktursachen gen engagiert getroffen haben, auch um immer wieder sind komplexer und Frontverläufe oft weniger klar, aber junge Menschen, Frauen wie Männer, für den Dienst in dafür dynamischer. der Bundeswehr zu begeistern. Denn genau diese Bür- gerinnen und Bürger unserer Gesellschaft brauchen wir Diese Erkenntnis erforderte eine komplette Neuaus- als mutige Fürsprecher für und tapfere Verteidiger von richtung der Bundeswehr unter der Leitung des damali- Frieden und Freiheit. gen Verteidigungsministers Dr. Thomas de Maizière. 60 Jahre Bundeswehr – eine Erfolgsgeschichte. Herz- (Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) lichen Glückwunsch, Deutschland! Unsere Bundeswehr sollte flexibel, verlegbar, kampffä- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hig und durchhaltefähig ihren Auftrag erfüllen können. Denn, meine Damen und Herren, es gibt keine Freiheit ohne Sicherheit, und für diese Sicherheit brauchen wir Präsident Dr. Norbert Lammert: unsere Bundeswehr. Wolfgang Gehrcke erhält nun das Wort für die Frakti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- on Die Linke. ordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Soldaten und zivile Mitarbeiter leisten einen unver- zichtbaren Dienst für unser Land. „Wir. Dienen. Deutsch- land.“: Diese Maxime ist ihr Bekenntnis. Ob Vogelgrip- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): pe, ICE-Unglück, Schnee- oder Hochwassereinsatz oder Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! wie jetzt der Einsatz der Bundeswehr zur Bewältigung Auch die Fraktion Die Linke gedenkt Helmut Schmidt. der Flüchtlingssituation: Es sind die Soldatinnen und Ich kenne ihn seit 1961 und habe ihn in Hamburg ken- Soldaten der Bundeswehr, denen wir jedes Mal zutrauen, nengelernt. Wir waren selten einer gemeinsamen Auffas- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13237

Wolfgang Gehrcke (A) sung. In seinen letzten Jahren waren wir allerdings zu- Ich will Ihnen begründen, mit welchen Fragen man (C) nehmend mehr einer Meinung, sich heutzutage im Zusammenhang mit der Bundeswehr auseinandersetzen muss. ( [CDU/CSU]: Na, na! – ­Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sind Als Erstes stellt sich für mich die Frage: Wollen wir Sie klüger geworden?) mit der NATO so weitermachen? Ich bin überzeugt: Ebenso überflüssig wie die Bundeswehr ist die deutsche gerade in der Russland-Politik. Ich finde, gerade wenn Mitgliedschaft in der NATO. man Helmut Schmidt gedenkt, sollte man die Art und Weise, sich kritisch auseinanderzusetzen, kultivieren. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Das konnte Schmidt, und das hat er immer durchgehal- [CDU/CSU]: Um Gottes wil- ten. Deswegen möchte ich Ihnen das Gegenprogramm in len!) meiner Rede zu 60 Jahren Bundeswehr vorstellen. Ich suche nach einem Weg, wie Deutschland aus der Von den 60 Jahren, die die Bundeswehr existiert, NATO herauskommt. Wie wir hineingekommen sind, habe ich 55 Jahre gegen sie gekämpft, zunächst in der wissen wir ja. Die Chance, die NATO aufzulösen und „Ohne mich“-Bewegung zusammen mit einer ganzen nicht mehr auf Militärbündnisse zu setzen, gab es, als der Reihe Sozialdemokraten, in der Bewegung „Kampf dem Warschauer Pakt aufgelöst wurde. Wir haben sie nicht er- Atomtod“, auf den Ostermärschen, mit Blockaden von griffen – ein großer Fehler! Militärstandorten, mit antimilitaristischer Arbeit unter (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wehrpflichtigen und Soldaten sowie Kriegsdienstver- [SPD]: Gott sei Dank weigerern sowie auch im Widerstand gegen die Kriege in nicht!) Vietnam, Jugoslawien, im Irak oder in Afghanistan. Ich finde es fast symptomatisch, dass genau zu der heutigen Meine zweite Überlegung ist: Jede Waffe findet ihren Debatte das Versprechen, dass die Bundeswehr aus Af­ Krieg. Diese Erfahrung haben wir doch gemacht. Arme- gha­nistan abgezogen wird, aufgekündigt wurde. Lug und en streben nach immer perfekteren Waffen. In Büchel Trug gehörten immer zur Politik der Rechtfertigung der lagern US-amerikanische Atombomben. Ministerin von Bundeswehr. der Leyen will die Drohnenrüstung. Doch ein Blick auf die Konflikte dieser Welt zeigt: Waffen bringen keine Bis heute sage ich laut und deutlich Nein zu Militaris- Sicherheit. Wir müssen raus aus der Spirale der Gewalt mus und Krieg. Für die Sicherheit des Landes brauchen und der Spirale der Waffen. Das ist eigentlich die große wir keine Bundeswehr. Ich bin davon überzeugt, dass der kulturelle Aufgabe, die wir haben. Zeitpunkt kommen wird, wo dieses Land keine Armee (Beifall bei der LINKEN) (B) mehr hat und keine Bundeswehr mehr braucht. Dieser (D) Zeitpunkt wird kommen, und er wird das Land positiv Ich bin drittens überzeugt davon: Wer sich eine Armee verändern. leistet, bekommt den militärisch-industriellen Komplex. Die modernen Waffenschmieden sind nicht mehr einzelne (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Fabriken, sie bilden vielmehr zusammen den militärisch-in- Von Franz Josef Strauß ist aus dem Bundestagswahl- dustriellen Komplex, der sich nicht nur die Forschung un- kampf 1949 terordnet, sondern der zunehmend auch seinen Einfluss in der Politik ausübt. Auch das müssen wir beenden. (Unruhe bei der CDU/CSU) Ich bin viertens überzeugt davon, dass Rüstung – ich zitiere Strauß; das müssen Sie doch ertragen kön- Unsummen kostet, an der Rüstung aber auch Unsum- nen – das geflügelte Wort überliefert: „Wer noch einmal men verdient werden. Auch das muss gestoppt werden. ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand ab- Wäre es nicht ein Zeichen dieses Bundestages, wenn fallen.“ Er hat später seine Aussage so interpretiert, dass wir in den Haushaltsberatungen den Wehretat gründlich „jedem Staatsmann, der zum Gewehr greift, um damit zusammenstreichen würden und das Geld, das wir dort seine politischen Ziele durchzusetzen“, die Hand ab- einsparen, für die Flüchtlinge einsetzten? Ja zur Hilfe für fallen soll. Strauß hat verstanden, dass das Gewehr des Flüchtlinge, aber Nein zur Rüstung – das wäre doch ein Staatsmannes die Armee ist. Ich mache Strauß nicht zum Signal, das von diesem Land ausgehen kann. Pazifisten. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Jäger 90 wie- DIE GRÜNEN]: Das geht auch gar nicht!) der!) – Das geht auch gar nicht; das weiß ich. Vor 60 Jahren hieß es von meiner Seite: Ohne mich! – Heute sagen immer mehr Menschen in unserem Land: ( [CDU/CSU]: Auf Strauß Ohne uns! – Die Bundeswehr erlebt wieder so viel Wider- brauchen Sie sich nicht zu berufen, Herr spruch, dass man sehr hoffnungsvoll sein kann, dass wir ­Gehrcke! Man sollte Strauß nicht aus dem Zu- ein Land ohne Armee erreichen werden. Das ist, worüber sammenhang zitieren!) wir heute debattieren sollten. Lassen Sie sich auf den Mei- Ich will Sie nur daran erinnern, dass es auch in Deutsch- nungsstreit ein. Immer nur Ja zu sagen, bringt doch nichts. land einmal einen anderen Zeitgeist gegeben hat. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 13238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: verfassungsgericht im Jahre 1994 diesen Parlamentsvor- (C) Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Rainer behalt im Grunde genommen zementiert hat. Dies heißt ­Arnold das Wort. auch: Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist im Alltag der Soldaten auch für sie selbst identitätsstiftend. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten merken wir bei jedem Besuch und bei jedem Gespräch der CDU/CSU) mit unseren Soldaten. Das heißt auch für uns: Unsere parlamentarische Ver- (SPD): antwortung endet eben nicht am Kasernentor. Wir haben Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! auch einen wichtigen Sensor, nämlich den Wehrbeauf- Eine wichtige staatliche Institution hat gestern und heu- tragten. Es waren übrigens Sozialdemokraten, die dessen te ihren 60. Geburtstag gefeiert. Die Bilder vom gestri- Einsetzung damals erzwungen haben. Das ist ein unver- gen Abend hatten und haben eine hohe Symbolkraft: der zichtbares Instrument für uns. Große Zapfenstreich vor dem deutschen Parlament. Ich denke, auch Demokratien brauchen Zeichen und Symbo- (Beifall bei der SPD) le. Ich kann das so gelassen sagen, weil wir wissen: So- 60 Jahre Bundeswehr sind aber auch 60 Jahre Refor- wohl die Bundeswehr als auch die deutsche Gesellschaft men, innerer Wandel, auch kultureller Wandel bei den bergen nirgendwo das Risiko in sich, dass wir zu einer Streitkräften. Ich sage ganz offen: Mein eigenes Bild von Überhöhung und zu einer Heroisierung der Streitkräfte den Streitkräften hat sich – ich bin ein Kind der 68er-Ge- kommen. neration – auch gewandelt. Vielleicht war ich damals Zu diesen Symbolen gehören auch dieses Gedenken nicht immer ganz gerecht, aber richtig ist schon: Auch und das Erinnern. Wir denken in dieser Stunde auch an über die Bundeswehr hatte sich viele Jahre lang gewis- die Soldaten, die im Einsatz ihr Leben verloren haben, sermaßen der Mehltau der Adenauer-Ära gelegt. Es war und deren Familien, deren Leid und Schicksal. Es ist gut, notwendig, dass eine neue Generation von Soldaten, eine dass es Erinnerungsstätten gibt, in Potsdam und beim Nachkriegsgeneration, die Prinzipien der Streitkräfte Bendlerblock. Ich wünsche mir allerdings auch, Herr nicht nur theoretisch verinnerlicht hat, sondern im Alltag Präsident, dass es gelingt, dass auch hier, wo die Ent- die Begriffe „Staatsbürger in Uniform“ und „Prinzipi- scheidungen getroffen werden, eine Stätte der Erinne- en der Inneren Führung“ durch eigenes Vorleben in die rung eingerichtet wird. Truppe gebracht hat. Dies sind wichtige Veränderungen, und wir sind heute sehr froh darüber. Der Beginn der Bundeswehr war ein schwieriger, insbesondere für Sozialdemokraten. Es waren kontro- Es gab Zeiten, in denen erfolgten unglaublich viele Eingaben an den Wehrbeauftragten wegen Verstößen ge- (B) verse, turbulente Debatten über die Wiederbewaffnung. (D) Das hatte auch etwas damit zu tun, dass viele der ers- gen die Menschenwürde. Die Älteren unter uns erinnern ten Offiziere und Unteroffiziere eben aus der Wehrmacht sich noch an das Stichwort „Die Schleifer von Nagold“. rekrutiert wurden und die NS-Zeit, Angriffskriege, eine Seither begleitet die Öffentlichkeit – wir und die Medi- furchtbare Niederlage und der Neubeginn natürlich diese en – die Bundeswehr in solchen Situationen durchaus kri- Debatten mit geprägt haben. tisch. Dies ist notwendig, und dies hat auch dazu geführt, dass dies heute kein Thema mehr ist. Wir können heute Deshalb wurde die Bundeswehr vom ersten Tag an als im Grunde genommen sagen: Die Bundeswehr ist in der Parlamentsarmee konzipiert. Die Erfahrung der Kriege Gesellschaft als demokratische Institution angekommen, war: Es gilt das Primat der Politik, Regierung und Deut- bei der Soldaten nicht nur Befehl und Gehorsam kennen, scher Bundestag, und nicht der Generalstab trifft politi- sondern bei der eigenes Mitdenken und eigenes Infrage- sche Entscheidungen. Dazu gibt es ein nettes Zitat des stellen gefördert werden. Abgeordneten Bausch, der im Verteidigungsausschuss 1954 sagte: Es gab – heute wurde über ihn gesprochen – einen Verteidigungsminister in der Riege der fünf sozialde- Wir sind uns einig, dass die Kontrolle des Parla- mokratischen Verteidigungsminister, der die Bundes- ments und der Regierung über das Militär einwand- wehr entscheidend auf diesem Weg in die tiefe gesell- frei sichergestellt werden soll. Frage ist: Wie krie- schaftliche Verankerung mitgeprägt hat. Das war Helmut gen wir das hin? Schmidt. Er hat mit einer Reform an Haupt und Gliedern Sehr verehrte Zuhörer, ich denke, nach 60 Jahren kön- begonnen. Vieles ist lange geblieben, zum Beispiel die nen wir heute mit Fug und Recht sagen: Wir haben das Einbindung des Generalinspekteurs mit dem Blankene- auf vorbildliche Art und Weise hingekriegt, auch inner- ser Erlass oder der Umgang mit der Wirtschaft. Bis heu- halb des Bündnisses der NATO. te ist das Projekt Beschaffungswesen noch nicht ganz fertig. Helmut Schmidt hatte es damals schon zu Recht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als Riesenaufgabe erkannt. Er hat von Theo Sommer ein der CDU/CSU) Weißbuch schreiben lassen, das insofern neuartig war, als es eine kritische Bestandsaufnahme der Bundeswehr und Es gab immer wieder Menschen, die geglaubt haben, der deutschen Sicherheitspolitik beinhaltete. eine Parlamentsarmee passe nur zu Friedenszeiten und zu einer Übungsarmee. Nein, gerade bei der Armee im Manches Erbe von Helmut Schmidt wird auf Dau- Einsatz hat sich in den letzten Jahren besonders gezeigt, er bleiben, insbesondere die Bildungsreform bei den wie wertvoll diese parlamentarischen Entscheidungen Streitkräften. In den 70er-Jahren hatten wir ein größeres und Debatten sind. Wir sind sehr froh, dass das Bundes- Pro­blem bei der Personalgewinnung als heute. Das ver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. 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Rainer Arnold (A) gessen wir manchmal. Auf eine offene Stelle kamen nur daten und Zivilbeschäftigte vorzeitig in den Ruhestand (C) zwei Bewerber. Die Gründung der Bundeswehruniversi- geschickt hat. Deshalb würden wir es sehr begrüßen, täten war eine Antwort darauf. Dies hat den Soldatenbe- wenn man das damit verbundene Potenzial zur Bewälti- ruf attraktiv gemacht und hat dazu geführt, dass Offiziere gung dieser Aufgabe jetzt reaktiviert. selbst anders lernen, anders denken, anders gestalten, als es zuvor der Fall war. Es ist ein Erfolgsmodell; denn wir Die Zukunft der Bundeswehr ist ein Thema, bei dem können heute sagen: Viele Absolventen der Bundeswehr­ wir merken: Der Wandel hört nicht auf. Wir reden heute universitäten sind heute in Führungspositionen in der über den in der NATO seit langem vorhandenen Gedan- deutschen Gesellschaft, statistisch übrigens mehr als Ab- ken: Wir müssen so stark bleiben, damit wir unsere Stärke solventen der regulären Hochschulen. nie brauchen. Hier muss die Bundeswehr ihre Fähigkei- ten auch durch wirklich vorhandenes Gerät und Personal Für mich persönlich – und vielleicht auch für Sie – in den nächsten Jahren unterlegen. Es reicht nicht, wenn gibt es einen ganz besonderen Nachlass, den Helmut wir diese Fähigkeiten nur auf dem Papier haben. Schmidt hinterlassen hat. Carlo Schmid hat einmal im Verteidigungsausschuss gesagt: Ich bin dagegen, dass Die neuartigen Konflikte, insbesondere hybride Krie- wir Leute zum Musikmachen einziehen und womöglich ge, verlangen eben nicht nur militärische Antworten; die Beförderung davon abhängig machen, ob einer Wald- vielmehr brauchen wir eine breite Debatte darüber, was horn spielen kann. – Heute lächeln wir zu Recht darüber. es heißt, mit hybriden Konflikten umzugehen. Im Mittel- Was hat Helmut Schmidt getan? Er hat die „Big Band der punkt wird die Feststellung stehen: Die beste Sicherheit Bundeswehr“ gegründet. Sie stiftet auch Identität. Sie ist vor hybriden Kriegen sind Gesellschaften, die im Inneren ein Werbeträger. Dies war eine tolle und kulturell wich- stabil und sozial gerecht sind. Deshalb gehören Außen- tige Entscheidung. und Sicherheitspolitik, wirtschaftliche Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe unmittelbar zusammen. Dies müssen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir stärker in den Fokus rücken. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese Facette gehört zu einer Bundeswehr, die insgesamt der CDU/CSU) ein anderes Gesicht hat. Heute hat die Bundeswehr das Gesicht einer modernen Armee, wo Einsatzfähigkeit und Lassen Sie mich noch sagen und den Soldatinnen und Leistung in den Krisengebieten kein Gegensatz zur De- Soldaten auch raten: Ihr habt Grund zum Selbstbewusst- batte um Kitas und Dienstzeitregelungen sind. sein. Der Soldatenberuf hat in der deutschen Gesellschaft zusammen mit dem Polizistenberuf das höchste Ansehen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) was die Erfüllung der Aufgaben eines Verfassungsorgans (B) angeht. Wir sagen voll Respekt vor all denjenigen, die in (D) Das ist auch genau richtig so. den letzten 60 Jahren die Bundeswehr mit geprägt und Wir haben auch gesehen, dass der Soldatenberuf in ei- weiterentwickelt haben ein Dankeschön für dieses En- ner Welt, die schwieriger und komplexer geworden ist, gagement, insbesondere den Soldaten, die zusammen mit anspruchsvoller geworden ist. Deshalb wissen wir bis ihren Familien durch Einsätze auch persönliche Entbeh- zum heutigen Tag, so ärgerlich es ist, wenn Hubschrau- rungen auf sich genommen haben und dies gerne taten ber nicht fliegen und viele Flugzeuge zu spät geliefert und nicht darüber lamentierten. werden: Die Bundeswehr der Zukunft hängt in erster Li- (Beifall der Abg. [CDU/CSU]) nie davon ab, ob es uns auch in Zukunft gelingt, die klu- gen jungen Menschen zu gewinnen, die die Komplexität Ich habe abschließend noch einen Wunsch: Mein des Soldatenberufes beherrschen und der damit verbun- Wunsch ist, dass dies heute die letzte Feier zu einem denen Herausforderung nicht nur intellektuell, sondern runden Geburtstag der Bundeswehr ist. Mein Wunsch auch physisch und psychisch gewachsen sind. ist, dass 75 Jahre Bundeswehr anders gefeiert werden, nämlich in der Form, dass wir darüber reden, dass die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der deutschen Streitkräfte ein – wichtiger – Teil einer euro- CDU/CSU) päischen Verteidigungsunion sind. Zum 100-jährigen Ju- Die Menschen in Deutschland erleben ja im Augen- biläum – ich werde es nicht mehr erleben – wünsche ich blick jeden Tag, was dies bedeutet. Die Arbeit der Sol- mir, dass überhaupt nicht mehr die Bundeswehr gefeiert datinnen und Soldaten im Bereich der Amtshilfe bei der wird, sondern dass die Vision einer europäischen Streit- Bewältigung der Aufgaben, die die vielen flüchtenden kraft endlich wahr geworden ist. Man sieht also: Politik Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, mit sich bringen, und Soldaten haben auch in den nächsten 40 Jahren noch ist beeindruckend. 435 genehmigte Einsätze in Form von viele Aufgaben zu bewältigen. Wir möchten als Parla- Unterstützungsleistungen, das ist wirklich herausragend. ment gerne dabei mithelfen. Wir sagen allerdings auch: Dies geht zwar eine be- Herzlichen Dank. stimmte Zeit; aber es gilt zu bedenken: Es sind Soldatin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen und Soldaten und Zivilbeschäftigte, die ihren eigent- der CDU/CSU) lichen Dienstauftrag nicht mehr erfüllen können. Eine Flut geht irgendwann einmal zurück; so etwas ist über- schaubar. Die Bewältigung der Flüchtlingsmenge wird Präsident Dr. Norbert Lammert: uns noch längere Zeit beschäftigen. Die Bundeswehr ist Die Kollegin Agnieszka Brugger hat nun das Wort für die Institution, die in den letzten Jahren am meisten Sol- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 13240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Kern gescheitert. Man hat gelernt, dass ein Einsatz, (C) NEN): vielleicht mit der besten Absicht begonnen, am Ende des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wofür Tages zu mehr Gewalt und zu mehr Chaos führen kann. braucht Deutschland bewaffnete Streitkräfte? Diese Fra- Die Konflikte dieser Welt lassen sich nicht militärisch ge wurde nicht nur bei der Gründung der Bundeswehr lösen, aber das Militärische kann unter bestimmten, eng kontrovers, ernsthaft und emotional diskutiert, sondern begrenzten Bedingungen einen wichtigen Beitrag zur sie muss auch heute immer wieder neu gestellt und neu kurzzeitigen Stabilisierung oder zum Schutz der Zivilbe- beantwortet werden. völkerung leisten. Als die Bundeswehr vor 60 Jahren gegründet wurde, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) herrschte Kalter Krieg: Es standen sich zwei Blöcke, bis an die Zähne bewaffnet, feindlich gesinnt gegenüber. Deshalb ist es so wichtig und auch entscheidend, dass Diese düsteren Zeiten sind heute zum Glück vorbei, und wir mehr für zivile, diplomatische und entwicklungspoli- Deutschland ist direkt, unmittelbar nur von Freunden tische Antworten tun, um die Ursachen, die den Konflik- umgeben, und das ist gut. ten und Krisen zugrunde liegen, zu bekämpfen. Heute sind es nicht so sehr zwei Machtblöcke, die sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gegenüberstehen. Wir sehen häufig auf der Welt nicht Meine Damen und Herren, wer dies – und das ist in den nur zwei Staaten, die auf klassische Art und Weise Krieg letzten Jahren leider immer wieder geschehen – vernach- gegeneinander führen; vielmehr werden vor allem Bür- lässigt, der schickt die Soldatinnen und Soldaten in ge- gerkriege geführt, in denen verschiedene Gruppen, auch fährliche Einsätze mit wenig Aussicht auf Erfolg. Das unter Anwendung von großer Gewalt, von Menschen- muss uns eine Lehre sein und sollte in Zukunft nie wieder rechtsverletzungen, um Macht und Einfluss kämpfen. passieren. Wir sehen zerfallende Staaten, hybride Kriegsführung, Terrorismus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Konflikte auf den anderen Kontinenten dieser Wir Grüne sind der Auffassung, dass sich die Bundes- Welt sind uns heute aus vielen Gründen viel näher als wehr viel stärker im Rahmen dieser breit aufgestellten noch vor 60 Jahren. Diese Veränderungen auf der Welt zivil-militärischen Friedensmissionen der Vereinten Na- und diese veränderten Fragen von Frieden und Sicherheit tionen – nicht nur mit einem kleinen symbolischen Bei- spiegeln sich auch in den Aufgaben und Strukturen der trag – beteiligen sollte. Diese Missionen erreichen durch- Bundeswehr wider. aus sehr oft ihre Ziele. Sie tragen dazu bei, dass Gewalt (B) Aus einer fast 500 000 Mann starken Wehrpflichtar- eingedämmt wird und die Zivilbevölkerung geschützt (D) mee ist eine Freiwilligenarmee im Einsatz geworden. In werden kann. den letzten Jahren gab es die Einsätze auf dem Balkan Es ist klar: Die Frage nach den zukünftigen Aufgaben und den Krieg in Afghanistan. Und aktuell gibt es die der Bundeswehr beinhaltet auch die Frage der Landes- Schlepperjagd im Mittelmeer. Es wird gefordert, dass und Bündnisverteidigung, gerade in einem Europa, wo sich die Bundeswehr im Cyberraum engagiert oder dass natürlich die Ängste der osteuropäischen Partner spürbar sie jetzt – das ist, wie ich finde, eine sehr abstruse Forde- werden. Natürlich stehen wir auch an ihrer Seite, bei- rung von der Union – bei der Grenzsicherung in Deutsch- spielsweise wenn die Luftraumüberwachung im Balti- land eine Aufgabe übernimmt. kum von der Bundeswehr übernommen wird. Es ist aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) doch sicherheits- und finanzpolitisch irrsinnig und eine absolute Kurzschlussreaktion, liebe Kolleginnen und Ebenso aber – auch das haben Sie hier unerwähnt ge- Kollegen von der SPD und der Union, wenn Sie jetzt lassen, Herr Kollege Gehrcke, als Sie von Militarismus hier auf einmal wegen der Ukraine–Krise mehr Panzer und Krieg gesprochen haben – ist die Bundeswehr heute fordern. in den Friedensmissionen der Vereinten Nationen enga- giert, um die Zivilbevölkerung zu schützen, Waffenstill- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stände abzusichern, Streitkräfte auszubilden, wenn Men- Auch ist es verheerend, sich vor der Frage nach den schen keinen Schutz haben, Seenotrettung im Mittelmeer zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr zu drücken. Klar, zu betreiben oder – ich finde sehr beeindruckend, was da es geht nicht um ein simples Entweder-oder; aber es geht derzeit geleistet wird – bei der Unterbringung und Ver- schon um den Schwerpunkt des deutschen sicherheitspo- sorgung der Flüchtlinge hier im Land mitzuhelfen. litischen Engagements. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ein Beleg dafür, dass etwas auch scheitern kann, wenn der SPD) man sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzt, ist die Bundeswehrreform. Das bedeutet in der Konsequenz, Meine Damen und Herren, die Frage nach dem Wofür dass es zum Beispiel auf der einen Seite zu wenig benö- muss auch immer die Frage nach den Lehren aus der Ver- tigtes Gerät gibt, während auf der anderen Seite für meh- gangenheit beinhalten. Und dann muss man sehen: Der rere Milliarden Euro Waffensysteme beschafft werden, Krieg in Afghanistan, aber auch die großen Militäreinsät- die sicherheitspolitisch nicht wirklich notwendig sind ze im Irak und in Libyen, an denen die Bundeswehr nicht und auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eingesetzt beteiligt war, konnten ihre Ziele nicht erreichen. Sie sind werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13241

Agnieszka Brugger (A) Wer die Frage beantworten will, ob die Bundeswehr ders möchte ich an dieser Stelle aber eines erwähnen: (C) nigelnagelneu entwickelte Leopard-Panzer oder ein mil- Dass in den letzten Jahren bei der Betreuung, Anerken- liardenschweres Raketenabwehrsystem MEADS braucht nung und Behandlung von an Körper und Seele Verwun- oder ob es nicht doch vielmehr funktionsfähige Hub- deten so viel getan wurde, das war etwas, was wir alle schrauber, geschützte Fahrzeuge auf höchstem Niveau zusammen auf den Weg gebracht haben. und Aufklärungsmittel sein sollen, der muss eben die Frage nach dem sicherheitspolitischen Fundament und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach den Kernaufgaben bzw. den zentralen Aufgaben der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Bundeswehr beantworten. CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Sinne dieses Konsenses möchte ich meinen Dank, meine Anerkennung und meinen Respekt für diejenigen Frau von der Leyen, Sie haben diese Debatte mit dem Menschen zum Ausdruck bringen, die im Auftrag des Weißbuchprozess angestoßen und wollten das Versäum- Parlaments für Frieden und Sicherheit ihren Dienst tun. nis der Bundeswehrreform an dieser Stelle sozusagen wieder rückgängig machen. Gleichzeitig aber treffen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtige Beschaffungs- und Strukturentscheidungen, mit und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der denen Sie den von Ihnen selbst angestoßenen wichtigen CDU/CSU) Prozess konterkarieren. Das verschärft am Ende des Ta- ges die Probleme bei der Bundeswehr – und löst sie nicht. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort erhält nun der Kollege für die Meine Damen und Herren, die Frage nach dem Wofür CDU/CSU-Fraktion. ist immer auch eine zutiefst ethische Frage, die sich sel- (Beifall bei der CDU/CSU) ten nur mit Ja oder Nein beantworten lässt; das ist auch nicht immer schwarz-weiß. Sowohl das Handeln als auch das Nichthandeln bergen immer eine Verantwortung. Ich Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU): finde, es ist immer wieder spürbar, wenn wir im Parla- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ment über die Auslandseinsätze der Bundeswehr disku- Helmut Schmidt war ein großer Politiker und Staats- tieren, dass es für viele Kolleginnen und Kollegen hier mann. Wir verneigen uns vor ihm. eine Gewissensentscheidung ist, dass man sich dessen bewusst ist, dass das Dagegenstimmen und Nichteingrei- Heute vor 60 Jahren, am 12. November 1955, wurde die Bundeswehr gegründet. Die Gründer wählten einen (B) fen genauso schwierig sein kann und genauso verheeren- (D) de Folgen haben kann wie der Militäreinsatz, den man Tag mit hoher Symbolwirkung im Hinblick auf die Mili- auf den Weg bringt. tärgeschichte: den 200. Geburtstag des preußischen Hee- resreformers General Gerhard von Scharnhorst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. [SPD]) Damals war die Bundeswehr alles andere als unum- stritten. Das ist durchaus verständlich. Nur etwa zehn Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist ein hohes Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wollten viele Gut und ein großer Wert, weil das für diese umstrittenen damals ein neutrales Deutschland, ohne eine eigene Ar- Fragen eine breite demokratische Legitimation ermög- mee. Aber schon Wilhelm von Humboldt wusste: Ohne licht. Wir werden deshalb immer allen Versuchen entge- Sicherheit gibt es keine Freiheit. gentreten, die Parlamentsbeteiligung auszuhöhlen. Konrad Adenauer war sich dieser Tatsache bewusst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und setzte sich mit seiner Vision der Westbindung Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende meiner schließlich durch. Diese Entscheidung wurde zu einem Rede würde ich gern sagen, warum ich seit Jahren sehr Glücksfall der Geschichte. Es war der Weg zu Freiheit, gern im Verteidigungsausschuss sitze. Wir haben sehr un- Solidarität und Demokratie. terschiedliche Meinungen; das haben Sie in dieser Debat- (Beifall bei der CDU/CSU) te gesehen. Von der Linkspartei bis zur CSU – wir können uns herrlich streiten. Aber in einem sind wir uns einig, Andere Staaten, vor allem in Europa, begegneten der und das hat mich immer sehr beeindruckt. Uns ist klar, Idee neuer deutscher Streitkräfte zunächst mit Misstrau- unabhängig davon, wie wir selber zu einem Auslandsein- en. Trotz aller Vorbehalte: Es gelang. Die Bundeswehr satz stehen: Wir haben gemeinsam eine Verantwortung erwarb nach und nach das Vertrauen der Partner. Heute für die Menschen, die das Parlament, der Bundestag, mit ist sie in der ganzen Welt hochgeachtet und ein Beispiel seiner Mehrheit in gefährliche Auslandseinsätze schickt. für viele junge Demokratien. In diesem Konsens haben wir in den letzten Jahren Die Grundsätze der Inneren Führung und das Prinzip immer wieder gemeinsam gehandelt, auch gegen Wider- des Staatsbürgers in Uniform wurden zu echten Marken- stände aus der Regierung. Ich erinnere an die Fragen der zeichen unserer Streitkräfte, um die uns unsere Partner Betreuungskommunikation oder auch an die Frage: Wie beneiden. gehen wir mit den Ortskräften aus Afghanistan um? Ge- währen wir ihnen großzügig Schutz, oder folgen wir dem Auch im Innern zählt die Bundeswehr heute zu den restriktiven Kurs des Innenministeriums? – Ganz beson- angesehensten Institutionen – und das zu Recht. Das 13242 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Karl A. Lamers (A) haben sich unsere Soldatinnen und Soldaten im wahrsten Bundeswehr einen wichtigen und bedeutsamen Beitrag. (C) Sinne des Wortes erdient. Dafür danke ich ihr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ordneten der SPD) Gleichzeitig beschäftigen wir uns mit den Herausfor- 60 Jahre Bundeswehr, das sind 60 Jahre erfolgreiche derungen eines sogenannten hybriden Krieges. Die Bun- Sicherung des Friedens in Freiheit. Unsere Väter und deswehr ist darüber hinaus im Bündnis auf neuen Feldern Großväter hätten sich das sicher nicht vorstellen können. der Sicherheitspolitik aktiv. Ich nenne hier den Bereich 60 Jahre Bundeswehr heißt auch 60 Jahre Integration in Cybersecurity. Das Internet verbindet zwar, schafft aber die westliche Verteidigungsallianz, in die NATO. Der auch Gefahren. ehemalige NATO-Generalsekretär und Bundesverteidi- Die Bundeswehr hat viele Facetten. Ich denke an die gungsminister Manfred Wörner sagte einst: Hilfeleistung bei Unglücken, Naturereignissen, Wald- Die Stärke der NATO lag und liegt nach wie vor in bränden, Flutkatastrophen und – gerade jetzt, in diesen ihrer Wirksamkeit als einer Schicksalsgemeinschaft Wochen und Monaten – an den Beitrag der Bundes- der Werte und Interessen. wehr bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation. Ich danke Ihnen, Frau Bundesministerin der Verteidigung, Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Das Frau Dr. von der Leyen, dass die Bundeswehr ein breites Bündnis stand immer für Werte wie Demokratie, Recht Spektrum an Unterstützungsmaßnahmen in diesem Be- und Freiheit. Unser Land und die Bundeswehr sind stolz reich zur Verfügung stellt. Das hilft den Menschen bei darauf, Teil dieser Wertegemeinschaft zu sein. der Bewältigung dieser großen Herausforderungen. Ich danke Ihnen. Jahrzehnte lag Deutschland an der Nahtstelle des Ost- West-Konflikts. Von 1955 bis 1990 hat die Bundeswehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- im sogenannten Kalten Krieg an der Seite ihrer Partner ordneten der SPD) einen heißen Krieg in Europa verhindert. Zugleich hat Meine Damen und Herren, viele Menschen haben bis sie zu dem Erfolg beigetragen, den Frieden in Europa zu vor nicht allzu langer Zeit – Herr Gehrcke, Sie gehören sichern – trotz der Konfrontation der Militärblöcke, trotz offensichtlich dazu – tatsächlich geglaubt, die Bundes- der nuklearen Bedrohung. Die transatlantische Bindung wehr weiter abrüsten oder abschaffen zu können. Deutschlands, unsere Verankerung in der NATO, hat in unseren Partnerstaaten Vertrauen gebildet – in unser (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wollen Land, in unsere Demokratie, vor allem auch in unsere wir immer noch!) (B) Verlässlichkeit –, letztlich sicherlich auch eine wichtige (D) Voraussetzung für ihre Zustimmung zur deutschen Ein- Das können wir nicht. Die Bundeswehr ist heute wich- heit. tiger denn je. Wenn Sie davon träumen, dass Deutsch- land aus der NATO aussteigen könnte, dann sage ich Zu den größten Leistungen der Bundeswehr – Herr Ihnen – ich spreche hier sicherlich nicht nur für die Otte hat darauf angespielt – zählt ihre Rolle bei der Ver- meisten Mitglieder dieses Hauses, sondern auch für über einigung unseres Landes nach 1990. Der Aufbau der 300 Parlamentarier der Parlamentarischen Versammlung gesamtdeutschen Streitkräfte wurde zu einer wahren Er- der NATO –: Wir brauchen heute – gerade heute – die folgsgeschichte: Die Bundeswehr, eine Armee der Ein- NATO. Sie ist der Garant für Sicherheit und Freiheit in heit. Auch in Europa spielt die Bundeswehr eine wichtige bedrohlicher Zeit, meine Damen und Herren. Rolle. Sie beteiligt sich an EU-geführten Missionen auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- unserem Kontinent und in Afrika. Darüber hinaus sind ordneten der SPD) unsere Soldatinnen und Soldaten auch bei internationa- len Friedensmissionen der Vereinten Nationen aktiv. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putins Russland hat die euroatlantische Sicherheitsarchi- Von der Präsenzarmee zu Zeiten des Kalten Krieges tektur von einem auf den anderen Tag fundamental ge- hat sich die Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz ge- ändert. Eine längst überwunden geglaubte Konfrontation wandelt. Vor 1990 waren Out-of-Area-Einsätze aufgrund mitten in Europa gefährdet unsere Zukunft und unseren der politischen Gesamtlage undenkbar. Heute leistet die Frieden. Entschlossenheit und glaubwürdige Bündnis- Bundeswehr ganz selbstverständlich in internationalen verteidigung sind jetzt wieder das Gebot der Stunde. Missionen einen aktiven Beitrag zu Sicherheit und Frie- Jahrzehntelang konnten wir uns auf unsere Bündnispart- den. Dazu hat sie bemerkenswerte Fähigkeiten entwi- ner verlassen. Jetzt ist unsere Solidarität gegenüber den ckelt, die in unterschiedlichsten Einsätzen gefordert sind. Mitgliedern gefordert, die sich heute bedroht fühlen. Denken Sie an unseren Einsatz in Afghanistan, zunächst im Rahmen von ISAF, jetzt im Rahmen der Mission Re- Mit den auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 verein- solute Support, die wir verlängern werden. Denken Sie barten Maßnahmen zur Rückversicherung stärken wir an unseren Beitrag zur Friedenssicherung im Kosovo, die Kernfunktion des Bündnisses, die kollektive Verteidi- an die Bekämpfung von Schleusern im Mittelmeer und gung unseres Bündnisgebietes. Mit einer Schnellen Ein- die Sicherung der Meeresroute am Horn von Afrika. Ich greiftruppe werden die Einsatzbereitschaft und Flexibili- denke an unseren Einsatz in Mali und an die Ausbildung tät des Bündnisses deutlich erhöht. Deutschland, meine kurdischer und irakischer Kräfte für den Kampf gegen Damen und Herren, leistet bei alldem substanzielle Un- die Terrormiliz „Islamischer Staat“. Überall leistet die terstützung und übernimmt als Rahmennation eine füh- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13243

Dr. Karl A. Lamers (A) rende Rolle. Das stärkt das Bündnis und festigt zugleich desregierungen seitdem die Bundeswehr in internationa- (C) unser Ansehen in der Allianz. le Kriegs- und Kriseneinsätze hineingetrieben. Die Linke hält das für grundfalsch. Meine Damen und Herren, General von Scharnhorst formulierte vor mehr als 200 Jahren den Anspruch: (Beifall bei der LINKEN) Tradition in der Armee hat es zu sein, an der Spitze Wenn heute Stimmen laut werden, man solle den Einsatz des Fortschritts zu marschieren. in Afghanistan ausweiten, das Mandat erweitern und es näher an die tatsächlichen Kriegshandlungen heranfüh- An dieser Maxime orientieren wir uns, orientieren Sie ren, dann sagen wir Nein. sich, Frau Bundesministerin. Für die Bundeswehr und ihre Soldatinnen und Soldaten ist es steter Anspruch, (Beifall bei der LINKEN) nach vorne zu blicken und die Herausforderungen der In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 Zukunft anzunehmen. wurde die Weichenstellung der Neuausrichtung der Bun- In dieser Stunde denken wir ganz besonders an die im deswehr so begründet: Deutschland sei eine „kontinenta- Kampf Gefallenen und die vielen an Körper und Seele le Mittelmacht“ mit „weltweiten Interessen“. Sie reich- verwundeten Soldatinnen und Soldaten sowie an ihre ten von der „Aufrechterhaltung des freien Welthandels“ Angehörigen. Im Namen meiner Fraktion danke ich ih- bis zum „ungehinderten Zugang zu Märkten und Roh- nen von Herzen für ihren Dienst und spreche den Famili- stoffen“. Zwei Jahre später, 1994, hat das Bundesver- en meine tiefempfundene Anteilnahme aus. Unseren Sol- fassungsgericht das dann für verfassungsgemäß erklärt, datinnen und Soldaten, den zivilen Mitarbeiterinnen und obwohl die Bundeswehr laut Grundgesetz eine Verteidi- Mitarbeitern, die in den letzten 60 Jahren Dienst in der gungsarmee ist. So sind die Machtverhältnisse in diesem Bundeswehr geleistet haben und aktuell leisten, insbe- Land: Zunächst werden geostrategische und wirtschaftli- sondere denen, die im Auslandseinsatz sind, gelten mein che Interessen definiert, dann wird die Armee umgebaut, Respekt und meine Hochachtung. und am Ende ist es Recht. Das ist nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Glücklicherweise haben die Bundesregierungen seit jeher ein Problem: Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. 1991 rief die Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU): geplante Unterstützung des zweiten Golfkriegs Wider- Sie leisten Großartiges. Wir wünschen ihnen Erfolg stand hervor – in der Bevölkerung, aber auch bei Solda- (B) und vor allem Gottes Segen bei der Erfüllung ihrer Auf- ten. Der damalige Generalinspekteur, Dieter Wellershoff, (D) gaben. fragte – Zitat –, ob wir nicht den Gedanken an Krieg, Tod und Verwundung zu weit in den Hintergrund geschoben Ich danke Ihnen. haben. Der damalige Verteidigungsminister Rühe räum- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- te 1992 ein, dass die Bürger nicht auf Auslandseinsätze ordneten der SPD) vorbereitet seien. „Deswegen“, so Rühe damals wörtlich, „müssen wir Schritt für Schritt vorgehen.“ Präsident Dr. Norbert Lammert: (Zuruf von der LINKEN: Aha!) Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die So ist es gekommen. Deutsche Streitkräfte wurden seit- Fraktion Die Linke. dem in rund 40 Auslandseinsätze geschickt, erst in klei- (Beifall bei der LINKEN) ne, dann in immer größere. Aber die allermeisten Men- schen in Deutschland wollen sich nicht wieder an Krieg, Christine Buchholz (DIE LINKE): Tod und Verwundung gewöhnen, und ich werde es auch nicht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als vor 60 Jahren die ersten Rekruten ihre Ernennungsurkunden (Beifall bei der LINKEN) erhielten, sagte man ihnen, es ginge nur um Verteidi- gung, es ginge um die Bedrohung aus der Sowjetunion Die Bundeswehr hat nichts im Ausland zu suchen, und dem Ostblock – sonst nichts. Deshalb war auch die nicht im ehemaligen Jugoslawien, nicht in Afghanistan, Hoffnung auf Frieden und Abrüstung so groß, als 1989 nicht in Mali, auch nicht im Irak. Diese Auslandseinsätze die Mauer viel. sind so unbeliebt, dass es der Bundeswehr an Personal fehlt. Deshalb hat Frau von der Leyen gerade 10 Millio- Doch nur zehn Jahre später waren deutsche nen Euro für eine neue PR-Kampagne, mit der bei jungen Kampfflugzeuge wieder an einem Krieg in Europa be- Leuten für eine Karriere bei der Bundeswehr geworben teiligt, dem Angriff auf Jugoslawien. Weitere zehn Jahre wird, ausgegeben. „Krisenherde löschst du nicht mit Ab- später, 2009, hat ein deutscher Oberst im afghanischen warten und Teetrinken“, heißt es da. Kunduz einen Bombenangriff auf zwei liegengebliebene Tanklaster befohlen. Über 100 Zivilisten, darunter viele Meine Damen und Herren, Deutschland schafft die Kinder, verbrannten in dem Inferno. Krisenherde selbst mit. Deutschland ist einer der größ- ten Waffenexporteure der Welt. Die Bundesregierung 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland ist eine der treibenden Kräfte hinter einer weltweiten nicht friedlicher geworden. Stattdessen haben alle Bun- Freihandels­politik, die Millionen Menschen den Boden 13244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Christine Buchholz (A) unter den Füßen wegzieht und ins Elend treibt. Und Sie Reichstag erleben. Das war ein besonderes Ereignis, das (C) erwecken hier den Eindruck, man könnte die selbst mit- bewegt hat. Vor und in dem Haus des deutschen Volkes verursachten Krisen der Welt mit Militär lösen. Das ist ist das Selbstverständnis der Bundeswehr „Wir. Dienen. zynisch. Deutschland.“ besonders lebendig geworden; das war überzeugend. Vielen Dank für dieses Erlebnis, das ge- (Beifall bei der LINKEN) zeigt hat, dass die Bundeswehr als fester und verlässli- An die Grünen, aber auch an Herrn Lamers gerichtet, cher Teil zu unserer demokratischen Gesellschaft gehört sage ich: Wir glauben nicht, dass die Seenotrettung und und dieses Parlament verlässlich zu seiner Bundeswehr letztlich auch die Flüchtlingshilfe oder die Bekämpfung steht. von Waldbränden Aufgaben der Bundeswehr sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Einfach mal nach Bremen gucken und Ich möchte dies zum Anlass nehmen, um im Namen in die Realität!) aller Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Deut- Wir brauchen den Aufbau von zivilen Hilfsstrukturen, schen Bundestages allen aktiven und ehemaligen Solda- eines zivilen Katastrophenschutzes. tinnen und Soldaten sowie allen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren Dienst in den Streitkräften (Beifall bei der LINKEN) ganz herzlich zu danken. Frau von der Leyen hat im Februar mit Blick auf das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weißbuch 2016 gesagt – ich zitiere –: der CDU/CSU) Unsere Interessen haben keine unverrückbare Gren- Ich möchte auch denen danken, ohne deren Rückhalt und ze, weder geografisch noch qualitativ. Unterstützung unsere Soldatinnen und Soldaten ebenso Deswegen kennt auch die Aufrüstung keine Grenzen wie die zivilen Beschäftigten diesen so besonderen und bei teuren Großprojekten wie Panzern, dem A400M oder einmaligen Beruf nicht ausüben könnten: den Partnerin- einer europäischen Kampfdrohne. Wir wollen nicht, dass nen und Partnern, ihren Eltern, ihren Kindern, ihren Fa- Steuermilliarden in die Rüstung gesteckt werden. Abrüs- milien. tung ist das Gebot der Stunde! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) Wir wollen auch nicht, dass junge Menschen für Inter- Ich möchte noch zwei weitere Adressaten in den Dank (B) , die nicht ihre eigenen sind, in internationale Bun- mit einschließen, die sich in vielen Jahren kritisch und (D) deswehreinsätze geschickt werden; denn sie sind es, die auch konstruktiv mit der Bundeswehr auseinandergesetzt Soldatinnen und Soldaten, die den Preis bezahlen, wenn haben. Vielen Dank an unsere Kirchen, deren Militär- sie verwundet, traumatisiert oder tot aus den Einsätzen pfarrer in den Einsätzen viel gute und wertvolle Arbeit zurückkommen. für die Soldatinnen und Soldaten geleistet haben. Mit ih- ren kritischen Beiträgen zu dem, was die Bundeswehr in 60 Jahre Bundeswehr sind 60 Jahre Widerstand gegen unserer Gesellschaft leisten soll, haben sie immer wieder Militarisierung und Krieg: gegen die Wiederbewaffnung, Denkanstöße gegeben, die uns eine konstruktive, nach den NATO-Doppelbeschluss, gegen die Auslandseinsät- vorne gerichtete Diskussion gebracht haben, die an dem ze, aber auch gegen die Rekrutierungsversuche der Bun- Friedensgebot unserer Verfassung orientiert ist. Das The- deswehr an Schulen und vor Arbeitsämtern. ma „Frieden schaffen“ stand und steht über diesen De- (Beifall bei der LINKEN) battenbeiträgen. Daran knüpft die Linke an. Sie können sich darauf ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lassen: Der Widerstand wird weitergehen. Ich möchte denjenigen danken, die in besonderer Wei- (Beifall bei der LINKEN) se unsere demokratische Bundeswehr verkörpern: dem BundeswehrVerband, den Gewerkschaften, den Beam- Präsident Dr. Norbert Lammert: ten, die in der Bundeswehr ihren demokratischen Dienst leisten. Sie alle haben sich unter Beteiligung der Solda- Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Hellmich ten intensiv zum Wohle und im Interesse der Bundeswehr für die SPD-Fraktion. kritisch mit ihr auseinandergesetzt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Seit ihrer Gründung vor nunmehr 60 Jahren hat die Gädechens [CDU/CSU]) Bundeswehr einen einmaligen Transformationsprozess vollzogen. Die deutschen Streitkräfte dienten lange Zeit Wolfgang Hellmich (SPD): ausschließlich zur Verteidigung. Jahrzehntelang galt der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Einsatz der Bundeswehr als schwer denkbarer Ernstfall, Herren! Liebe, verehrte Soldatinnen und Soldaten und nur im Kalten Krieg vorstellbar. Mit dessen Ende und zivile Mitarbeiter der Bundeswehr, die Sie heute bei die- dem Erringen der deutschen Einheit haben sich die Auf- ser Sitzung des Bundestages dabei sein können! Gestern gabe und Rolle Deutschlands und die seiner Bundeswehr Abend durften wir den Großen Zapfenstreich anlässlich grundlegend verändert. War es gerade noch die Befürch- des 60-jährigen Bestehens der Bundeswehr vor dem tung, die uns alle bewegt hat, zum atomaren Schlachtfeld Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13245

Wolfgang Hellmich (A) zu werden, so schien nun die Konfrontation in Europa zurüsten und zu qualifizieren, einhalten. Wir müssen uns (C) überwunden. um sie kümmern. Das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle spielt Als Teil der Exekutive untersteht die Bundeswehr eine ganz wesentliche Rolle, auch bei der Bundeswehr. dem Kommando der Bundesregierung, wird aber zu- Wenn wir in diesem Jahr entscheiden, einen neuen Flie- gleich durch das Parlament kontrolliert und legitimiert. ger im Zuge von Open Skies einzusetzen, dann sehen Wie Sie, verehrter Herr Bundestagspräsident, betonen, wir, welche wichtigen Beiträge die Bundeswehr im Be- gibt es weltweit kein zweites Beispiel für eine derarti- trieb eines solchen Systems, aber auch in Bezug auf die ge parlamentarische Verankerung einer Armee in einem Verifikation der Abrüstungspolitik in Europa und darü- demokratischen Staat. Der Verteidigungsausschuss mit ber hinaus geleistet hat, dann sehen wir das ganze breite Verfassungsrang, das Budgetrecht und die starke und fast Spektrum dessen, was die Bundeswehr bis heute erreicht alleinige Rolle des Parlamentes bei der Entscheidung hat; und erreicht haben wir dieses nur im Bündnis mit über die Entsendung bewaffneter Streitkräfte ins Aus- anderen Partnern innerhalb der NATO, im transatlanti- land machen die starke Stellung des Parlamentes bei der schen Bündnis. Gestaltung und der Rahmensetzung für die Bundeswehr sehr deutlich. Die erst vor einem Vierteljahrhundert gewonnene vol- le Souveränität hat einen Veränderungsprozess in unse- Laut einer 2013 vom Zentrum für Militärgeschichte ren Streitkräften in Gang gesetzt, der mit dem Bekenntnis und Sozialwissenschaften der Bundeswehr durchgeführ- Deutschlands zu mehr Verantwortung einen Höhepunkt, ten Umfrage sind 77 Prozent der Bevölkerung der Auf- sicher aber keinen Abschluss gefunden hat. Wäre es vor- fassung, dass die Bundeswehr wichtig für Deutschland her denkbar gewesen, dass in Afghanistan amerikanische ist. Neun von zehn Befragten halten es für selbstver- Truppen unter deutschem Befehl stehen? Ich möchte an ständlich, dass Deutschland eigene Streitkräfte hat, und dieser Stelle hinzufügen: Ich bin froh, dass wir in Af­ betrachten die Bundeswehr als einen festen Bestandteil ghanistan bleiben und das afghanische Volk nicht alleine unserer Gesellschaft und unseres demokratischen Staa- lassen. Wir müssen mit unseren Partnern weiterhin einen tes. Das sind genau die Prozentzahlen, die Ihre Position wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation vor Ort nicht teilen, und ich bin froh darüber. leisten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LIN- der CDU/CSU) KE]: Sie täuschen sich!) Wäre es denkbar gewesen, dass Deutschland mit ei- So gilt es, unsere Streitkräfte als eine Bundeswehr zu nem Framework Nations Concept anderen Nationen verstehen, die sich aus Soldatinnen und Soldaten, Be- (B) als verlässliche Anlehnungsnation zur Verfügung steht? amtinnen und Beamten, Tarifbeschäftigten und Auszu- (D) Wäre es vorstellbar gewesen, dass ein niederländisches bildenden zusammensetzt. Sie alle dienen dem Schutz und ein deutsches Heer Schritt für Schritt miteinander unseres Landes und seiner Menschen. verschmelzen? Sicher nicht. Wir haben in den Jahren der Auch ich möchte hier an all diejenigen erinnern, die Ausfüllung der vollen Souveränität viel erreicht, und wir in Ausübung ihres Auftrages für unser Land ums Leben sind bereit, mehr Verantwortung in dieser Welt, vor allem gekommen, gefallen sind. Ihnen und ihren Angehörigen in Europa, zu übernehmen. Diese neu gewonnene Souve- gehören unser besonderer Dank, unsere Anerkennung ränität auszufüllen mit dem verfassungsmäßigen Rahmen und unsere stete Erinnerung. Die Gedenkstätte bei Pots- des Grundgesetzes, mit der demokratischen Verfasstheit dam ist ein schöner und guter Ort, an dem wir dieses auch der Bundeswehr, mit der Parlamentsarmee, mit dem Par- leben können. lamentsvorbehalt und mit der Bündnisorientierung, das war eine große Herausforderung, die uns, so bin ich über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zeugt, gelungen ist. Die Erfahrung im Einsatz, zivil und Der Dienstherr Bundeswehr sowie wir als Parlamenta- militärisch, ist Ausdruck davon, welchen Fortschritt wir rierinnen und Parlamentarier müssen für unsere Soldatin- in der Politik und in der Bundeswehr gemacht haben. nen und Soldaten sorgen, sei es im Grundbetrieb, sei es In den Gesprächen mit den Soldatinnen und Solda- bei der Ausbildung, im Einsatz oder danach. Ohne eine ten kommt immer wieder zum Ausdruck, dass sie die verlässliche und funktionierende Betreuung wird es nicht besondere Verantwortung des Parlamentes schätzen und gehen. Es ist vielleicht der besonderen Verantwortung des die verlässliche Ausfüllung dieser Verantwortung auch Parlamentes geschuldet, dass der Schutz der Soldatinnen einfordern. Sie sind es, die uns mit ihrer Erfahrung im und Soldaten im Einsatz und ihre schnelle Versorgung Einsatz immer wieder zeigen, in welche Richtung die im Einsatz einen besonders hohen Stellenwert haben. Entwicklung gehen muss. Auch unsere Partnernationen und ihre Soldatinnen und Soldaten profitieren von dieser besonderen Fähigkeit der Heute ist unser Land von Freunden und Partnern um- Bundeswehr; oftmals verlassen sie sich darauf. Das ist geben. Die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands sowie ein Ausweis für das, was wir im und als Parlament in der die Beistandsfähigkeit im Bündnis zu erhalten, das sind Bundeswehr und mit der Bundeswehr entwickelt haben. weiterhin die zentralen Aufgaben der Bundeswehr. Dafür benötigen wir nicht nur motivierte und gut ausgebildete Dass wir erst mit der Zeit mit Entschädigungsregeln Soldatinnen und Soldaten, sondern auch das nötige Ge- und mit Einsatzregeln die nötigen Maßnahmen für die rät. Wir müssen das Versprechen, das wir den Soldatin- Soldatinnen und Soldaten im Einsatz geschaffen haben, nen und Soldaten gegeben haben, sie entsprechend aus- ist Bestandteil des verantwortungsvollen Ausfüllens un- 13246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Wolfgang Hellmich (A) serer neuen Souveränität. Truppenärzte, Sozialarbeiter, Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Psychologen, Betreuungspersonen und viele andere leis- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die ten da unschätzbare Dienste. Kollegin Doris Wagner das Wort. Mit der Verabschiedung des Bundeswehr-Attrakti- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vitätssteigerungsgesetzes wie mit dem 7. Besoldungs- Doris Wagner änderungsgesetz setzen wir den Kurs des Ausbaus des Werte Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Solda- Systems Bundeswehr in die Zukunft konsequent fort und tinnen und Soldaten auf den Rängen, Ihnen möchte ich leisten an der Stelle, glaube ich, vieles, was unsere Sol- heute stellvertretend für die Bundeswehr zum Geburtstag datinnen und Soldaten auch so sehen. Sie entscheiden gratulieren und Ihnen sehr herzlich für Ihren Einsatz und sich für den Dienst bei der Bundeswehr dann, wenn wir Ihr Engagement danken. ihnen klar sagen, auf welchen Dienst sie sich bewerben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wenn wir ihnen klar sagen, was sie im Berufsleben er- bei der CDU/CSU und der SPD) wartet, und wenn wir sicherstellen können, dass sie dort eine Perspektive haben. In den drei Säulen der Landes- Es gibt eines, das unsere Streitkräfte in ganz besonde- verteidigung, im Einsatz im Bündnis und jetzt auch in der rer Weise auszeichnet: die Innere Führung. Im Zentrum Flüchtlingshilfe muss die Bundeswehr mit gutem Materi- der Inneren Führung steht der einzelne Soldat, die einzel- al, mit guter Ausbildung und einer beruflichen und sozia- ne Soldatin. Sie sollen sich im eigenen Handeln nie allein len Perspektive in die Zukunft weiterentwickelt werden. an militärischen Befehlen orientieren, sondern auch am eigenen Gewissen und an den Werten des Grundgesetzes: Die Bundeswehr, inzwischen ein selbstverständliches an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Mittel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, ge- Die Bundeswehr muss deshalb ihren Angehörigen die- nießt international einen hervorragenden Ruf. Bei vielen se Werte, für die sie einstehen sollen, auch vermitteln. Besuchen von Parlamentarierinnen und Parlamentariern Eine besondere Rolle spielt dabei die Schulung am Zen- anderer Parlamente in Europa und auch von Australien, trum Innere Führung. Aber mindestens genauso wichtig Tunesien und anderen Ländern werden wir immer wie- ist es für die Soldatinnen und Soldaten, dieses Prinzip im der gefragt: Wie organisiert ihr das? Wie macht ihr das? täglichen Geschehen mit Leben zu füllen: im persönli- Wie geht ihr als Parlament damit um? Wie habt ihr das chen Gespräch, in Diskussionen am Standort. verankert? Wir können ihnen immer nur eines sagen: Die starke Stellung des Parlamentes bei den Entscheidungen Warum soll die Bundeswehr in Bürgerkriege in Afrika für Einsätze der Bundeswehr – Stichwort „Verfassungs- eingreifen? Was ist von Guantánamo und Abu Ghuraib rang“ – ist der Ausgangspunkt dafür, dass wir vieles mit- zu halten? Ein Austausch über solche Fragen ist ganz im (B) einander gestalten können, dass wir mit der Regierung Sinne der Inneren Führung. Allerdings habe ich Sorgen, (D) einen konstruktiven Dialog führen. Dabei steht immer dass diese Form der politischen und ethischen Bildung im Mittelpunkt, die Bundeswehr weiterzuentwickeln und künftig zu kurz kommen wird. Denn damit Vorgesetzte sich um die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen und Soldatinnen und Soldaten darüber diskutieren kön- Mitarbeiter zu kümmern. nen, was in der Welt passiert und welche Antworten wir darauf haben, braucht es Zeit. Genau die ist aber an vie- Ein neues Weißbuch zur Lage, ein neues Lagebild, len Standorten Mangelware, ganz besonders nach der das wir dort aufschreiben werden, wird, denke ich, dieses jüngsten Bundeswehrreform. Denn der Plan, die Bun- zum Ausdruck bringen. Es wäre gut, wenn dieser Weiß- deswehr drastisch zu verkleinern, gleichzeitig aber das buchprozess nicht nur einmal geschehen würde, sondern Fähigkeitsspektrum und die geografische Verteilung in permanent. der Fläche beizubehalten, kann nur aufgehen, weil die Bundesregierung eine dauerhafte Überlastung der Bun- Wenn wir über eine europäische Armee als Perspek- dewehrangehörigen in Kauf nimmt. Die Lage, meine tive reden – ich glaube, gebaut wird diese Armee von Damen und Herren, wird sich in absehbarer Zeit nicht unten –, denke ich immer an die Militärmusiker. Sie verbessern, ganz im Gegenteil. alle spielen dieselben Noten und dieselbe Musik, haben aber sehr unterschiedliche Uniformen an. So stelle ich Die Verteidigungsministerin hat in jüngster Zeit ei- mir auch eine europäische Armee in der Zukunft vor, die niges unternommen, um die Arbeitsbedingungen in der dasselbe tut, die dieselben Grundlagen hat und sich in Bundeswehr attraktiver zu machen. Soldatinnen und Sol- dieselbe Richtung entwickelt. Ich glaube, das ist die Per- daten sollen weniger arbeiten und ihre Arbeitszeit flexi- spektive, die wir haben. bler gestalten können. Diese Neuerungen begrüßen wir Grüne ganz ausdrücklich. Wer weiß, was er will, der weiß, was er tun muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich gehe davon aus, dass wir uns klar in diese Richtung bewegen. Ich möchte gerade zum heutigen Tage daran Aber gerade weil wir die Attraktivitätsagenda der erinnern, dass die Bundeswehr zu den 70 Jahren der Er- Ministerin unterstützen, wollen wir die Augen auch vor fahrung von Frieden einen ganz wesentlichen Beitrag ge- möglichen Folgen nicht verschließen: Durch die europä- leistet hat. So soll es auch weiterhin sein. ische Arbeitszeitrichtlinie, durch Teilzeit- und Telearbeit wird der Personal- und Zeitmangel an vielen Standorten Vielen Dank und Glück auf! zusätzlich verschärft. Ich fürchte, der ständigen Zeitnot wird zuallererst die Zeit für Reflexion zum Opfer fallen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Werte Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht hin- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13247

Doris Wagner (A) nehmen, dass die Attraktivitätssteigerung auf Kosten der ganz Norddeutschland in besonderer Weise betroffen (C) Inneren Führung geht. waren. Wir sollten auch die problematischen Folgen der At- Meine Damen und Herren, wir begehen heute den traktivitätsagenda offen ansprechen. Deshalb frage ich 60. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr. Dies ist für Sie, Frau Ministerin: Wie wollen Sie die Konsequenzen mich auch Teil einer sehr persönlich erlebten Geschich- abfedern, die die neuen Arbeitszeitmodelle in der Praxis te. Über 30 Jahre, also mehr als die Hälfte dieser Zeit, nach sich ziehen? Wie wollen Sie verhindern, dass Perso- diente ich in dieser unserer Bundeswehr. Meine Zeit als nal- und Zeitmangel die bewährte interne Selbstreflexion Berufssoldat hat mich nicht nur erfüllt, sondern mir per- der Bundeswehr unmöglich machen? Die Antworten auf sönlich auch viel gegeben. Sie hat mich geprägt und auch diese Fragen können meiner Ansicht nach nur darin lie- ein Stück weit zu dem Menschen werden lassen, der ich gen, endlich die logische Konsequenz aus der erfolgten heute bin. Verkleinerung der Bundeswehr zu ziehen. Wir brauchen eine stärkere Konzentration, eine bessere Fokussierung Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder andere. bei den Fähigkeiten und Strukturen. Er ist viel weniger Beruf als vielmehr Berufung. Meine Dienstzeit war prägend, weil ich mit meinen Kameraden Die Innere Führung ist im internationalen Vergleich in vielen Bereichen an Leistungsgrenzen herangeführt der Armeen einzigartig. Für uns Grüne ist und bleibt sie wurde, und dabei habe ich schnell erkannt, dass es in der Grundvoraussetzung für die Existenz und den Einsatz Bundeswehr zwar durchaus Einzelkämpfer gibt, Team- unserer Streitkräfte. Wir sollten deshalb alles dafür tun, geist und Teamarbeit aber grundsätzlich schneller und dass unsere Soldatinnen und Soldaten dieses Prinzip täg- besser zum Erfolg führen. lich mit Leben füllen können. In meiner Dienstzeit habe ich Kameradschaft erleben Herzlichen Dank. dürfen, die so in unserer Gesellschaft nur noch sehr selten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erlebbar ist. Dafür bin ich heute noch überaus dankbar. sowie des Abg. [CDU/CSU]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nur sehr komfortabel, in einer Demokratie wie unserer leben zu Präsident Dr. Norbert Lammert: dürfen, es ist auch wichtig, zu erkennen, dass man zur Si- Ingo Gädechens ist der nächste Redner für die CDU/ cherung unserer Werte und unserer freiheitlichen Grund- CSU-Fraktion. ordnung etwas leisten muss. Viele Soldatengenerationen folgten und folgen dem Ruf: „Tu was für dein Land“. (Beifall bei der CDU/CSU) Alle haben einen aktiven Beitrag zur Sicherung unserer (B) Demokratie geleistet. Mit ihrem Eid haben sie sich ver- (D) Ingo Gädechens (CDU/CSU): pflichtet, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tap- burtstage sind immer schön, besonders runde. fer zu verteidigen. (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ Der Soldatenberuf ist somit kein Beruf wie jeder DIE GRÜNEN]: Na ja, es kommt darauf an!) andere. 180 000 Kameradinnen und Kameraden haben sich derzeit an diesen Eid gebunden und dienen heute Bei den Menschen geht damit einher, dass wir älter wer- gemeinsam mit weit über 70 000 Zivilangestellten, um den, der eine oder die andere erfahrener, und hoffentlich Deutschlands Sicherheit zu gewährleisten. werden wir mit jedem Lebensjahr auch ein gut Stück schlauer. Jede Soldatin und jeder Soldat ist bereit, im schlimms- ten Fall sein Leben für unser Land und unsere Sicher- Wir begehen heute den 60. Geburtstag unserer Bun- heit zu riskieren. Deshalb haben unsere Soldatinnen und deswehr und können sagen: Unsere Streitkräfte sind er- Soldaten auch nicht nur die Anerkennung der deutschen wachsen geworden; der heutige Tag gilt als die offizielle Bevölkerung, sondern auch die uneingeschränkte Hoch- Geburtsstunde. Seit ihrer Gründung garantiert sie die Si- achtung unserer ganzen Gesellschaft mehr als verdient. cherheit Deutschlands und hat sich gleichzeitig zu einer international respektierten Armee entwickelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Bundeswehr musste sich in den vergangenen Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik mit der Bundes- sechs Jahrzehnten immer wieder auf neue Sicherheitsla- wehr kann nur gelingen, wenn das Volk hinter den Bun- gen einstellen und vielfältige Aufgaben bewältigen. Sie deswehrsoldaten steht. Es geht gerade auch um die posi- hat den Wandel – wir hörten es – von einer reinen Vertei- tive geistige Haltung des Volkes zu seinen Streitkräften. digungsarmee über die Armee der Einheit zur Armee im Einsatz vollzogen und sich dabei international bewährt. Tatsächlich verfolgt ein Teil der Gesellschaft in Deutschland die Einsätze der Bundeswehr leider nur mit Auch bei nationalen Katastrophen konnten und kön- freundlichem Desinteresse. Deshalb werbe ich als Abge- nen wir uns auf die helfenden Hände der Soldatinnen ordneter unermüdlich dafür, dass sich der Geist, mit dem und Soldaten der Bundeswehr verlassen. Bei dem Thema wir als Bürger der Bundeswehr gegenübertreten, ein gut Katastrophenhilfe erinnere ich mich an meinen eigenen Stück ändert. Die Bundeswehr gehört – das ist die feste Einsatz als sehr junger Soldat bei der Schneekatastro- Meinung meiner Fraktion, der CDU/CSU – in die Mitte phe 1978/79, von der meine Heimatinsel Fehmarn und unserer Gesellschaft. Sie gehört an die Schulen, an die 13248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Ingo Gädechens (A) Hochschulen, in die Universitäten und auf öffentliche Florian Hahn (CDU/CSU): (C) Plätze, wie gestern hier vor dem Reichstagsgebäude. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Kollegen! Am 30. Oktober 1995 sprach der damalige bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber an- „Unsere Soldaten“: Das sagt sich leicht. Das heißt lässlich des feierlichen Gelöbnisses von Rekruten aus aber auch, wir müssen Anteil an ihren Leistungen, an ih- ganz Bayern, das gleichzeitig die bayerische Feier zum ren Ängsten und an ihren Sorgen und Nöten nehmen. Wir 40-jährigen Bestehen der Bundeswehr in Bayern dar- müssen viel mehr öffentliche Debatten über Einsätze der stellte: Bundeswehr führen. Und wir sind aufgefordert, uns noch Ohne die Bundeswehr, ohne eigenen Verteidigungs- mehr um unsere Soldaten, aber auch um die Familienan- beitrag wäre die Bundesrepublik Deutschland nicht gehörigen zu kümmern, die diesen besonderen Dienst an zu dem geworden, was sie heute ist: ein wiederver- unserem Land auf ihre Weise mittragen. einigtes, freies und im Verhältnis zu den übrigen Meine Damen und Herren, als ich vor mehr als 30 Jah- Staaten der Erde wohlhabendes Land, ein geachte- ren meinen Dienst in der damaligen Bundesmarine an- tes Mitglied der Völkergemeinschaft. Ich will gera- trat, die sich heute „Deutsche Marine“ nennt, war die de im Jahr 1995 darauf aufmerksam machen, dass Bundeswehr noch eine reine Verteidigungsarmee. Die vor 50 Jahren Deutschland ein geächtetes Land war. Entwicklung der Bundeswehr zu einer weltweit operie- Dass wir in fünf Jahrzehnten miteinander so viel renden Einsatzarmee war und ist unausweichliche Folge erarbeiten konnten, verdanken wir unseren Verbün- der derzeitigen Konflikte und Kriege, welche teils direkt deten, der Einsatzbereitschaft der Bürgerinnen und an Europas Grenzen stattfinden. Wir sehen an der aktu- Bürger in unserem Land und vor allem auch der ellen Flüchtlingskrise, wie die Folgen dieser Konflikte Bundeswehr. auch dramatische Auswirkungen in Europa und gerade Ich war an diesem Abend selbst Rekrut und von der hier in Deutschland haben. Die internationale Staatenge- Rede tief bewegt, allerdings auch irgendwie froh, als die meinschaft erwartet, dass sich Deutschland auch militä- ganzen Reden vorbei waren und wir endlich zum Gelöb- risch einbringt. nis kamen. Schließlich ist es durchaus anstrengend ge- Die hohe Motivation unserer Soldatinnen und Solda- wesen, über eine Stunde in Reih und Glied angetreten ten ist auch dem Selbstverständnis der Bundeswehr ge- zu sein. schuldet: „Wir. Dienen. Deutschland.“ Dieses Selbstver- Ministerpräsident Stoiber sagte weiter: ständnis galt schon zu meiner Dienstzeit. Ihr Gelöbnis findet in einem historisch denkwürdi- Nach wie vor gilt das zentrale Leitbild des Staatsbür- (B) gen Moment statt. Es ist der Geburtstag der Bun- (D) gers in Uniform: Bürger dienen in der Bundeswehr Bür- deswehr, der ersten freiheitlich-demokratischen Ar- gern. Die Bundeswehr gründet ebenfalls auf dem Prinzip mee Deutschlands, eingebettet in die demokratische der Inneren Führung. Diese Art der Führung, die unse- Gemeinschaft unserer Partner im transatlantischen re Soldaten von Beginn an verinnerlichen, beantwortet Bündnis. Ohne diese Einbettung hätte Deutschland, Fragen nach Sicherung der Grundrechte des Soldaten das Land in der Mitte Europas mit den meisten und setzt notwendige militärische Erfordernisse in ein Nachbarn überhaupt, fünf Jahrzehnte nach der größ- vernünftiges Verhältnis dazu. Beide Prinzipien hat die ten Katastrophe, die es für Deutschland und Euro- Bundeswehr verinnerlicht, und beide haben ihr Selbst- pa je gegeben hat, nicht den Zustand erreicht, dass verständnis geprägt. wir heute mit all unseren Nachbarn in Frieden und Meine Damen und Herren, als ehemaliger Berufssol- Freundschaft leben. Dafür haben Generationen von dat ist es mir jetzt als Abgeordneten besonders wichtig, Deutschen gekämpft, gebetet, gehofft. Das ist nicht immer wieder mit jungen Kameradinnen und Kameraden selbstverständlich, auch wenn wir es leider heute als ins Gespräch zu kommen. Ich bin stets tief beeindruckt selbstverständlich empfinden. von ihrer Ernsthaftigkeit, von ihrem Selbstbewusstsein, Ich finde, diese Worte Stoibers haben auch heute noch von ihrem Pflichtgefühl und von ihrer Verbundenheit mit ihre Berechtigung. unserem Land und seinen Werten, aber auch von ihrer Gelassenheit in Kenntnis aller Risiken. Sie sind sich der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion über Gefahren bewusst, dabei voller Mut und Zuversicht. All die deutsche Wiederbewaffnung fiel in eine Zeit, in der das gibt uns die Gewissheit: Wir können uns auf unse- die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges noch greifbar re Soldatinnen und Soldaten, wir können uns auf unsere waren. Im Deutschen Bundestag diskutierten Abgeord- Bundeswehr verlassen. nete über die Aufstellung deutscher Streitkräfte, die kei- ne Abstraktionsfähigkeit benötigten, um sich die ganzen Herzlichen Glückwunsch deutsche Bundeswehr! möglichen Konsequenzen, nicht nur den Aufbau von Fä- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) higkeiten, sondern vor allem auch die Bereitschaft, als Ultima Ratio im Bündnis wieder militärisch handlungs- fähig zu sein, vorzustellen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion ist der letz- So war die Wiederbewaffnung keineswegs unumstrit- te Redner in dieser Debatte. ten. Die CSU war von Beginn an ein überzeugter Befür- worter eigener deutscher Streitkräfte. Ein zentrales Ar- (Beifall bei der CDU/CSU) gument sprach aus ihrer Sicht dafür: Deutschland sollte Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13249

Florian Hahn (A) seine volle Souveränität wiedererlangen. Der Staat, so er forderte auch viele Opfer: 116 Piloten verunglückten (C) jung er auch noch war, brauchte ein Instrument, um seine tödlich bei Flügen mit dem Starfighter. Wir gedenken Bürger vor der sehr realen sowjetischen Aggression zu heute daher auch derer, die für einen Frieden in Freiheit schützen. Die Integration in ein Verteidigungsbündnis, während der Ausübung ihres Dienstes bis heute ihr Le- ohne selbst einen substanziellen Beitrag zur kollektiven ben verloren. Sicherheit zu leisten, wäre nicht tragbar gewesen. Auch Von Beginn an war klar, dass die Streitkräfte eine die USA forderten mehr Verantwortung von Deutschland. neue Führungsphilosophie brauchten, die sich an den Weiter war die CSU davon überzeugt, dass Deutsch- Prinzipien des Grundgesetzes orientierte. Das von Gene- land nur in enger Kooperation mit den europäischen ral Baudissin eingeführte Konzept der Inneren Führung Nachbarn zur Wiederbewaffnung fähig ist. Dem Arg- garantierte eine militärische Führung, die soziale und wohn der SPD, dass die Wiederbewaffnung Deutsch- individuelle Aspekte des Menschen berücksichtigte. Sol- lands die Einheit gefährdet, setzte Franz Josef Strauß in daten sollten nicht einfach nur funktionieren oder etwa der historischen Debatte von 1952 eine überzeugende einen Sonderstatus genießen, sondern sich als Staatsbür- Richtungsvorgabe entgegen: über die Einheit Europas ger in Uniform verstehen. Weltweit beachtet, ist das un- zur Wiedervereinigung Deutschlands – ein Weg, der be- ter dem Eindruck der Erfahrung aus Krieg und Diktatur kanntermaßen 1989 zur deutschen Einheit führte. entstandene Leitbild noch immer die tragende Säule des militärischen Selbstverständnisses. Der spätere Verteidigungsminister Strauß, lieber Herr Gehrcke, der mit Fug und Recht als einer der Väter der Die Bundeswehr bildete aber nicht nur die Brücke Bundeswehr bezeichnet wird, fasste die Problematik der nach Westen. Wenige wissen, dass von der noch jungen Wiederbewaffnung damals treffend zusammen: Armee ein Samen für die besondere deutsch-israelische Freundschaft gesetzt wurde. Schon 1958, drei Jahre nach Wer ja sagt, muß sich die Verantwortung für die Fol- der Gründung der Bundeswehr, nahmen die Armeen bei- gen überlegen. Wer nein sagt, nein um jeden Preis, der Länder die ersten Kontakte auf – 13 Jahre nach dem muß für die Konsequenzen einstehen, die aus dieser Holocaust, bei dem sich deutsche Wehrmachtssoldaten Verantwortung erwachsen. mitschuldig gemacht haben. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Bin ich Obwohl es diplomatische Beziehungen zwischen Is- ja!) rael und Deutschland noch nicht gab, begannen Vertreter Damit nahm er die Abgeordneten, die dem pazifisti- der Marine beider Armeen mit der Zusammenarbeit. Die schen Leitmotiv ein plakatives „Ohne mich“ voranstell- Deutschen halfen Israel beim Aufbau seiner U-Boot-Flot- ten, in die Verantwortung. Er selbst nannte sich später te. Damit stellten sich die Soldaten aktiv unserer aus der (B) einmal einen „Verantwortungspazifisten“. Um den Frie- Geschichte entstandenen Verantwortung, die Sicherheit (D) den zu sichern, so Strauß, müssen notfalls auch militäri- und die Existenz Israels zu schützen. Dieses besonde- sche Instrumente in Erwägung gezogen werden. Er als re Verhältnis wurde einmal mehr 1990 deutlich, als der Historiker hat dabei vor allem auf die Untätigkeit der Zerstörer „Bayern“ als erstes deutsches Kriegsschiff den europäischen Demokratien in der Sudetenkrise und beim israelischen Hafen Haifa besuchte. Mein Bruder, der Überfall auf Polen in den 30er-Jahren hingewiesen. Der damals als Obergefreiter Philip Hahn auf der „Bayern“ linke Gesinnungspazifist könne vielleicht besser schla- seinen Wehrdienst absolvierte, erzählte mir damals von fen; aber durch sein rigoroses Nein zu militärischen Mit- dem bewegenden Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem, teln könne er auch zur Verschärfung der Lage beitragen – bei der die Marinesoldaten in Uniform einen Kranz nie- derlegten. (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Auch heute ist der Ruf nach mehr Verantwortung eine Schlussfolgerung, die auch 60 Jahre nach Gründung Deutschlands stärker denn je. Nicht nur bei Themen wie der Bundeswehr weiterhin ihren Wahrheitsgehalt hat; der Finanzkrise muss Deutschland als Orientierungs- gerade die Kollegen der Fraktion Die Linke sollten hier macht auftreten; auch in der Außenpolitik bedarf es eines aufhorchen. Zeichens Deutschlands, um beispielsweise den europäi- schen Stillstand zu überwinden. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Die aktuellen Herausforderungen zwingen uns, die Rolle des Militärs neu zu bestimmen. Mit der Entschei- Die permanente Gefahr aus Moskau beeinflusste das dung unserer Bundesministerin von der Leyen, ein neues politische Arbeiten in einer Art und Weise, wie wir uns Weißbuch zu verfassen, gehen wir diese Aufgabe ent- das heute nicht mehr vorstellen können. So musste die schlossen an. Bundeswehr in kürzester Zeit Fähigkeiten aufbauen, um in der Blockkonfrontation handlungsfähig zu sein. Auch Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Soldaten- umstrittene Entscheidungen fielen unter diese Prämisse, beruf ist kein Beruf wie jeder andere. Ich möchte daher so zum Beispiel die Beschaffung des Starfighters. Für unseren Soldatinnen und Soldaten, die im In- und Aus- ehemalige Marineflieger wie Harm Zander war der Star- land aktuell im Einsatz sind oder es waren, meinen per- fighter ein gutes Flugzeug. Mit ihm konnten deutsche sönlichen Respekt, hohe Anerkennung und ein herzliches Piloten den Fliegern des Ostblocks waffentechnisch end- „Vergelt‘s Gott!“ aussprechen. Ebenso möchte ich den lich auf Augenhöhe begegnen. Der Supersonic-Jet stellte 55 000 zivilen Mitarbeitern und Fachkräften von Herzen an die Piloten allerdings auch höchste Anforderungen. danken, ohne die unsere Truppe nicht funktionieren wür- Der Erfolg der Wehrhaftigkeit ist heute offenkundig, aber de. Die Bundeswehr ist und bleibt ein tragender Stütz- 13250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Florian Hahn (A) pfeiler unserer freien demokratischen Grundordnung. Man könnte fast glauben, dass Herr Grillo den Antrag (C) Wir können auf unsere Bundeswehr zu Recht stolz sein. der Linken gelesen hat. Herzlichen Dank. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das halte ich für unwahrscheinlich! – Weiterer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zuruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/ ordneten der SPD) CSU])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Aber zumindest hat er einige Punkte übernommen. Wir Ich schließe die Aussprache. sind zwar selten einer Meinung mit ihm, Kollege ­Zimmer, aber in diesem Punkt hat er doch recht, oder nicht? Wir kommen damit zu unserem folgenden Tagesord- nungspunkt 5: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine­ Zimmermann (Zwickau), Ulla Jelpke, Jutta Wir müssen Flüchtlinge auf dem Weg in Arbeit unter- Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- stützen, statt sie zu behindern oder ihnen sogar die Ar- tion DIE LINKE beit zu verbieten. Wir müssen aber auch zugleich unsere strukturellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt anpacken. Flüchtlinge auf dem Weg in Arbeit unterstüt- Es stimmt eben nicht, wie Frau Merkel behauptet, dass zen, Integration befördern und Lohndumping es Deutschland gut geht. Vielen geht es nicht gut. Trotz bekämpfen Aufschwung nimmt die Zahl der von Armut betroffenen Drucksache 18/6644 Personen Überweisungsvorschlag: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) kommt wieder die Jammerphase!) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ – Sie von der Union müssen das schon zur Kenntnis abschätzung nehmen – auf insgesamt 13 Millionen Menschen zu. Die Haushaltsausschuss Zahl der Langzeiterwerbslosen liegt seit Jahren bei über Auch für diese Aussprache sind nach einer interfrak- 1 Million. Das war schon so, bevor die Flüchtlinge zu tionellen Vereinbarung 77 Minuten vorgesehen. – Das uns gekommen sind. Also sind diese bestimmt nicht da- wird offenkundig allgemein so akzeptiert. ran schuld. (B) Dann eröffne ich die Aussprache und erteile der Kolle- (Beifall bei der LINKEN) (D) gin Sabine Zimmermann für die antragstellende Fraktion Schuld ist diese Bundesregierung. Sie weigert sich seit Die Linke das Wort. Jahren, die sozialen Missstände in Deutschland anzuge- (Beifall bei der LINKEN) hen. Bei der Beseitigung dieser Missstände müssen Sie selbstverständlich die Vermögenden und die Konzerne in Haftung nehmen. Aber das wollen Sie auch nicht. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss (We- Kollegen! Für den Verbandspräsidenten des BDI hat die sel I) [CDU/CSU]: Damit sind wir jetzt nicht Bundesregierung eigentlich immer ein offenes Ohr. Es einverstanden! – Katja Mast [SPD]: In wel- sollte Ihnen deshalb nicht schwerfallen, jetzt einmal ge- cher Welt leben Sie eigentlich?) nau zuzuhören, - Sie haben in den letzten Jahren nichts gegen die zuneh- mende Armut getan, insbesondere nichts gegen die Al- Präsident Dr. Norbert Lammert: tersarmut. Augenblick bitte. – Es wäre schön, wenn etwas mehr Ruhe einkehrt. – Okay, schon in Ordnung. Bitte schön. (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Nein, natürlich nicht! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Von den Rentenerhöhungen ein- Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): mal abgesehen! – Katja Mast [SPD]: Deshalb – was Herr Grillo anlässlich des Tages der Deutschen In- haben wir auch keinen Mindestlohn gemacht!) dustrie gesagt hat. Als größte Herausforderung hat Grillo die Eingliederung der Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt 2 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Sie bezeichnet. Man habe ein demografisches Problem und haben nichts getan gegen prekäre Beschäftigung sowie viele offene Stellen, sagte Grillo. Eine rasche Integration gegen die massive Ausweitung der Leiharbeit und des bringe mehr für die Sozialkassen, und Integration durch Niedriglohnsektors. Qualifikation sei zu schaffen. Nun aber müsse die Koa- (Katja Mast [SPD]: Mindestlohn!) lition für das Wirtschaftswachstum und in Sprachkurse investieren. Viele können ihre Familien nicht mehr ernähren. 1,2 Mil- lionen Menschen müssen in Deutschland aufstocken. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! Das ist so. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13251

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) Auch ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro hat daran fordern 1,1 Milliarden Euro mehr dafür. Die Regierung (C) nichts ändern können; das wissen Sie ganz genau. hat weniger als ein Drittel davon in Aussicht gestellt. Statt bei den Fördermaßnahmen weiter zu kürzen, brau- (Katja Mast [SPD]: Beim Mindestlohn haben chen wir mehr Geld für Qualifizierung. Qualifizierung ist Sie sich enthalten! Da haben Sie nicht mitge- das A und O, wenn jemand auf dem Arbeitsmarkt beste- macht!) hen will. Begreifen Sie das doch endlich! Deshalb fordert die Linke einen Neustart in der Arbeits- marktpolitik für alle. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Drittens dürfen Flüchtlinge nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Für sie muss der Mindestlohn ge- Für die Flüchtlinge ist die bisherige Bilanz ernüch- nauso gelten, ohne Wenn und Aber. ternd. Nur 8 Prozent von ihnen kommen im ersten Jahr in Arbeit. Nach fünf Jahren ist es die Hälfte. Sie müssen oft (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- auf Dauer im Niedriglohnsektor bleiben. Die Ursachen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dafür sind zahlreich: lange Asylverfahren, Wohnsitzauf- und des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD]) lagen, Einschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt Auch die Ausnahmen müssen endlich abgeschafft wer- und eine mangelhafte Unterstützung insbesondere beim den. Spracherwerb. Es ist doch ein absolutes Unding, dass Sie jetzt auch noch vorhaben, dass Flüchtlinge von ih- Frau Merkel sagt: Wir schaffen das. – Ich sage Ihnen: rem bisschen Geld den Deutschkurs mitbezahlen sollen. So nicht! Welch ein Irrsinn! Das bedeutet: Essen oder Sprache ler- nen. Verrückt! Danke schön für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Auch die schleppende Anerkennung ausländischer

Berufsabschlüsse ist äußerst hinderlich. Besonders gut Präsident Dr. Norbert Lammert: kennen sich die Bleiberechtsnetzwerke aus, denen ich an Das Wort erhält der Kollege Karl Schiewerling für die dieser Stelle für ihre hervorragende Arbeit danken möch- CDU/CSU-Fraktion. te. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ordneten der SPD) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) Zu ihnen kam Frau Tairova; sie ist geduldeter Flücht- Karl Schiewerling (CDU/CSU): ling. Sie ist Roma, hat Deutsch gelernt und ihre Schul- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, abschlüsse gemacht. Nach vielen Praktika hat sie endlich wir stehen in Deutschland vor einer der größten Heraus- einen Ausbildungsplatz erhalten. Ihre Aufenthaltserlaub- forderungen. Die vielen Flüchtlinge in unserem Land lö- nis ist nun jedoch daran geknüpft, dass sie ihren Ausbil- sen bei vielen Menschen Ängste und deutliche Abwehr- dungsvertrag dauerhaft erfüllt. reaktionen aus. In der Tat ist es etwas anderes, ob ich in der Finanzkrise 2007/2008 gegen virtuelle Blasen einen (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Schön!) Etat setzen kann und internationales Finanzmanagement – Schön wär’s. – Aber sie darf den Wohnsitz nicht wech- betreibe oder ob ich es, wie in der jetzigen Situation, mit seln Menschen zu tun habe, die mit Haut und Haaren, mit Seele und mit Erwartungen vor unseren Türen stehen. und darf nicht umziehen. Die Entwicklung trifft in Deutschland auf eine Situ- (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das braucht ation, in der Deutschland der Wachstumsmotor in Eu- sie auch nicht!) ropa ist, die niedrigste Arbeitslosenquote und eine hohe – Doch. – Genau das ist das Problem; denn sie wohnt Beschäftigung hat, sie trifft in Deutschland auf eine Si- über 20 Kilometer von ihrer Ausbildungsstätte entfernt tuation, in der die Hauptsorge der Menschen die demo- und hat gar nicht die entsprechenden finanziellen Mög- grafische Entwicklung und eine immer älter werdende lichkeiten. Solche Auflagen und Arbeitsverbote gibt es zu Gesellschaft ist, in deren Folge Fachkräftemangel eines Tausenden. Das ist ein Armutszeugnis für dieses Land. der beherrschenden Wirtschaftsthemen ist. In dieser Zeit kommen unangemeldet und für den einen oder anderen (Beifall bei der LINKEN) plötzlich in diesem Jahr mehr als 800 000 Flüchtlinge Diese Bundesregierung ist der größte Integrationsver- aus anderen Ländern, aus anderen Kulturkreisen zu uns, weigerer, und niemand anderes. um Schutz vor Verfolgung und ein besseren Leben zu su- chen. (Beifall bei der LINKEN) Sehen Sie, Frau Kollegin Zimmermann, das unter- Deshalb fordern wir erstens zügige Asylverfahren, Ab- scheidet uns: Wenn in Deutschland ein so blankes Elend schaffung jeglicher Arbeitseinschränkungen und -verbo- herrscht, wie Sie es beschreiben, dann frage ich mich, te sowie zweitens ausreichend Personal für die Jobcenter. warum die Menschen eigentlich in dieses Elend kommen. Seit Jahren fehlt ausreichendes Personal für die indivi- duelle Vermittlung und Unterstützung. Die Bundesländer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 13252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Karl Schiewerling (A) Ich kann mich nur wundern über Ihre Amnesie, wenn es und des BAMF in die Hand von Herrn Weise war eine (C) um die Frage geht, was bei uns Wirklichkeit ist. Sie ken- der wichtigsten und klügsten Entscheidungen, nen genau die Arbeitsmarktzahlen, und Sie kennen ge- nau die Entwicklung. Die Menschen wollen in ein Land (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) kommen, in dem Recht und Ordnung herrscht und in dem und zwar nicht nur, was die Person angeht, sondern auch sie eine Lebensperspektive haben. Die Lebensperspekti- deshalb, weil es einen sachlichen Zusammenhang zwi- ve sind Auszeichnungen für unser Land, weil wir offen- schen der Aufgabe des Amts für Migration und den sich sichtlich international, auch in der Frage der Gerechtig- danach, wenn alle Rechtsentscheidungen getroffen sind, keit, wesentlich besser dastehen als viele andere Länder. ergebenden Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit gibt. Warum kommen sie zu uns? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es gilt, all denjenigen ein herzliches Dankeschön zu Meine lieben Kollegen von der Linken, ich hätte we- sagen, die in diesem Bereich tätig sind und jetzt mit an- nigstens von Ihnen erwartet, sosehr Ihr Antrag einige packen, dass wir die Verfahren beschleunigen und nach durchaus richtige Impulse gibt, die wir in der Regierung vorne bringen. Das geht eben nicht, wie die Bundeskanz- aber schon längst aufgreifen, lerin zu Recht sagte, indem irgendein Hebel umgelegt (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Abgeschrie- wird: Und sofort ändert sich alles schlagartig und gleich- ben haben! – Gegenruf der Abg. Katja Mast zeitig. Wir müssen jetzt sehen, dass wir die Aufgaben der [SPD]: „Abgeschrieben haben“? Den Antrag Reihe nach lösen und mit Konsequenz bei den Beschlüs- gibt es seit gestern!) sen bleiben, die wir miteinander getroffen haben. dass Sie endlich einmal, auch in dieser schwierigen Si- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tuation, in der sich unser Land befindet, nicht mit Ihren ordneten der SPD) alten Klamotten aus der Kiste kommen. Meine Damen und Herren, es geht, was die Perspek- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tive betrifft, natürlich um die Integration in den Arbeits- markt. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Wir haben Wir sprechen von einem Land, in dem 600 000 freie zurzeit über 31 Millionen Menschen in sozialversiche- Stellen gemeldet sind, in dem Auszubildende in Handel, rungspflichtiger Beschäftigung. Wir haben 7,4 Millio- Handwerk und Gastronomie gesucht werden und in dem nen Menschen mit geringfügiger Entlohnung. Wir haben die Menschen langsam spüren, dass wir, wenn jüngere 2,6 Millionen Menschen, die arbeitslos sind, ja. Aber wir Menschen fehlen, vor großen Herausforderungen stehen, haben auch über 600 000 freie und offene Stellen. An (B) die wir nicht mit Computern werden beantworten kön- dieser Stelle soll und muss in aller Deutlichkeit gesagt (D) nen. Wir sprechen von einem Land, in dem 2,6 Millionen werden, weil es anders immer wieder in den Medien kol- Menschen arbeitslos sind, darunter 1 Million Langzeit- portiert wird: Niemand, der hier wohnt, muss um seine arbeitslose. Rente, um seinen Gesundheitsschutz, um die Hilfe der deutschen Sozialsysteme fürchten. Sie werden weiterhin Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, Ordnung in diese alle Unterstützung bekommen. Situation zu bringen. Gegen Panikattacken auch in unse- rem Land – das sage ich in verschiedene Richtungen – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) helfen nur ein klarer Kopf und eine ordnende Hand. Ich sage Ihnen, dass wir dabei sind, diese Ordnung hineinzu- Alle Befürchtungen, die an die Wand gemalt werden, bringen. Mein Vertrauen gilt hier voll und ganz der Bun- sind irreal. deskanzlerin und dem Handeln der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, natürlich ist das eine gro- (Beifall bei der CDU/CSU) ße Herausforderung. Die große Herausforderung für den Arbeitsmarkt wird sich in den kommenden Monaten Denn das Konzept ist eindeutig: Der Zustrom muss erstmals mit aller Wucht stellen. Damit wir diesen Her- durch internationale Rahmenabkommen gestoppt wer- ausforderungen gerecht werden, ist es wichtig, den Blick den. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in darauf zu richten, wie die Situation ist: Zu uns kommen ihren Ländern bleiben können. Wir brauchen eine euro- Menschen, von denen 80 Prozent kein Deutsch können päische Regelung, was die Aufnahme angeht, und wir und nicht die nötige Qualifikation mitbringen. Das weiß brauchen eindeutig auch eine Begrenzung des Zuzugs, auch die deutsche Wirtschaft. Ich nehme die deutsche damit wir denen, die hier sind, entsprechend helfen kön- Wirtschaft ernst, wenn sie sagt: Wir wollen alles tun, um nen. Wir können nur denen helfen, die tatsächlich eine diese Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. – Das Bleibeperspektive haben. Denjenigen, die keine Bleibe- ist natürlich bei jungen Menschen, die zuwandern, leich- perspektive haben, müssen wir sagen, dass wir Platz für ter als bei denjenigen, die vielleicht schon etwas älter die brauchen, deren Leib und Leben wirklich existenziell sind. Die Jungen können wir durch Vermittlung der deut- bedroht sind. schen Sprache in Ausbildung bringen. Dem 25-Jährigen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. 26-Jährigen, der zu uns kommt, der nie eine Berufsaus- Kerstin Griese [SPD]) bildung nach deutschem Verständnis gemacht hat, aber vielleicht schon seit mehr als zehn Jahren als Schweißer Für die allerdings müssen wir alles tun. Ich glaube, erfolgreich in seinem Heimatland tätig ist, müssen wir wir sind auf einem guten Weg. Ich sage Ihnen: Die Zu- die Perspektive geben, in Beschäftigung zu kommen, sammenlegung der Leitung der Bundesagentur für Arbeit aber gleichzeitig berufsbegleitend die deutschen Qua- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13253

Karl Schiewerling (A) lifikationen nachzuholen. Vorab muss er etwas Deutsch Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) lernen, aber das wichtige Lernen erfolgt im Beruf. Der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob die In- Meister im Betrieb ist oft der beste Deutschlehrer. tegration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt gelingt, hängt auch und nicht zuletzt vom gesellschaftlichen Kli- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ma ab. Dieses Klima ist gerade im Begriff zu kippen. Das Meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit wird liegt nicht nur an der großen Zahl von Flüchtlingen, die nach allen derzeitigen Prognosen um 0,1 Prozent steigen. jetzt zu uns gekommen sind. Das hat vor allen Dingen Das sind Perspektiven, die keinen Anlass zu Panikatta- und in erster Linie damit zu tun, dass die Menschen das cken geben, sondern die uns vor Herausforderungen stel- Gefühl haben, dass der Politik dieses Problem vollstän- len, unsere Aufgaben im Bereich der Arbeitsmarktpolitik dig entglitten ist. Dafür trägt diese Bundesregierung die zu lösen. Wir werden sie lösen, indem wir zunächst ein- Verantwortung. mal denjenigen, die Deutsch brauchen, auch die notwen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) digen Deutschkenntnisse vermitteln. Hier werden die entsprechenden Mittel in Höhe von 1,9 Milliarden Euro Herr Schiewerling, wenn Sie hier angesichts des Cha- zur Verfügung gestellt. Das werden wir in der nächsten os, das Sie in den letzten Wochen produziert haben, von Sitzungswoche, wenn der Haushalt verabschiedet wird, einer „ordnenden Hand“ sprechen, dann kann das doch beraten. Nach derzeitigem Plan wird der Haushalt der nur Selbstironie sein. Bundesarbeitsministerin 1,9 Milliarden Euro mehr erhal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten, um denjenigen, die arbeitslos werden, entsprechende Unterstützung zu geben und denjenigen durch Sprach- Sie produzieren hier Chaos, und dieses Chaos zahlt sich kurse und berufliche Integration zu helfen, Fuß auf dem für die AfD aus. Bei einer Aufgabe dieser Dimension deutschen Ausbildungsmarkt zu fassen. braucht es eine Regierung, die eine klare Haltung hat, Ich sage auch sehr deutlich: Das verlangt ein Um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – denken in den Köpfen mancher Leute. Wir werden Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Unter eu- auch manche Teilqualifikation brauchen. Wir werden rer Führung?!) auch – das ist überhaupt keine Frage – manche jungen die Zuversicht ausstrahlt, die die Chancen betont, und, Menschen haben, die wir über eine Einstiegsqualifikati- meine Damen und Herren, die Flüchtlinge sind eine rie- on ins Praktikum stecken, damit sie sich an die Situation sige Chance für dieses Land. auf dem deutschen Arbeitsmarkt gewöhnen und so ihre Per­spektiven langsam entwickeln können. Aber was wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht brauchen, ist eine Absenkung des Mindestlohns, sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Ich will aber betonen: Das ist natürlich kein Selbstläu- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- fer. Wenn wir die Fehler der Gastarbeiterpolitik aus den NEN) 60er-Jahren wiederholen und versuchen, die Menschen so schnell wie möglich wieder loszuwerden, wie es Herr weil dies nicht zu einer leichteren Integration führen de Maizière gerade tut, dann kann Integration nicht ge- würde, sondern zur Wettbewerbsverzerrung. lingen. Meine Damen und Herren, wir müssen die Perspekti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ven, die Chancen, die sich uns stellen, nutzen. Wir müs- sen mit ruhiger Hand handeln. Ich bin sicher, dass wir Wir müssen die Chancen nutzen; aber dafür müssen wir die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt meistern in die Talente und in die Potenziale der Menschen inves- werden, wenn wir nicht den Himmel voller Geigen ma- tieren. Wir müssen rechtliche und bürokratische Hürden len, sondern uns der Realität stellen, und zwar gemein- abbauen. sam mit den Akteuren, den Sozialpartnern und allen, die Herr Schiewerling, Sie haben darauf hingewiesen: Die Verantwortung tragen. Hälfte aller Flüchtlinge ist unter 25 Jahre. Sie sind hoch motiviert. Sie wollen dringend eine Ausbildung abschlie- Präsident Dr. Norbert Lammert: ßen, und viele von ihnen haben bereits einen Ausbil- dungsplatz. Was sie nicht haben, ist eine sichere Bleibe- Herr Kollege. perspektive. Betriebe und Flüchtlinge müssen jedes Jahr eine Abschiebung befürchten. Was glauben Sie, welche Karl Schiewerling (CDU/CSU): Betriebe das mitmachen sollen? Ich erlebe ganz viel guten Willen, hier etwas zu tun, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Gott gebe, dass dieser gute Wille möglichst lange sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE anhält. LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Was glauben Sie, welche Belastung Sie diesen jungen Menschen aufbürden? Präsident Dr. Norbert Lammert: Erklären Sie mir bitte einmal eines: Wieso gilt diese Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für geringe Duldung nur für Flüchtlinge bis 21 Jahre? Nur die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. einmal zum Vergleich: Von den deutschen Auszubilden- 13254 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Brigitte Pothmer (A) den beginnen fast 30 Prozent ihre Ausbildung im Alter Katja Mast (SPD): (C) von über 21 Jahren. Wieso darf das nicht für Flüchtlinge Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und gelten? Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lie- be Brigitte Pothmer, ich schätze Sie ja sehr wegen Ihres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) scharfen Verstandes und auch wegen Haben wir jetzt einen Fachkräftemangel? Müssen wir (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Hu- mehr junge Menschen ausbilden oder nicht? Von einer mor! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) offensiven Integrationspolitik sind Sie wirklich weit ent- fernt. Ihrer prägnanten Worte. Ich finde aber, dass eine Sache überhaupt nicht geht. Es geht nicht, dass Sie hier vorne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sagen, der Regierung sei die Situation vollkommen ent- Ich will eine weitere bürokratische Hürde ansprechen, glitten und es herrsche Chaos. Das weise ich an dieser die Vorrangprüfung, die wir, wie ich höre, Herrn ­Gabriel Stelle eindeutig zurück. zu verdanken haben. Sie wird damit begründet, dass Ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ringqualifizierte und Langzeitarbeitslose nicht das Ge- fühl bekommen sollen, dass sie wegen der Flüchtlinge Sie sind den Leuten auf den Leim gegangen, die jeden abgehängt werden. Glauben Sie mir: Diese Sorge neh- Tag mit neuen Vorschlägen versuchen zu vertuschen, wo- me ich wirklich sehr ernst. Eines ist doch klar: Chancen ran gearbeitet wird. Deshalb weise ich das hier auch so eröffnen Sie Geringqualifizierten und Langzeitarbeits- eindeutig zurück, Frau Kollegin Pothmer. losen, indem Sie in diese Menschen investieren, in ihre (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Qualifikationen, aber nicht durch eine Vorrangprüfung. Durch eine Vorrangprüfung schaffen Sie einfach eine Ich bin der Fraktion Die Linke dankbar, weil sie uns weitere Gruppe, die Sie abhängen. Das bringt gar nichts. die Möglichkeit gibt, heute nicht nur über innenpoliti- sche und aufenthaltsrechtliche Fragen zu diskutieren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern auch über die große Frage der Integration von sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Flüchtlingen in Deutschland. Dafür herzlichen Dank an LINKE]) dieser Stelle. Meine Damen und Herren, ungerechtfertigterweise Ich bin auch der Meinung, dass wir alle gemeinsam – läuft meine Zeit am Pult schon wieder ab. alle Demokratinnen und Demokraten – einen Fehler nicht wiederholen dürfen, nämlich den, den wir bei der (Heiterkeit – Michael Grosse-Brömer [CDU/ Gastarbeitergeneration gemacht haben, (B) CSU]: Das ist eine Mindermeinung, das mit (D) „ungerechtfertigterweise“!) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie sind gerade wieder dabei!) Diese Welt ist nicht gerecht. Lassen Sie mich deswegen zum Schluss kommen und Marcel Fratzscher vom DIW als wir geglaubt haben, dass Arbeiter kommen und wir zitieren: nichts für ihre Integration tun müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass Die Offenheit für andere Menschen, andere Kultu- Kinder und ihre Eltern bzw. diejenigen, die hier arbeiten, ren und andere Ideen war und ist ein wirtschaftli- nicht nur durch Arbeit integriert werden, sondern auch cher Erfolg unseres Landes. Es sind gerade die Re- darüber hinaus. gionen mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, die das höchste Einkommen (Beifall bei der SPD) und den höchsten Wohlstand haben. Was braucht man dazu? Man braucht dazu Sprache, Bil- dung, Arbeit und soziales Miteinander; davon bin ich fest Wissen Sie, was das größte Problem in diesem Lande überzeugt. ist? Dass diese Bundesregierung genau diese Offenheit für neue Kulturen, neue Ideen und andere Menschen Die Debatte – ich sage einmal „die Pseudodebatte“ – eben nicht hat! über die Frage, ob alle Syrer, die zu uns kommen, nun subsidiären Schutz bekommen sollten oder nicht, halte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich für falsch, nicht nur, weil damit Frauen und Kinder Damit verspielen Sie eine riesige, eine historische Chan- aufs Mittelmeer geschickt würden, sondern auch, weil sie ce für unser Land. integrationsfeindlich ist. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Warum ist sie integrationsfeindlich? Wenn Sprache, Bil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dung, Arbeit und soziales Miteinander der Schlüssel zur Integration sind, stellt sich doch die Frage: Kommen die Vizepräsident : Syrerinnen und Syrer, die zu uns kommen, auch irgend- Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Katja Mast. wie in Arbeit? Wenn sie aber einen Aufenthaltsstatus von nur einem Jahr haben – nichts anderes heißt „subsidiärer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schutz“; sie müssen jedes Jahr bangen, ob der Aufent- der CDU/CSU) haltsstatus verlängert wird –, dann gibt es – so zumindest Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13255

Katja Mast (A) in meinem Wahlkreis, Pforzheim und Enzkreis – kein machst, dann darfst du nicht nur drei Jahre bei uns blei- (C) Unternehmen, das auch nur einen von ihnen einstellen ben. – Ich fände es gut, wenn wir über „drei plus x Jahre“ würde; denn die wollen eine Bleibeperspektive auf län- diskutierten. Warum nicht „drei plus drei Jahre“? Für die gere Zeit. Deshalb braucht es zur Arbeitsmarktintegrati- Unternehmen bei mir in Pforzheim und im Enzkreis gilt: on auch sichere Bleibeperspektiven. Die bilden lieber aus, wenn die Leute auch eine Perspek- tive nach der Ausbildung haben. (Beifall bei der SPD) Was braucht man noch zur Integration? Ich finde, dass Nur so, nur durch eine Debatte über Bildung, Sprache, im Matthäus-Evangelium – Kapitel 25, Vers 35 – Richti- Arbeit, soziales Miteinander, Aufenthaltsstatus, „Per­ ges dazu steht. Dort steht nämlich: spektive geben“ werden wir die Chancen für unsere Ge- sellschaft nutzen und Fachkräfte der Zukunft ausbilden. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen ge- Wir alle werden dadurch bereichert. geben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt (Beifall bei der SPD) mich aufgenommen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Das sind jetzt nicht die vier Punkte der Integration, über die ich gerade gesprochen habe; und ich habe als Der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer spricht fünften Punkt das Aufenthaltsrecht hinzugefügt. Jetzt jetzt für die CDU/CSU. kommt der sechste Punkt: Natürlich müssen zuerst die (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Grundbedürfnisse befriedigt werden. Man muss zu essen Kerstin Griese [SPD]) haben, man braucht ein Dach über dem Kopf, und man muss aufgenommen und angenommen werden. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Aber heute geht es hauptsächlich darum, wie wir In- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pro- tegration in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gewähr- bleme, vor denen wir stehen, werden nicht über die kol- leisten. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir lektiven Erregungskulturen von Twitter und Facebook uns in Deutschland darüber unterhalten, wie wir einen gelöst. Sie werden nicht gelöst, wenn Flüchtlinge instru- Masterplan Integration gestalten. Wie setzen wir es denn mentalisiert werden, beispielsweise als Argument gegen um, dass Sprache, Bildung, Arbeit und soziales Mitein- den Mindestlohn oder aber für die Rente mit 70. Unsere ander für die Menschen Realität werden, die neu zu uns Probleme werden nicht gelöst durch die Nörgler, Wut- kommen und für unsere Gesellschaft viele Chancen er- bürger, Kulturkritiker, Überfremdungspropheten. Sie öffnen? Wie gehen wir eigentlich mit den 50 Prozent der werden nicht gelöst durch Angst und Ablehnung, nicht (B) Flüchtlinge um – um nur eine Zahl zu nennen –, die unter durch Hass und radikale Parolen. Sie werden aber sehr (D) 25 sind und bei uns eine Perspektive für ihr Leben haben wohl gelöst, wenn wir schrittweise die Fluchtursachen wollen und nicht nur einen Aufenthaltsstatus für ein Jahr reduzieren und die richtigen politischen Weichen für die oder ein halbes Jahr? Das sind die wichtigen Fragen, Integration stellen. wenn es um Integration geht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD) Zur Wahrheit gehört aber auch: Es wird nicht die eine Ich bin nicht bekannt dafür, dass ich zu viel aus der Lösung geben, die von heute auf morgen greift, und alle Bibel zitiere; aber ich will ein weiteres Zitat bringen. Probleme sind vom Tisch. Nein, es bedarf einer Reihe (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Maßnahmen, die mit der Zeit greifen werden, und NEN]: Was ist jetzt los, Katja?) darüber sprechen wir heute. Ich will dies aber nicht tun, ohne zumindest eines zu sagen: Ohne das zivilgesell- Im 3. Buch Mose steht: Für den Fremden gilt das glei- schaftliche Engagement ginge das alles nicht. Für mich che Recht wie für den Einheimischen. – Deshalb muss sind die vielen Freiwilligen die stillen Helden dieser von hier heute ein klares Nein ausgehen, wenn es darum Tage. Sie zeigen, dass Solidarität gelebt wird. geht, Arbeitsmarktstandards für Flüchtlinge nach unten zu schrauben und für Einheimische nicht. Heute muss (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie von hier das Zeichen ausgehen: Arbeitsmarktstandards der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE gelten für alle Menschen in Deutschland. GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD) Als Arbeitsmarktpolitiker müssen wir fragen: Wie können wir die Menschen, die zu uns kommen, in den Deshalb: Keine Absenkung des Mindestlohns und eine Arbeitsmarkt bringen? Dazu müssen wir uns zunächst Erhöhung des Mindestlohns dann, wenn es ansteht und einmal vergewissern: Über welche Gruppen sprechen im Gesetz steht! Da bin ich anderer Meinung als der wir, und über welche Größenordnungen sprechen wir? Sachverständigenrat der Bundesregierung. Wir wollen Menschen mit einer dauerhaften Bleibeper­ Wir brauchen keine neue Armee von Geringqualifi- spektive in den Arbeitsmarkt integrieren. Das bedeu- zierten. Wir brauchen einen schnelleren Arbeitsmarkt- tet im Umkehrschluss aber auch: Diejenigen, die keine zugang. Wir brauchen Ausbildungsinstrumente für die dauerhafte Perspektive haben, können nicht bleiben. Sie jungen Flüchtlinge, die bei uns sind, damit sie eine Per- müssen auf andere Wege verwiesen werden. Das haben spektive haben. Wir brauchen auch einen Aufenthalts- wir mit den Ländern des Westbalkans gemacht. Gleich- status, der da heißt: Wenn du bei uns eine Ausbildung zeitig haben wir einen anderen Zugang zum deutschen 13256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Matthias Zimmer (A) Arbeitsmarkt eröffnet, der wesentlich von unseren Inter- fahrung aus den 90er-Jahren hat auch gezeigt: Die Quote (C) essen bestimmt wird. derer, die eine Arbeit aufnahmen, lag nach einem Jahr bei 10 Prozent, nach fünf Jahren bei über 50 Prozent. Hier In der Diskussion geht das häufig durcheinander. Mein können wir durch schnellere Verfahren und frühzeitige Eindruck ist: Auch im Antrag der Linken ist das der Fall. Sprachangebote sicherlich noch viel besser werden; denn Da wird unter dem Oberbegriff „Flüchtling“ jeder erfasst, eines ist auch richtig: Viele der Menschen sind hochmo- der zu uns kommt, egal aus welchem Beweggrund. Ich tiviert und wollen arbeiten. Um dies zu ermöglichen, bin sehr dafür, genau zu trennen zwischen den Schutzbe- haben wir die Mittel im Eingliederungstitel erhöht, und dürftigen und denjenigen, die vornehmlich aus ökonomi- zwar um insgesamt 900 Millionen Euro. Die Linke for- schen Gründen kommen. Wir haben eine Verpflichtung dert in ihrem Antrag eine Erhöhung um 1,7 Milliarden gegenüber denjenigen, die an Leib und Leben bedroht Euro. Das liegt an dem alten Irrglauben, dass mehr auch sind aufgrund von Krieg oder Verfolgung. Aber wir kön- immer gleich besser ist. nen die ökonomischen Probleme europäischer Anrainer- staaten nicht in der Bundesrepublik Deutschland lösen. Nun sagen einige nicht unbedeutende Stimmen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Deutschland könne mit den Flüchtlingen zum Teil auch ordneten der SPD) sein demografisches Problem lösen. Richtig ist: Ein Großteil der Flüchtlinge ist unter 25 und kann damit Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir sämtliche dem Arbeitsmarkt noch lange erhalten bleiben. Forscher Beschränkungen, Arbeitsverbote und Nachrangigkeitsre- haben errechnet: Wir brauchen pro Jahr eine Zuwande- gelungen für Flüchtlinge generell abschaffen, wie es die rung in einer Größenordnung von 270 000 qualifizierten Linken in ihrem Antrag fordern, produzieren wir Chaos. Menschen, damit wir die Sozialsysteme stabilisieren und Das kann man wollen, die Voraussetzungen für ein stetiges Wachstum schaffen können. Freilich wissen wir nicht, wie viele der Men- (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein!) schen, die wir fördern und in den Arbeitsmarkt integrie- weil man Klassenkampf für eine schicke Idee hält oder ren, sich dazu entscheiden, dauerhaft bei uns zu bleiben. weil man der Meinung ist, die Aufnahmekapazität des Ich meine aber, selbst wenn Flüchtlinge nach einiger Arbeitsmarktes einmal austesten zu können. Wir jeden- Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren, ist ihre vorü- falls wollen dies aus guten Gründen nicht. bergehende Integration in unseren Arbeitsmarkt gut in- vestiertes Geld. Wenn ein Flüchtling als gut ausgebildete Der erste und wichtigste Schritt der Integration ist: Fachkraft zurückkehrt, ist das vielleicht kein schlechter Sprachkenntnisse vermitteln und Qualifizierungsbedar- Beitrag zum Aufbau eines zerstörten Landes, und wenn fe feststellen. Deshalb war es gut, dass das Bundesamt er zurückkehrt und erleben konnte, wie Demokratie, So- für Migration und Flüchtlinge die Integrationskurse für lidarität und Rechtsstaatlichkeit funktionieren, ist das (B) Asylbewerber und Geduldete mit einer guten Bleibeper- (D) vielleicht ein Beitrag zu einer friedlicheren politischen spektive geöffnet hat und hierfür auch die Mittel aufge- Kultur, die aus sich heraus keine Fluchtursachen mehr stockt worden sind. produziert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das schnelle Erlernen der deutschen Sprache ist der Kö- Doch zurück zum Antrag der Linken. Er enthält eini- nigsweg in den Arbeitsmarkt. ges, aber nicht sehr viel Vernünftiges. Geärgert hat mich, dass beinahe ohne Zusammenhang die Forderung nach Der zweite wichtige Schritt ist, sich die Frage zu Erhöhung des Mindestlohns auf 10 Euro auftaucht. stellen: Mit welchen Qualifikationen kommen die Men- schen? Nun sind wir ein Land, in dem formale Qualifika- (Kerstin Griese [SPD]: Alles Textbausteine!) tionen wichtig genommen werden, manchmal wichtiger Ich habe langsam den Verdacht, das schreiben Sie auch als die berufliche Erfahrung. Deswegen ist es aus meiner bei Anträgen zum Schutz der Freizeitaquaristik oder der Sicht wichtig, Berufserfahrungen, Teilqualifikationen Förderung des Schachspiels. und Zertifikate abzufragen, um sich dann ein genaues Bild davon zu machen, was getan werden muss. Ich bin (Dr. [DIE LINKE]: Wenn’s hilft!) im Übrigen froh, dass die Bundesministerin für Bildung Sie fordern Zwangsabgaben für Arbeitgeber – ja, auch und Forschung in den nächsten Tagen ein ressortüber- das kommt mir bekannt vor – und natürlich die höhere greifendes Programm dazu vorstellen will. Besteuerung von Unternehmen und Vermögenden. All Die spannende Frage aber ist: Über wie viele Men- das sind eher Beiträge dazu, die Gesellschaft zu spalten, schen reden wir, was die Integration in den Arbeitsmarkt obwohl es doch jetzt darauf ankäme, bei der Bewältigung angeht? Wenn ich von einer augenblicklichen Zahl von dieser Herausforderung alle mitzunehmen. 850 000 Flüchtlingen ausgehe und unterstelle, dass die (Beifall bei der CDU/CSU) Schutzquote bei etwa 50 Prozent liegt und 70 Prozent da- von erwerbsfähig sind, komme ich auf eine Zahl von etwa Wir haben mit Blick auf die Bewältigung des Flücht- 300 000 Neuzugängen in den Arbeitsmarkt. Nun muss in lingsproblems einen langen Weg vor uns. Es gibt keine Rechnung gestellt werden: Nicht alle werden tatsächlich Abkürzung, auch wenn uns die schrecklichen Vereinfa- bleiben, zumal dann nicht, wenn sich die Verhältnisse in cher dies glauben machen wollen. Jeder lange Weg be- ihren Heimatländern bessern. Das hat uns die Erfahrung ginnt mit den ersten Schritten. Wir gehen diese Schritte mit den Bosniern in den 1990er-Jahren gelehrt. Die Er- mit den vielen Freiwilligen, wir gehen sie mit den Mitar- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13257

Dr. Matthias Zimmer (A) beitern und Mitarbeiterinnen der kommunalen, Landes- Wer sich auf der einen Seite hierhinstellt und ständig das (C) und Bundesbehörden, denen in diesen Wochen sehr viel Mantra „Wir schaffen das“ vorträgt, aber auf der anderen abverlangt wird. Wir gehen diese Schritte mit den Flücht- Seite dieses Staatsversagen selbst organisiert, der muss lingen, die unsere Hilfe brauchen, und mit allen, die mit sich schon fragen lassen, welches Ziel er verfolgt. Wer uns davon überzeugt sind: Ja, wir schaffen das. jetzt fordert, wie beispielsweise die Wirtschaftsweisen, den Mindestlohn für Flüchtlinge zu senken, die Miet- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – preisbremse aufzuheben, Sozialleistungen zu senken und Katja Mast [SPD]: Und wir machen das!) die Regelungen hinsichtlich des Renteneintrittsalters zu- rückzunehmen, der befördert nicht nur Ungleichheit und Vizepräsident Johannes Singhammer: Rassismus in diesem Land, sondern versucht auch noch, Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin aus dem Elend der Flüchtlinge Kapital zu schlagen. Sevim Dağdelen. (Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss (We- (Beifall bei der LINKEN) sel I) [CDU/CSU]: Das machen Sie doch! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ma- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): chen Sie doch auch! Ihr seid doch genauso Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! schlimm wie die AfD!) Es tut dem Bundestag gut, auch einmal einen Gefolgs- Sie müssen dieser Politik der Bundesregierung klar und mann der Bundeskanzlerin aus der CDU/CSU-Fraktion deutlich eine Absage erteilen, anstatt alles nachzureden. hier reden zu hören – (Beifall bei der LINKEN) (Kerstin Griese [SPD]: Schon zwei!) Fast jeden Tag kommt ein neuer Vorschlag der Bun- im Gegensatz zur gestrigen Aktuellen Stunde im Bundes- desregierung, der sich gegen die soziale Integration von tag, in der man sich offenbar darum bemühte, die Kanz- Flüchtlingen richtet. Das neue Asylverfahrensbeschleu- lerin zu demontieren. nigungsgesetz ist für viele Flüchtlinge schlicht ein Inte­ So tat es beispielsweise Bundesinnenminister grationsverhinderungsgesetz. de ­Maizière, der in der Aktuellen Stunde seine Ableh- nung des Familiennachzugs für syrische Flüchtlinge wie (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nur folgt begründete: für die ohne Bleibeperspektive!) Einen Nachzug in die Arbeitslosigkeit und damit in Die verlängerten Lageraufenthalte, ausgeweiteten und die Perspektivlosigkeit sollte es nicht geben. dauerhaften Arbeitsverbote, die von drei auf sechs Mo- (B) nate verlängerte Residenzpflicht bezogen auf den Ort der (D) Ich finde, das ist eine wirklich bemerkenswerte- Ar Erstaufnahmeeinrichtung, die Umstellung auf Sachleis- gumentation, und frage mich, wieso Sie den Menschen tungen und die verfassungswidrigen Leistungskürzungen eigentlich nicht reinen Wein einschenken. Erst durch das werden nicht zur Integration führen, sondern bedeuten Arbeitsverbot, das diese Bundesregierung schafft, die eine Desintegration mit Methode. Nachrangregelungen, verweigerte Sprachkurse und auch die überlangen Asylverfahren werden die Flüchtlinge (Beifall bei der LINKEN) zwangsweise zu Empfängern staatlicher Transferleistun- gen. Erst verhindern Sie die schnelle Arbeitsmarktinte­ Jeder Schritt, der das Warten der Flüchtlinge in den La- gration von Flüchtlingen, und dann kolportieren Sie das gern, in den Turnhallen und in den Unterkünften verlän- Vorurteil, Flüchtlinge würden das Sozialhilfesystem in gert, ist Gift für die Integration. Deutschland ausnutzen. Ich finde, statt rechtspopulisti- (Kerstin Griese [SPD]: Das Wort „Lager“ ist scher Stimmungsmache sollten Sie endlich handeln – für ein böses Wort!) soziale Integration in diesem Land. Heben Sie die Ar- beitsverbote auf, meine Damen und Herren. An dieser Stelle möchte ich gerne aus einem Brief ei- nes Flüchtlings an die WDR-Journalistin Isabel ­Schayani, (Beifall bei der LINKEN) die ihn veröffentlicht hat, zitieren. Sie schreibt: Wir sollten die aktuelle Situation zum Anlass nehmen, Ein höflicher Mensch, der aber am Ende seines den Sozialstaat in Deutschland insgesamt zu erneuern. Briefes schrieb: „Über lange Zeit nur zu essen und (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie in­ zu schlafen, ohne arbeiten und lernen zu können, stru­mentalisieren die Flüchtlinge genauso wie führt dazu, dass die Menschen sich schlecht beneh- die anderen! Das ist unglaublich! Die Men- men und psychische Probleme haben. Sie können so schen sind Ihnen nicht wichtig!) eine Gefahr für die Gesellschaft werden. Wenn die Regierung ihnen das Arbeiten ermöglichen würde, Dafür brauchen wir eine Millionärsteuer, meine Damen dann könnten sie gesund und produktiv sein, wäh- und Herren; denn wir brauchen bezahlbaren Wohnraum rend ihr Asylverfahren geklärt wird. Aber wenn je- für alle in Deutschland, mand überhaupt nichts zu tun hat, dann versucht er, (Beifall bei der LINKEN) etwas zu tun. Es könnte gut und es könnte schlecht sein.“ eine Gesundheitsversorgung für alle in diesem Land und Bildung und existenzsichernde Arbeit für alle Menschen. (Beifall bei der LINKEN) 13258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Sevim Dağdelen (A) Ich finde, alle Ihre Vorschläge zielen in dieselbe Rich- Erstens will ich Ihnen erzählen von einem sehr inte- (C) tung: Abwehr und Abschottung und vor allen Dingen ressanten Besuch beim Integration Point in Düsseldorf. Desintegration. Hören Sie damit auf; denn Sie organi- Das ist ein neuer Ansatz. Dort arbeiten die Arbeitsagen- sieren die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge. Vor allen tur, das Jobcenter und die Kommunale Ausländerbehör- Dingen bringen Sie den sozialen Frieden in Deutschland de zusammen. Ein schönes, buntes Symbol macht klar: in Gefahr, weil Sie das Land mit dieser Politik spalten. Hierhin können alle Flüchtlinge kommen. Hier wird ver- netzt beraten. Hier muss man nicht von Amt zu Amt lau- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – fen. – Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen sogar ­Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lesen in die Flüchtlingsunterkünfte, Sie in Ihrer Rede noch einmal nach, wer hier spaltet!) (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: So ist es!) Sie sollten mit dieser selektiven Integrationspolitik auf- hören. Selbst Asylsuchenden aus Afghanistan und Soma- bieten dort Beratungsstunden an und gucken, welche lia wird ein Sprachkurs während des Verfahrens verwei- Qualifikationen die Leute haben. Ich will an dieser Stelle gert. Das ist doch schlicht das Gegenteil von Integration. allen danken, die jetzt vor Ort solche Konzepte entwi- ckeln. Das ist der richtige Weg. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deshalb sagen wir: Hören Sie auf mit den Arbeitsver- boten! Hören Sie auf mit der Stimmungsmache gegen Mit diesem Ansatz des Integration Points startet man Flüchtlinge; in Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, Dortmund und Herford. Dies wird dann flächendeckend im ganzen Land (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Hören angeboten. Das ist genau richtig. Selbst für uns ist es ja Sie auf, so einen Quatsch zu reden!) schwierig, herauszufinden, welche Behörde für die An- denn Sie selbst sind dafür verantwortlich, dass sie nicht erkennung der einzelnen Berufsabschlüsse zuständig arbeiten dürfen und keine Perspektive haben. ist. In diesen Integration Points wird das Angebot zu- sammengefasst. Ganz besonders wichtig ist der kurze Vielen Dank. Draht zwischen der Arbeitsagentur und dem Jobcenter (Beifall bei der LINKEN) auf der einen Seite und der Kommunalen Ausländerbe- hörde auf der anderen Seite; denn wir haben Unterneh- Vizepräsident Johannes Singhammer: men, die Flüchtlinge beschäftigen wollen, und Betriebe, die Flüchtlinge ausbilden wollen. Wir haben auch Men- Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Kerstin Griese. schen, die sich darum kümmern wollen, dass Flüchtlinge (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten durch Praktika unsere Sprache lernen, damit sie sich bes- (D) der CDU/CSU) ser integrieren können. Wir tun jetzt alles, was geht, um sie zu unterstützen. Kerstin Griese (SPD): (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- NEN]: Aber warum haben wir dann die Hür- be Frau Dağdelen, ich habe mich bei Ihrer Rede und auch den, Kerstin?) bei der Rede von Frau Zimmermann gefragt: Wo leben Sie eigentlich? Deshalb sage ich: Es geht um Perspektiven. Es geht da- rum, dass entsprechende Strukturen geschaffen werden. (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Ja!) Ich will Ihnen ein zweites Beispiel nennen, das Pro- Wer schürt denn hier Rassismus? Ihr Herr Lafontaine hat gramm „Early Intervention“, das jetzt ebenfalls zu einem gerade wieder Obergrenzen für Flüchtlinge gefordert, flächendeckenden Angebot ausgebaut wird: Die -Mitar weil sonst nichts mehr geht. Das ist die falsche Forde- beiter der Jobcenter sprechen Flüchtlinge mit einer guten rung. Uns geht es darum: Wir schaffen das. Wir machen Bleibeperspektive an, suchen sie auf, schauen, welche das. Wir tun echt etwas für die Integration von Flücht- Qualifikationen sie haben, und fragen: Wie können wir lingen. weiterhelfen? Bedarf es weiterer Qualifizierungen? Wie können sie in Arbeit kommen? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- ruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) Mein dritter Punkt ist der Spracherwerb. Meine Kol- legin Katja Mast hat es schon gesagt: Sprache, Bildung, Jetzt benutzen Sie auch noch die Flüchtlinge, um, wie Arbeit und soziale Integration, das sind die zentralen immer, Ihren Textbaustein zur Millionärsteuer und zum Punkte, um die es geht. Deshalb investieren wir jetzt mit höheren Mindestlohn unterzubringen. Das geht so wirk- Absicht so viel mehr in den Spracherwerb. Die Men- lich nicht. schen sollen früh und schnell die deutsche Sprache ler- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nen. Das ist der richtige Weg, das ist der praktische Weg zu Integration. Ich will Ihnen einmal sagen, was wir tun, damit wir das schaffen, und Ihnen das an fünf Beispielen klarma- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) chen: Wir haben die Integrationskurse und die berufsbe- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Eine Schan- zogenen Sprachkurse geöffnet. Es wird ein Gesamtpro- de für die SPD!) gramm Sprache geben. Es ist gut, dass demnächst nicht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13259

Kerstin Griese (A) nur wie bisher die anerkannten Asylbewerber die Sprach- Das sind mit um die 90 Prozent Anerkennung Flüchtlin- (C) kurse besuchen können, sondern dass wir den Kreis der ge aus Eritrea, aus Syrien und aus dem Irak. Dann gibt Berechtigten erweitert haben. Auch geduldete Asylbe- es eine Gruppe jener, die als solche mit schlechter Blei- werber mit guter Bleibeperspektive können an diesen beperspektive gelten. Hier liegt die Anerkennungsquote Sprachkursen teilnehmen. unter einem halben Prozent. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Aber warum Sie sprechen eine Gruppe an, über die meines Erach- nur die?) tens noch zu sprechen sein wird. Die Anerkennungsquo- Das ist der richtige Schritt, damit sie schneller in Arbeit te afghanischer Flüchtlinge liegt nahe an den 50 Prozent. kommen. Ich fände es daher gut, wenn wir die Maßnahmen auch für diese Gruppe öffnen würden. Darüber wird in der Lassen Sie mich einen vierten Punkt nennen. Die Bun- Koalition zu sprechen sein. Denn in der Tat: Das sind desagentur für Arbeit hat Geld zur Verfügung gestellt, um Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger hier auch in diesem Jahr vermehrt Sprachkurse anbieten zu bleiben werden. Wir wollen, dass sie dann hier auch ar- können; denn wir haben gemerkt, dass der Schritt vom beiten können und eben nicht nur ohne Beschäftigung in ersten Integrationskurs zum berufsbezogenen Sprach- ihren Unterkünften sitzen. kurs verbessert werden muss. Deshalb gilt mein herzli- cher Dank der Bundesagentur für Arbeit dafür, dass sie (Beifall bei der SPD – Brigitte Pothmer dies so intensiv unterstützt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Un- terstützung haben Sie!) (Beifall bei der SPD) – Das freut mich. Ich werbe auch um Unterstützung durch den Rest des Hauses. Ich sehe überall zuckende

Vizepräsident Johannes Singhammer: Hände, das ist gut. Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischenfra- ge der Kollegin Pothmer? Ich möchte weiter auf die Maßnahmen eingehen, die wir konkret ergreifen. Ein ganz wichtiger fünfter Punkt: Kerstin Griese (SPD): Wir werden den Eingliederungstitel für die Jobcenter er- höhen, damit Flüchtlinge gut beraten werden. Wir werden Aber gerne. auch – das ist mir ganz wichtig – die Mittel für die Bun- desagentur für Arbeit und für die Jobcenter aufstocken, Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sodass wir 2 800 zusätzliche Stellen in den Jobcentern Frau Kollegin Griese, Sie haben gerade angespro- und etwa 1 000 Stellen in den zugelassenen kommuna- (B) chen, dass jetzt auch Flüchtlinge, die noch nicht an- len Trägern aufbauen werden. Das ist deshalb so wichtig, (D) erkannt sind, aber eine gute Bleibeperspektive in weil wir bei der Beratung und Vermittlung von Langzeit- Deutschland haben, Zugang zu Sprachkursen und zu arbeitslosen nicht kürzen werden. Wir werden diese ge- Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik haben. nauso wie bisher durchführen und sogar ausbauen. Wir Sie wissen, dass ich das begrüße. Aber finden Sie es ei- sorgen für zusätzliche Mitarbeiter, die Flüchtlinge bera- gentlich angemessen und richtig, dass Sie eine 50-Pro- ten. Es ist mir wichtig, dass die beiden Gruppen nicht zent-Quote eingeführt haben? Sie wissen vielleicht, gegeneinander ausgespielt werden. Keiner in Deutsch- dass afghanische Flüchtlinge eine Anerkennungsquote land muss Angst haben, dass wir uns weniger um ihn von 46,7 Prozent haben, also knapp unter den 50 Pro- kümmern, weil wir uns jetzt besonders intensiv um die zent liegen. Die Anerkennung afghanischer Flüchtlinge Flüchtlinge kümmern. dauert derzeit länger als 14 Monate. Das wird sich so schnell leider auch nicht ändern. Halten Sie es für rich- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gabriele tig, dass also knapp 50 Prozent dieser Menschen kei- Schmidt (Ühlingen) [CDU/CSU]) nen Zugang zu Sprachkursen und zu Fördermaßnahmen haben, mit all den negativen Folgen, die wir hier schon Vizepräsident Johannes Singhammer: so oft beschrieben haben? Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine weitere Zwi- schenfrage der Kollegin Hänsel? Kerstin Griese (SPD): Liebe Frau Kollegin Pothmer, Sie sprechen einen Kerstin Griese (SPD): wichtigen Punkt an; denn in der Tat sind unsere gesetzli- chen Entwicklungen so ausgerichtet, dass wir den Flücht- Ja, bitte. lingen mit guter Bleibeperspektive sehr viel schneller als bisher die Teilnahme an Sprachkursen und die Integra- Heike Hänsel (DIE LINKE): tion in arbeitsmarktfördernde Maßnahmen ermöglichen. Bei Flüchtlingen mit schlechter Bleibeperspektive wol- Danke schön, Herr Präsident. – Sie sprachen von len wir die Verfahren beschleunigen, sodass sie schneller Flüchtlingen mit guter Bleibeperspektive; wobei man Rechtssicherheit haben. Das finde ich auch richtig. sich grundsätzlich fragen muss, nach welchem Raster Flüchtlinge eingeordnet werden. Ich muss sagen, das jet- Im Moment wird so gerechnet, dass zu jenen mit guter zige Verfahren finde ich sehr bedenklich. Das sind Men- Bleibeperspektive – Sie haben es gesagt – diejenigen ge- schen, die hier sind. Die Einteilung in Bleibeperspekti- hören, deren Anerkennungsquote über 50 Prozent liegt. ven ist in meinen Augen abzulehnen. 13260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Heike Hänsel (A) Zu meiner konkreten Frage. Wenn Dublin III für syri- Regeln auf dem Arbeitsmarkt gelten für alle. Diese Ord- (C) sche Flüchtlinge wieder eingeführt wird, dann wird vor nung auf dem Arbeitsmarkt werden wir selbstverständ- das Asylverfahren erst einmal eine entsprechende Prü- lich beibehalten. fung vorgeschaltet. In dieser Zeit ist es nicht möglich, Spracherwerb zu machen oder zu arbeiten. Es dauert (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann wieder Monate. Da frage ich mich: Ist das eine der CDU/CSU) schnelle Integration auch für die Gruppe von Flücht- lingen, bei der es im Grunde eine Anerkennungsquote Deshalb sage ich: Es geht um praktische Maßnah- von 100 Prozent gibt? Was ist das schon wieder für eine men. Es geht darum, dass jetzt alle zusammenhalten, die bürokratische Verzögerung? Das führt im Grunde dazu, Zivilgesellschaft, die schon zu Recht so gelobt worden dass die Menschen wieder zum Nichtstun verdammt ist, unsere kommunalen Behörden, unsere Arbeitsämter werden, nur weil es aus dem Geiste der Abschottung und und Jobcenter. Sie alle müssen jetzt zusammen an dieser Abschreckung heraus neue Überlegungen des Innenmi- wichtigen Aufgabe arbeiten. Wir investieren viel in neue nisters gibt, diese Menschen hier jetzt untätig zu halten. Stellen und stellen zusätzliche Mittel bereit. Wir wollen Wenn Sie sagen, dass es für die mit guter Bleibeperspek- das schaffen, und deshalb machen wir das. tive jetzt eine schnelle Integration gibt, stimmt das über- Vielen Dank. haupt nicht; denn jetzt wird wieder die Dublin-Prüfung vorgeschaltet. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Kerstin Griese (SPD): Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin Hänsel, der Geist, in dem wir in der Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Arbeitsmarktpolitik und in der Sozialpolitik über dieses Luise Amtsberg. Thema diskutieren, ist der Geist, dass wir die Menschen gut integrieren wollen, dass wir sie schnell integrieren wollen, dass wir ihnen Sprachkurse, Arbeitsmarktinteg- Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ration und soziale Teilhabe ermöglichen. Dafür tun wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! alles. Ich habe Ihnen eine Menge Beispiele gezeigt, wo Wenn man mit Flüchtlingen in den Erstaufnahmeeinrich- das auch schon gut läuft. Das werden wir weiter ausbau- tungen und Gemeinschaftsunterkünften über ihr Leben en. in Deutschland und das, was sie von der Zukunft erwar- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – ten, spricht, ist das Erste, was man feststellt: Flüchtlin- ge wollen arbeiten. Ein Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz (B) ­Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Für oder ge- (D) gen Dublin?) ist die beste Integration in unsere Gesellschaft. Deswe- gen begrüßen wir ausdrücklich den besseren Zugang zu Deshalb möchte ich erwähnen – auch das ist ein Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung und zu Integra- wichtiger Punkt –, dass wir für die Menschen aus den tionskursen für viele Flüchtlinge. Das Hereinkommen Westbalkanländern eine Möglichkeit der legalen Arbeits- in den Arbeitsmarkt bedeutet für viele – deshalb ist die migration geschaffen haben. Auch das erleichtert das Motivation da sehr hoch – den Herausfall aus den Abhän- Bearbeiten der vielen, vielen unerledigten Anträge, die gigkeiten von sozialen Leistungen: raus aus den Erstauf- es beim BAMF gibt; denn es ist besser, wenn die Leu- nahmeeinrichtungen, rein in ein selbstbestimmtes Leben. te auf dem Westbalkan wissen, dass sie, wenn sie einen Deshalb ist es schön, festzustellen, dass die Motivation Arbeitsplatz in Deutschland haben, einen Antrag auf le- da ist und wir nur noch den richtigen Weg brauchen, um gale Zuwanderung durch Arbeit stellen können. Das ist diese umzusetzen. der richtige Weg gerade für die Menschen, die aus die- sen Ländern zu uns kommen wollen. Das ist ein guter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und wichtiger Schritt, übrigens auch ein erster Schritt in Richtung eines Einwanderungsgesetzes. Trotzdem muss man, wenn man diese Debatte hier verfolgt, sagen: Bei aller Einigkeit im Ton ist es doch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) so, dass man nicht von Obergrenzen, Belastungsgrenzen oder irgendwelchen anderen Grenzen sprechen kann, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den wenn man nicht alle Maßnahmen, die möglich sind, aus- letzten Wochen viele gesetzliche Regelungen geschaf- geschöpft hat, um diese Herausforderung, der wir jetzt fen, die für Asylbewerber und Geduldete – ich betone gegenüberstehen, zu bewältigen. Ich würde mir einfach das noch einmal – leichter und schneller den Zugang zu wünschen, dass Sie mehr auf die Bundesagentur für Ar- Spracherwerb, zur deutschen Sprache schaffen und die beit, auf die Unternehmen und die Verbände und Betriebe dafür sorgen, dass ihre Qualifikationen frühzeitig fest- hören, die sagen: Die Vorrangprüfung ist ein unnötiges gestellt werden. Viele bringen ja auf ihren Smartphones bürokratisches Hindernis. Fotos ihrer Zeugnisse aus dem Heimatland mit und le- gen sie hier vor, damit man sehen kann, welche Ausbil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dung sie haben. Wir haben beschlossen, dass sie auf ih- rem Weg in Arbeit gefördert werden. Wir sehen da auch Passend dazu hat es das Bleiberecht für junge Auszubil- viel Kooperation vonseiten der Wirtschaft. Ich sage ganz dende, für junge Flüchtlinge bedauerlicherweise nicht in klar: Egal ob jemand bei uns aufgewachsen ist oder zu das letzte Gesetzespaket geschafft. Eine Duldung – das uns gekommen ist, der Mindestlohn gilt für alle. Diese muss man hier ganz deutlich sagen – ist für die Betrie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13261

Luise Amtsberg (A) be – da kann man jeden einzelnen fragen – keine sichere Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus der (C) Bleibeperspektive. Innenpolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Macht nichts! Man kann sich ja noch verbessern!) Unternehmen und ihre Verbände, ganz besonders auch die Industrie- und Handelskammern und die Handwer- Deshalb finde ich es schön, dass, wenn das stimmt, der kerschaft, weisen zu Recht auf die Chancen hin, die sich Geist in der Sozialpolitik ein anderer ist als in der Innen- aus der Altersstruktur von Flüchtlingen in Deutschland politik; dort ist das ein bisschen anders. Innenpolitik und für den Arbeitsmarkt ergeben. asylrechtliche Fragen müssen mit dieser Frage zusam- mengedacht werden. Die Kammern verfügen zusammen mit den bei ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN organisierten Unternehmen über hervorragende Struk- sowie bei Abgeordneten der SPD) turen, Flüchtlingen den Eintritt in das Arbeitsleben zu erleichtern. Deshalb sollten Wirtschaft und Kammern Wenn ich sehe, dass wir bisher die Gruppe der syri- ihren Teil der Verantwortung tragen, gemeinsam mit schen Bürgerkriegsflüchtlinge besonders in den Fokus dem Bund. Wir Grünen haben deshalb vorgeschlagen – gerückt haben – das war ja auch Konsens hier im Haus – um nicht nur zu meckern –, dass man einen Deutsch- und gesagt haben: „Da müssen wir besonders in Inte­ land-Fonds für Integration auflegt, getragen von Unter- gration investieren, die berufliche Qualifikation dieser nehmen und vom Bund, der – gerade weil hier ja auch Menschen muss schnell festgestellt werden, und diese immer wieder angesprochen wurde, dass die Sprache ein Menschen sollten so schnell wie möglich Deutsch lernen zentraler Schlüssel ist – Kommunen und Initiativen of- und in den Arbeitsmarkt integriert werden“, dann ist das fenstehen soll, um zum Beispiel die Sprachförderung und ein Widerspruch zu dem, was jetzt vom Innenminister die berufliche Aus- und Weiterbildung für die Menschen bezüglich syrischer Asylsuchender geplant ist. zu finanzieren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Asylverfahren werden deutlich länger dauern; wir die keine oder nur geringe Sprachkenntnisse vorweisen reden hier nicht von ein paar Wochen, wir reden hier von können. Monaten der verschenkten Zeit. Es bleibt die Ungewiss- heit zurück, ob man nach Ungarn oder Bulgarien zurück- Da gebe ich dem Kollegen Schiewerling ja recht: Die geführt wird und ob man seine Familie in absehbarer Zeit Sprache ist das zentrale Moment, und ihr Erlernen wird wiedersieht – denkbar schlechte Voraussetzungen für die (B) natürlich hauptsächlich in der praktischen Arbeit selbst Konzentration auf Integration in Deutschland. (D) erfolgen. Bloß, man muss auch einmal mit der Praxis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprechen: Die Handwerkerschaft sagt, dass es für sie ein sowie bei Abgeordneten der SPD) Problem ist, Ausbildungs- oder Arbeitsplätze zur Verfü- gung zu stellen, denn Menschen, die die Grundlagen der Um es wieder konstruktiv zu machen: Wir Grünen for- deutschen Sprache nicht beherrschen, können auch nicht dern verschiedene Punkte: Das Erlernen der deutschen mit Kunden kommunizieren. Da haben Betriebe einfach Sprache muss ab dem ersten Tag ermöglicht werden. eine Riesenbarriere. Das heißt, irgendeine Grundvoraus- Denn die Realität zeigt: Auch wenn Menschen hier in setzung müssen wir auf den Weg bringen. Da hakt es an Duldung leben, leben sie Jahre hier. Das ist eine ver- allen Ecken und Enden. Wenn in der Vereinbarung der schenkte Zeit. Das hilft ihnen auch nicht dabei, an ihrer Parteichefs geschrieben wird, dass es eine Beteiligung Bleibeperspektive in Deutschland zu arbeiten. Potenziale an den Kosten von Integrationskursen geben soll, dann müssen so früh wie möglich erfasst werden. Wenn wir ist das doch genau das Gegenteil von dem, was wir hier mit der Handwerkerschaft sprechen, erleben wir, dass eigentlich erreichen wollen. gesagt wird – es gibt übrigens etwa 1 000 unbesetzte Ausbildungsstellen in Schleswig-Holstein –: Wir wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausbilden. Aber wir wissen überhaupt nicht: Wo sind die sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Leute, und was bringen sie mit? Gibt es überhaupt je- manden für meinen Betrieb? – Diese Fragen müssen so Laut Bundesagentur für Arbeit verfügt rund die Hälfte schnell wie möglich geklärt werden. Da muss auch eine der Flüchtlinge über eine akademische oder berufliche Verbindung hergestellt werden. Ausbildung. Das Modellprojekt „Early Intervention“ wurde angesprochen. Dort haben 40 Prozent der Teil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nehmerinnen und Teilnehmer einen Hochschulabschluss, ein weiteres Viertel eine Berufsausbildung. Ich bin fest Qualifikationen müssen schnell und unbürokratisch davon überzeugt, dass diese Menschen mit der richtigen anerkannt werden; da sind wir uns, denke ich, alle einig. Unterstützung schnell die Chance haben, selbstständig in Wenn bestimmte Teilqualifikationen fehlen, dann müs- Deutschland zu leben. sen diese unkompliziert nachgeholt werden können. Die Finanzierung der Weiterbildung überfordert viele Flücht- (Katja Mast [SPD]: Das kommt ja auch! – linge, Asylsuchende und Geduldete und zwingt sie in der Kerstin Griese [SPD]: Das machen wir!) Folge – auch das muss man anerkennen –, unterhalb ihres Qualifikationsniveaus für entsprechend geringe Einkom- – Ich habe mich ja auch auf Sie bezogen, Frau Griese. men zu arbeiten. 13262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Luise Amtsberg (A) Zur Beratung und Förderung in den Arbeitsagenturen Deswegen gehört es sich auch, heute Morgen hier zu (C) und Jobcentern und zur Sicherheit junger Auszubildender sagen, wo unsere Unterschiede liegen, wenn es darum haben wir viel gesagt; darauf möchte ich jetzt nicht weiter geht, für alle Sprachkurse und Integrationsmaßnahmen eingehen. Aber ein Punkt, der die Debatte vielleicht kon- anzubieten. Wir sind der Meinung, dass all diejenigen, struktiv anfeuert, ist: Wir Grünen haben gesagt, dass es die hierbleiben dürfen, die also zumindest ein Bleibe- ein denkbarer Schritt wäre, einen aufenthaltsrechtlichen recht haben, einen Sprachkurs benötigen. Frau Pothmer, Statuswechsel zu ermöglichen. Man könnte Flüchtlingen an dieser Stelle sind wir unterschiedlicher Meinung, und die Möglichkeit geben, ihren Aufenthaltsstatus zu wech- wir haben auch unterschiedliche Meinungen zu den An- seln und ihn gegen eine dauerhafte Bleibeperspektive trägen der Linken, die hier heute gestellt worden sind. einzutauschen, etwa als Fachkraft in einem Mangelberuf. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Aber Sie sind sich doch mit Ihrem Ko- alitionspartner nicht einig!) Das klingt erst einmal sehr technisch, ist aber in einer Zeit, in der Menschen in sehr großer Unsicherheit leben Ich denke, es gehört sich auch, das hier klarzustellen und und in der wir vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt die klare Worte zu sprechen. Chance sehen, die Herausforderung, der wir gegenüber- Wir wollen den Menschen helfen, die hier in Deutsch- stehen, zu bewältigen, eigentlich der richtige Schritt und land ein Bleiberecht und eine Bleibeperspektive haben. Ansatzpunkt. Warum sollen die Menschen ewig lang in einem Asylverfahren verharren, wenn sie ihre Perspek- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- tive von einem auf den nächsten Tag mit einem Arbeits- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Sie nicht!) platz verbessern können? Auch das gehört zur Ehrlichkeit und zur heutigen Dis- kussion. An diesen Punkten sind wir meilenweit vonei- Besonders nach dem Beitrag der Kollegin Griese glau- nander entfernt. be ich, dass wir uns hinsichtlich der Zielrichtung an vie- len Stellen einig sind. Trotzdem: Bevor diese Dinge pas- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang sieren können, müssen wir alle bürokratischen Hürden Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- abbauen. Das fängt mit der Abschaffung der Vorrangprü- NEN]: Da haben Sie leider recht!) fung und dem Schutz von jungen Auszubildenden an. Ich Das deutsche Recht eröffnet die Möglichkeit der Ar- denke, hier gibt es noch sehr viel zu tun. beitsmigration, wodurch sich Menschen aus dem Aus- Herzlichen Dank. land heraus in Deutschland einen Arbeitsplatz besorgen können. Auf der anderen Seite haben wir unser Asyl- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN recht. Das wollen wir auch nicht verändern, und dazu (D) sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/ stehen wir auch. Wir müssen es in Deutschland aber um- CSU]) setzen. Ich glaube, es ist wichtig, das der Bevölkerung noch einmal deutlich zu machen, um den Menschen ihre Vizepräsident Johannes Singhammer: Ängste zu nehmen. Die Kollegin Jutta Eckenbach spricht als Nächste für Ich möchte noch auf etwas hinweisen, was mir in die- die CDU/CSU. ser Diskussion wichtig ist. Es ist schon vieles zu dem gesagt worden, was wir alles tun. Ich möchte aber auch (Beifall bei der CDU/CSU) noch einmal ganz deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir, wenn es um das Erlernen der deutschen Sprache Jutta Eckenbach (CDU/CSU): geht, auch gut prüfen müssen, wie die Integrationskurse letztendlich ausgestaltet und mit welcher Maßgabe sie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen versehen werden. Wir müssen bei den Integrationskur- Sie mir zunächst einmal – das ist mir ganz wichtig – den sen Wert darauf legen, dass unsere Werte mit vermittelt vielen Menschen danken, die vor Ort tätig sind und je- werden. den Tag in die Flüchtlingseinrichtungen gehen, um zu helfen. Sie bemühen sich darum, dass in den Einrichtun- Es geht also nicht nur um das Erlernen der deutschen gen Ruhe bewahrt wird, und kümmern sich auch um die Sprache, sondern auch darum, dass den Menschen un- Kinder. Ich danke aber auch den runden Tischen und den sere Werte und unsere Kultur als wichtige Grundpfeiler Menschen in den Bundesbehörden, die dort jeden Tag ih- unseres Landes vermittelt werden müssen. Das befähigt ren Dienst leisten. Das ist schon angesprochen worden, sie dann nachher auch, sich in der Arbeitswelt wesentlich und ich denke, auch das gehört sich an so einem Tag bei besser zurechtzufinden und dort klarzukommen. so einer Diskussion. Ich war in dieser Woche bei einer Podiumsdiskussi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) on des Bundesverbandes der Dienstleistungswirtschaft und habe dort eine große Bereitschaft der unterschied- All das passiert. Wenn man mit Ehrenamtlichen in den lichen Branchen gefunden, jungen Menschen einen Einrichtungen spricht, dann erfährt man, dass sie große Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, und auch Sorge davor haben, wie es weitergeht. Das ist auch in Arbeitskräfte werden gesucht. Diese Podiumsdiskussion der Bevölkerung so. Ich möchte diese Ängste hier heute hat nicht nur unter Sozialpolitikern stattgefunden, son- Morgen gerne auch ansprechen, weil es ganz wichtig ist, dern es waren Sozialpolitiker und Wirtschaftspolitiker das ernst zu nehmen. gleichermaßen auf dem Podium. Auch diese Verbindung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13263

Jutta Eckenbach (A) brauchen wir momentan. Wir brauchen die Arbeitgeber Ist es denn zu viel verlangt, nach einem Jahr wieder bei (C) mit im Boot, ansonsten können wir seitens des Bundes der Ausländerbehörde vorzusprechen und dort zu sagen, noch so viele Programme und noch so viele Perspekti- ven entwickeln. Wenn wir die Arbeitgeber mit ins Boot (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bekommen, die bereit sind, für die jungen Menschen et- NEN]: Darum geht es nicht!) was zu tun, etwas auf sich zu nehmen und sich selbst mit dass man bereit ist, auch im nächsten Jahr seine Ausbil- einzubringen – auch das müssen wir von Arbeitgebern dung fortzuführen? Ich halte das für möglich und durch- fordern –, dann wird uns Integration gelingen. Deswe- führbar. gen ist Integration nicht nur eine Aufgabe des Bundes- ministeriums für Arbeit und Soziales, sondern auch eine (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aufgabe des Bundeswirtschaftsministeriums, denn auch NEN]: Reden Sie mal mit der Handwerkskam- dort werden Weichen gestellt. Wir müssen die Arbeitge- mer!) ber mit im Boot haben. Auf dieser Podiumsdiskussion ist Insofern werden wir bei dieser Regelung bleiben. noch einmal sehr deutlich geworden, dass es um viele Bereiche geht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, dass auch die Arbeitgeber sich daran gewöhnen können; denn es wird keine neue Bürokra- Vizepräsident Johannes Singhammer: tie aufgebaut, sondern es ist gerade zur Sicherheit der Frau Kollegin Eckenbach, gestatten Sie eine Zwi- Arbeitgeber, wenn die Ausbildung bis zum Abschluss schenfrage der Kollegin Pothmer? durchgehalten wird. Auch das können wir von jemandem erwarten, der zu uns kommt.

Jutta Eckenbach (CDU/CSU): (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Von Frau Pothmer immer. NEN]: Hä?) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr leichtfertig!) Lassen Sie mich nun auf etwas eingehen, was heute Morgen noch nicht angesprochen worden ist: die christli- – Ja, ich weiß. chen Werte und unsere Wertekultur. Gestern hat es in der Presse einen Aufruf der jüdischen Gemeinden gegeben. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese haben große Sorgen, dass sie, wenn wir nicht bei unseren Werten bleiben, wenn wir sie nicht unterstützen, Frau Eckenbach, Sie haben gerade zu Recht die Not- in einen Bereich hineinkommen, den sie nicht haben wol- wendigkeit angesprochen, auch die Arbeitgeber mit ins (B) len, (D) Boot zu holen. Sind Sie denn auch bereit, die Arbeitge- ber bei ihren Bemühungen, Flüchtlinge einzustellen, in (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Arbeit und Ausbildung zu bringen, zu unterstützen? Und Dann zerstreuen Sie die Bedenken einmal!) sind Sie auch bereit, die Forderungen der Arbeitgeber, nämlich erstens Abschaffung der Vorrangregelung und nämlich dass wir auf deutschem Boden eine Auseinan- zweitens eine sichere Bleibeperspektive für Flüchtlinge dersetzung führen, die wir nicht führen wollen, weil wir in Ausbildung, zu erfüllen? nicht die Probleme der Heimatländer in Deutschland aus- tragen wollen, sondern weil wir alle Religionen gleich- berechtigt nebeneinander dulden und auch friedliches Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Leben gewähren wollen. Diese Sorgen der jüdischen Beide Punkte, kann ich Ihnen sagen, waren am Mitt- Community müssen wir ernst nehmen. Wir alle müssen woch bei der Dienstleistungsbranche überhaupt kein gerade diesen Personenkreis vehement unterstützen, da- Thema. mit es hier nicht zu erneuten Auseinandersetzungen auf (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Haha!) eine ganz andere Art und Weise kommt, die wir hier in Deutschland nicht haben wollen. – Ich kann ja nur das wiedergeben, was vor Ort war. Deswegen bitte ich in diesem Hause darum, offen da- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ausrede!) rüber zu diskutieren, dass wir die Werte und die Kultur in Deutschland als Grundlage setzen. Denn das tun Sie Ich sage ausdrücklich: Die Vorrangprüfung werden nicht, meine lieben Freunde der Linken. Was Sie machen, wir als CDU/CSU-Fraktion nicht abschaffen. Wir halten ist mit Blick auf alle Maßgaben, die Sie hier in Deutsch- sie für dringend notwendig und werden sie weiter ver- land einführen wollen, ein Missbrauch der Flüchtlings- folgen. politik zum jetzigen Zeitpunkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte Zu Ihrer Frage, wie es mit Ausbildungsverträgen wäh- [DIE LINKE]: Sie missbrauchen das Thema rend der Duldung aussieht: Frau Pothmer, ich verstehe seit Monaten!) die Aufregung nicht. Ein Ausbildungsvertrag läuft über drei Jahre. Wir sind für eine Flüchtlingspolitik. Wir sind für eine Bleibeperspektive. Wir sind für Eingliederung. Wir sind (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für Menschen, die sich hier in Deutschland unter unserer NEN]: Eben!) Kultur und unter unseren Werten einleben und sich wohl- 13264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Jutta Eckenbach (A) fühlen wollen und für das stehen, wofür wir alle stehen, Kolleginnen und Kollegen, viele Beschlüsse dieser (C) nämlich für Wohlstand und Frieden in Deutschland. Wahlperiode weisen darauf hin, dass wir viel aus der Vergangenheit gelernt haben. Menschen, die zu uns kom- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men und anerkannt werden, wollen und werden bei uns NEN]: Aber auch in der Welt!) bleiben. In Anbetracht des demografischen Wandels in Mit der Bundeskanzlerin kann ich Ihnen sagen: Wir Deutschland brauchen wir diese Menschen in allen Be- schaffen das in Deutschland. Wir werden alles tun, dass reichen unserer Gesellschaft. wir dies wirklich so umsetzen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Deshalb gilt: Je eher die Integrationsmaßnahmen greifen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- desto höher ist die Aussicht auf Erfolg. ordneten der SPD) Diese Wahrheit hat zum Glück Einzug in die Gesetz- gebung gefunden, sei es bei der Öffnung der Integrati- Vizepräsident Johannes Singhammer: onskurse für Asylsuchende, sei es bei der Ermöglichung Jetzt spricht der Kollege Josip Juratovic für die SPD. eines früheren Arbeitsmarktzugangs. Wir haben richtige Schritte für die Integration der Flüchtlinge in den Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beitsmarkt auf den Weg gebracht. Das haben wir richtig der CDU/CSU) gemacht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Josip Juratovic (SPD): der CDU/CSU) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Gesetzge- Kollegen! Die öffentliche Debatte ist derzeit stark vom bung schafft die richtigen Rahmenbedingungen, da- Thema Flüchtlinge geprägt. Der Fokus liegt im ersten mit eine Arbeitsmarktintegration bereits während des Schritt ganz auf der Debatte darüber, welche und wie Asylverfahrens möglich ist. Entscheidend ist dabei ein viele Flüchtlinge wir aufnehmen können und wie und wo Dreiklang, bestehend aus einer passenden Sprachförde- wir sie unterbringen. Doch der zweite Schritt, nämlich rung, Anerkennung der beruflichen Abschlüsse und der die Integration, insbesondere in den Arbeitsmarkt, ist ge- notwendigen Nachqualifizierung. nauso wichtig; denn der Arbeitsort ist der beste Ort für die Integration. Das kann ich aufgrund meiner persönli- Bei jeder dieser Maßnahmen haben wir bereits wich- chen Geschichte bestätigen. tige Schritte in die Wege geleitet. Ich gebe zu: Wir sind (B) noch keineswegs am Ende. Wir haben die Integrations- (D) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine kurse für Asylsuchende geöffnet und werden noch für Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]) eine ausreichende Finanzierung sorgen. Wir haben auf Wenn wir von den derzeit circa 850 000 erfassten der Bundesebene die Anerkennung der Berufsabschlüsse Flüchtlingen ausgehen und eine Schutzquote von circa erleichtert und müssen noch Wege finden, damit sich die 50 Prozent annehmen sowie davon eine Erwerbsfähigkeit Asylsuchenden die Anerkennung überhaupt leisten kön- von etwa 70 Prozent, dann sprechen wir über 300 000 nen. Menschen, die wir schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt (Beifall bei der SPD) integrieren wollen. Das ist eine große Herausforderung, der wir uns bewusst sind. Deshalb handeln wir bereits. Ja, es ist wichtig, eine objektive und gründliche Er- Es ist kein Zufall, dass unsere Regierung Bundesagen- fassung der weniger formalen Qualifikationen voranzu- turchef Weise zum Chef des BAMF berufen hat. Wir sind bringen. Die derzeit kursierenden Zahlen, 80 Prozent der uns bewusst: Wir müssen die Effizienz der Prozesse stei- Flüchtlinge seien ohne formale Qualifizierung, entspre- gern. chen nicht ganz der Wahrheit. Wenn die Bundesagentur einen Flüchtling fragt: „Haben Sie eine duale Ausbildung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) abgeschlossen?“, ist es doch nicht verwunderlich, dass Deswegen verzahnen wir die notwendigen Prozesse, die Antwort nein lautet. mit denen auf der einen Seite der Aufenthalt geregelt und (Beifall bei der SPD – Kerstin Griese [SPD]: auf der anderen Seite die Arbeitsmarktintegration ermög- Die gibt es auch nur in Deutschland!) licht wird. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass wie bis- her die Daten von Geflüchteten mehrfach erfasst werden Denn die duale Ausbildung gibt es nur in Deutschland müssen. Hier müssen das Bundesamt für Migration und und in Österreich. Flüchtlinge und die Bundesagentur Hand in Hand arbei- ten. Diese Zusammenarbeit hilft vor Ort vor allem den Stattdessen erfassen wir jetzt ganz früh den Qualifi- vielen Beschäftigten von Ämtern, die die größte Last die- kationsstand durch das sogenannte Profiling. Nur wenn ser Herausforderung tragen. Ihnen möchte ich von dieser wir sehr früh wissen, wo ein Flüchtling steht, können wir Stelle meinen ausdrücklichen Dank für ihren unermüdli- ihm mit den richtigen Schritten helfen: mit Sprachför- chen Einsatz aussprechen. derung, Anerkennung von Abschlüssen und notwendiger Nachqualifizierung. Dieser Dreiklang ist übrigens nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nur gut für Flüchtlinge; diese Maßnahmen sind gut für der CDU/CSU) alle Migranten, die nach Deutschland kommen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13265

Josip Juratovic (A) Ich komme zum Schluss. Für mich als Integrations- Alle Migranten, also auch abgelehnte Asylbewerber, (C) beauftragten der SPD-Fraktion ist es besonders wichtig, sollen vom ersten Tag an vollen Zugang zur gesamten dass einzelne Gruppen – sowohl Migranten als auch Ausbildungs- und Arbeitsförderung bekommen. Deutschstämmige – nicht gegeneinander ausgespielt werden. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Was ist da schlimm? – Matthias W. Birkwald [DIE LIN- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten KE]: Das ist übrigens eine DGB-Forderung! der CDU/CSU und der LINKEN) Da sind wir nicht allein!) Denn nur gemeinsam können wir für ein erfolgreiches Und dann kommen Ihre Klassiker: Sie wollen, dass der Europa der Vielfalt als Beispiel dienen, statt für ein Euro- Mindestlohn auf 10 Euro erhöht wird, und fordern wie pa der Zäune und Mauern. Jene, die uns mit Zäunen und immer höhere Steuern für Unternehmen. Meine Güte, ist Mauern in Europa vor den „Barbaren“, wie die Armen das wirklich Ihr Ernst, meine Damen und Herren? und Erschöpften vor unseren Haustüren teilweise ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nannt werden, schützen wollen, möchte ich mit auf den Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja! Was wollen Weg geben: Menschen, die wir heute erfolgreich inte­ Sie denn?) grieren, stehen möglicherweise schon morgen nicht mehr wie solche „Barbaren“ vor unseren Türen. Was treibt Sie an? Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Zuwanderung birgt die Chance, unser Land kultu- rell und wirtschaftlich zu bereichern. Diese Chance (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen … wir ergreifen … der CDU/CSU) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja! – Zuruf von der LINKEN: Das haben die Wirtschaftswei- Vizepräsident Johannes Singhammer: sen auch gesagt!) Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein. Vielleicht müssen wir klarstellen, worüber wir eigentlich sprechen. Es handelt sich nämlich nicht um herkömmli- (Beifall bei der CDU/CSU) che Zuwanderung. Es kommen Menschen zu uns, die vor Krieg und Ge- Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): walt fliehen. Das hat sich keiner von uns gewünscht. Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aber Sie haben (B) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfrak- (D) es provoziert!) tion, wissen Sie, was ich an Ihrem Antrag wirklich be- klemmend finde? Ich finde es beklemmend, dass Sie sich Diese Menschen mögen Analphabeten sein oder Aka- mit Ihren Vorschlägen offenbar jeder Verantwortung für demiker; sie mögen jung sein oder alt; sie mögen etwas die Menschen, die hier im Land leben, entledigen. beitragen können oder nicht – es ist völlig egal: Ihnen gewähren wir Schutz. (Widerspruch bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie in dieser der SPD) schwierigen Situation in blanken Linkspopulismus ver- fallen. Dabei geht es natürlich nicht darum, ob diese Menschen unser Land kulturell und wirtschaftlich bereichern kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen und wir deren Elend als unsere Chance begreifen. Sie haben offenbar nicht das geringste Interesse an der Das steht auch in keinem Asylparagrafen. Lösung der Probleme, die wir haben. (Sabine Zimmermann (Zwickau) [DIE LIN- KE]: Nichts verstanden! Überhaupt nichts (Sabine Zimmermann (Zwickau) [DIE LIN- verstanden!) KE]: Das wollen Sie uns beweisen, ja?) Außerdem kommen Menschen zu uns, und zwar viele Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele aus Ihren politi- Menschen, die sich hier auf das Asylrecht berufen, die schen Visionen nennen. aber eben nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen, die (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wie hübsch!) kein Recht auf Schutz in unserem Land haben und keine Bürgerkriegsflüchtlinge sind. Diese Menschen müssen Jeder Asylsuchende, der einen Job gefunden hat, soll ein und werden wir zurückschicken, und zwar wieder ganz Bleiberecht bekommen – so steht es in Ihrem Antrag –, unabhängig davon, ob sie Analphabeten oder Akademi- und zwar unabhängig davon, wie sein Verfahren ausgeht. ker sind. Denn es muss doch klar sein, dass die Zuwan- Damit hebeln Sie ganz nebenbei unser Asylrecht aus, derungswelle, wie wir sie zurzeit erleben, nicht dazu ge- weil man keinen Asylantrag mehr stellen muss, wenn es eignet ist, die Probleme hier im Land zu lösen. ganz egal ist, ob er anerkannt wird oder nicht. Nehmen wir das Schlagwort „Fachkräftemangel“, das (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist schon in diesen Wochen Konjunktur hat. Es ist im Zusammen- einmal Quatsch!) hang mit den Flüchtlingsströmen, die momentan zu uns 13266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Astrid Freudenstein (A) kommen, gleich doppelt unangebracht. Wir haben zum deraufzubauen, und zwar gerne mit den Kenntnissen und (C) einen keinen generellen Fachkräftemangel. den Erfahrungen, die sie hier bei uns in der Schutzzeit gesammelt haben. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: 600 000 offene Stellen!) Herzlichen Dank. Es gibt Fachkräfteengpässe in einigen Branchen und in (Beifall bei der CDU/CSU) einige Regionen. Das Problem entsteht im Wesentlichen dadurch, dass die Bewerber nicht bereit sind, dort hinzu- ziehen, wo es die freien Stellen gibt. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vielen Dank. – Bevor ich nun dem Kollegen Bartke Max Straubinger [CDU/CSU]: Mit Flüchtlin- das Wort erteile, möchte ich eine Delegation aus Kolle- gen können wir diese Arbeitsstellen nicht be- ginnen und Kollegen des Auswärtigen Ausschusses des setzen, weil die Qualifikationen nicht da sind, Europäischen Parlaments unter ihrem Vorsitzenden, ganz einfach!) Elmar Brok, herzlich begrüßen, die auf der Ehrentribü- ne Platz genommen haben. Wir haben es auch sicher nicht mit einem Zustrom von Fachkräften zu tun oder mit solchen, die es in absehba- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem rer Zeit werden können. Ich greife als Beispiel Syrien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- heraus. Syrien ist ein Agrarland, das vor dem Krieg mit geordneten der LINKEN) Erdöl, Oliven und Textilien gehandelt hat. Der Touris- mus brachte Devisen ins Land. Die meisten Syrer kamen, Ich begrüße außerdem den Generalsekretär der wenn überhaupt, bei einem viel zu großen Staatsapparat OSZE, Herrn Lamberto Zannier, und seine Delegati- unter, und der war korrupt. Viele Syrer haben die vergan- on herzlich. genen Jahre in Flüchtlingslagern verbracht. Der Krieg hat ihnen die Jahre der Ausbildung und Bildung schlicht- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem weg genommen. Es sind jedenfalls nicht die Fachkräfte, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- die mancherorts bei uns fehlen. geordneten der LINKEN) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: 50 Prozent Ich wünsche Ihnen nicht nur bei diesem Besuch hier haben eine Ausbildung! – Kai Gehring in Berlin viel Erfolg, sondern auch für Ihre wichtige po- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wis- litische Arbeit. Ich denke, gerade in diesen Zeiten ist es sen Sie das? Sie wissen nicht einmal, wie viele wichtig, dass Europa beisammenbleibt. (B) hier sind!) (D) Jetzt hat der Kollege Matthias Bartke für die SPD das Weil Sie zu wenig interkulturelle Kompetenz bei den Wort. Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit beklagen: Selbst wenn alle BA-Mitarbeiter fließend Arabisch, Dari (Beifall bei der SPD) oder Paschtu sprechen würden und wenn sie alle ein Stu- dium der Ethnologie absolviert hätten, würde das nichts an der Tatsache ändern, dass für die allermeisten derer, Dr. Matthias Bartke (SPD): die nun kommen, unser Arbeitsmarkt kurz- und mittel- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- fristig unerreichbar ist. Warum schildere ich das alles? ren! Sehr geehrte Europaparlamentarier und OSZE-Par- Ich tue das, um darzulegen, wie schwierig die Situation lamentarier! Zu Beginn möchte ich Ihnen von Emma ist und dass es nicht damit getan ist, ein paar Sprach- und Louise Meyer aus meiner Heimatstadt Hamburg berich- Integrationskurse anzubieten ten. Emma arbeitet als freiwillige Helferin am Ham- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Damit kann burger Hauptbahnhof. Die freiwilligen Helfer sind dort man ja mal anfangen!) aber weniger geworden, die ankommenden Flüchtlinge leider nicht. Emma hat daher ein Video online gestellt. sowie Kompetenzen und Qualifikationen zu suchen. In „Kommt alle“, heißt es in dem Video, „Broteschmierer, dieser schwierigen Situation müssen wir uns auf die kon- Ärzte, Dolmetscher, und helft.“ Das Video war ein un- zentrieren, die hier Schutz brauchen. Sie, meine Damen glaublicher Erfolg. Es wurde 100 000-mal angeklickt, und Herren von der Linken, kommen mit Ihren Vorschlä- und es hat mehr als 150 Helfer akquiriert. Das ist die gute gen daher und wollen das allen geben, und zwar unab- Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Ausländerfeinde hängig davon, ob sie Schutz brauchen oder nicht. Das ist haben danach in den sozialen Netzwerken eine massive der große Fehler Ihres Antrags. Hetze gegen Emma gestartet. Ich danke Sigmar Gabriel dafür, dass er solche Ausländerfeinde als das bezeichnet (Beifall bei der CDU/CSU) hat, was sie sind: als Pack. Ich halte das auch für völlig unverantwortlich gegenüber den Menschen in unserem Land. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) In einem Ziel sollten wir uns einig sein: Das Allerbes- te, was wir erreichen können, wäre, wenn die, die jetzt Ich war am Sonntag am Hamburger Hauptbahnhof. Tag für Tag zu Tausenden kommen, so früh wie möglich Ich habe dort ehrenamtliche Helfer angetroffen, die mo- in ihre Heimat zurückkehren könnten, um ihr Land wie- tiviert und professionell arbeiten. Diesen ehrenamtlichen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13267

Dr. Matthias Bartke (A) Helfern und den Zigtausenden anderen in Deutschland 25 Jahre. Das ist Schul- und Ausbildungsalter. Richtiger (C) möchte ich sagen: Danke! ist es daher, zu sagen: Sie haben noch keine Ausbildung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der NEN]: Wo bleibt die Bildungsoffensive?) CDU/CSU und der LINKEN) Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass das nicht so Danke für die selbstlose Hilfe für die in Not geratenen bleibt. Wir haben dafür die Duldung für eine Ausbildung Menschen. Sie sind das gute Deutschland. und deren Verlängerung um jeweils ein Jahr bis zum Unser Land liegt im Herzen Europas. Wir waren Ausbildungsabschluss ermöglicht. Wir wissen, dass das schon immer Fluchtort. Ich selbst stamme von verfolgten noch nicht genug ist. Der erfolgreiche Abschluss muss Hugenotten ab, die aus Frankreich flohen und hier eine zum dauerhaften Aufenthalt berechtigen. Der Ausbil- neue Heimat gefunden haben. Direkt nach dem Krieg dungsantrag muss außerdem auch nach dem 21. Lebens- haben wir 12 Millionen Vertriebene aufgenommen. Da- jahr möglich sein. Dafür setzen wir uns ein. nach kamen 5 Millionen Gastarbeiter, und danach kamen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 4 Millionen Aussiedler. Wenn wir Deutsche mit einer Sache Erfahrung haben, dann ist das die Integration von Geduldete Auszubildende sollen nun auch mit aus- Migranten. Die Erfahrung lehrt uns aber auch, dass wir bildungsbegleitenden Hilfen unterstützt werden. Gedul- beim Umgang mit Gastarbeitern schwere Fehler gemacht dete sollen deutlich schneller als bisher mit Berufsaus- haben. Wir haben damals eben nicht auf Nachhaltigkeit bildungsbeihilfe gefördert werden oder eine assistierte gesetzt, und aus diesen Fehlern haben wir gelernt. Wir Ausbildung erhalten. Den Zugang zu Praktika für Asyl- werden es jetzt besser machen. bewerber und Geduldete haben wir ebenfalls erleichtert. Schließlich und ganz wichtig – es wurde hier bereits er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wähnt –: Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration der CDU/CSU) in den Arbeitsmarkt ist die Sprache. Die Integrationskur- Im vergangenen Jahr hat die Bertelsmann-Stiftung se haben wir daher für Asylbewerber und Geduldete mit eine viel beachtete Studie zur demografischen Ent- guter Bleibeperspektive geöffnet. Wir investieren derzeit wicklung veröffentlicht. Sie hat darin festgestellt, dass größte Kraftanstrengungen, um die Zahl der Plätze in Deutschland ohne Zuwanderung bis zum Jahr 2050 eine Sprachkursen drastisch zu steigern. Arbeitskräftelücke von insgesamt 16 Millionen Arbeit- Wir erleben seit drei Monaten einen Flüchtlingszu- nehmern hätte. Notwendig ist danach eine Zuwanderung strom von nicht gekanntem Ausmaß. Dass wir in diesen von etwa 500 000 Menschen jährlich. Bislang waren kurzen drei Monaten noch nicht alle Probleme gelöst (B) es in der Regel immer nur 200 000, womit eine Lücke und nicht alles im Griff haben, ist doch klar. Klar ist aber (D) von 300 000 bleibt. Mit anderen Worten: Deutschland auch: Wir sind auf einem guten Weg. Ich bitte Sie daher benötigt in den nächsten 35 Jahren jährlich zusätzlich am Schluss: Begreifen Sie die Flüchtlinge nicht in erster 300 000 Zuwanderer, um das Gesellschaftswesen in sei- Linie als Problem, begreifen Sie sie als Chance. ner jetzigen Form zu erhalten. Ich danke Ihnen. Das Problem ist daher nicht die Zahl der Flüchtlin- ge, die nach Deutschland kommen. Das Problem ist die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Geschwindigkeit, mit der sie kommen. Die Parteispitzen der CDU/CSU) der Koalition haben daher am vergangenen Donnerstag klare Beschlüsse gefasst. Dazu gehören auch, so bitter es Vizepräsident Johannes Singhammer: ist, deutlich verbesserte Möglichkeiten der Abschiebung. Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die Aber es gilt ein klarer Zusammenhang: Wer Ja zu einem Kollegin Andrea Lindholz für die CDU/CSU. Asylrecht sagt, der muss auch zu Abschiebungen Ja sa- gen, wenn kein Asylgrund vorliegt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lu- ise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Andrea Lindholz (CDU/CSU): Das ist die Anwendung des Rechts!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werte Gäste! Täglich kommen bis Der Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland kann zu 10 000 neue Migranten nach Deutschland. Die Lage in ein unschätzbarer Beitrag zur Entschärfung der demogra- Deutschland und Europa wird immer ernster. Selbst das fischen Bombe sein, die sonst zu explodieren droht. Es liberale Schweden führt in diesen Stunden wieder Grenz- muss aber auch klar sein: Wir brauchen keine kurzfris- kontrollen ein. Auch Deutschlands Integrationskraft ist tige, wir brauchen eine nachhaltige Eingliederung von begrenzt. Wir können nicht jedes Jahr 1 Million Men- Flüchtlingen. Das ist eine Aufgabe, die zweifellos einen schen aufnehmen, versorgen, ausbilden und integrieren. sehr langen Zeitraum in Anspruch nehmen wird. Deswegen steht aktuell die Eindämmung des Zustroms (Beifall bei Abgeordneten der SPD) im Fokus der Debatte. Das bloße Einfordern der Einhal- tung europäischen und deutschen Rechtes ist im Übrigen Für die Eingliederung ist die Teilhabe am Arbeitsleben keine Chaospolitik, sondern es ist zwingend erforderlich, ganz wesentlich. 70 Prozent der ankommenden Flücht- um zu ordnen, zu strukturieren und zu begrenzen. linge haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Allerdings ist mehr als die Hälfte von ihnen jünger als (Beifall bei der CDU/CSU) 13268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Andrea Lindholz (A) Es geht, sehr geehrte Frau Kollegin Mast, gerade nicht Zukunftsaufgabe für unser Land werden. Daher sollten (C) darum, jedem syrischen Flüchtling, so wie Sie es heute für uns einige Grundprinzipien gelten. suggeriert haben, nur subsidiären Schutz zu gewähren. Die Integration muss auf die Menschen mit guter (Katja Mast [SPD]: Der Innenminister hat es Bleibeperspektive konzentriert werden. Bei den anderen gesagt, nicht ich! – Kerstin Griese [SPD]: Wer brauchen wir keine Integration; denn dort steht die Aus- hat das denn vorgeschlagen?) reisepflicht im Vordergrund. Es geht darum, zur Einzelfallprüfung, die unser Gesetz Asyl und Arbeitsmigration müssen klar getrennt wer- vorsieht, zurückzukehren und jeden Flüchtling anzuhö- den. Ich habe heute hier gehört, dass man gerne beides in ren, aus welchem Land er kommt, ob er tatsächlich aus einen Topf schmeißt. Das ist aber nicht richtig. Flücht- Syrien stammt und ob man ihm Flüchtlingsschutz nach lingsschutz gibt es aus humanitären Gründen. Wenn Sie der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, in Ihrem Antrag den Spurwechsel von der Asylbewerber- (Katja Mast [SPD]: Das wird doch heute auch politik in die Arbeitsmigration vornehmen, dann ist das schon gemacht! Sie verlängern die Verfahren!) ein glatter Fehlanreiz. ob er einen Asylanspruch nach dem Grundgesetz hat oder (Beifall bei der CDU/CSU) ob er nur subsidiären Schutz erhält. Das ist auch richtig Wer nicht aus der EU kommt und bei uns arbeiten will, so. kann dies. Wir haben über 70 – ich habe vorhin gehört, (Beifall bei der CDU/CSU) wir gehen auf die 90 zu – Mangelberufe, bei denen man relativ problemlos eine Arbeit aufnehmen kann. Es gibt Diese Entscheidung steht im Übrigen nicht im Ermes- auch noch die Bluecard. Wir müssen nach wie vor Asyl- sen der Abgeordneten, sondern der Mitarbeiterinnen und recht und Arbeitsmigration ganz klar voneinander tren- Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flücht- nen. linge. Dessen Sprecher hat im Übrigen gestern erklärt, dass das Dublin-Verfahren die nationalen Asylverfahren Wir sind uns einig, dass die Integration früh anfangen sogar entlastet und nicht belastet. muss. Deswegen haben wir auch für Menschen mit guter Bleibeperspektive, unabhängig von der Dauer des Asyl- (Zuruf von der LINKEN: Quatsch!) verfahrens jetzt schon die Residenzpflicht eingeschränkt, – Lesen Sie bitte heute die Zeitung. Dort können Sie das den Arbeitsmarktzugang erleichtert und die Teilnahme an Zitat nachlesen. Integrationskursen von Anfang an beschlossen. Das sind die richtigen Weichenstellungen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, „die“ Zei- (B) tung! – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Klären Sie Integration braucht Zeit. Die Bundesagentur für Ar- (D) das erst einmal in Ihrer eigenen Fraktion!) beit schätzt, dass von allen Asylbewerbern, die zu uns kommen und die bei uns einen Anspruch auf einen Ar- Neben diesen wichtigen Fragen ist natürlich auch die beitsplatz haben, nur 10 Prozent im ersten Jahr einge- Integration der anerkannten Flüchtlinge für den sozialen gliedert werden können, 50 Prozent nach fünf Jahren und Zusammenhalt in Deutschland essenziell. Wir brauchen 70 Prozent nach zehn Jahren. Es reicht also nicht aus, nur dazu keinen Antrag der Linken; denn schon heute grün- Arbeitsverbote abzuschaffen. Die Vorsitzende des Sach- den Schulen, IHKs, Handwerk, Arbeitsagenturen, Ver- verständigenrates Deutscher Stiftungen für Integration bände und vor allem die Kommunen lokale Netzwerke und Migration, Frau Professor Langenfeld, hält solche und runde Tische und versuchen, das Problem anzuge- Forderungen sogar für kontraproduktiv. Sie fordert ganz hen, anstatt nur pauschale und polemische Reden zu hal- klar, den Fokus zunächst einmal auf Sprache, auf Quali- ten. fikation und Weiterbildung zu legen; denn ohne Sprache (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring und ohne Qualifikation findet bei uns niemand Arbeit. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Wir müssen unsere hohen Bildungsstandards auf- Sie denn?) rechterhalten, aber sicherlich bei der Anerkennung der Auch der Bundesinnenminister hat letzte Woche Fähigkeiten flexibler werden. Nicht ein Zertifikat darf eine – ich nehme an, dass einige von Ihnen dort waren – entscheiden, sondern es muss die tatsächliche berufliche hochinteressante Fachtagung zum Thema „Fachkräftezu- Erfahrung unter die Lupe genommen werden. Ein af­ wanderung und Flüchtlinge – Geht das zusammen?“ in ghanischer Elektriker wird nicht nur die Sprache lernen seinem Hause abgehalten. Es arbeiten also schon viele müssen, sondern auch, was ein europäischer Schaltkas- engagierte und kluge Menschen an diesem Thema. ten ist. Wir müssen sicherlich vor Ort durch Fachgesprä- che, durch Arbeitsproben und durch Praktika ermitteln, Man sollte heute auch einmal eines klarstellen: Aner- welche Leistungen der einzelne Asylbewerber erbringen kannte Flüchtlinge haben vollen und uneingeschränkten kann. Das ist viel aussagekräftiger als ein Zertifikat. Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Wir reden also da- rüber, wie wir mit den Asylbewerbern verfahren, die bei Zuletzt wird die Integration nicht nur Geld erfordern, uns noch nicht anerkannt sind. Hier müssen wir zwischen sondern die gesamte Gesellschaft. Ihr Antrag suggeriert, bleibeberechtigten und nichtbleibeberechtigten Asylbe- die Integration ließe sich quasi rein staatlich organisieren. werbern unterscheiden. Voraussichtlich werden 400 000 Der Staat wird seinen finanziellen Beitrag leisten. Die bleibeberechtigte Asylbewerber aus dem Jahr 2015 ver- Wirtschaftsweisen schätzen für 2016 die Bruttoausgaben bleiben. Diese Integrationsleistung wird eine zentrale der öffentlichen Haushalte im Zuge der Flüchtlingskrise Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13269

Andrea Lindholz (A) auf einen Wert zwischen 9 Milliarden und 14,3 Milliar- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (C) den Euro. ner dem Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort. Damit schaffen wir allerdings nur Rahmenbedingun- gen. Integration funktioniert nur, wenn wir sie als ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten samtgesellschaftliche Daueraufgabe begreifen. Deswe- der CDU/CSU) gen ist entscheidend, dass wir als Politik gemeinsam mit den Verantwortlichen vor Ort, die hier schon hervorra- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des gende Leistungen erbringen, auch die richtigen Lösun- Auswärtigen: gen suchen, die richtigen Antworten finden. Ihr Antrag Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss greift in vielen Punkten wie so oft zu kurz, und deshalb gleich mit einer Zumutung beginnen, weil ich aus aktuel- lehnen wir ihn ab. lem Anlass aus sehr alten Akten des Auswärtigen Amtes zitieren werde, ohne dabei hoffentlich schon am Anfang (Beifall bei der CDU/CSU) meiner Rede dazu beizutragen, meine Redezeit zu über- schreiten. Wir haben einen 40 Jahre alten Gesprächsver- Vizepräsident Johannes Singhammer: merk gefunden, aus dem ich wenigstens ganz kurz zitie- ren will: Damit schließe ich die Aussprache. Nach einleitenden Bemerkungen erklärte H., es Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf komme darauf an, in den gegenseitigen Beziehun- Drucksache 18/6644 an die in der Tagesordnung aufge- gen den Geist von Helsinki stärker wirksam werden führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- zu lassen ... trotz aller noch bestehenden Schwierig- verstanden? – Widerspruch sehe ich nicht. Dann ist das keiten, das Erreichte zu konsolidieren und Stören- so beschlossen. des auszuschalten. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: Danach heißt es:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Das Gegenüber von H. erwidert nur ganz knapp: CSU und SPD Richtig. „Man darf jetzt nicht alles in die Elbe wer- fen ...“ 40 Jahre nach Helsinki, 25 Jahre nach Paris – (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: E. H.!) Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 für neue (B) Impulse hin zu einer auf Dialog, Vertrauen Damit ahnen Sie vielleicht, um wen es bei diesem (D) und Sicherheit ruhenden Friedensordnung in Gegenüber geht: um den Sohn der Elbestadt, um jenen Europa nutzen großen Staatsmann, um den wir in diesen Tagen trauern. Damals, vor 40 Jahren, im Sommer 1975 in Helsinki, Drucksache 18/6641 traf Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht nur zum ersten Mal auf den oben zitierten Gesprächspartner H. – das war b) Beratung der Beschlussempfehlung und des ­Erich Honecker –; darüber hinaus unterzeichnete Schmidt Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- nach langen Verhandlungen mit allen Seiten, auch mit schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin der Sowjetunion, am 1. August 1975 für die Bundesrepu- Kunert, Inge Höger, Andrej Hunko, weiterer Ab- blik die Schlussakte von Helsinki. Die Schlussakte legte geordneter und der Fraktion DIE LINKE den Grundstein für Dialog und Zusammenarbeit über die Gräben des Kalten Krieges hinweg. Sie schuf eine Brü- Den deutschen Vorsitz in der Organisation für cke, auf der diese Gräben schließlich überwunden wur- Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im den und die dann mit der Charta von Paris vor 25 Jahren Jahr 2016 für Frieden und Abrüstung nutzen auf eine neue institutionelle Ebene gelangte: die OSZE. Drucksachen 18/5108, 18/6377 Diese OSZE, um deren Vorsitz es heute geht, ist bis heute das Fundament unserer Sicherheitsarchitektur in Europa. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Ich will sagen: In Erinnerung und in Respekt vor die- Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- sem großen Erbe, auch vor Schmidts Erbe, das mit Willy schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr auf den ­Marieluise Beck (Bremen), Agnieszka Brugger, Weg gebracht worden ist, übernimmt Deutschland den Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und Vorsitz der OSZE 2016. Ich bin mir ganz sicher: Nicht der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur der Außenminister und nicht nur die Bundesregie- rung, sondern das ganze Hohe Haus sind sich – und nicht Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 zur Stär- nur in diesem Vorsitzjahr – der Verantwortung für Frie- kung der OSZE nutzen den und Europa bewusst, meine Damen und Herren. Drucksachen 18/6199, 18/6375 (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch Am Vorabend der Unterzeichnung erklärte Helmut sehe ich nicht. Dann ist auch dieses somit beschlossen. Schmidt vor den Kameras: 13270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Hier in Helsinki dokumentiert Europa … einen neu- die Verbindungen zwischen dem Osten der Ukraine und (C) en Schritt auf dem Wege zur Stabilisierung des Frie- der Zentralukraine weiter zu verbessern. Zentral und im dens. Dies ist ein Weg, auf dem wir mit Geduld und Vordergrund dieses Treffens stand die Frage, wie wir die Beharrlichkeit Voraussetzungen dafür schaffen können, die Lokalwah- len, welche die Separatisten einseitig angesetzt hatten – – und jetzt hören Sie zu – wir haben sie Gott sei Dank verschieben dürfen –, vor- und ohne uns durch Rückschläge entmutigen zu las- zubereiten, und welche rechtliche Grundlage wir dafür sen, Schritt für Schritt weitergehen müssen. gemeinsam schaffen können. Das ist 40 Jahre her, aber es klingt wie eine Ermu- Natürlich ist der Erfolg dieser Bemühungen nicht tigung an die Verantwortlichen von heute. Ich sage das garantiert. Ich sage aber: Immerhin sind wir so weit ge- deshalb, weil wir natürlich wissen – auch wussten, als kommen. Dass wir so weit gekommen sind, ist nicht das wir uns entschieden haben, ihn zu übernehmen –, dass Verdienst von einigen wenigen Außenministern. Ich sage wir den Vorsitz in stürmischen Zeiten übernehmen. das hier, weil ich jedenfalls weiß, dass wir nie so weit ge- 25 Jahre nach der Charta von Paris ist Europas Sicher- kommen wären, dass wir nicht einen dieser Gräben ohne heitsarchitektur – darüber haben wir hier in den letzten die OSZE und die mutigen Frauen und Männer in der Monaten häufig genug gesprochen – mehr als nur auf Beobachtermission bzw. der Trilateralen Kontaktgruppe die Probe gestellt. Das ist auch deshalb so, weil einer der hätten überspringen können. Ohne die hätten wir nichts Gründer- bzw. Unterzeichnerstaaten der OSZE einen der hinbekommen. Und dafür, lieber Herr Generalsekretär, wichtigsten Grundsätze, nämlich die Unverletzlichkeit lieber Lamberto Zannier, wollen wir gerade an diesem von Grenzen, nicht nur infrage gestellt, sondern verletzt Tage der OSZE, wollen wir Ihnen und den Mitarbeitern hat. der OSZE ganz herzlich danken. Noch vor wenigen Monaten tobten in der Ostukraine (Beifall im ganzen Hause) schwere Kämpfe. Es gab immer wieder neue Meldungen Beobachtermission, Verifikation, Kontaktgruppe – ich über Tote und Verletzte. Mit jeder Verletzung der Waffen- finde, das Beispiel Ukraine, so unbefriedigend der Stand ruhe, jeder neuen Provokation und jedem Toten verhärte- auch immer noch ist, zeigt, dass es bei der OSZE konkre- ten sich die Fronten weiter. Da gab es die einen, die dann te Instrumente und Foren gibt, mit denen wir den Geist nach Waffenlieferungen an die Ukraine gerufen haben, von Helsinki nicht nur wachhalten können, sondern, um der Aggression zu begegnen. Es gab die anderen, die ergänzt um die Vorschläge, die Botschafter Ischinger gerufen und geschrieben haben: Was sollen eigentlich mit seiner Expertengruppe gemacht hat, vielleicht so- eure ganzen diplomatischen Bemühungen? Das führt zu gar erneuern können – erneuern unter gänzlich anderen (B) nichts. Belasst es bei den Sanktionen. Voraussetzungen: nach dem Ende des Kalten Krieges, (D) Wir sind, wie Sie wissen, beiden Vorschlägen nicht nach veränderten Konfliktsituationen, die wir nicht nur gefolgt. In Erinnerung an das Erbe von Helsinki haben in Europa, sondern auch im Mittleren Osten haben, und wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben einen dennoch darauf setzen, dass Kooperation statt Konfron- politischen Prozess versucht und treiben ihn trotz aller tation unsere Außenpolitik beherrscht, dass immer wie- Rückschläge – von diesen Rückschlägen gab es genug; der Dialog statt Sprachlosigkeit hergestellt wird und dass über viele dieser Rückschläge haben wir hier gespro- Diskurs immer noch besser ist als Abschottung, wenn ich chen – weiter voran. drei der zentralen Themen aus der Philosophie der OSZE in Erinnerung rufen darf. Darauf müssen wir setzen, und Und heute? Wir sind weit davon entfernt, zu sagen: deshalb wollen wir die Instrumente und die Gesprächsfo- Es gibt Anlass, zufrieden zu sein. Das überhaupt nicht. ren der OSZE unter unserem Vorsitz, soweit das möglich Schon deshalb nicht, weil wir mit der Umsetzung der ist und soweit das von anderen mitgetragen wird, stärken. Minsker Vereinbarungen weit hinter dem Zeitplan zu- rück sind. Aber immerhin hält der Waffenstillstand seit Wir werden als OSZE-Vorsitz Angebote zum Dialog jetzt gut zwei Monaten. Es sterben nicht mehr täglich machen für alle Mitgliedstaaten – auf der Grundlage der Menschen in der Ostukraine. Und wir – mein französi- Vielfalt von Themen, die in der Organisation verankert scher Kollege und ich – haben zuletzt den ukrainischen sind, und das sind nicht nur die eingefrorenen Konflik- und den russischen Außenministerkollegen am Wochen- te. Ein Kernbereich der OSZE spielt dabei natürlich eine ende hier in Berlin gehabt. Natürlich haben wir darüber besondere Rolle: Das sind die konventionelle Rüstungs- verhandelt, wie wir diesen jetzt seit zwei Monaten be- kontrolle – nicht zu vergessen! – und, immer wieder stehenden Waffenstillstand weiter absichern können, wie wichtig, gerade jetzt, vertrauensbildende Maßnahmen. wir die weiteren Vereinbarungen und Selbstverpflichtun- Vertrauensbildung – das Wissen darum scheint zwischen- gen aus der Minsker Vereinbarung umsetzen. durch etwas verlorengegangen zu sein – fällt nicht vom Himmel, sondern entsteht nur durch Zusammenarbeit an Wir haben verhandelt, wie wir besseren Zugang für ganz konkreten Themen. Nur dadurch kann man verlo- humanitäre Hilfe hinkriegen, weil immer noch nur we- rengegangenes gemeinsames Bewusstsein wieder schaf- nige Hilfsorganisationen in der Ostukraine tätig sein fen. Das gilt auch für die Vorstellung, dass es nicht nur dürfen. Wir haben darüber gesprochen, wie wir jetzt gemeinsame Bedrohungen gibt, sondern daneben – hof- den nächsten Schritt bei der Konsolidierung des Waf- fentlich – immer auch gemeinsame Interessen, die sich fenstillstandes – Räumung von Minen und Kampfmit- verfolgen lassen. So würden wir das sagen, aber aus dem teln – einleiten. Wir haben darüber gesprochen, wie wir gemeinsamen Bewusstsein für Interessen und Bedrohun- beschädigte Infrastruktur wiederherstellen können, um gen kann vielleicht sogar noch mehr entstehen, kann ein Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13271

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) neuer Geist von Helsinki in ganz anderen Regionen die- Was sollen wir beide schon davon reden; denn „niemand (C) ser Welt erwachen. weiß, wie das 20. Jahrhundert enden wird“.

Der eine oder andere von Ihnen war mit dabei auf der (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das Reise in den Iran und nach Saudi-Arabien, zu den, wenn stimmt!) man so will, schärfsten Konkurrenten in all den Konflik- Uns geht es im 21. Jahrhundert wahrscheinlich ganz ge- ten im Mittleren Osten. Wir haben den Abschluss nach nauso. Wir kennen die Zukunft nicht, aber wir wissen: Teheran, nach Riad bewusst in Amman mit dem Besuch Sie ist offen. Lassen Sie uns mit und in der OSZE für der OSZE-Konferenz in Jordanien gesetzt. Warum? Weil diese friedlichere Zukunft arbeiten. wir gerade nach dem Besuch dieser beiden Länder und nach dem Versuch, sie beim Thema Syrien zusammenzu- Herzlichen Dank. bringen, sagen wollten: Unsere Erfahrung in Europa ist (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem eben, dass selbst über abgrundtiefe Gräben hinweg Brü- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cken der Zusammenarbeit möglich sind. – Das war die Botschaft, die wir mit zur OSZE-Konferenz in Jordani-

en, mitten im Zentrum der Konflikte im Mittleren Osten, Vizepräsident Johannes Singhammer: gebracht haben. Wir müssen uns auch eingestehen: Das Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Kunert für ist eine Einsicht, die in Europa – man sehe sich nur ein- die Fraktion Die Linke. mal die letzten zwei, drei Jahrhunderte an – nicht immer (Beifall bei der LINKEN) vorhanden war. Sie ist gewachsen; sie war am Ende das Ergebnis von zwei Weltkriegen im vergangenen Jahrhun- (DIE LINKE): dert. Ich hoffe – wir werden dafür arbeiten –, dass sich Katrin Kunert ähnliche Einsichten auch in anderen Konfliktregionen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gerade im Mittleren Osten, durchsetzen. Meine Damen Kurz vor Toresschluss kommen die Koalitionsfraktionen und Herren, auch das wird Aufgabe unseres OSZE-Vor- gerade noch auf der Zielgeraden an mit einem Antrag sitzes sein. zum deutschen Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Linke hat dazu be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie reits vor der Sommerpause einen Antrag vorgelegt. Man- der Abg. Marieluise Beck (Bremen) [BÜND- ches von dem, was Sie nun vorschlagen, findet sich in NIS 90/DIE GRÜNEN]) unserem Antrag wieder. Bis zum Ukraine-Konflikt hat die OSZE im Bundestag kaum eine Rolle gespielt. Es Ich will Ihnen, bevor ich zum Schluss komme, ganz ist gut, dass wir heute darüber diskutieren; denn aus den (B) herzlich danken, dass alle Fraktionen des Deutschen Anträgen geht hervor, dass wir uns zumindest in einem (D) Bundestages dem Inhalt ihrer Anträge nach den deut- Punkt wirklich einig sind: Die OSZE soll künftig wieder schen Vorsitz in der OSZE im nächsten Jahr unterstützen. eine größere Rolle für Frieden und Sicherheit in Europa Ich werde auch auf Sie angewiesen sein werden, gerade spielen. auf die Mitarbeit der Parlamentarier in der Parlamentari- (Beifall bei der LINKEN) schen Versammlung der OSZE. Ich weiß als Außenmi- nister nur zu gut, dass unsere Möglichkeiten, gerade in Die Vorgängerin der OSZE war die Konferenz für Si- Konfliktsituationen, beschränkt sind, wenn wir nicht in cherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Unterzeich- gleicher Weise Austausch auf der parlamentarischen und nung der Schlussakte von Helsinki vor 40 Jahren war ein auf der zivilgesellschaftlichen Ebene haben. Meilenstein für den Frieden. Ich möchte an dieser Stelle an Egon Bahr erinnern. Er hat sich unermüdlich dafür Deshalb zum Schluss: Ich weiß, dass die Erwartun- eingesetzt, dass aus einstigen Gegnern Partner werden. gen an den deutschen OSZE-Vorsitz groß sind. Aber in Er wollte auch, dass in der aktuellen Ukraine-Krise der stürmischen Zeiten kann eben niemand sagen, was und Gesprächsfaden nach Russland niemals abreißt. Dafür wie viel davon sich erfüllen lässt. Ich kann nur sagen, gilt ihm unser Dank. dass jedenfalls wir uns in Erinnerung an das Erbe von (Beifall bei der LINKEN) Helsinki dieser Aufgabe verpflichtet fühlen. Wir wissen und erinnern uns, dass schon damals, mitten im Kalten Zu einer ehrlichen Bilanz gehört: Viele der Erwartun- Krieg, die Annäherung mit vielen kleinen, ganz konkre- gen, die in die Gründung der OSZE und in die Charta von ten Schritten, von denen auch damals niemand wissen Paris gesetzt waren, sind enttäuscht worden. Die Hoff- konnte, wohin sie führen würden, begonnen hat. nung, dass es mit dem Ende des Warschauer Paktes auch die NATO nicht mehr geben würde, hat sich nicht erfüllt. Ganz am Ende noch einmal zurück zu den alten Ge- Die OSZE hätte als ein System kollektiver Sicherheit die sprächsakten, aus denen ich schon zitiert habe. Da be- NATO ersetzen können. Diese Chance ist vertan worden. schwert sich im Verlaufe des erwähnten Gespräches (Beifall bei der LINKEN) Honecker gegenüber Schmidt, dass in der Bundesre- publik viel zu viele von der, wie er sagte, sogenannten Heute stellen wir fest: Die NATO ist bis an die Staats- Wiedervereinigung redeten, wobei sie doch beide als grenzen Russlands vorgerückt. Seit den Anschlägen vom „nüchterne Leute“ wüssten, dass zwei souveräne Staa- 11. September 2001 erleben wir eine verschärfte Auf- ten existierten. Helmut Schmidt sagt daraufhin – und rüstung im Namen des „Kriegs gegen den Terror“. Und man ahnt das Schmunzeln in seinem Gesicht –: Genau. das Vertragswerk zur Abrüstung der konventionellen 13272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Katrin Kunert (A) Waffensysteme ist ein Trümmerhaufen. Daran haben alle selbst bei uns. Was ist mit Ungarn unter Orban, oder was (C) ihren Anteil. Die USA und andere NATO-Staaten haben ist mit der Türkei unter Erdogan? sich jahrelang geweigert, den Vertrag über Konventionel- le Streitkräfte in Europa anzupassen. Daraufhin hat Russ- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Was ist mit land Anfang dieses Jahres den Vertrag aufgekündigt. Der den Menschenrechten in Russland?) Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE konnte bis Und brennende Flüchtlingsheime, Rassismus, Obdach- heute seine Arbeit nicht aufnehmen, weil er nicht von al- losigkeit und Kinderarmut sind in Deutschland leider len Mitgliedstaaten anerkannt ist. Realität. Trotzdem leistet die OSZE eine wichtige Arbeit: Die Linke fordert: Nutzen Sie den deutschen Langzeitmissionen zur Verhütung und zivilen Lösung ­OSZE-Vorsitz für eine Initiative, um die Todesstrafe in von Konflikten, Wahlbeobachtungen, Einsatz für Men- den USA und Belarus abzuschaffen, schenrechte und Dialogforum zwischen den Parlamenta- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- riern. Das sind alles wichtige Dinge, die geleistet werden. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tatsache ist, dass seit Anfang September der Waffenstill- stand in der Ukraine weitgehend hält. Dazu wäre es nicht Folter und andere unmenschliche Behandlung zu ächten gekommen, wenn sich die trilaterale Kontaktgruppe sowie alle unrechtmäßig inhaftierten Personen in den nicht um Vermittlung bemüht hätte. OSZE-Staaten freizulassen. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt für den deutschen OSZE-Vorsitz viel zu tun. Unsere Vorschläge, die wir in unserem Antrag formuliert Wie sehen die Herausforderungen der Zukunft aus? haben, sind konsequenter und weitreichender. Wir bitten Sie um Ihre Unterstützung und Zustimmung. Bei den an- Die OSZE muss sich wieder stärker den großen Fra- deren Anträgen werden wir uns enthalten. gen zuwenden. Wir brauchen dringend einen Sicherheits- vertrag von Vancouver bis Wladiwostok, so wie ihn der Schönen Dank. damalige russische Präsident Medwedew vorgeschlagen (Beifall bei der LINKEN) hat. Verhandlungen für einen neuen KSE-Vertrag müssen oberste Priorität haben. Vizepräsident Johannes Singhammer: Die Linke schlägt weiter vor, die Kompetenzen des Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jürgen OSZE-Konfliktverhütungszentrums zu erweitern und das Hardt. OSZE-Forum für Sicherheitskooperation zu einer Abrüs- (B) (D) tungsbehörde weiterzuentwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. [SPD]) (Beifall bei der LINKEN) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Damit soll der Bereich der politisch-militärischen Si- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich cherheit gestärkt werden, ohne die anderen Sicherheits- möchte zu der Rede meiner Vorrednerin, Frau Kunert,­ bereiche zu vernachlässigen. Dafür fehlt allerdings der nur Folgendes anmerken: Wer verfolgt hat, was am Koalition bisher der Mut. 9. Mai dieses Jahres anlässlich der Feierlichkeiten zum Wir fordern von der Bundesregierung einseitige Jahrestag des Kriegsendes auf dem Roten Platz in Mos- Abrüstungsschritte, notfalls gegen den Widerstand der kau an Panzern unterwegs war, auch an Prototypen neuer USA. Alle US-Atomwaffen sind unverzüglich von deut- Panzer, und wer zur Kenntnis genommen hat, wie vie- schem Boden abzuziehen. le Tausende neue Panzer Russland in Auftrag gegeben hat und bauen will, der wird sofort erkennen, dass die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Uwe Behauptung, hier würde eine Rüstungsspirale von der Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) NATO angetrieben, doch eine sehr kühne ist. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wo leben Sie Die OSZE muss sich auch den wirtschaftlichen und denn?) ökologischen Fragen stärker widmen und sich auch ge- rade den aktuellen Herausforderungen stellen. Das gilt Auch die Beschlüsse der NATO in Wales sind nicht eine für die Sicherheit von Atomkraftwerken, die sichere Aktion, sondern eine Reaktion auf die Aggressionen, Endlagerung von Atommüll, neue Risikotechnologien wie Fracking sowie die Konversion der wehrtechnischen (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ja, ja, wir Produktion. Es erstaunt schon, dass die Grünen als öko- schießen immer noch zurück!) logische Partei dazu nicht wirklich etwas vorbringen. die wir nun leider sowohl im Rüstungsbereich als auch gegen das OSZE-Mitglied Ukraine erleben. Von daher Die humanitäre Sicherheit und der Schutz der Men- sollten wir nicht in die Rhetorik der 70er-Jahre zurück- schenrechte gehören weiter auf die Agenda. Dabei muss fallen, allerdings genauer und auch selbstkritischer hingeschaut werden. Menschenrechtsprobleme gibt es nicht nur in (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE Russland oder in Aserbaidschan; Menschenrechtsproble- LINKE] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: me gibt es auch in Armenien, in den USA, in der EU und Ja, bravo! An die eigene Nase fassen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13273

Jürgen Hardt (A) sondern die Probleme so ansehen und annehmen, wie sie Wenn wir in die Zukunft blicken – darüber haben wir (C) sich leider vor uns auftun. mit dem Generalsekretär gerade diskutiert; der Minister hat es auch angesprochen –, müssen wir über Vertrauens- (Beifall bei der CDU/CSU) bildung sprechen. Vertrauensbildung – enthalten im ers- 40 Jahre Schlussakte von Helsinki – der Vertrag war ten Korb der Schlussakte von Helsinki – war im Grunde im positiven Sinne vielleicht der wirkmächtigste völker- der Schlüssel zur Überwindung der Konfrontation, zur rechtliche Vertrag des 20. Jahrhunderts. Ich stehe auch Lösung der Probleme. Vertrauensbildung ist auch und nicht an, zu sagen: Es war ein großes Werkstück des Bun- gerade, wenn es um die Lösung des Ukraine-Konflikts deskanzlers Helmut Schmidt, daran mitgewirkt zu haben. geht, eine ganz zentrale Aufgabe. Denn diese Schlussakte hat in ganz vielen Bereichen Diesbezüglich kommt auf die Parlamentarier eine gro- Europa und die Welt verändert. Ich freue mich, dass der ße Aufgabe zu, weil die parlamentarischen Delegationen Generalsekretär der OSZE heute hier ist, mit dem wir, in der Parlamentarischen Versammlung den Boden für die Mitglieder der deutschen Delegation der Parlamen- neue Gesprächsangebote bereiten können. Bei allen Vor- tarischen Versammlung, eben schon einen guten Dialog behalten, die wir haben, und trotz der Sanktionen, die wir führen konnten. Auch von meiner Adresse: Herzlich will- gegen einzelne Personen in Form der Einschränkung ih- kommen! rer Freizügigkeit in Europa ausgesprochen haben – zum Wir haben erlebt, dass die Diskussion in der DDR Beispiel gegen russische Politiker wegen der Besetzung über die Veröffentlichung des Textes der Schlussakte, die der Krim –, sollten wir dafür sorgen, dass wir, sowohl die DDR-Regierung ja mit unterschrieben hat – der Text wenn Europarats- als auch OSZE-Konferenzen durchge- wurde in der DDR geheim gehalten –, im Grunde ganz führt werden, zusammentreffen können. viele Menschen mobilisiert hat; denn das hat ihnen vor Augen geführt, wie groß der Unterschied zwischen An- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des spruch und Wirklichkeit in der DDR war. Als dann das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – ­Wolfgang Dokument im Neuen Deutschland veröffentlicht werden Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist aber kein Pro- musste, war es im Grunde eine Niederlage der Staatsfüh- blem von Russland!) rung der DDR. Das hat einen starken humanitären Impuls gegeben, der letztendlich auch zur Überwindung der Tei- Ich finde, dass wir die Schlagkraft der OSZE auch lung geführt hat. dadurch unter Beweis stellen können, dass wir im Rah- men des Outreach der OSZE, wie der Generalsekretär Als dann vor 25 Jahren die Charta von Paris für ein es genannt hatte, unsere Hilfe anbieten, also bei Missi- neues Europa beschlossen wurde, da gab es die ganz onen über das eigentliche Gebiet der OSZE hinaus. Er (B) große Erwartung, dass sich damit die pluralistische De- hat angekündigt, dass sich die OSZE auch dem Thema (D) mokratie in ganz Europa und in der ganzen Welt Bahn Mittelmeer und Mittelmeeranrainerstaaten stärker zu- bricht. Es war ja die Forderung und das Versprechen der wenden wird. Daran sind natürlich insbesondere die Unterzeichnerstaaten, dass sich die pluralistische Demo- OSZE-Mitgliedstaaten am Mittelmeer interessiert. Die kratie als Staatsform durchsetzt. Heute, 25 Jahre später, Expertise und die Erfahrung, die die OSZE als Manager müssen wir leider feststellen, dass wir auf ganz vielen von Dialogen und als Überwacher bzw. Gewährleister Feldern arbeiten müssen, obwohl wir dachten, dass die der Einhaltung von Verträgen hat, kann vielleicht auch Geschichte das bereits erledigt hat. Ich glaube, bei diesen im nördlichen Afrika eine wichtige Rolle spielen. Themen ist jetzt die OSZE gefragt. Sie muss da beharr- lich weiterbohren. Ich wünsche mir, dass die deutsche Bundesregierung den Prozess der Erneuerung und weiteren Stärkung der Das gilt für den Prozess der Demokratisierung. Wir OSZE unterstützt, vielleicht auch hinsichtlich der Erhö- müssen auch dort scharf hingucken, wo es demokratische hung ihrer operativen Schlagkraft. Ich habe den Bundes- Verfassungen gibt, wo demokratische Wahlen stattfinden, minister so verstanden, dass dies genau das Ziel ist. Ich wo demokratisch gewählte Regierungen am Ruder sind; habe den Generalsekretär vorhin so verstanden, dass es denn trotzdem kann Korruption Demokratie behindern, hinsichtlich der Ziele ein großes Einvernehmen zwischen kann die Beschränkung der Pressefreiheit Demokratie dem deutschen Vorsitz und dem Generalsekretär gibt. behindern, kann die Einschüchterung von Andersden- Wir könnten uns vorstellen, die Rolle des Generalsekre- kenden und Oppositionellen Demokratie behindern. Dies tärs gerade im operativen Bereich der OSZE zu stärken. muss von uns natürlich offen angesprochen werden, nicht Das finden Sie auch in unserem Antrag. nur in Russland, aber natürlich auch in Russland. Ich hoffe, dass 2016 ein gutes Jahr wird, dass es nicht Die OSZE leistet im 40. Jahr ihres Bestehens, wenn nur ein gutes Jahr für die OSZE ist, sondern auch insge- man das so sagen kann, eine enorme Arbeit bei der Über- samt für den Frieden in Europa. Ich bitte Sie deshalb um wachung der Umsetzung des Minsker Abkommens für Unterstützung des Antrags der Regierungskoalition zum die Ukraine. Damit stellt sie ihre Schlagkraft als Instru- Jubiläum „40 Jahre Schlussakte von Helsinki“. ment unter Beweis. Wir müssen somit dafür sorgen, dass sie personell und materiell so ausgestattet ist, dass sie Danke schön. dazu in der Lage ist. Es gibt nach wie vor einen großen Bedarf an Personen, die bereit sind, sich zum Beispiel (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie als Wahlbeobachter zur Verfügung zu stellen und somit der Abg. Marieluise Beck (Bremen) [BÜND- OSZE-Aufgaben mit wahrzunehmen. NIS 90/DIE GRÜNEN]) 13274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: litik; denn wir haben keine Soldaten, sondern wir haben (C) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Ideen und ein geistiges Fundament, auf dem wir stehen. jetzt das Wort der Kollegin Marieluise Beck. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gerade für uns beide, für das wiedervereinigte Deutschland, das nun größer geworden ist, aber auch Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Ge- für die Russische Föderation, die zu verarbeiten hat, neralsekretär! Lieber Frank-Walter Steinmeier! Liebe dass sie nicht mehr die Sowjetunion ist, ist es als große Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist Helsinki immer Länder sehr wichtig, zu verstehen, dass OSZE bedeutet, verbunden mit dem Gesicht von Ludmilla Alexejewa. eingebunden zu sein. Es kann nicht um eine Achse Ber- Die große Dame der russischen Menschenrechtspolitik lin–Moskau gehen in dem Sinne – das wäre ja gleichsam ist jetzt 88 Jahre alt, die davon erzählen kann, wie sie eine Rückkehr zu Bismarck –, dass wir uns schon wieder aufgrund der in Helsinki getroffenen Vereinbarungen an- einigen werden. Vielmehr geht es um die kleineren Staa- fangen konnte, in Moskau zu arbeiten, und dass es da- ten, die zwischen diesen beiden großen Ländern liegen mals einen ganzen Tag dauerte, um sieben Unterschriften und immer wieder mit Argwohn auf Berlin, Moskau und zusammenzubekommen, weil das Telefonieren zu ge- diese mögliche Achse schauen. Es geht vor allen Din- fährlich war und man deshalb mit der U-Bahn durch die gen auch um die kleineren Staaten, die auf ihrem Weg große Stadt fahren musste. zu Demokratie und innerer Freiheit durchaus mit der Dass das möglich wurde, ist tatsächlich dem Geist Bedrohung einer Rückkehr zu autoritären Systemen zu von Helsinki und der Sprengkraft, die Helsinki entfaltet kämpfen haben. Dabei brauchen diese Staaten und ihre hat – womit vermutlich auch ein Herr Honecker nicht ge- Bürgerinnen und Bürger die OSZE und den Schutz durch rechnet hatte –, zu verdanken. Dass daraus dann tatsäch- andere Teilnehmer. lich die Überwindung von Polizeistaat und Repression in Ein Wort sei mir noch erlaubt zum Kernstück der den Ländern werden konnte, die auch Europa sind, aber OSZE, und das ist ODIHR. durch Jalta von dem freien Teil Europas abgetrennt wor- den waren, das ist wirklich eine großartige Geschichte, die eng mit der OSZE verbunden ist. Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin Beck, darf ich Sie trotzdem an die Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dezeit erinnern? sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (B) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE (D) Nachdem mit der Überwindung der Folgen von Jalta GRÜNEN): sich Freiheit und Demokratie auch in Osteuropa ausdeh- Ja. – ODIHR ist massiv unter Druck, manchmal auch aus nen konnten, wurde ein weiterer Schritt möglich, und Deutschland. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen die Charta von Paris folgte den Helsinki-Verträgen. Da ODIHR als Kernstück der OSZE mit Haut und Haaren gab es noch einmal die Hoffnung, dass wir nun ganz und verteidigen. vollständig zusammenwachsen würden. Das ist schon 2008 durch den Krieg in Georgien und die faktische Ab- Schönen Dank. trennung zweier Gebiete sehr stark erschüttert worden. Aber noch viel größer war der Schock dann in der Uk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN raine durch die gewalttätige Abtrennung und später sogar sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Annexion der Krim und die Aggression im Donbass. Das heißt, dass wir uns in der OSZE trotz aller Feierlichkeiten Vizepräsident Johannes Singhammer: grundsätzlichen Fragen stellen müssen: Warum haben die Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Franz Regeln nicht gegriffen? Wie können wir es schaffen, dass Thönnes für die SPD. solche Regelverletzungen in Zukunft vermieden werden? Wie gehen wir mit Teilnehmerstaaten um, die diese Re- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geln verletzen? Für mich folgt daraus, dass wir auf der der CDU/CSU) Einhaltung von Recht und Regeln beharren müssen; denn allein die Einhaltung von Regeln und Recht garantiert Si- Franz Thönnes (SPD): cherheit, Schutz und Vertrauen. Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Un- Ein großer Abrüstungsschritt, den es hier in Europa ser Antrag zum deutschen OSZE-Vorsitz versteht sich als gegeben hat – er ist vielleicht zu wenig beachtet wor- Unterstützung für die Bundesregierung und für den Au- den –, war, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion so- ßenminister Frank-Walter Steinmeier, ist zugleich aber wohl Kasachstan als auch Belarus als auch die Ukraine auch Selbstverpflichtung für uns und auch ein Dank an unter der Assistenz des Westens und bei Zusicherung der alle Aktiven in der OSZE. Es ist der Gedanke des Geistes Integrität ihrer Grenzen bereit waren, ihre Atomwaffen von Helsinki, sich zusammenzufinden, sich auf Augen- abzugeben und zu akzeptieren, dass die Russische Föde- höhe zu respektieren, sich im Dialog auf Grundlage einer ration ihre behielt. Dass dieses Vertrauen nun gebrochen pragmatischen friedlichen Zusammenarbeit zu verabre- worden ist, ist ein großer Schlag, auch gegen das Regel- den, ohne gleich alles Bestehende als gut und richtig an- werk. Das aber ist die einzige innere Kraft der OSZE-Po- zuerkennen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13275

Franz Thönnes (A) Die dabei vereinbarten Prinzipien schienen jahrzehn- das Diskussionsformat „Wiener Prozess“ entwickelt, (C) telang eine stabile Basis für eine Sicherheitsordnung in in dem Abgeordnete der russischen und ukrainischen Europa zu sein. Doch Sicherheit und Vertrauen sind letz- Delegationen mit anderen im Rahmen einer parlamen- ten Endes beschädigt worden. Beschädigt worden ist das tarischen Diplomatie zusammenkommen, um die Um- Fundament des europäischen Hauses durch die völker- setzung von Minsk zu begleiten. Mit einem gemeinsa- rechtswidrige Annexion der Krim durch Russland. Doch men Seminar in der deutsch-französischen Grenzregion an den zentralen Prinzipien der souveränen Gleichheit haben wir angefangen. Wir werden Ende dieses Monats der Staaten, der Enthaltung von der Androhung oder An- mit einem Seminar in der deutsch-dänischen Grenzregi- wendung von Gewalt, der Unverletzlichkeit der Grenzen on weitermachen. Es geht darum, über das Thema Min- und der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und der derheiten zu diskutieren. Auch das ist ein Schwerpunkt Achtung der Menschenrechte gibt es deswegen nichts zu der deutschen Präsidentschaft. Kooperativ gemeinsame rütteln. Bedrohungen anzugehen wie den internationalen Terro- rismus, Drogenhandel und Cyberattacken und irreguläre (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Jugoslawi- Migration abzuwehren, kann Zusammenarbeit und Ver- en!) trauen fördern. Ich will kurz fünf nicht alles abdeckende Aspekte für das europäische Haus benennen. Fünftens geht es darum, die Hausgemeinschaft mit guter Nachbarschaft zu bilden. Zu einer friedlichen Ge- Erstens: Hausfrieden wieder herstellen durch Umset- meinschaft auf der Basis der Hausordnung im europä- zung der Minsker Vereinbarungen. Alle Unterzeichner ischen Haus gehört, die Begegnung der Menschen zu bleiben gefordert. Die schleppenden Fortschritte geben ermöglichen, insbesondere zwischen den verschiedenen leichte Hoffnung. Nach dem letzten Pariser Gipfel lässt Organisationen in den Zivilgesellschaften. Die Bundes- sich zunehmend auch eine Verlässlichkeit Russlands er- regierung hat unsere volle Unterstützung, wenn es um kennen. Dieser Weg ist gleichzeitig auch der Weg zum solch einen Austausch geht, ganz besonders, wenn es um Abbau von Sanktionen. die Jugend geht. Vielleicht sollte man hier anfangen, den (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann stillgelegten Prozess der Visaliberalisierung erneut zu muss man denen mal etwas anbieten!) beginnen und für zusätzliche Erleichterungen für junge Menschen zu sorgen. Zweitens: Hausordnung einhalten und gestalten. Die Gültigkeit der Hausordnung kann durch die Unterschrift (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Minsker Signaturmächte unter die Gipfelerklärung in der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Absatz 5 als gegeben angesehen werden. Hier heißt es: DIE GRÜNEN) (B) Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich un- (D) verändert zur Vision eines gemeinsamen humanitä- Abschließend: Weil insbesondere Abgeordneten die ren und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis Aufgabe des Dialoges und der Verantwortung für die öf- zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränk- fentliche Diskussion sowie der Unterstützung des Hel- ten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der sinki +40 Prozesses zukommt, halten wir Einreiseverbote OSZE. für Parlamentarier in diesem Zusammenhang für völlig kontraproduktiv. Dieses Bekenntnis gilt es nun zu nutzen, um innerhalb der OSZE die aktuellen Herausforderungen anzugehen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und gleichzeitig auch einen zügigen Dialog der Euro- der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE päischen Union mit der Eurasischen Wirtschaftsunion GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke zu initiieren. Aus meiner Sicht gehört dazu ebenso ein [DIE LINKE]) EU-Russland-Dialog über die jeweilige Nachbarschafts- politik, und zwar unter Einbeziehung der Nachbarn, nicht Ich will mit einem Satz aus der Regierungserklärung über die Köpfe der Nachbarn hinweg. von Bundeskanzler Willy Brandt von 1969 abschließen: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ werden, im Innern und nach außen. DIE GRÜNEN) Drittens gehört dazu: Hausversammlungen im Dia- Das könnte ein gutes Motto für alle OSZE-Mitgliedstaa- log abhalten. Beratungsforen für kooperative Sicherheit, ten sein. konventionelle Rüstungskontrolle sowie vertrauens- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sicherheitsbildende Maßnahmen waren stets zentrale der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Themen des KSZE-Prozesses und der OSZE. Das heißt, DIE GRÜNEN) Rüstungskontrollregime stärken, regelmäßige Dialoge von Militär und Politik, Erörterung jeweiliger Sicher- heitsinteressen und die Weiterentwicklung des KSE-Re- Vizepräsident Johannes Singhammer: gimes. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. für Viertens gilt für die parlamentarische Versammlung die Fraktion Die Linke. der OSZE wie für die Regierungen: Gemeinsame Haus- aufgaben machen, um Vertrauen zu schaffen. Wir haben (Beifall bei der LINKEN) 13276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt, grob gesagt, (C) Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr drei sicherheitspolitische Konzeptionen: Hardt, ein bisschen zu Ihrer Märchenstunde: Der russi- Die erste und leider auch vorherrschende ist: europä- sche Militärhaushalt beträgt 9 Prozent des NATO-Haus- ische Sicherheit ohne oder gegen Russland. Sie wird vor halts. Oder umgekehrt: Der NATO-Haushalt ist elfmal so allem von den USA und einigen osteuropäischen Staa- groß wie der russische Militärhaushalt. Welches Schreck- ten – nicht allen, aber einigen osteuropäischen Staaten – gespenst wollen Sie hier aufbauen? Hören Sie mit Ihrer favorisiert. Märchenstunde auf! Die zweite Konzeption lautet: europäische Sicherheit (Beifall bei der LINKEN – Sevim Dağdelen nicht gegen Russland, sondern besser mit Russland. Hier [DIE LINKE]: Können die etwa nicht rech- gibt es eine diskursive Annährung, auch in Deutschland. nen, oder was?) Jedoch hat das bislang noch keine praktische politische Relevanz. Deutschland, Frankreich, Ungarn und die Slo- Aber kommen wir zum eigentlichen Thema. Die Über- wakei sind da zu nennen. Aber der Antrag, den Sie uns nahme des OSZE-Vorsitzes durch die Bundesrepublik vorgelegt haben, fällt weit dahinter zurück. Deutschland Anfang 2016 könnte die Chance für einen Neustart für die OSZE und für die europäische Sicherheit Es gibt auch einen dritten Ansatz – den sollten vor al- eröffnen. Könnte! lem die Damen und Herren von der CDU/CSU und der SPD nicht übersehen –, nämlich europäische Sicherheit (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mit Russland, aber ohne die USA, Der Antrag der Regierungsfraktionen hätte eine Grund- (Marieluise Beck (Bremen) [BÜNDNIS 90/ lage dafür sein können. Hätte! Er ist es aber nicht. Im DIE GRÜNEN]: Oh ja! Das ist ja euer Kern- Forderungsteil heißt es zum Beispiel – ich zitiere –: stück! – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Das ist ja Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- eine wirklich verlockende Konzeption!) rung auf ... weiterhin falls die USA weiterhin einen gesamteuropäischen Si- – ich unterstreiche: „weiterhin“ – cherheitsprozess mit Russland torpedieren. Es gibt eine wachsende Zustimmung in der deutschen Bevölkerung für einen gemeinsamen Sicherheitsraum zwischen für genau diesen Ansatz. Vancouver und Wladiwostok einzutreten ... Kurzum: Was bisher als Sicherheit und Frieden von Diese Aussage ist doppelt realitätsverdrehend: Vancouver bis Wladiwostok formuliert ist, könnte in Zu- kunft auch heißen: Sicherheit und Frieden von Lissabon (B) (D) Wieso denn „weiterhin“? Dies unterstellt eine fal- bis Wladiwostok. Die Linke fordert vielmehr: Deutsch- sche Vergangenheit. Weder die NATO noch – erst recht land kann und muss der Motor einer gesamteuropäischen nicht – die NATO-Osterweiterung oder die EU-Osterwei- Sicherheitsarchitektur sein – mit Russland, mit oder ohne terung haben in irgendeiner Weise einen gemeinsamen die USA. Sicherheitsraum in Europa geschaffen. Ich danke Ihnen. Wieso „weiterhin“? Das unterstellt ein konstruktives Vorhaben für die Zukunft. Das wird aus dem Antrag der (Beifall bei der LINKEN) Regierungsfraktionen aber nicht ersichtlich. Im Gegen- teil: Im Feststellungsteil heißt es: Präsident Dr. Norbert Lammert: Jürgen Klimke ist der nächste Redner für die CDU/ Die grundlegenden Elemente der europäischen Si- CSU-Fraktion. cherheitsarchitektur, wie sie sich nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt haben, stehen hier in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- keiner Weise zur Disposition. ordneten der SPD) Das heißt im Klartext: Weiter so wie bisher! NATO- und EU-Osterweiterung, sprich: weiter die Teilung Europas, Jürgen Klimke (CDU/CSU): wir gegen Russland. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Generalse- (Lachen des Abg. [SPD]) kretär der OSZE! Als ich vor fünf, sechs Jahren hier im Deutschen Bundestag vor einer Besuchergruppe über Dieses Weiter-so sieht man auch an der völkerrecht- Frieden in Europa diskutierte, fiel natürlich auch der Be- lichen Argumentation in Ihrem Antrag; Herr Steinmeier griff „OSZE“. Ich musste ihn zunächst einmal erklären hat sie ja gerade mit Blick auf die Ukraine und Russ- und die Aufgaben der OSZE darstellen. Die OSZE er- land noch einmal unterstrichen. Es ist schon amüsant, schien vielen, sofern sie überhaupt eine Vorstellung von wie blind man in der Bundesregierung doch gegenüber ihr hatten, als ein Relikt des Kalten Krieges und zumin- den eigenen völkerrechtlichen Verbrechen ist, die man dest in sicherheitspolitischer Dimension als überflüssig. in den 90er-Jahren – bis heute – gegenüber Jugoslawien und dem Nachfolgestaat Serbien begangen hat. Bis heu- Wenn man die Frage nach der OSZE heute stellt, dann te! Übrigens: Auch Jugoslawien war ein Gründerstaat der kommt man zu dem Ergebnis: Die OSZE ist den Men- KSZE. Aber das hat die anderen Gründerstaaten im Wes- schen bekannt. Sie kennen die OSZE-Mission zur Über- ten nicht daran gehindert, diesen Staat zu zerschlagen. wachung des Waffenstillstands in der Ukraine, oder sie Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13277

Jürgen Klimke (A) haben von den Wahlbeobachtungen gehört, zum Beispiel OSZE besser finanziert wird. Hier sind die Mitgliedstaa- (C) in der Ukraine, in Weißrussland oder, wie kürzlich, in der ten in einer Pflicht, und es gehört auch zu den Aufgaben Türkei. des deutschen Vorsitzes, bei den Mitgliedstaaten für eine bessere finanzielle Ausstattung zu werben. Die OSZE wird dabei ganz selbstverständlich als not- wendig angesehen. Allerdings fragen interessierte Bür- Meine Damen und Herren, trotz aller Erwartungen ger inzwischen auch ganz gezielt nach Defiziten und sollten wir auf dem Boden bleiben. Wir dürfen die OSZE sehen Reformbedarf. Die OSZE ist heute also wieder ge- nicht mit überzogenen Wünschen überfrachten – auch fragt. Die Erwartungen sind hoch – manchmal vielleicht nicht den deutschen Vorsitz der OSZE im Jahre 2016. Ich zu hoch. weiß, dass wir – das wurde auch in der Öffentlichkeit immer wieder deutlich – einen großen Erwartungsdruck Die Etablierung einer dauerhaften Sicherheitspartner- haben. Das gilt noch viel stärker hinsichtlich der Lösung schaft im OSZE-Raum unter Einbeziehung Russlands, des Ukraine-Konflikts als in Bezug auf die notwendigen die uns in der Vergangenheit schon als Realität erschien, Reformen der OSZE selbst. ist heute mehr denn je infrage gestellt. Der Ukraine-Kon- flikt und die Angst vor einer Eskalation bestimmen das Dabei wissen wir, dass die OSZE diesen Konflikt nicht außen- und sicherheitspolitische Handeln. aus sich heraus beenden kann. Sie kann ein Gesprächs- forum anbieten, Missverständnisse ausräumen und die Es besteht somit mehr denn je die Notwendigkeit, Akzeptanz bei Kompromissen fördern; ihre eigentliche multilaterale Gesprächsformate zu etablieren, Waffen- Stärke besteht aber in der Umsetzung von Vereinbarun- stillstände umzusetzen und zu überwachen und vertrau- gen und in der Überwachung von Absprachen. Gleich- ensbildende Maßnahmen zu etablieren. Auf all diesen wohl kann Deutschland im Rahmen seines Vorsitzes Gebieten kann die OSZE das Miteinander fördern, weil für die Bewältigung der Ukraine-Krise sein politisches nur hier unter Einbeziehung aller Beteiligten über die re- Kapital einbringen, nämlich das Vertrauen, das wir auf gionale Sicherheitslage diskutiert werden kann. beiden Seiten genießen. Wir sind froh, dass die OSZE auch durch ihre Parla- Die OSZE hat sich über 40 Jahre lang entwickelt und mentarische Versammlung unter Einbeziehung der russi- neue Aufgabenfelder besetzt. Sie verfügt auch heute über schen Abgeordneten ein Forum für die Diskussion bilden eine Dimension, die sich der demokratischen Entwick- kann, ein Forum, in dem sich eben auch die russischen lung und der Stärkung der Menschenrechte verschreibt. Delegierten den Beschlüssen unterordnen. Deshalb bin Diese sogenannte menschliche Dimension der OSZE ich im Übrigen auch eindeutig gegen jede Form von muss erhalten bleiben und gestärkt werden. Ausschluss der russischen Delegierten; denn das stellt die OSZE infrage. (Beifall der Abg. Marieluise Beck (Bremen) (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Gerade Meinungs- und Medienfreiheit sowie Minder- NEN) heitenschutz gehören weiterhin zum essenziellen Aufga- benspektrum der OSZE. Die Parlamentarische Versammlung der OSZE hat weiterhin einige Beauftragte für regionale und themati- Die Betonung der menschlichen Dimension der OSZE sche Schwerpunkte ernannt. Ich selbst habe die Ehre, als fordern wir deshalb auch in unserem Antrag, trotz der ak- Beauftragter für die Ostseeregion mit allen Akteuren dort tuellen sicherheitspolitischen Krisen. Hier gibt es zudem an der Förderung der Kooperation und der Stärkung des einen Zusammenhang, gehören doch gerade die Wahlbe- Vertrauens mitzuwirken. obachtungen zu den sicherheitsrelevanten Maßnahmen. Durch den durch die OSZE legitimierten demokratischen Gerade dieser regionale integrative Ansatz ist die Ablauf von Wahlen ist zum Beispiel in der Ukraine die Stärke der OSZE und ermöglicht ihre Akzeptanz in den Situation vor Ort sichtbar stabilisiert worden. Mitgliedstaaten. Wir müssen diese Stärke immer mehr zu einem echten Kapital machen, indem wir die OSZE in Die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bun- die Lage versetzen, ihre Aufgaben effizienter wahrzuneh- destages arbeiten sehr engagiert in der Parlamentarischen men. Dies ist ein wichtiges Ziel, das wir auch in unseren Versammlung. Wir nehmen Anteil an den Tagungen der Antrag aufgenommen haben. OSZE, sind als Wahlbeobachter tätig. Vor diesem Hinter- grund ist es besonders wichtig, dass wir als Parlamenta- Die Struktur der OSZE ist auf staatliche Akteure und rier die OSZE in ihrer Arbeit unterstützen. Eine derartige nicht auf Bürgerkriege oder hybride Kriege ausgerichtet, Diskussion und Anträge, wie sie heute vorliegen, gehö- in denen Separatisten, Freischärler oder Terroristen agie- ren einfach dazu. ren. Wie können wir Verbrechen einzelnen Gruppen zu- ordnen? Wie können wir deeskalieren? Wie können wir Lassen Sie uns gemeinsam, Koalition und Oppositi- solche Konflikte dauerhaft befrieden? Das sind Fragen, auf on, den deutschen OSZE-Vorsitz im Jahr 2016 begleiten. die wir im Rahmen der OSZE Antworten finden müssen. Lassen Sie uns an einer Stärkung der OSZE mitwirken. Denn wir brauchen die OSZE heute dringender denn je. Wir treten deshalb dafür ein, dass die Empfehlungen Herzlichen Dank. der Hochrangigen Expertengruppe zur Reform der OSZE sorgfältig geprüft und gegebenenfalls umgesetzt werden, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie dass die mit dem Helsinki +40 Prozess verbundenen Re- der Abg. Marieluise Beck (Bremen) [BÜND- formen vorangebracht werden, und natürlich, dass die NIS 90/DIE GRÜNEN]) 13278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ein Hoffnungsschimmer in dieser Eiszeit sind die (C) Die Kollegin Katja Keul erhält das Wort für die Frak- weiterhin stattfindenden Beobachtungsflüge gemäß dem tion Bündnis 90/Die Grünen. Vertrag über den Offenen Himmel. Auf diesem Wege findet noch eine regelmäßige Beobachtung militärischer Aktivitäten statt, sogar über der Ostukraine. Und aus- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gerechnet hier mangelt es Deutschland seit Jahren an Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Ge- geeignetem Flugmaterial. Jedenfalls seit ich im Bundes- neralsekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Juli tag bin – das sind sechs Jahre –, reden wir darüber, wie waren wir mit der deutschen Delegation der Parlamen- dringend dieses Flugzeug gebraucht wird, für das immer tarischen Versammlung der OSZE in Helsinki, 40 Jahre irgendwie kein Geld da war. nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte. Nach (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das kommt!) einer Geburtstagsfeier war die Stimmung dort allerdings nicht. Der Geist von Helsinki, den wir alle so gerne be- Wenn ich daran denke, wie viele Milliarden wir schon schworen hätten, war der Veranstaltung ferngeblieben. für mangelhaftes oder flugunfähiges Gerät an EADS aus Das finnische Außenministerium war leider der irrigen dem Verteidigungshaushalt ausgegeben haben, dann tut Auffassung gewesen, die EU-Sanktionen fänden auch mir das richtig weh. Wie ich höre, soll es jetzt das Open- auf die russischen Delegationsmitglieder in der Parla- Sky-Flugzeug tatsächlich geben – endlich. Es wäre aber mentarischen Versammlung Anwendung, und verweiger- auch wirklich lamentabel, wenn ausgerechnet diese letzte te ihnen die Einreise. Das war, um es mit den Worten der funktionierende vertrauensbildende Maßnahme während Kollegen der Koalition zu sagen, kontraproduktiv. der deutschen Präsidentschaft mangels Flugzeug hätte eingestellt werden müssen. Der Vorfall verdeutlicht aber nur zu gut, vor welcher Herausforderung die deutsche Präsidentschaft im nächs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten Jahr steht. Das gemeinsame Gespräch zwischen den 57 Mitgliedstaaten ist in vielen Bereichen das Einzige, Vielleicht gelingt es der Bundesregierung ja sogar, die was uns noch geblieben ist. Die 1990 in Paris vereinbar- von diesem Vertrag abgedeckten Gebiete auszudehnen, ten vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen an dem bislang 34 von 57 OSZE-Mitgliedstaaten teilneh- müssen daher dringend wiederbelebt werden. Darin sind men. wir uns, glaube ich, alle einig. Um in diesen schwierigen Zeiten wieder Vertrauen Da ist zunächst der KSE-Vertrag über die konventio- aufzubauen, dürfte die Stärkung der noch existierenden nelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa. Nach Instrumente realistischer sein als der Abschluss neuer (B) einem ersten erfolgreichen Jahrzehnt wurde der Vertrag Verträge. Dennoch darf die Ratifizierung des KSE-Ver- (D) gemeinsam überarbeitet und der veränderten Realität in trages bei allen Schwierigkeiten nicht aus den Augen Europa angepasst. Leider haben die NATO-Staaten 1999 verloren werden. die Ratifizierung des angepassten Vertrages verweigert in Als Grüne plädieren wir eindringlich dafür, die all- der fälschlichen Hoffnung, Russland damit zum Abzug seits stattfindende Aufrüstungsspirale einzudämmen, und seiner Truppen aus Abchasien und Transnistrien zwingen unterstützen den Außenminister in seinem erkennbaren zu können. 2007 hat dann seinerseits Russland den Ver- Bemühen um verbale Abrüstung zwischen Ost und West. trag insgesamt suspendiert. Seitdem finden keine gegen- seitigen Inspektionen mehr statt, und Russland arbeitet (Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist doch mal ein nicht einmal mehr in der Gemeinsamen Beratungsgruppe Wort!) mit. Was die Rüstungskontrolle angeht, sehen wir aber bei Der gegenseitige Austausch von Informationen und der Kontrolle der eigenen Exporte durchaus noch Luft Verifikationsinspektionen fehlt uns heute mehr denn je. nach oben. Unsere Vorschläge für ein Rüstungsexport- kontrollgesetz liegen Ihnen vor. Anlässlich der Ergebnis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN se der letzten Sitzung des Bundessicherheitsrates erinne- sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LIN- re ich an dieser Stelle an das Dokument über Kleinwaffen KE]) und leichte Waffen, das die OSZE im Jahr 2000 verab- Mangelnde Informationen über militärische Bestände schiedet hat. schaffen zusätzliches Misstrauen auf beiden Seiten und (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE führen zu gegenseitigen Drohgebärden und Provokatio- LINKE]) nen, wie wir sie seit dem Kalten Krieg nicht mehr erlebt haben. Die zu geringen Notifikationspflichten des Wiener Nutzen Sie die Präsidentschaft also nicht nur dafür, Dokuments können den KSE-Vertrag nicht ersetzen. Die zwischen den anderen zu vermitteln, sondern auch dazu, deutsche Präsidentschaft muss daher alles tun, um die selbst mit gutem Beispiel in Sachen Rüstungskontrolle Rückkehr zum KSE-Vertrag zu ebnen. voranzugehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Mindestens aber, sozusagen als Plan B, müssen das Wie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ner Dokument überarbeitet und die Quoten erhöht wer- sowie des Abg. Dr. [DIE LIN- den. KE]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13279

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: erwartet werden, dass diese sich an die in Minsk getrof- (C) Ich erteile das Wort dem Kollegen Fabritius für die fenen Vereinbarungen halten. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Einschätzung, die OSZE habe seit der Jahrhun- Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): dertwende an Bedeutung verloren, teile ich nicht. Sie hat sich in einer Zeit relativen Friedens lediglich neue Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Generalsekretär! Schwerpunkte gesucht. Wichtig war, dass im entschei- Meine Damen und Herren! 40 Jahre nach Helsinki und denden Moment die wesentlichen Strukturen der po- 25 Jahre nach Paris beschwört der Antrag, sich des frei- litisch-militärischen Komponente reaktiviert werden heitlichen und zukunftsweisenden Geistes dieser beiden konnten. Ereignisse zu erinnern. Sie, Herr Außenminister, haben diesen Geist mit einem Zitat aus den Archiven untermau- Die daraus resultierenden, in der Ukraine gemachten ert und auch verdiente Politiker genannt, die diesen Geist Erfahrungen müssen jedoch ausgewertet werden und in befördert haben. Ich ergänze die Aufzählung um Namen ein neues Krisenreaktionskonzept der OSZE einfließen. wie Helmut Kohl und Franz Josef Strauß und viele ande- Sollten sich derartige Krisen wiederholen – das Poten- re. Leider gesellen sich zu diesem Geist von Helsinki in- zial dafür ist leider vorhanden –, darf es nicht wie im zwischen auch die Geister von Simferopol, von Donezk­ aktuellen Fall zu einer Reaktivierung alter Mechanismen und Luhansk. Lieber Herr Dr. Neu, außer der Linken fin- kommen, sondern zu einer schnellen, effektiven Reakti- det das hier niemand amüsant. on auf Basis eines neuen Krisenmanagements, das der veränderten Sicherheitslage angepasst ist. Im Antrag ist 25 Jahre nach der Unterzeichnung der Charta von Pa- von einer 15-köpfigen Expertengruppe die Rede, welche ris, welche die Spaltung Europas für beendet erklärte, hierzu Empfehlungen erarbeiten soll, die unter dem deut- müssen wir feststellen, dass die Bruchstellen in unserer schen Vorsitz dann auch umgesetzt werden könnten. Friedensordnung und unserer Sicherheitsarchitektur sich wieder deutlicher zeigen und die Organisation für Si- Ich greife beispielhaft zwei Punkte im Antrag heraus, cherheit und Zusammenarbeit in Europa erneut dringend die mir besonders zielführend erscheinen. Das ist zum ei- gebraucht wird. In dieser schwierigen Lage übernimmt nen die Aufforderung, einen Schwerpunkt des Vorsitzes Deutschland 2016 den Vorsitz in der OSZE. Damit sind auf den Bereich des Krisenmanagements zu legen und zu Recht große Hoffnungen verbunden. hierfür die Krisenreaktions- und Krisenmanagementfä- higkeiten über den gesamten Konfliktzyklus zu verbes- Angesichts der alles überlagernden Flüchtlingspro- (B) sern. Auch die Priorisierung der Konfliktprävention und (D) blematik ist der Konflikt in der Ostukraine vielleicht eine entsprechende Stärkung des heute auch anwesenden nicht ganz in Vergessenheit geraten. In der öffentlichen Generalsekretärs sind eminent wichtig. Wahrnehmung ist er jedoch deutlich gesunken. Der OSZE kommt bei der Beilegung dieses Konfliktes eine Ich bin froh, dass der Antrag darüber hinaus „eine entscheidende Rolle zu. Ich empfehle jedem, die fast täg- starke politische Führung durch einen handlungsfähigen lich aktualisierten Berichte der OSZE-Beobachtermissi- Vorsitz“ fordert. Ich bin jedoch gleichsam der Meinung, on zu lesen. Man kann so die Fieberkurve des Konflikts dass dies bezogen auf den deutschen Vorsitz und ange- in den verschiedenen Regionen detailliert nachverfolgen. sichts dieser Bundesregierung selbstverständlich ist. Die Mission verzeichnete zum Beispiel vergangenen Ein Beispiel zu meinem zweiten Punkt, einer Stär- Donnerstag 52 Explosionen und schweres Maschinen- kung der Konfliktprävention, sind die Minderheiten- gewehrfeuer am Hauptbahnhof von Donezk. Von einem rechte: Viele der aktuellen Konflikte sind ethnisch und effektiven Waffenstillstand kann keine Rede sein. religiös begründet. In anderen Fällen, zum Beispiel auf Ja, meine Damen und Herren, die Ukraine ist nicht die der Krim oder in der Ostukraine, werden Mehrheiten und einzige Sorge, die uns momentan umtreibt. Die derzei- ethnische Minderheiten gegeneinander ausgespielt. Aus tige Gewichtung des Konflikts wird dessen Bedeutung diesem Grund ist die Arbeit der Hohen Kommissarin für für die Sicherheit in Europa jedoch nicht gerecht. Un- nationale Minderheiten der OSZE für die Konfliktprä- ter schwierigen Umständen dauert die Kontrolle des in vention und Konfliktlösung in ihrem frühestmöglichen Minsk vereinbarten Abzugs schwerer Waffen an, wobei Stadium von entscheidender Bedeutung. Sie agiert als die OSZE-Beobachter auf die Mitwirkung der Kon- eine Art Frühwarnsystem für Konflikte, bevor diese eine fliktparteien essenziell angewiesen sind. Das Fehlen ei- nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entwickeln. ner angemessenen technischen Ausstattung sowie man- Für eine verbesserte Konfliktprävention muss ihre Stel- gelnde Durchsetzungsmöglichkeiten stellen die OSZE lung daher weiter gestärkt werden. vor erhebliche Probleme. Lassen Sie mich mit einer ganz persönlichen Erinne- (Beifall der Abg. Marieluise Beck (Bremen) rung schließen: Was bereits 1966 in Bukarest im Ansatz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) angelegt und dann durch die Schlussakte von Helsinki 1975 beschlossen wurde, hat mich und viele Mitmen- Besonders der Zugang zu den Stellungen der sogenann- schen hinter dem Eisernen Vorhang andauernd begleitet: ten Volksrepubliken Luhansk und Donezk wird den Be- Es gab keinen Eingabebrief, den meine Eltern an die Be- obachtern verwehrt. Auch wenn es sich hier um nicht- hörden des Ceausescu-Regimes geschrieben hatten, um staatliche, irreguläre Kampftruppen handelt, darf doch für uns Kinder Freiheit zu erstreiten, der nicht in seiner 13280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Bernd Fabritius (A) Einleitung auf die Konferenz von Helsinki und die in der Vertrag über konventionelle Streitkräfte“, um nur zwei (C) Schlussakte zugesagte – ich zitiere – „Achtung der Men- Beispiele zu nennen. schenrechte und Grundfreiheiten … für alle ohne Unter- schied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der (Unruhe) Religion“ erinnerte.

Mir hat dieses Ereignis damals große Hoffnung ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: macht. Ich wünsche mir, dass der deutsche OSZE-Vorsitz Einen Augenblick, Herr Kollege Bergner. – Alle Kol- diese Hoffnung auf eine Festigung des Friedens und der leginnen und Kollegen, die in der zutreffenden Annahme, Freiheit in Europa weiter in die Zukunft trägt. dass nachher wieder abzustimmen ist, den Saal betreten, bitte ich dringend, Platz zu nehmen. Es wird ohnehin – Danke. über die Rede des Kollegen Bergner hinaus – dann eine gewisse Zeit brauchen, weil noch mehrere Abstimmun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen durchzuführen sind. Niemand sollte sich zumuten, neten der SPD und der Abg. Marieluise Beck das im Stehen zu machen. Deswegen bitte ich hier um ein (Bremen) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) geordnetes Verfahren.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte, Herr Bergner. Christoph Bergner ist der letzte Redner zu diesem Ta- gesordnungspunkt. Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte dazu auf- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): fordern, dass das, was ich als innere Krise der OSZE be- Herr Präsident! Herr Generalsekretär! Liebe Kolle- zeichne, von uns ernst genommen wird, und zwar in dem ginnen und Kollegen! Als letzter Redner einer solchen Sinne, dass wir uns darüber klar werden, dass es hier um Debatte steht man in der Pflicht, die eigenen Aussagen die geistigen Fundamente der OSZE geht. Wir werden in das Licht des schon Gesagten zu rücken. Ich will dies in wenigen Tagen, am 21. November, den 25. Jahrestag versuchen. der Charta von Paris für ein neues Europa als zentrales Grundsatzdokument der jüngeren OSZE-Geschichte be- Ich stelle fest: Alle Fraktionen des Deutschen Bundes- gehen können. Wenn wir da lesen, dass die Vision eines tages begrüßen den Vorsitz Deutschlands in der OSZE Europas aus lauter demokratischen Staaten von Van- im nächsten Jahr. Ich würde aus dieser Begrüßung auch couver bis Wladiwostok gepflegt wurde, und das mit gerne eine Unterstützung der Bundesregierung ableiten. der heutigen Wirklichkeit vergleichen, dann haben wir (B) festzustellen, dass sich ganz offensichtlich Risse in den (D) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Der erste Wertgrundlagen zeigen. Diese dürfen wir nicht ignorie- Punkt ist okay! Beim zweiten muss man mal ren. schauen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zweiter Punkt. Wir alle wissen – deshalb ist mir die- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) se Unterstützung so wichtig –, dass dieser Vorsitz mit einer ungewöhnlichen Verantwortung verbunden ist – Viele Mitgliedstaaten sind beim Aufbau nachhaltiger ungewöhnlich deshalb, weil wir uns in kritischen Zei- demokratischer Strukturen gescheitert. Die Sicherung ten befinden. Der Bundesaußenminister hat an anderer der Menschenrechte hat sich als nicht überall durchsetz- Stelle von stürmischen Zeiten gesprochen, in denen wir bar erwiesen. Von prominentester Bedeutung ist die Ent- die Kommandobrücke betreten. Die Zeiten sind kon- wicklung in der Russischen Föderation, wo nach meinem fliktbeladen. Zu diesem Schluss kommen wir, wenn wir Eindruck Systemerhalt und Systemstärkung eindeutig den Raum außerhalb der OSZE betrachten. So wird die Priorität vor den persönlichen Rechten der Bürger be- Forderung an die OSZE erhoben, im Rahmen des Out­ kommen haben und wo im Interesse eines starken Staa- reachings konfliktregulierend über den eigenen Raum tes das Wohl des Einzelnen auf grundsätzliche Weise der hinaus tätig zu werden. Die Konferenz von Jordanien, Staatsräson untergeordnet ist. Vor diesem Hintergrund die der Bundesaußenminister erwähnte, zeigt, dass wir brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass – ausge- in diesem Zusammenhang aufgrund der Kooperationser- hend von einem solchen Bild eines starken Staates – auch fahrungen der OSZE durchaus entsprechende Angebote die Einhaltung völkerrechtlicher Normen dem Interesse machen können. des starken Staates untergeordnet wird. Auf diese Weise würde ich gerne die gegenwärtigen Konflikte innerhalb Noch kritischer in diesen unruhigen Zeiten ist die der OSZE sehen, nicht um die OSZE zu schwächen, son- Krise innerhalb der OSZE. Frau Keul hat die Parlamen- dern um den Stärkungsprozess der OSZE, der mit der tarische Versammlung von Helsinki, die eigentlich eine deutschen Ratspräsidentschaft verbunden sein soll, auf Jubiläumsveranstaltung war, in Erinnerung gerufen, die ein ehrliches Fundament zu stellen. tatsächlich symptomatisch für die innere Krise der OSZE gewesen ist. Wer die mehrheitlich beschlossenen Texte Die Kunst des deutschen OSZE-Vorsitzes wird des- liest, der findet Stichworte wie zum Beispiel „tiefe Miss- halb darin bestehen, dass wir auf der einen Seite für die billigung der russischen Aggression gegen die Ukraine Stärkung der OSZE – das bedeutet für mich die Stär- einschließlich der Annexion und Besetzung der Krim“ kung aller Dimensionen der OSZE – eintreten und auf oder „Bedauern über den Austritt Russlands aus dem der anderen Seite die Risse und die Konflikte betreffend Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13281

Dr. Christoph Bergner (A) die Wertgrundlagen der OSZE nicht bagatellisieren und bundesrechtlich geregelte Heilberufe und an- (C) nicht ignorieren. dere Berufe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Drucksache 18/6616 ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Überweisungsvorschlag: DIE GRÜNEN) Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nur auf ehrlichen Wertgrundlagen werden wir in der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lage sein, eine wirkliche Stärkung der OSZE herbeizu- führen. Dies ist keine einfache Aufgabe. Ich wünsche ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris unserer Bundesregierung und unserem Bundesaußenmi- Wagner, Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, nister dafür viel Erfolg. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Danke schön. Radargeschädigte der Bundeswehr und der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ehemaligen NVA zügig entschädigen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Drucksache 18/6649 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Hier geht es um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorge- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der schlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung auf- Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksa- geführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein- che 18/6641 mit dem Titel „40 Jahre nach Helsinki, verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind 25 Jahre nach Paris“. Wer stimmt diesem Antrag zu? – die Überweisungen so beschlossen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag bei Enthaltung der Opposition angenommen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 34 a bis 34 k. Hier geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, Unter dem Tagesordnungspunkt 6 b rufe ich die Be- zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Den Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 34 a auf: deutschen Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Zusammenarbeit in Europa im Jahr 2016 für Frieden und regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Abrüstung nutzen“ auf. Der Ausschuss empfiehlt in sei- (B) Gesetzes zur Änderung des Lebensmittelspe- (D) ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/6377, zialitätengesetzes diesen Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- che 18/5108 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlus- Drucksache 18/6164 sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- enthalten? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit ses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Frakti- schuss) on Die Linke angenommen. Drucksache 18/6670 Unter Tagesordnungspunkt 6 c stimmen wir ab über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck- dem Titel „Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 zur Stär- sache 18/6670, den Gesetzentwurf der Bundesregierung kung der OSZE nutzen“. Auch hier empfiehlt der Aus- auf der Drucksache 18/6164 in der Ausschussfassung an- schuss auf seiner Drucksache 18/6375, diesen Antrag zunehmen. Wer diesem Gesetzentwurf in der Ausschuss- abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung fassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Hand- zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit zeichen. – Das scheinen alle zu sein. Ist jemand dagegen, ist auch diese Beschlussempfehlung mit der Mehrheit der oder möchte sich jemand enthalten? – Das ist nicht der Stimmen der Koalition angenommen. Fall. Großer Triumph für die Bundesregierung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 sowie den Zu- Dritte Beratung satzpunkt 2 auf: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 33. Erste Beratung des von der Bundesregierung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um- Wer will dagegenstimmen oder sich der Stimme enthal- setzung der Richtlinie 2013/55/EU des Eu- ten? – Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig ange- ropäischen Parlaments und des Rates vom nommen. 20. November 2013 zur Änderung der Richt- Tagesordnungspunkt 34 b: linie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung Zweite Beratung und Schlussabstimmung des (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszu- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- sammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-In- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom formationssystems („IMI-Verordnung“) für 28. März 2014 zwischen der Bundesrepublik 13282 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Deutschland und der Volksrepublik China zur – zu dem Antrag der Abgeordneten Steffi (C) Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur ­Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vermögen Schutz der Meere weltweit verankern Drucksache 18/6449 Drucksachen 18/4809, 18/4814, 18/5243 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- ausschusses (7. Ausschuss) Hier empfiehlt der Ausschuss für Umwelt, - Natur schutz, Bau und Reaktorsicherheit unter Buchstabe a Drucksache 18/6666 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5243 Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlus- die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf sempfehlung auf Drucksache 18/6666, den Gesetzent- der Drucksache 18/4809 mit dem Titel „Meeresumwelt- wurf der Bundesregierung auf der Drucksache 18/6449 schutz national und international stärken“. Wer stimmt anzunehmen. dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dage- gen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussemp- Zweite Beratung fehlung gegen die Stimmen der Opposition mit Mehrheit und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Unter Buchstabe b empfiehltder Ausschuss die Ableh- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die- nung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ser Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4814 mit dem Titel „Schutz der Mee- angenommen. re weltweit verankern“. Wer stimmt für diese Beschluss­ Tagesordnungspunkt 34 c: empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist diese Beschlussempfehlung Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- überraschenderweise mit den Stimmen der Koalition ge- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- gen die Stimmen der Opposition angenommen. zes zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1007/2011 und zur Ablösung des Textil- Tagesordnungspunkt 34 e: kennzeichnungsgesetzes Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Drucksache 18/6488 richts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (B) der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger,­ (D) ses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) Azize Tank, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 18/6662 Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang Hier empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und ­Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und Energie in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN che 18/6662, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6488 in der Ausschussfassung anzu- Doppelstandards beenden – Fakultativproto- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in koll zum UN-Sozialpakt zeichnen und ratifi- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zieren zeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Oppositions- Drucksachen 18/4332, 18/6184 fraktionen angenommen. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitä- Dritte Beratung re Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6184, diesen gemeinsamen Antrag der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem beiden Oppositionsfraktionen mit dem Titel „Doppel- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen standards beenden – Fakultativprotokoll zum UN-Sozial- zu erheben. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – pakt zeichnen und ratifizieren“ abzulehnen. Wer stimmt Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Abstim- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- mungsergebnis, also mit auskömmlicher Mehrheit, ange- gen? – Wer enthält sich? – Dann ist auch diese Beschluss­ nommen. empfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Tagesordnungspunkt 34 d: Stimmen der Opposition angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 f bis 34 k. Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 34 f: – zu dem Antrag der Abgeordneten Ralph Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- ­Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Ab- onsausschusses (2. Ausschuss) geordneter und der Fraktion DIE LINKE Sammelübersicht 243 zu Petitionen Meeresumweltschutz national und interna- tional stärken Drucksache 18/6561 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13283

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- nehmen haben wir zugelassen, damit keine Leerfahrten (C) hält sich? – Die Sammelübersicht 243 ist angenommen. entstehen: So fahren beispielsweise Lkw, die von War- schau nach Frankfurt fahren, nach Warschau auch mit Tagesordnungspunkt 34 g: etwas Ladung zurück. Mangelnde Kontrolle konnten wir Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- nicht nachweisen. Kontrolle findet sehr wohl statt. Wenn onsausschusses (2. Ausschuss) irgendwo Fehler passieren, dann eher bei deutschen als bei ausländischen Unternehmen. Sammelübersicht 244 zu Petitionen Was aber auch kritisiert wurde, sind die Arbeitsbedin- Drucksache 18/6562 gungen von Lkw-Fahrern. Hier geht es um die Ruhezei- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ten. Wir wollen nicht mehr, dass die Lkw-Fahrer immer enthält sich? – Auch diese Sammelübersicht ist bei Ent- nur in ihren Lkw übernachten müssen. haltung der anwesenden Mitglieder der Fraktion Bünd- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause – nis 90/Die Grünen angenommen. Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf der Wiese! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und Zelten!) Ablehnung der Fraktion Die Linke!) Vielmehr sollen Lkw-Fahrer ihre Ruhezeiten auch wo- – Die Linke legt Wert darauf, dass sie dieser Sammel- anders abhalten können. Dieses Problem hat die Bundes- übersicht nicht zustimmt, was wir hiermit auch im Pro- regierung dankenswerterweise erkannt, und sie ist dabei, tokoll vermerken. im Fahrpersonalgesetz entsprechende Änderungen vor- zunehmen. Tagesordnungspunkt 34 h: Wir möchten, dass solche Änderungen europaweit Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- vollzogen werden. Deswegen lautet unser Votum, die onsausschusses (2. Ausschuss) Petitionen der Bundesregierung zur Erwägung zu über- Sammelübersicht 245 zu Petitionen weisen und den Fraktionen, Herr Kauder, zur Kenntnis zu geben. Zudem sollen sie dem Europäischen Parlament zu- Drucksache 18/6563 geleitet werden. Wir hoffen, dass das alles Früchte trägt. Zu dieser Sammelübersicht hat der zuständige Be- Die Arbeit im Petitionsausschuss macht Spaß. richterstatter Gero Storjohann zu einer kurzen ergänzen- den Erläuterung um das Wort gebeten, für die er selbst- Herzlichen Dank fürs Zuhören. verständlich die Gelegenheit erhält. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (B) Ein Hinweis für die zahlreichen Kollegen am Ende (D) des Plenarsaales: Wäre es nicht eine gute Idee, sich diese Präsident Dr. Norbert Lammert: erhellenden Erläuterungen im Sitzen anzuhören? Dieser Hoffnung schließt sich das Präsidium an. – Ich rufe damit zur Abstimmung über die gerade noch ein- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) mal in einem wichtigen Punkt erläuterte Sammelüber- Bitte, Herr Kollege. sicht 245 auf der Drucksache 18/6563 auf. Wer stimmt dafür? – Alle. Wer stimmt dagegen? – Keiner. Wer ent- Gero Storjohann (CDU/CSU): hält sich? – Auch keiner. Wie schön. Das ist ein bemer- kenswertes Ergebnis Ihrer Intervention, Herr Kollege Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Storjohann; Petitionsausschuss bearbeitet pro Jahr an die 15 000 Pe- titionen und hat es Ihnen bisher erspart, jede einzelne (Heiterkeit und Beifall) Petition hier im Plenum vorzustellen und zu beraten. denn ohne Ihre Erläuterung wäre dieses stolze Ergebnis (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schade!) ganz sicher so nicht zustande gekommen. Wenn es aber vorkommt, dass der Petitionsausschuss Tagesordnungspunkt 34 i: einstimmig mit großem Votum eine Empfehlung an die Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Bundesregierung ausspricht, dann halten wir es für ange- onsausschusses (2. Ausschuss) messen, hier einmal vorzutragen, wie es zu diesem Votum gekommen ist. So haben wir es im Ausschuss beschlos- Sammelübersicht 246 zu Petitionen sen. Ein Abgeordneter hat dann die schöne Aufgabe, vor Drucksache 18/6564 großem Publikum zu sprechen. Ich danke recht herzlich. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (Beifall im ganzen Hause) hält sich? – Die Sammelübersicht 246 ist bei Enthaltung Wir haben am 4. November 2015 vier sachgleiche Pe- der Fraktion Die Linke angenommen. titionen zur Beratung vorliegen gehabt, von denen eine Tagesordnungspunkt 34 j: öffentlich war. Es ging eigentlich darum, dass man sich über mangelnde Kontrolle auf unseren Autobahnen be- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- schwerte, und zwar im Hinblick auf ausländische Lkw, onsausschusses (2. Ausschuss) die auch Kabotage vornehmen. Kabotage bezeichnet das Sammelübersicht 247 zu Petitionen Erbringen von Transportdienstleistungen innerhalb eines Landes. Kabotage durch ausländische Verkehrsunter- Drucksache 18/6565 13284 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- bitte jetzt Frau Keul stellvertretend für die geballte Op- (C) hält sich? – Die Sammelübersicht 247 ist gegen die Stim- position, diese Rolle zu spielen. Haben wir ein ähnliches men der Fraktion Die Linke angenommen. Problem an den anderen Urnen? – Nein. Dann eröffne ich den ersten Abstimmungsvorgang. Tagesordnungspunkt 34 k: Ich frage, ob ein anwesendes Mitglied des Hauses sei- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- ne Stimmkarte noch nicht abgegeben hat. – Das ist nicht onsausschusses (2. Ausschuss) erkennbar. Damit schließe ich diesen ersten Wahlgang.1) Sammelübersicht 248 zu Petitionen Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf: Drucksache 18/6566 Wahl von Mitgliedern des Sondergremiums Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Wer enthält gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmecha- sich? – Gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen nismusgesetzes ist die Sammelübersicht 248 mit Mehrheit angenommen. Drucksache 18/6630 Damit sind wir mit den Abstimmungen zu diesem Ta- gesordnungspunkt fertig. Bevor ich auch hier zur Erläuterung des Verfahrens komme, bitte ich um Aufmerksamkeit für folgenden Hin- Wir kommen jetzt zu den Wahlgängen. Wir werden weis: gleich nacheinander zwei Wahlen durchführen, für die Sie Ihren grünen und Ihren gelben Wahlausweis benö- Die Wahl, die wir jetzt durchführen, ist geheim. Wa­ tigen. Die meisten von Ihnen werden auch einen blauen rum? Weil wir das so festgelegt haben! Wahlausweis vorgefunden haben. Den können Sie ver- (Heiterkeit) nichten oder als Souvenir an die heutige denkwürdige Plenarsitzung mit nach Hause nehmen. Jedenfalls brau- Die Wahl vorher war nicht geheim. Warum? Weil wir chen wir den heute nicht. Die Wahlausweise können Sie, das auch so festgelegt haben! Wenn ich die Relevanz der soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in beiden Vorgänge betrachte, fällt es mir außerordentlich der Lobby entnehmen. Achten Sie unbedingt darauf, dass schwer, eine offenkundig schlüssige Logik in den unter- die Wahlausweise Ihren Namen tragen. schiedlichen Wahlverfahren zu erkennen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf: (Beifall des Abg. Roland Claus [DIE LIN- KE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremi- Da sind Sie nicht alleine, Herr Präsident!) ums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaus- (B) haltsordnung Warum die Mitglieder des Vertrauensgremiums nach un- (D) serer Haushaltsordnung offen gewählt werden können, Drucksache 18/6629 dagegen die Mitglieder des Sondergremiums nach dem Die Fraktion Die Linke schlägt auf Drucksa- Stabilisierungsmechanismusgesetz nicht, erschließt sich che 18/6629 den Abgeordneten Roland Claus vor. nicht wirklich. Bevor wir zur Wahl kommen, muss ich Ihnen nun die (Marieluise Beck (Bremen) [BÜNDNIS 90/ sorgfältig geregelten Prozeduren kurz erläutern. Laut DIE GRÜNEN]: Warum fällt das dem Herrn Gesetz ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Präsidenten erst jetzt ein? – Mitglieder des Bundestages auf sich vereint – also nicht () [CDU/CSU]: Das ist ein Witz!) der Anwesenden, sondern der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages –, das heißt, wer mindestens 316 Stim- Ich trage es übrigens nur deswegen vor, weil ich schon men erhält. Die Wahl erfolgt mit der Stimmkarte und dem einen vergeblichen Anlauf im Ältestenrat hinter mir habe, Wahlausweis in der grünen Farbe. Die Stimmkarten wer- eine Reihe ähnlich unplausibel unterschiedlicher Wahl- den im Saal verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte verfahren in einer vernünftigen Weise zu harmonisieren. haben, besteht noch die Möglichkeit, diese bei den Plenar­ Deswegen würde ich mir für den fälligen zweiten Anlauf assistenten abzuholen. Diese Wahl findet offen statt. Sie gern die Zustimmung des Hauses dazu einholen, dass wir können Ihre Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen. das endlich bereinigen. Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „Ja“, (Beifall im ganzen Hause – Britta Haßelmann „Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind demzufol- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An mir hat es ge Stimmkarten, die entweder kein Kreuz, mehr als ein nicht gelegen!) Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Ist jemand anderer Meinung? – Das ist nicht der Fall. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen Dann nehmen wir das als einmütige Willensbekundung werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und zu Protokoll. Schriftführern an den Wahlurnen Ihren grünen Wahlaus- weis. Der gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl. (Heiterkeit) Ohne diesen grünen Wahlausweis ist dieser Nachweis Die Fraktion Die Linke schlägt auf der Drucksa- nicht zu führen. che 18/6630 das bisherige stellvertretende Mitglied Ro- Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, land Claus als ordentliches Mitglied und das bisherige die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Nein. Die Opposition wird gebraucht. – Ich 1) Ergebnis Seite 13285 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13285

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ordentliche Mitglied Dietmar Bartsch als Stellvertreter noch jemanden? – Nein, das ist nicht der Fall. Hier auf (C) vor; die Funktionen sollen also getauscht werden; ge- der rechten Seite gibt es auch niemanden mehr. heim getauscht, versteht sich. Dann schließe ich jetzt die Wahl und bitte die Schrift- Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich erneut um Ihre führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be- Aufmerksamkeit für die Hinweise zum Wahlverfahren: ginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mit- glieder des Bundestages, also wiederum mindestens Ich darf Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen 316 Stimmen, erforderlich. Für diese Wahl benötigen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Sie Ihren gelben Wahlausweis, der, soweit noch nicht Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Ab- geschehen, den Stimmkartenfächern in der Lobby zu satz 2 der Bundeshaushaltsordnung bekannt geben: ab- entnehmen ist. Die Wahlunterlagen erhalten Sie von den gegebene Stimmen 582, ungültige Stimmen 3, gültige Schriftführerinnen und Schriftführern an den Ausgabeti- Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt 464, mit Nein 72, schen vor den Wahlkabinen. Dort zeigen Sie bitte Ihren Enthaltungen 43. Damit wurde die erforderliche Mehr- Wahlausweis vor. Sie erhalten dann die gelbe Stimmkarte heit erreicht, und der Abgeordnete Roland Claus ist ge- für die Wahl des ordentlichen Mitglieds und eine blaue wählt.2) Stimmkarte für die Wahl des stellvertretenden Mitglieds (Beifall bei der LINKEN) sowie einen Wahlumschlag. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf: Auf jeder der beiden Stimmkarten können Sie jeweils ein Kreuz machen, also mit „Ja“ oder „Enthalte mich“ 9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten votieren. Ungültig sind Stimmkarten, die kein Kreuz Dr. Anja Weisgerber, Marie-Luise Dött, oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze Andreas Jung, weiterer Abgeordneter und enthalten. der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Frank Schwabe, Dr. Matthias Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre bei- Miersch, Marco Bülow, weiterer Abgeord- den Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und neter und der Fraktion der SPD müssen beide Stimmkarten noch in der Wahlkabine in den Wahlumschlag legen – anderenfalls wäre die Stimm­ Klimakonferenz in Paris muss ehrgeizi- abgabe ungültig; die Wahl könnte in diesem Fall vor- ges Abkommen beschließen schriftsmäßig wiederholt werden –; darauf werden die Drucksache 18/6642 Schriftführerinnen und Schriftführer achten. (B) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (D) Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, Claudia müssen Sie der Schriftführerin oder dem Schriftführer an Roth (Augsburg), weiterer Abgeordneter der Wahlurne Ihren gelben Wahlausweis übergeben, der und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch hier als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl NEN gilt. Kontrollieren Sie bitte noch einmal, ob der gelbe Wahlausweis Ihren Namen trägt. Auf der Klimakonferenz in Paris die Weichen für mehr Klimaschutz und glo- Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bit- bale Gerechtigkeit stellen ten, die Plätze einzunehmen. Bevor ich diesen Wahlgang eröffne, weise ich nochmals darauf hin – was sich eigent- Drucksache 18/6648 lich von selbst versteht –, dass, wie vorhin erläutert, die- ser blaue Wahlausweis zwar nicht zusätzlich gebraucht c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva wird, aber hoffentlich niemand auf die Idee kommt, seine Bulling-Schröter, Caren Lay, Dr. ­Dietmar blaue Stimmkarte zu vernichten, es sei denn, er wolle Bartsch, weiterer Abgeordneter und der sich an diesem Wahlgang nicht beteiligen. – Damit eröff- Fraktion DIE LINKE ne ich jetzt diesen Wahlgang. Deutscher Beitrag zu den UN-Klimaver- handlungen – Kohlendioxid als Umwelt- Ist jemand im Saal, der seine Stimmzettel noch nicht schadstoff definieren, Betriebszeiten von abgegeben hat? Kohlekraftwerken begrenzen (Zurufe: Ja!) Drucksache 18/3313 – Ach! Ich habe die Prozession da oben übersehen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak- Vizepräsidentin : torsicherheit Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist jetzt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die letzte Chance, die Stimmkarte abzugeben. Wir haben die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre hier noch eine lange Tagesordnung vor uns. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Nach meinem Überblick ist es jetzt so, dass alle ihre 1) Ergebnisse Seite 13293 A Stimmkarten abgegeben haben. Gibt es hier oben links 2) Anlage 2 13286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- wir haben das auch als „Dekarbonisierung“ bezeichnet. (C) ministerin Dr. Barbara Hendricks für die Bundesregie- Wir brauchen ein klares Signal an Wirtschaft und Gesell- rung. – Bitte schön, Frau Bundesministerin. schaft: Unsere Art, zu wirtschaften, muss sich grundle- gend verändern. Wir müssen lernen, die ökologischen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Grenzen unseres Planeten zu akzeptieren und zu respek- tieren; ich sage ganz bewusst „lernen“. Wir sind auf die- Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- sem Weg eher noch am Anfang. Wir haben noch nicht welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: für alle Probleme Lösungen gefunden, selbstverständlich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht. Ich komme gerade von umweltpolitischen Gesprächen in China zurück. Ich war bis gestern Nacht in Peking. Zweitens wollen wir ein Abkommen mit robusten Re- Die Signale, die ich von dort mitgenommen habe, ma- geln, mit Regeln, die Transparenz sicherstellen und damit chen mich für die anstehenden Verhandlungen in Paris auch Fairness gewährleisten. Das Abkommen wird sich sehr zuversichtlich. Auch China will ein ehrgeiziges und nur bewähren können, wenn klar ist, dass sich alle an die bindendes Klimaabkommen. Auch China will die Erd­ vereinbarten Ziele halten. Deshalb ist es entscheidend, erwärmung auf maximal 2 Grad begrenzen. Ähnliche dass der globale Zielpfad nach Paris regelmäßig und in Signale kommen auch aus Brasilien und aus den Verei- einem transparenten Verfahren überprüft wird. Ich habe nigten Staaten. In Kanada hat sich die neue Regierung zu mich gefreut, dass sich in der vergangenen Woche der einer engagierten Klimaschutzpolitik bekannt. Insgesamt chinesische Staatspräsident und auch der französische haben bereits 162 Länder ihre beabsichtigten nationalen Staatspräsident für diesen Überprüfungsmechanismus Minderungsziele bei der UNO eingereicht. Damit sind ausgesprochen haben. Das ist ein wichtiger Punkt, auch über 90 Prozent aller Treibhausgasemissionen schon um- auf dem Weg nach Paris. fasst. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Natürlich: In Paris liegt noch eine Menge Arbeit vor Wir wissen, dass die vorgesehenen Minderungsbei- uns. Wir brauchen einen Vertrag, den alle 195 Länder träge der Länder bislang noch nicht ausreichen. Aktuelle dieser Erde mittragen können. Das wird nicht einfach Berechnungen zeigen: Wenn wir die Minderungsbeiträge werden. Aber wir waren einem neuen Klimaschutzab- zusammenzählen und hochrechnen, dann könnten wir bei kommen noch nie so nah wie heute. Ich werde in Paris einer Klimaerwärmung von 2,7 Grad ankommen. Das ist alles daransetzen, damit die Konferenz ein Erfolg wird. natürlich zu viel. Das ist selbstverständlich und klar, und Klar ist: Paris wird nicht der Endpunkt der internati- das wissen wir auch; denn bis zum Ende des Jahrhun- onalen Klimaschutzpolitik sein. Wir werden nicht am derts dürfen wir maximal 2 Grad erreichen. Aber das ist (B) 14. Dezember aufwachen, und alle Probleme sind gelöst. gleichwohl eine Momentaufnahme. Es wird ja jetzt das (D) Gleichwohl bin ich zuversichtlich, dass Paris ein Mei- mitgeteilt, von dem die Länder annehmen, dass sie es bis lenstein sein wird, ein Meilenstein, der nach den vielen zum Jahr 2030 leisten können. Selbstverständlich müs- Rückschlägen der Vergangenheit deutlich machen wird, sen wir das alles auch mit allem Ehrgeiz umsetzen. dass sich die Weltgemeinschaft dieser Aufgabe stellt. Gleichzeitig müssen wir in den Jahren, die vor uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) liegen, noch ehrgeiziger werden. Wir können aber auch Ich danke den Koalitionsfraktionen für ihren Antrag ehrgeiziger werden, weil wir natürlich auch technologi- und die damit verbundene Unterstützung für unsere ge- sche Fortschritte machen werden. Wir haben übrigens meinsame Arbeit. Ich danke auch den Grünen und der zum ersten Mal eine 2 vor dem Komma. Bisher war bei Linken. allen Modulationen, bei allen Schätzungen, bei allen An- nahmen und Berechnungen immer eine 3 bis 4 vor dem ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Komma. NEN]: Sehr gut!) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Ich weiß, es ist natürlich nicht Ihre Aufgabe, die Regie- GRÜNEN]: Bis 3,5! – Gegenruf des Abg. rung zu loben – das werden wir gleich auch wieder hö- ­Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wissen Sie ren –, aber klar ist: Wir haben in dieser Sache das gleiche so genau? – Gegenruf der Abg. Annalena Ziel. Ich freue mich deshalb sehr, dass zehn Abgeordnete Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dieses Hauses an der Konferenz teilnehmen werden. Das Ja! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ zeigt: Regierung und Parlament ziehen beim internatio- CSU]: Super!) nalen Klimaschutz an einem Strang und arbeiten zusam- men, und zwar über alle Fraktionsgrenzen hinweg. – Ja, 3 bis 4; klar. – Wenn wir in den Annahmen bzw. in der Aufsummierung der sogenannten INDCs, also (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- der nationalen Minderungsbeiträge, jetzt eine 2,7 haben, wie bei Abgeordneten der LINKEN und des dann halte ich das für ein ermutigendes Zeichen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir dürfen dabei natürlich nicht stehenbleiben. Wir Ich möchte auf zwei Punkte aufmerksam machen, die brauchen alle fünf Jahre diesen Überprüfungsmechanis- mir in diesem Zusammenhang wichtig sind. mus, um – in der Konferenzsprache sagt man: „to raise Erstens müssen wir uns auf ein Langfristziel verstän- the ambition“ – noch ehrgeiziger zu werden, alle fünf digen. Wir brauchen eine grüne Null, also null CO2 aus Jahre noch etwas besser zu werden und der Weltgemein- fossilen Energieträgern im Laufe dieses Jahrhunderts; schaft zu sagen: Jetzt wissen wir, wie es noch besser geht, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13287

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) das machen wir, und dann kommen wir voran. – So muss legt mit nationalen Verpflichtungen; das gefällt mir auch. (C) es laufen. Im Antrag steht: „Dekarbonisierung der Weltwirtschaft im Laufe des Jahrhunderts“. Das ist gut. Bis 2050 soll der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Umbau der Energiewirtschaft angestrebt, also raus aus der CDU/CSU) der Kohle gegangen werden – auch in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tun alles, damit Das alles ist sehr lobenswert. Das sind die Verspre- Paris ein Erfolg wird. Dazu gehört auch, dass wir unsere chen des G-7-Gipfels in Elmau, und diese Forderungen eigenen Hausaufgaben erledigen. Diese Bundesregierung sind gar nicht so weit weg von denen in unserem Antrag. hat sich – Sie wissen das – ehrlich gemacht. Wir haben klar gesagt, dass wir unser Ziel für das Jahr 2020 – min- Auch die Linke will den Ausstieg aus Kohle und Öl. destens 40 Prozent weniger CO -Ausstoß – nur erreichen 2 (Beifall bei der LINKEN) können, wenn wir tatsächlich noch etwas besser werden, als wir bisher waren. Das haben wir mit dem Aktionspro- Wir wollen das letzte Kohlekraftwerk aber 2040 abschal- gramm Klimaschutz auch gemacht und 100 zusätzliche ten. Es ist ganz wie beim Atomausstieg: In ökologischen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Fragen sind wir Ihnen mal wieder zehn Jahre voraus. „Sich ehrlich machen“ bedeutet für mich aber auch, (Beifall bei der LINKEN) Transparenz darüber herzustellen, ob diese Maßnahmen Je mehr es in Ihrem Antrag aber um die konkrete Ver- denn auch wirken. In einer der nächsten Kabinettssitzun- antwortung der Bundesregierung auf nationaler Ebene gen werde ich dem Kabinett den ersten Klimaschutzbe- geht, desto schwammiger wird Ihr Klimafahrplan für richt vorstellen. Wir haben ja im Rahmen des Klimaak- Paris; denn es ist eine Sache, etwas festzustellen, etwas tionsplans beschlossen, dass wir regelmäßig berichten. ganz anderes ist es, zu handeln, und das müssen wir. Das wird also in einer der nächsten Wochen geschehen. Wir sind in diesem Jahr gut vorangekommen. Handeln sollten gerade Sie. Sie stellen nämlich die Regierung und nicht wir. Ich muss Ihnen aber sagen: Sie Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben von machen Ihre Hausaufgaben einfach nicht. Der Antrag be- der Notwendigkeit eines Langfristziels, der grünen Null, deutet nur heiße Luft, und darum lehnen wir den Antrag im Laufe dieses Jahrhunderts gesprochen. In Europa wol- auch ab. len wir vorangehen. Bis 2050 wollen wir 80 bis 95 Pro- zent weniger Treibhausgase ausstoßen. Für Deutschland (Beifall bei der LINKEN) heißt das, wir müssen am oberen Ende dieser „range“ Wir sagen: Das ist für Paris zu wenig und eigentlich auch liegen. Bis dahin ist es natürlich noch ein langer Weg. peinlich. Der Antrag enthält nicht einen Deut an Verbind- Aber wir müssen jetzt anfangen, ihn zu gehen. Ich werde (B) lichkeit. Es werden Aktionsprogramme, Aktionspläne (D) deshalb im Frühjahr des kommenden Jahres den Klima- und Evaluierungen gefordert, und das war es. schutzplan 2050 vorstellen. Der Plan wird unsere be- kannten Zwischenziele bis zum Jahr 2050 fest verankern. Wo ist denn die alte SPD-Forderung nach einem Kli- Die Zwischenziele kennen wir – wir haben sie alle schon maschutzgesetz? Das hätten wir unterstützt, und zwar beschlossen –, nämlich bis 2030 eine CO2-Minderung sofort; das wisst ihr. um mindestens 55 Prozent und bis 2040 um mindestens (Beifall bei der LINKEN) 70 Prozent; sonst würden wir unser Ziel für 2050 nicht erreichen können. Wo ist die Forderung nach einem unabhängigen Exper- tengremium, das Klimaschutzziele kontrolliert und Vor- Wir zeigen auch Strategien auf, mit denen wir diese schläge für neue Maßnahmen vorlegt? Auch das hätten Ziele erreichen können. Es geht darum, national wie in- wir unterstützt. Wo ist die Forderung, dass die interna- ternational die klare Botschaft zu senden: Das Zeitalter tionale Klimaschutzfinanzierung neu, zusätzlich und der fossilen Brennstoffe, das Zeitalter der grenzenlosen aufwachsend sein muss, anstatt sie mit der knappen Ent- Ausbeutung unseres Planeten, unserer Erde, ist vorbei. wicklungshilfe zu verrechnen? Wir müssen eine andere, eine bessere Zukunft gestalten. Stattdessen liest sich der Forderungsteil wie eine Bro- Herzlichen Dank. schüre des BDI oder von VW, wenn Sie verstehen, was (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ich damit meine. (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: So ein Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Blödsinn!) Nächste Rednerin ist Eva Bulling-Schröter, Fraktion Dabei wissen Sie doch genauso gut wie ich, dass hier der Die Linke. Gesetzgeber gefragt ist und nicht zahnlose Aktionspro- (Beifall bei der LINKEN) gramme, die dann von der Kohlelobby gerupft werden. Solange Strom aus Kohle und Wärme aus Öl ein gutes Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Geschäft sind, kann Dekarbonisierung nur ein leeres Ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sprechen bleiben, und solange die Entwicklungsländer Ich habe mir den Antrag der Regierungskoalition ange- Verlierer des Klimawandels sind, werden die Regierun- schaut. Er liest sich erst einmal ganz ordentlich: In das gen erst die Armut bekämpfen und dann in erneuerbare neue Klimaabkommen von Paris sollen weltweit verbind- Energien investieren. Ohne intelligente öffentliche Re- liche Klimaziele – ich sage: das ist sehr richtig –, unter- gelungsmechanismen wird die Wirtschaft keinen Klima- 13288 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Eva Bulling-Schröter (A) schutz betreiben und werden sich die Finanzminister vor National und europäisch haben wir uns ambitionierte (C) einer allzu verbindlichen Klimaschutzfinanzierung drü- Klimaziele gesetzt. Nun müssen auch die anderen Staa- cken, wie jetzt Schäubles Ministerium. ten der Welt nachziehen, damit es in Paris gelingt, ein ambitioniertes verbindliches Abkommen zu verabschie- Die Linke hat für Paris konkrete Vorschläge im Ge- den. Allein können wir das Weltklima nicht retten. Wir päck. Schauen Sie einfach mal in unseren Antrag, damit brauchen auch die anderen Staaten dieser Welt. Sie verstehen, wie Klimaschutzpolitik aussehen kann, die ihren Namen auch verdient. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der LINKEN) In Medienberichten wird teilweise pessimistisch auf Jetzt kommt es: Über das Bundes-Immissionsschutz- den Istzustand geblickt. Aber meiner Meinung nach ste- gesetz wollen wir erstens das Verschmutzungsprivileg hen die Zeichen gar nicht so schlecht. Warum? Gerade in von Kohle bei der Stromerzeugung aufheben und CO2 diesem Jahr haben wir einige sehr gute und sehr wichtige als Umweltschadstoff definieren. Die USA sind diesen Schritte voran gemacht. Es ging ein Ruck durch die Staa- Schritt schon gegangen. In den USA gibt es längst hö- ten der Welt. here Quecksilberobergrenzen für Kohlekraftwerke als in Deutschland. Ihren Spezis könnten Sie es doch einmal Erstens. Wir haben auf dem G-7-Gipfel in Elmau un- nachmachen. ter deutscher Ratspräsidentschaft erreicht, dass die In- dustrienationen sich zu dem 2-Grad-Ziel bekennen und Mit einem Kohleausstiegsgesetz wollen wir zweitens auch betonen, dass tiefe Einschnitte erforderlich sind. nicht nur ein Verbot neuer Kohlekraftwerke, wir wollen Dafür streben die wichtigsten Industrienationen der Welt auch die Betriebszeiten alter Kohlekraftwerke beschrän- den Umbau der Energiewirtschaft bis 2050 und die De- ken. karbonisierung im Laufe des Jahrhunderts an. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Dieser Schwung hat sich positiv ausge- 2040 würde dann das letzte Stück Kohle für unsere Ener- wirkt. Denn momentan sind es schon rund 160 Staaten, gieversorgung verfeuert. die ihre nationalen Klimaziele vorgelegt haben. Und da- runter sind auch große Staaten, die bislang bei Kioto II Eines möchte ich Ihnen abschließend sagen: Mit ei- noch nicht dabei waren, wie Amerika, Russland, Japan, nem Klimaschutzgesetz oder Kohleausstiegsgesetz hät- Kanada, und auch viele kleine Staaten wie Haiti, die Ma- ten RWE und Co. für ihre alten Kraftwerke keine Mil- lediven oder viele kleine afrikanische Länder. Wir haben liardenablöse bekommen. Hier hat die Bundesregierung jetzt viermal so viele Staaten, wie bei Kioto II dabei wa- eine Scheckbuchpolitik betrieben, aber mit dem Geld der (B) ren. Damals waren es 37, jetzt sind es bereits rund 160. (D) Bürgerinnen und Bürger, die jetzt für die deutsche Kli- Das ist ein zweiter wichtiger Zwischenerfolg. maschutzlücke blechen müssen. Es müssen also wieder die Bürger zahlen. Da kann man noch so viele Online- Aber es ist kein Geheimnis – die Ministerin hat es kampagnen für Klimaschutz starten: Diese Politik sorgt schon gesagt –: Die bislang vorgelegten nationalen Kli- dafür, dass die Menschen Klimaschutz als Belastung statt maziele reichen in Bezug auf die 2-Grad-Obergrenze als Chance sehen. Und das darf auf keinen Fall passieren. noch nicht aus. Aber an dieser Stelle will ich eines ganz Wir müssen die Akzeptanz steigern und dürfen die Bür- klar sagen: Paris ist nicht der Endpunkt. Paris ist ein Zwi- ger nicht immer mehr belasten. schenziel, ein Zwischenschritt, ein wichtiger Zwischen- schritt. Das Abkommen muss jetzt den Weg aufzeigen, Danke schön. das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Deswegen brauchen wir (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Überprüfungsmechanismen, wie es auch die europäi- ­Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE schen Umweltminister gefordert haben. Diese Überprü- GRÜNEN]) fungsmechanismen müssen zum einen garantieren, dass die Vertragsstaaten ihre Minderungsverpflichtungen -er füllen. Zum anderen muss aber auch das Ambitionsni- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: veau alle fünf Jahre überprüft werden mit dem Ziel, dass Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht die Vertragsstaaten regelmäßig aktualisierte Klimaziele jetzt die Kollegin Dr. Anja Weisgerber. vorlegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Die Grünen fordern jetzt ebenso wie die Linken, dass ordneten der SPD) wir noch eine Schippe drauflegen

Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und GRÜNEN]: Sehr gut!) Kollegen! Die Uhr tickt. Es sind nur noch 18 Tage bis und das EU-Klimaziel nachbessern. zum Beginn der Klimakonferenz in Paris. Jedes Jahr kurz vor den entscheidenden Klimaverhandlungen haben wir (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE hier im Bundestag eine Debatte dazu. Wir haben einen GRÜNEN]: Genau!) Antrag erarbeitet, in dem wir unsere Forderungen formu- lieren an die internationale, europäische und nationale Aber an dieser Stelle muss ich sagen: Es kann doch nicht Ebene. sein, dass wir jetzt unser Ziel nachschärfen, wenn die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13289

Dr. Anja Weisgerber (A) Beiträge aller Staaten nicht ausreichen, um das 2-Grad- ren die Ersten, die rund 1 Milliarde US-Dollar für die (C) Ziel zu erreichen. Erstauffüllung des internationalen Grünen Klimafonds zur Verfügung gestellt haben. Die Bundeskanzlerin hat (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE im Mai dieses Jahres angekündigt, die Klimafinanzierung GRÜNEN]: Unser Beitrag reicht ja auch nicht bis 2020 auf gut 4 Milliarden Euro zu verdoppeln. Auch aus! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE hier übernehmen wir als Deutschland und übernimmt die GRÜNEN]: Frau Weisgerber, unser Beitrag Bundeskanzlerin höchstpersönlich Verantwortung. reicht auch nicht für das 2-Grad-Ziel!) (Beifall bei der CDU/CSU – Annalena Dadurch nehmen wir den Druck von den anderen Ver- ­Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich tragsstaaten. Das kann nicht unser Weg sein. Das wäre denke, Verantwortung ist schädlich!) jetzt vor der Konferenz in Paris genau das falsche Signal. Wir brauchen die anderen Staaten dieser Welt. Wir haben Zur europäischen Klimapolitik. Herzstück ist der eu- unseren Beitrag geleistet ropäische Emissionshandel. Er funktioniert: Er spart CO2 ein. Aber wir haben einen Überschuss von rund 2 Milli- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) arden Zertifikaten. Das schwächt den Emissionshandel – und kämpfen jetzt dafür, dass diese Ziele umgesetzt wer- das sage ich an dieser Stelle als Klimapolitikerin ganz den. klar – und macht ihn ein Stück weit zum zahnlosen Tiger. Deshalb müssen wir den Emissionshandel stärken. Hier (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer sind auch wichtige Schritte gemacht worden, etwa mit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wir der Marktstabilitätsreserve. Jetzt folgt die zweite Reform: haben unseren Beitrag nicht geleistet! Das ist Überschüssige Zertifikate müssen abgebaut werden. Das das Problem!) ist ganz klar; das sage ich hier als Klimapolitikerin. Europa hat sich ambitionierte Ziele gegeben. Es ist Dabei müssen wir aber auch die Situation der ener- kein Geheimnis, dass Deutschland über diese europäi- gieintensiven Industrie, die im internationalen Wettbe- schen Ziele hinausgegangen wäre, was zum Beispiel die werb steht, berücksichtigen, sonst kommt es in diesem nationalen Beiträge im Bereich der Energieeffizienz und Bereich zu Standortverlagerungen. Das ist schlecht für der erneuerbaren Energien angeht. die Wirtschaft, aber auch schlecht für unser Klima, da (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE sonst außerhalb der Europäischen Union verstärkt CO2 GRÜNEN]: Die Richtlinie ist nicht umge- emittiert wird. setzt! Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU) Da hätten wir von deutscher Seite aus durchaus noch (B) Wir streben jetzt auch an, den Emissionshandel welt- (D) mehr gewollt. weit zu exportieren. Am besten wäre es, wenn wir die Aber eines ist klar: Wenn jetzt gefordert wird, dass bestehenden Emissionshandelssysteme nach und nach Europa seine Ziele nachschärfen muss, dann müsste zu einem globalen Kohlenstoffmarkt ausbauen würden. Deutschland wieder die Hauptlast tragen. Das wiederum Da gibt es eine gute Neuigkeit: China führt ab 2017 das wäre schlecht für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Emissionshandelssystem in der gesamten Republik ein. Industrie auf dem europäischen und auf dem weltweiten Derzeit gibt es erst sieben Pilotprojekte in einzelnen Pro- Markt. Die Überprüfbarkeit ist jetzt insofern der richtige vinzen. Jetzt aber will China den Emissionshandel ab Weg, dass alle liefern müssen, dass alle kontrollieren und 2017 in der gesamten Republik einführen. All das sind dann nachbessern müssen. Aber alle Staaten sind gefor- positive Signale, die uns für die Konferenz in Paris hoff- dert. Das soll an dieser Stelle meine klare Botschaft sein. nungsfroh stimmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Lassen Sie mich zum Ende auf die nationale Ebene [SPD]) zurückkommen. Fakt ist: Die Bundesregierung hat Ak- tionsprogramme zum Thema Klimaschutz und Energie- In Paris müssen wir es übrigens auch schaffen, dass effizienz formuliert und verabschiedet. Diese arbeiten nicht nur die Industrienationen mitmachen, sondern auch wir jetzt konsequent ab und setzen sie um. Viele Bun- die Entwicklungs- und Schwellenländer. Gerade die Ent- desländer in Deutschland haben sich eigene Klimaziele wicklungs- und Schwellenländer sind vom Klimawandel gegeben. Aber eins ist auch klar: Diese eigenen Klima- oft am stärksten betroffen. Erst vergangene Woche hatten ziele können wir nur dann erreichen, wenn wir erhebli- wir einen Austausch mit Klimazeugen aus Zentralafrika che Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz und da und von den Philippinen. Genau diese Staaten brauchen insbesondere im Gebäudebereich machen. unsere Unterstützung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE ordneten der SPD) GRÜNEN]: Ja, eben!) Deswegen sage ich an der Stelle ganz klar: Jetzt dürfen Auf dem Gipfel in Kopenhagen wurde dazu Wichti- wir doch nicht das Instrument ungenutzt lassen, das er- ges beschlossen. Die Industrienationen haben sich dazu hebliche Einsparpotenziale birgt. verpflichtet, ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für die internationale Klimafinanzierung zu mobilisieren, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und zwar aus öffentlichen und privaten Quellen. Auch NEN]: Es ist eine Frechheit, dass eine hier übernimmt Deutschland die Verantwortung. Wir wa- CSU-Vertreterin das hier sagt! Das ist eine 13290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Anja Weisgerber (A) Unverschämtheit! Das war , Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) und das wissen Sie! – Gegenruf des Abg. Bitte schön, Frau Schwarzelühr-Sutter. ­Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Krischer, lügen Sie doch nicht!) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Jeder Deutsche spart gerne Steuern. Deswegen haben Liebe Kollegin Baerbock, stehen Sie nicht hinter ei- wir trotz unseres Wissens um die Vorbehalte der Finanz- nem modernen Klimaschutzabkommen, das mit einem minister aller Bundesländer – darunter sind auch viele Ambitionsmechanismus verbunden ist? Wollen Sie keine rot-grün geführte Länder – in unserem Antrag ganz klar Anpassung und keinen Überprüfungsmechanismus? Ste- formuliert, dass wir weiterhin das Ziel verfolgen müssen, hen Sie nicht hinter einem fairen Abkommen, mit dem die energetische Gebäudesanierung steuerlich zu fördern. die Trennung zwischen Entwicklungsländern und Indus- Denn Schwarzer-Peter-Spiel hin oder her: Als Klimapo- trieländern überwunden wird? Wenn Sie nur einen Satz litikerin bin ich nicht bereit, dieses Instrument in der Zu- herausgreifen, dann erklären Sie mir doch, warum Sie ein kunft einfach fallenzulassen. faires, modernes und dynamisches Abkommen nicht gut finden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordneten der SPD) NEN): Ich finde es nicht gut, dass Sie mit der einzigen Bot- schaft antreten, dass Deutschland für ein faires, modernes Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und dynamisches Abkommen steht. Wir wollen, dass es Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Annalena völkerrechtlich verbindlich ist. Wir wollen ein langfris- ­Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. tiges Ziel verankern. Wir wollen die Dekarbonisierung schaffen und das 2-Grad-Ziel erreichen. Alle kämpfen Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dafür, dass es völkerrechtlich verbindlich gemacht wird NEN): und dass wir auch China und die USA mit an Bord ho- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! len. Aber davon sprachen Sie in Ihrer Rede kein einzi- Liebe Frau Ministerin! Ja, es gibt positive Signale. Nur – ges Mal. Auf Nachfrage der Journalisten, ob das Ganze das hat auch die Rede wieder gezeigt –, leider kommen verbindlich sei, wird gesagt: Das ist alles schwierig; wir diese nicht aus Deutschland. müssen gucken, wie wir zueinanderkommen. Ich erwarte von einer Bundesregierung, dass sie nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) nur mitschwimmt, sondern vorangeht und dafür eintritt, (D) Es ist doch sehr erstaunlich, dass das Wohl und Wehe dass wir zu einem verbindlichen Vertrag kommen, durch in allen Bereichen nun von China abhängen soll. Dafür den alle anderen Elemente mit erfasst sind. Das kam in gibt es verschiedene Beispiele. Ihrer Rede nicht vor. In der großen Konferenz im Auswärtigen Amt heute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Morgen ging es unter der Überschrift „Klimaabkommen Auf Twitter haben Sie dann hinterhergeschickt, dass in Paris“ darum, die globale Transformation in Paris vo- der völkerrechtliche Aspekt auch wichtig sei. Aber wenn ranzubringen. Nur hat die Staatssekretärin dann in ihrer man vorangeht, dann muss man diese Botschaft klar set- Rede allein davon gesprochen, dass Deutschland für ein zen. modernes, dynamisches und faires Abkommen kämpft. Ich habe mich wirklich gefragt: Wo ist da die Verbind- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lichkeit, die Sie angeblich so hochhalten? Die Botschaft klar setzen: Wie das aussieht, zeigt Ihr Antrag. Darin fordern Sie – ich zitiere –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE So soll sichergestellt werden, dass die Staaten ih- LINKE]) ren Minderungsverpflichtungen nachkommen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Ambitionsniveaus in Ihr Antrag ist ein weiterer Offenbarungseid. Denn was denjenigen Staaten nachgeschärft werden, die ihren Sie in Ihrem Antrag auf internationaler Ebene einfordern, Klimabeiträgen nicht gerecht werden. steht in gigatonnenschwerer Diskrepanz zu dem, was Sie auf nationaler Ebene liefern. Schöne Worte. Aber wir werden als Europäische Union mit unseren eigenen Klimabeiträgen dem 2-Grad-Pfad nicht gerecht, und deswegen müssen wir nachschärfen.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das schreiben Sie selber in Ihrem Antrag. Frau Kollegin, darf ich Sie kurz unterbrechen? Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter würde gerne eine Zwi- (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Wir haben schenfrage stellen. Lassen Sie sie zu? doch Ziele!) Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, sollten wir Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lieber vor der eigenen Haustür kehren. NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ja. sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13291

Annalena Baerbock (A) LINKE] – Zuruf von der CDU/CSU: Wer Dazu reicht es nicht aus, einen Prüfauftrag im Antrag zu (C) schreit, hat unrecht!) formulieren, wie Sie es getan haben. Denn – das wurde erwähnt – es wurde ausgerechnet, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass wir uns nicht auf einem 2-Grad-Pfad bewegen, son- Wir appellieren daher in unserem Antrag deutlich: Wir dern auf einem 2,7- oder 3,5-Grad-Pfad. Ich glaube, der brauchen erstens eine Offensive für den Ausbau der er- Korridor ist wichtig und sollte hier auch erwähnt werden. neuerbaren Energien statt Bestandsschutz für die Kohle Wir haben uns auf dem Gipfel in Lima in einem Vertrag in Deutschland. Wir brauchen zweitens einen globalen verpflichtet, dass die INDCs eingereicht werden und dass Technologietransfer zugunsten der erneuerbaren Energi- nachgebessert wird, wenn klar wird, dass das 2-Grad- en statt Subventionen und Bürgschaften für die klima- Ziel nicht erreicht wird. Leider sind wir etwas hinter dem schädliche Kohle. Wir müssen in der deutschen Außen- Zeitplan; denn das sollte schon im Sommer passieren. wirtschaftspolitik klarmachen: Das Zeitalter „Raus aus Dann sollte rund um das Treffen mit Ban Ki-moon nach- den Fossilen, rein in die Erneuerbaren“ hat jetzt begon- gebessert werden. Wir sind nun im November. Aber das nen. Ich sage Ihnen – das machen die positiven Signale befreit uns nicht davon, jetzt nachzubessern. Das haben aus China mehr als deutlich –: Wenn wir es nicht tun, Sie als Bundesregierung selber in Lima mit vereinbart: dann machen es andere; denn weltweit wird bisher mehr Wenn wir nicht auf dem 2‑Grad‑Pfad sind, dann müs- in erneuerbare Energien investiert als in fossile. Wenn sen wir nachbessern. Deswegen fordern wir von Ihnen: wir jetzt nicht bereit sind, hier das Ruder herumzuwer- Setzen Sie sich als Bundesregierung dafür ein, dass die fen, dann ist das nicht nur eine ökologische Schandtat, Europäische Union das Ambitionsniveau anhebt! Sonst sondern auch ökonomischer Irrsinn. Deswegen fordern werden wir die Welt nicht retten können. wir Sie heute dazu auf: Stimmen Sie für unseren Antrag, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für eine Politik von morgen anstatt für eine Politik von sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE gestern, wie Sie es formuliert haben! LINKE]) Herzlichen Dank. Ähnlich sieht es beim Emissionshandel aus. Frau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weisgerber, in dem von Ihnen erwähnten Antrag der Koa- sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE litionsfraktionen wird gefordert, „sich dafür einzusetzen, LINKE]) dass die Revision des europäischen Emissionshandels- systems den Emissionshandel in der vierten Handelsperi- ode ... als marktwirtschaftliches Klimaschutz­instrument Vizepräsidentin Ulla Schmidt: stärkt und die bereits beschlossene Reform ... nicht Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt (B) schwächt“. Wenn wir uns schon in einem solchen Kor- Frank Schwabe das Wort, dem ich von dieser Stelle aus (D) ridor bewegen und lediglich wollen, dass es nicht ab- noch einmal herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gra- geschwächt wird, dann werden wir keine tiefgreifenden tulieren möchte. Maßnahmen bewirken, die das Erreichen des Dekarboni- (Beifall im ganzen Hause) sierungsziels gewährleisten. 45 ist eine Zahl, die man noch nennen darf. Er wird heute Der dritte Punkt ist Ihr Klima-Aktionsprogramm 2020. also 45 Jahre jung. Herzlichen Glückwunsch! Es ist zu lesen, dass Sie sich dafür einsetzen, dass das Programm in allen Bereichen umgesetzt wird. Dann fra- ge ich mich nur: Wie passt dazu der Kabinettsbeschluss, Frank Schwabe (SPD): dass die rund 22 Millionen Tonnen im Bereich der Ener- Ich weiß nicht, um wie viele Minuten sich meine Re- giewirtschaft – das war auch zu niedrig angesetzt – nicht dezeit verlängert. mehr eingespart werden sollen und der „Ruhestand“ von (Heiterkeit) alten Kraftwerken auch noch vergoldet werden soll? Das hat nichts mit Klimaschutz zu tun. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Baerbock, es ist die Aufgabe der Opposition, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kritik zu üben und die Regierung voranzutreiben; das sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE ist richtig und wichtig. Aber darüber darf nicht der von LINKE]) Ihnen erweckte Eindruck entstehen – er ist nach meiner Es gäbe noch einen Punkt, wo Sie vorangehen und Meinung falsch –, dass wir nicht gemeinsam für ein am- nicht nur mitschwimmen könnten. Wir erleben mo- bitioniertes, rechtsverbindliches Klimaabkommen eintre- mentan einen der größten Industrieskandale in unserer ten; dafür tritt das ganze Haus – genauso wie die Minis- Geschichte. Es schafft nicht gerade Vertrauen vor einer terin und die Staatssekretärin – ein. Das ist das Ziel, das internationalen Konferenz, dass ein deutsches Unterneh- wir erreichen wollen. Ich bin sicher, dass wir es auch in men jahrelang mit gefälschten CO2-Grenzwerten gewirt- Paris erreichen werden. schaftet hat. Wäre es daher nicht ein sinnvolles Signal, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wenn die Bundesregierung sagte: Ja, wir haben daraus gelernt. Ja, wir wollen Vertrauen schaffen – genauso Wir könnten über all das reden, was auf der Welt wie Sie das in Ihrer Rede gesagt haben –, und deswegen schwierig ist. Wir könnten darüber reden, dass wir mitt- treten wir für eine radikale Umkehr im Verkehrsbereich lerweile schon bei einer Temperaturerhöhung von 1 Grad sowie nicht nur für strengere Grenzwerte, sondern auch Celsius angekommen sind. Wir könnten darüber reden, dafür ein, dass die E-Mobilität endlich Realität wird. – dass wir vor kurzem auf Initiative von Frau Höhn Kli- 13292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Frank Schwabe (A) mazeugen aus dem Tschad und von den Philippinen in Ich erinnere an die Kooperationen, zum Beispiel im Rah- (C) den Ausschuss eingeladen haben. Ich habe vor kurzem men des Emissionshandels. Es gibt dort wichtige Verän- Bangladesch und Myanmar besucht und habe mich da- derungen. Auch die USA sind ganz wichtig und in der von überzeugen müssen, wie schwierig die Lage für viele Tat – auch das hat die Ministerin gesagt – Kanada. End- Menschen auf der Welt ist, wie viele Klimaflüchtlinge es lich haben wir eine andere Regierung in Kanada, die sich gibt. Wir könnten darüber reden, welche Auswirkungen sicherlich ganz anders und progressiver verhalten wird. der Klimaschutz auf die Flüchtlingspolitik hat. Dazu gab es ein bemerkenswertes Interview von Frau Ministerin (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hendricks. Wir bekommen dieses Thema in der Tat in NEN]: Aber mit der Regierung in Kanada einer ganz neuen Dimension auf die Tagesordnung; denn haben Sie nun wirklich nichts zu tun!) im Rahmen der Flüchtlingsdebatte wird klar – das war Ich finde im Übrigen, dass wir auch die Frage der Ölsan- bei der Klimadebatte für diejenigen, die eingeweiht sind, de noch einmal auf die internationale und europäische schon immer klar –, dass das, was wir hier tun, wie wir Tagesordnung bringen müssen. hier leben, wie wir hier wirtschaften und wie wir hier miteinander umgehen, Auswirkungen auf andere Teile (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem der Welt hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Am Ende ist es nicht nur eine moralische Verpflichtung – Was sich aber vor allem verändert hat, ist die öko- das wäre schon wichtig genug –, sondern auch eine Frage nomische Lage. Wir haben eine drastische Trendwende von Eigennutz, alles zu tun, damit Menschen in anderen weltweit in der Frage der erneuerbaren Energien. Wir Teilen der Welt ordentlich leben können, damit auch wir haben eine Verfünfzigfachung der Solarstrommenge hier ordentlich leben können. zwischen 2004 und 2014. Wir haben alleine im Bereich der Windkraft einen Zubau in China von 23 Gigawatt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im letzten Jahr. Damit könnten wir alle Atomanlagen in der CDU/CSU und der LINKEN) Deutschland von heute auf morgen ersetzen. Mittlerweile wird weltweit wesentlich mehr in erneuerbare Energien Wir stehen jetzt kurz vor der Konferenz von Paris. Ich, investiert als in fossile Energieträger und Atomenergie der ich mit meinen 45 Jahren mittlerweile ein Klimave- zusammen. teran bin – ich nehme jetzt an der neunten Klimakonfe- renz teil –, Wir haben die sogenannte Divestmentdebatte, also den Abzug von Investments aus fossilen Energieträgern. Der (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- norwegische Pensionsfonds ist mehrfach genannt wor- NEN]: „Klimaveteran“! Urgestein!) (B) den, aber es ist auch die Rockefeller-Stiftung zu nennen. (D) muss sagen: Eigentlich war die Analyse immer, dass die Wir haben jetzt ganz aktuell den Beschluss des Stadtrats Konferenzen zu wenig gebracht haben. Es gab solche von Münster, dass die beiden städtischen Fonds ab 2016 Minister und solche. Je nachdem, ob man in einer Re- kein Geld mehr in Kohle, Gas und Öl investieren sollen. gierungskoalition war oder in der Opposition, hat man (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das als Politiker etwas anders dargestellt. Aber am Ende des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und waren wir immer der Meinung, dass es nicht genug ge- des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU]) bracht hat. Es gab manchmal radikale Vorstellungen. Ich erinnere mich an den Minister Gabriel, der auch einmal Es ist die zentrale Veränderung in den letzten Jahren gewisse Vorstellungen hatte. Man kann sich jetzt denken, und vielleicht im letzten Jahrzehnt, dass wir ganz andere wie er manchmal auf solchen Konferenzen auftritt. ökonomische Rahmenbedingungen haben und es deswe- gen den Staaten viel leichter fällt, zu Verabredungen zu Das können wir alles lassen, das macht keinen Sinn. – kommen. Deswegen: Die Wegrichtung stimmt – das ist Es stimmt, es war eigentlich immer zu wenig vor dem zweifellos so –, und trotzdem müssen wir einige Dinge in Hintergrund der Herausforderungen, die wir haben. Paris diskutieren, zum Beispiel die Frage, wie der Ambi- Trotzdem – das will ich heute sagen – kann man sich tionssteigerungsmechanismus konkret aussehen soll. Das das Ganze auch einmal optimistisch anschauen und fra- muss konkret und verbindlich sein und muss Auswirkun- gen: Was hat sich eigentlich in den letzten Jahren wirk- gen auf die Europäische Union haben. lich bewegt? Es hat sich eben ganz viel bewegt. Man Ich finde auch, dass wir darüber, wie man mitEnt- muss keine optimistische Sichtweise haben, sondern wicklungsländern in der Frage von „loss and damage“, schlichtweg eine realistische. Dann stellt man fest, dass also den Schäden, die es schon gibt, umgehen kann, dis- es wirklich eine Revolution gegeben hat, die sich viel- kutieren müssen. Da müssen wir einen Schritt weiter- leicht evolutionär dargestellt hat; aber eine Revolution kommen. Dann geht es in der Tat darum, in Deutschland war bei der Frage des Klimaschutzes und der Frage, wie und in Europa die Dinge umzusetzen. Ich bitte noch ein- wir zukünftig Energie erzeugen und wirtschaften. mal – ich habe es mehrfach hier schon getan – darum, Barbara Hendricks hat die politische Lage angespro- dass das ganze Haus Umweltministerin Hendricks unter- chen. Auch da muss ich sagen, Frau Baerbock: Dass Chi- stützt. Sie hat uns ehrlich gemacht in der Frage, wo wir na sich bewegt hat, liegt nicht nur an Deutschland, aber bei der Zielerreichung stehen. Alle müssen mithelfen, einen kleinen Anteil daran haben wir schon. alle Kabinettsmitglieder, aber auch alle Mitglieder des deutschen Parlaments, damit wir unsere Klimaschutzzie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) le in Deutschland erreichen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13293

Frank Schwabe (A) Vielen Dank und ein herzliches Glückauf! cher Mühe, das einem Winzer am Kaiserstuhl zu erklä- (C) ren. – Wenige Tage später trafen wir uns in der Parlamen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tarischen Gesellschaft mit Vertretern der Uni Freiburg. der CDU/CSU) (Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner auf- Es kam, Frau Künast, ein vormaliger Kollege des Euro- rufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen päischen Parlaments der Grünenfraktion und sagte: Herr und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahlen von Marschall, Sie haben, glaube ich, nicht recht. Gera- bekanntgeben. Zuerst: Wahl eines Mitglieds des Son- de dem Winzer können Sie das wahrscheinlich ganz gut dergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungs- erklären. mechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 583, ungül- ( [SPD]: Genau!) tige Stimmen keine, gültige Stimmen damit 583. Mit Ja haben gestimmt 430, mit Nein haben gestimmt 109, Ent- Ich gebe zu: Er hat recht. Wir erleben natürlich die haltungen 44. Damit ist der Abgeordnete Roland Claus Veränderungen des Klimas auch in Deutschland, wir gewählt.1) erleben sie dadurch, dass zunehmend Schädlinge aus südlichen, aus wärmeren Regionen zu uns kommen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN so- Wir erleben sie in der Forstwirtschaft, bei der Planung wie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des für die sehr langfristigen waldbaulichen Ziele, die wir in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland erreichen wollen. In Freiburg haben wir ein Dann kommen wir zum Ergebnis der Wahl eines stell- Weinbauinstitut und ein forstwissenschaftliches Institut, vertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 die sich diesen Fragen widmen: Wie gehen wir mit den Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: ab- Veränderungen des Klimas in Zukunft um? Wir haben gegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen 3, gültige eine große Universität, die mit fünf Fraunhofer-Instituten Stimmen 576. Mit Ja haben gestimmt 476, mit Nein 79, ein nationales Leistungszentrum für Nachhaltigkeit in Enthaltungen 21. Der Abgeordnete Dr. Dietmar Bartsch Freiburg aufgebaut hat. In diesem Zusammenhang habe hat damit 476 Stimmen erhalten, und die erforderliche ich erlebt, dass wir in Deutschland in der Forschung stark Mehrheit wurde auch hierbei erreicht.2) sind, sowohl was neue Technologien mit Blick auf die Erreichung der Minderungsziele, als auch was die Fra- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie ge der Anpassung betrifft. Wir sind in Deutschland stark, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE aber natürlich sind keineswegs alle Staaten der Erde GRÜNEN) diesbezüglich stark. Deswegen ist es von so großer Be- (B) (D) Jetzt hat der Kollege , CDU/ deutung, dass, um die Vereinbarungen zum Klima zum CSU-Fraktion, als letzter Redner zu diesem Tagesord- Erfolg zu führen, wir insbesondere den Green Climate nungspunkt das Wort. – Bitte schön. Fund mit den notwendigen 100 Milliarden Euro aufsto- cken müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn ich weiter darüber nachdenke, was ich den Menschen im Wahlkreis dazu sagen kann, was die in- Matern von Marschall (CDU/CSU): ternationalen Vereinbarungen bedeuten, fällt mir ein Ar- Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolle- tikel ein, den ich heute früh in den Proceedings of the ginnen und Kollegen! Vergangene Woche waren wir – National Academy of Sciences aus Washington gelesen Kollegin Baerbock und Kollegin Bulling-Schröter waren habe. Dieser Artikel, der im Januar erschienen ist, zeigt auch dabei – in der Französischen Botschaft zu Gast; auf, dass dem Bürgerkrieg in Syrien eine ausgesprochen Frankreich ist ja Gastgeber der Klimakonferenz. Es ging intensive Dürreperiode von mehreren Jahren Dauer vo- darum: Was leisten die Parlamentarier in diesem Zusam- rausgegangen ist. Nun hat man im Bereich des soge- menhang; was leisten sie im Verhältnis zu den verhand- nannten fruchtbaren Halbmondes durchaus häufig sol- lungsführenden Regierungen? Sind sie also Sprachrohr che Dürreperioden, aber nie in so drastischer Form. Es dieser Klimapolitik, oder sind sie eher passive Begleiter? mussten eineinhalb Millionen Menschen ihre Ländereien verlassen. Sie kamen in Städte, in denen auch die Le- Ich fand sehr bemerkenswert, dass in diesem Zusam- bensgrundlagen schwierig waren. menhang die Moderatorin eine ziemlich provokative Bemerkung gemacht hat. Sie sagte: Ja, wenn man sich Sicher hat das – das ist natürlich eine komplexe An- auf internationalen Konferenzen herumtreibt, dann ist es gelegenheit – zur Beförderung dieser Konflikte beige- möglicherweise die beste Art und Weise, wie man in sei- tragen. Natürlich war dafür auch eine Grundlage – das nem Wahlkreis verlieren kann. – Der Hinweis galt natür- richte ich jetzt an das BMZ – eine in Syrien über lange lich der Frage: Kommt das, was international vereinbart Jahrzehnte betriebene, verfehlte Landwirtschaftspolitik werden soll, bei den Menschen an? Interessieren sich die mit wenig Nachhaltigkeit, mit einer viel zu hohen An- Menschen überhaupt dafür? Ich sagte: Ja, das ist richtig. bauquote bei Baumwolle, die natürlich die Grundwasser- Ich als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises reserven sehr stark beansprucht. In einer Planwirtschaft, Freiburg muss versuchen, das zu erklären. Ich habe si- die nicht auf nachhaltiges Wirtschaften aufgebaut ist und keine Good Governance kennt, kann sich leichter etwas 1) Anlage 3 entwickeln, was zu einer schwierigen und dramatischen 2) Anlage 3 Klimakatastrophe führt. Dann hat man eine Katastrophe, 13294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Matern von Marschall (A) die sich in der ganzen Komplexität verschlimmert und zu Die weiteren Abstimmungen übernimmt die Kollegin (C) dem führt, was wir heute erleben. Bulmahn. Insofern müssen wir – ich glaube, das ist die Aufgabe der Zukunft – unsere Klimapolitik als Teil einer globa- Vizepräsidentin : len Nachhaltigkeitsstrategie begreifen, einer Nachhaltig- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag keitsstrategie, die die Vereinten Nationen vor wenigen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- Wochen in New York verabschiedet haben und in der der che 18/6648 mit dem Titel „Auf der Klimakonferenz in Klimaschutz eines der wichtigen Elemente ist. Eine wirt- Paris die Weichen für mehr Klimaschutz und globale Ge- schaftliche Entwicklung ist wichtig; eine gesellschaft- rechtigkeit stellen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das liche und eine gute soziale Entwicklung sind genauso ist die Opposition. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. wichtig. Enthaltungen? – Keine. Dann ist der Antrag abgelehnt worden. Wir in Deutschland sind stark; andere Länder sind eben nicht so stark. Deswegen ist der Green Climate Tagesordnungspunkt 9 c. Interfraktionell wird Über- Fund so wichtig. Er trägt dazu bei, dass wir den schwa- weisung der Vorlage auf Drucksache 18/3313 an die in chen Ländern der Erde helfen, sowohl die Anpassung der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- an die dramatischen Folgen des Klimawandels besser gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. bewältigen zu können als auch die Minderungsziele zu Dann ist die Überweisung so beschlossen. erreichen. Wir in Deutschland können und sollten noch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: mehr dazu beitragen – ich habe die hiesige starke For- schung erwähnt –, Technologien zu entwickeln, die die- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja sen Ländern dann einigermaßen preiswert zur Verfügung Dörner, Dr. Konstantin von Notz, Dr. Franziska gestellt werden können; denn das ist eine wesentliche Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frakti- Voraussetzung dafür, dass sie die Ziele erfüllen können. on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Besonders gefährdete Flüchtlinge in Erstauf- ordneten der SPD) nahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsun- terkünften besser schützen Wie ich sagte, ist die Zusammenschau der verschie- denen Ursachen für Konflikte ganz besonders wichtig. Drucksache 18/6646 Ich denke, darüber werden wir in Zukunft noch sehr viel Überweisungsvorschlag: stärker nachdenken müssen. Das sollte ein Bereich sein, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) der nicht nur Klima-, Umwelt- und Entwicklungspolitik, Innenausschuss (B) sondern auch Sicherheitspolitik umfasst. Es gibt eine Finanzausschuss (D) ganze Summe von Bausteinen, die zur Bewältigung der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Konfliktlage auf der Welt gehören. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu Ich habe heute – damit, Frau Präsidentin, möchte ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zum Schluss kommen – das Glück, hier zu reden. Auf Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu Lateinisch bedeutet glücklich „felix“, und Felix heißt der wechseln. Sohn von Andreas Jung, der gestern zur Welt gekommen ist. Wegen Felixʼ Geburt stehe ich heute hier. Ich glaube, Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der wir können Andreas Jung von dieser Stelle aus „Herzli- Aussprache hat Dr. Franziska Brantner von der Fraktion chen Glückwunsch!“ sagen. Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Beifall) Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich finde, dass der Vorsitzende des Nachhaltigkeitsbeira- NEN): tes des Bundestages eine ausgesprochen engagierte Ar- Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und beit macht zu dem Thema, das wir heute hier debattieren. Herren! Gestern sprach hier Innenminister de Maizière (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und begründete den Schwenk zurück zu Dublin III bei den syrischen Flüchtlingen damit, dass es so wichtig sei, EU-Recht eins zu eins umzusetzen. Wenn Ihnen das Vizepräsidentin Ulla Schmidt: EU-Recht so am Herzen liegt, dann fangen Sie endlich Vielen Dank. – Auch vom Präsidium dürfen Sie die mit der Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie und der besten Glückwünsche ausrichten. Schutzvorgaben für Kinder und Frauen bzw. besonders Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag Gefährdeter, die darin enthalten sind, an. der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sache 18/6642 mit dem Titel „Klimakonferenz in Pa- und bei der LINKEN) ris muss ehrgeiziges Abkommen beschließen“. – Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer Statt mit Härte gegen die Schwächsten, die syrischen enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Kinder, vorzugehen, sollte Herr de Maizière mit Härte CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen den Schutz von Flüchtlingskindern in unseren Unter- der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen künften durchsetzen. Das würde unsere Werte klarstel- angenommen. len, über die sich der Innenminister ja sonst immer nur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13295

Dr. Franziska Brantner (A) auslässt, wenn es darum geht, dass Flüchtlinge sie ein- zu treffen, damit Übergriffe und geschlechtsbezogene (C) zuhalten haben. Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästi- gung verhindert werden“. Auch das ist sehr deutlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das, Herr de Maizière, würde sicherlich einen ersten Ich kann uns alle nur auffordern, das endlich in deut- richtigen Schritt zur Integration dieser Flüchtlinge bei sches Recht umzusetzen. Hier, Herr de Maizière, könn- uns leisten. ten Sie zeigen, was Ihnen das europäische Recht wirklich wert ist. Wir alle fordern zu Recht, dass sich die Menschen, die zu uns kommen und bei uns Zuflucht suchen, an das Wir wollen in einem ersten Schritt, dass Gewalt- Grundgesetz sowie an die Kinder- und Frauenrechte hal- schutzkonzepte etabliert werden – in Zusammenarbeit ten, die wir errungen haben. Das gilt dann aber eben auch mit den Ländern. Das bedeutet nicht, dass wir eins zu für uns. Warum gilt das Bundeskinderschutzgesetz nicht eins vorgeben, wie es vor Ort auszusehen hat. Das wird für Flüchtlingskinder? Mir muss einer irgendwann ein- vor Ort erarbeitet. Aber eine Orientierung dafür sollten mal erklären, warum es für diese Kinder einen weniger die Empfehlungen von Herrn Rörig bieten, unserem un- großen Schutz gibt als für jene, die bei uns geboren sind. abhängigen Beauftragten gegen sexuellen Missbrauch; Wenn wir die Einhaltung der Rechte fordern – und das zu Sie alle kennen diese Empfehlungen. Er hat sehr gut aus- Recht –, dann müssen wir diese aber auch garantieren. Es gearbeitet, was notwendig wäre. Das soll die Orientie- ist unsere Aufgabe, diese Rechte von Kindern und Frauen rung sein. Das soll vor Ort umgesetzt werden. Das ist der bzw. besonders Schutzbedürftiger überall zu garantieren. erste Schritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. [DIE LINKE]) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vor Ort wird Enormes geleistet, und trotzdem ist es Zweitens brauchen wir Möglichkeiten zur Schulung oft schwierig. Es gibt viele Orte, an denen sich Tausende und Fortbildung von Hauptamtlichen und Ehrenamtli- von Menschen auf engem Raum befinden – Wöchnerin- chen, damit sie wissen, wie man mit traumatisierten Kin- nen, allein reisende Mütter mit Kindern, alleinstehende dern umgeht, damit sie sensibilisiert werden für Anzei- Frauen, Schwule und Lesben, ganz viele, die besonderen chen von Gewalt und für schwierige Situationen. Dazu Schutz brauchen –, und es gibt keinen sicheren Ort für gehört auch die Stärkung von bestehenden Einrichtun- sie. Häufig gibt es keinen Ort, wo Kinder spielen kön- gen, in denen man sich seit Jahren sehr gut um Frauen nen, wo sie einmal Ruhe haben, sich sicher fühlen und und Kinder kümmert, die in solchen Situationen sind. (B) gut aufgehoben sind. Das geht vielleicht im Sommer, Diesen Einrichtungen ist es egal, woher die Menschen (D) wenn die Kinder draußen spielen können; aber im Win- kommen; sie nehmen sie auf. Aber sie brauchen dafür ter wird das nicht mehr gehen. Studien zeigen, dass sich unsere Unterstützung. Auch das fordern wir in diesem der Gesundheitszustand der Kinder bei uns ohne solche Antrag. Möglichkeiten verschlechtert. Es ist in jeder UN-Unter- kunft weltweit absoluter Standard und kein Luxus, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es Children‘s Zones gibt. Drittens wollen wir in Anlehnung an die Standards der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinder- und Jugendhilfe eine Betriebserlaubnis für Ge- und bei der LINKEN) meinschaftsunterkünfte. Ich wiederhole: Gemeinschafts- unterkünfte. Das sind die Orte, wo Menschen länger Die EU-Aufnahmerichtlinie formuliert es so: bleiben, wo Kinder erwachsen werden, wo sie teilwei- se über Jahre sind. Es ist wichtig, dass dort die gleichen Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Min- Standards gelten, dass es bei Übergriffen für Kinder derjährige Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen und Jugendliche, die dort leben, Beschwerdemöglich- einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungs- keiten gibt. Natürlich braucht es dafür Übergangszeiten möglichkeiten in den Räumlichkeiten und Unter- vor Ort. Es ist klar, dass das nicht von heute auf morgen bringungszentren … sowie zu Aktivitäten im Freien geschehen kann. Aber das Ziel, dass dieser Standard für erhalten. alle Kinder bei uns gilt, muss uns doch gemeinsam viel Fangen Sie an, die Richtlinie endlich umzusetzen! wert sein. Wir wissen: Das ist vor Ort schwierig. Aber der Standard, der Anspruch muss da sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Und was ist mit den allein reisenden Frauen, mit jenen, die vielleicht traumatisiert zu uns kommen und Gewalt Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koali- erfahren haben? Für sie gibt es nicht einmal getrennte tion, wir werden Sie wirklich daran messen, wie Sie Frauentoiletten geschweige denn abschließbare Räume, die EU-Aufnahmerichtlinie und die darin enthaltenen wo sie sich nachts sicher fühlen können. Auch da ist die Schutzvorgaben umsetzen. Ich hoffe, dass wir nicht nur EU-Richtlinie sehr genau. Sie gibt vor, „bei der Unter- Abschreckung betreiben, sondern ernst nehmen, worum bringung Asylsuchender geschlechts- und altersspezifi- es geht, nämlich Kinder bei uns zu schützen, ihre Integra- sche Aspekte sowie die Situation von schutzbedürftigen tion zu ermöglichen, ihnen vorzuleben, was es bedeutet, Personen zu berücksichtigen und geeignete Maßnahmen Rechte zu haben, und zu zeigen, dass diese ihre Rechte 13296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Franziska Brantner (A) geschützt werden. Ich zähle auf Sie und hoffe, dass wir Vorgaben zu kommen, wie Sie das in Ihrem Antrag vor- (C) uns bei diesen Werten einig sind. schlagen, halte ich für den falschen Weg. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist EU-Recht!) und bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich noch Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: einmal auf den Punkt bringen: Es ist völlig unumstritten, dass Frauen und Kinder besonderen Schutz brauchen. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Nina Warken Wir müssen aber angesichts der aktuellen Flüchtlings- von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. zahlen bei allen Forderungen immer auch die Mach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- barkeit im Blick haben, und diese blenden Sie in Ihrem ordneten der SPD) Antrag leider aus. So fordern Sie die dezentrale Unter- bringung in Wohnungen, nach Geschlechtern getrennte und abschließbare sanitäre Anlagen und Gemeinschafts- Nina Warken (CDU/CSU): räume, und Sie fordern, Gemeinschaftsunterkünfte un- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ter die Betriebserlaubnispflicht nach § 45 SGB VIII zu Frauen und Kinder sind die verletzlichste Gruppe un- stellen. Vieles davon ist sicher grundsätzlich wünschens- ter den Flüchtlingen und brauchen unseren besonderen wert und wird auch schon versucht umzusetzen. Aber Schutz. die Kommunen haben doch vielerorts nicht einmal mehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulli genügend Gebäude, um den ankommenden Flüchtlingen Nissen [SPD]: Genau!) ein winterfestes Dach über dem Kopf zu geben. Da kann man doch nicht mit neuen Verpflichtungen kommen. – Genau. Da sind wir uns alle einig. – Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind 34 Prozent der Flüchtlin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ge, die seit Jahresbeginn in Europa angekommen sind, ordneten der SPD – [BÜND- Frauen und Kinder. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch, was da steht!) Aus meinen zahlreichen Besuchen in Erstaufnahme- einrichtungen und in Gemeinschaftsunterkünften weiß Wenn Sie fordern, dass für jede Flüchtlingsunterkunft ich, dass man dort bereits alles versucht, um den Bedürf- künftig ein Konzept vorgelegt werden muss mit Maß- nissen von besonders gefährdeten Flüchtlingen gerecht nahmen zur Qualitätssicherung und mit aufgabenspezifi- (B) zu werden. Hilfsorganisationen schulen ihre Mitarbeiter schen Ausbildungsnachweisen von allen Helfern, werden (D) und geben ihnen Leitfäden an die Hand, wie man Kin- wir es nicht schaffen, in kürzester Zeit genügend Unter- der und Frauen vor allem in der Erstaufnahme am besten künfte bereitzustellen und entsprechende Helfer zu ak- betreut. THW und Bundeswehr leisten rund um die Uhr quirieren. Amtshilfe, um die Unterkünfte bestmöglich herzurich- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE ten. Wo es geht, werden Spiel- und Leseecken für Kinder GRÜNEN]: Es gibt eine Übergangsfrist! Le- eingerichtet. Es gibt Unterkünfte nur für alleinstehende sen Sie doch, was drinsteht!) Frauen. Auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist man bemüht, eigene Bereiche für sie zu schaffen. Darüber hi- Das kann man doch vor Ort keinem erklären. naus werden Gesprächskreise und andere Angebote orga- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nisiert, um die Frauen, die sich häufig aufgrund trauma- der SPD) tischer Erfahrungen ganz in sich zurückgezogen haben, aus ihrer Isolation herauszuholen. Gleichzeitig geht es Statt solche unpraktikablen Forderungen aufzustel- darum, Frauen darüber aufzuklären, welche Rechte sie len, sollten Sie endlich einsehen, dass wir den Zustrom haben und an wen sie sich wenden können, wenn sie Hil- nach Deutschland begrenzen müssen, weil wir sonst die fe brauchen. Mein herzlicher Dank dafür – ich glaube, Flüchtlinge nicht mehr menschenwürdig versorgen kön- auch da sind wir uns einig – geht an die vielen ehrenamt- nen. lichen und hauptamtlichen Helfer. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- GRÜNEN]: Ach, erst gar keine Kinder rein- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des lassen!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Am härtesten trifft es dann diejenigen, die wir am meis- Deutschland kann stolz sein auf das Mitgefühl und das ten schützen wollen, nämlich Frauen und Kinder. Sie Engagement, das hier trotz des massiven Zustroms nach kommen im Gros der überwiegend männlichen Flücht- wie vor gezeigt wird. Das dürfen wir, liebe Kolleginnen linge zu kurz. Angesichts der enormen Flüchtlingszahlen und Kollegen, nicht kleinreden. wird diese Tendenz noch weiter verstärkt werden. Ihrem Antrag entnehme ich viele Wünsche. Zu der Frage, wie Wie Sie in Ihrem Antrag selbst einräumen, sind die wir das umsetzen wollen, habe ich aber nichts gelesen. Kommunen und Träger von Flüchtlingsunterkünften be- reits dabei, Kriterienkataloge und Konzepte zum Schutz Genauso gekonnt wie die Machbarkeit Ihrer Forde- von Frauen und Kindern zu entwickeln. Das sollten wir rungen blenden Sie aus, was für Frauen und Kinder be- unterstützen. Zum jetzigen Zeitpunkt mit verpflichtenden reits getan wird und mit welchen Maßnahmen wir den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13297

Nina Warken (A) Betroffenen am meisten helfen. In Deutschland genießen Die Bundesregierung hat sich zusammen mit dem Un- (C) unbegleitete Minderjährige nämlich besonderen Schutz. abhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kin- Diese Kinder und Jugendlichen werden bei uns vom desmissbrauchs an die Länder gewandt, um gemeinsam Jugendamt in Obhut genommen und in altersgerechten für den Schutz der Flüchtlingskinder vor Gewalt, insbe- Einrichtungen mit allem Notwendigen versorgt. Diesen sondere vor sexueller Gewalt, in Flüchtlingsunterkünften besonderen Schutzanspruch haben wir mit dem Gesetz zu sorgen. Ich glaube, wir brauchen hier eine ganz klare zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Linie, die da lautet: Wer Straftaten begeht, hat keinen Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher be- Anspruch mehr auf Asyl in Deutschland. Es entspricht kräftigt. Wir haben ein bundesweites Verteilungsverfah- in keiner Weise dem Gedanken des Asylrechts, wenn je- ren eingeführt, das sich an den Bedürfnissen der Jüngsten mand, der selbst Schutz sucht, einem anderen Menschen orientiert. Leid zufügt. Das gilt erst recht, wenn es um Frauen und Kinder geht. ( [CDU/CSU]: Richtig!) (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht, NEN]: Wo bleibt denn ihr Schutz?) wurden oft in Krieg und Elend hineingeboren und ken- nen nur Leid und Verzweiflung. Wir wollen ihnen hier in Ebenfalls unerträglich ist der Umstand, dass Frauen Deutschland ein Stück Geborgenheit zurückgeben. Das und Kinder auf der Flucht nach Europa von Schleusern wird mit vielen kleinen, aber wichtigen Maßnahmen ge- sexuell missbraucht werden, wie das UN-Flüchtlings- tan. So hat zum Beispiel die Bundesregierung bundes- hilfswerk berichtet. Das sollte uns in unserem Kampf weit sechs regionale Servicebüros geschaffen, die den gegen diese menschenverachtenden und skrupellosen Städten und Landkreisen dabei helfen, junge Flüchtlinge Verbrecher bestärken. in Kita und Schule zu integrieren und beim Übergang in (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE das Berufsleben zu begleiten. Vielerorts richtet sich das GRÜNEN]: Dann erlauben Sie den legalen ehrenamtliche Engagement gerade an den Bedürfnissen Familiennachzug!) von Kindern und Jugendlichen aus. Es werden Feste, Ausflüge und gemeinsame Aktionen mit gleichaltrigen Wir müssen angesichts solcher Berichte noch entschiede- Einheimischen organisiert. ner alles daransetzen, Schleuserbanden das Handwerk zu legen und sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- GRÜNEN]: Kann man mehr unterstützen!) ordneten der SPD) Wir können, denke ich, wirklich stolz sein auf das, was in (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möch- (D) diesem Bereich geleistet wird. te ich in dieser Debatte, in der wir überlegen, wie wir den besonders Schutzbedürftigen am meisten helfen können, Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns aber Folgendes betonen: Seit Beginn der Flüchtlingskrise ist auch darüber reden, wie wir am meisten zum Schutz von es das Kernanliegen unserer Asylpolitik, über Aufnahme- Frauen und Kindern in den Einrichtungen beitragen kön- programme in erster Linie den besonders Schutzbedürf- nen. Dazu gehört meiner Meinung nach in erster Linie tigen zu helfen und sie nach Deutschland zu holen. Ich eine konsequente Verfolgung von Straftaten und Über- finde, wir sollten uns künftig viel stärker auf diesen An- griffen. satz konzentrieren. Statt unbegrenzt alleinstehende junge (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: Männer bei uns aufzunehmen, die auch anderswo gute Dazu habe ich noch nichts gehört!) Chancen auf ein besseres Leben haben, (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Dabei steht völlig außer Frage – was Sie, liebe Kolle- GRÜNEN]: Sie haben doch selber die Zahlen gen von den Grünen, in Ihrem Antrag schreiben –, dass vorhin genannt! – Zurufe von der LINKEN) Anschläge und Hetze gegen Asylbewerber nicht hin- genommen werden dürfen. Bund und Länder arbeiten sollten wir uns um diejenigen kümmern, die unsere Hilfe diesbezüglich eng zusammen. Die Strafverfolgungs- und am meisten brauchen. Sicherheitsbehörden gehen konsequent gegen diese Ta- ten vor. Bei Straftaten in Flüchtlingsunterkünften muss Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass Frau- allerdings noch mehr getan werden. Gerade was sexuelle en und Kinder bei uns den Schutz bekommen, den sie Übergriffe angeht, ist dort von einer hohen Dunkelziffer brauchen. auszugehen. Wir müssen den Opfern zeigen, dass wir auf (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: Sie ihrer Seite stehen. Straftaten in Flüchtlingsunterkünften lassen die Kinder im Mittelmeer ersaufen!) dürfen deshalb nicht mit Begleitumständen der Flucht, der Religionszugehörigkeit oder der Unterbringung in Ich finde, wir sind, was die Konzepte zum Schutz in den Sammelunterkünften entschuldigt werden. Sie müssen Unterkünften und auch die zahlreichen Maßnahmen für zur Anzeige gebracht werden. Flüchtlinge angeht, bereits auf einem guten Weg. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Es gibt viel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sicherere Einreisemöglichkeiten!) ordneten der SPD – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer macht Lassen Sie uns deshalb im Interesse der Menschen, die das denn?) unsere Hilfe am meisten brauchen, bei allen Maßnahmen 13298 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Nina Warken (A) immer fest im Blick behalten, was umsetzbar ist, was un- Die Koalition scheint derart damit beschäftigt zu sein, (C) ser Land leisten kann und was nicht. Übersteigerte For- eine Asylrechtsverschärfung nach der nächsten auf die derungen wie die in Ihrem Antrag gehören nicht dazu. Tagesordnung zu setzen und so eine Sau nach der nächs- ten durchs Dorf zu treiben und das gesellschaftliche Kli- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ma zu vergiften, dass sie die EU-Aufnahmerichtlinie, zu Schweden leisten kann, kann Deutschland der Frau Dr. Brantner gesprochen hat, ganz vergessen schon lange leisten!) hat; denn dazu haben Sie ebenfalls nichts gesagt. Wir erbringen den zu schützenden Frauen und Kindern Wenn der CSU-Parteitag in einigen Tagen beschlie- die größte Hilfe, wenn wir das Machbare im Blick be- ßen sollte, dass wieder europäische Regeln gelten, dann halten und das dann auch umsetzen. Auf Ihre Vorschläge, meinen Sie doch ganz offensichtlich nicht wirklich, dass die auch machbar sind, bin ich sehr gespannt. wieder europäische Regeln gelten sollen. Sie wollen viel- Vielen Dank. mehr den Durchmarsch der CSU nach rechts zur Maxime machen. Es geht Ihnen überhaupt nicht um europäische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Regeln. Wenn es Ihnen um europäische Regeln gehen ordneten der SPD) würde, dann würden Sie die EU-Aufnahmerichtlinie vollumfänglich umsetzen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Nina Warken [CDU/CSU]: Die Rückfüh- Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Norbert rungsrichtlinie! Genau!) ­Müller von der Fraktion Die Linke das Wort. Das ist auch das Anliegen des vorliegenden Antrages. (Beifall bei der LINKEN) Dazu gehören Schutzräume für besonders gefährdete Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemein- Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): schaftsunterkünften. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Eigentlich NIS 90/DIE GRÜNEN) wollte ich sagen, dass es beschämend ist, dass es über- haupt dieses Antrages bedarf, um heute über dieses The- Die Zustände vor dem Landesamt für Gesundheit und ma zu reden, und fragen, warum die Bundesregierung Soziales in Berlin und die Tatsache, dass da ein vierjäh- nicht längst gehandelt hat. Inzwischen muss ich sagen: riger bosnischer Junge einfach verschwinden konnte, Beschämend ist Ihre Rede, Frau Warken. mögen die Spitze des Eisberges sein. Das hat zu Recht alle empört. Viele Menschen haben Mitgefühl gezeigt. (B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Aber was alltäglich ist, ist die Situation – darauf zielt (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) der Antrag ab –, die wir in Gemeinschaftsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen haben. Die häufig sehr Ich will zwei Dinge vorwegschicken, die grundsätz- großen und sehr vollen Gemeinschaftsunterkünfte und lich geklärt werden müssen, damit klar wird, worüber Erstaufnahmeeinrichtungen sind natürlich besonders an- wir hier eigentlich reden, über Täterinnen und Täter oder fällig für Missbrauchsstrukturen, für individuellen Miss- über Opfer. Es ist eine Stärke des Antrags der Grünen – brauch, aber auch für systematischen Missbrauch. Des- ich sage vorweg, warum ich ihn gut finde –, dass er sich wegen brauchen wir hier Präventionskonzepte. mit der Frage befasst, wie wir Opfer von sexuellem Miss- brauch, von Ausbeutung und Gewalt in Gemeinschafts- Ja, der Antrag bietet eine gute Grundlage. Wir brau- unterkünften und in Erstaufnahmeeinrichtungen – ich chen flächendeckende Gewaltschutzkonzepte in den finde, man müsste das weiter fassen – schützen können. Flüchtlingseinrichtungen. Wir brauchen nicht nur Kon- Dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt, Frau Warken. zepte, um zu gewährleisten, dass die Menschen in den Einrichtungen sicher sind, dass sie nicht überfallen wer- (Nina Warken [CDU/CSU]: Doch! Zur Anzei- den und die Einrichtungen nicht angezündet werden. Wir ge bringen! – Gegenruf der Abg. Dr. Franziska brauchen nicht nur Brandschutzkonzepte, sondern eben Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da auch Gewaltschutzkonzepte und -räume in diesen Ein- ist es doch schon längst passiert! Das ist doch richtungen. Das finde ich völlig selbstverständlich. Dass kein Schutz!) es das noch nicht gibt und Sie Ihre eigene Bundesminis- Sie haben vielmehr gesagt, das sei überflüssig, und davon terin in diesem Zusammenhang bereits zweimal im Kabi- gesprochen, wie man die Straftäter am besten bestraft. nett ausgebremst haben, ist eine völlige Katastrophe. Da Hier geht es aber darum, Prävention zu betreiben. Es geht fehlen mir fast die Worte. nicht nur darum, wie man die Täter am Ende dingfest (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- macht – was das angeht, wird Ihnen keiner widerspre- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen –, sondern auch darum, wie man die Opfer best- möglich schützt. Dazu gibt es Vorschläge, unter anderem Wir brauchen Schutz von Frauen und Kindern, von Ho- von Herrn Rörig, dem auch von Ihnen eingesetzten unab- mosexuellen und religiösen Minderheiten. hängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt. Ja, ich finde die Forderung des Antrags richtig. – Frau Warken, da haben Sie meine Antwort auf Ihre Frage, was (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- wir praktisch fordern. Der Forderung der Grünen können NIS 90/DIE GRÜNEN) wir uns anschließen. Die Grünen fordern in ihrem Antrag Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13299

Norbert Müller (Potsdam) (A) ein Bundesprogramm. Im Antrag werden die Punkte de- Vielen Dank. (C) tailliert dargestellt. Dort können Sie das nachlesen; wir haben leider nicht so viel Zeit, dass ich Ihnen das alles (Beifall bei der LINKEN) vortragen könnte. Mit einem solchen Bundesprogramm kann der Bund ganz unmittelbar wirken und Standards Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: setzen. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gülistan Ja, auch ich will nicht, dass wir langfristig Sondersys- ­Yüksel von der SPD-Fraktion das Wort. teme in Form von Gemeinschaftsunterkünften und Erst- (Beifall bei der SPD) aufnahmeeinrichtungen schaffen. Ich möchte, dass diese Einrichtungen in unsere Sozialräume integriert werden, (SPD): damit die Menschen, die besonders schutzbedürftig sind, Gülistan Yüksel auf die vielfältigen Strukturen, die wir in Deutschland Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen haben, zurückgreifen können. Das möchte ich als lang- und Herren! Was wir die letzten Monate tagtäglich le- fristiges Ziel formulieren. Kurz- und mittelfristig brau- sen, sehen und vor Ort miterleben, ist schwer in Worte zu chen wir aber besondere Schutzstandards und Schutz- fassen. Menschen legen mit dem Mut der Verzweiflung konzepte für die bestehenden und noch zu eröffnenden Tausende Kilometer unter schwierigsten Umständen zu- Einrichtungen. rück, um Schutz zu finden. Unter ihnen sind unbegleitete Kinder, junge Männer, Frauen und Familien mit Kin- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dern – Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und dafür sogar ihr Leben riskieren. Der Antrag hat aber zwei Schwächen, zu denen ich Trotz der großartigen Hilfsbereitschaft der Bürgerin- etwas sagen möchte. nen und Bürger vor Ort müssen wir aber feststellen, dass Erstens. In diesem Antrag werden zwei Flüchtlings- wir am Rande des Machbaren arbeiten und dass eigent- gruppen ausgeblendet, zum einen jene Flüchtlinge, die lich selbstverständliche Standards momentan nicht über- aus meiner Sicht, die aus Sicht der Linken ungerechtfer- all eingehalten werden können. Unsere Ansprüche, wie tigterweise nicht hierbleiben dürfen, und zum anderen wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, dürfen wir die Gruppe der Flüchtlinge, die noch unterwegs sind. Ich aber nicht senken. Ein wichtiger Anspruch muss es sein, sage deutlich: Fluchtsituationen sind besonders belastend trotz der Ausnahmesituation und der überfüllten Erstauf- und insbesondere für Kinder und Frauen gefährlich. Wa- nahmeeinrichtungen und Flüchtlingsheime die besonders rum kommen so viele junge Männer? Weil verantwor- Schutzbedürftigen nicht aus den Augen zu verlieren; das tungsvolle Familienväter ihre Kinder nicht in Schlauch- sind Frauen, Kinder – das ist heute mehrfach gesagt wor- (B) boote setzen und sie Gefahr laufen lassen, im Mittelmeer den –, aber auch Menschen mit Behinderungen, Homo- (D) zu ertrinken. sexuelle und andere Gruppen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sicherheit – darauf müssen alle Menschen in unse- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE rem Land vertrauen können. Wir haben eine menschen- GRÜNEN) rechtliche Verpflichtung zum Schutz vor Gewalt, auch in Flüchtlingsunterkünften. Ich begrüße deshalb die Forde- Das ist doch die Situation. Und Sie wollen auch noch rungen im Antrag; denn die Schaffung eines gewaltfreien den Familiennachzug verhindern! Flucht heißt häufig und sicheren Umfelds, gerade für die Schutzbedürftigen, Chaos, den Schleppern ausgeliefert sein, Missbrauchs- hat hohe Priorität. strukturen – diesen Strukturen wird Tür und Tor geöffnet. Schaffen wir doch endlich sichere, legale Fluchtrouten, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten explizit, um Kinder zu schützen, um Frauen zu schützen, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE um Homosexuelle zu schützen, weil Flucht für sie ganz GRÜNEN) besonders gefährlich ist. Kulturelle Hemmnisse, mangelndes Wissen über Zur zweiten Schwäche des Antrags. Es gibt jene – ich Rechte und fehlende Informationen in verständlicher komme zum Schluss –, die nicht bleiben dürfen, weil, mit Sprache sind ein großes Problem. Unkenntnis und Unsi- Zutun der Grünen, zusätzlich eine ganze Reihe angeblich cherheit führen dazu, dass sich viele nicht trauen, Hilfe sicherer Herkunftsländer erfunden wurde, in die wir auch zu suchen. Die Sorge, das Asylverfahren eventuell nega- Frauen, Kinder, Homosexuelle und ethnisch Verfolgte tiv zu beeinflussen, ist sehr groß. wie die Roma zurückschicken. Diese besonders Schutz- Deutschland ist durch die EU-Aufnahmerichtlinie bedürftigen hätten wir in unseren Einrichtungen belassen dazu verpflichtet, in den Flüchtlingsunterkünften- ge sollen. Die dürfen wir nicht in Erstaufnahmeeinrichtun- schlechts- und altersspezifische Aspekte zu berücksich- gen kasernieren und dann zurückschicken. Deswegen tigen und geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen. Eine hätte zum Antrag auch eine Ablehnung des Konzepts der Umsetzung der Richtlinie ist längst überfällig. Ich be- sicheren Herkunftsstaaten gehört. grüße, dass die Richtlinie im Entwurf eines Gesetzes zur An diesen Punkten ist der Antrag inkonsequent. Trotz- Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsys- dem steht in dem Antrag nichts, was falsch ist. Deswe- tems enthalten ist und dieser sich unter Federführung des gen werden wir ihm zustimmen. Ich freue mich auf die BMI aktuell in der Ressortabstimmung befindet. Nach Ausschussberatungen und hoffe auf Lerneffekte bei der meiner Kenntnis soll es noch in diesem Jahr in Angriff Koalition. genommen werden. Der Gesetzentwurf sieht weiterhin 13300 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Gülistan Yüksel (A) vor, Erstaufnahmeeinrichtungen der Heimaufsicht zu un- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Wo- (C) terstellen. Damit gelten die Schutzstandards der Kinder- chen habe ich oft gedacht: Was geht es uns doch gut! Wir und Jugendhilfe, welche bisher durch das Asylverfah- sollten uns jeden Tag glücklich schätzen, in Frieden und rensgesetz ausgeschlossen sind; eine wichtige Änderung, Freiheit leben zu dürfen. – Deutschland hat große Verant- die wir sehr begrüßen. wortung auf sich genommen. Der Aufgabe, die vor uns liegt, müssen wir uns als Gesellschaft gemeinsam stellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich bin zuversichtlich, dass wir das trotz aller Schwie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rigkeiten am Ende hinbekommen, Schritt für Schritt. Ein Die Länder sind schon jetzt aufgefordert, geeignete Schritt ist: die Verbesserung der Lebensbedingungen. Schutzmaßnahmen zu treffen, damit Übergriffe und Ge- Diese müssen stimmen, sowohl für die, die noch zu uns walt, einschließlich sexueller Übergriffe, verhindert wer- kommen, als auch für die, die schon hier sind. den. Die Bundesfamilienministerin hat deutlich gemacht, dass jeder Fall von Gewalt, Kindesmissbrauch und Ver- Die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie darf nicht gewaltigung einer zu viel ist. weiter auf Kosten der Schutzlosesten verzögert werden, sondern muss zügig erfolgen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Sie appelliert an die Länder, sich dem Thema entschlos- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sen anzunehmen. GRÜNEN) Die Checkliste mit Mindeststandards des Unabhängi- gen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: brauchs enthält hierzu viele wichtige Forderungen. Sie Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gudrun sind heute schon mehrmals erwähnt worden, aber einige ­Zollner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. möchte ich doch erwähnen: eine separate Unterbringung von alleinerziehenden Müttern mit ihren Kindern, nach (Beifall bei der CDU/CSU) Geschlechtern getrennte Duschen und eine höhere Sensi- bilisierung der haupt- und ehrenamtlichen Helfer. Diese präventiven Maßnahmen gilt es zügig in den Unterkünf- Gudrun Zollner (CDU/CSU): ten umzusetzen und nicht erst, wenn Verdachtsfälle auf- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und treten. Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich komme (B) (D) Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zu aus Bayern, meine Heimat ist Niederbayern. In diesem dem, was wir am vergangenen Wochenende zum Thema Regierungsbezirk gibt es zwei Städte, die Ihnen sicher- Familiennachzug erleben mussten. Ja, die Debattenkultur lich nicht erst seit der Flüchtlingskrise bekannt sind: gehört untrennbar zur Demokratie, und man muss sich Deggendorf und Passau. Diese beiden Städte kämpften auch einmal streiten, um dann eine gemeinsam vertret- im Juni 2013 gegen ein unglaubliches Jahrhunderthoch- bare Position zu finden. Aber man sollte zuerst unterei- wasser. Es war, kurz gesagt, Land unter. Die Bilder von nander darüber reden, welche Haltung man vertritt. Was Menschen, die um ihr Leben, ihre Familie und ihre Exis- wir erleben mussten, war unprofessionell und unwürdig. tenz kämpften, gingen wochenlang durch die Medien. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch diese beiden Städte kämpfen heute wieder, nicht der LINKEN) mehr gegen brechende Wasserdämme, sondern für Men- schen, die zu uns kommen und Schutz suchen. Wieder Wir haben nicht das Recht, Familien auseinanderzurei- sind es die Landräte Bernreiter und Meyer, die die Hilfs- ßen. Sie werden durch diese Beschränkung die Familien kräfte koordinieren. Wieder sind es Bundeswehr, Bun- auch nicht davon abhalten, zueinanderzukommen. Dieser des- und Landespolizei, Technisches Hilfswerk, Baye- Vorschlag zwingt gerade die Schutzbedürftigsten in die risches Rotes Kreuz und die freiwilligen Feuerwehren, Boote, und das sind – auch das ist heute mehrmals er- die an ihre Grenzen kommen. Wieder sind es die Kom- wähnt worden – die Frauen und Kinder. munalpolitiker vor Ort, die zu Krisenmanagern werden (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: müssen. Wieder sind es Tausende von ehrenamtlichen Genau!) Helfern, die rund um die Uhr nur eines kennen: helfen. Sie stemmen sich mit aller Kraft gegen eine menschliche Klar ist: Asyl ist ein Menschenrecht, an dem wir nicht Katastrophe, sammeln Kleidungsstücke und Lebensmit- rütteln dürfen. Die syrischen Flüchtlinge, die zu uns tel – wieder. kommen, haben ein Recht auf Asyl, sie haben das Recht, ihre Familien zu holen und damit in Sicherheit zu brin- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen. Was würde man selbst in einer solch verzweifelten NEN]: Sagen Sie auch etwas zur CSU?) Situation tun? Diese Frage muss sich jede und jeder im- mer wieder selber stellen. Alle, egal ob haupt- oder ehrenamtlich, leisten Unglaub- liches. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- GRÜNEN) wie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13301

Gudrun Zollner (A) Sie sind das freundliche Gesicht von Deutschland. Für wenn die Asylsuchenden in der Nacht an der österrei- (C) diesen selbstlosen Einsatz möchte ich allen ein herzliches chisch-bayerischen Grenze stehen, müssen sie schnellst- „Vergelts Gott!“ sagen. Danke. möglich untergebracht, bestmöglich versorgt und bun- desweit verteilt werden. Leider gibt es immer noch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bundesländer, die Bayern bei dieser immensen Aufgabe Doch diesmal kommt eine Flut von Menschen, die vor zu wenig unterstützen und nicht nach dem Königsteiner Krieg und Gewalt flüchten, bis zu 10 000 am Tag – und Schlüssel Flüchtlinge aufnehmen. Und: Europa muss der Strom reißt nicht ab. Auch in Niederbayern wird bald sich endlich einigen. der Winter einbrechen. Deshalb baut man Traglufthallen, besetzt Sporthallen und räumt Lagerhallen, die man be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie heizen kann. Sicher, das ist nicht die perfekte Lösung, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE aber eine Lösung, damit die Männer und die Frauen mit GRÜNEN) ihren Kindern und Babys nicht Kälte und Schnee ausge- Alle 28 Mitgliedstaaten müssen zeigen, dass Europa liefert sind. nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch Ja, es gibt keine Privatsphäre, und Alltagskonflikte eine Wertegemeinschaft ist. nehmen zu. Die Flüchtlinge kommen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Sprachen, verschiedenen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Bräuchen und verschiedenen Religionen. In der Enge der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Unterkünfte sind Streitigkeiten vorprogrammiert. Die GRÜNEN) Frauen und Kinder können sich am wenigsten wehren. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, damit Sie leiden besonders und brauchen deshalb unseren be- diese Menschen ihre Heimat nicht verlassen und den ge- sonderen Schutz. fährlichen Weg zu uns nach Europa gehen müssen. Und: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wir müssen die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns nach bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deutschland kommen will, begrenzen. Ansonsten wer- GRÜNEN) den wir uns nicht ausreichend um alle kümmern können. Vielleicht sollte sich Kollege Müller einmal mit seinem Die Frauen-Union Niederbayern, deren Vorsitzende Parteikollegen Lafontaine unterhalten, ich bin, hat bereits im Juli dieses Jahres ihren Standpunkt deutlich gemacht. Wir haben auf die besondere Schutz- ( [CDU/CSU]: So ist es!) bedürftigkeit von alleinreisenden, alleinerziehenden und traumatisierten Flüchtlingsfrauen bei allen Schritten des bevor er versucht, die CSU in die rechte Ecke zu drän- (B) Asylverfahrens hingewiesen. Genau deshalb habe ich gen; (D) separate Unterbringungsmöglichkeiten, abschließbare Zimmer und Sanitäreinrichtungen auch für ethnische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Minderheiten gefordert. ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, denn auch Kollege Lafontaine spricht von Obergrenzen. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜND- Die Schutzbedürftigen vertrauen darauf, dass wir ih- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal nen den notwendigen Schutz und Sicherheit bieten. Eine Ihren Kollegen!) erfolgreiche Integration kann nur gelingen, wenn wir die Menschen, die bei uns bleiben wollen, und die Men- Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt dürfen nicht schen, die hier geboren wurden, nicht überfordern. tabuisiert werden. Sie müssen verhindert werden. Hier sind wir uns alle einig. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerin- nen und Bürger von Deggendorf und Passau haben die Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, seit Anfang Wassermassen damals besiegt, weil sie zusammenge- September 2015 sind in Bayern mehr als 400 000 Asyl- rückt sind und sich gegenseitig geholfen haben. Die Wel- suchende angekommen. Wenn man aktuellen Schätzun- le der Flüchtlinge können wir nur meistern, wenn wir alle gen glauben darf, werden am Ende des Jahres genauso zusammen helfen: in den Kommunen, in den Ländern, in viele Unterbringungsmöglichkeiten fehlen. Deshalb wird Deutschland, in Europa und in den Parteien. geplant und gebaut. Die EU-Richtlinie 2013/33 wird bei allen Planungen und Neubauten umgesetzt. Es entstehen Vielen herzlichen Dank. größere und kleinere Wohneinheiten, um dem besonde- ren Schutz von Familien sowie verletzlichen Personen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gerecht zu werden. ordneten der SPD) Wir können nicht alles sofort umsetzen. Dafür sind die Flüchtlingszahlen einfach zu hoch. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte GRÜNEN]: Genau!) hat Sebastian Hartmann von der SPD-Fraktion das Wort. Auch ich würde mir wünschen, dass jede Frau von An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fang an ein eigenes Zimmer bekommt; keine Frage. Aber der CDU/CSU) 13302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Sebastian Hartmann (SPD): Es ist auch nicht so, dass es zu dieser Richtlinie ohne (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten tatkräftiges Mittun Deutschlands gekommen ist. Genau- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! so werden wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- Menschen machen sich auf den Weg nach Europa. Sie kraten – hier schließe ich mich ausdrücklich den Worten sind auf der Flucht. Sie erreichen Deutschland, und sie der Kollegin Gülistan Yüksel an – darauf achten, dass es erreichen damit nicht nur einen Raum des Rechts und zu dieser Umsetzung kommt. der Freiheit, sondern auch einen Raum der Sicherheit. (Beifall bei der SPD) Sie erreichen Deutschland. Deswegen möchte ich an den Anfang meiner Ausführungen stellen, dass sich natürlich Ein weiterer Punkt ist wichtig: Es ist sehr schwierig, nicht aus dem Umfang der Zuwanderung oder des Ein- einerseits Verfahren vereinfachen und es ermöglichen zu reisens ergeben kann, dass sich eine Grenze des Rechts- wollen, dass vor Ort Hilfe geleistet wird, und gleichzei- staates oder der Geltung des Rechts ergibt. Dieser eine tig sofort wieder die nächste Rahmenbedingung und die Gedanke wird sich mit dem anderen nicht vereinbaren nächste verbindliche Regelung vorzugeben. Hier hilft lassen. auch die Übergangsfrist nicht; denn wir müssen vor Ort dafür sorgen, dass die Helfenden auch helfen können. Es muss genauso klar sein, wie wir das von allen, die zu uns kommen, einfordern, dass wir in Deutschland An dieser Stelle möchte ich sehr ausdrücklich auch auch in den Gemeinschaftsunterkünften, in den Erstauf- denjenigen danken, die vor Ort in vielen Freizeitstunden nahmeeinrichtungen keine rechtsfreien Räume schaffen, ehrenamtliche Hilfe leisten. Sie begleiten die von Gewalt meine Damen und Herren, und zwar für niemanden. Betroffenen, die traumatisiert und hierher geflohen sind. Danke schön an all diejenigen für die geleistete Arbeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- Als Staat und Gemeinschaft müssen wir uns der Ver- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des antwortung bewusst sein, die wir für diejenigen tragen, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die zu uns geflohen sind und nun in Gemeinschaftsun- Ein großes Bundesland wurde angesprochen. Es gibt terkünften leben. Ich bin den Grünen für ihren Antrag ein weiteres großes Bundesland, nämlich meine Heimat dankbar, da sie darin ein paar Punkte aufgreifen, die wir Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen ist genau an teilen, auch partei- und fraktionsübergreifend. Noch inte- diesem Punkt vorangegangen. Wir haben schon im De- ressanter als der Antrag der Grünen ist jedoch die zugrun- zember 2014 konkrete Vereinbarungen getroffen und deliegende Studie, die zitiert worden ist, die es allerdings für das Haushaltsjahr 2015 einen Fonds in Höhe von sehr bezeichnend auf den Punkt bringt. Darin heißt es: 900 000 Euro aufgelegt, mit dem genau an diesen Stellen vor Ort Schulungsprogramme und Hilfeleistungen finan- (B) Die Ergebnisse bieten keine abschließende Bear- (D) ziert werden, sodass diejenigen, die in den Einrichtungen beitung des Themas Gewaltschutz in Flüchtlings- ehrenamtliche Hilfe leisten, die die Betreuung überneh- unterkünften, sondern werfen auf der Grundlage men und die mit den betroffenen Frauen zusammenarbei- des explorativen Charakters der Untersuchung erste ten, diese Hilfe auch konkret leisten können. Schlaglichter auf ein relativ unbearbeitetes Feld. Darum gilt der Dank auch den Ländern, die willig Das ist genau die Spannkurve, in der wir uns befinden: sind, daran zu arbeiten und das umzusetzen, was wir als Auf der einen Seite erleben wir enormes ehrenamtliches Nationalstaat im europäischen Rechtsrahmen gemein- Engagement von freiwilligen Helferinnen und Helfern, sam vereinbart haben; denn ohne die Länder und ohne die in der Prävention arbeiten, die Sicherheit bieten, die die Kommunen wird es genauso wenig gehen wie ohne betroffenen Menschen helfen, egal ob Männern oder die zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Frauen bzw., anders ausgedrückt, all denjenigen, die in Ein Dankeschön an Nordrhein-Westfalen und ein Dank den Einrichtungen von Gewalt betroffen sind. Das ist eh- an alle Kolleginnen und Kollegen, die hier mitwirken. renamtliches Engagement. Auf der anderen Seite gibt es einen unteilbaren Bereich, der die Sicherheit betrifft, und Danke schön. dieser Bereich ist nicht privat, sondern hier hat der Staat (Beifall bei der SPD) seine Aufgabe zu erfüllen. Das müssen wir als Gemein- schaft organisieren. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/6646 an die in der Tagesordnung aufge- Zu unserer vornehmsten Verpflichtung gehört auch die führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung Umsetzung des gemeinsamen europäischen Asylsystems, liegt beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und dass Schutzsuchende – ich zitiere – „eine gleichwertige Jugend. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Behandlung bei Verfahrensgarantien und Aufnahmebe- Dann ist die Überweisung so beschlossen. dingungen sowie einheitlichen Schutzstatus“ erhalten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: sollen, so weit das Zitat des ehemaligen Innenministers Hans-Peter Friedrich. Das muss doch die Maßgabe sein, a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- wenn wir uns an die Umsetzung dieser Richtlinie ma- desregierung eingebrachten Entwurfs eines chen. Gesetzes zum automatischen Austausch Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13303

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) von Informationen über Finanzkonten in Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): (C) Steuersachen und zur Änderung weiterer Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen Gesetze und Herren! Liebe Kollegen! Obwohl wir hier in diesen Drucksachen 18/5920, 18/6290 Tagen auch viele andere wichtige Themen zu besprechen haben, sollten wir dieses Feld der Steuerpolitik und der – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Finanzpolitik nicht aus den Augen verlieren; denn wir desregierung eingebrachten Entwurfs eines gehen hier heute einen ganz grundlegenden Schritt in Gesetzes zu der Mehrseitigen Vereinbarung Sachen Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Be- vom 29. Oktober 2014 zwischen den zustän- kämpfung der illegalen Steuervermeidung. Den gehen digen Behörden über den automatischen wir höchstwahrscheinlich – da setze ich die Zustimmung Austausch von Informationen über Finanz- aller einmal voraus, die wir gestern in der Ausschussbe- konten ratung hatten – gemeinsam und in wesentlicher Überein- Drucksachen 18/5919, 18/6291 stimmung. Ich finde, das ist heute ein Tag, den man feiern kann. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- ausschusses (7. Ausschuss) Den Auftakt hat das im Oktober letzten Jahres ge- nommen, als 51 Staaten die Vereinbarung über den auto- Drucksache 18/6667 matischen Informationsaustausch über Finanzkonten in – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Berlin – in unserem Bundesfinanzministerium – unter- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung schrieben haben, wesentlich initiiert durch unser Finanz- ministerium, durch Wolfgang Schäuble an der Spitze. Drucksache 18/6682 Aber auch weitere Länder waren maßgeblich daran be- teiligt: Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, aber b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- eben auch wir Deutsche. richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Wenn man verfolgt hat, wie lange es gedauert hat und – zu dem Antrag der Abgeordneten , wie mühsam es war, sich über die EU-Zinsrichtlinie zu Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, verständigen, dann ist es bemerkenswert, wie schnell wir weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE es geschafft haben, uns über diesen internationalen und LINKE automatisierten Austausch von Daten über Finanzkonten Die Abgeltungsteuer abschaffen – Kapital­ in Europa auch weit über Europa hinaus zu verständigen. erträge wie Löhne besteuern Ich finde, das ist ein höchst bemerkenswertes Ergebnis. (B) – zu dem Antrag der Abgeordneten , (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (D) Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, wei- ordneten der SPD) terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Ab 2017 werden die Steuerbehörden in den Unter- zeichnerstaaten – es waren zuerst 51, jetzt sind es schon Abgeltungsteuer abschaffen 74, und 96 Staaten haben sich politisch schon fest dazu bekannt, dass sie dieses Abkommen unterstützen – in ei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Lisa Paus, nem automatisierten Verfahren Kontoinformationen von Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, wei- den in ihrem Staat ansässigen Banken erhalten und un- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- tereinander austauschen. Das ist – ich habe es eben ge- NIS 90/DIE GRÜNEN sagt – ein maßgeblicher und grundlegender Schritt zur Transparenz von Kapitaleinkommen stär- Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Länder, die dieses ken – Automatischen Austausch von In- Abkommen unterzeichnet haben und dieses Abkommen formationen über Kapitalerträge auch im dann exekutieren, stehen in Zukunft als Fluchtort, als Inland einführen Ort, wo man Kapitalvermögen verstecken kann, nicht mehr zur Verfügung. Drucksachen 18/2014, 18/6064, 18/6065, 18/6667 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ab 2018 gilt das auch für die Schweiz. Die Schweiz die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es wird dieses Abkommen ein Jahr später exekutieren. Wir keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. können uns an viele Debatten erinnern, in denen wir uns hier über Steuerhinterziehung und Steuerbetrüger – ich Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolle- will jetzt keine Namen mehr nennen, aber es waren pro- ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben. minenteste Namen dabei – unterhalten haben. Das wird Wenn Sie das tun würden, würde das das ganze Verfah- in Zukunft nicht mehr der Fall sein. In Zukunft werden ren beschleunigen und uns helfen, unsere lange Tages- wir solche Fälle nicht mehr haben. Fälle dieser Art kön- ordnung zu bewältigen. nen sich bei dieser neuen Rechtslage nicht wiederholen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die- Das ist ein ganz großer Erfolg für Deutschland, für Euro- ser Debatte hat Dr. Mathias Middelberg von der CDU/ pa und weit darüber hinaus, und es ist ein ganz grundle- CSU-Fraktion das Wort. gender Beitrag für mehr Steuergerechtigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 13304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Mathias Middelberg (A) Zu den Anträgen der Opposition nur so viel: Wir kön- Dann müssen wir nämlich über den vollständigen Wer- (C) nen bei aller Einigkeit heute im Kern diesen freundlichen bungskostenabzug reden. Auch müssen wir über das Anträgen leider die Zustimmung nicht erteilen. Es bedarf Teileinkünfteverfahren bei der Körperschaftsteuer reden. keiner schrankenlosen Transparenz über alle Kapitalein- Wenn, dann ist das ein Paket, aber keine getrennte Ver- künfte und auch keiner vollständigen Auflösung unseres anstaltung. Bankgeheimnisses. Die Finanzbehörden – das ist ent- scheidend – werden in Zukunft die Informationen über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kapitaleinkünfte im Ausland durch den Informationsaus- ordneten der SPD) tausch umfassend erhalten. Im Inland werden Kapitalein- künfte bereits heute durch die flächendeckende Kapital­ Abschließend möchte ich gern eine Bemerkung zu ertragsteuer erfasst. Schlupflöcher bestehen da nicht; dem Änderungsantrag machen, den Bußgeldrahmen, den (Beifall bei der CDU/CSU) das BMF auf 5 000 Euro gesetzt hat, zu verhundertfa- chen. Also, es lag der Antrag vor, den Bußgeldrahmen zu denn die Kapitalertragsteuer wird automatisch durch die verhundertfachen. Wir in der Koalition haben uns darauf Banken erhoben und in anonymisierter Form an die Fi- verständigt, dass wir den vorgesehenen Bußgeldrahmen nanzverwaltung abgeführt. verzehnfachen. Das halten wir für absolut angemessen Darüber hinaus haben Sie die Abschaffung der Abgel- und zureichend. Sie müssen sich vor Augen halten, mei- tungsteuer beantragt. ne Damen und Herren: Dieser Bußgeldrahmen betrifft gerade auch kleine Fälle. Betroffen ist der normale Sach- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bearbeiter in einem Finanzinstitut, der Fehler macht. Ihn NEN]: Ja!) wollen wir nicht mit einem Bußgeld von 500 000 Euro Hierüber kann man durchaus einmal grundsätzlich dis- praktisch kriminalisieren. Auch da muss man eine Gren- kutieren; das ist gar keine Frage. Allerdings sollte man ze setzen. darüber erst dann diskutieren, wenn wir den Informati- onsaustausch auch wirklich haben, und nicht schon dann, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wenn wir ihn beschließen. Wenn wir feststellen, dass er ordneten der SPD – Zuruf des Abg. Lothar von sämtlichen Unterzeichnerstaaten wirklich exekutiert Binding (Heidelberg) [SPD]) wird, dann macht es Sinn, in diesem Kontext auch über die Abgeltungsteuer zu diskutieren. Dann haben wir eine – Genau, das ist richtig. Vielen Dank an tatsächliche Handlungsalternative. Unter dieser Prämis- für den freundlichen Hinweis. Das wäre mein nächster se stehen im Übrigen auch alle rechtlichen Betrachtun- Punkt gewesen. – Auch das muss man sehen: Jeder Fall, (B) gen, die Sie uns wahrscheinlich gleich vorhalten werden. bei dem ein Fehler gemacht wird, wird demnächst mit (D) Wenn es nämlich diese Alternative in der Tat noch nicht 50 000 Euro bebußt. Wenn es also Fälle fehlerhafter An- gibt, machen diese rechtlichen Bewertungen wenig Sinn. gaben gibt, dann gibt es in der Regel noch mehr solcher Es gilt, was Wolfgang Schäuble – im Übrigen unter Fälle. Das summiert sich. Dadurch kommt es zu ganz an- Bezugnahme auf seinen Vorgänger Steinbrück – gesagt deren Bußgeldsummen. Wenn es hier um systematisch hat: falsche Angaben geht, so wie das in der Ausschussbera- tung von einigen, – ich sage einmal, – beispielhaft vor- Die Abgeltungsteuer ist mit dem Argument ein- getragen wurde, dann wird in aller Regel strafbares Ver- geführt worden ...: 25 Prozent von X ist mehr als halten vorliegen. Dann gibt es Betrugssachverhalte oder 45 Prozent von nix. auch Untreue. Das führt zu einem ganz anderen Strafrah- Wolfgang Schäuble hat hinzugefügt: men, zum Beispiel zu Freiheitsstrafen.

Solange man die Informationen nicht hat, ist eine Ich glaube, wir haben den vorliegenden Gesetzent- Abgeltungsteuer in der Abwägung der Argumente – wurf insgesamt sehr gut gestaltet. Wir gehen einen Rie- pro und kontra – zumindest eine mit guten Argu- senschritt in Sachen mehr Steuergerechtigkeit. Ich sage menten versehene Lösung. an dieser Stelle ganz persönlich, dass ich mich für die Diese Einschätzung war und ist richtig. tolle Vorarbeit meines Kollegen , der in den (Beifall bei der CDU/CSU) letzten Monaten an der Arbeit gehindert wurde, sehr herzlich bedanke. An dieser halten wir so lange fest, bis wir den Informa- tionsaustausch wirklich exekutieren. Wir sollten deshalb (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht den zweiten vor dem ersten Schritt tun und deshalb in diesem Punkt noch zuwarten. Ich stehe nur deshalb an dieser Stelle, weil du leider ver- hindert warst. Ich wünsche dir weiterhin allerbeste Bes- Im Übrigen – das sei an dieser Stelle schon ange- merkt –: Wenn wir darüber diskutieren, zu einer norma- serung und danke dir für deine Arbeit. Ich bedanke mich len Besteuerung überzugehen, dann müssen wir natür- auch bei allen anderen, auch beim Bundesfinanzministe- lich auch über die Kompensationstatbestände reden, die rium, für die hervorragende Zusammenarbeit. damals zusammen mit der Abgeltungsteuer eingeführt wurden. Danke. (Dr. [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13305

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: für die Geldbuße gefordert. Danach hätten Banken eine (C) Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Richard Geldbuße von bis zu 5 Millionen Euro riskiert, wenn sie ­Pitterle von der Fraktion Die Linke das Wort. die Daten weiter verheimlichen und so der Steuerflucht weiter Vorschub leisten. Union und SPD haben das leider (Beifall bei der LINKEN) abgelehnt. Abgelehnt haben sie im Finanzausschuss auch unseren Antrag zur Abgeltungsteuer. Richard Pitterle (DIE LINKE): Meine Damen und Herren, lassen Sie uns endlich die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- unsägliche Abgeltungsteuer abschaffen und Kapitalerträ- ginnen und Kollegen! Jahrzehntelang war es den Wohl- ge wieder dem Einkommensteuersatz unterwerfen. habendsten in unserer Gesellschaft möglich, ihre Millio- nen und Abermillionen vor dem Zugriff des Finanzamtes (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- im Ausland zu verstecken. Wer ohnehin im Reichtum NIS 90/DIE GRÜNEN) schwelgte, konnte fröhlich Steuern hinterziehen und sich an seinen prallgefüllten Konten in der Schweiz oder Wer sein Geld für sich arbeiten lässt, zahlt momentan le- Luxemburg erfreuen – auf Kosten der vielen ehrlichen diglich den pauschalen Abgeltungsteuersatz von 25 Pro- Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aus den unteren und zent. Wer hingegen sein Einkommen aus der eigenen mittleren Einkommensschichten. Der jetzt im Gesetzent- Hände Arbeit erzielt, zahlt darauf Einkommensteuer bis wurf vorgesehene automatische Informationsaustausch zu 42 oder sogar 45 Prozent. Das ist schlichtweg nicht zwischen den Staaten über Finanzkonten macht es den gerecht. Vermögenden nun deutlich schwerer, ihr Geld im Aus- (Beifall bei der LINKEN – Lothar ­Binding land zu verstecken. (Heidelberg) [SPD]: Aber jetzt sind die Die Finanzinstitute melden an die jeweiligen Behör- 30 Prozent bei der Körperschaftsteuer verges- den ihres Landes, wer bei ihnen wie viel Geld auf dem sen worden! Die sollte man noch addieren! Konto hat. Das können die Finanzbehörden der anderen Dann kommt was anderes heraus!) Länder abrufen. Die Linke hat das seit langem gefordert. Die Linke fordert deshalb seit jeher die Abschaffung Ich freue mich, dass die Bundesregierung nun endlich ein dieses Reichenprivilegs. Die Abgeltungsteuer wurde mit Einsehen hatte und unsere Forderung jetzt umsetzt. der Begründung eingeführt, dass man nur so der Steu- (Beifall bei der LINKEN) erflucht ins Ausland Herr werden könne. Spätestens mit dem heutigen Gesetzentwurf ist diese Begründung Wir werden dem Gesetzentwurf daher zustimmen, auch hinfällig. Denn wenn die Reichen und Superreichen ihr wenn wir nicht mit allen Regelungen einverstanden sind. Geld aufgrund des Informationsaustausches nicht mehr (B) Dabei ist ein Punkt von herausragender Bedeutung: im Ausland verstecken können, fehlt der niedrigen Ab- (D) das Bußgeld der Finanzinstitute bei Nichteinhaltung der geltungsteuer die von Ihnen behauptete Existenzberech- Meldepflichten. Im ursprünglichen Entwurf der Bundes- tigung. regierung war dafür ein Betrag von maximal 5 000 Euro Dass der Bundesfinanzminister nun eine Abschaffung vorgesehen. Ich bitte Sie, welche Bank hätte sich denn der Abgeltungsteuer erst in der nächsten Wahlperiode von solchen Peanuts beeindrucken lassen, wenn milli- erwägt, ist wieder einmal ein Beispiel für die Verschlep- onenschwere Kundinnen und Kunden um die Geheim- pungstaktik der Bundesregierung. Wenn die Damen und haltung ihrer Daten gebeten hätten? Nach der Anhörung Herren von der CDU/CSU sich zieren, die Privilegien der haben Sie den Bußgeldrahmen jetzt wenigstens auf Wohlhabenden zu beschneiden, überrascht das nicht wei- 50 000 Euro erhöht. Diese Summe dürfte zwar schon et- ter. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was mehr wehtun, zeugt aber leider immer noch davon, geben doch wenigstens Sie sich einen Ruck, und sorgen dass die Steuerhinterzieher bei der Großen Koalition Sie gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und Linken weiterhin eine starke Lobby haben. noch hier und jetzt für ein Ende der Abgeltungsteuer und (Lothar Binding (Heidelberg) [SPD]: Das ist somit für mehr Gerechtigkeit für alle Steuerzahlerinnen aber pro Fall! Das kann schon teuer werden!) und Steuerzahler! Meine Damen und Herren, zum Vergleich: Derselbe Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Bußgeldrahmen, also bis zu 50 000 Euro, erwartet Sie, (Beifall bei der LINKEN) wenn Sie an einem Sonn- oder Feiertag Rasen mähen oder wenn Sie einen strenggeschützten Käfer wie das Wachsblumenböckchen verletzen oder gar töten. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Andreas (Manfred Zöllmer [SPD]: Völlig zu Recht!) Schwarz von der SPD-Fraktion das Wort. Bei aller Liebe zur Feiertagsruhe oder zu seltenen Kä- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fern: Es geht hier um die Bekämpfung der Straftat Steu- erhinterziehung. Andreas Schwarz (SPD): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben deswegen zusammen mit den Kolleginnen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute von und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen in den Aus- uns zu beschließende Gesetzentwurf zum automatischen schussberatungen einen noch deutlich höheren Rahmen Informationsaustausch ist ein Meilenstein in der Be- 13306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Andreas Schwarz (A) kämpfung der Steuerkriminalität. Seit vielen Jahrzehn- Erst durch diese Ablehnung und die daraus folgende (C) ten diskutiert man darüber, wie man Steuerhinterziehung Aufdeckung all der prominenten Fälle mit nichtversteu- wirksam eindämmen bzw. vielleicht sogar verhindern erten Zinsgewinnen auf Schweizer Konten kam dann kann. Tempo in die Verschärfung der Gesetzgebung gegen Steuerbetrug. Für mich persönlich ist die Ablehnung Ich denke, im letzten Jahr sind wir mit der Verschär- dieses Abkommens die Geburtsstunde des heute zu be- fung der strafbefreienden Selbstanzeige einen großen schließenden Gesetzes. Schritt vorangekommen. Trotz allen Erfolges des Geset- zes vom letzten Jahr gilt: Steuerhinterziehung ist nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nur mit nationalstaatlicher Gesetzgebung beizukommen; DIE GRÜNEN) wir müssen international tätig werden. Dazu brauchen wir eine internationale Zusammenarbeit. Bereits ein knappes Jahr nach der Unterzeichnung der mehrseitigen Erklärung Ende Oktober 2014 gießen wir Bereits am 13. Oktober 1931 hatte der damalige so- heute den OECD-Standard in Gesetzesform; das ist wirk- zialdemokratische Reichstagsabgeordnete Dr. Rudolf lich rekordverdächtig. Das zeigt aber auch, dass wir es ­Breitscheid in einem Antrag die Reichsregierung Brüning ernst meinen mit der Bekämpfung von Steuerbetrug. aufgefordert – ich zitiere –, „der frevelhaften Kapital- und (Beifall bei der SPD) Steuerflucht deutscher Staatsangehöriger“ zu begegnen. Breitscheid forderte die damalige Reichsregierung auf, Für diese tolle Leistung möchte ich allen Beteiligten mei- „über eigene gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämp- nen herzlichen Dank aussprechen. fung der Steuer- und Kapitalflucht hinaus in Verhandlun- gen mit den Regierungen anderer Staaten einzutreten mit Die im Jahre 2014 überarbeitete Zinsrichtlinie stellte dem Ziele, eine internationale Rechtshilfe gegen Kapital- somit einen guten Zwischenschritt hin zum automati- und Steuerfluchthandlungen zu vereinbaren“. schen Informationsaustausch nach OECD-Standard dar. Es handelt sich deshalb um einen Zwischenschritt, weil (Beifall bei der SPD) der OECD-Standard weiter geht als die EU-Zinsrichtli- nie; denn künftig werden zum Beispiel Beteiligungs- und Dieses über 80 Jahre alte Zitat drückt sehr gut aus, wo- Veräußerungserträge erfasst. Das ist ein großer Fort- rum es geht. Steuerkriminalität bekämpft man national schritt. und international. Es fehlte viel zu lange an dieser un- erlässlichen internationalen Zusammenarbeit. Aber was Beim automatischen Informationsaustausch geht es alles wurde in den letzten Jahrzehnten tatsächlich unter- um den länderübergreifenden Austausch von persönli- nommen? Untätig waren Europa und die Welt nicht. chen Daten. Genau deshalb ist uns hier der Datenschutz (B) besonders wichtig. An ihm wird nicht gerüttelt. (D) 1962 erarbeitete Fritz Neumark im Auftrag der EG-Kommission ein Konzept, das die EG-weite Einfüh- (Beifall bei der SPD) rung einer einheitlichen, anrechenbaren Quellensteuer sowie einen gemeinschaftlichen Auskunftsdienst für Der Datenaustausch nach OECD-Standard bedeutet fak- eine wirksame Steuerkontrolle vorsah. Realisiert wur- tisch auch das Ende des Bankgeheimnisses. Das war de es nie. Noch 1989 war der Vorschlag, in Europa eine unausweichlich; denn das Bankgeheimnis diente in der Quellensteuer auf die Zinserträge ausländischer Anleger Regel in den vergangenen Jahrzehnten dazu, als Deck- einzuführen, von den Mitgliedstaaten mehrheitlich abge- mantel für Steuerhinterziehungen herangezogen zu wer- lehnt worden. den. Wir konnten nun im Gesetzgebungsverfahren das Es dauerte viele weitere Jahre, bis dann im Juni 2003 Prüfungsrecht des Bundeszentralamtes für Steuern aus- die EU-Zinsrichtlinie verabschiedet wurde. Nach einigen weiten. Die Sanktionen bei einer Verletzung der Mel- Verzögerungen trat sie dann im Juli 2005 in Kraft. Ledig- depflichten durch die Finanzinstitute wurden ebenfalls lich Belgien, Österreich und Luxemburg wollten keine deutlich verschärft. Statt 5 000 Euro werden zukünftig Zinsdaten austauschen. Sie erhoben zur Wahrung ihres 50 000 Euro pro Fall fällig. Nicht zuletzt haben wir durch Bankgeheimnisses eine Quellensteuer. Es hat also über eine Präzisierung der Meldepflichten der Finanzinstitute 40 Jahre gedauert, bis endlich ein Instrument für eine ef- die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Informati- fektive Besteuerung grenzüberschreitender Zinszahlun- onsaustausch im Fall eines Beitritts weiterer Staaten ein- gen zur Verfügung stand. Über 40 Jahre! fach und schnell erweitert werden kann. Wir begrüßen Im Jahre 2011 wurde von Schwarz-Gelb mit dem so- ausdrücklich, dass Steuerflüchtigen durch den Ankauf genannten deutsch-schweizerischen Steuerabkommen weiterer Steuer-CDs – wie jüngst durch Nordrhein-West- der Versuch unternommen, die Besteuerung des gren- falen – zusätzlich Druck gemacht wird. zübergreifenden Kapitalverkehrs zwischen unseren bei- (Beifall bei der SPD) den Ländern zu regeln. Bei Inkrafttreten dieses Abkom- mens wären sämtliche Steuerhinterzieher anonym und Steuerhinterziehung darf sich nicht lohnen. Es lohnt sich straffrei geblieben. Dies war der Hauptgrund, warum wir auch deshalb nicht, weil die Gefahr, erwischt zu werden, es im Jahr 2012 verhindert haben. immer größer wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Bekämpfung von Steuerbetrug ist für uns, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) SPD-Bundestagsfraktion, immer auch eng verknüpft mit Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13307

Andreas Schwarz (A) dem Thema Gerechtigkeit. Mit der heutigen Verabschie- Selbst Finanzminister Schäuble hat gesagt, auch gestern (C) dung kommen wir auch hier einen großen Schritt weiter. noch, er wäre im Prinzip dafür, nur jetzt noch nicht. Recht herzlichen Dank. (Lothar Binding (Heidelberg) [SPD]: Aber (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie zur rechten Zeit! – Kerstin Andreae [BÜND- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schade!) GRÜNEN) Jetzt könnte man sagen: Das ist immerhin schon ein Schritt. Aber, meine Damen und Herren, das reicht nicht; Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: denn die Beibehaltung der Abgeltungsteuer ist heute kei- Ganz herzlichen Dank. – Als nächste Rednerin hat ne Petitesse. Wenn dieses Gesetz über den automatischen Lisa Paus von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Informationsaustausch heute verabschiedet wird, dann Wort. ist die Abgeltungsteuer endgültig verfassungswidrig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch Das ist nicht nur unsere Meinung, sondern das bestä- wir Grünen begrüßen die Einführung eines internationa- tigt inzwischen auch ein umfassendes Rechtsgutachten len automatischen Informationsaustauschs. Wie sollten des Steuerrechtlers Professor Joachim Englisch von der wir anders? Wir haben das seit Jahren gefordert. Universität Münster, der nun wahrlich nicht verdächtig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist, ein Grüner zu sein. Herr Professor Englisch stellt in seinem Gutachten fest: Bei all der Feierstimmung sollte aber eines dann doch nicht unter den Tisch fallen: Die Wandlung von Schäuble Erstens. Die Abgeltungsteuer hat schon immer gegen vom Saulus zum Paulus in dieser Frage ist nicht einer die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung al- visionären Erleuchtung geschuldet, sondern diese Wand- ler Einkunftsarten verstoßen, weil Kapital niedriger be- lung musste wirklich sehr hart erstritten werden. Ohne steuert wird als Löhne oder Gehälter. die Ablehnung des deutsch-schweizerischen Steuerab- kommens durch Rot-Grün im Bundesrat – das wurde Zweitens. Die Abgeltungsteuer hat schon immer gegen gerade schon erwähnt – könnten wir dieses Gesetz heute das in Deutschland geltende Leistungsfähigkeitsprinzip gar nicht verabschieden. verstoßen, wonach finanziell starke Einkommensgrup- pen einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Staates Dann hätte sich nämlich nicht der automatische In- leisten sollen als Einkommensschwache. (B) formationsaustausch durchgesetzt, dann hätten wir von (D) einem Fall Hoeneß oder einem Fall Alice Schwarzer Drittens. Die Abgeltungsteuer konnte nur deshalb ge- nichts erfahren, sondern es gäbe weiter viele Fälle von rade noch als verfassungsgemäß durchgehen, weil man unentdeckter Steuerhinterziehung. Dann hätten wir statt- die Privilegierung des Einkommens aus Kapital mit der dessen eine Art modernen Ablasshandel bekommen, also Konzession an den internationalen Steuerwettbewerb be- eine Vereinbarung mit ehemaligen Steueroasen, dass sie gründete, wie es auch hier heute noch einmal gemacht uns jährlich eine – ansonsten anonyme – Mindestsumme wurde. Geld überweisen. Gut, dass das Geschichte ist: weil wir Aber es gab seit der Einführung der Abgeltungsteu- das verhindert haben. er nicht einen einzigen empirischen Hinweis darauf, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Begründung stützen würde. Deswegen ist sie nicht sowie bei Abgeordneten der SPD) erst in zwei Jahren, Herr Middelberg, sondern spätestens heute mit der Verabschiedung des Gesetzes über den Nicht gut ist dagegen, dass die Große Koalition an der automatischen Informationsaustausch, so jedenfalls das Abgeltungsteuer in Deutschland trotzdem immer noch Fazit von Professor Englisch, nicht mehr ausreichend. festhalten möchte. Wenn massenhafte Steuerhinterzie- Es gibt keine ausreichende Rechtfertigung mehr für den hung durch Parken von Geld auf Auslandskonten nicht Verstoß gegen Gleichbehandlung und das Leistungsfä- mehr möglich ist, weil die nationalen Finanzbehörden higkeitsprinzip, wie es die Verfassung vorsieht. die Information über Kapitalerträge automatisch austau- schen, dann löst sich eben die Steinbrück’sche Mathema- (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das tik von einst endgültig auf, die da lautet: 25 Prozent von haben Sie gut bestellt, das Gutachten!) x sind besser als 42 Prozent von nix. Deswegen ist die Abgeltungsteuer endgültig verfas- (Lothar Binding (Heidelberg) [SPD]: Das sungswidrig. stimmt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie von der GroKo wissen auch ganz genau, dass das sowie bei Abgeordneten der LINKEN) damit zu Ende ist. Deshalb hat sich auch die SPD-Bun- Seien Sie ehrlich: Tatsächlich gibt es für Sie doch nur destagsfraktion inzwischen in einem Positionspapier für einen einzigen Grund, die Abgeltungsteuer nicht gleich- die Abschaffung der Abgeltungsteuer ausgesprochen. zeitig mit der Einführung des automatischen Informati- (Lothar Binding (Heidelberg) [SPD]: Nicht onsaustauschs abzuschaffen, und der lautet: Koalitions- „inzwischen“! Das war immer unsere Positi- vertrag. Oder genauer: keine Steuererhöhung. Das ist on!) vereinbart in der GroKo. 13308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Lisa Paus (A) Aber, meine werten Damen und Herren, werte Kolle- ministerium bisher der Auffassung war, dass eine Ab- (C) gen von der Koalition, der Koalitionsvertrag steht nicht schaffung der Abgeltungsteuer nicht zu Mehreinnahmen über dem Grundgesetz. Deswegen müssen wir die Rege- führt. Auf die Antwort der Kleinen Anfrage der Links- lung ändern. partei hat das Bundesfinanzministerium festgestellt: Eine Abschaffung würde zu Mindereinnahmen führen, auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wenn Herr Schäuble heute behauptet, es käme zu Mehr­ Manfred Zöllmer [SPD]: Herr Englisch ent- einnahmen. Ich glaube, wir alle miteinander wissen, die scheidet nicht, was grundgesetzwidrig ist!) Abgeltungsteuer würde in dieser Niedrigzinsphase zu Aber für die wachsende Schar unter Ihnen, denen auch keinen Steueraufkommensveränderungen führen, aber Verfassungsverstöße mittlerweile ziemlich egal sind, die sie würde zu mehr Gerechtigkeit führen. Sie eigentlich kaltlassen, liefere ich doch noch ein Ar- gument für den Koalitionsvertrag. Die Abschaffung der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Abgeltungsteuer würde gerade nicht – – Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. ( [CDU/CSU]: Ein bisschen den Stil wahren, Frau Paus! Es war nicht par- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lamentarisch, zu sagen, dass uns die Verfas- sung – – Das geht gar nicht, Frau Präsidentin! Ich komme zum Schluss. – Auf niedrige Einkommen Irgendwo hört es auch auf!) würden weniger und auf höhere Einkommen würden mehr Steuern zu zahlen sein. Deshalb fordere ich Sie – Mein lieber Herr Kollege, wir können uns gerne über ein letztes Mal auf: Sorgen Sie für mehr Gerechtigkeit! die Ergebnisse der Anhörung zur Erbschaftsteuer unter- Schaffen Sie die ungerechte und verfassungswidrige Ab- halten, geltungsteuer heute ab! Stimmen Sie unserem Antrag zu! (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann über- Danke schön. prüfen Sie einmal Ihre Formulierung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der alle Experten unisono festgestellt haben, dass und bei der LINKEN) sich keiner traut, Verfassungsgemäßheit tatsächlich fest- zustellen. Wir reden darüber, wie Sie mit dem Thema Grundsteuer umgehen. In all diesen Fragen haben wir Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: erlebt, dass Ihnen die Verfassung ziemlich egal ist. Des- Vielen Dank. – Ich möchte die Kollegen darauf hin- wegen finde ich diese Aussage völlig gerechtfertigt und weisen: Wir haben bewährte Instrumente, um einen sol- (B) Ihre Einlassung völlig daneben. chen Diskurs zu führen. Das ist die Zwischenfrage, und (D) das ist die Kurzintervention. Ich bitte, davon Gebrauch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu machen, damit wir im Rahmen der Redezeiten blei- und bei der LINKEN) ben. Aber kommen wir zurück zu Ihrem Koalitionsvertrag. (Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wenn man DIE GRÜNEN] – Dr. keine guten Argumente hat, muss man Kolle- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, das gen beleidigen!) macht bestimmt der Kollege Brinkhaus! – – Das haben Sie getan, und ich musste leider darauf re- Gegenruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ agieren, werter Kollege. CSU]: Herr Kollege Schick, wir können ja einmal Ihre Zwischenrufe protokollieren! Sie (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein! Ganz machen sie doch auch! – Gegenruf des Abg. schwach, Frau Paus, ganz schwach! Das ist Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Niveaulimbo auf unterstem Niveau, was Sie NEN]: Ich stelle auch Zwischenfragen, wenn machen!) es wichtig ist!) – Ja, das merke ich, dass Sie ganz schön getroffen sind. Jetzt hat der Kollege Graf Lerchenfeld von der CDU/ (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE CSU-Fraktion das Wort. GRÜNEN]: Sie sollten einmal den Experten (Beifall bei der CDU/CSU) zuhören, Herr Brinkhaus! – Gegenruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das sind Sie, Herr Gambke? Sie sind der Experte?) Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Lieber – Ich hoffe, Sie können trotzdem noch einen Satz aushal- Kollege Pitterle, eigentlich war das, was Sie uns unter- ten, werter Kollege. stellt haben, schon bodenlos. Sie sagen, wir würden Steu- Ich wollte einfach darauf hinweisen, erhinterziehung begünstigen. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ist misslun- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ja!) gen!) Ich finde es unfassbar, dass Sie uns unterstellen, wir wür- dass auch Sie mit Ihrem Koalitionsvertrag eigentlich den den Lobbyisten der Steuerhinterziehung hier auch überhaupt kein Problem haben, weil das Bundesfinanz- noch nachkommen. Ich habe Sie bisher immer für einen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13309

Philipp Graf Lerchenfeld (A) umgänglichen Menschen gehalten. Es hat mich schwer verfolgt werden könnten. Ich möchte nur an die inten- (C) enttäuscht. siven Verhandlungen zum DBA mit China erinnern, wo wir insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe erhebliche Das, was Sie, Frau Paus, gemacht haben, ist eine Un- Probleme hatten. terstellung. Ich finde kaum Worte dafür. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lassen Sie mich auf die Anträge der Opposition zu Fragen Sie einmal nach!) sprechen kommen. Sie von Bündnis 90/Die Grünen haben ein Gutachten bestellt. Darin ist zusammengefasst Es ist eine unfassbare Unverschämtheit. Die Gutachten, dargestellt, dass die Besteuerung der Kapitaleinkünfte die man bestellt, bekommt man so wieder zurück. nach § 32 d Absatz 1 EStG in Verbindung mit § 43 Ab- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: satz 5 EStG gegen gleichheitsrechtlich verankerte Vor- Fragen Sie Steuerrechtler! Fragen Sie quer- gaben der Gleichbehandlung aller Einkunftsarten und beet!) der gleichmäßigen Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit verstoße. Gleichzeitig führt Ihr Gut- Ich möchte Ihnen sagen: Ich habe mich mit diesem Gut- achter aus, dass die Vorschriften auch einer besonderen achten sehr stark auseinandergesetzt. Wenn Sie es genau Rechtfertigungsanforderung genügen müssen, wenn sie lesen würden, dann würden Sie sehen, dass viele Argu- weiter angewendet werden können. Nun gebe es erheb- mente weiterhin für eine Abgeltungsteuer sprechen. Im liche verfassungsrechtliche Bedenken, da die Besteu- Übrigen: Wo ist eine Klage bis zum Verfassungsgericht erung aufgrund der vorliegenden Erfahrungen und der gegangen? Wo ist vom Verfassungsgericht festgestellt Entwicklung bei der internationalen Bekämpfung der worden, dass es sich hier um eine nicht verfassungsge- Steuerhinterziehung inzwischen als unverhältnismäßig mäße Besteuerung handelt? Man kann sehr viele Gut- zu beurteilen wäre. achten finden, die dafür sprechen, und auch andere, die dagegen sprechen. Deswegen bitte ich Sie, uns nicht zu Ich denke, dass der Gutachter, aber auch Sie mit Ihren unterstellen, wie Sie es getan haben, dass uns das Grund- Anträgen, eine Reihe von Sachverhalten, die durchaus gesetz egal ist. Wir stehen auf dem Boden des Grund- immer noch für die Beibehaltung dieser Besteuerungs- gesetzes. Dazu sind wir Parlamentarier in diesem Bun- art sprechen, vermissen lassen. Zunächst einmal ist es destag. Sie sollten sich für diese unglaubliche Frechheit doch in unser aller Interesse, dass durch die Abgeltung- entschuldigen. steuer tatsächlich alle – ich betone: alle – inländischen Kapitalerträge aller Steuerpflichtigen erfasst werden. Bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- diesem Verfahren werden Kapitalerträge von Millionen ordneten der SPD) Konten in Deutschland in einem einfachen, administra- (B) Es tut mir leid, dass man in die Diskussion jetzt eine tiv leicht handhabbaren Verfahren erfasst, und neben der (D) Schärfe über Gesetzentwürfe hereingebracht hat, die Steuer werden auch noch der Solidarbeitrag und sogar wirklich nicht notwendig ist, da wir eigentlich alle dar- die entsprechende Kirchensteuer, wenn notwendig, abge- in übereinstimmen, dass wir dieses Gesetz begrüßen. Es führt. Es gibt nachvollziehbare Berechnungen, dass das ist erfreulich, dass wir im internationalen Informations- bei einem 25-prozentigen Steuersatz zu einer Besteue- austausch eine Möglichkeit finden, Steuerhinterziehung, rung bis zu 61,5 Prozent der Nettoerträge führt, da dabei, Steuervermeidung stärker einzuschränken. Ich möchte wie es der Kollege Middelberg schon richtig dargestellt mich für das großartige Verhandlungsergebnis ganz be- hat, keine Werbungskosten geltend gemacht werden kön- sonders herzlich bei allen Verhandlungsführern bedan- nen. Das liegt deutlich über dem, was Arbeitseinkommen ken, an der Spitze bei unserem Bundesfinanzminister heute zu versteuern haben. Dr. Schäuble. Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär, ihm das auszurichten. Wie gesagt, ist durch das Besteuerungsverfahren ein vernünftiges, leicht administrierbares und transparentes (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. System gebildet worden, durch das gewährleistet wird, Manfred Zöllmer [SPD]) alle Kapitalerträge entsprechend zu besteuern. Aus die- Es ist schon gesagt worden, dass wir ab Septem- sem Grund sollten wir warten, bis erste Erfahrungen aus ber 2017 mit vielen Staaten ganz hervorragende Aus- den heute zu verabschiedenden Gesetzen vorliegen, Er- tauschmöglichkeiten haben. Diese Möglichkeiten müs- fahrungen darüber, wie sich der internationale Informati- sen nur noch entsprechend eingeführt werden und sich onsaustausch in der Praxis bewährt, bevor wir ein einfach in der Praxis bewähren. Es ist ein Meilenstein bei der handhabbares Verfahren letztendlich abschaffen. Bekämpfung der Steuerhinterziehung auf internationaler Liebe Kollegen, Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Basis erreicht worden. Wir haben damit auch eine Trans- die Daten durch das strikte deutsche Steuergeheimnis ge- parenz auf internationaler Basis erreicht, von der man vor schützt bleiben müssten und sichergestellt werden müs- Jahren noch nicht einmal geträumt hatte. se, dass sie nicht für andere Zwecke oder an anderer Stel- Was mir in diesem Zusammenhang ganz besonders le genutzt werden. Nun will ich niemandem unterstellen, wichtig ist, ist aber auch, dass tatsächlich gewährleistet dass er mutwillig das Steuergeheimnis in Deutschland bleibt, dass die automatische Übermittlung der Daten nur verletzt. Aber die Erfahrungen mit Steuerhinterziehungs- an Staaten erfolgen soll, die erklärt haben, die Unterlagen daten prominenter Mitbürger haben doch gezeigt, dass nur aus steuerlichen Gründen zu benötigen. Das muss das Steuergeheimnis so strikt auch nicht immer eingehal- streng beachtet werden; denn es wäre fatal, wenn mit den ten wird. Deswegen, meine ich, sollte man sich in dieser übermittelten Daten auch andere Ziele in diesen Staaten Sache etwas zurückhalten. Man sollte auch bedenken, 13310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Philipp Graf Lerchenfeld (A) dass wir strenge Datenschutzvorschriften haben. Auch die Umsetzung. Wir wissen doch alle: Das beste Gesetz (C) dies sollte Berücksichtigung finden. ist nur dann wirklich gut, wenn es auch gut umgesetzt wird. Ich freue mich, wenn wir heute diese beiden Geset- zesvorhaben annehmen. Ich denke, damit werden In­ (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) stru­mente geschaffen, die uns im Kampf gegen Steuer- hinterziehung wirklich helfen werden. Wir werden Ihre Dafür werden verlässliche Systeme, und zwar sowohl für Anträge ablehnen. die Informationsgewinnung als auch für den Informati- onsaustausch, in Deutschland und auch in allen anderen Liebe Frau Paus, ich möchte Sie noch einmal bitten, beteiligten Staaten benötigt. Denn nur wenn die ausge- über das nachzudenken, was Sie heute gesagt haben. tauschten Daten möglichst vollständig und von hoher Qualität sind, kann wirklich von Transparenz die Rede (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sein. Nur wenn wir uns darauf verlassen können, dass die Andreas Schwarz [SPD]) Daten über Finanzkonten von Bundesbürgern in der gan- zen Welt korrekt sind, können wir zufrieden sein. Das ist Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: die beste Voraussetzung für eine effektive Besteuerung. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Sarah Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der He­ ­Ryglewski von der SPD-Fraktion das Wort. rausforderung, die die Umsetzung auch für unser Land (Beifall bei der SPD) bedeutet, wird deutlich, dass wir noch eine gute Wegstre- cke vor uns haben. Genau deshalb sollten wir den zwei- ten Schritt nicht vor dem ersten machen. Sarah Ryglewski (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Damit sind wir bei der Abgeltungsteuer. Liebe Kol- Herren! Wir wollen nicht, dass Steuerhinterzieher ihr leginnen und Kollegen von der Linken und vom Bünd- Geld weiter in Steueroasen verstecken können – sei es nis 90/Die Grünen, Sie haben ja bei allen Reden gehört, in der sonnigen Karibik, auf den Kanalinseln oder bei dass eine grundsätzliche Offenheit dafür da ist, das The- Schweizer Banken. Im Moment ist es – seien wir einmal ma Abgeltungsteuer anzufassen, und dass wir in dem ganz ehrlich – doch so, dass sich die deutschen Steuer- Ansinnen geeint sind, sie perspektivisch abzuschaffen. zahler im Wesentlichen in zwei Gruppen teilen. Es gibt Uns allen ist klar: Die Abgeltungsteuer ist nicht mehr als die einen, die hier mit ihrer Arbeit ihr Geld verdienen und ein Second Best. Sie wurde in einem globalen Finanzsys- auch hier ihre Steuern bezahlen. Und es gibt die zweite tem nötig, das von Steuerwettbewerb, Intransparenz und Gruppe, die aus denen besteht, die mit Kapitaleinkünf- (B) mangelnder Zusammenarbeit geprägt war. (D) ten noch mehr Geld verdienen und Geld dafür ausgeben, dieses Geld vor dem deutschen Fiskus im Ausland zu Aus sozialdemokratischer Sicht ist diese steuerliche verstecken. Ungleichbehandlung eine klare Ungerechtigkeit. Wir müssen aber doch zunächst einmal schauen, dass wir das Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Gesetzes System, das wir heute beschließen, auch vernünftig in die zum automatischen Austausch von Informationen über Umsetzung bekommen. Finanzkonten schaffen wir daher ein Stück mehr Steu- ergerechtigkeit. Wir wissen: Es ist unfair, dass jemand, der jeden Tag arbeiten geht, unter Umständen mehr Steuern bezahlen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss als jemand, der, salopp gesprochen, nur einmal am der CDU/CSU) Tag den Aktienkurs checkt. Deshalb ist es der richtige Wie lang dieser Weg gewesen ist, hat ja der Kollege Zeitpunkt, sich von der Abgeltungsteuer zu verabschie- Schwarz sehr eindrucksvoll beschrieben. den, wenn das System des automatischen Informations- austausches den Praxistest bestanden hat, aber auch erst Wir schaffen hier gemeinsam die Voraussetzung, in- dann. ternationale Steuerhinterziehung erfolgreich zu bekämp- fen und Steueroasen den Garaus zu machen. Am Daten- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten austausch werden sich nach derzeitigem Stand 95 Länder der CDU/CSU) beteiligen. Dass so viele mitmachen, zeigt einerseits den Ich versichere Ihnen, dass Sie zu diesem Zeitpunkt die großen internationalen Erfolg des OECD-Vorhabens. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sicher an Andererseits stärkt es die Schlagkraft des Vorhabens; Ihrer Seite haben werden. Und wenn ich die Zeitungs- denn je mehr mitmachen, desto besser. Schließlich ge- berichte richtig gelesen habe, dann werden Sie an die- winnen die Staaten dank ihrer Kooperation Souveränität ser Stelle auch den Bundesfinanzminister an Ihrer Sei- zurück. Wegen des Zugewinns an Transparenz sind sie te haben. Von daher glaube ich, dass wir da vielleicht nicht länger Getriebene, sondern erhalten Spielräume in schneller zu einer Einigung kommen werden, als wir uns der Besteuerung privater Kapitalerträge. das heute vorstellen können. Gleichwohl können wir uns noch lange nicht zufrie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den zurücklehnen. Mit der gesetzlichen Grundlage heute machen wir nur den ersten Schritt; denn mit der Unter- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun- zeichnung von Erklärungen und dem Verabschieden von destag beschließt heute ein wichtiges Gesetz im Kampf Gesetzen ist es noch lange nicht getan. Jetzt geht es an gegen internationale Steuerflucht. Dies ist ein großer Er- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13311

Sarah Ryglewski (A) folg in Richtung globale Steuergerechtigkeit. Nun gilt es Wir kommen zur (C) sicherzustellen, dass alle beteiligten Länder den nächsten dritten Beratung Schritt gehen und verlässliche Systeme zur Erfassung und Verteilung von Daten entwickeln. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Karibik, Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann die Schweiz und vielleicht ja auch die britischen Kana- ist auch dieser Gesetzentwurf in der dritten Lesung ein- linseln mögen attraktive Orte zum Urlauben sein. Ich stimmig angenommen worden. glaube, wir sind uns aber einig, dass das Geld in Zukunft weniger auf Reisen gehen sollte und lieber zu Hause blei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zum ben und dort ordentlich besteuert werden sollte. Tagesordnungspunkt 11 b. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses Vielen Dank. auf Drucksache 18/6667 fort. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2014 mit dem Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Titel „Die Abgeltungsteuer abschaffen – Kapitalerträge Vielen Dank. – Gratulation zu Ihrer ersten Rede! wie Löhne besteuern“. Wer stimmt für diese Beschlus- (Beifall – Sarah Ryglewski [SPD]: Vielen sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es eine Ent- Dank!) haltung? – Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich on angenommen worden. die Debatte. Unter Buchstabe d empfiehltder Ausschuss die Ableh- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum automa- auf der Drucksache 18/6064 mit dem Titel „Abgeltung- tischen Austausch von Informationen über Finanzkonten steuer abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlus- in Steuersachen und zur Änderung weiterer Gesetze. sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- jemand? – Dann ist auch diese Beschlussempfehlung ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6667, den mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa- Opposition angenommen worden. chen 18/5920 und 18/6290 in der Ausschussfassung an- Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, emp- (B) zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf fiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlus- (D) in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das sempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/6065 jemand? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- mit dem Titel „Transparenz von Kapitaleinkommen stär- tung einstimmig angenommen worden. ken – Automatischen Austausch von Informationen über Wir kommen zur Kapitalerträge auch im Inland einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- dritten Beratung gen? – Enthält sich jemand? – Dann ist auch diese Be- schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem gen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kommen wir ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. zum nächsten Tagesordnungspunkt, zum Tagesordnungs- punkt 12: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Manfred Zöllmer [SPD]: Dafür Beratung des Antrags der Abgeordneten ­Katja hat die Opposition aber ganz schön Wind ge- Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), macht!) ­Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wir kommen zur Abstimmung über den von der Für ein menschenwürdiges Existenz- und Teil- Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu der habeminimum Mehrseitigen Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden über den automatischen Austausch von Infor- Drucksache 18/6589 mationen über Finanzkonten. Der Finanzausschuss emp- Überweisungsvorschlag: fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Drucksache 18/6667, den Gesetzentwurf der Bundesre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gierung auf den Drucksachen 18/5919 und 18/6291 an- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Stimmt je- Ich möchte auch hier wieder die Kolleginnen und Kol- mand dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann ist der legen bitten, die Gespräche in den vorderen Reihen nicht Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange- fortzusetzen, sondern die Plätze einzunehmen, damit wir nommen worden. in unserer Beratung fortfahren können. 13312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Hartz-IV-Regelsatz leben muss, heißt das dann: Wenn (C) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu er beispielsweise an der Sitzung einer Bürgerinitiative keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. teilnehmen will, muss er sich das Geld an anderer Stelle absparen. Das ist verdammt noch mal ein richtiges Pro- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die- blem. Deswegen sage ich: Der Hartz-IV-Regelsatz bzw. ser Debatte hat Katja Kipping von der Fraktion Die Lin- das Existenzminimum, so wie es hier bestimmt wird, ist ke das Wort. auch ein Angriff auf die demokratische Teilhabe von Er- (Beifall bei der LINKEN) werbslosen. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ganz offenkundig ist die Unterdeckung bei den Ener- Hartz-IV-Regelsatz und alle Sozialleistungen, die davon giekosten. Die Paritätische Forschungsstelle hat errech- abgeleitet werden, decken nicht die Mindestbedarfe. Vie- net, dass in den Jahren 2008 bis 2014 die Energiekosten le Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, leiden um 37 Prozent gestiegen sind. Die Regelleistungen sind nicht nur an Armut, sondern auch an materieller Unter- aber eben nicht entsprechend angepasst worden. „Die versorgung. Das äußert sich zum Beispiel wie folgt: im Dunkeln sieht man nicht“, so heißt es bei Brecht. Für so manchen Haushalt ist das eben nicht nur ein Sprach- Die Hälfte aller Menschen, die auf Hartz IV angewie- bild, nicht nur eine Metapher, sondern bittere Realität. sen ist, hat Schulden, das heißt, sie haben keinerlei fi- Es kam im Jahr 2013 immerhin in rund 350 000 Fällen nanzielle Polster. Wenn also die Waschmaschine oder der zu Stromsperrungen. Menschen saßen also wirklich im Kühlschrank den Geist aufgibt, ist das für diese Familien Dunkeln. eine mittlere Katastrophe, weil sie nicht wissen, woher sie das Geld nehmen sollen, um beispielsweise eine neue Halten wir also fest: Die Hartz-IV-Regelsätze sichern Waschmaschine anzuschaffen. Sie haben ein Problem, nicht die Bedarfe. Wir als Linke meinen aber: Die Grund- nämlich das Problem, dass am Ende des Geldes immer sicherung muss alle Menschen sicher vor Armut schüt- noch so viel vom Monat übrig ist. zen, muss ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe gewährleisten. Das muss drin sein. Die Hälfte der Menschen, die auf Hartz IV angewie- sen ist, hat kein Geld für medizinische Zusatzleistungen. (Beifall bei der LINKEN) Wir reden hier nicht über luxuriöse Sonderbehandlungen, Die jetzige Art, das Existenzminimum zu berechnen, sondern wir reden hier beispielsweise über elementare wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es gibt theoretisch Bedarfe wie eine Brille. Wer eine Brille braucht, muss drei Methoden: den Warenkorb, bei dem man schaut: (B) dafür zusätzlich bezahlen, und das ist für Menschen, die „Was braucht man im Monat zum Leben?“, die Armuts- (D) auf Hartz IV angewiesen sind, ein Riesenproblem. risikogrenze, bei der alle Einkommen wie Orgelpfeifen 80 Prozent sagen, sie haben nicht einmal Geld für nebeneinandergestellt werden und man 60 Prozent vom eine Woche Urlaub. Nun mögen einige von Ihnen sagen: mittleren Einkommen nimmt, oder die Einkommens- und Das steht halt Erwerbslosen nicht zu. – Aber rufen wir Verbrauchsstichprobe. uns einmal in Erinnerung, dass davon auch Familien mit Sie von der schwarz-roten Koalition setzen bei der Kindern betroffen sind, und versetzen wir uns doch we- Ermittlung des Regelsatzes – wie auch die Bundesregie- nigstens eine Minute lang in die Situation von Kindern, rungen davor – auf die Einkommens- und Verbrauchs- die nach den Ferien wieder in die Schule kommen. Alle stichprobe. Um es denjenigen zu erläutern, die sich nicht erzählen von den Urlauben, davon, wo sie waren, von jeden Tag damit beschäftigen: Die EVS basiert darauf, ihren Ferienreisen, und sie selber können nur von dem dass die Ausgaben von Haushalten über drei Monate Spielplatz vor der eigenen Haustür berichten. Das ist na- hinweg festgehalten werden. Um den Regelsatz zu er- türlich ein Problem. mitteln, wird der Mittelwert der Ausgaben der ärmeren (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Oder Haushalte genommen, und davon werden – Pi mal Dau- von einer Klassenfahrt von Berlin nach New men – 30 Prozent abgezogen. Dann heißt es: Das ist, was York!) die Menschen für ihren Lebensunterhalt brauchen. Sie haben bei der Berechnung des Arbeitslosen- Diese Methode hat ein grundlegendes Problem: Wenn geld-II-Satzes sehr deutlich gemacht, dass für Menschen, die ärmeren Haushalte immer ärmer werden, können sie die auf Hartz IV angewiesen sind, ein Essen im Restau- sich lebensnotwendige Dinge nicht mehr leisten. Wenn rant oder in einem Café unterwegs nicht vorgesehen ist man einfach stur schaut, was diese Haushalte ausgeben, gemäß dem Motto „Na ja, die haben ja Zeit, tagsüber dann gibt es keinerlei Sicherheit hinsichtlich des tatsäch- selber zu Hause zu kochen“. Aber Sie haben dabei eine lichen Bedarfs, da es ja keine Art Bedarfs-TÜV gibt. Sache außer Acht gelassen: Sich in einem Café auch ein- Dann weiß man nicht, ob das Geld überhaupt noch für mal auf ein Getränk zu treffen, gehört einfach zur gesell- ein Mindestmaß an Mobilität ausreicht, ob man sich für schaftlichen Teilhabe dazu. Es ist doch nicht nur so, dass das Geld, das die ärmeren Leute für Fahrkarten ausge- Abgeordnete sich abends zu Absprachen in einem Res- ben, überhaupt noch eine Monatsfahrkarte kaufen kann taurant oder Lokal treffen. Auch Bürgerinitiativen oder oder ob sie vielleicht sowieso schon einplanen, nicht ganz durchschnittliche Vereine treffen sich in Lokalen, mehr irgendwohin zu fahren, oder möglicherweise gar in wo ein Verzehrzwang besteht und wo am Anfang gefragt die Schwarzfahrerei getrieben worden sind. Wir als Lin- wird: Was wollen Sie bestellen? Für jemanden, der vom ke sagen deswegen: Die jetzige Form der Berechnung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13313

Katja Kipping (A) kann nicht weitergeführt werden. Es müssen hier andere deshaushalt zurzeit 20,1 Milliarden Euro zur Verfügung; (C) Methoden eingeführt werden. Es braucht beispielswei- das sind 900 Millionen Euro mehr als im vergangenen se eine Art Bedarfs-TÜV, damit sichergestellt ist, dass Jahr. Davon entfallen auf Arbeitsfördermaßnahmen Mobilität, Zugang zu Gesundheitsleistungen usw. auch 3,9 Milliarden Euro; das ist, obwohl sich die Arbeitslo- wirklich garantiert sind. senzahl verringert hat, der gleiche Betrag wie 2014. In der Vergangenheit wurde das Existenzminimum Ich sagte schon: Wir stehen für eine Solidarität mit am Ende immer wieder im Hinterzimmer berechnet. Es Menschen, die unserer Unterstützung bedürfen oder die ist natürlich politisch gezielt kleingerechnet worden; da in Not geraten sind. Es wurde uns zuletzt im Juli 2014 be- brauchen wir uns nichts vorzumachen. Als Sie von der stätigt, dass die Sozialgesetzgebung und die sozialrecht- SPD noch in der Opposition waren, haben Sie das auch lichen Regelbedarfsleistungen in unserem Land verfas- kritisiert. Wir als Linke meinen: Damit muss Schluss sungsgemäß ausgestaltet sind. sein. Sie müssen die Art und Weise, wie Sie das Existenz- minimum berechnen wollen, vorher transparent machen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Wir wollen, dass eine Kommission eingesetzt wird, die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade eben noch!) sicherstellt, dass kein Mensch in Armut fällt. Wenn es um Das ist doch eine klare Rechtsprechung, ein klares Urteil. das Existenzminimum geht, braucht es mehr Transparenz und einen sicheren Schutz vor Armut. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie mal mit Betroffenen gesprochen?) Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) – Ja. Wie ist ansonsten die Situation in unserem Land? Wir Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: haben 43 Millionen Menschen in Beschäftigung, davon Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Christel 31 Millionen in sozialversicherungspflichtigen Beschäf- ­Voßbeck-Kayser von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. tigungsverhältnissen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Albert ­Stegemann [CDU/CSU]: Das hätten die Linken nicht hin- Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): bekommen!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die niedrigste Arbeitslosenquote und auch die Liebe Kollegen von den Linken, als ich Ihren Antrag niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote. Diese Zahlen gelesen habe, da wurde mir wieder eines bewusst: Ihre sprechen für wirtschaftliches Wachstum. Das sind Tatsa- (B) Denke und Ihr politischer Ansatz sind vollkommen an- chen, die ermutigen und die nicht betrüben. (D) ders als unsere Denke und unser Ansatz. (Zuruf des Abg. Norbert Müller (Potsdam) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt! [DIE LINKE]) Wir sind bei den Menschen und setzen uns für die Armen ein! Da haben Sie völlig recht, Frau Von daher kann ich Ihren Pessimismus wahrlich nicht Kollegin! Sie nicht! – Weitere Zurufe von der verstehen. LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Für uns von der CDU/CSU-Fraktion steht der Sozialstaat ­Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben keinen in einer Solidargemeinschaft auf zwei Pfeilern: Es ist für Pessimismus! Wir wollen, dass den Betrof- uns selbstverständlich, Menschen, die der Hilfe bedür- fenen geholfen wird! – Norbert Müller (Pots- fen, zu unterstützen; aber es gehört ebenso zu unserem dam) [DIE LINKE]: Nehmen Sie einmal un- Verständnis, dass alle, die einen Beitrag zum Sozialstaat seren Antrag, und lesen Sie ihn! – Weiterer leisten können, ihren Beitrag auch leisten. Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU) Nehmen Sie doch einfach mal einen anderen Blick- Chancengerechtigkeit fördern wir nicht, indem wir winkel ein! Diese vielen Menschen in Beschäftigung die Hartz-IV-Regelsätze erhöhen. Chancengerechtigkeit sprechen doch für sich, und Menschen in Beschäftigung können wir unter anderem erreichen, indem wir Men- wird doch auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen Le- schen eine Perspektive eröffnen, ben ermöglicht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir ( [DIE LINKE]: Schön wär‘s!) brauchen Chancengleichheit, nicht Chancen- Und dank der guten Finanz- und Wirtschaftspolitik in gerechtigkeit!) den letzten Jahren haben doch auch viele Menschen den nämlich die Perspektive, am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Sprung in Beschäftigung geschafft, auch Langzeitar- Und wie erreichen wir dies? beitslose. (Zurufe von der LINKEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Darü- ber haben wir uns gefreut!) – Hören Sie doch mal zu, Frau Kipping. Ich habe Ih- nen auch zugehört. – Wie erreichen wir dies? Wir haben Denen haben wir mit arbeitsmarktpolitischen Program- 6,1 Millionen Hartz-IV-Bezieher. Für sie stehen im Bun- men eine Perspektive eröffnet. Sie können ihren Lebens- 13314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Christel Voßbeck-Kayser (A) unterhalt jetzt aus eigenen Kräften und mit eigenen Mit- über soziale Sicherheit reden –: Es gibt keine soziale Si- (C) teln finanzieren. cherheit, die aus himmlischen Quellen finanziert wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Bin- (Beifall des Abg. [CDU/ der [DIE LINKE]: Und die Aufstocker? – CSU]) ­Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kein Es gibt sie nur durch Arbeit, durch unsere Schaffenskraft, Wort zum Antrag!) durch unserer Hände Arbeit. Kollegen von den Linken, in Ihrem Antrag verwässern (Zurufe von der LINKEN) Sie erneut Argumente, Begründungen und Sichtweisen von höchstrichterlichen Instanzen. Ich gehe einmal auf Deshalb ist es wichtig, dass wir das Verantwortungsge- die Berechnung des Regelbedarfs, auf das Statistikmo- fühl in unserer Gesellschaft fördern und jedem Betroffe- dell ein. Ich zitiere aus Ihrem Antrag: nen einen Weg in die Eigenständigkeit bieten. Der Ermittlung der Regelbedarfe liegt kein objekti- (Beifall bei der CDU/CSU) ves Verfahren zu Grunde. Ich möchte auf einen weiteren Punkt in Ihrem Antrag (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, eingehen, auf die Gestaltung des Bildungs- und Teilhabe- stimmt!) paketes für Kinder und Jugendliche. Fakt ist – das zeigt der Zwischenbericht, der im Juli 2015 vorgelegt wurde –, Fakt ist aber, dass es sich aus Sicht des Bundesverfas- dass im Vergleich zum Vorjahr 11 Prozent mehr Kenntnis sungsgerichts folgendermaßen verhält: von diesem Teilhabepaket hatten Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regel- (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: bedarf lässt nicht erkennen, dass der existenzsi- „Kenntnis hatten“!) chernde Bedarf … nicht gedeckt wäre. und auch 11 Prozent mehr es angenommen haben. Vielmehr wird festgestellt (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) viele sind es denn insgesamt?) – zuhören! –, dass sich der ermittelte Regelbedarf „mit- – Das sind 45 Prozent. hilfe verlässlicher Daten tragfähig begründen lässt“. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) nicht einmal die Hälfte!) (B) Da ist doch ganz klar, dass die Zahlen nicht in einem Sicherlich kann man immer noch besser werden. Die (D) luftleeren Raum entstanden sind. Es spricht vielmehr da- Zahlen sind faktisch ausbaufähig. Da gebe ich Ihnen für: Das Statistikmodell ist ein transparentes und nach- recht. Aber hieran wird – das wissen Sie – gearbeitet. vollziehbares Modell, welches das Bundesverfassungs- gericht sowohl im Februar 2010 als auch im Juli 2014 Wenn der Bericht aufzeigt, dass in der Praxis bürokra- bestätigt hat. tische Hürden bestehen, (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Was sagt denn der Arbeitgeberverband? Auf LINKEN) den hören Sie doch sonst immer!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie: Soll- dann ist es für uns selbstverständlich, dass wir daran ar- ten wir uns dieser Frage nach der Höhe der Regelsätze, beiten und uns konstruktive Gedanken machen, wie man über die wir ja jetzt sprechen, nicht mit einer anderen diese Hürden abbauen kann. Wir wollen sie abbauen, Betrachtungsweise nähern? Wir leben in Deutschland indem wir für die Institutionen vor Ort Rahmenbedin- in einer Solidargemeinschaft. Die Fragen sollten des- gungen setzen, dass sie flexibler und unbürokratischer im halb lauten: Wie kann jeder Einzelne seinen Beitrag zu Sinne der Anspruchsberechtigten handeln können. dieser Solidargemeinschaft leisten? Wie können wir die Menschen, die der Unterstützung bedürfen, hierbei auch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: „Unbü- unterstützen? Denn Solidarität, also das Einstehen für an- rokratisch“ beim Bildungs- und Teilhabepa- dere, ist ein wichtiger Wert in unserer Gesellschaft und in ket? Guter Witz!) unserem Zusammenleben, aber auch für unsere sozialen Sicherungssysteme. Insgesamt, Kollegen der Linken, empfinde ich es als unredlich, wenn Sie mit Ihrem Antrag wieder einmal den Eindruck vermitteln, als würde in Deutschland zu wenig Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: für Menschen, die der Hilfe bedürfen, getan. Frau Voßbeck-Kayser, Frau Kipping hat eine Zwi- (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: Ist schenfrage. Lassen Sie die zu? ja absurd!)

Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Die guten arbeitsmarktpolitischen Programme und Maß- nahmen, die wir in den letzten Jahren hier auf den Weg Nein, ich möchte weiterreden. Ich habe ihr auch zu- gebracht haben, gehört. – Solidarität ist auch keine Einbahnstraße; denn Fakt ist doch auch – das müssen wir sagen, wenn wir (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13315

Christel Voßbeck-Kayser (A) waren eine gute Hilfe. Unser Ansatz ist es, Menschen für Ich darf jetzt den nächsten Redner bitten: Dr. ­Wolfgang (C) den Arbeitsmarkt fit zu machen und nicht für -das Ver Strengmann-Kuhn hat das Wort. weilen als Leistungsempfänger im SGB II; denn eines ist klar: Wir Menschen sind nicht geboren zum Nichtstun. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ (Katja Kipping [DIE LINKE]: Was unterstel- DIE GRÜNEN): len Sie den Leuten?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Voßbeck-Kayser, ich rate Ihnen: Schauen Sie sich Dass die Jobcenter und die Arbeitsagenturen heute ih- die Armutsstatistiken, unter anderem die des Statisti- ren Blick auf die Potenziale der Menschen und nicht auf schen Bundesamtes, gerade neu erschienen, an. Armut ist ihre Defizite richten, ist doch der richtige Ansatz bei der in Deutschland ein Problem, und davor dürfen wir nicht Arbeitsvermittlung; die Augen verschließen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werbslose haben genug zu tun! Die haben sowie bei Abgeordneten der LINKEN) auch genug Arbeit! Denen fehlt das Geld!) Für uns Grüne ist die Grundsicherung kein Almosen, und den gilt es weiter zu stärken. sondern ein Grundrecht. Mittlerweile haben wir da auch das Bundesverfassungsgericht auf unserer Seite, das in (Beifall bei der CDU/CSU) den letzten Jahren in mehreren Urteilen betont hat, dass Zusammenfassend, liebe Kolleginnen und Kollegen ein Grundrecht und Menschenrecht auf Existenzsiche- der Fraktion Die Linke, ist zu sagen: Wenn auf eines Ver- rung aus dem Grundgesetz folgt. Es ist jetzt an der Poli- lass ist, dann auf die wiederholten Formulierungen Ihrer tik, dieses Grundrecht auch umzusetzen. Anträge und Anfragen. So müssen wir erstens dafür sorgen, dass die Grundsi- (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: cherung für alle gleich hoch ist. Unter anderem deswegen Denn auf Sie ist ja kein Verlass! – Katja wollen wir das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen. ­Kipping [DIE LINKE]: Weil Sie ja die Reali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tät nicht ändern!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das nehmen wir gerne zur Kenntnis. Aber da Sie aus den Ein kleiner Nebeneffekt davon wäre, dass die Länder und Zahlen, wie ich gezeigt und ausgeführt habe, die falschen Kommunen dadurch deutlich entlastet werden. Schlüsse ziehen und Ihrer Denke eine Sichtweise zugrun- de liegt, die wir absolut nicht teilen können, Zweitens. Es ist notwendig, die immer noch bestehen- (B) den Lücken im Grundsicherungsnetz zu schließen. Es (D) (Zurufe von der LINKEN) geht nicht an, dass Menschen vom Recht auf Grundsi- cherung ausgeschlossen werden. wird es Sie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag heute nicht folgen werden. Drittens müssen die Sanktionen so reformiert werden, dass der Grundbedarf immer gesichert ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir machen da wei- Und viertens muss in der Tat das Grundsicherungsni- ter! Wir haben auch andere Themen später veau angehoben werden. Dass der Regelsatz der Grund- durchgesetzt: Abschaffung der Wehrpflicht, sicherung zu niedrig ist, das sieht man schon allein da- Abschaltung der AKWs!) ran, dass es in Deutschland zahlreiche Tafeln gibt, die Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Das ist ein Armuts- zeugnis! Ziel muss es sein, dass die Tafeln überflüssig Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: werden und alle Menschen ein Recht auf eine Grundsi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin cherung erhalten, die existenzsichernd ist. schon darauf hingewiesen, dass wir in unserer Geschäfts- ordnung Instrumente haben, die es jedem Kollegen Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geordneten ermöglichen, in eine Debatte einzugreifen, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) etwa durch Zwischenfragen, aber auch durch Kurzinter- Wie sollen wir nun das Existenzminimum bestim- ventionen. – Das als erster Hinweis. men? Die Linken schlagen vor, eine Kommission ein- Als zweiter Hinweis: Zwischenrufe sind erlaubt, aber zurichten nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter nicht Begleitreden oder Begleitsätze. Ich bitte darum, das weiß, gründe ich einen Arbeitskreis“, und diese Kommis- ein bisschen zu berücksichtigen. Ich halte es für richtig sion soll einen Warenkorb vorschlagen. Das ist äußerst und notwendig und unterstütze es, dass eine Debatte leb- problematisch. Ein Warenkorb ist enorm kompliziert und haft verläuft; das ist wichtig für das Parlament, damit man manipulationsanfällig, unterschiedliche Positionen kennenlernt. Natürlich kann (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Min- man Zwischenrufe machen, aber der kollegiale Umgang destlohnkommission gibt es auch!) untereinander gebietet es, dass das Instrument als Zwi- schenruf zu verstehen ist und nicht als Zwischenrede. und Verhandlungen darüber, ob es zur sozialen Teilha- be gehört, dass ein Mensch alle vier Wochen oder nur (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. einmal im Jahr ins Kino gehen kann, bringen uns nicht Dagmar Schmidt (Wetzlar) [SPD]) weiter. 13316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Das Warenkorbverfahren wurde Anfang der 90er-Jah- dass wir als Bundestag im Vorhinein die Methode fest- (C) re abgeschafft – und das war gut so –, und wurde durch legen ein Statistikmodell ersetzt. Ziel des Statistikmodells war es, ein transparentes Berechnungsverfahren zu erhalten, (Katja Kipping [DIE LINKE]: Genau!) das nicht manipuliert werden kann. Aber wenn wir ehr- und dann das Statistische Bundesamt den Regelsatz lich sind: Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Denn auch ausrechnet. Was es nicht mehr geben darf, ist, dass das beim bestehenden Statistikmodell wurde im Ministeri- Existenzminimum im Nachhinein durch diverse Rechen- um so lange herumgerechnet, bis eine vorher festgeleg- tricks kleingerechnet wird, wie das bei allen bisherigen te Zahl herauskam. Das Hauptziel des Statistikmodells, Berechnungen passiert ist. Das müssen wir in Zukunft nämlich dass die Berechnung des Existenzminimums ausschließen. nicht politisch manipuliert werden sollte, ist nach wie vor nicht erreicht. Das müssen wir ändern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dafür gibt es mehrere Alternativen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Eine Möglichkeit wäre – das wird in dem vorliegen- Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dagmar den Antrag der Linken auch angedeutet –, einfach die Ar- Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort. mutsdefinition zu nehmen, auf die wir uns auf EU-Ebene geeinigt haben. Es spricht einiges dafür, aber es gibt auch (Beifall bei der SPD) einige Nachteile. Unter anderem würde sich dadurch die Leistung für Kinder reduzieren, und das ist durchaus pro- Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): blematisch. Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- Wenn wir bei der Berechnung anhand des Ausgabe- legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäfti- verhaltens von Vergleichsgruppen bleiben, müssten eini- gen uns heute mit einem wichtigen Thema, das den Bun- ge Punkte geändert werden: destag alle fünf Jahre erneut fordert; denn alle fünf Jahre werden die Regelsätze für Leistungen des SGB II und Erstens. Die Referenzgruppe muss eine sein, in der des SGB XII neu festgelegt. Und das ist deswegen ein keine Menschen enthalten sind, die selbst Leistungen wichtiges Thema, weil davon fast 10 Prozent der Men- beziehen oder einen Anspruch auf Leistungen haben schen in Deutschland direkt betroffen sind. Aber eigent- könnten, so wie das jetzt der Fall ist, weil es sonst zu lich sind es noch mehr; denn mit den Regelsätzen im (B) Zirkelschlüssen kommt. Alles andere macht methodisch SGB II, der Grundsicherung für Arbeitsuchende, und im (D) keinen Sinn. SGB XII, der Sozialhilfe, wird auch die Höhe des steuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freien Existenzminimums festgelegt, was wiederum alle sowie bei Abgeordneten der LINKEN) steuerpflichtigen Menschen in Deutschland betrifft. Zweitens. Bisher ist es so, dass bei den einzelnen Aus- Wo stehen wir gerade? Das Statistische Bundesamt gabeposten jeweils unterschiedliche Abschläge gemacht hat im September dieses Jahres die Datenaufbereitung werden, die teils völlig willkürlich sind. Dadurch wird zum privaten Verbrauch der Einkommens- und Ver- der Manipulation Tür und Tor geöffnet und dafür gesorgt, brauchsstichprobe von 2013 abgeschlossen. Auf dieser dass kaum jemand durchschaut, was da warum und wie Basis können nun die Sonderauswertungen vorgenom- berechnet wurde. Sinnvoll wäre es, einen einheitlichen men werden, die die Grundlage für eine Überprüfung Abschlag auf die Ausgaben zu machen, der vorher fest- und Neuermittlung der Regelbedarfe bilden. All das läuft gelegt wird; denn damit könnten nachträgliche Manipu- im Rahmen des sogenannten Statistikmodells, das – das lationen verhindert werden. wurde bereits gesagt – das Warenkorbmodell abgelöst hat, zu dem Sie gerne zurück wollen – wir allerdings All das sind normative Entscheidungen, die uns Ab- nicht. Ich sage Ihnen auch, warum. geordnete niemand abnehmen kann. Eine objektive Be- stimmung des Existenzminimums gibt es nicht; das kann (Beifall bei der SPD) ich Ihnen als Armutsforscher sagen. Da hilft auch nicht Eine rein normative Festlegung des Inhalts eines Wa- die Gründung einer Kommission weiter, wie es die Linke renkorbs, das heißt aller notwendigen Güter und Dienst- vorschlägt. Das müssen wir als Bundestag schon selber leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Exis- machen. Das verlangt auch das Bundesverfassungsge- tenzminimums sowie ihrer Menge im täglichen und im richt. monatlichen Gebrauch sowie ihr jeweiliger Preis, führt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer unglaublichen Bandbreite dessen, was als not- sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias wendig angesehen wird bzw. angesehen werden kann. W. Birkwald [DIE LINKE]: Beim Mindest- Die Überlegungen der Expertinnen und Experten reichen lohn habt ihr das anders gesehen!) je nachdem von 132 bis 685 Euro. Das zeigt, dass keine wirkliche Objektivierung des Bedarfs durch das Waren- Wichtig ist, dass wir dabei ein Verfahren finden, das so korbmodell gegeben ist. einfach und transparent ist, dass es auch jeder und jede normale Abgeordnete versteht, damit wir hier eine politi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Debatte darüber führen können. Und es ist wichtig, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13317

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) Im Gegenteil: Das Modell lädt dazu ein, als Gesetzgeber Wie war Ihre zweite Frage? Ich habe sie vergessen. (C) darüber entscheiden zu wollen, wofür Leistungsberech- tigte ihr Geld ausgeben dürfen und wofür nicht. Es ist (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ist auch aber nicht unsere Aufgabe, in einer freien Gesellschaft besser so! – Heiterkeit bei Abgeordneten der erzieherisch oder moralisch ein Konsumverhalten oder SPD und der CDU/CSU) eine Lebensweise zu bewerten, sondern es ist unsere – Ja, das gibt mir aber noch ein bisschen Zeit. Aufgabe, soziale Teilhabe auch derer zu ermöglichen, die nicht auf der Sonnenseite stehen. Katja Kipping (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich nutze diese Gelegenheit jetzt natürlich gnadenlos, DIE GRÜNEN) um noch einmal Werbung für unseren Antrag zu machen, (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Davon wird Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: er nicht besser!) Frau Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol- legin Kipping zu? der vorsieht, dass man den Warenkorb auch als eine Art Bedarfs-TÜV einzieht, um sicherzustellen, dass die Min- destbedarfe garantiert werden. Ist das nicht ein großarti- Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): ger Punkt, dem man eigentlich zustimmen könnte? Klar. Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Katja Kipping (DIE LINKE): Nein, das ist er leider nicht; dazu hat Herr Frau Schmidt, ich freue mich über Ihre Aussage, dass ­Strengmann-Kuhn eigentlich schon alles gesagt. Dann es nicht unsere Aufgabe ist, da erzieherisch einzuwirken. wird nämlich ausgiebig über jeden Bestandteil des Wa- Aber ich frage mich, wie diese Aussage von Ihnen mit renkorbs diskutiert. Egal ob Prüfinstrument oder Grund- der Praxis bei der Berechnung zusammenpasst. Denn es lage, die Debatte ist am Ende dieselbe. Über den Sinn wurde, wie Sie wissen, von dem reinen Statistikmodell oder Unsinn jedes einzelnen Bestandteils eines Waren- Abstand genommen, weil man nicht einfach nur gesagt korbes zu debattieren, ist, glaube ich, nicht das richtige hat: „Wir legen einmal zugrunde, was die ärmsten Haus- Verfahren. halte ausgeben“, sondern man auch noch auf die Idee kam, festzulegen, dass Verzehr im Restaurant nicht un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten terstützt wird, dass das Halten von Haustieren nicht re- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ (B) gelsatzrelevant ist, dass ein Weihnachtsbaum nicht regel- DIE GRÜNEN) (D) satzrelevant ist und dass Übernachtungen, und sei es auf Am Statistikmodell wird häufig kritisiert, dass ein an einem Campingplatz, nicht regelsatzrelevant sind. einem begrenzten Budget orientiertes Ausgabeverhalten Das heißt, Sie haben auf das Statistikmodell sehr wohl nicht den eigentlichen Bedarf widerspiegelt. Das ist ein das Warenkorbmodell angewandt, nur negativ, indem Sie wichtiger Hinweis. Wenn mein Kind neue Fußballschu- gesagt haben: Das und das streichen wir. – Das ist natür- he braucht, um weiter im Verein mitspielen zu können, lich, rein über den finanziellen Zwang, eine sehr schwar- dafür aber kein Geld da ist, dann taucht dieser Bedarf ze Pädagogik, die Sie angewendet haben. in der Statistik nicht auf. Er taucht auch nicht auf, wenn die Oma ihm dann die Fußballschuhe schenkt und dies Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in nachweislich ein Bedarf ist, der zur sozialen Teilhabe unserem Antrag sagen: „Wir wollen den Warenkorb als des Kindes beigetragen werden muss, weil diese soziale ein Prüfinstrument nehmen, um sicherzustellen, dass das, Teilhabe eben nichts Abstraktes, sondern etwas Konkre- was ausgegeben wird, wenigstens ein Mindestmaß der tes ist. Deshalb muss man, wenn man das Statistikmodell entsprechenden Bedarfe garantiert“? anwendet, aufpassen, dass es nicht solche Auswirkungen hat. (Beifall bei der LINKEN) Es ist also Sorgfalt bei der Umsetzung geboten. Das Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): gilt vor allem bei der Auswahl der Referenzgruppe; dazu ist schon einiges gesagt worden. So müssen zum Beispiel Frau Kipping, danke für die Zwischenfrage. – Sie wis- alle Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher aus sen offensichtlich mehr als ich. Sie haben über die Ver- der Stichprobe herausgenommen werden – das sind Auf- gangenheit geredet und gesagt, wie das Ergebnis beim stocker, Arbeitslosengeldbezieher, Wohngeldbezieher letzten Mal zustande gekommen ist. Ich hoffe, dass wir und -bezieherinnen usw. –, da sonst die Gefahr von Zir- hier und heute darüber reden, welche Festlegung wir kelschlüssen – sie ist genannt worden – gegeben ist und beim nächsten Mal wollen. Wir sind gerade dabei, dar- man sich dann der Gefahr aussetzt, dass durch Budget­ zustellen – auch ich werde das im Verlauf meiner Rede res­triktion der Bedarf nicht mehr widergespiegelt wird; noch tun –, welche Grundlage wir sehen, um einen ge- das Problem habe ich benannt. rechten Regelbedarf zu ermitteln. Insofern wissen Sie, wie gesagt, entweder schon mehr als ich, oder das war Dazu gehört auch die Herausrechnung sogenannter ein zusätzlicher Beitrag zu der Debatte, die wir in Zu- verdeckter Armut, also der Menschen, die ein Recht auf kunft, wenn es um die nächste Festlegung geht, führen Leistungen des Staates hätten, diese aber – meist aus werden. Scham – nicht in Anspruch nehmen. Eine in der Refe- 13318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) renzgruppe übliche Teilhabe und ein übliches Ausgabe- kauft oder auf Pferde wettet. Damit begründet man dann (C) verhalten müssen möglich sein. Sachleistungen und bürokratische Ungetüme. Das Gegen- teil ist aber nachweislich der Fall: Untersuchungen haben Manche Menschen sind der Auffassung: Je niedriger gezeigt, dass Eltern von ihrem Teil des Regelsatzes Geld das Existenzminimum, desto größer die Motivation, sich abzweigen, um es ihren Kindern zur Verfügung zu stellen. allein oder mithilfe des Jobcenters aus dieser Lage zu befreien. Das setzt voraus, dass das für jeden Menschen (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- möglich wäre. Aber das ist es eben nicht. Die allermeis- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!) ten Menschen sind unverschuldet arbeitslos oder haben Hier besteht also dringendster Handlungsbedarf. Hemmnisse, die ihr Leben ohnehin negativ beeinflussen; wir reden darüber an vielen anderen Stellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Das gilt erst recht für diejenigen, die aufgrund von NEN) Alter, Krankheit und Behinderung keine Möglichkeit haben, an ihrer Situation durch eigenes Handeln etwas Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion zu ändern. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Die Linke, Sie haben in Ihrem Antrag wieder einmal die diesen Menschen die Teilhabe am sozialen Leben un- Forderung nach einer Kommission aufgestellt. Wir ken- möglich gemacht wird, in dem Menschen kein Ehrenamt nen das bereits vom Armuts- und Reichtumsbericht. Die ausüben können, weil sie die Fahrtkosten nicht aufbrin- Antwort, die ich Ihnen gebe, ist ähnlich: Dass Sie nicht gen oder sich das Getränk in der Vorstandssitzung oder regieren und keine Verantwortung übernehmen wollen, beim Gesangsverein nicht leisten können. nehmen wir zur Kenntnis. (Beifall der Abg. Katja Kipping [DIE LIN- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias KE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: W. Birkwald [DIE LINKE]: Nix da! Nix da!) Da könnte die CDU jetzt auch mal klatschen!) Dass Sie aber auch nicht wollen, dass wir Verantwor- Der ehemalige Vizepräsident der Bundesagentur für tung übernehmen, wundert mich schon. Sie wollen lieber Arbeit, Heinrich Alt, hat zu den Regelsätzen 2011 Fol- Kommissionen und Experten als einer gewählten Regie- gendes gesagt – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Prä- rung und demokratisch legitimierten Volksvertreterinnen sidentin –: und Volksvertretern die Verantwortung für solche zentra- Nur Lebenskünstler können auf Dauer von 364 Euro len Entscheidungen in die Hand geben. im Monat leben. Als Überbrückung ist das vertret- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie bar, aber auf lange Sicht ist Transferbezug men- war das noch mal mit dem Mindestlohn?) (B) schenunwürdig. (D) Ich persönlich setze auf verantwortliches Regierungs- Das lehrt auch meine Erfahrung. Ein Jahr lang – das handeln und freue mich auf eine muntere, kontroverse sagen auch viele der Betroffenen – kann man damit zu- und erhellende Parlamentsdebatte, die wir im kommen- rechtkommen. Wenn dann aber verschiedene Gebrauchs- den Jahr zu diesem Thema sicher führen werden. gegenstände, die man zu Zeiten des Erwerbseinkommens gekauft hat, anfangen kaputtzugehen, wird es eng oder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unmöglich. Deswegen glaube ich, dass wir auch darü- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ ber nachdenken müssen, ob verschiedene langlebige DIE GRÜNEN) Gebrauchsgegenstände wirklich über Ansparungen oder Darlehen finanziert werden können. Vizepräsidentin : Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem CDU/CSU-Fraktion. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Max Straubinger Die Höhe der Regelsätze betrifft insbesondere aber die [CDU/CSU]: Jetzt kommt etwas Erhellendes!) Kinder. Noch immer ist in unserem Land Realität, dass nicht Fleiß und Klugheit, sondern die soziale und regio- nale Herkunft über die Bildungs- und Berufschancen ei- Stephan Stracke (CDU/CSU): nes Kindes und Jugendlichen entscheiden. Es darf nicht Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sein, dass Kinder beschämt werden, weil ihre Eltern sich Herren! Der Antrag der Linken fällt aus der Zeit. Wir er- bestimmte Dinge nicht leisten können. Stigmatisierende leben heutzutage den größten Flüchtlingsstrom seit dem und bürokratische Hilfesysteme sind kein Beitrag zur Zweiten Weltkrieg. Jeden Tag kommen Tausende Flücht- Chancengleichheit. Hier ist ein besonders großer Hand- linge zu uns nach Deutschland, und sie kommen nicht lungsbedarf. Das betrifft sowohl die Kinderregelsätze als deshalb in unser Land, weil es ihnen schlecht geht, son- auch das Bildungs- und Teilhabepaket. dern weil sie gute Lebensperspektiven für sich erwarten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Die Leute flie- SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Mi- hen nicht aus Syrien, weil es hier Hartz IV chael Gerdes [SPD]) gibt!) Es wird gerne das Stereotyp eines Leistungsberechtig- Deswegen kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, dass ten bemüht, der, wenn man ihm Geld in die Hand drückt, Sie ernsthaft darüber diskutieren wollen, dass in unserem das für seine Kinder gedacht ist, loszieht und Zigaretten Land Menschen „nicht in Würde leben können“, wie Sie Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13319

Stephan Stracke (A) dies schreiben, „da ihre Existenz nicht ausreichend gesi- für sich entdeckt, was in ihm steckt, der hat Freude am (C) chert ist“. Leben, am Gestalten, an der Leistung; er ist leistungs- fähig und leistungsbereit. Die Kräfte des Einzelnen zu (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang wecken, ohne ihn gleichzeitig zu überfordern, Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum gehen die Leute denn zur Ta- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE fel? Gehen Sie mal raus in die Realität!) GRÜNEN]: Was hat das mit dem Existenzmi- nimum zu tun? – Matthias W. Birkwald [DIE Es ist bemerkenswert: Die Linken mausern sich nahe- LINKE]: Was sagen Sie dem, der 120 Absa- zu zu einer Drucksachenfabrik. Sie stellen Anträge und gen auf Bewerbungen bekommen hat?) Anfragen bei der Bundesregierung – das ist ja auch in Ordnung – und erhalten umfassende Antworten darauf. das ist unser Blick auf den Menschen. Und das ist aus Sie haben eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt unserer Sicht auch die Aufgabe des Sozialstaats. und am 2. November – sehr schnell – eine Antwort da- (Beifall bei der CDU/CSU) rauf bekommen, und schon am 5. November lag dann Ihr Antrag auf dem Tisch. Herr Kollege Birkwald, Sie sind Deshalb ist auch Ihre Grundthese im Antrag falsch. tatsächlich schnell. Zitat: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber Das strategische Ziel der Einführung von Hartz IV wir sind auch gründlich!) war die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Aber Schnelligkeit ist ja kein Wert an sich, sondern auf (Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: die Inhalte kommt es natürlich auch immer an. Hier muss Das war so!) Masse nach Klasse stehen. Unser Ziel ist die Entwicklung von Eigenständigkeit Ich denke, Sie sollten durchaus auch einmal Ihre Mit- und Eigenverantwortung, die Schaffung von Arbeit und arbeiter wertschätzen, die ja wohl meistens die Anträge die Erhöhung von Chancen auf dem Arbeitsmarkt gera- schreiben müssen. de für die Menschen, die es schwer haben, die vielleicht auch geringere Qualifikationen vorzuweisen haben. Die (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Erfolge geben uns ja durchaus recht: Die Arbeitslosigkeit Aus Wertschätzung entwickelt sich dann auch Wert- hat sich seit Rot-Grün von deutlich über 5 Millionen im schöpfung. Insofern wäre es sicherlich ganz gut, wenn Jahre 2005 auf aktuell 2,65 Millionen halbiert. Sie hier auch Ihre Mitarbeiter stärker in den Blick neh- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- men würden. (B) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Armut ist (D) Da lobe ich mir die Anträge der Grünen – zwar nicht nicht gesunken! – Gegenruf des Abg. Max immer, aber in den Schattierungen sind sie jedenfalls oft- Straubinger [CDU/CSU]: Doch, die Armut ist mals durchaus besser. auch gesunken!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Diese Erfolge sind gut, weil sie den Menschen guttun, Katja Kipping [DIE LINKE]: Zum Thema sehr verehrte Damen und Herren. haben Sie nichts zu sagen, oder?) (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Ihr Antrag enthält einen paternalistischen Gestus. Sie der LINKEN) wollen ein Kümmern von oben herab: Seien Sie unbe- Die Schlacht um die richtige Methodik zur Ermittlung sorgt. Ich sorge für dich. Es gibt auch ein paar Euro mehr, des Existenzminimums ist geschlagen. Wir haben uns für (Katja Kipping [DIE LINKE]: Leuten das das Statistikmodell entschieden. Das Modell ist bewährt Geld zu kürzen, ist ja überhaupt nicht von und auch verfassungskonform. Die Kritik der Linken ist oben herab!) alt und bekannt. Wir haben in den letzten Jahren häufig und sehr intensiv diese Debatte geführt. Deshalb ist es und wir treten beispielsweise für eine unbedingte Grund- müßig, mit Ihnen hier und heute über die richtige Metho- sicherung im Alter und Änderungen beim Existenzmini- dik zu diskutieren. mum ein. Außerdem ist Ihre Kritik auch scheinheilig. Im Wahl- Diese Form des Kümmerns hat ja durchaus etwas programm für die Bundestagswahl 2013 hat Ihre Partei Sympathisches, allerdings nur auf den ersten Blick; ein Programm angekündigt, in dem keine Mindestsiche- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das wird dem rung unter 1 500 Euro liegen soll. Thema nicht gerecht!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) denn dahinter steht ein defizitärer Ansatz. Sie begreifen – Ja, das haben Sie. den Menschen eher als Fürsorgeempfänger. Dies teile ich eben nicht. Es gibt auch ein Kümmern, das auf die Kräfte (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] meldet des Einzelnen abzielt, das insbesondere darauf gerichtet sich zu einer Zwischenfrage) ist, verborgene oder verschüttete Kräfte zu wecken und Kurzfristig müssten die Hartz-IV-Sätze auf 500 Euro er- die Potenziale des Einzelnen in den Blick zu nehmen. höht werden. Das ist oftmals viel nachhaltiger als alle finanziellen Zu- wendungen und Gesten von oben herab. Ein Mensch, der Herr Kollege Birkwald, bitte schön. 13320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Letztlich diskreditieren Sie Ihren eigenen Antrag, in- (C) Moment, das Wort erteile immer noch ich. – Zunächst dem Sie uns Methodikfehler vorwerfen, während Sie sel- frage ich, ob Sie bereit sind, eine Frage oder Bemerkung ber welche machen. des Kollegen Birkwald zuzulassen. Das scheint ja der Warum wir jetzt wieder eine Kommission brauchen – Fall zu sein. die Kollegin hatte darauf hingewiesen –, weiß ich nicht. Sämtliche Verbände wurden hier richtigerweise einge- Stephan Stracke (CDU/CSU): fügt. Auch ein Blick ins Wahlprogramm zeigt, dass – Zi- Frau Präsidentin, in aller Demut, ja. tat – „Teile der LINKEN ... das Konzept des bedingungs- losen Grundeinkommens“ vertreten: Vizepräsidentin Petra Pau: Dieses Konzept wird in der Partei kontrovers dis- Gut, dann haben Sie das Wort. kutiert. Diese Diskussion wollen wir weiterführen. Wir befürworten auch die Einsetzung einer Enque- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): tekommission zum Grundeinkommen im Deutschen Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Frage zu- Bundestag. lassen. Es ist schon erstaunlich, dass man in einem Wahlpro- (Heiterkeit) gramm schreibt, dass man sich noch auf gar nichts geei- nigt hat und dass man die Diskussion noch weiterführen Herr Kollege Stracke, wir müssen einmal deutlich sa- muss. Substanzloser geht es kaum. gen: Das, was Sie hier gerade gemacht haben, ist unbil- lig, wie das so schön im Rechtsdeutsch heißt. (Karin Binder [DIE LINKE]: Wir diskutie- ren mit unseren Wählern! – Dr. Wolfgang Stephan Stracke (CDU/CSU): ­Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Diskussionen gibt es ja in der Union Nein. gar keine!)

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ich empfehle, sich zunächst einmal parteiintern zu ver- Man könnte auch sagen: Wer lesen kann, ist klar im ständigen. Aber vielleicht haben Sie ja als Fraktion Ihre Vorteil. In unserem Wahlprogramm stand natürlich nichts Partei schon überholt. Dadurch, dass in Ihrem Antrag von von 1 500 Euro, sondern dort stand, dass wir anstreben, einem Mindesteinkommen gar nicht mehr die Rede ist, dass keine Mindestsicherung unter 1 050 Euro liegt. Ge- habe ich eher den Eindruck, dass Sie dieses Ziel aufge- geben haben, während sich Ihre Partei noch entscheiden (B) stehen Sie mir zu, dass das eine Differenz von 450 Euro (D) ist, dass man mit 1 050 Euro gerade so über die Runden muss, ob sie dafür oder dagegen ist. kommt und von 1 500 Euro nicht die Rede war? Auch die Ausgestaltung des Bildungs- und Teilhabe- (Beifall bei der LINKEN) pakets ist verfassungskonform und hat sich im Übrigen bewährt. Ihre Kritik geht auch hier ins Leere. Die Ausge- staltung von ergänzenden Bedarfen für Bildung und Teil- Stephan Stracke (CDU/CSU): habe wird die Bundesregierung im Rahmen der anstehen- Herr Birkwald, zunächst zolle ich Ihnen Respekt, dass den Neuermittlung der Regelbedarfe auf der Grundlage Sie das Wahlprogramm zum einen auswendig können von Sonderauswertungen der Einkommens- und Ver- und zum anderen auch noch richtig wiedergeben. brauchsstichprobe 2013 prüfen. Warten wir einfach die (Katja Kipping [DIE LINKE]: Was steht ei- Ergebnisse ab. gentlich in Ihrem Wahlprogramm?) Für diskussionswürdig halte ich aus gegebenem An- Es ist tatsächlich richtig, was Sie sagen. Zitat: lass eher eine finanzielle Obergrenze des Betrags für mehrtägige Klassenfahrten. Wenn eine Fahrt nach New Wir wollen ein Konzept einbringen, in dem keine York im Umfang von 38 000 Euro für 15 Schüler gezahlt Mindestsicherung mehr unter 1 050 Euro liegt. werden muss, dann zahlt hierfür der Steuerzahler die Ze- Allerdings sagen Sie zum gleichen Zeitpunkt, dass der che. Das ist in keinem Fall gerechtfertigt. Ich halte es Hartz-IV-Satz auf 500 Euro erhöht werden soll. Wie Sie auch für unfair denen gegenüber, deren Einkommen bei- allerdings auf 500 Euro kommen, darüber schweigen Sie spielsweise knapp oberhalb der Hartz-IV-Sätze liegt und sich natürlich aus. Uns werfen Sie immer Methodikfeh- die eine solche Fahrt aus eigener Tasche zahlen müssten. ler vor, aber tatsächlich halten Sie sich an keine eigene Die einen haben eine große Sause, und die anderen ma- Methodik, sondern setzen diese politisch. Darum geht es chen lange Gesichter. Das halte ich in der Tat für unfair. mir. (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Binder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – [DIE LINKE]: Das ist ja wohl auch nicht die Katja Kipping [DIE LINKE]: Dazu haben Regel, Herr Kollege!) wir einen Erklärfilm gemacht! – Matthias W. Wir führen heute einmal mehr eine Debatte, die uns ­Birkwald [DIE LINKE]: Das schicken wir Ih- keinen Millimeter weiterbringt; das gilt insbesondere für nen zu!) Debatten, die von den Linken angestoßen werden. Die – Wahrscheinlich können wir es dann wieder als Druck- Drucksachenfabrik der Linken arbeitet weiter. Gönnen sache haben. Sie sich und Ihren Mitarbeitern eine Denkpause, am bes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13321

Stephan Stracke (A) ten zum Denken. Aber wahrscheinlich ist es einfach so, Für jede Leistung für jedes Kind ist ein Antrag zu stel- (C) dass Ober Unter schlägt. In diesem Fall hat wahrschein- len, sei es nun der Sportverein, die Nachhilfe oder das lich Frau Kipping gesagt: Ich möchte gerne wieder mein tägliche Mittagessen in der Schule. Weniger bürokrati- Lieblingsthema diskutieren. – Deswegen glaube ich, dass scher Aufwand wäre eine effektive Zugangserleichte- wir in diesem Bereich auch in Zukunft noch erhebliche rung. Diskussionen zu führen haben werden. (Beifall des Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/ (Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber wir reden CSU]) über Millionen Menschen in diesem Land, die Hier halte ich Bürokratieabbau für sinnvoll. davon betroffen sind!) Der aktuelle Regelsatz von 399 Euro beinhaltet Ein herzliches Dankeschön. 25,14 Euro für Mobilität. In Berlin kostet eine Monats- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- karte für Empfänger von SGB-II-Leistungen 36 Euro. In ordneten der SPD) meinem Wahlkreis zum Beispiel gibt es aber keinen So- zialtarif für eine Monatskarte. Dort kostet sie zwischen 37,30 und 66,80 Euro, je nach Strecke. Mobilität ist aber

Vizepräsidentin Petra Pau: gerade im ländlichen Raum sehr wichtig. Das Wort hat der Kollege Markus Paschke für die SPD-Fraktion. Viele Bezieher von SGB-II-Leistungen können sich auch kein Auto leisten. Mobilität ist jedoch eine Grund- (Beifall bei der SPD) voraussetzung, um Bewerbungsgespräche führen zu kön- nen, zum Arzt zu fahren, oder auch, um sich mit Freun- Markus Paschke (SPD): den zu treffen, kurz: um am gesellschaftlichen Leben Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen teilzuhaben. und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jedem von uns ist klar, dass die Regelbedarfe sehr eng Manchmal scheint es ziemlich subjektiv zu sein, ob man gerechnet sind. Da bleibt am Ende des Monats kaum et- ein Verfahren als objektiv betrachtet. was bis gar nichts übrig, um Rücklagen für Unvorherge- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein sehenes zu bilden. Grundlegendes wie eine neue Brille, Philosoph!) weil sich die Sehstärke verändert hat, ein neuer Kühl- schrank oder eine Waschmaschine können zum Problem Ich finde, das Verfahren zur Ermittlung der Regelbedar- werden. Die Kosten dafür übernimmt das Jobcenter näm- fe ist durchaus objektiv. Es ist nämlich nachvollziehbar, lich nicht. Da sehe ich bei der Berechnung der Regelsätze (B) und ihm liegt eine berechenbare Basis zugrunde. Damit durchaus Handlungsbedarf. (D) ist das Verfahren objektiv. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Nun kann man allerdings trefflich darüber streiten, ob des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn die statistischen Grundlagen und die Inhalte für die Be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) rechnung der Regelbedarfe richtig sind. Reden wir also Die SPD hat ein transparentes und sachgerechtes Ver- über die Grundlagen und darüber, ob die bisherigen Re- fahren als Ziel, realitätsnah und nachvollziehbar. Das geln zur Deckung des Bedarfs ausreichen. Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung ent- Das Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem sprechende Hausaufgaben aufgegeben. Ich denke, diese Jahr 2014 hat uns auf Leistungslücken und Unterdeckun- arbeiten wir in gewohnter Weise gemeinsam mit unserem gen hingewiesen. Koalitionspartner ab. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! So ist es!) NEN]: „In gewohnter Weise“! Das ist eine Drohung!) Die Richter haben allerdings den Gesamtbedarf als gera- de noch ausreichend gedeckt gesehen. Sie von der Opposition – auch die Grünen – sind herzlich eingeladen, sich daran zu beteiligen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade noch!) (Beifall bei der SPD) Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber auch, dass wir Vizepräsidentin Petra Pau: den Zugang zum Bildungs- und Teilhabepaket verbes- sern müssen. Immer noch werden damit viele Kinder und Ich schließe die Aussprache. Jugendliche nicht erreicht. Ich finde, wir müssen den Zu- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gang zum Paket vereinfachen und von unnötigem Ballast Drucksache 18/6589 an die in der Tagesordnung aufge- befreien. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der bürokratische Aufwand schreckt nämlich immer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: noch viel zu viele Eltern ab, die Anträge überhaupt zu stellen. Außerdem werden wichtige Ressourcen der Job- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- center mit Anträgen und Bescheiden blockiert. regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 13322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Petra Pau (A) zes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktien- schuldverschreibungen kann die Aktiengesellschaft nun (C) rechtsnovelle 2014) bestimmen, ob sie auf die Wandelanleihe das geliehene Geld oder in Aktien zurückzahlen möchte. Mit dieser Drucksache 18/4349 Neuregelung kann das betreffende Unternehmen etwa in Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Krisenzeiten statt der Rückzahlung von Geldbeträgen – ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- was die Liquiditätskrise verschärfen würde – Aktien zur schuss) Schuldentilgung ausgeben und gleichzeitig das Grund- kapital, also das gezeichnete Kapital, erhöhen. Das ist Drucksache 18/6681 richtig; denn es ist sinnvoll, dass bei Finanzproblemen Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion einer Aktiengesellschaft zunächst die Gläubiger und die Bündnis 90/Die Grünen vor. Aktionäre der Bank dazu beitragen müssen, die Krise zu entschärfen, und nicht der Staat und damit die Allge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für meinheit und der Steuerzahler. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich bitte, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die notwendigen Umgruppierungen nun zügig vorzuneh- Den Gesetzentwurf haben wir auch zum Anlass genom- men. men, eine ziemlich missglückte Definition des gezeichne- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege ten Kapitals in den Bilanzierungsvorschriften des Handels- Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion. gesetzbuches zu korrigieren. Nach dieser sachlich falschen Definition haftet der Aktionär angeblich für Verbindlich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keiten der Aktiengesellschaft, was aber bei Kapitalgesell- der CDU/CSU) schaften gerade nicht der Fall ist. Ein Dank für diesen Hin- weis auf den Reformbedarf geht in meinen Wahlkreis, an Dr. Johannes Fechner (SPD): Professor Feist, dem dies aufgefallen ist und der zu Recht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Korrektur dieser Gesetzesdefinition anregte. Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Schon im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahr 2012 hat sich der Bundestag mit der Aktienrechts- der CDU/CSU) novelle beschäftigt. Der damals beschlossene Gesetzent- wurf ist der Diskontinuität anheimgefallen. Grund war, Vor allem aber – dies ist der wichtigste Teil dieses dass zwei Tage vor der Bundestagswahl der Vermitt- Gesetzentwurfes – schaffen wir mehr Transparenz bei lungsausschuss angerufen wurde, und das wird auch dem den Inhaberaktien. Die internationale Organisation zur allerbesten Gesetzentwurf zum Verhängnis. Bekämpfung von Geldwäsche, aber auch die G 8 2013 (B) und das Bundeskriminalamt haben vermehrt darauf hin- (D) Wir packen dieses Thema jetzt nochmals an. Nachdem gewiesen, dass die Aktienrechtslage in Deutschland nicht wir zum Thema Delisting schon eine wichtige Neurege- börsennotierte Aktiengesellschaften mit Inhaberaktien lung für Aktionäre beschlossen haben, nehmen wir nun für Geldwäsche attraktiv macht. Vor dem Hintergrund, einige wichtige Änderungen im Aktienrecht vor. dass in Deutschland nach einer Schätzung des Internatio- nalen Währungsfonds etwa 50 Milliarden bis 60 Milliar- Zum einen geht es uns darum, die Finanzierung der den Euro kriminell erlangte Gelder jedes Jahr gewaschen Aktiengesellschaften, vor allem der Banken, zu verbes- werden, müssen wir auf allen Ebenen handeln, um jede sern. Die Kreditinstitute müssen in bestimmtem Um- Möglichkeit der Geldwäsche zu verhindern. fang Eigenkapital nachweisen. Vorzugsaktien können heute nicht als kalkulatorisches Eigenkapital anerkannt (Beifall des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/ werden, weil nach heutiger Rechtslage bei ausbleiben- CSU]) den Dividendenzahlungen diese Gewinnausschüttungen – Danke, Herr Ullrich. nachzuholen sind. Wird also der Vorzug in einem Jahr nicht gezahlt, muss dies im Folgejahr nachgeholt werden. (Beifall des Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/ Nur Vorzugsaktien, bei denen der Vorzug nicht nachzahl- CSU]) bar ist, können als sogenanntes regulatorisches Eigenka- pital anerkannt werden. Deshalb ermöglichen wir nun Denn nach heutiger Rechtslage können bei nicht börsen- Vorzugsaktien, bei denen diese Nachzahlung nicht statt- notierten Aktiengesellschaften mit Inhaberaktien die Ak- finden muss. So kann die Vorzugsaktie als Kernkapital tien auf neue Eigentümer übertragen werden, ohne dass anerkannt werden mit der Folge, dass den Aktiengesell- dies nach außen erkennbar ist. Wir schaffen deshalb mehr schaften mehr Kapital zur Verfügung steht. Wir sprechen Transparenz, indem wir regeln, dass eine Aktiengesell- in der Tat über aktienrechtliche Feinschmeckerei; das schaft Inhaberaktien zukünftig nur dann ausstellen darf, will ich bei diesem Thema ausdrücklich einräumen. wenn sie entweder börsennotiert ist – denn in diesem Fall unterliegen die Gesellschafter den kapitalmarktrechtli- Zudem schaffen wir die Möglichkeit für Aktienge- chen Veröffentlichungspflichten, das heißt, die Aktionäre sellschaften, durch sogenannte umgekehrte Wandel- müssen mitteilen und sich offenbaren, wenn sie 3 Pro- schuldverschreibungen vorab Kapitalerhöhungen zu zent der Stimmanteile besitzen – oder, falls sie nicht genehmigen. Bei Wandelschuldverschreibungen kann börsennotiert ist, wenn die Aktiengesellschaft Anspruch der Gläubiger einer Aktiengesellschaft bestimmen, auf Einzelverbriefung ausschließt. Denn dann gibt es nur ob die Aktiengesellschaft eine Anleihe in Geld oder in eine Sammelurkunde, die bei einer Wertpapiersammel- Aktien zurückzahlen muss. Bei umgekehrten Wandel- bank oder einem Zentralverwahrer verwahrt wird; die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13323

Dr. Johannes Fechner (A) Identität des Aktionärs kann dann über den Verwahrver- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) trag ermittelt werden. Damit ist sichergestellt, dass es Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die keine nennenswerten Aktienpakete von anonymen Akti- Fraktion Die Linke. onären mehr gibt. Dadurch bekämpfen wir Geldwäsche. Auch deswegen ist dieses Gesetz eine ganz wichtige (Beifall bei der LINKEN) Maßnahme. (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Richard Pitterle Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- Diskutiert haben wir schließlich auch, einen Tag fest- ginnen und Kollegen! Wir beraten heute mit der Akti- zulegen, an dem im Vorfeld der Hauptversammlung fest- enrechtsnovelle 2014 Änderungen am Aktienrecht. Die zustellen ist, wer Aktionär der Aktiengesellschaft ist. Das interessierten Zuhörerinnen und Zuhörer werden aber ist der sogenannte Record Date. Problematisch ist näm- vermutlich über die Debatte enttäuscht sein. Der Begriff lich, dass viele ausländische Aktionäre sich erst in das „Novelle“ lässt im allgemeinen Sprachgebrauch eher Aktienregister ihrer Aktiengesellschaft eintragen lassen eine umfassende Reform erwarten. Das ist die Aktien- müssen, bevor sie die Hauptversammlung besuchen kön- rechtsnovelle nicht. nen. Wir möchten nun möglichst vielen Aktionären den Besuch der Hauptversammlung erleichtern und ermög- Sie präsentiert sich in der klassischen Wortbedeu- lichen und meinen, dass ein einheitlicher Record Date tung als eine einfache Gesetzesänderung. Daran lässt der möglich ist. Wir wollen eine einheitliche europäische Re- Entwurf, fast wie als Entschuldigung für den markigen gelung; denn die Bandbreite in Europa ist groß: In Malta Arbeitstitel, keine Zweifel aufkommen. Bereits im ers- sind es 30 Tage, in Irland 2 Tage. Deshalb brauchen wir ten Satz heißt es: „Das geltende Aktienrecht bedarf einer einen europaweit einheitlichen Stichtag, damit mehr aus- punktuellen Weiterentwicklung.“ Genau das liefert der ländische Aktionäre zu den Hauptversammlungen kom- Entwurf: feine Drehungen an Stellschrauben. men. Wir fordern deshalb in unserem Entschließungsan- Auch die Ergänzung des Titels um die Jahreszahl 2014 trag genau zu diesem Thema die EU-Kommission auf, erweckt einen falschen Eindruck. Das Aktienrecht ist einen Gesetzgebungsvorschlag für einen einheitlichen keine dynamische Materie, die jährlich angepasst werden Record Date zu unterbreiten; das ist sinnvoll. Wir wol- müsste. Ganz im Gegenteil: Beständigkeit und Rechtssi- len gut besuchte Hauptversammlungen; denn ansonsten cherheit sind im Gesellschaftsrecht essenziell. Leider hat besteht die Gefahr, dass nur Großaktionäre und Hedge- gesetzgeberischer Aktionismus dieses Haus fest im Griff. fonds über die Unternehmensgeschicke bestimmen. Das Der vorliegende Entwurf ist davon eine erfrischende können wir alle nicht wollen. Ausnahme: Bereits 2010 erblickte er das Licht der Welt. (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Fachleute adelten diese – ich zitiere – „ungewöhnlich (D) Noch ein Wort zu den Änderungsanträgen, die vorlie- lange Reifezeit“ daher auch unisono mit den Prädikaten gen. Auch wir von der SPD-Fraktion wollen, dass unver- „sachgerecht“, „überzeugend“ und „begrüßenswert“. Gut hältnismäßig hohe Managergehälter und Gehaltsexzesse Ding braucht eben Weile. Das gilt ganz besonders für das verhindert werden. Auch wir meinen, dass es sinnvoll ist, sträflich vernachlässigte Handwerk guter Rechtsetzung. dass ein Aufsichtsrat bei der Vorstandsvergütung ein Ver- Was bleibt aber zu sagen, wenn sich Fachleute einig sind, hältnis zwischen der Vergütung der Belegschaft und der dass ein Gesetz gut ist? Dann wird es schwer, mehr als Vergütung des Vorstands festsetzt. nur einzelne Änderungen in einer langweiligen Litanei vorzubeten. Nun ist es aber Aufgabe der Opposition, das (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haar in der Suppe und den Kork im Wein zu finden. Dann stimmt ihr zu?) (Beifall des Abg. (Havelland) Allerdings sollten wir uns bei solch detaillierten Rege- [DIE LINKE] – Renate Künast [BÜND- lungen auf die wirklich großen Aktiengesellschaften be- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt immer mehr schränken, weil erfahrungsgemäß auch nur dort die Ex- Schraubverschlüsse!) zesse stattfinden. Sie werden es ahnen: Das haben wir. Wir freuen uns sehr, dass die Europäische Kommis- sion in ihrem aktuellen Vorschlag zur Überarbeitung der Doch zunächst möchte ich eine gute Änderung vor- Aktionärsrichtlinie genau diesen Ansatz verfolgt. Große stellen. Diese betrifft die Ausgabeform der Aktien. Akti- Aktiengesellschaften müssen danach grundsätzlich das en können bisher entweder auf eine konkrete, namentlich Verhältnis der Durchschnittsvergütung der Mitglieder benannte Person ausgestellt werden, oder sie gewähren der Unternehmensleitung zur Durchschnittsvergütung denen, die eine Aktie vorweisen können, das Anteilsrecht der Vollzeitbeschäftigten angeben. Damit haben wir eine am Unternehmen. Diese letztgenannten Inhaberpapiere transparente und gerechte Lösung. haben jedoch einen schlechten Ruf. Sie sehen: Dieses Gesetz und auch unser Entschlie- Erst kürzlich veröffentlichte die gegen Steuerhinter- ßungsantrag enthalten viele für die Aktionäre wichtige ziehung und Geldwäsche kämpfende Nichtregierungs- und für die Unternehmen sinnvolle Regelungen, sodass organisation Netzwerk Steuergerechtigkeit den Schat- ich Sie um Zustimmung bitte. tenfinanzindex für das Jahr 2015. Der Index gibt an, wie attraktiv ein Staat für Steuerhinterziehung und Geld- Vielen Dank. wäsche im internationalen Vergleich ist. Und siehe da: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutschland ist auf der Liste der attraktivsten Standorte 13324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Richard Pitterle (A) wiederholt auf den ersten Plätzen, neben den Cayman-In- Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): (C) seln oder Luxemburg. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verdient haben wir uns diesen unrühmlichen Platz Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege auch mit der Intransparenz bei Unternehmensbeteili- Pitterle, als ich Ihrer Rede lauschte, habe ich mich schon gungen. Zwar werden auch bei uns nur noch in Filmen auf ein Novum eingestellt. In der ersten Hälfte Ihrer Rede Koffer mit Geld gegen Aktien auf schlecht beleuchteten haben Sie darauf hingewiesen, dass das, was hier vor- Parkplätzen ausgetauscht. Ausgeschlossen ist es aber liegt, gut gemacht ist, nicht, dass Inhaberpapiere für Steuerhinterziehung und (Karin Binder [DIE LINKE]: In Teilen!) Geldwäsche genutzt werden. Wer sich anonym an Unter- nehmen beteiligen kann, muss nicht fürchten, dass sich dass man sich das in Ruhe überlegt hat, dass man im Ein- Finanz- und Strafbehörden für die Herkunft und die An- zelnen abgewogen hat und zu einem handwerklich und lage des Geldes interessieren könnten. inhaltlich richtig guten Gesetzentwurf gekommen sei. Ich dachte schon, dass sich Ihre Rede auch als Blaupause In Zukunft sollen daher Namenspapiere die Regel und für Rednerinnen und Redner Ihrer Fraktion zu ganz ande- Inhaberpapiere nur noch unter bestimmten Vorausset- ren Themen eignen würde. zungen zulässig sein. Damit erfüllt Deutschland endlich auch eine Forderung der Arbeitsgruppe für finanzielle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maßnahmen gegen Geldwäsche bei der OECD. Dr. [DIE LINKE]: Zu früh ge- freut!) (Beifall bei der LINKEN) Sie haben zu meinem Bedauern doch noch die Kurve ge- Ein Grund, sich im Kampf gegen Steuerhinterziehung nommen und gemeint, das berühmte Haar in der Suppe und Geldwäsche entspannt zurückzulehnen, ist diese Re- suchen zu müssen. gelung allerdings noch nicht. Echte Transparenz wäre erst hergestellt, wenn alle Anteilseigner unabhängig von Unsere Wirtschaftspolitik ist von der Überzeugung der Rechtsform in einem öffentlich einsehbaren Register geprägt, dass es nicht die Aufgabe des Staates ist, in der verzeichnet wären, Wirtschaft mitzuspielen, sondern dass es Aufgabe des Staates ist, gleichsam einem Schiedsrichter die Spielre- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) geln zu setzen, nach denen das Wirtschaftsleben statt- nicht anders also, als es jetzt schon für Einzelkaufleute findet. Die Setzung des Ordnungsrahmens ist die große oder Gesellschafter einer GmbH, OGH oder KG im Han- Bedeutung des Wirtschaftsrechts. Das, was wir heute delsregister der Fall ist. debattieren und beschließen werden, trägt genau diesen (B) Maßstäben Rechnung. (D) Warum können wir dem Gesetzentwurf dennoch nicht zustimmen? In dem Entwurf findet sich keine Regelung Es geht darum, dass der äußere Rahmen der Rechts- zu den Managergehältern. In der letzten Legislaturperio- ordnung fortentwickelt wird. Wir haben das vor wenigen de scheiterte die Aktienrechtsnovelle am Widerstand der Wochen – Kollege Fechner hat es angesprochen – im Be- SPD im Bundesrat wegen unzureichender Regelungen reich des Aktienrechts bereits hinsichtlich des Delisting zu Managergehältern. Vor einem Jahr schimpfte der Vi- getan, weil wir im Bereich des Delisting der Auffassung zekanzler noch öffentlich über – ich zitiere – „obszöne“ waren, dass durch die veränderte Rechtsprechung des Managergehälter und kündigte ein Eingreifen der Poli- Bundesgerichtshofs die Kleinaktionäre schutzlos gestellt tik an. Von einem SPD-geführten Justizministerium, das wurden und dass es Aufgabe des Gesetzgebers war, den den Gesetzentwurf zu verantworten hat, wäre ein solches Kleinaktionären angemessenen Schutz zu gewähren. Die Eingreifen mit tatkräftiger Unterstützung des Vizekanz- Große Koalition hat gehandelt, und die Große Koalition lers zu erwarten gewesen, oder? Aber es findet sich kein handelt hier im Bereich des Aktienrechts erneut. Wort zu diesem wichtigen Thema. Es geht in der Tat um punktuelle Fortentwicklungen. Glaubwürdige Politik, liebe Kolleginnen und Kolle- Es geht nicht darum, das Aktienrecht insgesamt neu zu gen von der SPD, bedeutet, in der Regierung das umzu- schreiben. Aber eine Rechtsordnung punktuell fortzuent- setzen, was zuvor als Opposition gefordert wurde. wickeln, ist nichts Illegitimes. Das ist dann das richtige Vorgehen, wenn die Rechtsordnung im Übrigen gut funk- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) tioniert. Daran fehlt es hier erneut. Deshalb können wir uns heute Ich möchte stichwortartig einige Bereiche nennen. nur enthalten. Wir erhöhen zum Beispiel die Rechtssicherheit bei den Veröffentlichungen im Bundesanzeiger. Wir regeln, um (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias die Praktikabilität der Dividendenausschüttungen zu ver- ­Bartke [SPD]: Kraftvoll enthalten!) bessern, dass künftig Dividendenzahlungen am dritten Tag nach der Hauptversammlung fällig werden. Wir re- Vizepräsidentin Petra Pau: geln, dass die Pflicht zur Führung eines Aktienregisters Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege auch bei fehlender Verbriefung der Anteile gilt. Wir klä- Dr. Stephan Harbarth das Wort. ren Zweifelsfragen hinsichtlich der Vorbesitzzeit und der Haltefrist. Das sind zugegebenermaßen technische Mate- (Beifall bei der CDU/CSU) rien, aber es sind wichtige Materien. Immerhin haben wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13325

Dr. Stephan Harbarth (A) in Deutschland 16 000 Aktiengesellschaften mit Millio- braucherschutz – eine breiter angelegte Reform des Be- (C) nen Beschäftigten. schlussmängelrechts anstoßen. Eine solche Reform lässt sich nicht übers Knie brechen; sie braucht Vorarbeiten. Ich möchte drei Punkte etwas stärker herausgreifen: Wir denken, diese Vorarbeiten sollten rasch in die Wege Der eine ist die Frage des sogenannten Record Date, geleitet werden. des maßgeblichen Nachweisstichtags vor der Haupt- Wir haben im parlamentarischen Verfahren gerade versammlung bezüglich des Aktienbesitzes. Der Regie- für die kleineren und mittleren Aktiengesellschaften, die rungsentwurf sah noch vor, hier zu einer Harmonisierung nicht mitbestimmt sind, eine weitere Erleichterung vor- zwischen Namens- und Inhaberaktien zu kommen. Wir gesehen. Diese Gesellschaften benötigten bisher einen haben das im parlamentarischen Verfahren auch auf Ba- Aufsichtsrat, bei dem die Zahl der Mitglieder durch drei sis der Sachverständigenanhörung eingehend debattiert. teilbar war. Eine sachliche Rechtfertigung dafür gibt es Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir diese nicht. Deshalb streichen wir dieses Erfordernis. Der Auf- gesetzliche Veränderung nicht vornehmen, sondern dass sichtsrat muss sich zwar aus mindestens drei Personen wir den europäischen Gesetzgeber bitten, aktiv zu wer- zusammensetzen, wir überlassen es aber den Aktionären den. selbst, ob sie einen Dreier-, Vierer- oder Fünfer-Auf- Wir bitten deshalb den europäischen Gesetzgeber, ak- sichtsrat haben möchten. Das ist unser Verständnis von tiv zu werden – auch das hat Kollege Fechner kurz skiz- Wirtschaftspolitik. Wir geben einen Rahmen vor. Wir ziert –, weil wir in Europa, veranlasst durch eine Richt- sind aber überzeugt davon, dass die Unternehmer in al- linie aus dem Jahr 2007, im Augenblick 26 verschiedene ler Regel selbst am besten wissen, wie dieser Rahmen zu Rechtssysteme in 28 Mitgliedstaaten haben und weil wir füllen ist. vermeiden wollten, dass für internationale Investoren – Dies alles vorausgeschickt, denke ich, dass wir das viele Aktien deutscher Aktiengesellschaften liegen in den Aktienrecht jetzt mit der Aktienrechtsnovelle in einer Händen internationaler Investoren – ein höheres Maß an sachgerechten Weise weiterentwickeln. Es gibt noch Verwirrung geschaffen wird. Wir wünschen, dass der einige weitere Aufgaben, die ungelöst bleiben. Deren Record Date europaweit vereinheitlicht wird und dass Bewältigung werden wir in Behutsamkeit vorantreiben. dadurch die Ausübung der Aktienrechte in der Hauptver- Ich darf Sie um Zustimmung zu dem nun vorliegenden sammlung im Sinne einer verbesserten Hauptversamm- Gesetzentwurf bitten. lungspräsenz und damit auch im Interesse eines besseren und erfolgreicheren Kapitalmarkts erleichtert wird. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (B) Insofern werden wir heute über einen entsprechenden (D) Entschließungsantrag abstimmen, der sich nach Europa richtet. Wir werden nacharbeiten, damit aus Europa die Vizepräsidentin Petra Pau: entsprechenden Vorgaben kommen. Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen, der uns wichtig ist: Das ist das Thema des Beschluss- mängelrechts. Im Regierungsentwurf war vorgesehen, Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass die Nichtigkeitsklagen in bestimmten Fällen einer Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen sogenannten relativen Befristung unterstellt werden. Wir und Kollegen! Das Publikum ist etwas zu bedauern; haben diese Regelung deshalb aus dem Gesetzentwurf aber auch diese rechtstechnischen Themen müssen eben herausgenommen, weil wir der Auffassung sind, dass es manchmal sein. im Beschlussmängelrecht nicht um punktuelle Fortent- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des wicklung geht, sondern dass wir auf diesem Gebiet eher BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD noch einmal eine grundsätzliche, eine breiter angelegte und der LINKEN – Renate Künast [BÜND- Diskussion führen müssen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich finde es span- Wir haben es etwa mit der Situation zu tun, dass in Fäl- nend!) len, in denen ein Beschluss unter einem besonders schwe- Schon der erste Anlauf zur Novellierung des Aktien- ren Mangel leidet, die Eintragung im Handelsregister nur rechts vor fünf Jahren war nicht der große Wurf. Inzwi- auf Klage eines Aktionärs verhindert werden kann, der schen ist aus dem ursprünglichen Referentenentwurf von den anteiligen Betrag von mindestens 1 000 Euro hält. 2010 die Aktienrechtsnovelle 2016 geworden. Und diese Es erscheint durchaus zweifelhaft, ob es wirklich so sein ist nun wirklich ein schlankes Gesetz, um nicht zu sagen: sollte, dass die Eintragung von Beschlüssen mit beson- ein Gerippe. Der Entwurf besteht nur noch aus drei sehr ders schweren Mängeln nur von Aktionären mit einem technischen Punkten: gewissen Beteiligungsbesitz verhindert werden kann. Erstens sollen Aktiengesellschaften künftig Kernkapi- Wir sehen auch, dass etwa die Eintragung eines Be- tal auch durch Ausgabe stimmrechtsloser Vorzugsaktien schlusses, der unter einem ganz offensichtlichen Man- bilden können. – Okay. gel leidet, der aber nicht besonders schwer ist, im Han- delsregister zum Teil gar nicht verhindert werden kann. Zweitens sollen bestimmte Schuldverschreibungen Deshalb wollen wir jetzt – dementsprechend ist unsere künftig nicht nur von den Gläubigern, sondern auch von Bitte an das Bundesministerium der Justiz und für Ver- der Schuldnerin, also der Aktiengesellschaft selbst, in 13326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Katja Keul (A) Aktien umgewandelt werden können. Das soll in Krisen- lose Abfindungen zu begrenzen und diese auch stärker (C) zeiten helfen, eine Insolvenz zu vermeiden. – Auch okay. am langfristigen Erfolg des Unternehmens auszurichten. Das geht nur, wenn man die steuerliche Abzugsfähigkeit Drittens sollen die Beteiligungsverhältnisse bei nicht beschränkt. börsennotierten Aktiengesellschaften transparenter wer- den. Insbesondere bei Inhaberaktien dieser Gesellschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten gibt es keine hinreichende Transparenz hinsichtlich sowie bei Abgeordneten der LINKEN) der Gesellschafter. Das soll jetzt verbessert werden. – So weit, so gut. Denn letztlich werden Managergehälter und ‑abfindun- gen über die steuerliche Anrechenbarkeit von der All- Und jetzt zu dem, was mal drinstehen sollte: Einen gemeinheit – also von uns allen – mitfinanziert. Darum einheitlichen Stichtag, zu dem der Eigentümer einer Na- beantragen wir mit unserem zweiten Änderungsantrag, mens- bzw. Inhaberaktie feststehen muss, um dann bei Gehaltszahlungen von mehr als 500 000 Euro jährlich der Aktionärsversammlung stimmberechtigt zu sein, und Abfindungen von über 1 Million Euro zu nicht ab- wird es nicht geben. Hierzu hat die Koalition einen Ent- ziehbaren Betriebsausgaben zu machen. schließungsantrag mit dem Ziel eingebracht, zu einem europäisch einheitlichen Stichtag zu kommen. Und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN macht auch Sinn. – Also auch hier haben Sie unsere Zu- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Re- stimmung. nate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollten die Sozis doch auch mal, oder?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) – Ja. So eine begrenzte Abzugsfähigkeit gibt es auch bei anderen Betriebsausgaben. Sie sind daher, wie manche – Danke sehr. behaupten, keine Verletzung des Nettoprinzips. Ein weiterer Punkt, der ursprünglich vorgesehen war, Nutzen Sie die Gelegenheit, unseren Änderungsanträ- nämlich eine Änderung des Beschlussmängelrechtes in gen zuzustimmen und Ihr Gesetz zu vervollständigen! § 249 Aktiengesetz, wurde ebenfalls im letzten Moment zurückgenommen. Zur Verhinderung angeblich miss- Ein weiteres Problem, das Ihr Gesetz nicht löst, be- bräuchlicher Nichtigkeitsklagen sollte eine Befristung trifft die Berichtspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern bei eingeführt werden. – Auch hier teile ich Ihre Bedenken. Gesellschaften mit staatlicher Beteiligung. Um was geht Bevor man eine Kürzung der Klagebefugnis Einzelner es? Die Sitzungen des Aufsichtsrates sind nicht öffent- in Kauf nimmt, um einen Missbrauch von Klagerechten lich, und es besteht eine Verschwiegenheitspflicht. Eine zu verhindern, sollte man überlegen, ob es nicht andere Ausnahme gilt für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Ver- (B) Wege gibt. anlassung einer Gebietskörperschaft, also einer Kommu- (D) ne, in den Aufsichtsrat gesandt werden, also bei Gesell- Nun aber zu den wirklich wichtigen Dingen des Le- schaften mit öffentlicher Beteiligung. Die Frage, die sich bens, die Sie leider ausgespart haben. Dabei geht es ein- bei diesen Aufsichtsräten stellt, ist die nach der Grenze mal um die Vorstandsvergütung. Hier besteht nach wie zwischen Berichtspflicht und Verschwiegenheitspflicht; vor dringender Handlungsbedarf. denn die öffentliche Hand, die sich an einem Unterneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men beteiligt, muss auch kontrollieren können, ob die- und bei der LINKEN) sem öffentlichen Interesse Rechnung getragen wird. Es soll zwar eigentlich schon jetzt darauf geachtet wer- Der vorliegende Gesetzentwurf stellt nun zwar den, dass die Vergütungsstaffelung beim Vorstand nicht klar, wie die Berichtspflicht dieser Aufsichtsräte - for Maß und Bezug zu den Vergütungsgepflogenheiten im mell-rechtlich begründet werden kann, doch das eigentli- Unternehmen verliert. Dennoch zahlen viele Unterneh- che Problem, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen men ihren Vorstandsmitgliedern das über 100‑Fache des Berichtspflicht und Verschwiegenheitspflicht, wird nicht durchschnittlichen Lohnes eines Facharbeiters. Deshalb gelöst. Hier warten wir jetzt mal wieder auf höchstrich- braucht es eine gesetzliche Verpflichtung zur Beachtung terliche Rechtsprechung. dieses Verhältnisses und mehr Transparenz durch Veröf- fentlichungen im Jahresbericht. Fazit: Ihr Gesetz spart alle Antworten auf die wesent- lichen Fragen aus und verdient nicht wirklich den Namen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Novelle“. und bei der LINKEN) (Beifall der Abg. Agnieszka Brugger [BÜND- Genau das beantragen wir mit unserem grünen Ände- NIS 90/DIE GRÜNEN] und Richard Pitterle rungsantrag. [DIE LINKE]) Interessanterweise war es ja so, dass das Gesetz in Die technischen Details sind aus unserer Sicht zwar un- der letzten Legislaturperiode noch „Gesetz zur Verbesse- problematisch und sinnvoll, aber für die fehlende Be- rung der Kontrolle der Vorstandsvergütung und zur Än- grenzung von Managervergütungen können wir Ihnen derung weiterer aktienrechtlicher Vorschriften“ heißen nicht allen Ernstes noch unsere Zustimmung geben. sollte. Jetzt heißt es nur noch „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes“. Es ist aber höchste ( [CDU/CSU]: Sie haben es Zeit, Regelungen einzuführen, die den Aufsichtsrat dazu doch verhindert in der letzten Legislaturperi- verpflichten, auch überhöhte Vorstandsgehälter und maß- ode!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13327

Katja Keul (A) Sollten Sie also unseren Änderungsanträgen nicht zu- Ich möchte noch mit einem Satz oder zwei Sätzen auf (C) stimmen, werden Sie mit unserer Enthaltung leben müs- die Frage von Vorstandsvergütungen eingehen. Ja, es gibt sen. in der Tat Exzesse bei den Vorstandsvergütungen. Es sind in Deutschland Fälle augenscheinlich, bei denen sich Ar- Vielen Dank. beitnehmer zu Recht fragen, weshalb Vorstandsmitglie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der sehr hohe Summen bekommen, Summen, die mögli- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) cherweise wenig mit dem Unternehmenserfolg selbst zu tun haben

Vizepräsidentin Petra Pau: (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Herr Winter- Der Kollege Dr. Volker Ullrich hat für die CDU/ korn!) CSU-Fraktion das Wort. und die vielleicht auch nicht mehr anständig sind; das ist (Beifall bei der CDU/CSU) gar keine Frage. „Marktwirtschaft“ und „soziale Markt- wirtschaft“ heißt, dass sich alles in einem angemessenen Rahmen abspielen soll und dass die Balance zu wahren Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): ist. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir feiern in diesem Jahr „50 Jahre Aktienge- Ich möchte aber daran erinnern, dass vor einigen Jah- setz“. Das sollte in dieser Debatte auch Anlass sein, zu ren schon der § 87 des Aktiengesetzes, der die Grundzü- formulieren, dass sich dieses Gesetz bewährt hat, nicht ge der Vorstandsvergütung regelt, so reformiert worden allein wegen der mehreren Hundert börsennotierten Akti- ist, dass die Aufsichtsräte bei der Festlegung der Vor- engesellschaften, sondern auch vor dem Hintergrund von standsvergütung nicht nur eine nachhaltige Unterneh- insgesamt über 14 000 Aktiengesellschaften in Deutsch- mensentwicklung zu berücksichtigen haben; es verbietet land. Die Aktiengesellschaft ist eine Rechtsform des Mit- sich, auf kurzfristigen Erfolg zu setzen. Vielmehr sind telstands, und deswegen steht sie im Vordergrund unserer mehrjährige und langjährige Ziele zu berücksichtigen. Wirtschaftsrechtspolitik. Deswegen sollte die Botschaft des Bundestages an die Aufsichtsratsmitglieder sein: Berücksichtigen Sie das Man muss auch formulieren, dass die Aktiengesell- geltende Recht! Dann werden Sie eine Vorstandsvergü- schaft durch ihre Formstrenge, durch die Leitung durch tung bekommen, die auch mit dem im Einklang steht, Aufsichtsrat und Vorstand einen deutlichen Vorteil ge- was die Menschen erwarten. genüber dem monistischen System in der anglo-amerika- (B) nischen Welt hat; sie hat sich damit bewährt. Deswegen Im Übrigen halte ich nichts davon, einem Aktionis- (D) sagen wir mit Fug und Recht: Eine Aktienrechtsreform mus das Wort zu reden. Der Änderungsantrag der Grü- muss nicht das ganze Haus auf den Kopf stellen. Es nen, der formuliert, die Vorstandsvergütung müsse in handelt sich hier um ein Gesetz, das sich in der Praxis einem gewissen Verhältnis zur Vergütung der oberen bewährt hat. Deswegen sind punktuelle Reformen die Managementkreise und der Belegschaft stehen, schafft richtige Ansage. neue Probleme. Was ist das obere Management? Wel- chen Durchschnittswert setzen Sie bei der Belegschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. an? Deswegen ist es der wesentlich bessere Schritt, wenn Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) wir jetzt gemeinsam darauf drängen, dass in der europä- Wir werden die Beteiligungsverhältnisse transparen- ischen Aktionärsrechte-Richtlinie hierzu klare Vorgaben ter gestalten. Es wird zukünftig nicht mehr möglich sein, gemacht werden und europaweit verankert wird, dass die dass eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft ohne Hauptversammlungen mehr Kompetenzen bekommen Weiteres Inhaberaktien ausgibt; die Namensaktie wird bei der Beantwortung der Frage: Wie viel verdient das zum Regelfall werden. Damit kommen wir auch einer Management? Ich glaube, das ist die klarere Position. Empfehlung der OECD nach, die im Jahr 2010 gesagt hat: Ihr seid nicht gut genug bei der Bekämpfung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Geldwäsche. Ihr müsst etwas tun im Bereich der Selbst- Insgesamt haben wir es mit einer sorgsamen und geldwäsche. Aber auch bei den Beteiligungsverhältnissen punktuellen Verbesserung eines Gesetzes zu tun, das sich von Aktiengesellschaften ist noch viel Luft nach oben. bewährt hat. Deswegen darf ich Ihnen dieses Gesetz zur Wir haben hier vor einigen Wochen die Selbstgeldwä- Zustimmung empfehlen. sche unter Strafe gestellt. Deswegen ist es konsequent, dass wir heute auch sagen: Wir schaffen mehr Trans- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- parenz bei den Beteiligungsverhältnissen. Das ist ein ordneten der SPD) wertvoller Schritt zur Bekämpfung der Geldwäsche, und damit stellen wir uns an die Spitze der Länder, die sa- Vizepräsidentin Petra Pau: gen: Wir setzen Vereinbarungen mit der OECD nahtlos um. – Ich glaube, das sind wir auch dem Kampf gegen Das Wort hat der Kollege Metin Hakverdi für die Kriminalität und Geldwäsche schuldig. SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. ruf des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE]) Dr. ­Heribert Hirte [CDU/CSU]) 13328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Metin Hakverdi (SPD): Der Record Date ist der Stichtag, an dem festgestellt (C) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen wird, wer Aktionär und damit in der Hauptversammlung und Kollegen! Gegenstand der heutigen Debatte ist die stimmberechtigt ist. Bisher gilt, dass jede Aktiengesell- Novelle des Aktienrechts. Mit der Novelle wollen wir schaft den Record Date selber in ihrer Satzung festlegt. das geltende Aktienrecht in einigen Punkten weiterent- Wir hatten uns vorgenommen, dies zu ändern. Wir woll- wickeln; viele davon sind schon angesprochen worden. ten einen einheitlichen Stichtag für alle börsennotierten Dazu gehört erstens die Flexibilisierung der Finanzie- Unternehmen mit Namensaktien. Das sollte der 21. Tag rung von Aktiengesellschaften. Zweitens sollen die Be- vor der Hauptversammlung sein. Zwei Ziele hatten wir teiligungsverhältnisse bei nicht börsennotierten Aktien- damit verfolgt: gesellschaften transparenter gemacht werden. Drittens Erstens. Wir wollten eine Vereinfachung bei der Fest- soll das Aktienrecht im Bereich der Aktionärsklagen wei- stellung der Aktionärseigenschaft für Namensaktien. terentwickelt werden, und natürlich müssen wir uns mit der Stichtagsregelung für Namensaktien beschäftigen. Zweitens. Wir wollten damit mehr Beteiligung der Kleinaktionäre auf den Hauptversammlungen erreichen. In der Debatte ist bereits zu vielen Punkten Stellung genommen worden. Ich will mich deshalb auf zwei Die Bestimmung von Unternehmensgeschicken darf Punkte konzentrieren: zum einen auf den Aspekt der nicht allein die Angelegenheit von Großaktionären Transparenz bei den Beteiligungsverhältnissen nicht bör- und Hedgefonds sein. Wir müssen daran arbeiten, dass sennotierter Aktiengesellschaften und zum anderen auf Kleinaktionäre einen einfacheren Zugang zu den Haupt- die Stichtagsregelung bei Namensaktien. versammlungen haben. Die öffentliche Anhörung war diesbezüglich aber leider ernüchternd. Welcher einheit- Hinsichtlich der Transparenz bei den Beteiligungs- liche Stichtag der richtige ist, konnten wir nicht klären. verhältnissen nicht börsennotierter Aktiengesellschaften Einige haben die Drei-Wochen-Frist favorisiert, ande- gilt bisher: Eigentümer ausgegebener Inhaberaktien die- re wollten eine kürzere. Ferner wurde in der Anhörung ser AGs, bei denen sich die Anzahl der Aktien unterhalb deutlich, dass eine Lösung auf EU-Ebene vorzugswür- der Schwelle für Mitteilungspflichten gemäß den §§ 20 diger sei. Daher sollte der Deutsche Bundestag eine eu- und 21 Aktiengesetz bewegt, müssen nicht mitgeteilt ropäische Lösung anstreben. Wir sollten die Europäische werden. Personen, die Inhaberaktien unter dem Schwel- Kommission auffordern, einen einheitlichen Record Date lenwert erwerben, müssen daher nicht bekannt sein. für Aktiengesellschaften festzulegen. Das scheint mir Damit muss bei diesen Gesellschaften die Information momentan der bessere Weg zu sein. über den Gesellschafterbestand nicht vollständig sein. Dieser Umstand macht diese Gesellschaften übrigens zu Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (B) besonders attraktiven Anlageobjekten für Menschen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) gerne im Verborgenen arbeiten. Das bestätigen auch die der CDU/CSU) Erkenntnisse des Bundeskriminalamtes. Diesen zufolge sind solche Aktiengesellschaften für kriminelle Handlun- gen im Bereich der Geldwäsche besonders anfällig. Die Vizepräsidentin Petra Pau: Ermittlungstätigkeit ist in solchen Aktiengesellschaften Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Professor erschwert. Die Vorstände solcher Aktiengesellschaften Dr. Heribert Hirte das Wort. können sich heute auf den Standpunkt stellen, dass die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aktionäre der Aktiengesellschaft gar nicht bekannt sei- en. Aus rechtlicher Sicht müssen die Vorstände dies auch (CDU/CSU): nicht wissen. Dieser Zustand hat Deutschland bereits im Dr. Heribert Hirte Jahr 2010 eine Rüge der Financial Action Task Force on Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Money Laundering eingebracht: Diesen Unternehmen Liebe verbliebene Zuhörer! fehle die Transparenz bezüglich ihrer Gesellschafter- (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE struktur. Es sei nicht gewährleistet, dass die zuständigen GRÜNEN]: So schlimm ist die Debatte jetzt Behörden rechtzeitig an aktuelle Informationen über die auch nicht!) Aktionäre einer solchen Gesellschaft kämen. Was lange währt, wird endlich gut. Es wurde schon ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist bemerkens- paarmal angesprochen: Hier geht es um die Wiederein- wert, dass trotz der Rüge der Financial Action Task Force bringung eines Gesetzentwurfs, der als Aktienrechts- on Money Laundering aus dem Jahr 2010 und der Hin- novelle 2011 schon einmal dieses Haus erblickt hatte und weise des Bundeskriminalamtes diese Gesetzesnovelle dann liegen geblieben ist. Er ist lange gereift; aber das, unter der schwarz-gelben Koalition in der letzten Wahl- was übrig geblieben ist, Frau Keul, ist kein „Gerippe“. periode liegen geblieben ist. Ich bin froh, dass wir diesem Das, was hier vorliegt, enthält eine ganze Reihe wich- Zustand mit diesem Gesetz heute ein Ende setzen. Wir tiger und wesentlicher Änderungen des Aktienrechtes. begrenzen die Möglichkeit, Inhaberaktien auszustellen. Diese wesentlichen Änderungen fokussieren zu einem Wir wollen keine intransparenten Eigentümerstrukturen. ganz erheblichen Teil auf Fragen der Verbesserung der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eigenkapitalausstattung der deutschen Aktiengesell- der CDU/CSU) schaften. Dass es hiermit am Ende nicht ganz so eilig war, wie es am Anfang schien, hängt damit zusammen, Der zweite Aspekt, den ich ansprechen will, betrifft dass die Finanz- und Bankenkrise überwunden wurde die Stichtagsregelung, den sogenannten Record Date. und wir es mit vielen anderen Maßnahmen geschafft Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13329

Dr. Heribert Hirte (A) haben, die damit verbundenen Probleme erst einmal in wann sie solche Berichte weitergeben können und dür- (C) den Griff zu bekommen. fen. Wir fügen jetzt in diesem Bereich ein weiteres Puzzle- In einem Punkt bin ich völlig anderer Meinung als Sie: teil ein. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt. Es geht um Die Verschwiegenheitspflicht bleibt bestehen, und da be- die Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der Unter- darf es auch keiner Klarstellung; denn es ist selbstver- nehmen. Dabei muss man in Erinnerung rufen: Eigenka- ständlich, dass Angelegenheiten des Aufsichtsrates an- pital ist, was die Finanzierung von Unternehmen angeht, schließend nicht öffentlich in irgendeinem Gemeinderat der Puffer, der die Verluste auffängt, wenn es zu einer diskutiert werden können. Das stünde aktienrechtlichen Krise kommt. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier zur Prinzipien entgegen. Stärkung des Eigenkapitals beitragen. Ein letzter Punkt: Vorstandsvergütungen. Sie sagen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wir hätten diesbezüglich noch einiges tun müssen. Wir der SPD) haben das in der letzten Legislaturperiode getan. Sie Wir tun das insbesondere bei Kreditinstituten, bei Ban- haben dadurch, dass Sie den Vermittlungsausschuss an- ken, und zwar in zwei Bereichen. gerufen haben, blockiert und damit verhindert, dass die Änderung, die wir am Ende der letzten Legislaturperiode Zum einen geht es – Kollege Fechner hat es ein- vorgeschlagen haben, Gesetz werden konnte. Deshalb gangs schon angesprochen – um die Vorzugsaktien ohne können Sie jetzt guten Gewissens zustimmen. Ich hoffe Stimmrecht. Solche Aktien kann man ausgeben. Jemand, auch auf die Zustimmung aller anderen zu dem Gesetz- der ein bisschen mehr Dividende bekommen oder sie ein entwurf. bisschen schneller bekommen will als andere – wir stel- len klar, dass beides möglich ist –, darf nicht abstimmen, Vielen Dank. wenn die entsprechenden Vorzüge gezahlt wurden. Im (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Augenblick ist es so: Um ein Aufheben des Stimmrechts zu vermeiden, muss der Vorzug nachgezahlt werden.

Die Vorzugsaktien werden dann im Bankenaufsichts- Vizepräsidentin Petra Pau: recht nicht als sogenanntes regulatorisches Eigenkapital Ich schließe die Aussprache. angesehen, wie es der Kollege Fechner eben zu Recht Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- bezeichnet hat. Das heißt, hier haben wir – nach unse- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung rer Vorstellung – Eigenkapitaltitel, die trotzdem nicht als des Aktiengesetzes. Der Ausschuss für Recht und Ver- Bankeigenkapital angesehen werden. Wir ändern das und braucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- sagen: Der Vorzug muss nicht mehr nachgezahlt werden. (B) schlussempfehlung auf Drucksache 18/6681, den Gesetz- (D) Das ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Bankenbi- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4349 in lanzen. der Ausschussfassung anzunehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Wir machen in diesem Zusammenhang einen zwei- Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim- ten Schritt, nämlich im Bereich der sogenannten Wan- men. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- del- und Optionsanleihen. Was ist das? Unternehmen, sache 18/6690? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält insbesondere Banken, können Anleihen ausgeben; das ist sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Fremdkapital. Bisher ist es jedenfalls nach dem Geset- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositi- zestext so, dass es die Gläubiger in der Hand haben, zu onsfraktionen abgelehnt. irgendeinem Zeitpunkt zu sagen: Wir switchen rüber, wir Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- wandeln um und werden dann zu Aktionären. – Aber im sache 18/6691? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Hinblick auf die Stärkung der Solvenz der Gesellschaften sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der wäre es wichtig, das dann zu machen, wenn die Banken CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die es brauchen. Deshalb drehen wir das Wahlrecht jetzt um: Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Wir schaffen die Möglichkeit, dass auch die Gesellschaf- Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. ten, vor allen Dingen die Kreditinstitute, dafür sorgen können, dass die Gläubiger dann, wenn es nötig ist, wenn Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der die Aufsichtsbehörden es erzwingen oder verlangen, auf Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- die Seite des Eigenkapitals geholt werden. Auch das ist chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Solvenz unserer Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Banken. Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dritte Beratung Damit komme ich zu einigen kleineren Punkten. Einer und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der Detailpunkte – Frau Keul hat es angesprochen – ist Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – die Frage, wie Aufsichtsratsmitglieder, die von öffent- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- lich-rechtlichen Körperschaften entsandt sind, ihrerseits entwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und Bericht erstatten können. Wir machen auch hier einen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke wichtigen Schritt nach vorne, indem wir klarstellen, und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. 13330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf es schafft und ihm sich keiner in den Weg stellt, die De- (C) Drucksache 18/6681 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- batte eröffnet. Ich ging davon aus, dass der Minister nach schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlus- der Grußformel der Kollegin Brugger hereineilt. Das ist sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält ihm offensichtlich nicht gelungen. Ich bitte Sie, Kollegin sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- Brugger, um Entschuldigung dafür, dass das jetzt so ist, nommen. wie es ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Ich unterbreche die Sitzung, bis der Herr Bundesmi- nister hier im Saal ist, Beratung des Antrags der Abgeordneten ­Agnieszka Brugger, Katja Keul, Katharina (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ­Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Max Straubinger [CDU/CSU]: Der ist gar BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht zitiert worden!) Panzerlieferung nach Katar sofort stoppen und eröffne die Debatte dann neu. Drucksache 18/6647 (Unterbrechung von 18.11 bis 18.19 Uhr) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Vizepräsidentin Petra Pau: nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Es wird eine Umbesetzung in der Redeliste geben. gin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Das heißt, die SPD-Fraktion wird in dieser Debatte als Grünen. Redner den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Beckmeyer benennen, er wird als Zweiter sprechen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – ­Renate NEN): Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Waffen­ Wer hat denn die Mehrheit im Haushaltsaus- exporte seien ein „Geschäft mit dem Tod“. Es ist „eine schuss?) Schande“, dass Deutschland der drittgrößte Waffenliefe- rant dieser Welt ist. Das waren nicht etwa die Aussagen Es ist eine ungewöhnliche Praxis, dass das jetzt von hier der Opposition, sondern das waren die Worte des in der vorne verkündet wird, aber wir wollen jetzt nicht noch Bundesregierung dafür zuständigen Ministers, des Wirt- mehr Zeitverzug durch eine Übermittlung all der techni- (B) schaftsministers Sigmar Gabriel. schen Daten. (D) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und NEN]: Wo ist der eigentlich?) der SPD) Herr Gabriel hat damit die Hoffnung geweckt, dass sich Die Debatte ist eröffnet. Das Wort hat die Kollegin in der Rüstungsexportpolitik endlich wirklich etwas än- Agnieszka Brugger. dern würde. Nach zwei Jahren muss man bei einer nüch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ternen Betrachtung seiner Bilanz sagen: Sigmar Gabriel hat da versagt. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): und bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜND- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Waf- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist gar nicht da!) fenexporte seien ein Geschäft mit dem Tod; es sei eine Es gibt eine Reihe von Beispielen, die zeigen, dass Schande, dass Deutschland der drittgrößte Waffenliefe- eine große Lücke klafft zwischen den schönen, markigen rant der Welt ist. Ankündigungen und der hässlichen Realität. Nehmen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute das Beispiel „Panzerlieferungen nach Katar“. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE Das ist keine Aussage, die aus einer Rede der Linken oder GRÜNEN] meldet sich zur Geschäftsord- der Grünen hier im Bundestag stammt, sondern das hat nung) der für Rüstungsexporte federführende Minister ­Sigmar Gabriel nach Amtsantritt gesagt. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollegin Brugger, ich bitte Sie einen kleinen Moment um Geduld. Frau Kollegin Haßelmann, Sie müssen den Er hat damit die Hoffnung geweckt, dass sich bei der Antrag zur Geschäftsordnung gar nicht stellen. Ich habe Rüstungsexportpolitik endlich wirklich etwas ändern vor, die Sitzung zu unterbrechen. könnte und würde. Nach zwei Jahren muss man, wenn man nüchtern seine Bilanz betrachtet, feststellen: Sigmar Zur Klarstellung für alle Kolleginnen und Kollegen: Gabriel hat da eindeutig versagt. Uns erreichte vor wenigen Minuten die Nachricht, dass der Minister auf dem Weg aus dem Haushaltsausschuss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hierher ist. Deshalb habe ich im Vertrauen darauf, dass er und bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13331

Agnieszka Brugger (A) Es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, dass eine sehr es ist sicherheitspolitisch wahnwitzig und verantwor- (C) große Lücke klafft zwischen dem, was er schön und mar- tungslos. kig ankündigt, und dem, was die hässliche Realität ist. Heute beschäftigen wir uns mit den Panzerlieferungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach Katar. Sigmar Gabriel hat 2014 bei seiner großen und bei der LINKEN) Rüstungsexportrede vor der DGAP – das war, wohlge- Der Stopp der Rüstungsexporte nach Russland im merkt, vor dem Jemen-Krieg – gesagt, Panzerlieferungen letzten Jahr hat ja gezeigt, dass es möglich ist, wenn der in den arabischen Raum seien nicht zu rechtfertigen. Nun politische Wille dazu da ist. Aber offensichtlich hatte hätte er die Chance gehabt, seine Worte wahrzumachen die Bundesregierung nicht den politischen Willen dazu, und diesen Panzerdeal zu stoppen, den Schwarz-Gelb und offensichtlich konnte sich auch Vizekanzler Sigmar 2013 auf den Weg gebracht hat. Das hat er aber nicht ­Gabriel hier nicht durchsetzen. gemacht. Da fragt man sich schon: Gilt sein Wort noch, oder hat er seine Meinung geändert? Meine Damen und Herren, es ist schlimm genug, dass der Panzerhersteller bei Rücknahme der Genehmigung Meine Damen und Herren, statt die Genehmigung zu für diesen Waffendeal mit deutschem Steuergeld entschä- versagen, kam es dann zu einem sehr ungewöhnlichen digt werden müsste. Aber das ist immer noch besser, als Vorgang. Wir Abgeordnete haben aus der Süddeutschen sich durch die Lieferung von deutschen Waffen an der Zeitung erfahren, dass uns in den nächsten Tagen ein Aufrüstungsspirale und der Gewalt im Nahen und Mittle- Brief aus dem Wirtschaftsministerium zugeht. Ich über- ren Osten mitschuldig zu machen. Sigmar Gabriel sollte spitze das jetzt ein bisschen, aber sinngemäß stand da vielleicht weniger Reden schwingen und weniger schöne drin, man hätte die Genehmigung zur Auslieferung ver- Worte machen, er sollte vielmehr in den zwei Jahren da- sagen können, aber das Auswärtige Amt, geführt von für sorgen, dass endlich Schluss ist mit einer Rüstungsex- Herrn Steinmeier, und das Bundeskanzleramt seien da- portpolitik, die Frieden, Sicherheit und Menschenrechte gegen gewesen, Sigmar Gabriel schon irgendwie dafür. immer wieder den Gewinninteressen einzelner deutscher Dann wird in dem Brief noch darauf hingewiesen, dass Waffenkonzerne opfert. es in diesem Zusammenhang auch sehr hohe Schadens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ersatzforderungen gegeben hätte. Ich finde, so einfach sowie bei Abgeordneten der LINKEN) kann Herr Gabriel sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe (B) und bei der LINKEN) Beckmeyer. (D) Meine Damen und Herren, die deutschen Gesetze (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sehen vor, dass die Exportgenehmigung für Kriegswaf- fen jederzeit widerrufen werden kann. Sie ist sogar zu widerrufen, wenn die Gefahr besteht, dass diese Waffen Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundes- bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere ei- minister für Wirtschaft und Energie: nem Angriffskrieg verwendet werden. Da fragt man sich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schon – diese Frage würde ich gerne Herrn Gabriel stel- Herren! Kaum ein Thema bewegt die beunruhigten Bür- len, aber auch den anderen Kolleginnen und Kollegen gerinnen und Bürger zurzeit stärker als die Flucht von aus dem Kabinett, die im Bundessicherheitsrat sind –: Millionen von Menschen aus einigen Kriegs- und Kri- Was kann denn mehr darunterfallen, als wenn ein Land senregionen. In dieser Situation ist es unverantwortlich, Teil einer von Saudi-Arabien geführten Kriegsallianz mit falschen Behauptungen Stimmung zu machen. Dazu wird, die den Jemen in die Steinzeit zurückbombt? gehört auch der Vorwurf an die Bundesregierung, sie tra- ge mit Waffenlieferungen zur Verstärkung von Krisen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und zur Flucht von vielen Menschen bei. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Bundesminister Sigmar Gabriel betritt den Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Plenarsaal – Unruhe) was hat es mit Sicherheitspolitik zu tun, wenn Deutsch- land Panzer an einen Staat liefert, der für die grausame Vizepräsidentin Petra Pau: Gewalt im Jemen mitverantwortlich ist und gerade ange- kündigt hat, mit noch mehr Bodentruppen hineingehen Ich habe jetzt erst einmal die Uhr angehalten, Herr zu wollen? Was hat es mit Sicherheitspolitik zu tun, ei- Beckmeyer. Ihnen geht jetzt also keine wertvolle Rede- nem Staat deutsche Waffen zu liefern, der billigend dabei zeit verloren. zuschaut, wenn einflussreiche Personen aus dem Land Selten ist ein Bundesminister mit so viel Freude und heraus den ISIS-Terror finanziell unterstützen? Was hat durch ein so zahlreich herbeigeeiltes Auditorium frakti- es mit Menschenrechtspolitik zu tun, wenn man mit Ka- onsübergreifend begrüßt worden. tar ein Land beliefert, das eine verheerende Menschen- rechtsbilanz hat? Ich finde, das sind drei sehr gravierende (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gründe, dieses schmutzige Geschäft zu verhindern; denn der SPD) 13332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundes- nun dafür in Misskredit gebracht werden, weil ihr der (C) minister für Wirtschaft und Energie: Vollzug und die Berichterstattung darüber obliegen. Herr Minister, bitte übernehmen Sie! Der Bundesminister für Wirtschaft selbst, denke ich, hätte die Genehmigung für die Lieferung nach Katar ak- Vizepräsidentin Petra Pau: tuell nicht erteilt. Er hat innerhalb der Bundesregierung Sie bleiben jetzt bitte am Redepult, Kollege erneut eine Abstimmung zu diesem Fall angestoßen, um ­Beckmeyer. Wir üben hier jetzt sicherlich ein ungewöhn- zu klären, ob die Entscheidung der Vorgängerregierung liches Format, aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass aufrechterhalten werden soll. Dabei wurden im Rah- wir uns mit diesem Thema auch im Weiteren wieder im men der maßgeblichen außen- und auch sicherheitspo- Plenum beschäftigen. Ich appelliere an die natürlich sehr litischen Bewertung die Gründe abgewogen, die für und wichtigen Mitglieder des Haushaltsausschusses, bei der gegen einen Export der Waffen sprechen. Ebenso wurde Neuauflage dieser Debatte Rücksicht auf die Interessen berücksichtigt, dass sich das exportierende Unternehmen des Plenums zu nehmen, dieses Thema hier entsprechend im Vertrauen auf die Genehmigung vertraglich gebunden zu behandeln und auch entsprechende Investitionen für die Produktion getätigt hat. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Uns kom- geordneten der CDU/CSU) men die Tränen!) und es dem Herrn Bundesminister zu ermöglichen, hier – Dann nehmen Sie ein Taschentuch. beim nächsten Mal darüber zu sprechen, wozu er natür- lich das Recht hat. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, und jetzt hat Herr Beckmeyer das Nach intensiver Erörterung ist die Bundesregierung zu Wort!) dem Ergebnis gekommen, dass die Lieferungen weiter- hin außen- und auch sicherheitspolitisch zu rechtfertigen Ich denke, es ist für alle ein großer Gewinn, wenn wir sind. jetzt dem Kollegen Beckmeyer nicht nur zu Ende lau- schen, sondern wenn auch der Herr Bundesminister das (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- zur Vertiefung dieser Debatte und dieses Themas mit- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!) nimmt, was hier zu diesem Tagesordnungspunkt gesagt Hier geht es nicht zuletzt auch um die Verlässlichkeit wird. Deutschlands im Hinblick auf einmal getroffene Ent- (B) (D) (Sigmar Gabriel, Bundesminister: Mal sehen, scheidungen, gerade wenn andere Nationen darin beson- ob das stimmt, was er sagt!) deres Vertrauen gesetzt haben. Bitte. (Zuruf von der LINKEN) Allerdings war für das Bundesministerium dabei ent- Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundes- scheidend, dass wir eine Zusicherung der katarischen minister für Wirtschaft und Energie: Regierung erhalten, dass gelieferte Panzer nicht in den Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir finden aktuellen Krisenherden der Region, besonders im Jemen, es böswillig, den Eindruck zu erwecken, die Bundesre- eingesetzt werden. gierung bewerte den Profit von Waffenherstellern höher (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE als die politische Stabilität in den Krisenregionen dieser GRÜNEN]: Jetzt bin ich aber beruhigt! – Wei- Welt. tere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der NEN) CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Aber Diese Zusicherung haben wir auch erhalten. leider ist das wahr!) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir, diese Bundesregierung und ich – das will ich an Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE dieser Stelle auch sagen –, ärgern uns schon darüber, dass GRÜNEN]: Am 09.11. haben Sie die erhal- aktuell immer noch Ausfuhrgenehmigungen von Vorgän- ten! – Weitere Zurufe von der LINKEN und gerregierungen mitzutragen sind, die erst jetzt zur Ab- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wicklung kommen. Das betrifft unter anderem auch die Panzerlieferungen nach Katar. Dieser Fall zeigt deutlich, wie die Genehmigungspra- xis der alten Bundesregierung heute noch fortwirkt und Die Vorgängerregierung hat bereits im Jahr 2012 rechtliche Bindungen für die Zukunft erzeugt. Deshalb politisch über die Lieferung nach Katar entschieden hat sich der Bundesminister für Wirtschaft in seiner und im Jahr 2013 auch die Genehmigung nach dem Amtszeit immer dafür starkgemacht, dass die aktuelle Kriegswaffenkontrollgesetz für die Ausfuhr von 62 Le- Bundesregierung eine restriktive Rüstungsexportpolitik opard-2-Kampfpanzern und 24 Panzerhaubitzen sowie auch in der Praxis lebt. entsprechender Munition erteilt. Über diesen Fall wur- de also von der Vorgängerregierung politisch, aber auch (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE rechtlich entschieden. Die aktuelle Bundesregierung soll GRÜNEN]: Das haben wir ja jetzt erlebt!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13333

Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer (A) Lassen Sie mich exemplarisch auf die Verabschiedung Ihr zentrales Argument ist: Ich habe es gar nicht ge- (C) der Kleinwaffengrundsätze und die geplante Einführung nehmigt, es war die Vorgängerregierung, und es hätte von Post-Shipment-Kontrollen hinweisen, womit das sonst Schadensersatz gezahlt werden müssen. Das ist Bundesministerium für Wirtschaft ein Zeichen in diesem der entscheidende Punkt. Es geht hier um Geld und nur Sinne gesetzt hat. um Geld. Ihr Argument ist: Es gibt für jeden Export von Kriegswaffen zwei Genehmigungen. Die eine hat die Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Vorgängerregierung – noch mit der FDP – erteilt; das ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – richtig. Aber die zweite Genehmigung haben Sie jetzt er- Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Warum teilt. Und Ihre lauwarme Entschuldigung ist: Wenn ich tun Sie sich diese Rede an?) sie nicht erteilt hätte, hätte es eine Schadensersatzforde- rung der Firma gegeben. – Dazu möchte ich Ihnen jetzt zwei Dinge sagen: Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Jan van Aken für die Frak- Erstens. Na und? Herr Gabriel, wo ist das Problem? tion Die Linke. Wenn es eine Schadensersatzforderung der Panzerbauer gibt, dann sollen die Panzerbauer doch klagen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jan van Aken (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Und wenn am Ende wirklich Schadensersatz gezahlt Gabriel, die Rede war super vorgetragen, aber inhaltlich werden muss, dann ist es eben so. Denn eines ist doch echt schwach. klar: Irgendwer wird hier verlieren. Entweder verlieren wir eine Stange Geld, oder die Menschen im Jemen ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lieren ihr Leben. Und ich fasse es nicht, dass Sie sich sowie bei Abgeordneten der LINKEN) für das Geld entschieden haben. Das, Herr Gabriel, ist unmoralisch! Sie haben sagen lassen, Sie hätten diese Genehmigung für Panzerlieferungen nach Katar nicht erteilt. Ich sage (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ihnen: Sie haben sie aber erteilt, egal mit welcher Ent- NIS 90/DIE GRÜNEN) schuldigung Sie uns jetzt hier plattreden wollen. Zweitens. Was ist das für ein System, in dem Sie eine (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Waffenexportgenehmigung, die ja noch nicht einmal ab- (B) NIS 90/DIE GRÜNEN) schließend war – vielmehr war ja nur der erste Teil ge- (D) Es bleibt dabei: Sie haben eine Panzerlieferung nach Ka- nehmigt –, nicht mehr widerrufen können? Das ist doch tar genehmigt. ein schlechter Witz. Die Panzerfirma hat sich ihre Kun- den selbst ausgesucht. Es ist doch die Schuld der Panzer- (Zuruf von der CDU/CSU: Gut so!) firma, sich eine Diktatur als Kunden auszusuchen. Wenn dann der Diktator einen Krieg anfängt, dann muss es Das ist genau der gleiche Sigmar Gabriel, der noch vor doch möglich sein, dass eine deutsche Bundesregierung einem Jahr wörtlich hier in Berlin vor der gesamten eine Genehmigung zurückzieht. Hauptstadtpresse gesagt hat, dass sich die Lieferung von Leopard-Panzern in den arabischen Raum – ich zitie- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- re – „nicht rechtfertigen ließe“. Da haben Sie recht, Herr NIS 90/DIE GRÜNEN) Gabriel. Wenn es heute tatsächlich so ist – ich weiß es nicht; (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ich bin Biologe, kein Anwalt –, dass eine deutsche Bun- NIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung in diesem Fall Schadensersatz zahlen müss- te, dann ändern Sie die Kriegswaffenexportgesetze. Diese Lieferung ist durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Sie war vor einem Jahr schon falsch, und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sie wissen, dass sie heute noch viel falscher ist; denn neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Katar ist das Land, das jetzt auch mit deutschen Waffen den Jemen zurück in die Steinzeit bomben will, das im Es kann doch nicht wahr sein, dass es ein Recht darauf Jemen jetzt möglicherweise auch mit deutschen Waffen gibt, Waffen in einen Krieg zu liefern, dass man eine die Menschen, die Zivilisten angreift, vernichtet, ver- Entscheidung nicht rückgängig machen kann, auch wenn treibt und verletzt. Das haben Sie mit zu verantworten, sich Jahre später die politische Situation ändert. Die Bun- wenn Sie das jetzt genehmigen. Deutlicher kann man desregierung muss immer das Recht und die Möglichkeit doch gar nicht zeigen, dass, wenn ein Minister sagt, er haben, eine Waffenexportgenehmigung zu widerrufen: finde es falsch, und es trotzdem genehmigt, das gesamte zu jedem Zeitpunkt – Punkt, aus, Ende – und ohne jede System der Waffenexportkontrolle in Deutschland über- Zahlung. haupt nicht funktioniert. Sonst hätten Sie es jetzt nicht genehmigt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Ihnen feh- NIS 90/DIE GRÜNEN) len juristische Kenntnisse!) 13334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Jan van Aken (A) Im Übrigen bin ich der Meinung – das wissen Sie hatten. Dies haben wir im Bundessicherheitsrat bespro- (C) mittlerweile –, dass Deutschland überhaupt keine Waffen chen. exportieren sollte. Aber eines ist an diesem Fall völlig klar geworden: dass Ihr System der Waffenexportkon­ Ich weise ausdrücklich zurück, dass dabei Geldfra- trolle nicht funktioniert. Sie müssen endlich einsehen, so gen eine Rolle gespielt haben. Die Möglichkeit, eine wie das mittlerweile auch die Grünen erkannt haben, Entscheidung nach dem KWKG zurückzunehmen, ist durchaus vorgesehen. Wir handeln auch nicht auf der (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Grundlage von rot-grünen Erlassen oder Verordnungen, NEN) sondern es gibt zwei Gesetze, nach denen wir handeln. Diese Möglichkeit hätte sich dann ergeben, wenn sich dass dieses Exportkontrollsystem der rot-grünen Koali- zwischen dem Genehmigungszeitpunkt, also 2013, und tion so nicht funktioniert. Wenn Sie die Zahl der Waf- heute die Lage grundsätzlich geändert hätte. fenexporte wirklich reduzieren wollen – ich glaube, Sie wollen das –, dann müssen Sie punktuelle Exportverbote (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE erlassen. Daran führt kein Weg vorbei. GRÜNEN]: Hört! Hört!) Danke. Das hat sie trotz der Situation im Jemen nicht, weil Ihre Behauptungen über die Aktivitäten Katars im Jemen nicht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- der Realität entsprechen. Wir haben das geprüft. Hätte es neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hier eine Möglichkeit gegeben, dann hätten wir versucht, diese KWKG-Genehmigung rückgängig zu machen. Vizepräsidentin Petra Pau: Sigmar Gabriel hat für eine Kurzintervention das Sie mögen eine andere rechtliche Beurteilung haben; Wort. das steht Ihnen frei. Aber dann müssen wir uns über rechtliche Beurteilungen unterhalten. Die Unterstellung, die Bundesregierung oder wir hätten aus finanziellen Er- Sigmar Gabriel (SPD): wägungen die Genehmigung nicht rückgängig gemacht, Frau Präsidentin! Herr Kollege van Aken, ich will nur ist sachlich falsch. die Behauptung zurückweisen, dass diese Entscheidung etwas mit Schadensersatzklagen zu tun hatte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das wäre ja noch schlimmer!) Vizepräsidentin Petra Pau: Richtig ist, dass es eine nach dem Kriegswaffenkontroll- (B) Zur Erwiderung hat der Kollege Jan van Aken das (D) gesetz geltende Ausfuhrgenehmigung gibt, die von der Wort. alten Bundesregierung erteilt wurde. Diese Genehmi- gung gilt fort. Jan van Aken (DIE LINKE): (Zuruf von der LINKEN: Die kann man zu- Tja, Herr Gabriel, was soll ich jetzt glauben? Ich höre rückziehen!) Ihnen zu und bin sogar versucht, Ihnen zu glauben. Ich – Nein, diese kann man eben nicht einfach zurückziehen. habe hier in der Hand aber einen Brief, den Ihr Staats- Dazu müssen Sie erst einen Beschluss fassen, den wir sekretär, Herr Machnig, uns allen am 22. Oktober 2015 nicht gefasst haben. geschrieben hat. (Widerspruch bei der LINKEN) (Sigmar Gabriel [SPD]: Das hat auch eine Rolle gespielt!) Vizepräsidentin Petra Pau: Da steht auf Seite 2, zweiter Absatz – ich zitiere –: Zurzeit hat überwiegend Sigmar Gabriel das Wort. Im Rahmen dieses Prozesses waren allerdings eini- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU ge Ressorts trotz der veränderten politischen Rah- und der SPD) menbedingungen nicht bereit, vor allem aus rechtli- chen Gründen und Danach hat der Kollege Jan van Aken die Möglichkeit, auf diese Kurzintervention zu reagieren. Dann geht es in – hören Sie zu – der Debatte weiter. Ich bitte, das so zu respektieren. den damit verbundenen Schadenersatzansprüchen, die KWKG-Genehmigung zu widerrufen. Sigmar Gabriel (SPD): Wenn jetzt Herr Gabriel hier behauptet, das hat mit Also, die gesamte Argumentation, Herr van Aken, es Geld nichts zu tun, dann lügt entweder er jetzt, oder Herr stehe die Androhung einer Schadensersatzklage ins Haus Machnig hat mich vor zwei Wochen angelogen. Ent- und deswegen hätten wir nicht entschieden, ist sachlich scheiden Sie sich! falsch. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Wir haben entschieden, weil wir eine rechtliche Be- NIS 90/DIE GRÜNEN) urteilung vorgenommen haben, nämlich dass die Geneh- migung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz nachwirkt Es gab in Ihrem Beitrag gerade auch einen zweiten und dass wir deshalb die AWG-Genehmigung zu erteilen sachlichen Fehler. Denn – Sie haben völlig recht – es gibt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13335

Jan van Aken (A) zwei Genehmigungen. Das eine ist die Genehmigung soll Schaden vom deutschen Volk abwenden. Das ist der (C) nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz. Sie war erteilt. Hintergrund. Mit einer KWKG-Genehmigung alleine darf niemand eine Kriegswaffe ausführen. Das reicht nicht für eine (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ausfuhr, Herr Gabriel. Man braucht immer noch eine Sie unterstellen eine moralische Illegitimität des Ver- zweite Genehmigung. Das ist die Genehmigung nach fahrens wegen einer Angst vor Schadensersatzforderun- dem Außenwirtschaftsgesetz. Diese Genehmigung lag gen. Ich wiederhole – Sie mögen eine andere Auffassung nicht vor. Das heißt, wenn Sie keine KWKG-Geneh- haben –: Wir waren an die alte KWKG-Genehmigung migung erteilt hätten, hätte die Panzerfirma gar nichts gebunden. machen können. Insofern hätte auch nichts widerrufen werden müssen. Sie hätten einfach gar nichts zu tun brau- Übrigens ist auch Ihre Darstellung falsch, eine chen, aber dazu waren Sie nicht in der Lage, weil es auch AWG-Genehmigung könne sozusagen völlig frei entzo- um Schadensersatzansprüche ging. Damit haben Sie eine gen werden. Wir hätten vielmehr die KWKG-Genehmi- ganz schwache Leistung hingelegt, Herr Gabriel. gung zurückziehen müssen, um die AWG-Genehmigung neu verweigern zu können. Dazu sahen wir uns rechtlich (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nicht in der Lage. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum geht es dann bei Russ-

Vizepräsidentin Petra Pau: land?) Wir machen anders weiter als bisher geplant, aber ganz streng nach unserer Geschäftsordnung und nach Recht Deswegen haben wir das so gemacht. Ich finde, das muss und Gesetz. Nach unserer Geschäftsordnung haben Mit- man sauber erklären und darf nicht den Eindruck erwe- glieder der Bundesregierung jederzeit die Möglichkeit cken, wir würden sozusagen aus Angst vor der Rüstungs- und das Recht, sich zu Wort zu melden. industrie den Schwanz einziehen. Darum ging es nicht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich will nur für alle Beteiligten ganz klar erklären, was jetzt hier geschieht. sondern es ging darum: Im Kern hat die alte Regierung Das liegt nicht im Ermessen, sondern ist ganz klar ge- eine Entscheidung getroffen, die aus meiner Sicht falsch regelt. Danach wird es nicht nur für den noch vorgese- war. Aber so ist das nun einmal: Man ist dann rechtlich henen Redner der CDU/CSU-Fraktion, sondern für alle gebunden. (B) (D) Fraktionen die Möglichkeit geben, sich auch dazu ent- Übrigens bin ich auch in der Lage, noch ein paar an- sprechend zu verhalten. Wir werden dann mit den Par- dere Entscheidungen früherer Regierungen zum Beispiel lamentarischen Geschäftsführern klären, wie die zweite zum Thema Kleinwaffen zu erläutern, bei denen wir Runde abläuft. bis heute versuchen, uns zu weigern, sie zu vollziehen. Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel. Daran waren Sie nicht beteiligt, aber der Antragsteller beispielsweise bei einer Viertelmillion G36 nach Sau- di-Arabien. Auch da versuchen wir, das zu verhindern, Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und was Vorgängerregierungen – im Jahr 2003 leider auch Energie: mit Beteiligung meiner Partei – auf den Weg gebracht Herr Kollege van Aken, ich werde jetzt notfalls von haben. Aber rechtlich sauber muss sich jede Regierung dem Recht, aber ich glaube, auch der Pflicht der Bundes- verhalten, ob es einem politisch passt oder nicht. regierung Gebrauch machen, jeweils dann zu intervenie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ren und mich in dieser Debatte zu Wort zu melden, wenn Sie aus meiner Sicht die Tatsachen verdrehen. Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben den Brief korrekt vorgelesen. Darin steht: Die Bundesregierung war der Überzeugung, dass es Damit für alle durchsichtig ist, wie wir weiter ver- rechtswidrig gewesen wäre, die KWKG-Genehmigung fahren: Ganz planmäßig hat jetzt gleich der Kollege zu widerrufen. Es ging um Schadensersatzforderungen Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion das wegen eines rechtswidrigen Verhaltens. Das ist etwas Wort. Danach werden die anderen Fraktionen die Mög- völlig anderes, als zu sagen: Ihr habt Angst vor Scha- lichkeit haben, auf den Minister zu reagieren, und zwar densersatzansprüchen gehabt; deswegen habt ihr das mit jeweils maximal vier Minuten Redezeit. nicht gemacht. Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion. Eine Regierung wird doch wohl noch über die Fra- ge reden müssen, Herr van Aken, ob sich eine Entschei- (Beifall bei der CDU/CSU) dung rechtmäßig vollziehen lässt oder nicht. Wenn man als Regierungsmitglied oder als Bundesregierung weiß, dass man eine rechtswidrige Entscheidung trifft und da- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): raus ein Schadensersatzanspruch erwächst, dann aller- Danke, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Da- dings verstößt man gegen seinen Amtseid. Denn man men und Herren! Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass 13336 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Klaus-Peter Willsch (A) der Minister das noch einmal klarstellen konnte. Damit xis für Drittländer können legitime Sicherheitsinteressen (C) sind diesbezüglich alle Punkte aus der Welt. solcher Länder im Einzelfall für die Genehmigung einer Ausfuhr sprechen. Ich erinnere an die Diskussion, die wir (Widerspruch bei der LINKEN) über die Küstensicherung geführt haben. Es ist das legiti- Ich will vor allen Dingen für die Zuschauer, die uns me Recht eines jeden Staates, seine Küste zu sichern und hier und vor dem Fernseher zuhören, deutlich machen, damit einen Beitrag gegen Piraterie zu leisten, um einmal dass die Welt eben nicht nur schwarz-weiß ist und dass es ein sehr fassbares Beispiel zu nennen. Weitere Beispiele entgegen dem Eindruck, den Sie von den Grünen und der sind die Bekämpfung des internationalen Drogenhan- Linken zu erwecken versuchen, keinesfalls so einfach ist, dels, die Abwehr von Terrorismus sowie das Interesse der als ob man mit Plastikeimerchen oder Speisekartoffeln Staatengemeinschaft an der Freihaltung von Seewegen. handelte. Vielmehr ist alles bei uns hochgradig reguliert. Zum konkreten Fall: Im März 2013 – das wurde schon Rüstungsexportpolitik ist bei uns rechtlich einwandfrei angesprochen – hat die Bundesregierung unter Beach- geregelt. tung der erwähnten Grundsätze eine Ausfuhrgenehmi- Wie ist das geregelt? Dem Ganzen liegen die Politi- gung für 62 Leopard-2-Panzer und 24 Panzerhaubitzen schen Grundsätze der Bundesregierung für den Export nach Katar erteilt, Auftragswert 2 Milliarden Euro. Die von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in der erste Tranche wurde jüngst ausgeliefert. aktuellen Fassung vom 19. Januar 2000 zugrunde. Kanz- ler war zu diesem Zeitpunkt Gerhard Schröder; der Au- Rüstungsexporte sind dabei kein Mittel der Wirt- ßenminister war Joseph Fischer. Jede Rüstungsexport- schaftspolitik, sondern eher ein außenpolitisches Inst- genehmigung ist eine Einzelfallentscheidung. Gemäß rument. Vermeintliche Schadensersatzansprüche – das Außenwirtschaftsgesetz und Außenwirtschaftsverord- hat der Minister deutlich gemacht – treten hier gegen- nung ist die Ausfuhr aller Rüstungsgüter genehmigungs- über den sicherheitspolitischen Erwägungen zurück. Das pflichtig. Rüstungsexporte werden grundsätzlich nicht zeigt doch der Fall Russland. Die Auslieferung des Ge- genehmigt, wenn der hinreichende Verdacht besteht, fechtsübungszentrums für Russland ist gestoppt worden, dass mit den Rüstungsgütern interne Repressionen oder unbeschadet der Möglichkeit von Schadensersatzforde- sonstige Menschenrechtsverletzungen verübt werden; rungen, weil die erneute Beurteilung der sicherheitspoli- das zeigt auch der Prozess, der gerade geschildert wurde. tischen Lage dazu Anlass gegeben hat. Die Prüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von Die erneute Überprüfung, die seitens des Wirtschafts- Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern obliegen ministeriums angestoßen wurde, führte dazu, dass im dem Bundessicherheitsrat, der geheim tagt. Den Vorsitz Ergebnis die Genehmigung erteilt wird. Es handelt sich (B) hat die Bundeskanzlerin inne. Weiterhin gehören dem bei Katar natürlich nicht um eine Demokratie rechtsstaat- (D) Sicherheitsrat der Vizekanzler, die Minister der Vertei- licher Prägung; das wissen wir nun alle. Aber es handelt digung, des Auswärtigen, des Innern, der Justiz, der Fi- sich nicht um einen Schurkenstaat. Die deutsch-katari- nanzen, für Wirtschaft und Energie, für wirtschaftliche schen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der Chef des kultureller Ebene sind traditionell gut. Es gab hochrangi- Bundeskanzleramts an. Der Regierungssprecher und der ge Staatsbesuche in beide Richtungen in den zurücklie- Generalinspekteur der Bundeswehr nehmen ebenfalls an genden Jahren. Die Bundeskanzlerin war in Katar, um- den Sitzungen dieses Rates teil. Weitere Mitglieder der gekehrt sind wir hier vom Emir im April 2013 besucht Bundesregierung oder andere Personen können hinzu- worden. Zuletzt besuchte der katarische Außenminister gezogen werden. Das alles zeigt – genauso wie dieser Khalid bin Mohammed Al-Attiyah im August 2013 und erneute Abwägungsprozess –, dass der Sachverhalt von im März 2014 Berlin. Bundeswirtschaftsminister ­Gabriel allen Seiten beleuchtet und nicht nur eindimensional be- war im März dieses Jahres zu Besuch in Katar. Erst im trachtet wird. Vielmehr wird die Angelegenheit als Gan- September war das katarische Staatsoberhaupt Emir zes in ihrer sicherheitspolitischen, außenpolitischen und Scheich Tamim in Deutschland und führte Gespräche mit technologiepolitischen Dimension beleuchtet. Daraufhin dem Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin. wird eine verantwortliche Entscheidung gefällt. Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes – das ist Die Ausfuhrgenehmigung ist kein formeller Akt. Es Teil dieser Gesamtabwägung, die hier vorgenommen besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Ausfuhrge- worden ist – heißt es nicht umsonst: nehmigung bei Kriegswaffen. Vielmehr sind zahlreiche Aufgrund seiner engagierten Außenpolitik ist Ka- Gesetze und Vereinbarungen zu beachten; diese wurden tar auch in vielen regionalpolitischen Fragen für schon genannt. Es handelt sich dabei im Einzelnen um Deutschland ein wichtiger Partner. das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen, das Außenwirtschaftsgesetz über Exporte von Kriegswaf- (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fen und sonstige Wirtschaftsgüter, den Verhaltenskodex NEN]: Ein sicherer Drittstaat! – Heiterkeit der Europäischen Union für Waffenausfuhren und die beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Prinzipien zur Regelung des Transfers konventioneller Waffen der OSZE. Gerade der Export an Nicht-EU- und So ist Katar Teil der internationalen Koalition gegen den Nicht-NATO-Staaten wird, wenn sie nicht zu den be- IS. Wir beobachten natürlich mit Sorge die Entwicklun- freundeten Staaten gehören, äußerst restriktiv gehand- gen auf der arabischen Halbinsel. Wir müssen sehen, habt. Eine Genehmigung wird nur in Ausnahmefällen dass al-Qaida dort einen ihrer Hauptschwerpunkte eta­ erteilt. Im Rahmen dieser restriktiven Genehmigungspra- bliert hat und sich der IS ebenfalls zu etablieren beginnt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13337

Klaus-Peter Willsch (A) Die Spuren der Attentäter auf die Redaktion von Charlie Sie alle wissen, dass wir als Deutsche unsere Rüstungs- (C) Hebdo führen bezeichnenderweise in den Jemen. exportpolitik immer mit großer Selbstbeschränkung aus- geübt haben. Im Vergleich zu anderen Staaten wie den Katar ist Teil einer Koalition von arabischen Staaten USA, Russland, Frankreich oder Großbritannien gibt es und Golfmonarchien, die sich militärisch an dem Kon- bei uns keine institutionalisierte staatliche Rüstungsex- flikt im Jemen beteiligen; auch unsere NATO-Partner portagentur. Wir betreiben kein aktives Marketing. USA, Frankreich und Großbritannien unterstützen den Golfkooperationsrat. Katar hat – das ist eben dargestellt (Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE worden – nicht aktiv an den Kampfhandlungen teilge- LINKE]) nommen. Es beschränkt sich auf Grenzsicherung, logis- tische Dienstleistungen und Ähnliches. Es liefert keine Wir wissen, dass sich unsere Produkte gegen die Kon- Kampfausrüstung ins Krisengebiet. In Bezug auf den kurrenzprodukte durchgesetzt haben. Das ist auch ein Leopard 2 ist ausdrücklich erklärt worden, dass es weder Punkt, weshalb man auf unsere Spitzentechnologie stolz beabsichtigt noch militärisch sinnvoll oder gar technisch sein kann. möglich wäre, diese Panzer jetzt im Jemen einzusetzen. Die Franzosen liefern – der Vertrag ist in Anwesenheit Diese Erklärung ist abgegeben worden. des französischen Präsidenten unterschrieben worden – Ich weiß nicht, wie sich der eine oder andere einen 24 Rafale-Kampfflugzeuge.Unsere britischen Verbünde- Panzer vorstellt. Ich selbst bin Kommandant des Flak- ten haben eine enge militärische Zusammenarbeit. Die panzers Gepard gewesen. Das ist kein Roller, auf den USA, unser wichtigster NATO-Verbündeter, unterhalten man sich einfach setzen und mit dem man dann losfahren in Katar einen ihrer weltweit größten Luftwaffenstütz- kann. Das ist ein Hochtechnologieprodukt, wozu man et- punkte. was mehr braucht. Es ist aus meiner Sicht völlig legitim, Insofern müssen wir Entscheidungen in ihrer Mehrdi- dass Katar eine Armee, ein Heer nach unserem westli- mensionalität sehen. Dazu ist das Instrumentarium, das chen Vorbild aufbauen möchte, um das eigene Territori- wir eingerichtet haben – mit dem Bundessicherheitsrat, um zu verteidigen. mit der Einbindung der verschiedenen Ressorts –, der (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richtige Weg. Insofern halte ich für unsere Fraktion noch NEN]: Gegen wen?) einmal fest, dass dieses Projekt vertretbar ist, dass es richtig ist, auch vor dem Hintergrund unserer Überlegun- Wir haben Katar sogar empfohlen, eine geordnete Streit- gen, wo wir zukünftig unsere Schwerpunkte in den Tech- macht und keine Milizverbände aufzubauen. Es gab nologiefeldern, was Verteidigung anbelangt, setzen wol- mehrfach Konsultationen zwischen dem Verteidigungs- len. Dazu gehören ausdrücklich gepanzerte Plattformen. ministerium und den Kataris in den vergangenen Jahren Mit den paar Panzern, die wir in Deutschland abnehmen, (B) (D) dazu. kann man natürlich keine Innovation erzielen. Wir können feststellen, dass unsere Rüstungsprodukte für den Aufbau eines solchen Heeres gesucht sind. Wir Vizepräsidentin Petra Pau: waren nicht die Einzigen, die sich beworben haben. Wir Herr Kollege. wissen natürlich auch, dass wir mit Katar weiter reichen- de Beziehungen haben: Die Kataris sind Investoren in Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): wichtigen Industrieunternehmen. Sie sind dort gern gese- Wir sind geradezu auf den Export angewiesen, wenn hen. Es ist schon ein bisschen bigott, auf der einen Seite wir unseren eigenen Soldaten, die wir in den Einsatz die Investitionen für richtig zu halten, auf der anderen schicken, das richtige Material und modernes Gerät ge- Seite aber andere Entscheidungen nahezulegen. ben wollen. Im Jahr 2022 wird in Katar die Fußballweltmeister- Ich sehe, dass die Präsidentin nachhaltig klingelt, um schaft ausgerichtet. Ich glaube, dass wir, wenn wir in der mich zum Ende zu ermahnen. Dem will ich nachkom- Welt mit einer sinnvollen Außenpolitik unterwegs sein men. wollen, nicht mit all unseren Vorstellungen, wie Rechts- staat und Demokratie aussehen sollten, in allen Ländern Vielen Dank für die Geduld. Ich bedanke mich für die dieser Welt erfolgreich sein können. Aufmerksamkeit. (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- GRÜNEN]: Jetzt wird es langsam richtig inte- ordneten der SPD) ressant! Erzählen Sie doch mehr davon!) Katar bekommt die Panzer auf den Hof gestellt. Wir wah- Vizepräsidentin Petra Pau: ren unseren Einfluss, weil die logistische Kette natürlich Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion weiterhin zu uns reicht. Munition für die Panzer gibt es Bündnis 90/Die Grünen. in Katar nicht. Wir haben insofern durch die Zusammen- arbeit in dieser Frage der Ausrüstung die Möglichkeit, Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weiter in dieser Region einen stabilisierenden Einfluss Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und auszuüben. Wir sind auch nicht alleine: Großbritanni- Kollegen! Sehr geehrter Herr Außenminister Gabriel! en, Frankreich, Italien, Holland, Österreich, Schweden, Finnland und Griechenland sind beteiligt. Die Ausbil- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dung der Panzerfahrer wird in Griechenland stattfinden. NEN und bei der LINKEN) 13338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Katja Keul (A) – Da sehen Sie einmal, wie es mit der Zuständigkeit ist. fänden schlichtweg, die außenpolitische Lage habe sich (C) Wir Grüne fordern, die Zuständigkeit für die Rüstungs- nicht geändert. Das finde ich noch viel abstruser. exporte an das Auswärtige Amt zu übertragen. Das war wohl ein Freud‘scher Lapsus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn es denn so ist, dass die KWKG-Genehmigung und bei der LINKEN) verbindlich ist, weswegen Sie überhaupt keinen Ermes- Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir hier die sensspielraum mehr haben, dann kann man daraus nur Gelegenheit haben, noch einmal ein paar Dinge klar- zwei Forderungen ableiten: zustellen. Jeder Kriegswaffenexport muss drei Hürden Erstens. Wir brauchen in Zukunft in den Rüstungsex- nehmen; das sind: der Vorbescheid – das läuft im Bun- portberichten an die Parlamente, vor allen Dingen an uns, dessicherheitsrat –, die Genehmigung nach dem Kriegs- Angaben über die Genehmigungen nach dem Kriegswaf- waffenkontrollgesetz und die Genehmigung nach dem fenkontrollgesetz; denn diese Angaben sind die entschei- Außenwirtschaftsgesetz. In diesem Fall war es so, dass denden. im Juli 2012 der Bundessicherheitsrat sich damit be- fasst hat und einen Vorbescheid erteilt hat. Das alles (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN läuft geheim; darüber erfahren wir nichts. Dann waren sowie bei Abgeordneten der LINKEN) die Kataris im März/April 2013 bereit, den Kaufvertrag zu unterschreiben. Das Unternehmen meldet sich beim Wir wollen, dass sich in Zukunft die Bundesregierung, Wirtschaftsministerium und sagt: Jetzt gilt es. Es muss die eine solche Genehmigung erteilt hat, vor dem Bun- ganz schnell gehen. – Innerhalb von zwei Wochen wird destag rechtfertigt. Wir wollen nicht, dass die Stellung- die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz nahme durch die nachfolgende Bundesregierung erfolgt, erteilt. Das war im Mai 2013, und der Kaufvertrag wird die dann sagt: Wir können nichts dafür; das war die vor- unterschrieben. Das ist der entscheidende Punkt für das herige Regierung. – Dieses System kann so nicht fortbe- Unternehmen. Deswegen ist Krauss-Maffei Wegmann stehen. mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit gegan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen und hat es bekannt gegeben. Die Einzigen, denen das sowie bei Abgeordneten der LINKEN) in keinem Exportbericht bekannt gegeben worden ist, ist das Parlament, bis heute nicht. Das ist ein Skandal. Darüber hinaus ist das auch aus außen- und sicher- heitspolitischen Gesichtspunkten unverantwortlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das heißt, wir müssen das Gesetz so ändern, dass die (B) und bei der LINKEN) KWKG-Genehmigungen in Zukunft vorbehaltlich er- (D) teilt werden, nämlich vorbehaltlich einer Änderung der Zu Katar muss man sagen: Es ist eine Insel mit außen- und sicherheitspolitischen Lage, damit eine Bun- 1,2 Millionen Einwohnern, von denen gerade einmal desregierung, wenn ein Antrag nach dem AWG gestellt 200 000 Kataris sind. Der Rest sind Dienstboten und wird, noch einen Spielraum hat. Bauarbeiter. Diese 200 000 Kataris teilen sich jetzt 62 moderne Leopard-Kampfpanzer. Wenn sie die hinter- Das steht jetzt an. Sie haben gesehen, was für ein Pro- einander parken, ist die Insel quasi dicht. blem Sie haben. Ändern Sie das Gesetz, damit das zu- künftig anders wird. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie Vielen Dank. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was passiert dann? Es passiert eine ganze Weile sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nichts. Es kommt eine neue Bundesregierung, es fin- den Bundestagswahlen statt, und jetzt kommt das, was Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: kommen muss, nämlich jetzt soll ausgeliefert werden. Es Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Hubertus Heil kommt der Antrag, die Genehmigung nach dem Außen- von der SPD-Fraktion das Wort. wirtschaftsgesetz zu erteilen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Minister Gabriel, wenn ein Antrag vorliegt, der CDU/CSU) dann entscheidet man. Was soll denn ein Antrag, bei dem die Bundesregierung – angeblich – überhaupt kei- nen Entscheidungsspielraum mehr hat? Einen solchen Hubertus Heil (Peine) (SPD): Antrag könnte man sich doch komplett schenken. Natür- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immer- lich ist es so, dass, wenn Sie den Antrag ablehnen, die hin, Frau Keul, gibt es einen Unterschied zwischen Ihnen KWKG-Genehmigung fortbesteht, und das ist natürlich und der Linkspartei. In Ihrer letzten Bemerkung haben das Problem; denn dann stehen Schadensersatzansprüche Sie im Gegensatz zu Herrn van Aken eingeräumt, dass im Raum. Das steht sogar so im KWKG-Gesetz. Des- es eine Rechtsbindung gegeben hat. Sie wollen daher wegen geht es hier um 1,8 Milliarden Euro; das finde das Gesetz ändern; das ist eine legitime Position. Aber, ich schon schlimm genug. Aber Sie haben es heute noch Herr van Aken, dann hören Sie der Kollegin von den schlimmer gemacht; denn Sie haben uns gesagt, es gehe Grünen einmal zu: Es gibt eine Rechtsbindung. Nur weil Ihnen nicht um diese 1,8 Milliarden Euro, sondern Sie Sie nicht glauben, dass sich Regierungen an Recht und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13339

Hubertus Heil (Peine) (A) Gesetz halten müssen, dürfen wir dem nicht folgen. Wir Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) halten uns an Recht und Gesetz. Herr Kollege Heil, lassen Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei der SPD – Agnieszka Brugger Kollegin Brugger zu? [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können das trotzdem zurücknehmen! – Dr. Frithjof Hubertus Heil (Peine) (SPD): Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Bitte schön. ist ein Entscheidungsspielraum!) Was ist denn das für ein Verständnis von Rechtsstaatlich- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- keit? NEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE Kollege. – Weil Sie in Ihrer Rede auf die Kleinwaffenex- GRÜNEN]: So ein Unsinn!) porte und die großen Veränderungen abgestellt haben, Wir Sozialdemokraten befinden uns tatsächlich in der möchte ich fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen Situation, dass wir diese Entscheidung – Sigmar ­Gabriel haben, dass wir in der letzten Woche eine Unterrichtung hat das deutlich gemacht – kritisch sehen. Die Vorgän- über die letzten Entscheidungen des Bundessicherheits- gerregierung hat die Exportgenehmigung erteilt. Ich rates bekommen haben, die vor allem darin bestand, dass glaube, dass Sigmar Gabriel deutlich gemacht hat, dass in Drittstaaten, in Staaten außerhalb von NATO und EU, er dieses Problem bei der Befassung des Bundessicher- vor allem in den arabischen Raum, Kleinwaffen gelie- heitsrats aufgerufen hat, zumal, wie gesagt, die Frage zu fert worden sind. Deshalb frage ich Sie: Wissen Sie, ob klären war, ob man zu einer anderen Beurteilung kommt. das aufgrund der strengeren neuen Grundsätze für den Dazu ist man nicht gekommen. Ich will das gar nicht Export von Kleinwaffen geschehen ist, wonach Endver- kommentieren; denn diese Sitzungen sind geheim. Ich bleibskontrollen vorgesehen sind und „Neu für Alt“-Re- kenne die Argumente im Einzelnen nicht. Aber ich will gelungen eingeführt werden sollen? Meines Wissens ist eines deutlich sagen: Für uns ist ganz klar, dass wir die dies rechtlich ja noch gar nicht umgesetzt. Das heißt, Sie Wende zu einer restriktiveren Rüstungsexportpolitik in haben hier entgegen der gewollten Verschärfung eine dieser Legislaturperiode eingeleitet haben. Das ist unbe- große Lieferung an Kleinwaffen in Drittstaaten geneh- streitbar, Herr van Aken. migt. Das ist doch sicherheitspolitisch unverantwortlich und nichts anderes als das, was wir in den letzten Jahren (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE gesehen haben. GRÜNEN]: Schauen Sie sich mal die letzten Genehmigungen aus dem Bundessicherheits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) rat an! Kleinwaffen!) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Wir haben für mehr Transparenz gesorgt. Die Berichte werden schneller vorgelegt. Die Öffentlichkeit kann da- Ich kann Ihnen dazu sagen: Meiner Kenntnis nach rüber diskutieren. Es ist auch so – schauen Sie sich den handelt es sich um ungefähr 500 Waffen für den Oman. Rüstungsexportbericht an –, Das halten wir sicherheitspolitisch für nicht bedenklich. Ich habe auf die Dimension hingewiesen. Frau (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE ­Brugger, wir müssen uns leider beide – Rot und Grün, GRÜNEN]: Haben wir!) aber vor allen Dingen auch Schwarz und Gelb – eingeste- dass die Zahl der Rüstungsexportgenehmigungen massiv hen: In keiner Legislaturperiode in den letzten 15 Jahren zurückgegangen ist, sind die Exportgenehmigungen im Bereich der Kleinwaf- fen so restriktiv gehandhabt worden wie in der Amtszeit (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE von Sigmar Gabriel. GRÜNEN]: Nee!) (Beifall bei der SPD) vor allen Dingen im Bereich der Kleinwaffen; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es gab eine Halbierung im letzten Ich will Ihnen das anhand von Zahlen erklären, auch Jahr. weil das ein Stück Vergangenheitsbewältigung ist: Mit rot-grüner – vor allen Dingen auch mit grüner Zu- (Beifall des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner stimmung – sind im Jahre 2003 Sturmgewehre nach [SPD]) ­Saudi-Arabien geliefert worden. Das hat diese Regierung nicht getan. Bei der Frage, wer hier eine höhere Moral für Zudem geht ein großer Teil der Kleinwaffenexporte sich beansprucht, gilt immer: Wenn man mit dem Finger in Länder, die nun wirklich nicht problematisch sind: in auf andere zeigt, dann zeigen immer mindestens drei Fin- NATO-Länder, in der NATO gleichgestellte Länder, in ger zurück. die Schweiz. Es ist unverantwortlich, wenn Sie versu- chen, das zu bestreiten. Sigmar Gabriel hat dafür gesorgt, (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE dass wir eine restriktivere Rüstungsexportpolitik betrei- GRÜNEN]: Wir sagen ja, dass das falsch war!) ben. Für uns stehen bei den Rüstungsexportgenehmigun- gen Sicherheitsaspekte im Vordergrund und nicht ökono- Jetzt reden wir aber über diese Legislaturperiode; das mische Aspekte. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. sage ich auch in Richtung Bündnis 90/Die Grünen. Sie wollten die Zahlen hören. Ich will sie Ihnen gerne vortra- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen. Wir haben im ersten Halbjahr 2015 bei den Klein- 13340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Hubertus Heil (Peine) (A) waffen einen Rückgang um 12,5 Millionen. Das ist der fortsetzt, schaffen Sie es in diesem Jahr auf über 10 Mil- (C) geringste Halbjahreswert für Kleinwaffen seit 15 Jahren. liarden Euro. Das hat vor Ihnen noch nie eine Regierung Und um die Relation deutlich zu machen: 50 Prozent der geschafft. Das ist nicht restriktive Rüstungsexportpolitik, Kleinwaffenexporte gingen in Länder wie die Schweiz, das ist der Rüstungsexporteur Nummer eins. Frankreich und Großbritannien. Das ist moralisch nicht (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- zu kritisieren; denn das sind unsere Bündnispartner. NIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil (Pei- Noch einmal: Es wird immer Grenzentscheidungen ne) [SPD]: Sie sind ein Zahlenverdreher, Herr geben. Da geht es nicht um Schwarz oder Weiß, sondern van Aken!) um Abwägungsentscheidungen. Ich will nur für uns und Das zu dem, was Sie gesagt haben. für Sigmar Gabriel in Anspruch nehmen, dass wir nicht aufgrund ökonomischer Interessen in Krisenländer ex- Herr Heil, ich glaube, Sie haben mir vorhin nicht zu- portieren. Das ist nicht unsere Haltung. Wenn wir Ge- gehört. Ich habe gesagt: Ja, es kann gut sein, dass am nehmigungen für Exporte in Drittländer erteilen, dann Ende jemand zahlen muss. – Aber es geht doch um die geschieht das aus einem einfachen Grund, nämlich aus Abwägung: Wollen wir hier Geld verlieren, oder sollen sicherheitspolitischen Erwägungen. die Menschen im Jemen ihr Leben verlieren? (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Was sind denn die sicherheitspolitischen Er- ­Hubertus Heil (Peine) [SPD]: War das mein wägungen?) Argument?) Wir sorgen für eine restriktivere Politik, weil uns nicht Ich finde, bei dieser Abwägung sollte es um die Men- egal ist, was mit deutschen Waffen auf der Welt passiert, schenleben im Jemen gehen und nicht um eine Schadens- meine Damen und Herren. Ich finde, es wäre fair gewe- ersatzklage. Da haben sie eine falsche moralische Ent- sen, zumindest das anzuerkennen. scheidung getroffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil (Pei- Dass wir uns aus rechtsförmigen Gründen an Vorgänger- ne) [SPD]: Das war nicht mein Argument!) regierungsentscheidungen halten müssen, ärgert uns; das ist gar keine Frage. Wir werden aber nicht Rechts- und Noch einmal zu Ihnen, Herr Gabriel: Herr Gabriel, ich Gesetzesbrecher, nur weil Herr van Aken sich das so vor- glaube Ihnen, dass Sie die Zahl der Rüstungsexporte ver- stellt. ringern möchten. (Hubertus Heil (Peine) [SPD]: Das haben wir (B) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können doch das doch!) Recht ändern! Sie haben doch die Mehrheit!) Aber dann trauen Sie sich doch endlich einmal. Sie stel- Herzlichen Dank. len sich hier hin und sagen, Ihre Aufgabe sei es, Scha- den vom deutschen Volk abzuwenden. Ja, das ist so. Ich (Beifall bei der SPD) garantiere Ihnen aber: In dem Moment, in dem Sie die Rüstungsexporte wirklich herunterfahren, wird Ihnen das Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: deutsche Volk zujubeln; denn die große Mehrheit möch- Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jan van Aken te keine Waffenexporte. Das wissen Sie genauso gut wie von der Fraktion Die Linke das Wort. ich. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Jan van Aken (DIE LINKE): Also trauen Sie sich einmal: Lassen Sie es einmal auf Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr eine Schadenersatzklage ankommen. Warum kneifen Sie Heil, Sie kennen die Zahlen nicht. denn den Schwanz ein? Nur weil jemand mit dem Ge- setz wedelt? Versuchen Sie es doch einmal! Sie haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in Bezug auf den Jemen wunderbare Argumente. Dort Tatsächlich hat Sigmar Gabriel in der ersten Hälfte dieses hat sich die politische Situation total verändert. Es gibt Jahres Rüstungsexporte im Wert von 6,5 Milliarden Euro dort Krieg, und Katar ist daran beteiligt; das wissen wir. genehmigt – 6,5 Milliarden Euro in einem halben Jahr, Wir können das belegen. Ich finde, einmal können Sie es genauso viel wie im gesamten Jahr 2014! Und Sie sagen, versuchen. das sei restriktiv. Ich lache mich tot. Die Briten haben das gemacht. Die Briten haben vor (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- einigen Jahren, nachdem die Saudis ihre Außenpolitik NIS 90/DIE GRÜNEN) geändert haben, tatsächlich einmal schon genehmigte Waffenexporte noch im Hafen gestoppt. Trauen Sie sich Dann kommt immer Ihre Entschuldigung: Na ja, bei einmal! Beim Gefechtsübungszentrum haben Sie sich den 6,5 Milliarden Euro war ein U‑Boot für Israel mit getraut, als alles schon geliefert war. Lassen Sie es doch dabei. – Das U‑Boot für Israel hat 300 Millionen Euro einmal auf einen Prozess ankommen! Wenn dann in ei- gekostet. Ich ziehe das ab, wie Sie wollen. Dann bleiben nem solchen Fall, in dem nur eine von zwei Genehmi- immer noch 6,2 Milliarden Euro übrig. Wenn sich das gungen erteilt ist, am Ende wirklich das Urteil kommt, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13341

Jan van Aken (A) dass Schadensersatz zu zahlen ist, dann machen wir es delt, schon für einen Abgeordneten ein schwieriges Ar- (C) eben so, wie Frau Keul gesagt hat: Dann ändern wir gument ist, für ein Regierungsmitglied erst recht, das Kriegswaffenkontrollgesetz. Sie bekommen es ge- richtlich und verfassungsrechtlich wasserdicht hin, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten solche Waffenexportgenehmigungen immer nur vorbe- der CDU/CSU) haltlich einer Änderung der politischen Situation erteilt finde ich, dass Sie bei den Kleinwaffen völlig recht haben. werden. Das können Sie machen. Sie müssen es nur wol- Deswegen sind wir so stolz darauf, erstens dass diese len. Bundesregierung beschlossen hat, Lizenzproduktionen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- für Kleinwaffen in Drittländern zu verbieten – das gab NIS 90/DIE GRÜNEN) es noch nie –, zweitens dass wir eine so drastische Re- duktion der Zahl der Kleinwaffenexporte erreicht haben, Da ich Ihnen glaube, dass Sie die Zahl der Rüstungs- wie es Herr Heil vorgetragen hat. Aber ich will trotzdem exporte reduzieren wollen, sage ich Ihnen: Wir werden sagen, dass Sie aufpassen müssen, dass Sie, wenn Sie an- hoffentlich in einem halben Jahr einmal zusammensitzen deren Leuten vorwerfen, sie kennten die Zahlen nicht, und gemeinsam, vielleicht auch mit einigen Kolleginnen sich selber nicht als Zahlenverdreher betätigen. und Kollegen von den Grünen, daran arbeiten, wie Sie es wasserdicht und gerichtsfest hinbekommen, dass Sie Sie haben völlig recht: Wir haben im ersten Halbjahr eine Genehmigung auch einmal widerrufen können und ein hohes Maß an Umsätzen beim Rüstungsexport. Das eben keine Waffen direkt in den Krieg liefern. Das ist das zeigt übrigens, dass wir recht haben, wenn wir sagen: Die Entscheidende. Ansonsten bleibe ich dabei: Das System, Zahlen selber sagen wenig aus. – Es ist natürlich nicht so wie es im Moment ist, funktioniert nicht. das U-Boot für Israel, das auch dabei ist – dazu stehe ich ausdrücklich –, sondern es sind vor allen Dingen fünf Das Zweite, was ich gern mit Ihnen im Kriegswaffen- Tankflugzeuge für Großbritannien, die diese Zahl ausma- kontrollgesetz ändern würde – da muss ich aber auch die chen. Dass Sie das bei der Summe verschweigen Grünen noch überzeugen –, ist, dass Sie wenigstens ein generelles Exportverbot für Kleinwaffen erlassen. (Beifall des Abg. (Beifall bei der LINKEN) [CDU/CSU]) Bleiben wir doch einmal auf dem Teppich! Wertmäßig und nur sagen: „Guckt mal, das ist eine ganz hohe Sum- sind Kleinwaffen total irrelevant; das sind zwischen me“, obwohl fünf Tankflugzeuge mit einem großen Vo- 50 und 100 Millionen Euro. Das ist ganz wenig Geld, lumen dabei sind – für die Sicherheitslage in der Welt bedeutet aber ganz viel Tod. Da würde die Wirtschafts- vermutlich völlig unproblematisch, wohingegen ein (B) macht Deutschland kaum Geld verlieren, aber ganz viel kleines Volumen für Kleinwaffen viel größere Probleme (D) Leben retten. auslöst –, zeigt, dass Sie in Wahrheit versuchen, die Tat- sachen zu verdrehen. Das ist das Problem, das ich mit (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Sollen die Ihrer Bemerkung habe. Peschmerga mit einem Erbsengewehr schie- ßen? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – [CDU/CSU]: Kalaschnikow!) ­Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er will von den Panzern ablenken!) Ringen Sie sich endlich dazu durch, Herr Gabriel! Ich finde die Argumente, die Sie seit Jahren dazu vortragen, immer noch schwach. Machen wir es gemeinsam! Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr van Aken, Sie haben das Wort für eine Erwide- Ich danke Ihnen. rung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Jan van Aken (DIE Jan van Aken (DIE LINKE): LINKE): Die Peschmerga sollen nicht mit Ge- wehren schießen! ISIS bekämpfen wir anders, Danke. – Herr Gabriel, zu dem Verdrehen. Nehmen Herr Willsch! Aber davon verstehen Sie schon wir einmal, was Sie gerade gesagt haben, nämlich Sie mal gar nichts!). hätten jetzt das Verbot der Lizenzproduktion von Klein- waffen beschlossen. Nein, das haben Sie nicht beschlos- sen. Sie haben beschlossen, dass grundsätzlich keine Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Lizenzen mehr für Kleinwaffenproduktionen vergeben Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention werden. Das „grundsätzlich“ hat es auch vorher schon erhält der Abgeordnete Gabriel. gegeben; das steht in ganz vielen Rüstungsexportbe- (Volker Kauder [CDU/CSU]: „Sigmar richten. Nur für die unter uns, die keine Juristinnen ­Gabriel“ bitte!) und Juristen sind: „Grundsätzlich“ heißt, dass es davon Ausnahmen geben kann. Zum Beispiel sagen Sie auch: Grundsätzlich werden keine Waffen an private Sicher- Sigmar Gabriel (SPD): heitsdienste geliefert. – Wir haben nachgefragt und eine Frau Präsidentin! Herr Kollege van Aken, einmal ab- lange Liste bekommen. Natürlich gibt es das! Das heißt, gesehen davon, dass die Bemerkung, man solle sich nicht „grundsätzlich“ heißt überhaupt keine Veränderung. Sie davon irritieren lassen, wenn einer mit dem Gesetz we- haben sich nicht getraut, das generell zu verbieten, son- 13342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Jan van Aken (A) dern eben nur grundsätzlich. Das heißt, es gibt überhaupt Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) keine Veränderung. Die Zeit haben alle noch. Außerdem ist es ja ganz inte- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ressant, wenn das Parlament mal wieder debattiert. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das sind Wortspielereien und Verdrehereien. Deswegen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten haben die Menschen auf der Tribüne überhaupt keine der SPD) Lust mehr auf diese Politik. Sie haben keine Lust mehr Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und darauf, weil sie immer nur angeschmiert werden. Kollegen! Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zu- (Widerspruch bei der SPD – Hubertus Heil hörer! Ich komme wieder auf den Kern der Debatte zu- (Peine) [SPD]: Seien Sie mal ehrlich, Sie Zah- rück. Der Ausgangspunkt für die heutige Debatte in der lenverdreher!) Sache ist der Antrag zum Thema „Panzerlieferung nach Katar sofort stoppen“, über den wir jetzt abstimmen. Die- – Seien Sie einmal ehrlich bei diesem „grundsätzlich“! ser Antrag beinhaltet nur einen einzigen Satz: Das Zweite: die Tankflugzeuge. Das letzte Mal war Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- das Argument das U-Boot für Israel. Deshalb habe ich es rung auf, die Lieferung von Panzern und anderen ja ehrlicherweise erwähnt. Ich kann auch die Tankflug- Kriegswaffen nach Katar unverzüglich zu stoppen zeuge erwähnen. Ziehen Sie die Tankflugzeuge ab! Sie und die bereits erteilte Genehmigung an die Firma sind dann immer noch bei 5 Milliarden Euro in einem Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG zurück- halben Jahr. zunehmen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Nein!) Wir haben zu diesem Antrag eine Sofortabstimmung Damit knacken Sie die 10 Milliarden Euro im ganzen beantragt. Wir gehen davon aus, dass das Parlament in Jahr auch. der Lage ist, heute über diesen einen Satz zu entscheiden. Deshalb beantragen wir Sofortabstimmung. (Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist falsch, was Sie sagen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich muss Ihnen sagen: Auch unter der FDP – Gott hab sie selig – waren es in einem Jahr die vielen Flugzeuge, Um Ihnen zu erläutern, warum wir jetzt überhaupt das im nächsten Jahr die vielen Schiffe. Jedes Mal war das Wort suchen – wir haben ja öfter mal Streit darüber, ob (B) Argument: In diesem Jahr ist die Zahl eigentlich ganz es eine Sofortabstimmung oder eine Überweisung geben (D) gering; aber es gab das eine große Projekt. – Das haben soll –, möchte ich Sie auf zwei Punkte hinweisen. Sie im letzten Jahr übrigens auch gesagt, in diesem Jahr wieder, und im nächsten Jahr sind es wahrscheinlich drei Erster Punkt. Der Wirtschaftsminister und auch sein Fregatten für Algerien, die die Zahlen nach oben treiben. Staatssekretär haben in ihren Redebeiträgen deutlich ge- Unterm Strich – vergleiche ich die Gesamtjahreszah- macht, dass diese Entscheidung längst getroffen ist und len – muss ich sagen: Da haben Sie einfach versagt, Herr dass diese Entscheidung nicht revidiert wird. Die Tat- ­Gabriel. sache, dass nichts revidiert wird und darüber schon ab- schließend entschieden ist, haben auch alle Rednerinnen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und Redner der Großen Koalition in ihren Redebeiträgen NIS 90/DIE GRÜNEN) mehr als deutlich gesagt. Deshalb gibt es aus grüner Sicht keine Begründung dafür, heute keine Sofortabstimmung Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: durchzuführen und stattdessen der Öffentlichkeit und dem Parlament vorzumachen, man habe noch Beratungs- Ich schließe die Aussprache. bedarf zu diesem einen Satz und müsse deshalb den An- Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ trag an die Ausschüsse überweisen. Die Grünen auf Drucksache 18/6647 mit dem Titel „Pan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zerlieferung nach Katar sofort stoppen“. Die Fraktion und bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen beantragt die Abstimmung über ihren Antrag in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU Ein wirklich schwacher Auftritt; denn Sie haben so und SPD wünschen Überweisung. was von deutlich gemacht, und zwar für alle im Proto- koll nachlesbar, dass Sie als Parlamentarier in der Sache (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE den Vorschlägen und Festlegungen, auch den erneuten GRÜNEN]: Warum? Da können wir jetzt Festlegungen dieser Bundesregierung folgen. Deshalb ist lange drüber diskutieren! – Katja Keul es doch eigentlich nur ein Täuschungs- und Ablenkungs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können wir manöver, jetzt eine Überweisung an die Ausschüsse bzw. jetzt abstimmen?) eine Versenkung dieses Antrags in den Ausschüssen Mir ist mitgeteilt worden, dass hierzu das Wort zur vorzunehmen. Aus diesem Grund haben wir heute eine Geschäftsordnung gewünscht wird. Frau Haßelmann hat GO-Debatte gefordert. als Erste das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Muss das sein?) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13343

Britta Haßelmann (A) Zweiter Punkt. Meine Damen und Herren, zuerst wa- Wir wollen doch einmal auf die sachliche Ebene zurück- (C) ren Sie als Koalition mit der Sofortabstimmung einver- kehren, auf die Ebene der Geschäftsordnung. standen. Am Dienstag haben Sie mir erklärt, Sie wollten Es ist richtig: Die Grünen haben das Recht, eine Be- prüfen, ob Sie für eine Überweisung sind oder Ihr Ein- schlussfassung zu ihrem Antrag einzufordern. Darüber verständnis zur Sofortabstimmung erklären. Dann haben gibt es gar keine Diskussion. Sie sich bereiterklärt – was wir sehr gut fanden und be- grüßt haben –, der Sofortabstimmung im Bundestag zu- (Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ zustimmen. Als Sie dann gehört haben, dass wir eine na- DIE GRÜNEN: Dann ist ja gut! Dann sind wir mentliche Abstimmung beantragen wollen, ja schon mal weiter!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das geht ja Es ist aber auch das Recht der Koalition, die Überwei- auch nicht!) sung an einen federführenden Ausschuss zu fordern. haben Sie gesagt: Nein, jetzt ziehen wir unsere Zustim- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mung zurück. Das wird ja unbequem für die Abgeordne- der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: ten von SPD und Union. Genau! – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es gibt ein Recht auf Pein- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie wollen lichkeit!) nicht abstimmen, sondern vorführen!) Ich glaube, es ist berechtigt, zu fordern, dass ein Antrag Dann wollen wir doch lieber die Überweisung. – Das ist in Ruhe besprochen werden kann. doch durchschaubar, meine Damen und Herren. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Nee! Wir sind Kollektive! Wir wollen Das muss im Wirtschaftsausschuss geschehen. nicht eingeordnet werden!) Übrigens war auch einer von den Grünen in Brüssel. Dann kam auch noch das billige Argument, der Wirt- Inzwischen sind alle wieder da. schaftsausschuss sei federführend und leider seien die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Abgeordneten des Ausschusses heute in Brüssel; dadurch NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Frithjof Schmidt sei ihnen verwehrt, an der namentlichen Abstimmung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das teilzunehmen. Meine Damen und Herren, ist das Ihr Problem? – Weitere Zurufe von der LINKEN Ernst? Ich hoffe, Sie wiederholen das nicht hier am Pult. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Ihre Leute aus dem Wirtschaftsausschuss, die heute nicht (D) da sind, fehlen bei zwei Wahlen und zwei namentlichen Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir an dem Abstimmungen, die heute hier im Bundestag stattfinden. Wunsch festhalten, den Antrag in den Wirtschaftsaus- Was sagen Sie denn dazu? schuss zu überweisen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- und bei der LINKEN) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber warum?) Ich finde, es gibt keinen Grund, heute keine Sofort- und zwar aus einem einfachen Grund: Das Thema soll abstimmung durchzuführen. Das ist ein reines Ablen- noch einmal in Ruhe in dem Ausschuss diskutiert wer- kungsmanöver, weil es Ihnen unbequem ist, sich als Par- den, in den es gehört, lamentarier zu der Sache zu verhalten. Das wollen wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Deshalb haben wir diese (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- GO-Debatte beantragt. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann brauchen Sie ja Ihren Minister nicht mehr!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ und zwar im Wirtschaftsausschuss. Wenn Sie vorher mit CSU]: Frau Haßelmann, sie sind alle da! Sie dem Gedanken gespielt haben, eine namentliche Abstim- sagen die Unwahrheit!) mung zu beantragen, dann frage ich mich schon, warum Sie sich jetzt weigern, das noch einmal sauber zu disku- tieren und den Antrag dann zur Abstimmung zu stellen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Zur Erwiderung erhält Petra Ernstberger das Wort. Insofern werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen und für die Überweisung in den federführenden Aus- (Beifall bei der SPD) schuss für Wirtschaft und Energie einstehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Petra Ernstberger (SPD): der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Das, was hier gemacht wird, erinnert mich schon sehr viel an Theater- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: donner. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stimmen nach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschus- der CDU/CSU – Widerspruch bei der LIN- süberweisung ab. Die Fraktionen der CDU/CSU und KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SPD wünschen Überweisung der Vorlage auf Drucksa- 13344 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) che 18/6647 an den Ausschuss für Wirtschaft und Ener- erteilen. – Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin (C) gie, an den Auswärtigen Ausschuss, an den Ausschuss spricht Dagmar Freitag von der SPD-Fraktion. für Recht und Verbraucherschutz, an den Verteidigungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausschuss, an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie an den Ausschuss für wirtschaft- liche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer stimmt für Dagmar Freitag (SPD): die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Enthält sich jemand? – Dann ist die Überweisung mit den Mit der Gründung im Jahr 2011 ist die Republik Süd- Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi- sudan der jüngste Staat der Welt. Gleichzeitig ist es ein on beschlossen. weiterer Staat auf dem afrikanischen Kontinent mit un- endlichen Problemen, mit einer wirklich dramatischen Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksa- politischen und humanitären Lage. Korruption, kaum che 18/6647 nicht in der Sache ab. oder fast nicht vorhandene staatliche Strukturen, ein Wir müssen nun den federführenden Ausschuss be- verheerender Bürgerkrieg – all das hat zu der aktuellen, stimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wün- beklagenswerten Situation geführt. Ich füge hinzu: Das schen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ausmaß der Kriegsverbrechen ist wirklich unvorstellbar. Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Immerhin, ein erster Lichtblick: Am 17. August 2015 Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse unterzeichneten die Konfliktparteien aufgrund massiven zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der internationalen Drucks ein 77-seitiges Friedensabkom- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt für diesen men. Ich denke, Herr Minister Steinmeier, an dieser Stel- Überweisungsvorschlag, also für die Federführung beim le ist Ihnen für Ihren Einsatz für dieses Friedensabkom- Auswärtigen Ausschuss? – Wer stimmt dagegen? – Da- men ausdrücklich zu danken. mit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Opposition. ten der CDU/CSU und der Abg. Agnieszka ­Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Feder- Aber man muss leider auch feststellen, dass es erkennbar führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer an der Bereitschaft zur Unterstützung der Vertragsinhalte stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt mangelt. Vereinbarte Waffenstillstände werden gebro- dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Überwei- chen, zuletzt vor zweieinhalb Wochen. Zudem bedeutet sungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition gegen die die jetzt vorgenommene Zersplitterung der ursprünglich (B) Stimmen der Opposition angenommen worden. nur 10 Bundesstaaten in jetzt 28 einen erneuten Rück- (D) schritt. Im Übrigen verstößt auch das gegen den Geist des Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Friedensvertrages. – Beratung der Beschlussempfehlung und Es ist klar: Jahrelange kriegerische Auseinanderset- des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zungen haben die Bevölkerung zutiefst traumatisiert und (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre- sie natürlich auch – wen wundert es? – zu einem gewis- gierung sen Grade ihrer Friedensfähigkeit beraubt. Ein stabiler Friedensaufbau ist daher ohne die weitere Unterstützung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter der internationalen Gemeinschaft weder möglich noch deutscher Streitkräfte an der von den Ver- vorstellbar. einten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Ich räume ein: UNMISS konnte den Bürgerkrieg Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates nicht verhindern. Aber UNMISS bietet humanitären und der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 militärischen Schutz für die vertriebene Zivilbevölke- und Folgeresolutionen, zuletzt 2241 (2015) rung. Die Friedensmission UNMISS läuft – das wissen vom 9. Oktober 2015 wir – seit 2011. Die Neuausrichtung des Mandates im Jahr 2014 machte den Schutz der südsudanesischen Zi- Drucksachen 18/6504, 18/6638 vilbevölkerung zum Kernelement der Mission. Erst vor – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- wenigen Wochen, im Oktober 2015, wurde die Mission schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung erweitert, und zwar, um die Implementierung des Frie- densabkommens zu unterstützen. Drucksache 18/6683 Rund 4,5 Millionen der rund 12 Millionen Einwohner- Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- innen und Einwohner des Landes sind in diesem Jahr auf mentlich abstimmen. Nahrungsmittelhilfen der Vereinten Nationen angewie- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu betonen, wie wichtig die Sicherstellung der Finanzierung Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so der humanitären Nothilfe ist. Doch es bedarf natürlich beschlossen worden. nicht nur einer vernünftigen finanziellen Basis. Nein, auch ohne eine ausreichende Sicherheit im Land sind Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze einge- zum Beispiel viele Hilfsmaßnahmen des World Food nommen haben, werde ich der ersten Rednerin das Wort Programme überhaupt nicht möglich. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13345

Dagmar Freitag (A) Wir wissen: Die Kindersterblichkeit im Südsudan ist Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) extrem hoch. Hauptursache dafür ist Mangelernährung. Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jan van Aken Wir wissen auch um einen katastrophalen Bildungsstand von der Fraktion Die Linke das Wort. im Land. Rund zwei Drittel der Erwachsenen im Land können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt: Neben Sicherheit und Verteidigung müssen wir uns dafür einsetzen und Unterstützung leisten, dass der Staat auch in den Bereichen Gesundheitsversorgung Jan van Aken (DIE LINKE): und Bildung massiv investieren wird. Denn eines ist klar: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle Die vielen jungen Menschen im Land brauchen eine Per- hier haben in der letzten Woche – ich finde, vollkommen spektive, und ich füge ausdrücklich hinzu: im eigenen zu Recht – auf die Flüchtlingskatastrophe im Südsudan Land. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. hingewiesen. Zwei Millionen Menschen sind dort auf der Flucht. Ich finde auch: Diese Menschen müssen unbe- Es muss im Interesse der Weltgemeinschaft sein, dass dingt Unterstützung bekommen. Aber ein Punkt ist mir dieses Land nicht noch stärker ins Chaos abgleitet, aufgefallen: Niemand hat erwähnt, dass es auch diese Bundesregierung ist, die im Moment alles daransetzt, den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Menschen im Südsudan die Flucht zu verwehren. im Übrigen auch wegen der fragilen Stabilität in der ge- Schon vor einem Jahr hat die Europäische Union mit samten ostafrikanischen Region. Das heißt auch: Das einer ganzen Reihe afrikanischer Staaten vereinbart, die Engagement der Regionalorganisationen muss beachtet sogenannte irreguläre Migration zu bekämpfen. Im Klar- werden. IGAD zum Beispiel hat im Rahmen der Frie- text geht es doch darum, Flüchtlinge gar nicht erst bis an densverhandlungen durchaus dazu beigetragen, dass die Mittelmeerküste herankommen zu lassen, damit sie erste Schritte unternommen worden sind. Man muss al- von dort nicht weiter nach Europa fliehen können. Diese lerdings hinzufügen: Zählbare Erfolge sind im Moment Initiative gegen Flüchtlinge wird Khartoum-Prozess ge- leider noch nicht zu verzeichnen. Das bedeutet natürlich, nannt. dass die Bemühungen nicht nachlassen dürfen, und auch im Land selber muss für Frieden und Stabilität gesorgt Ein leitendes Mitglied dieses Khartoum-Prozesses ist und geworben werden. Die internationale Gemeinschaft der Südsudan. Das müssen wir uns jetzt einmal im De- darf sich nicht zurückziehen. Vertrauen muss wieder auf- tail vorstellen: Der südsudanesische Präsident Salva Kiir gebaut werden, und die Umsetzung des Friedensabkom- führt gerade einen grausamen Krieg gegen die eigene Zi- mens muss überwacht und begleitet werden. vilbevölkerung und wird jetzt von Ihnen und von der EU (B) gemeinsam darin unterstützt, seine Grenzen noch besser (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dichtzumachen, damit seine Bevölkerung nicht vor sei- nen eigenen grausamen Mörderbanden fliehen kann. Ich Eines ist klar – ich denke, da sind wir uns alle einig –: finde das widerlich. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss oberste Priorität (Beifall bei der LINKEN) haben. Wer hier im Saal wirklich Sorge um die Zivilbevölkerung Das ist die richtige Stelle, um sich bei unseren Solda- im Südsudan hat, der muss sich auch darum bemühen, tinnen und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten im den Khartoum-Prozess zu stoppen und endlich dafür zu Südsudan zu bedanken. Das ist ein Einsatz, der wichtig sorgen, Fluchtmöglichkeiten für die Menschen im Süd- und unverzichtbar ist. sudan zu organisieren. – Das erst einmal nur vorweg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jetzt sagen Sie alle – das haben Sie auch letzte Wo- der CDU/CSU) che alle gesagt –, dass UNMISS für den Schutz der Zi- vilbevölkerung im Südsudan unverzichtbar ist. Fakt ist Denn gerade das deutsche Personal besetzt wichtige aber, dass UNMISS den Schutz der Zivilbevölkerung Schlüsselpositionen. von Anfang an nicht sicherstellen konnte und bis heute nicht kann. Dann kommt von Ihnen immer das Argu- Wir müssen nicht nur gemeinsam dafür werben, son- ment: Es gibt 200 000 Flüchtlinge, die UNMISS an den dern auch unseren Beitrag dazu leisten, dass der Konflikt eigenen Standorten schützt. – Ja, aber zur Ehrlichkeit im Südsudan nachhaltig beigelegt werden kann. Dazu – gehört auch, dass 10 Millionen weitere Menschen im das ist jedenfalls unsere Überzeugung – brauchen wir die Südsudan vollkommen schutzlos sind, dass 2 Millionen Fortsetzung der internationalen Unterstützung im Rah- von ihnen auf der Flucht sind und dass 4 Millionen von men der UNMISS-Friedensmission. Liebe Kolleginnen ihnen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Das ist und Kollegen, aus diesem Grunde bitte ich um Zustim- die ganz erschütternde Bilanz. Dann sagen Sie: Na ja, mung zu dem vorliegenden Antrag. ohne ­UNMISS wäre alles noch viel schlimmer. - Ich danke Ihnen. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Wollen Sie ein größeres Mandat?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ich sage Ihnen: Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer und GRÜNEN) schlimmer. Das liegt auch daran, dass Sie völlig falsche 13346 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Jan van Aken (A) Prioritäten gesetzt haben, dass Sie eben auf das Militäri- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) sche gesetzt haben und nicht auf andere Möglichkeiten. Als nächster Redner hat Roderich Kiesewetter von der (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mütze- CDU/CSU das Wort. nich [SPD]: Welches Mandat wollen Sie?) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Frage, die wir uns stellen und die Sie sich, wie ich finde, auch stellen müssten, ist doch: Was haben wir alles Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): nicht getan, um den Menschen im Südsudan zu helfen? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was haben wir nicht getan und somit dazu beigetragen, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben dass die Situation im Südsudan immer schlimmer gewor- heute früh bei der Debatte über die OSZE über Valletta den ist? Unsere Antwort ist relativ klar: Sie haben im- gesprochen. Zwischenzeitlich ist der gemeinsame Gip- mer einseitig auf das Militärische gesetzt, und wir haben fel von Europäischer und Afrikanischer Union zu Ende von Anfang an viele, viele andere Vorschläge gemacht; gegangen. Neben dem Thema Fluchtursachenbewälti- das können Sie alles nachlesen. Im Jahr 2011 direkt zur gung war ein ganz entscheidendes Thema – dies wurde Gründung des neuen Staates Südsudan haben wir eine auf Bitten der Afrikanischen Union nach vorne getra- ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, wie man die Ent- gen – die Forderung nach einem verstärkten Engagement stehung des Bürgerkrieges hätte verhindern können und für Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung. wie man später die Zivilbevölkerung hätte schützen kön- Genau darum geht es im Südsudan, nämlich darum, die nen. Kaum etwas davon ist gemacht worden. Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wirtschaftliche Entwicklung überhaupt stattfinden kann. Wenn internati- Ich will nur ein Beispiel nennen, damit Sie wissen, onale Einrichtungen und Staaten zivile Hilfskräfte abzie- worum es geht. Wir haben es genau ausformuliert. Ein hen, weil es dort nicht sicher ist, ist doch der erste Punkt, Punkt, der 2011 völlig deutlich war, als wir dort vor Ort Sicherheit im Südsudan zu schaffen. waren, war: Es muss darum gehen, den Ausbruch von lo- kalen Gewaltkonflikten zu verhindern. Deswegen haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir gefordert, lokale Friedensfachkräfte auszubilden, und ordneten der SPD) zwar zu Hunderten, wenn nicht gar zu Tausenden, damit Das geschieht, indem sich 53 Staaten in dieser Mis- in allen Teilen des Landes Trauma- und Versöhnungsar- sion engagieren, davon 15 Staaten aus Afrika. Das ist beit geleistet werden kann, damit in allen Regionen des genau das, was wir anstreben müssen: dass die Staaten Landes entstehende Konflikte gewaltfrei gelöst werden aus Afrika Verantwortung übernehmen. Wir erleben das können. Wir haben, wie gesagt, gefordert, Hunderte aus- in vielen Bereichen, auch in der unmittelbaren Nachbar- zubilden. Was hat die Bundesregierung gemacht? Sie hat schaft. Die Unterorganisation der Afrikanischen Union, (B) die letzten fünf Friedensfachkräfte aus dem Sudan auch (D) die Intergouvernementale Autorität für Entwicklung, die noch abgezogen. Das war Ihr Beitrag zu einer friedlichen IGAD, wird von drei Staaten unterstützt: von Kenia, vom Konfliktlösung. Sudan und von Äthiopien. Wir erleben in der unmittel- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) baren Nachbarschaft, dass Uganda das Bestreben dieser drei Staaten gefährdet, indem es unmittelbar Waffen an Eines ist doch ganz klar: Ein Ende der Gewalt können die südsudanesische Regierung liefert. Sie mit UNMISS im Südsudan niemals erreichen, und ganz sicher können Sie das nicht, wenn Sie auch noch Wir sehen: Es ist dort eine Gemengelage, die gera- mit Despoten wie Salva Kiir bei der Flüchtlingsabwehr dezu nach einem internationalen Engagement ruft. Des- zusammenarbeiten. Aus unserer Sicht heißt es deswegen: halb ist es im Übrigen richtig, dass die Bundesrepublik Nein zu UNMISS und endlich ein Umdenken hin zu zi- Deutschland dort mehr Polizisten als Soldaten einsetzt. vilen Interventionen. Wir haben unseren Polizeiansatz dort verdoppelt. (Beifall bei der LINKEN) Gerade der Einsatz im Südsudan zeigt, dass wir Deut- schen unsere drei Prinzipien der Außenpolitik hier auch Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland praktisch anwenden: erstens ein Vorgehen mit VN-Man- keine Waffen mehr exportieren sollte. dat, zweitens nicht allein, sondern in einem vernetzten Ansatz, und drittens – das halte ich für ganz wichtig – ist (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ist so das Militär eingebunden in einen übergreifenden Ansatz langweilig!) und nicht isoliert, wie wir es in Libyen oder im Irak erlebt Eines würde mich wirklich einmal interessieren: Kann haben. mir irgendjemand hier im Raum erklären, zum Beispiel Meine sehr geehrten Damen und Herren, worauf Sie, warum es heute immer noch legal ist, Waffen in den kommt es jetzt an? Wir haben im Südsudan eine Ent- Südsudan zu liefern? Das Mindeste, wozu wir uns end- wicklung, die dazu führt, dass die Bevölkerung über- lich durchringen müssten, wäre doch ein Waffenembargo haupt kein Vertrauen in die eigene Regierung hat. Es durch die Vereinten Nationen. Auch daran scheitern Sie. ist der jüngste Staat der Erde, es gibt ihn erst seit vier Ich danke Ihnen. Jahren. Ich erinnere mich, mit welcher Euphorie dies im Jahr 2011 im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens als eine gelungene Staatenbildung betrachtet wurde. Ja, [CDU/CSU]: Immer die gleiche Leier! Nicht das war es am Anfang auch. Aber in der Zwischenzeit ein Konzeptvorschlag!) haben wir gesehen: Wenn Sicherheit der Entwicklung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13347

Roderich Kiesewetter (A) nicht folgt bzw. wenn Sicherheit mit entwicklungspoliti- worden. Mit dreien konnten sie sich selbst in den Stütz- (C) schem Engagement nicht fest einhergeht, dann scheitert punkt der Friedensmission UNMISS retten. Sie sagt: jeglicher entwicklungspolitische Ansatz. Deshalb wird sich die Bundesrepublik Deutschland dort intensiv betei- Wir Frauen im Camp leiden sehr. Um Wasser und ligen, mit den Fähigkeiten, die die Arbeiten dort weiter- Feuerholz zu holen, müssen wir das Lager verlas- bringen, nämlich vernünftiger Stabsarbeit und vor allen sen, aber da draußen lauern alle möglichen Gefah- Dingen entsprechender Beratung in der Überwachung ren. Es gibt wilde Tiere, aber noch schlimmer ist, des Waffenstillstandsabkommens und, was aus meiner dass wir vergewaltigt werden. Zwei Mal musste ich Sicht auch sehr wichtig ist, in der Überwachung der hu- schon zusehen, wie sie meinen Töchtern Gewalt an- manitären Hilfe. Hier liegt das meiste im Argen. taten. Trotzdem müssen wir immer wieder in den Busch. Wir haben keine andere Wahl, wir brauchen Wir müssen uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, Holz und Wasser zum Leben. Wir können nur zu auf einen jahrelangen Einsatz im Südsudan einstellen. Gott beten. 15 000 Helferinnen und Helfer mit und ohne Uniform werden die nächsten Jahre intensiv gefordert sein. Unser Meine Damen und Herren, ich finde, diese schreckli- Ziel muss in allererster Linie sein, dass afrikanische Staa- chen Schilderungen zeigen noch viel dramatischer und ten aus der Nachbarschaft selbst Verantwortung überneh- persönlicher als die extrem hohen abstrakten erschre- men, dass die Afrikanische Union dort mit aller Kraft ckenden Zahlen, die wir immer wieder nennen, wenn wir zeigt, dass sie fähig ist, und das mit westlicher Hilfe. Das über den Konflikt im Südsudan sprechen, wie wichtig es sehen wir, glaube ich, recht gut in dem Ansatz, den die ist, dass die internationale Gemeinschaft hier präsent ist Afrikanische Union mit der Europäischen Union jetzt in und handelt. Valletta verhandelt hat. Über 2 Millionen Menschen sind dort auf der Flucht. Lassen Sie mich abschließend auf einen weiteren As- Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gibt es pekt hinweisen. Die Entwicklungen, die wir in Afrika, 13 000 Kindersoldaten im Südsudan. In manchen Dör- in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und auch fern gibt es keine Jungen mehr, die älter als 14 Jahre sind. in Libyen erleben, erfordern, dass wir uns über einen In großen Teilen des Landes herrscht eine Hungerkatas- stärker vernetzten Ansatz Gedanken machen. Die Eu- trophe. 30 000 Menschen sind unmittelbar vom Hunger- ropäische Union wird viel mehr zur Ertüchtigung dieser tod bedroht. Staaten beitragen müssen als in der Vergangenheit. Wir Deutschen werden großen Wert darauf legen müssen, Ich habe wie viele Kolleginnen und Kollegen hier in dass bei der Fluchtursachenbekämpfung die Fragen der den letzten Monaten bei verschiedenen Konflikten die- ser Welt gefragt: Wie kann es eigentlich sein, dass die (B) guten entwicklungspolitischen Begleitung und der guten (D) Regierungsführung und die gesamte Unterstützungsleis- reichen Staaten dieser Welt und die internationale Ge- te der Grenzsicherung und der Flüchtlingsbetreuung viel meinschaft es nicht schaffen, im Südsudan und in den stärker in den Mittelpunkt geraten. Ich habe großes Ver- Nachbarländern von Syrien wenigstens sicherzustellen, ständnis, Herr van Aken, dass Sie sich heute schon mehr- dass die Menschen genug zu essen haben? fach warmgeredet haben, aber da reicht brühwarme Rhe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN torik nicht. Dort geht es heiß zur Sache. Deshalb müssen sowie der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) wir uns auf einen langfristigen Einsatz einstellen. Ich habe darauf keine gute Antwort bekommen, und ich Ich unterstütze den UNMISS-Einsatz, der uns die finde, die EU – oder wer auch immer – sollte einfach nächsten Jahre sicherlich fordern wird, deshalb sehr und Geld in die Hand nehmen und wirklich dafür sorgen, dass werbe um Ihre Zustimmung. die Menschen, die vor Krieg fliehen mussten, jetzt nicht Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. auch noch den Hungertod fürchten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Kindersoldaten, Hungerkatastrophe, Massenverge- des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ waltigungen, mehrere Zehntausend Tote: Das sind die DIE GRÜNEN]) Folgen des grauenvollen Machtkampfes zwischen Präsi- dent Kiir und seinem Kontrahenten Machar. IGAD, die Regionalorganisation der Staaten in Nordostafrika, hat Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: unermüdlich versucht, zwischen diesen Gruppen zu ver- Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Agnieszka mitteln. Es sind zahlreiche Vereinbarungen geschlossen Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das worden, und zahlreich sind sie auch gebrochen worden. Wort. Auf das neue Friedensabkommen blicken wir daher na- türlich einerseits mit großer Hoffnung und andererseits mit einer gewissen Skepsis. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Meine Damen und Herren, die Friedensmission der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellver- Vereinten Nationen UNMISS hat nicht nur den Auftrag, tretend für viele Frauen im Südsudan, die großes Leid bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu unter- ertragen müssen, möchte ich Rosa Koang zu Wort kom- stützen, sondern sie ist mit vielen Hilfsorganisationen men lassen, die ein wirklich schreckliches Schicksal hin- die Kraft im Land, die trotz aller Gefahren versucht, die ter sich hat. Von ihren fünf Töchtern sind zwei ermordet Menschen zu schützen. 13348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Agnieszka Brugger (A) Es war eine mutige und außergewöhnliche Entschei- Julia Obermeier (CDU/CSU): (C) dung, dass nach dem Gewaltausbruch 2013 die damali- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ge Leiterin der UN-Mission beschlossen hat, einfach die Kollegen! Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen im Türen für die Flüchtlinge zu öffnen. Heute, zwei Jahre Südsudan an den Folgen von Schwangerschaft und Ge- später, befinden sich noch immer 184 000 Menschen in burt verstirbt, ist dreimal größer, als dass es eine Grund- den Camps der Vereinten Nationen. schulausbildung abschließt.

Denken wir an die Schilderungen von Frau Koang am Der Bürgerkrieg, der im Südsudan seit Dezem- Anfang der Rede zurück. Sie zeigen nicht nur das un- ber 2013 wütet, trifft vor allem die Schwächsten. Jedes ermessliche Leid, sondern auch die Grenzen von UN- dritte Kind im Südsudan ist unterernährt, und eine Vier- MISS, die auch der Kollege van Aken hier angesprochen telmillion Kinder ist vom Hungertod bedroht. Zudem be- hat. Aber ist die Schlussfolgerung dann, hier zu sagen: richtet UNICEF von einer immer schlimmer werdenden „Weil UNMISS nicht auch noch im Land präsent sein Gewalt gegen Kinder. und jede Gewalt verhindern kann, wollen wir, dass diese 184 000 Menschen nicht geschützt sind“? Herr Kollege Es gehört zur grausamen Kriegstaktik beider Parteien, van Aken, ich kann Ihre zynische Argumentation an die- gezielt Kinder zu vergewaltigen, zu verstümmeln und zu ser Stelle nicht nachvollziehen. töten. Unter den 80 Zivilisten, die im Oktober bei Kämp- fen im Südsudan getötet wurden, waren mindestens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 57 Kinder. Damit nicht genug: Etwa 13 000 Minderjähri- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ge werden als Kindersoldaten zum Kämpfen gezwungen. der SPD) Die Gewalt in einem der ärmsten Länder Afrikas hat un- Ja, die Frauen und Männer haben Angst, das Camp zu vorstellbare Ausmaße angenommen. verlassen, weil die Mission auch nicht wirklich außer- Als der Südsudan vor vier Jahren gegründet wurde, halb wirken kann. Ihr fehlen Fahrzeuge, Hubschrauber war die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft groß, und Aufklärungsmittel. Ja, auch die Lage in den Camps dass dort Frieden eintreten könnte. Mittlerweile ist diese selbst ist extrem angespannt. Die Versorgung ist schwie- Hoffnung verflogen. Präsident Kiir und sein ehemaliger rig, aber natürlich gibt es auch Übergriffe und hohe Kri- Stellvertreter Machar tragen ihren brutalen Machtkampf minalitätsraten. Deshalb fehlt es auch ganz viel an Poli- auf dem Rücken der Bevölkerung aus. Sie treiben einen zei. blutigen Bürgerkrieg zwischen den beiden Volksgrup- pen, der Dinka und der Nuer, an. Bisher forderte dieser Herr Kollege Kiesewetter, Sie haben recht: Es ist eine Konflikt Zehntausende Todesopfer. (B) gute Entscheidung, wenn das deutsche Polizeiengage- (D) ment erhöht wird. Allerdings wird es von 10 auf 20 Po- Auch wenn UNMISS diese grausamen Auswüchse des lizeikräfte erhöht, und ich denke, wir brauchen hier viel Bürgerkriegs nicht verhindern konnte, durch die Mission mehr. Erst wenn wir bei einer Zahl von 100 sind, macht wurde und wird zumindest eine noch größere humanitäre es einen Unterschied. Katastrophe abgewendet. Die Mission ist also wichtig. Sie schützt unschuldige Menschen und rettet Leben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, derzeit sind 16 Bundes- Viereinhalb Millionen Menschen im Südsudan überle- wehrangehörige und 15 Polizisten Teil dieser wichtigen ben dank der Nahrungsmittelhilfe der UN. 200 000 Men- Friedensmission. Das ist ein sehr bescheidener Beitrag. schen haben Schutz vor Krieg und Gewalt in den Camps Großbritannien hat aktuell 300 zusätzliche Kräfte in den von UNMISS gefunden. Raum gestellt. Wir führen hier große Debatten über die neue deutsche Verantwortung in der Außen- und Sicher- Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag zur Ver- heitspolitik, und auch Herr Steinmeier als Außenminis- sorgung und zum Schutz der Menschen im Südsudan. ter und Frau von der Leyen als Verteidigungsministerin fordern das immer wieder ein. Hier können wir einen Seit Ausbruch des Bürgerkrieges hat Deutschland unmittelbaren Beitrag dazu leisten, dass Menschen vor über 80 Millionen Euro an humanitärer Hilfe geleistet. Gewalt geschützt werden – zivil, polizeilich, aber auch Diese Hilfe kann nur dank UNMISS bei den Bedürfti- militärisch. Ich finde, wir könnten und wir sollten viel gen ankommen. Daher beteiligt sich die Bundeswehr mehr für die Menschen im Südsudan tun. seit Beginn an der Mission. Die deutschen Soldatinnen und Soldaten leisten insbesondere im Stab des Missions- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hauptquartiers einen wichtigen Dienst. Sie sorgen dafür, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass die über 10 000 Blauhelme gut koordiniert einge- setzt werden.

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Zuletzt haben sich bis zu 16 deutsche Soldatinnen und Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Julia Soldaten ihrer Aufgabe gewidmet. Künftig können es bis ­Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. zu 50 sein. Wir waren auch jetzt schon bereit, mehr als 16, bis zu 50 dorthin zu senden. Dieser höhere Bedarf (Beifall bei der CDU/CSU) wurde aber bisher noch nicht abgefragt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13349

Julia Obermeier (A) Auch unterstützen deutsche Polizeikräfte die UN-Mis- Überweisungsvorschlag: (C) sion. Bisher sind es zehn, und künftig werden es doppelt Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz so viele sein. Verteidigungsausschuss Ein Spezialteam widmet sich insbesondere der Proble- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten matik sexueller Gewalt und Gewalt gegen Frauen. Dr. André Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke, wei- An dieser Stelle danke ich ganz herzlich all unseren terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE deutschen Einsatzkräften, die im Südsudan tätig sind. Parlamentarische Kontrolle der nachrichten- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dienstlichen Tätigkeit des Bundes verbessern ordneten der SPD) Drucksache 18/6645 Durch sie und ihre Mitstreiter der UN-Mission kommen Überweisungsvorschlag: die überlebensnotwendigen Hilfslieferungen an. Unsere Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Soldaten tun ihr Möglichstes, um die Zivilbevölkerung Verteidigungsausschuss zu schützen und für Frieden im Südsudan einzutreten. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, die Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie um Ihre Plätze einzunehmen und die Gespräche zu beenden, da- Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung, ins- mit wir in der Debatte fortfahren können. besondere um den Kindern im Südsudan eine Hoffnung auf Frieden zu geben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Danke. Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- beschlossen. ordneten der SPD) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Dr. André Hahn von der Fraktion Die Linke Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: das Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich (Beifall bei der LINKEN) die Debatte. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswär- Dr. André Hahn (DIE LINKE): tigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und (B) zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Herren! Eines möchte ich gleich zu Beginn klarstellen: (D) Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführ- An unserer programmatischen Zielsetzung zur Überwin- ten Friedensmission in Südsudan (UNMISS). Der Aus- dung bzw. zur mittelfristigen Abschaffung der Geheim- schluss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf dienste halten wir als Linke nach wie vor fest. Drucksache 18/6638, den Antrag der Bundesregierung (Beifall bei der LINKEN) auf Drucksache 18/6504 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte Ein wichtiger Schritt dahin ist der komplette Verzicht auf die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe- den Einsatz von V-Leuten, wie wir es in unserem Antrag nen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen fordern und wie es Thüringen bereits heute praktiziert. besetzt? – Dann eröffne ich die Abstimmung über die Solange wir die Geheimdienste nicht auflösen kön- Beschlussempfehlung. nen – Mehrheiten dafür sind leider nicht in Sicht –, muss Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- alles getan werden, um wenigstens die derzeit völlig un- me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. zureichenden parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe- zu verbessern. rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. nen. Das Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später be- 1) Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE kannt gegeben. GRÜNEN]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt Im Gesetzentwurf sowie im Antrag schlägt die Linke zum Tagesordnungspunkt 16 a und 16 b: daher knapp 20 konkrete Änderungen vor. Aus Zeitgrün- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten den kann ich nur einige ausgewählte Punkte nennen. So Dr. André Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke, gibt es gegenwärtig für das Parlamentarische Kontroll­ weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE gremium keinerlei Stellvertreterregelung. LINKE eingebrachten Entwurfs eines Ersten (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Doch! Ich Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über bin Stellvertreter!) die parlamentarische Kontrolle nachrichten- dienstlicher Tätigkeit des Bundes Das Kontrollgremium besteht aus neun Mitgliedern. Die beiden kleinen Fraktionen haben jeweils ein Mitglied im Drucksache 18/6640 PKGr. Im Falle einer Erkrankung oder eines anderwei- tigen Ausfalls sind insbesondere diese Fraktionen wo- 1) Ergebnis Seite 13355 D möglich über einen langen Zeitraum überhaupt nicht im 13350 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Dr. André Hahn (A) Kontrollgremium vertreten. Dies soll mit der vorgeschla- Abschließend noch ein letztes Wort zu den jüngsten (C) genen Neuregelung verändert werden. Vorwürfen gegen den BND. Wenn es denn stimmen sollte, dass reihenweise befreundete Regierungen, deren Nach der bisherigen Rechtslage können sich Mitarbei- Botschaften oder sogar deutsche Diplomaten ausgespäht terinnen und Mitarbeiter der Nachrichtendienste bei Pro- wurden, dann gibt es dafür keinerlei Rechtfertigung, blemen, Missständen oder der Feststellung von Rechts- nicht juristisch und schon gar nicht politisch. verstößen zwar an das PKGr oder eines seiner Mitglieder wenden; sie sind jedoch zugleich verpflichtet, die Leitung (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- des jeweiligen Dienstes darüber zu unterrichten. Das hat NIS 90/DIE GRÜNEN) in der Praxis dazu geführt, dass es kaum derartige Infor- mationen an das Kontrollgremium gab, weil Mitarbeiter Umso wichtiger ist eine wirksame parlamentarische der Dienste berufliche Nachteile befürchten mussten. Kontrolle der Geheimdienste. Dem dienen unser Gesetz- Deshalb soll dieser Passus nunmehr gestrichen werden. entwurf und unser Antrag. Die Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste sollen Herzlichen Dank. nach unserem Vorschlag nicht länger im geheim tagen- den Vertrauensgremium, sondern im regulären Haus- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- haltsausschuss beraten werden. Wir wollen hier vollstän- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dige Transparenz. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE Als nächster Redner hat Clemens Binninger von der GRÜNEN]) CDU/CSU-Fraktion das Wort. Nach unserem Gesetzentwurf soll es künftig nach Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. stimmung eines Drittels der Mitglieder des PKGr mög- [SPD]) lich sein, dass zu bestimmten brisanten Vorgängen entge- gen der grundsätzlichen Pflicht zur Geheimhaltung eine öffentliche Bewertung abgegeben werden kann. Bislang Clemens Binninger (CDU/CSU): ist dafür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Durch die Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! vorgeschlagene Neuregelung werden die Minderheiten- Zunächst einmal bin ich positiv überrascht, dass dieses rechte gestärkt. Thema heute Abend auf so viel Interesse im Plenum Zudem wollen wir eine Rechtsgrundlage dafür schaf- stößt. (B) (D) fen, dass die Mitglieder des Kontrollgremiums ihre Frak- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionsvorsitzenden über wichtige Vorgänge informieren NEN]: Wieso?) können. Denn sie sind nicht als Privatpersonen in den Gremien, sondern als Vertreter ihrer Fraktionen. Das hat sicherlich nichts mit der anschließenden nament- lichen Abstimmung zu tun. Vielmehr sind Sie alle nur (Beifall bei der LINKEN) hier, weil Sie Interesse an der parlamentarischen Kon­ Weiterhin soll im Gesetz festgeschrieben werden, dass trolle haben. von den Sitzungen des Kontrollgremiums ein kompletter Tonbandmitschnitt anzufertigen ist, um später bei Bedarf (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ prüfen zu können, ob Aussagen der Bundesregierung DIE GRÜNEN]: Damit wir Sie hören!) oder der Vertreter der Nachrichtendienste wahrheitsge- Insofern vielen Dank für Ihr Interesse. mäß und vollständig erfolgt sind. So waren zum Beispiel die brisanten BND-Selektoren der Bundesregierung seit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der 2013 bekannt. Eine Unterrichtung des Kontrollgremiums SPD und der LINKEN – Britta Haßelmann erfolgte erst im September 2015, und auch das nur unter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es liegt nicht dem Druck absehbarer Medienveröffentlichungen. an Ihnen!) Und schließlich: Nach der geltenden Rechtslage kann – Es liegt nicht an mir? Das ist ein harter Zwischenruf. das Bundesverfassungsgericht bei Streitigkeiten mit der Bundesregierung nur dann eingeschaltet werden, wenn Ich hoffe, dass es mir gelingt, ein paar Dinge klarzu- dies von einer Zweidrittelmehrheit des Kontrollgremi- stellen. Ich bin Ihnen dankbar, Kollege Hahn, dass Sie ums beschlossen wird. Das bedeutet im Klartext, dass mit einem Satz begonnen haben, der die ganze Debatte eine Anrufung des höchsten deutschen Gerichts nur dann eigentlich fast überflüssig macht. möglich ist, wenn die jeweilige Koalition die eigene Re- gierung verklagt. Das ist nicht nur theoretisch abwegig, (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Nein, über- sondern in der Praxis auch noch nie vorgekommen. Des- haupt nicht!) halb sollte es künftig einer Fraktion ermöglicht werden, eine Klage einzureichen, sofern sie sich in ihren Rechten – Doch. – Wer zu Beginn seiner Rede zum Tagesord- verletzt sieht. nungspunkt betreffend die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste sagt: „Unsere programmatische (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Grundaussage, dass wir die Nachrichtendienste abschaf- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fen wollen, bleibt bestehen“, vergibt sich nach meiner Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13351

Clemens Binninger (A) Auffassung das Recht auf die Kontrolle und die Reform Eigentlich geht es Ihnen aber nur um eines – das zieht (C) der Kontrolle. sich wie ein roter Faden durch –: den Mitwisserkreis ver- größern, mehr Teilnehmer, weniger Geheimhaltung und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und am liebsten gleich alles an das schwarze Brett hängen. der SPD – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch!) (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das Wenn man eine faire, objektive und nachhaltige parla- nennt man Transparenz!) mentarische Kontrolle ausüben will, kann man nicht gleichzeitig sagen: Eigentlich hat die Kontrolle nur das So funktioniert die Kontrolle von Nachrichtendiensten Ziel, die von mir zu Kontrollierenden abzuschaffen. – aber wirklich nicht. Deshalb kann man Ihren Vorlagen Dann bekommen Sie auf Dauer ein Glaubwürdigkeits- überhaupt nicht nahetreten. Wir Mitglieder des Parla- problem. mentarischen Kontrollgremiums sind gewählt. Aus die- sem gutem Grund gibt es keine Stellvertreterregelung. Nun muss man wissen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium durchaus eine besondere Stellung hat. Wenn Sie sagen, wenn jemand länger ausfalle, dann In Artikel 45 d unserer Verfassung sind wir, die Mitglie- sei eine kleine Fraktion nicht mehr in dem Gremium ver- der des Parlamentarischen Kontrollgremiums, ausdrück- treten, dann antworte ich: Für solche längeren Phasen, lich genannt, weil wir etwas machen, was die anderen die ich niemandem wünsche, gäbe es auch die Möglich- Ausschüsse nicht machen können. Wir sind stellvertre- keit, ein anderes Mitglied der Fraktion für diese Dauer tend für das ganze Plenum mit dieser Aufgabe betraut. zu wählen. Das wird Ihnen niemand verwehren. Es gibt Wir werden – auch die Vertreter der Opposition – in Möglichkeiten, für Ersatz zu sorgen. Aber einfach nur geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit gewählt – das ist mehr Öffentlichkeit herstellen und den Kreis der Perso- nichts Triviales –, weil wir hier die Interessen des gan- nen, die Brisantes erfahren, einfach erweitern zu wollen, zen Hauses vertreten. Wenn wir über parlamentarische bringt keinen Mehrwert für die Kontrolle. Wo ist da wirk- Kontrolle reden und hier Reformbedarf sehen – auch wir lich der Mehrwert? Sie haben mehr Mitwisser, aber keine tun das; ich komme gleich darauf zurück –, dann sollten bessere Kontrolle. Deshalb kann man alle diese Punkte wir uns bewusst sein, dass es eine Kontrolle sein muss, rundherum ablehnen. die unserem Anspruch genügt und nicht zum Ziel haben kann, Nachrichtendienste sturmreif zu schießen, weil es Wo ich etwas näher bei Ihnen bin – bei aller Vorsicht, im Parteiprogramm steht. weil ich weiß, dass auch die Kollegen der SPD und, wie ich glaube, auch die Kollegen der Grünen es so sehen –, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ist, dass wir als Gremiumsmitglieder zukünftig die Er- (B) ordneten der SPD) laubnis haben sollten, die Fraktionsvorsitzenden über (D) besondere Sachverhalte zu informieren. Das halte ich Nebenbei glaube ich, dass wir der Sicherheit unseres für notwendig angesichts der Bedeutung, die wir hier Landes keinen Gefallen tun würden, wenn wir auf Ih- im Hause haben, und auch angesichts der Bedeutung der rem Weg, Herr Hahn, voranschreiten würden. Wir sind Aufgabe. Das sind Punkte, die wir, wie ich glaube, schon uns doch hoffentlich einig, dass die Herausforderungen, verändern müssen. vor denen wir stehen – auch die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus –, Nachrichtendienste not- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Lieber nicht!) wendig machen. Wie sollen wir sonst an Erkenntnisse herankommen? Wie sonst sollen wir zu Beurteilungen – Volker, auch du wirst manches erfahren müssen. So ist gelangen, die für unsere Sicherheit von Bedeutung sind? es halt. Deshalb kann es zumindest für meine Fraktion – das gilt mit Sicherheit auch für die Kollegen von der SPD und (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der wahrscheinlich ebenfalls für die Kollegen von den Grü- CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- nen – an der Grundaussage, dass unsere wehrhafte par- SES 90/DIE GRÜNEN) lamentarische Demokratie Nachrichtendienste braucht – über die Kontrolle können wir ja reden –, keinen Zweifel Kommen wir zum Punkt Öffentlichkeit. Wir tagen geben. grundsätzlich geheim. Jeder, der das seriös bewertet, muss das einräumen. Das Dilemma wird sich nicht auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lösen lassen, weil die Sachverhalte, die wir erfahren, zu ordneten der SPD) brisant sind und weil eine Veröffentlichung die Arbeits- Ich versuche nun, mich mit Ihrem Antrag konkret aus- fähigkeit unserer Dienste gefährden würde. Aber dass einanderzusetzen, auch wenn er das Ziel hat, die Dienste man – die USA machen es auch – einmal im Jahr eine abzuschaffen. Ich habe die darin enthaltenen Forderun- öffentliche Befragung der Präsidenten der Nachrichten- gen genau gelesen. Ich will gleich vorausschicken: Bei dienste durchaus anberaumen kann, unter Berücksich- zwei oder drei Forderungen können wir uns durchaus tigung des Geheimschutzes, könnte am Ende nicht nur annähern. der Kontrolle, sondern auch der Akzeptanz der Dienste in unserer Gesellschaft dienen. Über solche Dinge kann (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) man mit uns reden. Aber einfach den Mitarbeiterkreis zu – Das kommt vor. Wir versuchen, es objektiv zu machen. erweitern, die Zahl der Wissenden zu erhöhen und das Ganze mit dem Ziel zu machen, die Nachrichtendienste (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Wir auch!) am Ende abzuschaffen, darüber kann man mit uns nicht 13352 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Clemens Binninger (A) reden und auch nicht verhandeln. Das ist eine klare Aus- viel höher wäre als das, das wir erreichen können. Man (C) sage. hätte am Ende Ergebnisse, und das würde zur Versachli- chung manch aufgeregter Debatte beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Wir als vom Parlament Gewählte hätten trotzdem das Sagen, wir würden die Aufträge erteilen. Dabei kämen Herr Kollege Hahn, Sie sind derzeit der Vorsitzende selbstverständlich alle Kollegen gleichermaßen zum des Gremiums, und ich bin Stellvertreter. Ich hätte mir Zuge. Wir verfahren nicht nach Opposition und Regie- gewünscht, dass Sie mit zwei Sätzen den Kollegen, die rung. Ich glaube, das ist der zentrale Ansatz. Die Instru- heute Abend hier sind, weil sie das Thema interessiert, mente, die wir zwar anwenden dürfen, aber so gut wie sagen, dass sich bei der parlamentarischen Kontrolle nie anwenden – das ist der ehrliche Befund –, können doch schon einiges verbessert hat. Wir haben in dieser wir an einen Stab geben, der uns zugeordnet ist und diese Legislatur, zum ersten Mal übrigens, sieben konkrete Aufgabe machen kann. Dann sind wir auch auf einem Kontrollaufträge benannt. Das war alles öffentlich, und Weg, dass die parlamentarische Kontrolle so ausgeführt ich verrate hier keine Geheimnisse. Die reichen von der wird, dass sie der Dimension der Aufgabe gerecht wird, Thematik der V-Leute bis hin zur Zusammenarbeit des dass sie unserem Anspruch gerecht wird, dass sie aber BND in anderen Bereichen. auch den Diensten nutzt. Ich sage immer: Ich stelle mich Wir haben eine Task Force gebildet. Auch das hatten vor die Dienste. Das kann ich aber nur, wenn ich sie vor- wir noch nie. Das sind Mitarbeiter, die in unserem Auf- her konsequent kontrolliert habe. Dann kann ich mich trag die Nachrichtendienste aufsuchen dürfen, sich dort davorstellen. Fehler benennen und sagen: „Das ist kein Akten zeigen lassen dürfen und dort Mitarbeiter befra- Fehler“, beides muss man können. Dazu brauchen wir gen dürfen. Dieses Mittel setzen wir ein. Wir setzen es diesen Stab. auch bei dem aktuellen Thema ein, das Sie angesprochen Wir werden wahrscheinlich im nächsten Jahr einen haben, nämlich bei der Frage, ob die Suchbegriffe des konkreten Gesetzentwurf vorlegen. Ich bitte Sie herzlich, BND möglicherweise gegen das Gesetz oder gegen das uns dabei zu unterstützen. Das wäre eine wirkliche Re- Auftragsprofil verstoßen. Auch da haben wir unsere Task form der parlamentarischen Kontrolle. Ihr Papierchen ist Force eingesetzt. getragen von dem ersten Satz: Eigentlich wollen wir die Wir werden unserer Kontrollaufgabe gerecht. Des- Nachrichtendienste abschaffen. Dafür sind wir, aber auch halb müssen wir, wenn wir über Reformen sprechen, die Mehrheit in diesem Hause, nicht zu haben. über die größte Schwachstelle der parlamentarischen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Kontrolle sprechen. Das ist die Selbstkritik, Herr Kol- (B) lege Hahn. Alle, die in diesem Gremium einmal waren, (D) werden zugeben müssen, dass man als Abgeordneter, der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: noch andere Aufgaben hat, überhaupt nicht die notwen- Jetzt erhält der Kollege Dr. Hahn das Wort zu einer dige Zeit hat, um die Kontrollinstrumente, die das Gesetz Kurzintervention. vorsieht, anzuwenden. Uns fehlt schlicht und einfach die Zeit. Man brauchte viele Tage und Wochen im Jahr, um Dr. André Hahn (DIE LINKE): Behörden aufzusuchen und Mitarbeiter zu befragen. Wir Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollege Binninger, da machen das, aber alles nur sehr punktuell. Sie mich mehrfach direkt angesprochen haben, möchte ich auf drei Punkte kurz reagieren. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sie haben Herr Kollege Binninger, lassen Sie eine Zwischenfra- vor mir geredet!) ge zu? Sie haben sinngemäß gesagt: Wer für die Abschaffung (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ich wollte der Geheimdienste sei, der hätte nicht das Recht, Verbes- eine Kurzintervention!) serungs- und Veränderungsvorschläge zu machen. Ich – Okay. Dann machen wir anschließend eine Kurzinter- halte das für ein sehr fragwürdiges Demokratieverständ- vention. nis – um das klar zu sagen. (Beifall bei der LINKEN) Clemens Binninger (CDU/CSU): Wir haben eine politische Programmatik, und wir arbei- Ich würde auch die Frage zulassen. Dann sind wir ten hier im Parlament konstruktiv mit. Sie haben zu Recht durch. gesagt, es gibt dafür keine Mehrheiten. Dann behalten Deshalb sind wir zurzeit dabei, die größten Schwach- wir uns aber auch das Recht vor, konkrete Vorschläge zu punkte mit einer Reform zu beseitigen. Wir sagen ge- machen, was an der jetzigen Situation verbessert werden meinsam mit den Kollegen der SPD: Es wäre hilfreich, kann. wenn wir im Gremium eine hochrangige Person – Sie (Beifall bei der LINKEN) können sie Geheimdienstbeauftragter nennen oder Stän- diger Bevollmächtigter – hätten, die mit einem Arbeits- Zweiter Punkt. Sie haben gesagt, Sie hätten sich ge- stab das ganze Jahr in unserem Auftrag diese Kontroll- wünscht, dass ich einräume, dass sich bei der parlamen- funktion ausübt, sich also ganzjährig dieser Aufgabe tarischen Kontrolle das eine oder andere verbessert hat. widmet. Dann hätten wir ein Kontrollniveau, das sehr Ich habe gestern eine Pressekonferenz gegeben, in der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13353

Dr. André Hahn (A) ich unsere Entwürfe vorgestellt habe. Ich habe zehn Mi- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) nuten damit verbracht, zu sagen, was sich positiv entwi- Also, jetzt muss ich einmal unterbrechen. Der Kollege ckelt hat. Binninger hat das Wort. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber hier nicht einen Satz!) Clemens Binninger (CDU/CSU): Ich bin auch gleich fertig. – Herr Kollege Binninger, ich habe die Punkte dort be- nannt. Ich habe hier, anders als Sie, nur vier Minuten Dritter Punkt. Natürlich gab es in den letzten Jahren Redezeit. Da muss ich mich leider darauf beschränken, Versäumnisse und schwere Fehler bei den Nachrichten- unsere Vorschläge vorzustellen. diensten, Beispiel NSU. Aktuell gehen wir den Fragen nach. Das ist richtig und auch unsere Aufgabe. Ich möch- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder te aber nicht dieses Pauschalurteil, das besagt, dass die [CDU/CSU]: Wenn Sie uns loben, kriegen Sie Dienste per se alle auf dem falschen Dampfer sind, wir von uns Redezeit!) müssen sie abschaffen. Dritter Punkt. Herr Kollege Binninger, Sie haben (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) gesagt, man kann die Nachrichtendienste nicht einfach sturmreif schießen, weil man die Auflösung in seinem Differenzierung und faire Kritik gehören auch zur parla- Parteiprogramm vorgesehen hat. Hier muss ich ganz klar mentarischen Kontrolle. sagen: Die deutschen Nachrichtendienste haben in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- letzten Monaten und Jahren durch Pannen und Skandale ordneten der SPD) selbst alles dafür getan, ihre eigene Existenzberechtigung infrage zu stellen. Darüber müssen wir hier reden. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Als nächster Redner spricht Hans-Christian Ströbele NIS 90/DIE GRÜNEN) von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Kollege Binninger, wünschen Sie das Wort zur Erwiderung? Frau Präsidentin! Liebe Freundinnen und Freunde der Geheimdienste und liebe Freundinnen und Freunde der (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein- Kontrolle der Geheimdienste! fach sagen, es stimmt!) (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Clemens Binninger (CDU/CSU): Jeder kann überlegen, wo er sich da einordnet. Ich mache es kurz. Der Vorschlag, den die Linke relativ überraschend Erster Punkt. Ich habe gesagt, Sie haben ein Glaub- gemacht hat – ich habe die Vorlagen trotzdem gelesen – würdigkeitsproblem. Natürlich können Sie hier Anträge enthält viel Richtiges, vieles von dem, was wir schon seit einbringen, wie Sie es für richtig halten. Aber wie soll Jahren fordern, wozu wir Gesetzesvorschläge gemacht man dem, der sagt, er will die Dienste abschaffen, ernst- haben, die leider noch keine Mehrheit im Deutschen haft abnehmen, dass er in der Lage ist, objektiv und fair Bundestag gefunden haben. Dazu gehören das stellver- zu kontrollieren? Das ist ein Glaubwürdigkeitsproblem. tretende Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremi- um – das muss einfach sein; aus unbekannten Gründen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wird das verweigert –, die Unterrichtung des Fraktions- GRÜNEN]: Macht er doch jeden Tag!) vorstandes – es ist völlig absurd, dass man das nicht darf; Zweiter Punkt. Dafür, dass Sie nur vier Minuten Rede- das war früher schon einmal anders – und natürlich auch zeit haben, kann ich nichts. Es ist letztendlich Ausdruck die Anwesenheit von Mitarbeitern bei Sitzungen. Auch des Wählerwillens, dass Sie vier Minuten haben und ich sie sollten dabei sein dürfen. zehn Minuten. Das müssen Sie einfach so akzeptieren. Aber ich sage Ihnen: Das eigentliche Problem ist ein (Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth anderes. Lieber Kollege Binninger, ich schließe mich (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gern an, wenn wir einmal einen Abend lang Selbstkritik Aber die Redezeit ist nicht gewählt! – ­Susanna üben. Karawanskij [DIE LINKE]: Die Geschäfts- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie dabei ordnung bietet andere Möglichkeiten!) sind, brauchen wir zwei Abende!) – Es ist halt so. Ich kann nichts dafür. Bei einigem haben Sie ja recht. Viele Abgeordnete haben einfach nicht die Zeit, sich ausreichend zu kümmern. Wir (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie loben, können gerne einen solchen Abend veranstalten; ich ma- kriegen Sie Redezeit! – Gegenruf der Abg. che mit. ­Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das stimmt überhaupt nicht, Herr Kauder! Das ist Heute will ich einmal sagen, woran die Kontrolle der doch Quatsch!) Nachrichtendienste in den letzten Jahren, vor allen Din- 13354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Hans-Christian Ströbele (A) gen seit der Snowden-Enthüllung, gescheitert ist, näm- Haben Sie Angst vor Ihrer eigenen Rede, die dann proto- (C) lich an den Mitgliedern der Bundesregierung, der Ge- kolliert worden ist? Das darf nicht sein. heimdienste, die mich und Sie und andere, die in dem Parlamentarischen Kontrollgremium sitzen, belogen Drittens. Wir brauchen Sanktionen gegen Mitglieder haben, die die Unwahrheit gesagt haben, der Bundesregierung, gegen Mitglieder der Geheim- dienste, die uns im Parlamentarischen Kontrollgremium (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN belogen haben. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die verschwiegen haben, die da saßen wie Engel und den und bei der LINKEN) Eindruck erweckten: Wir wissen von nichts; keine Ah- Es reicht nicht, im Gesetz zu verankern, wie es die Linke nung, was der Snowden da will; keine Ahnung, was die jetzt will, dass die Mitglieder von Bundesregierung und USA machen. Wir kümmern uns doch nicht um Freun- Geheimdiensten vollständig und wahrheitsgemäß infor- de. – Sogar hatte die Kanzlerin gesagt, das Abhören von mieren müssen; vielmehr muss es Folgen haben, wenn Freunden gehe gar nicht. Was wir jetzt alles an Infor- sie lügen. Wir müssen gesetzlich verankern, dass es min- mationen, an Meldungen bekommen, das zeigt, dass das destens ein Disziplinarvergehen ist, wenn dort falsch überwiegend gelogen war, und das darf doch nicht wahr ausgesagt wird. Es kann doch nicht angehen, dass zwar sein. Falschaussagen im Untersuchungsausschuss strafrecht- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Konsequenzen haben, während wir Abgeordnete und bei der LINKEN) im Parlamentarischen Kontrollgremium nach Strich und Faden belogen werden können, ohne dass das irgendeine Da müssen Sie etwas verbessern. Deshalb fordere ich Konsequenz hat. drei Punkte: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erstens. In solchen parlamentarischen Gremien muss und bei der LINKEN) die Opposition die Möglichkeit haben, allein Sachen durchzusetzen. Der letzte Punkt, den ich anfügen will – das ist mein Lieblingspunkt –: Das sind die Whistleblower. Wir brau- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- chen in unseren Gesetzen – wir haben das mehrfach SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) beantragt – Möglichkeiten, dass, wenn unter dem Deck- mantel der Geheimhaltung Grundrechte verletzt werden, Das heißt, wir brauchen Oppositionsrechte, auch wenn wenn die Verfassung von Bund oder Ländern gebrochen die Opposition noch so klein ist. Denn die Regierungs- wird, man das als Abgeordneter frei hier von diesem Po- (B) koalition sieht ihre Hauptaufgabe darin – das ist auch dium aus oder auch in den Ausschüssen sagen darf, ohne (D) eine Kritik an Ihnen –, sich vor die Geheimdienste zu dass der Staatsanwalt anschließend anklopft. stellen, sie zu schützen und zu rechtfertigen, was sie tut. So ist die Realität. Nur die Opposition kann das durch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN brechen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens. Wir brauchen – das fordere ich jetzt seit Eine solche Regelung haben wir schon einmal im Straf- zehn Jahren – eine wörtliche Protokollierung von dem, gesetzbuch gehabt. was in den Sitzungen dieses Gremiums gesagt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN – ­Volker Die muss man wieder einführen. Wenn Sie eine wirkliche Kauder [CDU/CSU]: Damit man es weiter an Kontrolle haben wollen, dann schließen Sie sich mir an. die Presse geben kann!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist doch ein Unding, dass wir uns jetzt nicht über die, und bei der LINKEN – Dr. André Hahn [DIE glaube ich, acht oder zehn Sondersitzungen im Jahr 2013 LINKE]: Das steht bei uns drin!) unterhalten können, um der Frage nachzugehen: Was hat da Herr Schindler gesagt? Was hat da Herr Pofalla ge- sagt? Was hat der Minister gesagt? Wenn wir das nicht Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nachhalten können, können wir sie nicht überführen, dass Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Gabriele sie uns belogen haben; vielmehr sind wir auf unser eige- ­Fograscher von der SPD-Fraktion das Wort. nes Gedächtnis angewiesen. (Beifall bei der SPD) Das, was in anderen Ausschüssen möglich ist, bei- spielsweise im Auswärtigen Ausschuss – da werden auch Gabriele Fograscher (SPD): geheime Sitzungen mitgeschnitten –, muss eingeführt Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! werden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Enthüllun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen – Einzelheiten aus geheimen Unterlagen, Skandal­ sowie bei Abgeordneten der LINKEN) trächtiges – über die Dienste in den Medien berichtet wird. Und so fällt es einem in diesen Tagen nicht gerade Jeder, der das Kontrollgremium arbeitsfähig machen leicht, sich für die Nachrichtendienste in Deutschland will, der muss das wollen. Warum wollen Sie das nicht? und ihre Notwendigkeit für die Sicherheit in Deutschland Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13355

Gabriele Fograscher (A) und Deutscher im Ausland auszusprechen. Verfassungs- Klar ist für uns: Der Bundesnachrichtendienst braucht (C) schutz und Bundesnachrichtendienst haben viel Vertrau- eine neue gesetzliche Grundlage. Dafür haben wir be- en und Glaubwürdigkeit verspielt. reits vor der Sommerpause Eckpunkte vorgelegt. Wir fordern: Bei Erstbeauftragung einer Maßnahme muss Die Unfähigkeit des Verfassungsschutzes von Bund der BND-Präsident zustimmen. Weiter fordern wir: aus- und Ländern und anderer Sicherheitsbehörden, die Mord- drückliches Verbot der Wirtschaftsspionage; besonderen serie des Nationalsozialistischen Untergrunds aufzude- Schutz von EU-Bürgern, EU-Mitgliedstaaten und EU-In- cken und Straftaten zu verhindern, beschäftigt bis heute stitutionen; ausdrückliches Verbot eines systematischen den Bundestag und die Länderparlamente. Weil es viele Ringtauschs zur Umgehung nationaler Restriktionen und Zweifel und ungelöste Fragen gibt, haben wir gestern deutliche organisatorische Maßnahmen, was heißt, dass den 2. Untersuchungsausschuss zum NSU eingesetzt. Als einzelne Abteilungen kein Eigenleben mehr führen dür- Konsequenz aus dem 1. NSU-Untersuchungsausschuss fen. haben wir mit Reformen des Verfassungsschutzes begon- nen. Zufrieden können wir damit aber noch nicht sein. Die Linke macht in ihrem Antrag und in ihrem Ge- setzentwurf zahlreiche Vorschläge, die mal mehr, mal (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weniger geeignet sind, die parlamentarische Kontrolle DIE GRÜNEN) der Dienste zu stärken. Ich frage mich aber: Wozu der ganze Aufwand, wenn es – ich zitiere aus dem Antrag – Die Veröffentlichungen von Edward Snowden nur als Übergangslösung auf dem Weg zur Abschaffung im Sommer 2013, der Untersuchungsausschuss zur der Geheimdienste gedacht ist? NSA-Affäre, Medien und Kontrollgremien des Bundes- tages decken immer neue Sachverhalte auf. Sie legen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das teilweise problematische Agieren des BND und be- freundeter Dienste offen. Schwere technische und orga- Wir als Koalition wollen mit unseren Vorschlägen die nisatorische Defizite sind beim Bundesnachrichtendienst Dienste stärken, sie leistungsfähiger und zielgerichteter zutage getreten. aufstellen und befähigen, die Herausforderungen der heutigen Zeit und der Zukunft bewältigen zu können. Unsere Antwort auf die Vorwürfe und Affären besteht in der Aufklärung der Defizite in den Strukturen und der Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ursachen für die Fehlentwicklungen. Daraus müssen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden wir Konsequenzen für die Reform und Neuaus- der CDU/CSU) richtung der Dienste ziehen und diese zügig umsetzen. (B) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (D) Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Erste Schritte haben wir bereits unternommen. Wir haben die Geschäftsordnung des Parlamentarischen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Kontrollgremiums verbessert, es personell aufgestockt den Drucksachen 18/6640 und 18/6645 an die in der und eine Task Force geschaffen, die Sachverhalte unter- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. suchen kann, und die Einsetzung eines Sonderermittlers Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ermöglicht. Die Task Force arbeitet. Der Sonderermittler sind die Überweisungen so beschlossen. hat einen Bericht zum Komplex „Corelli“ vorgelegt. Mit diesen erweiterten Handlungsoptionen kann das Parla- Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich, mentarische Kontrollgremium aktiver agieren, und die bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, Qualität der Kontrolle hat sich verbessert. das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er- mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über Das reicht uns aber noch nicht. Deshalb wollen wir die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher den Ständigen Beauftragten mit eigenem Arbeitsstab. Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Dieser soll sowohl für das Parlamentarische Kontroll­ Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage gremium als auch für das Vertrauensgremium und die der Resolution 1996 des Sicherheitsrates der Vereinten G10-Kommission arbeiten und diese unterstützen. Wir Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zu- erwarten auch noch mehr selbstständige Information letzt 2241 vom 9. Oktober 2015 bekannt geben: abge- durch die Bundesregierung und die Nachrichtendienste gebene Stimmen 578. Mit Ja haben gestimmt 518, mit über Vorkommnisse, die politisch brisant sind oder sein Nein haben gestimmt 58, Enthaltungen gab es 2. Die Be- könnten. schlussempfehlung ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ja Thomas Bareiß Dr. Andre Berghegger Dr. Christoph Bergner Abgegebene Stimmen: 577; CDU/CSU Günter Baumann davon Maik Beermann ja: 517 Katrin Albsteiger (Börde) nein: 58 Clemens Binninger enthalten: 2 Dorothee Bär 13356 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Dr. Stephan Harbarth Dr. Roy Kühne (C) Klaus Brähmig Jürgen Hardt Uwe Lagosky Michael Brand Dr. Karl A. Lamers Dr. Martin Pätzold Dr. Andreas G. Lämmel Ulrich Petzold Dr. Norbert Lammert Dr. Dr. Dr. Stefan Heck Sibylle Pfeiffer Dr. Dr. Ulrich Lange Ralph Brinkhaus Dr. Cajus Caesar Paul Lehrieder (Chemnitz) Dr. Alexandra Dinges-Dierig Mark Helfrich Dr. Alois Rainer Uda Heller Dr. Dr. Jörg Hellmuth Philipp Graf Lerchenfeld Marie-Luise Dött Dr. Hansjörg Durz Antje Lezius Iris Eberl Matthias Lietz Dr. Jutta Eckenbach Christian Hirte Andrea Lindholz Johannes Röring Dr. Bernd Fabritius Dr. Heribert Hirte Dr. Norbert Röttgen Hermann Färber Robert Hochbaum Wilfried Lorenz Erwin Rüddel Uwe Feiler Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. (Dortmund) Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Alexander Hoffmann Ingrid Fischbach Karl Schiewerling Dirk Fischer (Hamburg) Franz-Josef Holzenkamp Thomas Mahlberg Jana Schimke Axel E. Fischer Dr. Dr. Thomas de Maizière Norbert Schindler (Karlsruhe-Land) Margaret Horb Dr. Bettina Hornhues Matern von Marschall Heiko Schmelzle Klaus-Peter Flosbach Anette Hübinger Hans-Georg von der Marwitz Christian Schmidt (Fürth) (B) Hubert Hüppe Gabriele Schmidt (Ühlingen) (D) Dr. Astrid Freudenstein (Altötting) Ronja Schmitt Dr. Hans-Peter Friedrich Reiner Meier (Hof) Sylvia Jörrißen Dr. Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Franz Josef Jung Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Michael Fuchs Xaver Jung Dr. Klaus-Peter Schulze Hans-Joachim Fuchtel Dr. Egon Jüttner Dr. h.c. Alexander Funk Bartholomäus Kalb Dr. Mathias Middelberg Ingo Gädechens Hans-Werner Kammer (Weil am Rhein) Dr. Steffen Kanitz Karsten Möring Christina Schwarzer Marlene Mortler Volker Mosblech Cemile Giousouf Bernhard Kaster Dr. Josef Göppel Volker Kauder Carsten Müller Bernd Siebert Roderich Kiesewetter (Braunschweig) Ursula Groden-Kranich Dr. Stefan Müller (Erlangen) Johannes Singhammer Hermann Gröhe Dr. Gerd Müller Klaus-Dieter Gröhler Jürgen Klimke Dr. Philipp Murmann Michael Grosse-Brömer Dr. Carola Stauche Astrid Grotelüschen Michaela Noll Dr. Markus Grübel Helmut Nowak Dr. Carsten Körber Dr. Georg Nüßlein Albert Stegemann Julia Obermeier Monika Grütters Wilfried Oellers Dr. Florian Oßner Fritz Güntzler Dr. Günter Krings Dr. Rüdiger Kruse Henning Otte Christian Frhr. von Stetten Florian Hahn Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13357

(A) Rita Stockhofe Wolfgang Hellmich Martin Rabanus (C) Gero Storjohann Dr. Barbara Hendricks Stephan Stracke Heinz-Joachim Barchmann Heidtrud Henn Stefan Rebmann Max Straubinger Dr. Gerold Reichenbach Matthäus Strebl Gabriele Hiller-Ohm Dr. Carola Reimann Thomas Hitschler Thomas Stritzl Dr. Matthias Bartke Dr. Eva Högl Sönke Rix Lena Strothmann Sören Bartol Matthias Ilgen Petra Rode-Bosse Michael Stübgen Bärbel Bas Christina Jantz Dr. Sabine Sütterlin-Waack Uwe Beckmeyer Dr. Lothar Binding (Heidelberg) Josip Juratovic René Röspel Astrid Timmermann-Fechter Dr. Dr. Hans-Peter Uhl Oliver Kaczmarek Michael Roth (Heringen) Dr. Volker Ullrich Dr. Karl-Heinz Brunner Johannes Kahrs Bernd Rützel Edelgard Bulmahn Sarah Ryglewski Dr. Marina Kermer Annette Sawade Michael Vietz Petra Crone Dr. Hans-Joachim (Kleinsaara) Lars Klingbeil Schabedoth Sven Volmering Dr. Daniela De Ridder Dr. Bärbel Kofler Dr. Christel Voßbeck-Kayser Dr. Karamba Diaby Birgit Kömpel Dr. Dorothee Schlegel Dr. Martin Dörmann Ulla Schmidt (Aachen) Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Ulrich Krüger Matthias Schmidt (Berlin) Nina Warken Siegmund Ehrmann Christian Lange (Backnang) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Michaela Engelmeier Dr. (Erfurt) Petra Ernstberger Steffen-Claudio Lemme (Hamburg) (B) Burkhard Lischka (Spandau) (D) Dr. Anja Weisgerber Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Fritz Felgentreu Kirsten Lühmann Frank Schwabe Sabine Weiss (Wesel I) Christian Flisek Gabriele Fograscher Katja Mast Andreas Schwarz Karl-Georg Wellmann Dr. Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Matthias Miersch Waldemar Westermayer Michael Gerdes Norbert Spinrath Peter Wichtel Iris Gleicke Detlef Müller (Chemnitz) Martina Stamm-Fibich Annette Widmann-Mauz Angelika Glöckner Bettina Müller Heinz Wiese (Ehingen) Michelle Müntefering Peer Steinbrück Klaus-Peter Willsch Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich Dr. Frank-Walter Steinmeier Elisabeth Winkelmeier- Gabriele Groneberg Christoph Strässer Becker Michael Groß Uli Grötsch Ulli Nissen Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Gunkel Mahmut Özdemir (Duisburg) Barbara Woltmann Markus Paschke Dr. Karin Thissen Rita Hagl-Kehl Jeannine Pflugradt Franz Thönnes Heinrich Zertik Metin Hakverdi Carsten Träger Ulrich Hampel Rüdiger Veit Dr. Matthias Zimmer Michael Hartmann Joachim Poß Ute Vogt Gudrun Zollner (Wackernheim) (Minden) Dirk Vöpel Sebastian Hartmann SPD Dr. Wilhelm Priesmeier Niels Annen Hubertus Heil (Peine) Ingrid Arndt-Brauer Dr. Gülistan Yüksel Rainer Arnold Dr. Simone Raatz Dagmar Ziegler 13358 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Renate Künast Nein (C) Dr. Jens Zimmermann Markus Kurth Stefan Liebich Manfred Zöllmer Monika Lazar SPD Dr. Gesine Lötzsch Dr. Tobias Lindner DIE LINKE Birgit Menz Cornelia Möhring BÜNDNIS 90/ Nicole Maisch Jan van Aken DIE GRÜNEN Peter Meiwald Dr. Dietmar Bartsch Norbert Müller (Potsdam) Luise Amtsberg Dr. Alexander S. Neu Annalena Baerbock Beate Müller-Gemmeke Karin Binder Özcan Mutlu Matthias W. Birkwald Marieluise Beck (Bremen) Petra Pau (Köln) Dr. Konstantin von Notz Harald Petzold (Havelland) Christine Buchholz Dr. Franziska Brantner Omid Nouripour Richard Pitterle Eva Bulling-Schröter Agnieszka Brugger Friedrich Ostendorff Roland Claus Ekin Deligöz Cem Özdemir Dr. Petra Sitte Katja Dörner Lisa Paus Sevim Dağdelen Katharina Dröge Brigitte Pothmer Dr. Diether Dehm Dr. Kirsten Tackmann Klaus Ernst Tabea Rößner Azize Tank Wolfgang Gehrcke Dr. Thomas Gambke Claudia Roth (Augsburg) Frank Tempel Annette Groth Corinna Rüffer Dr. Axel Troost Dr. Andre Hahn Kai Gehring Heike Hänsel Kathrin Vogler Katrin Göring-Eckardt Elisabeth Scharfenberg Dr. Rosemarie Hein Halina Wawzyniak Ulle Schauws Inge Höger Britta Haßelmann Dr. Gerhard Schick Andrej Hunko Birgit Wöllert Dr. Dr. Frithjof Schmidt Sigrid Hupach Bärbel Höhn Kordula Schulz-Asche Ulla Jelpke Sabine Zimmermann Uwe Kekeritz Dr. Wolfgang Susanna Karawanskij (Zwickau) (B) Katja Keul Strengmann-Kuhn (D) Maria Klein-Schmeink Hans-Christian Ströbele Katja Kipping Tom Koenigs Enthalten Sylvia Kotting-Uhl Dr. Julia Verlinden Katrin Kunert Oliver Krischer Doris Wagner Caren Lay SPD Stephan Kühn () Beate Walter-Rosenheimer Sabine Leidig Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Kühn (Tübingen) Dr. Valerie Wilms Ralph Lenkert (Essen)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt Über die Beschlussempfehlung werden wir später zum Tagesordnungspunkt 17: ebenfalls namentlich abstimmen.

– Beratung der Beschlussempfehlung und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für des Berichts des Auswärtigen Ausschusses die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das auch gierung so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter Debatte hat Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion das deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hy- Wort. brid-Operation in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sicherheitsrates der Vereinten Nationen der CDU/CSU) vom 31. Juli 2007 und folgender Resoluti- onen, zuletzt 2228 (2015) vom 29. Juni 2015 Lars Klingbeil (SPD): Drucksachen 18/6503, 18/6639 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Zeit schon fortgeschritten ist, halte ich Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- die Diskussion hier im Deutschen Bundestag über eine schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung weitere Beteiligung der Bundeswehr am Mandat in Dar- fur für sehr wichtig. Ich möchte mich auch gleich zu Drucksache 18/6684 Beginn dieser Diskussion bei all denen bedanken, die in Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13359

Lars Klingbeil (A) den letzten Jahren für die Bundesrepublik Deutschland ernährt. Und in der Region sind 2,6 Millionen Menschen (C) in Darfur waren, egal ob als Helfer in den NGOs, ob als als Binnenflüchtlinge unterwegs. Polizisten oder als Soldatinnen und Soldaten. Wir haben viele Menschen dorthin entsandt. Ich denke, wir alle kön- Ich will nur zwei weitere Zahlen nennen, die ver- nen dankbar sein für den Einsatz, den sie dort geleistet deutlichen, wie wichtig unser Engagement in Afrika haben. ist. Bis 2050 wird sich die Bevölkerungszahl in Afrika auf 2,4 Milliarden Menschen verdoppeln. Von diesen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 2,4 Milliarden Menschen im Jahr 2050 wird 1 Milliarde unter 18 Jahren sein. Wir können doch heute schon abse- Die Vereinten Nationen haben die Situation in Darfur hen, dass viele dieser Menschen versuchen werden, ein vor wenigen Jahren als eine der schrecklichsten huma- besseres Leben zu führen, als das heute in Afrika der Fall nitären Katastrophen bezeichnet. Wenn wir uns die Zahl der Opfer anschauen, dann sehen wir, dass es seit 2003 in ist. Wenn wir in diesen Tagen ausführlich über Fluchtur- diesen Auseinandersetzungen über 300 000 Tote gegeben sachen reden, dann müssen wir uns hier im Parlament hat. bewusst machen, wie wichtig Frieden und Stabilität auf dem afrikanischen Kontinent sind, wenn wir wollen, dass Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben gestern die Menschen dort vernünftig leben können. Wir müssen Abend mit einem Zapfenstreich und heute Morgen mit ihnen eine Perspektive bieten. Deswegen ist unser En- einer großen parlamentarischen Debatte „60 Jahre Bun- gagement auf dem afrikanischen Kontinent so wichtig. deswehr“ gefeiert. Ich finde, bei einer Mission wie UNA- MID sollten wir uns immer wieder bewusst machen: Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben eine Parlamentsarmee. Wir als Parlamentarier sind der CDU/CSU und der Abg. Marieluise Beck es, die die Soldatinnen und Soldaten in den Auslandsein- (Bremen) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) satz schicken. – Selbst wenn es im aktuellen Mandat nur sieben Soldatinnen und Soldaten sind: Trotzdem gehört Eine militärische Stabilisierung der Region kann nicht eine solche Diskussion in das Parlament, hier in den funktionieren. Eine Gesamtstrategie ist wichtig. Ich will Deutschen Bundestag. Wir müssen uns unsere Verant- auch hier ein paar Fakten nennen, damit man einfach wortung bewusst machen. Es ist richtig, dass wir über sieht, wie umfassend das Engagement der Bundesregie- jeden Einsatz der Bundeswehr hier im Parlament disku- rung ist. Allein im Jahr 2015 haben wir 7,1 Millionen tieren und auch namentlich darüber abstimmen. Euro in humanitäre Hilfe investiert. Am Kofi Annan International Peacekeeping Training Centre, das vom (Beifall bei der SPD) Auswärtigen Amt gefördert wird, wurden über 300 Poli- zisten ausgebildet. Das BMZ finanziert über einen Regi- (B) Ein Weiteres, was auch eng mit diesem Einsatz zu- onalfonds unterschiedlichste NGOs, die an der Sicherung (D) sammenhängt, ist: Es gilt, uns noch einmal bewusst zu der Wasser- und Gesundheitsversorgung arbeiten. Und machen, wie sehr die Welt im Umbruch ist. Ich erinne- 16 Millionen Euro fließen vonseiten der Bundesregie- re mich daran: Vor sechs Jahren, als ich Mitglied des rung in Projekte, die die berufliche Bildung und Ausbil- Deutschen Bundestages wurde, war die außen- und si- dung in der Region fördern sollen. Hier sieht man, wie cherheitspolitische Diskussion eine Nebendebatte. Heute unterschiedlich der Ansatz ist. Ich glaube, nur eine solche reden wir eigentlich nur noch über die Außen- und Si- gemeinsame Strategie im Sinne einer Gesamtstrategie cherheitspolitik. Wenn wir uns die weltpolitische Lage kann erfolgreich sein. anschauen – die Ukraine, Syrien, der Nahe Osten, aber auch Afrika –, dann sehen wir, wie brachial die weltpo- Das Mandat, über das wir heute entscheiden, ist ein litische Lage auf einmal auch in unseren Fokus gerückt gemeinsames Mandat der Vereinten Nationen und der ist. Es ist unsere Verantwortung als Parlament, die ent- Afrikanischen Union und verfolgt drei Ziele: zum Ers- sprechende sicherheitspolitische Diskussion zu führen. ten den Schutz von Zivilpersonal und zivilen Helfern, Wir tun das gerade im Rahmen des Weißbuch-Prozesses. zum Zweiten die Erleichterung bei der Bereitstellung Ich finde aber, wir müssten hier im Parlament noch viel von humanitärer Hilfe und zum Dritten die Unterstüt- stärker sicherheitspolitische Diskussionen führen in der zung bei der Vermittlung zwischen den Konfliktparteien. Art, wie es heute Morgen der Fall war. Das gehört auch Insgesamt sind es 16 000 Soldatinnen und Soldaten und zu unserer Verantwortung als Parlamentarier. 1 500 Polizistinnen und Polizisten, die dort unterwegs (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sind. Noch einmal: Das Mandat sieht vor, dass es bis zu CDU/CSU) 50 deutsche Soldatinnen und Soldaten sein können. Ak- tuell sind sieben Soldaten und ein Polizist vor Ort, die Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation in vor allem die Stäbe unterstützen. Darfur ist seit 2003 fragil. Wir haben dort nicht die Fortschritte, die wir uns wünschen. Nein, viel zu häufig Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich will noch gibt es sogar Rückschritte vor Ort. Wir sehen, dass un- einmal betonen: Ich glaube, dass Militär in dieser Region terschiedliche ethnische Gruppen, Rebellengruppen und keinen Frieden bringen kann. Aber Militär und Bundes- Regierungen sich immer wieder in Kämpfen befinden. wehr können eine wichtige Unterstützung bieten, wenn Aber es ist richtig, dass wir uns dort engagieren. Wenn es darum geht, auf dem steinigen Weg politischer Ver- man sich die Zahlen anschaut, dann sieht man, dass handlungen ökonomischen Aufbruch und soziale Stabili- 4,4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewie- tät herzustellen. Die Bundeswehr kann helfen, dort einen sen sind. Allein 2 Millionen Kinder in Darfur sind unter­ Rahmen zu setzen. Deswegen halten wir als SPD-Frakti- 13360 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Lars Klingbeil (A) on es für richtig, dass wir heute das Mandat um ein wei- nitäre Lage, 2 Millionen Kinder akut unterernährt, eine (C) teres Jahr verlängern. desaströse Menschenrechtslage, Vergewaltigungen und, und, und. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir auch!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich würde Der UN-Sicherheitsrat hat aufgrund fehlender Fort- mich freuen, wenn wir das mit einem deutlichen Signal schritte beschlossen, diese Mission zu verlängern, und hier im Parlament tun dem schließt sich diese Bundesregierung an. Also, damit ich es noch einmal richtig verstehe: UNAMID ist seit (Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Beck acht Jahren erfolglos und wird genau deshalb verlängert. auch!) Das ist doch absurd, Kolleginnen und Kollegen. und damit auch den Soldatinnen und Soldaten, auch wenn (Beifall bei der LINKEN) es nur wenige sind, ein klares Signal geben, dass wir ihre Mission richtig finden und sie unterstützen. Noch einmal: Dieser Mandatsantrag ist ein einziges Dokument des Wir wünschen ihnen alles Gute für diese Mission. Scheiterns, aber diese Bundesregierung hat nicht die Kraft oder den Mut, aus diesem Scheitern die einzig rich- Herzlichen Dank. tigen Konsequenzen zu ziehen. Wissen Sie, was mich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtig sauer macht? Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ es der Bevölkerung in Darfur jetzt, nach acht Jahren DIE GRÜNEN) Mandatsausübung, irgendwie besser ginge. Nun wissen wir natürlich auch, dass Friedensprozes- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: se in Bürgerkriegsgebieten häufig kompliziert sind und Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Kathrin lange dauern können. Aber wenn es um den wirksamen ­Vogler das Wort. Schutz der Zivilbevölkerung geht, dann darf man damit nicht warten, bis alle politischen Konflikte gelöst und (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder alle Waffen eingesammelt sind. [CDU/CSU]: Jetzt fehlen nur noch Sie! Dann sind wir einstimmig!) (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, was wollt ihr denn machen?) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Ein Blick ins Nachbarland Südsudan könnte einen Weg Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin- aus diesem Dilemma aufzeigen. nen und Kollegen! Gestern haben ja viele von Ihnen bei (Niels Annen [SPD]: Was? Herr van Aken hat (B) Fackelschein und Militärmusik vor dem Reichstagsge- (D) bäude den 60. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr etwas anderes gesagt!) gefeiert. Dort zeigt nämlich die internationale Organisation Non- (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder violent Peaceforce, wie man mit gewaltfreien Mitteln, [CDU/CSU]: War super!) also ohne Waffen, und mit sehr geringer finanzieller Aus- stattung den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten – Klatschen Sie ruhig. – Das Volk musste allerdings kann. draußen bleiben. Dafür sorgten Feldjäger in der Bann- meile. Heute schicken Sie die Bundeswehr erneut in zwei (Niels Annen [SPD]: Waren Sie eben dabei bewaffnete Einsätze, von denen Sie genau wissen, dass in der Debatte? – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: die Mehrheit der Bevölkerung diese ablehnt. Haben Sie das Herrn van Aken gesagt?) (Florian Hahn [CDU/CSU]: Das stimmt doch Natürlich kann man das nicht eins zu eins auf Darfur gar nicht! Haben Sie eine Umfrage gemacht?) übertragen. Aber man muss sich schon mal die Frage stellen, warum man das, was im Südsudan wirkt, was auf Die Bundesregierungen der letzten 20 Jahre von Rot- den Philippinen und in Sri Lanka gewirkt hat, nicht auch Grün über Schwarz-Gelb bis zur Großen Koalition haben als Hoffnungsschimmer für Darfur sehen könnte. die Bundeswehr ja ganz gezielt zu einer weltweit einsetz- baren Truppe umgebaut. Gerade der Einsatz in Darfur, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) über den wir jetzt reden, zeigt, in welches Dilemma Sie diese Politik der weltweiten Militäreinsätze bringt. Genau dieser Hoffnungsschimmer wird inzwischen auch bei den Vereinten Nationen zur Kenntnis genom- Seit 2007 ist die Bundeswehr an der UNAMID-Missi- men. Der Bericht des High-level Independent Panel on on in der sudanesischen Provinz Darfur beteiligt. Dieses Peace Operations und die Globale Studie zur Umset- Mandat wollen Sie heute zum achten Mal verlängern. zung der Resolution 1325, in der es ganz speziell um den Und auch dieses Mal sagt die Linke dazu Nein. Schutz von Frauen in bewaffneten Konflikten und um die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen geht, emp- (Beifall bei der LINKEN) fehlen explizit den Ausbau von Instrumenten zum unbe- Mehr als genug Gründe für dieses Nein finden sich schon waffneten Schutz von Zivilpersonen. Mit der halben Mil- in Ihrer Mandatsbegründung. Ich fasse es kurz zusam- lion Euro, die Sie jedes Jahr für den Bundeswehreinsatz men: Sicherheitslage weiter angespannt, Kämpfe sind an in Darfur mit sieben Soldaten und einem Polizeibeamten der Tagesordnung, Übergriffe auf humanitäre Helfer – ausgeben wollen, könnte man diesem wichtigen Engage- 131 allein in diesem Jahr –, eine äußerst prekäre huma- ment einen richtigen Schub geben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13361

Kathrin Vogler (A) Meine Damen und Herren, setzen Sie nicht weiter auf en, allen Kräften, die seit Beginn der Mission im Dienst (C) gescheiterte Militäreinsätze! Handeln Sie zivil, im Inte- ihre Pflicht erfüllen. resse der Menschen! Dabei würde die Linke Sie unter- stützen. Bei diesem Bundeswehreinsatz unterstützen wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie aber nicht. neten der SPD und der Abg. Marieluise Beck (Bremen) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja, verkraften wir!) Wir setzen im Rahmen der Mission auf eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen militärischen, polizeilichen und zivilen Komponenten. Dieser vernetzte Ansatz ist in Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: meinen Augen ein wichtiges Kennzeichen unserer Au- Als nächster Redner hat Michael Vietz von der CDU/ ßenpolitik. Wir sind weiterhin bereit, Verantwortung, wo CSU-Fraktion das Wort. notwendig, zu tragen. Deshalb ist unsere weitere Betei- (Beifall bei der CDU/CSU) ligung an UNAMID richtig. Wir sind die einzigen, wir sind die letzten Europäer in Darfur. Wir beteiligen uns mit sieben Soldaten. Hinzu kommt ein Polizist außer- Michael Vietz (CDU/CSU): halb dieses Mandats. Dieser Beitrag sendet trotzdem ein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wichtiges Signal an unsere Partner in Afrika. Wir könn- Sehr geehrte Damen und Herren! Der Sudan: Nubien, ten dieses Signal noch verstärken. Kusch, das Königreich von Kerma, 1700 vor Christi Geburt, immerhin der älteste uns bekannte schwarzafri- Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen: Wir kanische Staat. Aus unserem Geschichtsunterricht ist er dürfen Afrika nicht aus den Augen verlieren. Trotz zahl- uns als wohlhabendes und geheimnisvolles Land südlich reicher anderer Krisenherde weltweit, die uns beschäfti- Ägyptens bekannt. An diese reichhaltige Geschichte soll- gen, müssen wir auch in Afrika weiterhin aktiv bleiben. ten wir uns erinnern, um uns eine Zukunft für diese Regi- Wegschauen ist keine Option. Dies würde die afrikani- on auch vorstellen zu können. schen Krisen nur noch weiter verschlimmern und weitere Fluchtursachen schaffen. Wenn wir heute den Sudan betrachten, zeichnet sich ein düsteres Bild. Sudan und Südsudan gehören welt- UNAMID allein – da stimme ich Herrn Kollegen weit zu den am stärksten belasteten Krisengebieten. Die Klingbeil zu – wird die Krise im Sudan nicht lösen kön- Region Darfur, im Westen Sudans, versinkt seit 2003 im nen; aber es ist ein wichtiger Baustein für die langfristi- Chaos. Schätzungen zufolge hat dieser blutige Konflikt ge Lösung dieses Konflikts. Wir sind bereit, dies weiter bereits etwa 300 000 Menschenleben gekostet, darunter anzugehen, damit die Republik Sudan an ihre alte Ge- (B) viele Zivilisten. schichte als wohlhabende Kultur anschließen und ihrer (D) Bevölkerung eine Perspektive in Sicherheit, Frieden und Die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Regie- Freiheit bieten kann. rungstruppen, Rebellenorganisationen und regierungs- nahen Milizen schaffen den Nährboden für Terror und Deshalb stimmt die Koalition dem Antrag der Bundes- Kriegsverbrechen. Über 2,5 Millionen Menschen haben regierung zu. Ich bitte jeden im Hause darum, die Arbeit ihre Dörfer verlassen und sind auf der Flucht. Fast 2 Mil- an einem dauerhaften Frieden in der Region nicht aufzu- lionen von ihnen leben in Flüchtlingslagern. Annähernd geben. Ich bitte um Ihre Zustimmung. die Hälfte der Bevölkerung von Darfur ist auf humanitäre Danke. Hilfe angewiesen. 2 Millionen Kinder sind unterernährt. So sehen Fluchtursachen aus! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Was können wir dem entgegensetzen? Im Rahmen von UNAMID leisten wir mit der internationalen Ge- meinschaft, gemeinsam mit der Afrikanischen Union, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung des Kon- Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Uwe Kekeritz flikts. Kernaufgabe ist dabei der Schutz der Zivilbevöl- von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. kerung. Ein besonderes Augenmerk wird aktuell auf die Vermittlung zwischen den bewaffneten Gruppen gelegt, Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die noch nicht das Doha-Dokument unterzeichnet haben, Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! sich einem weiteren Friedensprozess verweigern. Hier Seit 2007 stimmen wir jährlich über die deutsche Be- haben wir alle noch viel zu tun. teiligung am UN-Einsatz in Darfur ab. Dies ist notwen- Die Herausforderungen an die Mission sind nicht klei- dig, da eine politische Lösung zurzeit nicht in Sicht ist. ner geworden. Der Konflikt flammt in Wellen der Gewalt Die Auseinandersetzungen zwischen Rebellengruppen, immer wieder auf und wirft die Friedensbemühungen zu- Verbrecherbanden, regulären und irregulären Streitkräf- rück. Über 200 Peacekeeper haben seit Beginn der Mis- ten finden weiterhin und verstärkt auf dem Rücken der sion im Einsatz ihr Leben verloren. Das zeigt, wie riskant Bevölkerung statt. Gewaltausbrüche, Massenvergewal- der Einsatz ist, natürlich auch für unsere Kräfte. Daher tigungen und andere Menschenrechtsverletzungen sind müssen wir mit der Fortsetzung unserer Beteiligung ein an der Tagesordnung. Neben den Attacken auf die Zivil- deutliches Zeichen setzen, dass wir unser Engagement bevölkerung – das wurde schon richtigerweise gesagt – weiterverfolgen und die Menschen vor Ort nicht aufge- kommt es aber auch immer wieder zu gewaltsamen­ ben. Ich danke an dieser Stelle allen Männern und Frau- Übergriffen auf Hilfsorganisationen. Das erschwert die 13362 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Uwe Kekeritz (A) Situation dort natürlich dramatisch. Die Lage ist und ja. Aber die Systemkritik darf nicht dazu missbraucht (C) bleibt gefährlich. werden, konkrete Hilfe im Hier und Jetzt zu verweigern.

Natürlich kann ein Militäreinsatz eine politische Lö- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sung nicht ersetzen; aber der nationale Dialog kommt sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der eben noch nicht voran. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Problematisch ist auch, dass die Afrikanische Union das – Frau Vogler, nennen Sie doch einmal konkrete Maß- al-Baschir-Regime stützt und auch die Arabische Liga nahmen und Alternativen! zur Legitimierung des steckbrieflich Gesuchten beiträgt. Leider schlägt die EU, und mit ihr auch die Bundesregie- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das habe ich rung, inzwischen in die gleiche Kerbe. Was die Europäi- doch gerade gemacht!) sche Union heute auf dem Gipfel in Valletta beschlossen hat, ist ein politischer Paradigmenwechsel und zum Teil Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir wollen zivile auch zynisch. Damit verabschiedet sich die Regierung Maßnahmen. Merkel von der immer wieder beschworenen werteorien- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, genau!) tierten europäischen Politik. Bitte, schreiben Sie ein Handbuch „Zivile Maßnahmen“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und überzeugen Sie uns damit. Dann werden wir Ihnen auch folgen. Aber allein die Aussage „Wir wollen zivile Der Gipfel von Valletta zeigt auch, dass der Begriff Maßnahmen“, das ist zu wenig; das ist auch zu billig. der wertebasierten Politik wohl nur in politischen Schön- wetterlagen Bedeutung für diese Regierung hat. Wie Danke schön. sonst wäre es trotz des europäischen Wertekanons mög- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich, dass die EU jetzt plant, mit Folterknechten, Diktato- ren und Mördern, die ihr Volk seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten schinden, Verträge abzuschließen, die deren Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Macht gegenüber ihrem Volk noch verstärken? Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat Dr. Karl Lamers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Damit meine ich auch die geplante Unterstützung des Terrorregimes al-Baschir, das möglichst viele Menschen Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU): an der Flucht aus tödlicher Bedrohung und Elend hindern (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es (D) soll. ist sicher ein Zufall, dass wir heute am 60. Gründungstag Die Verträge sollen auf Basis des Prinzips „More for der Bundeswehr über die Fortsetzung der deutschen Be- more“ basieren; ein doch sehr euphemistischer Begriff. teiligung am UNAMID-Einsatz beraten. Gerade die Be- Dahinter verbirgt sich auch eine Verlagerung der Außen- ratung des vorliegenden Antrags zeigt uns aber, welchen grenzen Europas in Länder, die bisher durch schwerste Weg die Bundeswehr in den 60 Jahren ihres Bestehens Menschenrechtsverletzungen von sich reden machten. zurückgelegt hat. Die Bundesregierung und auch ihre europäischen Ver- Seit dem Ende des Kalten Krieges sind Stabilisie- bündeten sollten sich klarmachen, dass es sich um einen rungs- und Friedenseinsätze zu einem festen Bestandteil, schmutzigen und auch kurzsichtigen Deal handelt. War- ja zu einem Markenzeichen der Bundeswehr geworden. um das so ist, erklärt uns auch Ban Ki-moon. Er sagt: Die- Ich bin überzeugt, dass diese Einsätze zum Frieden in der se Politik ist kontraproduktiv und schädlich für Gesund- Welt erheblich beitragen. heit, Bildung und Chancen auf ein besseres Leben von Millionen von Menschen. Die Regierung spricht doch (Beifall bei der CDU/CSU) immer davon, Fluchtursachen zu bekämpfen. Kommt Darauf können auch unsere Soldatinnen und Soldaten Ihnen denn nicht in den Sinn, dass Sie mit einer solchen stolz sein. Deswegen, meine ich, müssen wir ihnen im- Politik die Fluchtursachen langfristig vermehren? mer wieder und gerade auch öffentlich Dank für ihren Einsatz für Frieden und Stabilität in vielen Teilen der In der heutigen Debatte kann es für uns dennoch kei- Welt sagen. ne Frage sein, ob die Menschen in den Flüchtlingslagern Darfurs Anspruch auf Schutz haben. Ich sage Ihnen: Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben Anspruch, und wir sind moralisch dazu verpflich- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tet, dazu einen Beitrag zu leisten. Die Bundesregierung hat gute Gründe, heute die Fort- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzung der deutschen Beteiligung an der gemeinsam sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Uni- on geführten Friedensmission in Darfur für ein weiteres In diesem Zusammenhang kann ich die Linke nur auf- Jahr bis zum 31. Dezember 2016 zu beantragen. Bis zu fordern, endlich Farbe zu bekennen. Ihre Kritik an un- 50 deutsche Soldatinnen und Soldaten können eingesetzt verantwortlichen Waffenlieferungen, an der Klimapolitik werden für Führungs- und Verbindungsaufgaben und für und an der falschen Agrar- und Handelspolitik teilen wir Beratungs‑, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13363

Dr. Karl A. Lamers (A) Warum werden wir dort gebraucht? Wir werden dort Danke. (C) gebraucht, weil Deutschland zusammen mit anderen eine dauerhafte politische Konfliktlösung anstrebt. Davon (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind wir heute aber leider noch weit entfernt. Seit 2003 neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tobt ein schrecklicher Konflikt zwischen der sudanesi- schen Zentralregierung und Volksgruppen in den sudane- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sischen Bundesstaaten Darfur, Südkordofan und Blauer Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Nil mit bisher 300 000 Toten. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss­ Die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens von empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag 2011 geht in meinen Augen viel zu langsam. Der ange- der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be- strebte nationale Dialog zwischen den Kontrahenten hat waffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-­ bisher auch keine zufriedenstellenden Ergebnisse gezei- Operation in Darfur. Der Ausschuss empfiehlt in seiner tigt. Die Betroffenen sind die Menschen. Sie leiden un- Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6639, den An- ter den Kämpfen. Sie leiden unter den ethnischen Kon- trag der Bundesregierung auf Drucksache 18/6503 anzu- flikten. Sie leiden unter der zunehmenden Kriminalität. nehmen. Hinzu kommt, wie Herr Vietz es bereits beschrieben hat, das Flüchtlingselend: 4 Millionen Menschen sind ständig Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung na- auf humanitäre Hilfe angewiesen, 2,6 Millionen Binnen- mentlich ab. Ich möchte die Schriftführerinnen und flüchtlinge, 500 000 in den Nachbarländern. Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze an den Ur- nen einzunehmen. – Sind jetzt die Plätze an den Urnen Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist klar: besetzt? – Alle Plätze sind besetzt. Damit eröffne ich die eine dauerhafte Bewältigung des Konflikts und eine Ver- Abstimmung über die Beschlussempfehlung. besserung der humanitären Lage in Darfur. Das ist aber nur möglich, wenn die Unterstützung und Präsenz der Vizepräsidentin Claudia Roth: internationalen Gemeinschaft auch weiterhin bestehen bleibt. So fordern es die Vereinten Nationen, so fordert Ist jemand im Saal, der seine Stimme noch nicht ab- es die Afrikanische Union. Deswegen, Frau Vogler, bin gegeben hat? – Jetzt frage ich zum letzten Mal: Ist noch ich sehr erstaunt, dass Sie sich diesem Erkenntnisprozess ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme partout penetrant widersetzen. Sie sollten umdenken. nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schlie- ße die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wie im- Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE mer wird Ihnen das Ergebnis der Abstimmung später mit- (B) GRÜNEN]) geteilt.1) (D) Art und Umfang des deutschen Engagements stimmen Ich bitte, die interessanten Gespräche in den Gängen, wir wie bisher eng mit unseren internationalen Partnern vor allem auf der rechten Seite, aber auch die interessan- ab. Unser Leitgedanke ist Solidarität. Unsere Soldaten ten Gespräche am Ende des Saals und auf der linken Seite leisten mit ihrer Präsenz einen dauerhaften Beitrag zu eventuell draußen fortzusetzen. – Ich meine es wirklich mehr Stabilität in der Region. Der Stärkung der Zivilge- ernst. Ich möchte gern mit der Tagesordnung weiterma- sellschaft und der Menschenrechte gilt dabei unsere ganz chen, weil wir noch einiges vor uns haben. besondere Aufmerksamkeit. Wir sehen in der deutschen Beteiligung ein wichtiges Zeichen insbesondere an die Schönen guten Abend von mir! Auch den Gästen auf Vereinten Nationen und an die Afrikanische Union, dass der Tribüne wünsche ich einen schönen guten Abend und Deutschland die Friedensanstrengungen der internatio- eine spannende Debatte. nalen Gemeinschaft in Darfur tatkräftig unterstützt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Über diesen militärischen Beitrag zu UNAMID hinaus Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- soll der Sudan im Sinne der Afrikapolitischen Leitlinien richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- der Bundesregierung von 2014 weiterhin ein wichtiges gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- Element deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Af- neten Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, rika bleiben. Die humanitäre Hilfe wird wie bisher eine Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der wesentliche Rolle für uns spielen. Der deutsche Beitrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Ausgestaltung des sogenannten Khartoum-Prozesses mit Staaten entlang der afrikanischen Migrationsrouten Netzneutralität als Voraussetzung für eine muss gerade angesichts der Flüchtlingssituation in Euro- gerechte und innovative digitale Gesellschaft pa mit besonderem Engagement erfüllt werden. effektiv gesetzlich sichern Meine Damen und Herren, der UNAMID-Einsatz Drucksachen 18/5382, 18/6402 bleibt bis auf Weiteres als stabilisierendes Element zur (Unruhe) Verbesserung der Sicherheitslage in Darfur und zur Be- gleitung der politischen Bemühungen um innere Befrie- – Ich meine es jetzt echt ernst: Wenn Sie quatschen wol- dung unverzichtbar. Meine Fraktion, die CDU/CSU, len, dann gehen Sie raus! Wir wollen hier jetzt eine De- stimmt diesem Antrag zu. Ich bitte Sie alle, es uns nach- zutun. 1) Ergebnis Seite 13366 C 13364 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) batte führen, und die Kollegen warten darauf, dass wir von der Telekom, der sich schon geäußert hat, als Erstes (C) anfangen. auf Start-ups losgehen zu wollen – wodurch es zu einer Diskriminierung käme –, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE sehe keinen Widerspruch. GRÜNEN]: Ja!) Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der um sich eine Umsatzbeteiligung zu sichern, was ich, ehr- Kollege Matthias Ilgen für die SPD. lich gesagt, ungeheuerlich finde. (Beifall bei der SPD) (Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Matthias Ilgen (SPD): Gerade sie brauchen zu Beginn ihrer Wachstumsphase Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das Kapital und können nicht noch weitere Mitbesitzer Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich oder Unternehmen wie dann die Telekom gebrauchen, feststellen, dass ich der Forderung im Antrag von Bünd- welche ihren Umsatz schröpfen. Das wäre eine klare nis 90/Die Grünen nach einer dauerhaften Gewährleis- Diskriminierung. tung der Netzneutralität durch eine effektive und techno- logieneutrale gesetzliche Festschreibung auf nationaler Wir alle in der Fraktion haben natürlich bedauert, dass und europäischer Ebene vollkommen zustimme, meine es bei dem Kompromiss in Europa eine gewisse Dehn- Fraktion im Kern auch. barkeit gibt. Allerdings hat Herr Höttges die Dehnbarkeit hier aus meiner Sicht doch arg überstrapaziert, und wir (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und sollten dem mit allen Kräften entgegentreten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Herbert Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Behrens [DIE LINKE]: Das ist genau sein Ge- GRÜNEN]: Sehr schön! Bravo!) setz! Nichts überdehnt!) – Der Forderung! Allerdings müssen wir jetzt auch ein- – Das sagen Sie. mal über das Timing reden. Wir werden auch gucken müssen, wie wir insgesamt (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ein pluralistisches Internet erhalten können, in dem es GRÜNEN]: Wieso über das Timing?) diskriminierungsfreie Räume und einen funktionieren- Fest steht aber auch, dass im Europäischen Parlament den Wettbewerb gibt. und im Rat leider keine Mehrheit für eine restriktivere (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (B) Regelung da war, was die SPD-Fraktion – ich beson- (D) GRÜNEN]: Was heißt „gucken müssen“?) ders – bedauert. – Ja, das werden wir sehen müssen. Deswegen wollte ich Der erreichte Kompromiss ist allerdings das Beste, darauf hinweisen, dass wir auch einmal auf Formen wie – was wir im Moment haben können. Dieser Kompromiss das ist gerade im Gespräch – Zero-Rating gucken müssen steht auch im Einklang mit unserem Koalitionsvertrag, und darauf, was das für den Wettbewerb bedeutet. in dem vereinbart ist, die Ziele der Netzneutralität im Telekommunikationsgesetz zu verankern. Ich persönlich Zero-Rating könnte die schärfste Form einer Kon- hätte die Ausnahmen, wie gesagt, jedoch enger gefasst. kurrenzverdrängung werden. Davon profitieren schon Darauf werde ich später noch einmal kommen. heute eigentlich nur Marktmächtige, nämlich diejenigen, die große Volumina haben und sozusagen for free, also Was den Kompromiss angeht, liegt es jetzt an uns umsonst, anbieten können. Das ist eine nicht zu unter- allen, die Situation zu beobachten, zu evaluieren und schätzende Gefahr für unsere Medienvielfalt im Internet gegebenenfalls schnellstmöglich Konsequenzen zu zie- und letztlich auch für die Kultur. Deshalb wäre es gesell- hen, wenn wir auf Probleme stoßen. Ich halte es hier wie schaftspolitisch eine fatale Entwicklung, wenn wir dem unser verstorbener Altkanzler Schmidt: „Für mich bleibt so zuschauen würden. Wir werden also gesetzliche Ein- das eigene Gewissen die oberste Instanz.“ schränkungen finden müssen, wenn wir feststellen, dass Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Antrag kommt der Wettbewerb an dieser Stelle nicht mehr funktioniert. leider zu einem falschen und unpassenden Zeitpunkt. Wir Trotz alledem – ich habe es am Anfang gesagt – ist Ihr alle wollen doch, dass schnelles Internet für jeden Nutzer Timing unpassend. in derselben Geschwindigkeit und ohne Diskriminierung funktioniert, egal ob er E-Mails abruft, einen Film an- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE schaut oder über das Netz telefoniert. GRÜNEN]: Sie wiederholen sich!) Als Berichterstatter für Existenzgründungen, Freie Wir sollten jetzt abwarten, wie und ob der Kompromiss Berufe und die Kreativwirtschaft liegt es mir übrigens trägt, wie dehnbar er von denjenigen gehalten wird, die besonders am Herzen, in diesem Zusammenhang zu er- am Markt agieren, und dann werden wir gegebenenfalls wähnen, dass wir natürlich auch Internet-Start-up-Unter- auch zu gesetzlichen Regelungen kommen. nehmern, App-Entwicklern und kleinen Leuten, die im Danke schön. Internet unterwegs sind, möglichst einen diskriminie- rungsfreien Wettbewerb ermöglichen sollten. Deswegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der geht an dieser Stelle auch ein Appell an Herrn Höttges CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13365

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Denn wir haben schon fast einen Antrag fertig, wie die (C) Vielen Dank, Kollege Ilgen. – Nächste Rednerin in der Netzneutralität trotz EU-Verordnung gesichert werden Debatte: Halina Wawzyniak für die Linke. kann. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das Halina Wawzyniak (DIE LINKE): ist gut!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir stimmen heute über den Antrag der Die EU-Verordnung zum Telekommunikationsbin- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Netz- nenmarkt erlaubt tatsächlich Telekommunikationsunter- neutralität als Voraussetzung für eine gerechte und inno- nehmen, bestimmte Angebote vom Prinzip der Netzneu- vative digitale Gesellschaft effektiv gesetzlich sichern“ tralität auszunehmen und sie als priorisierte Dienste zu ab. Die Grünen wollen – und das zu Recht – die Netzneu- behandeln. Der Chef der Telekom – das ist schon gesagt tralität gesetzlich sichern. worden – hat auch gleich angekündigt, davon umfassend Gebrauch zu machen. Er hat die Absicht, ein Zweiklas- (Beifall des Abg. Dr. Thomas Gambke seninternet zu schaffen. Das Ziel von Konzernen wie der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Telekom ist nun einmal die Etablierung von zweiseitigen – Wenigstens ein Grüner klatscht; das ist schon mal gut. Märkten und Zero-Rating-Angeboten.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Bei zweiseitigen Märkten müssen insbesondere die NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Anbieter von Inhalten zusätzlich zum Anschluss an das Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht Netz auch noch für die Nutzung der Zugangsnetze be- hat die Frau!) zahlen. Bei Zero-Rating-Angeboten würde die Nutzung Netzneutralität bedeutet die grundsätzlich diskrimi- von spezifischen Diensten vom monatlichen Datentrans- nierungsfreie Gleichbehandlung aller Datenpakete und fervolumen ausgeklammert. ist, wie der Antrag richtig beschreibt, das konstituierende Prinzip eines offenen und freien Internets. Die Netzneu- Aus Sicht der Linken enthält nun aber die EU-Verord- tralität ist damit neben einem Internetanschluss Grund- nung trotz der Unbestimmtheit und Auslassung bei einer voraussetzung für die gerechte Teilhabe an der digitalen strengen Auslegung der betroffenen Bestimmungen und Gesellschaft. Doch die Netzneutralität beißt sich mit dem strengen Auflagen die Möglichkeit, genau diese zweisei- Prinzip des Profits. tigen Märkte und Zero-Rating-Angebote auszuschließen. (B) Man muss sie nur richtig und bis zum Ende lesen. (D) Schon vor der EU-Verordnung wurde die Netzneu­ tralität direkt oder indirekt infrage gestellt. Es ging um (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) „Diensteklassen“ oder „Spezialservices“ und viele an- dere Bezeichnungen. Am Ende ging es aber immer um Nun plant die Bundesregierung, die Bundesnetzagen- eins: Internetanbieter wollten bestimmte Daten schneller tur mit der genauen Umsetzung der EU-Verordnung zu transportieren und dafür extra Geld kassieren. Die soge- beauftragen. Das halten wir für falsch. nannten Kapazitätsengpässe, von denen immer die Rede war und die angeblich eine Priorisierung von Daten er- (Beifall bei der LINKEN) forderlich machen, wurden bisher nicht ansatzweise be- legt. Aber selbst wenn sie belegt worden wären, wäre die Angesichts der überragenden wirtschaftlichen und ge- Alternative nicht die Priorisierung von Daten, sondern sellschaftlichen Bedeutung der Netzneutralität muss in die Erweiterung der Kapazitäten, und zwar durch einen einem demokratischen Rechtsstaat nach dem Wesent- sinnvollen und schnellen Glasfaserausbau. lichkeitsprinzip der Gesetzgeber die unbestimmten Be- (Beifall bei der LINKEN) dingungen der EU-Verordnung untersetzen.

Bei der im Antrag aufgeführten Aufzählung der in den Wir wollen, und zwar nur, weil die EU-Verordnung vergangenen Jahren bereits eingereichten Initiativen zur das überhaupt ermöglicht, dass bis zur Errichtung ei- Sicherung der Netzneutralität fehlt zwar der Antrag der ner flächendeckenden Glasfaserinfrastruktur priorisier- Linken; darüber sehen wir aber großzügig hinweg und te Dienste auf 5 Prozent der tatsächlich vorhandenen werden dem Antrag trotzdem zustimmen. Übertragungskapazität begrenzt werden. Wir wollen Ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und schäftsmodelle untersagen, auf deren Basis die Anbieter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Mo- von Inhalten, Diensten oder Anwendungen zusätzlich nika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zum Anschluss auch für die Nutzung der Zugangsnetze Oh! Da freuen wir uns!) bezahlen. Das geht nach der EU-Verordnung; denn die- se besagt, dass auf kommerziellen Interessen beruhende Und wir sind sogar noch besser: Wir werden dem Bun- destag demnächst Gelegenheit geben, erneut über das Erwägungen keine angemessenen Maßnahmen des Ver- Thema abzustimmen. kehrsmanagements darstellen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Drittens und letztens – damit komme ich auch zum GRÜNEN]: Das ist gut!) Ende – wollen wir Zero-Rating-Angebote untersagen, da 13366 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Halina Wawzyniak (A) sie kein spezifisches Qualitätsniveau erfordern und auch Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) auf kommerziellen Erwägungen beruhen. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Herr Durz, bevor ich Sie aufrufe, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Wir stimmen heute dem Antrag der Grünen zu und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen hoffen, dass Sie, wenn wir unseren Antrag vorlegen, un- Abstimmung über das UNAMID-Mandat bekannt: ab- serem Antrag zustimmen. gegebene Stimmen 575. Mit Ja haben gestimmt 516, mit Nein haben gestimmt 57, Enthaltungen 2. Die Beschluss­ (Beifall bei der LINKEN) empfehlung ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Hermann Färber Mark Helfrich Uwe Lagosky Abgegebene Stimmen: 573; Uwe Feiler Uda Heller Dr. Karl A. Lamers davon Dr. Thomas Feist Jörg Hellmuth Andreas G. Lämmel ja: 514 Enak Ferlemann Rudolf Henke Dr. Norbert Lammert nein: 57 Ingrid Fischbach Michael Hennrich Katharina Landgraf enthalten: 2 Dirk Fischer (Hamburg) Ansgar Heveling Ulrich Lange Axel E. Fischer Christian Hirte Dr. Silke Launert (Karlsruhe-Land) Dr. Heribert Hirte Paul Lehrieder Ja Dr. Maria Flachsbarth Robert Hochbaum Dr. Katja Leikert CDU/CSU Klaus-Peter Flosbach Thorsten Hoffmann Dr. Philipp Lengsfeld Thorsten Frei (Dortmund) Dr. Andreas Lenz Stephan Albani Dr. Astrid Freudenstein Alexander Hoffmann Philipp Graf Lerchenfeld Katrin Albsteiger Dr. Hans-Peter Friedrich Karl Holmeier Dr. Ursula von der Leyen (Hof) Franz-Josef Holzenkamp Antje Lezius Artur Auernhammer Michael Frieser Dr. Hendrik Hoppenstedt Matthias Lietz Dorothee Bär Dr. Michael Fuchs Margaret Horb Andrea Lindholz Thomas Bareiß Hans-Joachim Fuchtel Bettina Hornhues Patricia Lips Norbert Barthle Alexander Funk Anette Hübinger Wilfried Lorenz Günter Baumann Ingo Gädechens Hubert Hüppe Dr. Claudia Lücking-Michel Maik Beermann (B) Dr. Thomas Gebhart Erich Irlstorfer Dr. Jan-Marco Luczak (D) Manfred Behrens (Börde) Alois Gerig Thomas Jarzombek Karin Maag Veronika Bellmann Eberhard Gienger Sylvia Jörrißen Yvonne Magwas Sybille Benning Cemile Giousouf Dr. Franz Josef Jung Thomas Mahlberg Dr. Andre Berghegger Josef Göppel Xaver Jung Dr. Thomas de Maizière Dr. Christoph Bergner Reinhard Grindel Dr. Egon Jüttner Gisela Manderla Ute Bertram Ursula Groden-Kranich Bartholomäus Kalb Matern von Marschall Peter Beyer Hermann Gröhe Hans-Werner Kammer Hans-Georg von der Marwitz Steffen Bilger Klaus-Dieter Gröhler Steffen Kanitz Andreas Mattfeldt Clemens Binninger Michael Grosse-Brömer Alois Karl Stephan Mayer (Altötting) Peter Bleser Astrid Grotelüschen Anja Karliczek Reiner Meier Norbert Brackmann Markus Grübel Bernhard Kaster Dr. Michael Meister Klaus Brähmig Oliver Grundmann Volker Kauder Jan Metzler Michael Brand Monika Grütters Roderich Kiesewetter Maria Michalk Dr. Reinhard Brandl Dr. Herlind Gundelach Dr. Georg Kippels Dr. h.c. Hans Michelbach Helmut Brandt Fritz Güntzler Volkmar Klein Dr. Mathias Middelberg Dr. Ralf Brauksiepe Christian Haase Jürgen Klimke Dietrich Monstadt Dr. Helge Braun Florian Hahn Axel Knoerig Karsten Möring Ralph Brinkhaus Dr. Stephan Harbarth Jens Koeppen Marlene Mortler Cajus Caesar Jürgen Hardt Markus Koob Volker Mosblech Gitta Connemann Gerda Hasselfeldt Carsten Körber Elisabeth Motschmann Alexandra Dinges-Dierig Matthias Hauer Kordula Kovac Carsten Müller Alexander Dobrindt Mark Hauptmann Michael Kretschmer (Braunschweig) Michael Donth Dr. Stefan Heck Gunther Krichbaum Stefan Müller (Erlangen) Hansjörg Durz Dr. Matthias Heider Dr. Günter Krings Dr. Gerd Müller Iris Eberl Helmut Heiderich Rüdiger Kruse Dr. Philipp Murmann Jutta Eckenbach Mechthild Heil Bettina Kudla Dr. Andreas Nick Dr. Bernd Fabritius Frank Heinrich (Chemnitz) Dr. Roy Kühne Michaela Noll Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13367

(A) Helmut Nowak Dr. Wolfgang Stefinger Dr. Matthias Zimmer Ulrich Hampel (C) Dr. Georg Nüßlein Albert Stegemann Gudrun Zollner Michael Hartmann Julia Obermeier Peter Stein (Wackernheim) Wilfried Oellers Erika Steinbach SPD Sebastian Hartmann Florian Oßner Sebastian Steineke Dirk Heidenblut Niels Annen Dr. Tim Ostermann Johannes Steiniger Hubertus Heil (Peine) Ingrid Arndt-Brauer Henning Otte Christian Frhr. von Stetten Gabriela Heinrich Heike Baehrens Ingrid Pahlmann Dieter Stier Wolfgang Hellmich Ulrike Bahr Sylvia Pantel Rita Stockhofe Dr. Barbara Hendricks Heinz-Joachim Barchmann Martin Patzelt Gero Storjohann Heidtrud Henn Dr. Katarina Barley Dr. Martin Pätzold Stephan Stracke Gustav Herzog Doris Barnett Ulrich Petzold Max Straubinger Gabriele Hiller-Ohm Klaus Barthel Dr. Joachim Pfeiffer Matthäus Strebl Thomas Hitschler Dr. Matthias Bartke Sibylle Pfeiffer Karin Strenz Dr. Eva Högl Sören Bartol Eckhard Pols Thomas Stritzl Matthias Ilgen Bärbel Bas Thomas Rachel Lena Strothmann Christina Jantz Uwe Beckmeyer Kerstin Radomski Michael Stübgen Frank Junge Lothar Binding (Heidelberg) Alexander Radwan Dr. Sabine Sütterlin-Waack Josip Juratovic Burkhard Blienert Alois Rainer Antje Tillmann Thomas Jurk Willi Brase Dr. Peter Ramsauer Astrid Timmermann-Fechter Oliver Kaczmarek Dr. Karl-Heinz Brunner Eckhardt Rehberg Dr. Hans-Peter Uhl Johannes Kahrs Lothar Riebsamen Dr. Volker Ullrich Edelgard Bulmahn Ralf Kapschack Josef Rief Arnold Vaatz Martin Burkert Gabriele Katzmarek Dr. Heinz Riesenhuber Oswin Veith Dr. Lars Castellucci Marina Kermer Johannes Röring Thomas Viesehon Petra Crone Cansel Kiziltepe Dr. Norbert Röttgen Michael Vietz Bernhard Daldrup Lars Klingbeil Erwin Rüddel Volkmar Vogel (Kleinsaara) Dr. Daniela De Ridder Dr. Bärbel Kofler Albert Rupprecht Sven Volmering Dr. Karamba Diaby Daniela Kolbe (B) Anita Schäfer (Saalstadt) Christel Voßbeck-Kayser (D) Sabine Dittmar Birgit Kömpel Andreas Scheuer Kees de Vries Martin Dörmann Anette Kramme Karl Schiewerling Dr. Johann Wadephul Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Ulrich Krüger Jana Schimke Marco Wanderwitz Siegmund Ehrmann Christine Lambrecht Norbert Schindler Nina Warken Michaela Engelmeier Christian Lange (Backnang) Tankred Schipanski Kai Wegner Petra Ernstberger Dr. Karl Lauterbach Heiko Schmelzle Albert Weiler Saskia Esken Steffen-Claudio Lemme Christian Schmidt (Fürth) Marcus Weinberg (Hamburg) Karin Evers-Meyer Burkhard Lischka Gabriele Schmidt (Ühlingen) Dr. Anja Weisgerber Dr. Johannes Fechner Hiltrud Lotze Ronja Schmitt Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Fritz Felgentreu Kirsten Lühmann Patrick Schnieder Sabine Weiss (Wesel I) Christian Flisek Caren Marks Nadine Schön (St. Wendel) Ingo Wellenreuther Gabriele Fograscher Katja Mast Bernhard Schulte-Drüggelte Karl-Georg Wellmann Dr. Edgar Franke Hilde Mattheis Dr. Klaus-Peter Schulze Marian Wendt Ulrich Freese Dr. Matthias Miersch Uwe Schummer Waldemar Westermayer Michael Gerdes Armin Schuster Kai Whittaker Klaus Mindrup Martin Gerster (Weil am Rhein) Peter Wichtel Susanne Mittag Iris Gleicke Christina Schwarzer Annette Widmann-Mauz Detlef Müller (Chemnitz) Angelika Glöckner Detlef Seif Heinz Wiese (Ehingen) Bettina Müller Reinhold Sendker Klaus-Peter Willsch Ulrike Gottschalck Michelle Müntefering Dr. Patrick Sensburg Elisabeth Winkelmeier- Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich Bernd Siebert Becker Gabriele Groneberg Andrea Nahles Thomas Silberhorn Oliver Wittke Michael Groß Dietmar Nietan Johannes Singhammer Dagmar G. Wöhrl Uli Grötsch Ulli Nissen Tino Sorge Barbara Woltmann Wolfgang Gunkel Mahmut Özdemir (Duisburg) Jens Spahn Tobias Zech Bettina Hagedorn Markus Paschke Carola Stauche Heinrich Zertik Rita Hagl-Kehl Jeannine Pflugradt Dr. Frank Steffel Emmi Zeulner Metin Hakverdi Detlev Pilger 13368 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Sabine Poschmann Kerstin Tack Steffi Lemke Annette Groth (C) Joachim Poß Claudia Tausend Dr. Tobias Lindner Dr. Andre Hahn Achim Post (Minden) Michael Thews Nicole Maisch Heike Hänsel Florian Post Dr. Karin Thissen Peter Meiwald Dr. Rosemarie Hein Dr. Wilhelm Priesmeier Franz Thönnes Irene Mihalic Inge Höger Florian Pronold Carsten Träger Beate Müller-Gemmeke Andrej Hunko Dr. Sascha Raabe Rüdiger Veit Özcan Mutlu Sigrid Hupach Dr. Simone Raatz Ute Vogt Dr. Konstantin von Notz Ulla Jelpke Martin Rabanus Dirk Vöpel Omid Nouripour Susanna Karawanskij Mechthild Rawert Gabi Weber Friedrich Ostendorff Kerstin Kassner Stefan Rebmann Bernd Westphal Cem Özdemir Katja Kipping Gerold Reichenbach Dirk Wiese Lisa Paus Jan Korte Dr. Carola Reimann Gülistan Yüksel Brigitte Pothmer Caren Lay Andreas Rimkus Dagmar Ziegler Tabea Rößner Sabine Leidig Sönke Rix Stefan Zierke Claudia Roth (Augsburg) Ralph Lenkert Petra Rode-Bosse Dr. Jens Zimmermann Corinna Rüffer Michael Leutert Dennis Rohde Manfred Zöllmer Manuel Sarrazin Stefan Liebich Dr. Martin Rosemann Brigitte Zypries Elisabeth Scharfenberg Dr. Gesine Lötzsch René Röspel Ulle Schauws Thomas Lutze Dr. Ernst Dieter Rossmann BÜNDNIS 90/ Dr. Gerhard Schick Birgit Menz Michael Roth (Heringen) DIE GRÜNEN Dr. Frithjof Schmidt Cornelia Möhring Bernd Rützel Luise Amtsberg Kordula Schulz-Asche Niema Movassat Sarah Ryglewski Annalena Baerbock Dr. Wolfgang Norbert Müller (Potsdam) Strengmann-Kuhn Johann Saathoff Marieluise Beck (Bremen) Dr. Alexander S. Neu Hans-Christian Ströbele Annette Sawade Volker Beck (Köln) Thomas Nord Markus Tressel Dr. Hans-Joachim Schabe- Dr. Franziska Brantner Petra Pau Dr. Julia Verlinden doth Agnieszka Brugger Harald Petzold (Havelland) Doris Wagner (B) Dr. Nina Scheer Ekin Deligöz Richard Pitterle (D) Beate Walter-Rosenheimer Marianne Schieder Katja Dörner Martina Renner Dr. Valerie Wilms Udo Schiefner Katharina Dröge Dr. Petra Sitte Dr. Dorothee Schlegel Harald Ebner Kersten Steinke Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Thomas Gambke Nein Dr. Kirsten Tackmann Matthias Schmidt (Berlin) Matthias Gastel Azize Tank SPD Dagmar Schmidt (Wetzlar) Kai Gehring Frank Tempel Carsten Schneider (Erfurt) Katrin Göring-Eckardt Christian Petry Dr. Axel Troost Ursula Schulte Anja Hajduk Alexander Ulrich Swen Schulz (Spandau) Britta Haßelmann DIE LINKE Kathrin Vogler Ewald Schurer Dr. Anton Hofreiter Jan van Aken Halina Wawzyniak Frank Schwabe Bärbel Höhn Dr. Dietmar Bartsch Harald Weinberg Stefan Schwartze Uwe Kekeritz Herbert Behrens Birgit Wöllert Andreas Schwarz Katja Keul Karin Binder Hubertus Zdebel Rita Schwarzelühr-Sutter Maria Klein-Schmeink Matthias W. Birkwald Sabine Zimmermann Rainer Spiering Tom Koenigs Heidrun Bluhm (Zwickau) Norbert Spinrath Sylvia Kotting-Uhl Christine Buchholz Pia Zimmermann Svenja Stadler Oliver Krischer Eva Bulling-Schröter Martina Stamm-Fibich Stephan Kühn (Dresden) Roland Claus Enthalten Sonja Steffen Christian Kühn (Tübingen) Sevim Dağdelen Peer Steinbrück Renate Künast Dr. Diether Dehm SPD Dr. Frank-Walter Steinmeier Markus Kurth Klaus Ernst Dr. Ute Finckh-Krämer Christoph Strässer Monika Lazar Wolfgang Gehrcke Petra Hinz (Essen)

Der nächste Redner ist Hansjörg Durz für die CDU/ Hansjörg Durz (CDU/CSU): CSU-Fraktion. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU) Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13369

Hansjörg Durz (A) Antrag der Grünen zur Netzneutralität müssen wir schon Bei beiden Punkten bringt uns die beschlossene Rege- (C) deshalb ablehnen – es ist bereits angeklungen; vorhin lung einen großen Schritt voran. wurde „Timing“ genannt –, da bereits am selben Tag, als Künftig gelten für das Internet klare gesetzliche Rege- wir diesen Antrag im Wirtschaftsausschuss debattierten, lungen im Sinne der Netzneutralität. Die Internetnutzer parallel in Brüssel der dort zuständige Ausschuss über erhalten das Recht auf diskriminierungsfreie Datenüber- Netzneutralität abstimmte. Am 27. Oktober 2015 hat tragung. Das offene Internet, in dem sämtliche Ver- dann das Europäische Parlament der gemeinsamen eu- kehrsdaten unter dem Grundsatz der Gleichbehandlung ropäischen Regelung zugestimmt. Dadurch wird Netz- transportiert werden, ist und bleibt als Regelfall erhalten. neutralität erstmals einheitlich europäisch definiert und festgeschrieben. (Beifall bei der CDU/CSU) Bisher war Netzneutralität ein Konzept, jetzt ist sie Netzbetreiber dürfen auch in Zukunft Inhalte nicht aus per Verordnung festgeschrieben. Gerade Netzneutra- kommerziellen Gründen sperren oder verlangsamen. lität kann nur im Sinne eines digitalen Binnenmarktes Die Regulierungsbehörden werden die Einhaltung einer gemeinsam auf europäischer Ebene festgeschrieben zeitgemäßen Qualität des Internets mithilfe einer starken werden. Netzneutralität darf und kann nicht an innereu- Ex-post-Kontrolle sicherstellen. Wir müssen streng da- ropäischen Grenzen haltmachen. Das haben wir im Koa- rauf achten, dass dies auch geschieht. Das liegt in unse- litionsvertrag so festgeschrieben, und das ist jetzt auch so rem ureigenen Interesse; denn eine ausreichende Qualität beschlossen und festgelegt. ist die wesentliche Voraussetzung für Innovationen. Die Debatte über Netzneutralität wurde und wird teil- Der gefundene Kompromiss hilft uns auch, die tech- weise sehr emotional geführt. Das ist auch nachvollzieh- nischen Herausforderungen zu bewältigen, indem Rah- bar, da neben technischen und wirtschaftlichen Aspekten menbedingungen für Investitionen in moderne Breit- auch gesellschaftliche Aspekte und Vorstellungen damit bandnetze verbessert werden. Bereits heute existiert eine verbunden sind. Vielzahl von Mediendiensten. Die Entwicklung wird noch drastisch an Tempo gewinnen. Es geht aber nicht Wie sehen nun in diesem Zusammenhang die wesent- nur um den Content. Automatisiertes Fahren, Teleme- lichen Herausforderungen aus? dizin, sämtliche Anwendungen auf dem Gebiet Indus­ Erstens stellt sich aus technischer Sicht die Frage, wie trie 4.0: All das wird sehr hohe Bandbreiten in Anspruch die stetig ansteigenden Datenmengen im Internet bewäl- nehmen. Daher brauchen wir neue und verbesserte Infra- tigt werden können. Die dazu bekannten Prognosen sind strukturen. Diese sind die Voraussetzung für Wachstum atemberaubend. Das Volumen der jährlich generierten di- und Beschäftigung in allen Wirtschaftszweigen und da- gitalen Datenmengen weltweit wird in den kommenden mit das Rückgrat moderner Volkswirtschaften. (B) fünf Jahren mindestens um den Faktor acht ansteigen. (D) Der Staat allein kann diese Herausforderungen aller- Wir sprechen dann von einem jährlichen Datenvolumen, dings nicht stemmen. das sich auf 44 Billionen Gigabyte beläuft. Angesichts dieser Entwicklung steht außer Frage, dass man sich da- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE rüber Gedanken machen muss, welche Maßnahmen zur GRÜNEN]: Wir haben so viel Hoffnung auf Datenverkehrssteuerung möglich und rechtlich zulässig ihn gesetzt!) sein sollen und welche eben nicht. Wir brauchen notwendige Investitionsanreize für privat- Zweitens müssen wir uns aus wirtschaftspolitischer wirtschaftliche Netzbetreiber, damit diese den Netzaus- Sicht damit auseinandersetzen, wie gleichzeitig eine bau voranbringen und stetig leistungsfähigere Anschlüs- weiterhin offene Infrastruktur aussieht, die durch nied- se schaffen. rige Zugangsschwellen Start-ups und den Mittelstand in Diensteanbieter können künftig an der Finanzierung ihrer Rolle als Innovationstreiber stärkt. des zusätzlichen Infrastrukturausbaus beteiligt werden, Drittens bleibt aus gesellschaftspolitischer Sicht die indem sie für kostenpflichtige qualitätsgesicherte Daten- Herausforderung zu bewältigen: Wie kann der freie und übertragungen im Internet bezahlen. Der für mich ent- offene Zugang zu Informationen als eine wesentliche Vo- scheidende Punkt und die gleichzeitig wesentliche Neu- raussetzung für gesellschaftliche Teilhabe erhalten blei- erung der Regelung ist: Spezialdienste dürfen nur bei ben? Die Sicherung dieser Teilhabe sowie der Schutz von ausreichender Netzkapazität und nicht als Ersatz für das Meinungsvielfalt und ‑austausch sind nicht nur erklärtes offene Internet angeboten werden. Diese Verknüpfung ist Ziel dieser Koalition und auch der Digitalen Agenda der der wesentliche Kern der Vereinbarung. Bundesregierung, sondern von uns allen, wie wir nun (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schon gehört haben. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Künftig gilt: Parallel zum offenen Internet sind quali- Die Regelungen der Verordnung über den digitalen tätsgesicherte Datenübertragungen, sogenannte Spezial- Binnenmarkt, wie sie am 27. Oktober dieses Jahres vom dienste, erlaubt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt Europäischen Parlament verabschiedet wurden, führen sind: Erstens. Spezialdienste dürfen nur angeboten wer- die verschiedenen Interessen auf europäischer Ebene zu- den, wenn ein solches Angebot notwendig ist. Zweitens. sammen und sind ein guter Kompromiss. Als Aspekt der Spezialdienste dürfen kein Ersatz für einen offenen In- gesellschaftlichen Teilhabe und auch aus wirtschaftlicher ternetzugang sein. Drittens. Spezialdienste dürfen nur bei Sicht ist der Erhalt des offenen Internets unabdingbar. ausreichender Netzkapazität erbracht werden. Viertens. 13370 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Hansjörg Durz (A) Spezialdienste dürfen die Qualität des Internets nicht be- scheidet, innerhalb dieser Klassen aber unbedingt Neu­ (C) einträchtigen. tralität gewahrt bleiben muss. Damit werden qualitätsbasierte Dienste erlaubt, ohne (Beifall bei der CDU/CSU) dass gleichzeitig andere Dienste und Anwendungen im Für uns steht fest: Innerhalb bestimmter Diensteklas- offenen Internet diskriminiert werden. Auf diese Weise sen muss gleiches Recht für alle gelten. Es darf zum Bei- können neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen im spiel im Bereich automatisiertes Fahren keine Vorrechte Bereich der Spezialdienste entstehen, die den Zugang für einzelne Anbieter geben, und der Zugang zu Spezial- zum offenen Internet weder verdrängen noch vereiteln. diensten muss diskriminierungsfrei ausgestaltet werden. Um es noch einmal klar zu sagen: Es geht nicht da­ Große Player dürfen keine Vorteile gegenüber Mittel- rum, dass die Netzbetreiber in Zukunft entscheiden kön- stand und Gründern haben. nen, welche Inhalte sie transportieren, sondern darum, Liebe Kolleginnen und Kollegen, die formale Ver- dass Diensteanbieter in bestimmten Bereichen zusätzli- abschiedung durch das Europäische Parlament erfolgte che entgeltliche Leistungen anbieten können. Damit wird am 27. Oktober. Eine Umsetzung in nationale Gesetze es wichtig, dass der Zugang zu diesen Spezialdiensten ist nicht erforderlich, da die vorliegende Verordnung ab diskriminierungsfrei für alle Marktteilnehmer ausgestal- dem 30. April 2016 unmittelbar in allen Mitgliedstaaten tet wird, um Markteintrittsschwellen in den qualitätsge- gilt. Worüber jedoch noch zu sprechen sein wird, sind sicherten Bereichen so gering wie möglich zu halten. jene Fragen, die bis dahin von der nationalen Regulie- Eine Diskriminierung von Inhalten muss ausgeschlossen rungsbehörde zu klären sind. bleiben. Die Verankerung der Netzneutralität auf europäischer Um es noch konkreter zu machen: Es gibt eine Reihe Ebene ist wichtig und der gefundene Kompromiss ein von Anwendungen und Diensten, bei denen eine schnel- gutes Ergebnis. Mit ihm wird eine jahrelange Diskussion le Übermittlung von Daten elementar ist. Gerade bei in- pragmatisch gelöst und erstmals ein Anspruch verankert. novativen Entwicklungen wie Internet der Dinge oder Insgesamt wurde ein guter Kompromiss gefunden, der Industrie 4.0 werden die mobilen Daten dabei von ent- auch durch die klare Positionierung der Bundesregierung scheidender Bedeutung sein. Wir wissen, dass wir immer in Europa erreicht wurde. kürzere Latenzzeiten benötigen. Wir brauchen das taktile Internet, Internet ohne Reaktionszeit, damit ferngesteu- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. erte Operationen oder selbstfahrende Autos Realität wer- (Beifall bei der CDU/CSU) den können. (B) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) GRÜNEN]: Das soll über das normale Inter- Vielen Dank, Kollege Durz. – Nächster Redner in der net laufen?) Debatte: Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grü- nen. Wir brauchen zwingend verlässlich hohe Bandbreiten, um Echtzeitnutzung zu ermöglichen. Die dafür notwen- dige nächste Mobilfunkgeneration heißt 5G. Sie wird ge- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rade entwickelt. Wir kennen heute bereits die Situation, NEN): dass beispielsweise Internettelefonie nur dann genutzt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird, wenn die Sprachübermittlung tatsächlich störungs- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege frei funktioniert. Durz, Sie haben ganz viel von 5G und allen möglichen Dingen erzählt. Es geht aber in dieser Debatte darum, Noch viel bedeutsamer ist das Thema Spezialdienste ob der Zugang zum Netz bzw. zum Wissen vom Porte- im Bereich vernetztes Fahren. Als Kommissar Oettinger monnaie der Leute abhängt. Das ist die Kernfrage. Daran das Beispiel als Argument für die Notwendigkeit von haben Sie sauber vorbeigeredet. Spezialdiensten nannte, gab es vor allem im Netz eine Diskussion darüber, ob dies tatsächlich notwendig sei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hierzu sagt Professor Fitzek vom Lehrstuhl Kommuni- und bei der LINKEN – Monika Lazar [BÜND- kationsnetze der TU Dresden und Koordinator des 5G NIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Minuten! Das Lab: muss man erst mal schaffen!) Die autonomen Autos … wissen nicht, was um der Die Netzneutralität ist eine der wichtigsten Fragen zweiten Ecke passiert, dafür brauchen wir ein zel- oder vielleicht sogar die wichtigste Frage des Internets, lulares Netz. der digitalen Welt von morgen. Wir diskutieren das in diesem Haus schon lange; da haben Sie völlig recht. Frü- Und damit auch ein Internet, in dem einzelne wichtige her haben Sie noch zusammen mit der FDP zu unseren Anwendungen in einem speziellen Netz Vorrang haben. Anträgen zur gesetzlichen Verankerung der Netzneutrali- Ohne diese Möglichkeit der qualitätsgesicherten Daten- tät immer gesagt: Macht euch keine Sorgen! Das müssen übermittlung wird es nicht gehen. wir nicht machen. Sobald sie gefährdet ist, machen wir ein Gesetz. Professor Fitzek hat vor einigen Tagen im Ausschuss Digitale Agenda auch gesagt: Wichtig bei der Netzneu­ Nun ist sie gefährdet. Nachdem Sie am Anfang der tralität ist, dass man Mission-critical und Content unter- Wahlperiode großzügig angekündigt haben, den digita- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13371

Dr. Konstantin von Notz (A) len Verbraucherschutz zum Schwerpunkt Ihrer Politik ermögliche ein Blockieren des Datenverkehrs. Auch (C) zu machen, sind die Zeiten, als die Große Koalition, die Spezialdienste sind nach dem vorliegenden Text explizit Regierung Merkel oder auch die SPD die Netzneutralität zulässig. Schließlich wird auch das Zero-Rating ermög- retten wollten, ein für alle Mal vorbei. Das muss man hier licht, das absehbar zu einer weiteren ganz erheblichen einmal festhalten, meine Damen und Herren. Marktkonzentration führt. Das bedeutet die völlige Auf- weichung der Netzneutralität. Deswegen haben 22 von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23 deutschen SPD-Abgeordneten im Europäischen Par- sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LIN- lament gegen den Entwurf gestimmt, den Sie hier vertei- KE]) digen; das war konsequent. Dieser Kompromiss, der den Herr Ilgen, mit Ihrer Aussage „Da muss man mal gu- großen US-Unternehmen durch Zero-Rating-Verträge in cken“ kommt man nicht weiter. Wenn man nur guckt, die Hände spielt, hilft uns nicht weiter. dann geschieht das, was jetzt passiert, und das ist schlecht: Sie verramschen die Netzneutralität über den Wir haben immer gewarnt, nicht so lange abzuwarten, Umweg Europa. Das verbrämen Sie hier heute Abend bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Nun liegt es im mit der Aussage, unser Antrag komme Ihnen unpassend. Brunnen. Uns bleibt allerdings eine allerletzte Chance – Das glaube ich gern. Aber um die Netzneutralität zu ret- das klang eben an –: In den nächsten Monaten können Sie ten, versuchen wir einfach alles. Was Sie hier versuchen, gemeinsam mit den nationalen Regulierungsbehörden, ist peinlich. Sie reden das Problem nämlich klein. die die Einhaltung der Netzneutralität und der Regeln für Verkehrsmanagement überwachen sollen, technische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Qualitätskriterien festlegen. Zeigen Sie wenigstens hier, und bei der LINKEN – Matthias Ilgen [SPD]: dass Ihnen eines der grundlegendsten Prinzipien eines of- Unfug!) fenen, demokratischen und innovationsfreundlichen Net- Mit einer Sache hatten Sie recht, Herr Durz: Die Netz- zes nicht völlig egal ist. Hierzu fordert Sie unser Antrag neutralität wurde am 27. Oktober in einem durchsich- noch einmal auf. tigen Deal auf EU-Ebene verramscht. Was machen Sie Ganz herzlichen Dank. hier heute allen Ernstes? Sie erzählen, dass es sich hier um den ersten Gesetzentwurf handelt, der die Netzneu­ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tralität sichert. Allen Ernstes ein guter Kompromiss, Herr und bei der LINKEN) Durz? Ich sage Ihnen: Die Menschen sind nicht dumm. Sie verstehen, dass ein Gesetz, das es den großen TK-An- bietern explizit ermöglicht, Überholspuren im Internet, Vizepräsidentin Claudia Roth: Diensteklassen und Special Services einzuführen, eben (B) Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Der letzte Red- (D) kein Gesetz zur Sicherung der Netzneutralität ist, son- ner nicht nur in dieser Debatte, sondern auch des heuti- dern das Gegenteil, ein Freibrief, der das Tor zu einem gen Abends: Lars Klingbeil für die SPD. Zweiklasseninternet öffnet. Das braucht kein Mensch. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Lars Klingbeil (SPD): Was wir brauchen, sind starke Verbraucherrechte und ein Internet, das Informationszugang sichert und Inno- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vationen ermöglicht, statt ohnehin marktmächtige Player Vielen Dank für die Möglichkeit, ein weiteres Mal über weiter zu stärken, wie Sie das tun. Es ist doch offensicht- das wichtige Thema Netzneutralität hier im Parlament zu lich: Gerade angesichts immer vorgeschobener Kapa- diskutieren. Konstantin von Notz, vielen Dank für das zitätsengpässe – als Beispiel nenne ich die Onlineope- engagierte Streiten zu später Stunde. Aber ich will dir ration; Herr Durz, sobald Sie sich online im normalen schon noch ein paar Sachen sagen. Wenn du hier behaup- Internet operieren lassen, mache ich das auch – kann eine test, die Regierung verramsche die Netzneutralität über Priorisierung bestimmter Daten rein sinnlogisch eben den Umweg Europa, dann frage ich mich: Was ist aus nicht ohne die gleichzeitig Diskriminierung anderer Da- den Grünen geworden, die eigentlich für Verhandlungs- ten einhergehen. Wie sollte es auch anders sein? Immer prozesse in Europa stehen? wenn man bestimmte Daten priorisiert, diskriminiert Das kann man doch nicht aberkennen. Dass das nicht man andere Daten. Es hat nur einen Tag gebraucht, da bedeutet, nationale Interessen rigoros durchzusetzen, hat die Telekom gezeigt, was man plant, nämlich all die- sondern dass wir mit 28 Staaten in Europa verhandeln jenigen zur Kasse zu bitten, bei denen man es kann. Nun und nicht immer zu 100 Prozent das bekommen, was wir stellen Sie sich hier hin, tun ganz entsetzt und überrascht wollen, das müsstest du als Grüner doch anerkennen. Das und ermahnen die Telekom. Das ist bigott. ist in Europa manchmal schwieriger, als es auf national- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN staatlicher Ebene der Fall wäre. und bei der LINKEN – Matthias Ilgen [SPD]: So ein Quatsch!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Die SPD-Expertin im Europäischen Parlament Petra GRÜNEN]: Ihr habt es blockiert!) Kammerevert hat das erkannt. Sie attestiert dem jetzi- gen Kompromiss Rechtsunklarheit gleich an mehreren Das Zweite, was ich sagen will, ist: Schau einmal in Stellen – zu Recht! Sie sagt, der verabschiedete Text den Koalitionsvertrag der Großen Koalition. Darin steht 13372 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Lars Klingbeil (A) die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität, so wie Am Ende will ich eines sagen: Ich glaube, dass der (C) wir das jetzt in Europa durchgesetzt haben. Telekom-Chef der ganzen Debatte einen Bärendienst er- wiesen hat. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pustekuchen!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wohl wahr!) Du weißt, wenn ich alleine hätte entscheiden können, Wir alle werden aufmerksam schauen, was da passiert. hätte ich das anders gemacht, Herr von Notz, ich will zum Schluss noch sagen: Ich habe (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE gelesen, dass der Kollege Jarzombek sich kritisch geäu- GRÜNEN]: Das stimmt!) ßert hat. Auch ich habe mich kritisch geäußert. Von den Grünen habe ich zu der Telekom-Debatte nichts gelesen. aber es ist im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE in engen Grenzen Spezialdienste zulassen wollen. Man GRÜNEN]: Hast du nichts gelesen?) kann der Politik vieles vorwerfen, aber dass man das umsetzt, was im Koalitionsvertrag steht, sollte man der Vielen Dank fürs Zuhören. Politik nicht vorwerfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Doch, wenn es schlecht ist! – Rena- te Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsidentin Claudia Roth: Doch! Da steht etwas Falsches drin!) Vielen Dank, lieber Kollege Lars Klingbeil. – Ich schließe die Aussprache. Das hat, glaube ich, auch etwas mit Konsequenz zu tun. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Netzneutralität Wir haben jetzt in Europa die Einigung erzielt. Ohne als Voraussetzung für eine gerechte und innovative di- die deutsche Bundesregierung hätte es keine gesetzliche gitale Gesellschaft effektiv gesetzlich sichern“. Der Verankerung der Netzneutralität gegeben. Wenn man sich Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf die Gemengelage in Europa anschaut, dann sieht man: Drucksache 18/6402, den Antrag der Fraktion Bünd- Wir hatten genug Staaten in Europa, die keine gesetzli- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5382 abzuleh- che Verankerung, sondern weiterhin das freie Spiel des nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer (B) Marktes wollten. Es ist gut, dass die Bundesregierung am stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss­ (D) Ende einen Kompromissvorschlag vorgelegt hat. empfehlung ist mit Zustimmung der CDU/CSU und der SPD bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Herr Oettinger als zuständiger Kommissar hat gesagt, den Linken angenommen. es dürfe Abweichungen von der gesetzlich vorgeschrie- benen Netzneutralität geben. Er hat einige Kriterien da- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: für genannt. Ich will aus einigen Interviews zusammen- stellen, was er gesagt hat. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zes zur Änderung des Berufsqualifikations- NEN]: Ach nein! Das haben wir schon so oft feststellungsgesetzes und anderer Gesetze gehört!) Drucksache 18/5326 Er hat gesagt, es müsse eine technische Notwendigkeit Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- dafür geben, er hat gesagt, es müsse ein öffentliches In- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- teresse geben, und er hat gesagt, es müssten vor allem abschätzung (18. Ausschuss) ausreichend Bandbreite und Kapazität vorhanden sein, und das bedeutet wesentlich mehr als 50 Mbit. Drucksache 18/6632 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Jetzt bin ich einmal gespannt, welche Leistung das am Bündnis 90/Die Grünen vor. Ende überhaupt betreffen wird. Ich rate zu etwas mehr Gelassenheit. Wir haben jetzt die Regelung, und wir Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ist werden sehen, wie das Ganze von den nationalen Regu- jemand nicht damit einverstanden? – Alle sind einver- lierungsbehörden umgesetzt wird. Ich bin mir ziemlich standen.1) sicher, dass es am Ende sehr wenig Abweichungen von Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der Netzneutralität geben wird. der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Änderung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes NEN]: Wie naiv ist das denn!) und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Ich glaube übrigens auch – ein Argument, das wir immer Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- hören –, dass das automatisierte Fahren die Netzneutrali- tät nicht aufbricht. 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13373

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) che 18/6632, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache 18/6283 (C) auf Drucksache 18/5326 anzunehmen. Ich bitte dieje- nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält schusses für Arbeit und Soziales (11. Aus- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung schuss) angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, Drucksache 18/6673 dagegengestimmt haben die Grünen, Enthaltung von den Linken. – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Dritte Beratung Drucksache 18/6685 und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- werden. – Ich sehe, Sie sind einverstanden. Dann machen entwurf ist angenommen mit Zustimmung der CDU/ wir es so.2) CSU und der SPD bei Gegenstimmen von Grünen und Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss Enthaltung von den Linken. für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss­ Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf empfehlung auf Drucksache 18/6673, den Gesetzentwurf Drucksache 18/6632 empfiehlt der Ausschuss für Bil- der Bundesregierung auf Drucksache 18/6283 in der dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, eine Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- CDU/CSU und SPD waren dafür, Grüne dagegen, Ent- ter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/ haltung von den Linken. CSU, SPD und Grüne, keine Gegenstimmen, Enthaltung von den Linken. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Dritte Beratung Drucksache 18/6668. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt: Zustim- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – mung von den Grünen, Gegenstimmen von CDU/CSU Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- und SPD, Enthaltung von der Linken. entwurf ist angenommen mit Zustimmung von CDU/ (B) CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung von (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: den Linken. Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatz- Kunert, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, wei- punkt 3 auf: terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 22. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Anerkennung von Kriegsdienstverweigerun- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- gen erleichtern zes zur Änderung des Zwölften Buches Sozi- Drucksache 18/6363 algesetzbuch und weiterer Vorschriften Überweisungsvorschlag: Drucksache 18/6284 Verteidigungsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 18/6674 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ist ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- jemand dagegen? – Nein.1) richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ten Roland Claus, Matthias W. Birkwald, Caren Drucksache 18/6363 an die in der Tagesordnung aufge- Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- LINKE verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf Grundsicherung im Alter Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Drucksachen 18/3170, 18/5278 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben Gesetzes zur Umsetzung der EU-Mobili- werden. – Alle sind einverstanden.3) täts-Richtlinie 2) Anlage 6 1) Anlage 5 3) Anlage 7 13374 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- (C) von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf entwurf ist damit einstimmig angenommen. zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und weiterer Vorschriften. Der Ausschuss für Arbeit und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Drucksache 18/6674, den Gesetzentwurf der Bundesre- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nach- gierung auf Drucksache 18/6284 in der Ausschussfas- haftung für Rückbau- und Entsorgungskosten sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- im Kernenergiebereich (Rückbau- und Ent- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um sorgungskostennachhaftungsgesetz – Rück- ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält bau- und EntsorgungskostennachhaftungsG) sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD, ent- Drucksachen 18/6615, 18/6671 halten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Lin- Überweisungsvorschlag: ken. Niemand hat dagegengestimmt. Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Dritte Beratung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- heit und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Auch hier sind alle einverstanden.2) entwurf ist angenommen. CDU/CSU, SPD waren dafür, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- niemand war dagegen, enthalten haben sich die Linken wurfs auf den Drucksachen 18/6615 und 18/6671 an die und Bündnis 90/Die Grünen. in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Zusatzpunkt 3. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales schlagen. – Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Damit ist die Überweisung so beschlossen. che 18/5278, den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Titel „Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf Grundsicherung im Alter“ auf Drucksache 18/3170 ab- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss­ rung des Hochschulstatistikgesetzes empfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/ Drucksache 18/6560 CSU und SPD. Dagegengestimmt haben die Linken und (B) Bündnis 90/Die Grünen. Niemand hat sich enthalten. Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: abschätzung (f) Innenausschuss Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten 3) Gesetzes zur Änderung des Seearbeitsgesetzes Auch damit sind Sie einverstanden. Drucksache 18/6162 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/6560 an die in der Tagesordnung auf- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Drucksache 18/6675 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Alle sind einverstanden. 1) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss Gesetzes zur Änderung des Verkehrsinfra- für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlus- strukturfinanzierungsgesellschaftsgesetzes sempfehlung auf Drucksache 18/6675, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6162 in Drucksache 18/6487 der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur men wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dage- (15. Ausschuss) gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Drucksache 18/6669 Dritte Beratung Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Niemand hat etwas dagegen. 4) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – 2) Anlage 9 3) Anlage 10 1) Anlage 8 4) Anlage 11 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13375

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Dann kommen wir zur Abstimmung über den von setzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/ (C) der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegenge- Änderung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell- stimmt hat die Linke. schaftsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- auf Drucksache 18/6669, den Gesetzentwurf der Bundes- ordnung. regierung auf Drucksache 18/6487 anzunehmen. Ich bit- Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht völlig verzweifelt, weil te diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, die Sitzung viel früher als geplant aus ist. Sie können sich um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- noch etwas Schönes vornehmen. Es ist ja erst ungefähr tungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit in zweiter Viertel vor zehn. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, Abend. Genießen Sie den Abend; genießen Sie die freien SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt hat Stunden. die Linke. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Dritte Beratung destages auf morgen, Freitag, den 13. November 2015, 9 Uhr, ein. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Sitzung ist geschlossen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe- ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- (Schluss: 21.44 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13377

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bülow, Marco SPD 12.11.2015 Malecha-Nissen, Dr. SPD 12.11.2015 Birgit Erler, Dr. h. c. Gernot SPD 12.11.2015 Merkel, Dr. Angela CDU/CSU 12.11.2015 Ernst, Klaus DIE LINKE 12.11.2015 Pfeiffer, Dr. Joachim CDU/CSU 12.11.2015 Grundmann, Oliver CDU/CSU 12.11.2015 Post, Florian SPD 12.11.2015 Gundelach, Dr. Herlind CDU/CSU 12.11.2015 Ramsauer, Dr. Peter CDU/CSU 12.11.2015

Hampel, Ulrich SPD 12.11.2015 Rüthrich, Susann SPD 12.11.2015

Hintze, Peter CDU/CSU 12.11.2015 Saathoff, Johann SPD 12.11.2015

Höger, Inge DIE LINKE 12.11.2015 Scho-Antwerpes, Elfi SPD) 12.11.2015

Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ 12.11.2015 Terpe, Dr. Harald BÜNDNIS 90/ 12.11.2015 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

(B) Jung, Andreas CDU/CSU 12.11.2015 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 12.11.2015 (D) DIE GRÜNEN Kelber, Ulrich SPD 12.11.2015 Werner, Katrin DIE LINKE 12.11.2015 Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ 12.11.2015 DIE GRÜNEN Westphal, Bernd SPD 12.11.2015 Wicklein, Andrea SPD 12.11.2015 Klare, Arno SPD 12.11.2015 Wiese, Dirk SPD 12.11.2015 Krellmann, Jutta DIE LINKE 12.11.2015 Wolff (Wolmirstedt), SPD 12.11.2015 Lanzinger, Barbara CDU/CSU 12.11.2015 Waltraud

Ludwig, Daniela CDU/CSU 12.11.2015 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 12.11.2015 13378 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Anlage 2 (C) Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung teilgenommen haben

CDU/CSU Dr. Michael Fuchs Hans-Werner Kammer Jan Metzler Hans-Joachim Fuchtel Steffen Kampeter Maria Michalk Stephan Albani Alexander Funk Steffen Kanitz Dr. h. c. Hans Michelbach Katrin Albsteiger Ingo Gädechens Alois Karl Dr. Mathias Middelberg Artur Auernhammer Dr. Thomas Gebhart Anja Karliczek Dietrich Monstadt Dorothee Bär Alois Gerig Bernhard Kaster Karsten Möring Thomas Bareiß Eberhard Gienger Volker Kauder Marlene Mortler Norbert Barthle Cemile Giousouf Dr. Stefan Kaufmann Volker Mosblech Günter Baumann Josef Göppel Roderich Kiesewetter Elisabeth Motschmann Maik Beermann Ursula Groden-Kranich Dr. Georg Kippels Dr. Gerd Müller Manfred Behrens (Börde) Hermann Gröhe Volkmar Klein Carsten Müller (Braun- Veronika Bellmann Klaus-Dieter Gröhler Jürgen Klimke schweig) Sybille Benning Michael Grosse-Brömer Jens Koeppen Stefan Müller (Erlangen) Dr. André Berghegger Astrid Grotelüschen Markus Koob Dr. Philipp Murmann Dr. Christoph Bergner Markus Grübel Carsten Körber Dr. Andreas Nick Ute Bertram Manfred Grund Hartmut Koschyk Michaela Noll Peter Beyer Monika Grütters Kordula Kovac Dr. Georg Nüßlein Steffen Bilger Fritz Güntzler Michael Kretschmer Julia Obermeier Clemens Binninger Christian Haase Gunther Krichbaum Wilfried Oellers Peter Bleser Florian Hahn Dr. Günter Krings Florian Oßner Dr. Maria Böhmer Dr. Stephan Harbarth Rüdiger Kruse Dr. Tim Ostermann Jürgen Hardt Bettina Kudla Henning Otte Norbert Brackmann Gerda Hasselfeldt Dr. Roy Kühne Ingrid Pahlmann Klaus Brähmig Matthias Hauer Günter Lach Sylvia Pantel Michael Brand Mark Hauptmann Uwe Lagosky Martin Patzelt (B) Dr. Reinhard Brandl Dr. Stefan Heck Dr. Karl A. Lamers Dr. Martin Pätzold (D) Helmut Brandt Dr. Matthias Heider Dr. Norbert Lammert Ulrich Petzold Dr. Ralf Brauksiepe Helmut Heiderich Katharina Landgraf Sibylle Pfeiffer Mechthild Heil Ulrich Lange Eckhard Pols Ralph Brinkhaus Frank Heinrich (Chemnitz) Dr. Silke Launert Thomas Rachel Cajus Caesar Mark Helfrich Paul Lehrieder Kerstin Radomski Gitta Connemann Uda Heller Dr. Katja Leikert Alexander Radwan Alexandra Dinges-Dierig Jörg Hellmuth Dr. Philipp Lengsfeld Alois Rainer Alexander Dobrindt Rudolf Henke Dr. Andreas Lenz Eckhardt Rehberg Michael Donth Michael Hennrich Philipp Graf Lerchenfeld Lothar Riebsamen Thomas Dörflinger Ansgar Heveling Dr. Ursula von der Leyen Josef Rief Marie-Luise Dött Christian Hirte Antje Lezius Dr. Heinz Riesenhuber Hansjörg Durz Dr. Heribert Hirte Johannes Röring Iris Eberl Robert Hochbaum Matthias Lietz Dr. Norbert Röttgen Jutta Eckenbach Alexander Hoffmann Andrea Lindholz Erwin Rüddel Dr. Bernd Fabritius Thorsten Hoffmann Dr. Albert Rupprecht Hermann Färber (Dortmund) Patricia Lips Anita Schäfer (Saalstadt) Uwe Feiler Karl Holmeier Wilfried Lorenz Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Thomas Feist Franz-Josef Holzenkamp Dr. Claudia Lücking-Michel Karl Schiewerling Enak Ferlemann Dr. Hendrik Hoppenstedt Dr. Jan-Marco Luczak Jana Schimke Ingrid Fischbach Margaret Horb Karin Maag Norbert Schindler Dirk Fischer (Hamburg) Bettina Hornhues Yvonne Magwas Tankred Schipanski Axel E. Fischer (Karlsru- Anette Hübinger Thomas Mahlberg Heiko Schmelzle he-Land) Hubert Hüppe Dr. Thomas de Maizière Christian Schmidt (Fürth) Dr. Maria Flachsbarth Erich Irlstorfer Gisela Manderla Gabriele Schmidt (Ühlingen) Klaus-Peter Flosbach Thomas Jarzombek Matern von Marschall Ronja Schmitt (Althengstett) Thorsten Frei Sylvia Jörrißen Hans-Georg von der Marwitz Patrick Schnieder Dr. Astrid Freudenstein Dr. Franz Josef Jung Andreas Mattfeldt Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Hans-Peter Friedrich Xaver Jung Stephan Mayer (Altötting) Dr. Kristina Schröder (Wies- (Hof) Dr. Egon Jüttner Reiner Meier baden) Michael Frieser Bartholomäus Kalb Dr. Michael Meister Bernhard Schulte-Drüggelte Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13379

(A) Dr. Klaus-Peter Schulze Heinz Wiese (Ehingen) Wolfgang Gunkel Detlev Pilger (C) Uwe Schummer Klaus-Peter Willsch Bettina Hagedorn Sabine Poschmann Armin Schuster (Weil am Elisabeth Winkelmeier-­ Rita Hagl-Kehl Joachim Poß Rhein) Becker Metin Hakverdi Achim Post (Minden) Christina Schwarzer Oliver Wittke Sebastian Hartmann Dr. Wilhelm Priesmeier Detlef Seif Dagmar G. Wöhrl Michael Hartmann Florian Pronold Barbara Woltmann (Wackernheim) Dr. Sascha Raabe Reinhold Sendker Tobias Zech Dirk Heidenblut Dr. Simone Raatz Dr. Patrick Sensburg Heinrich Zertik Hubertus Heil (Peine) Martin Rabanus Bernd Siebert Emmi Zeulner Gabriela Heinrich Mechthild Rawert Thomas Silberhorn Dr. Matthias Zimmer Marcus Held Stefan Rebmann Johannes Singhammer Gudrun Zollner Wolfgang Hellmich Gerold Reichenbach Tino Sorge Dr. Barbara Hendricks Dr. Carola Reimann Jens Spahn SPD Heidtrud Henn Andreas Rimkus Carola Stauche Gustav Herzog Sönke Rix Dr. Wolfgang Stefinger Niels Annen Gabriele Hiller-Ohm Petra Rode-Bosse Albert Stegemann Ingrid Arndt-Brauer Petra Hinz (Essen) Dennis Rohde Peter Stein Rainer Arnold Thomas Hitschler Dr. Martin Rosemann Erika Steinbach Heike Baehrens Dr. Eva Högl Dr. Ernst Dieter Rossmann Sebastian Steineke Ulrike Bahr Matthias Ilgen Michael Roth (Heringen) Johannes Steiniger Heinz-Joachim Barchmann Christina Jantz Bernd Rützel Christian Freiherr von Dr. Katarina Barley Frank Junge Sarah Ryglewski ­Stetten Doris Barnett Josip Juratovic Annette Sawade Dieter Stier Klaus Barthel Thomas Jurk Dr. Hans-Joachim Rita Stockhofe Dr. Matthias Bartke Oliver Kaczmarek ­Schabedoth Gero Storjohann Sören Bartol Johannes Kahrs Axel Schäfer (Bochum) Stephan Stracke Bärbel Bas Ralf Kapschack Dr. Nina Scheer Max Straubinger Uwe Beckmeyer Gabriele Katzmarek Marianne Schieder Matthäus Strebl Lothar Binding (Heidelberg) Marina Kermer Udo Schiefner Karin Strenz Burkhard Blienert Cansel Kiziltepe Dr. Dorothee Schlegel Thomas Stritzl Willi Brase Lars Klingbeil Ulla Schmidt (Aachen) Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Bärbel Kofler Matthias Schmidt (Berlin) (B) Lena Strothmann Edelgard Bulmahn Daniela Kolbe Dagmar Schmidt (Wetzlar) (D) Michael Stübgen Martin Burkert Birgit Kömpel Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Lars Castellucci Anette Kramme Ursula Schulte Dr. Petra Crone Dr. Hans-Ulrich Krüger Swen Schulz (Spandau) Antje Tillmann Bernhard Daldrup Helga Kühn-Mengel Ewald Schurer Astrid Timmermann-Fechter Dr. Daniela De Ridder Christine Lambrecht Frank Schwabe Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Karamba Diaby Christian Lange (Backnang) Stefan Schwartze Dr. Volker Ullrich Sabine Dittmar Dr. Karl Lauterbach Andreas Schwarz Oswin Veith Martin Dörmann Steffen-Claudio Lemme Rita Schwarzelühr-Sutter Thomas Viesehon Elvira Drobinski-Weiß Burkhard Lischka Rainer Spiering Michael Vietz Siegmund Ehrmann Gabriele Lösekrug-Möller Norbert Spinrath Volkmar Vogel (Kleinsaara) Michaela Engelmeier Hiltrud Lotze Svenja Stadler Sven Volmering Petra Ernstberger Kirsten Lühmann Martina Stamm-Fibich Christel Voßbeck-Kayser Karin Evers-Meyer Caren Marks Sonja Steffen Kees de Vries Dr. Johannes Fechner Katja Mast Peer Steinbrück Dr. Johann Wadephul Dr. Fritz Felgentreu Hilde Mattheis Dr. Frank-Walter Steinmeier Marco Wanderwitz Elke Ferner Dr. Matthias Miersch Christoph Strässer Nina Warken Dr. Ute Finckh-Krämer Klaus Mindrup Kerstin Tack Kai Wegner Christian Flisek Susanne Mittag Claudia Tausend Albert Weiler Gabriele Fograscher Bettina Müller Michael Thews Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Edgar Franke Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Karin Thissen Dr. Anja Weisgerber Ulrich Freese Michelle Müntefering Franz Thönnes Peter Weiß (Emmendingen) Michael Gerdes Dr. Rolf Mützenich Carsten Träger Sabine Weiss (Wesel I) Martin Gerster Andrea Nahles Rüdiger Veit Ingo Wellenreuther Iris Gleicke Ulli Nissen Ute Vogt Karl-Georg Wellmann Angelika Glöckner Dirk Vöpel Marian Wendt Ulrike Gottschalck Mahmut Özdemir (Duisburg) Gabi Weber Waldemar Westermayer Kerstin Griese Aydan Özoğuz Gülistan Yüksel Kai Whittaker Gabriele Groneberg Markus Paschke Dagmar Ziegler Peter Wichtel Michael Groß Christian Petry Stefan Zierke Annette Widmann-Mauz Uli Grötsch Jeannine Pflugradt Dr. Jens Zimmermann 13380 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Manfred Zöllmer Ralph Lenkert BÜNDNIS 90/ Dr. Tobias Lindner (C) Brigitte Zypries Michael Leutert DIE GRÜNEN Nicole Maisch Stefan Liebich Luise Amtsberg Peter Meiwald DIE LINKE. Dr. Gesine Lötzsch Kerstin Andreae Irene Mihalic Thomas Lutze Jan van Aken Annalena Baerbock Beate Müller-Gemmeke Birgit Menz Dr. Dietmar Bartsch Marieluise Beck (Bremen) Özcan Mutlu Herbert Behrens Cornelia Möhring Volker Beck (Köln) Dr. Konstantin von Notz Karin Binder Niema Movassat Dr. Franziska Brantner Matthias W. Birkwald Norbert Müller (Potsdam) Agnieszka Brugger Omid Nouripour Heidrun Bluhm Dr. Alexander S. Neu Ekin Deligöz Friedrich Ostendorff Christine Buchholz Thomas Nord Katja Dörner Cem Özdemir Eva Bulling-Schröter Petra Pau Katharina Dröge Lisa Paus Roland Claus Harald Petzold (Havelland) Harald Ebner Brigitte Pothmer Sevim Dağdelen Dr. Thomas Gambke Richard Pitterle Tabea Rößner Dr. Diether Dehm Martina Renner Matthias Gastel Claudia Roth (Augsburg) Wolfgang Gehrcke Michael Schlecht Kai Gehring Corinna Rüffer Nicole Gohlke Dr. Petra Sitte Katrin Göring-Eckardt Annette Groth Kersten Steinke Anja Hajduk Manuel Sarrazin Britta Haßelmann Dr. Dr. Kirsten Tackmann Elisabeth Scharfenberg Dr. André Hahn Dr. Anton Hofreiter Azize Tank Ulle Schauws Heike Hänsel Bärbel Höhn Frank Tempel Dr. Gerhard Schick Dr. Rosemarie Hein Uwe Kekeritz Dr. Axel Troost Inge Höger Katja Keul Dr. Frithjof Schmidt Andrej Hunko Alexander Ulrich Maria Klein-Schmeink Kordula Schulz-Asche Sigrid Hupach Kathrin Vogler Tom Koenigs Dr. Wolfgang Ulla Jelpke Dr. Sylvia Kotting-Uhl ­Strengmann-Kuhn Susanna Karawanskij Halina Wawzyniak Oliver Krischer Hans-Christian Ströbele Harald Weinberg Kerstin Kassner Stephan Kühn (Dresden) Markus Tressel Katja Kipping Birgit Wöllert Christian Kühn (Tübingen) Dr. Julia Verlinden Jan Korte Hubertus Zdebel Renate Künast Katrin Kunert Pia Zimmermann Markus Kurth Doris Wagner (B) Caren Lay Sabine Zimmermann Monika Lazar Beate Walter-Rosenheimer (D) Sabine Leidig (Zwickau) Steffi Lemke Dr. Valerie Wilms

Anlage 3 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds und der Wahl eines stellvertre- tenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes teilge- nommen haben

CDU/CSU Wolfgang Bosbach Dr. Bernd Fabritius Dr. Thomas Gebhart Norbert Brackmann Hermann Färber Alois Gerig Stephan Albani Klaus Brähmig Uwe Feiler Eberhard Gienger Katrin Albsteiger Michael Brand Cemile Giousouf Artur Auernhammer Dr. Thomas Feist Dorothee Bär Dr. Reinhard Brandl Enak Ferlemann Josef Göppel Thomas Bareiß Helmut Brandt Ingrid Fischbach Ursula Groden-Kranich Norbert Barthle Dr. Ralf Brauksiepe Dirk Fischer (Hamburg) Hermann Gröhe Günter Baumann Dr. Helge Braun Axel E. Fischer Klaus-Dieter Gröhler Maik Beermann Heike Brehmer (Karlsruhe-Land) Michael Grosse-Brömer Manfred Behrens (Börde) Ralph Brinkhaus Dr. Maria Flachsbarth Astrid Grotelüschen Veronika Bellmann Cajus Caesar Klaus-Peter Flosbach Markus Grübel Sybille Benning Gitta Connemann Thorsten Frei Manfred Grund Dr. André Berghegger Alexandra Dinges-Dierig Dr. Astrid Freudenstein Monika Grütters Dr. Christoph Bergner Alexander Dobrindt Dr. Hans-Peter Friedrich Fritz Güntzler Ute Bertram Michael Donth (Hof) Christian Haase Peter Beyer Thomas Dörflinger Michael Frieser Florian Hahn Steffen Bilger Marie-Luise Dött Dr. Michael Fuchs Dr. Stephan Harbarth Clemens Binninger Hansjörg Durz Hans-Joachim Fuchtel Jürgen Hardt Peter Bleser Iris Eberl Alexander Funk Gerda Hasselfeldt Dr. Maria Böhmer Jutta Eckenbach Ingo Gädechens Matthias Hauer Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13381

(A) Mark Hauptmann Dr. Katja Leikert Dr. Norbert Röttgen Christel Voßbeck-Kayser (C) Dr. Stefan Heck Dr. Philipp Lengsfeld Erwin Rüddel Kees de Vries Dr. Matthias Heider Dr. Andreas Lenz Albert Rupprecht Dr. Johann Wadephul Helmut Heiderich Philipp Graf Lerchenfeld Anita Schäfer (Saalstadt) Marco Wanderwitz Mechthild Heil Dr. Ursula von der Leyen Dr. Wolfgang Schäuble Nina Warken Frank Heinrich (Chemnitz) Antje Lezius Karl Schiewerling Kai Wegner Mark Helfrich Ingbert Liebing Jana Schimke Albert Weiler Uda Heller Matthias Lietz Norbert Schindler Marcus Weinberg (Hamburg) Jörg Hellmuth Andrea Lindholz Tankred Schipanski Dr. Anja Weisgerber Rudolf Henke Dr. Carsten Linnemann Heiko Schmelzle Peter Weiß (Emmendingen) Michael Hennrich Patricia Lips Christian Schmidt (Fürth) Sabine Weiss (Wesel I) Ansgar Heveling Wilfried Lorenz Gabriele Schmidt (Ühlingen) Ingo Wellenreuther Christian Hirte Dr. Claudia Lücking-Michel Ronja Schmitt Karl-Georg Wellmann Dr. Heribert Hirte Dr. Jan-Marco Luczak Patrick Schnieder Marian Wendt Robert Hochbaum Karin Maag Nadine Schön (St. Wendel) Waldemar Westermayer Alexander Hoffmann Yvonne Magwas Dr. Kristina Schröder Kai Whittaker Thorsten Hoffmann Thomas Mahlberg (Wiesbaden) Peter Wichtel (Dortmund) Dr. Thomas de Maizière Bernhard Schulte-Drüggelte Annette Widmann-Mauz Karl Holmeier Gisela Manderla Dr. Klaus-Peter Schulze Heinz Wiese (Ehingen) Franz-Josef Holzenkamp Matern von Marschall Uwe Schummer Klaus-Peter Willsch Dr. Hendrik Hoppenstedt Hans-Georg von der Marwitz Armin Schuster (Weil am Elisabeth Winkelmeier-­ Margaret Horb Andreas Mattfeldt Rhein) Becker Bettina Hornhues Stephan Mayer (Altötting) Christina Schwarzer Oliver Wittke Anette Hübinger Reiner Meier Detlef Seif Dagmar G. Wöhrl Hubert Hüppe Dr. Michael Meister Johannes Selle Barbara Woltmann Erich Irlstorfer Jan Metzler Reinhold Sendker Tobias Zech Thomas Jarzombek Maria Michalk Dr. Patrick Sensburg Heinrich Zertik Sylvia Jörrißen Dr. h. c. Hans Michelbach Bernd Siebert Emmi Zeulner Dr. Franz Josef Jung Dr. Mathias Middelberg Thomas Silberhorn Dr. Matthias Zimmer Xaver Jung Dietrich Monstadt Johannes Singhammer Gudrun Zollner Dr. Egon Jüttner Karsten Möring Tino Sorge Bartholomäus Kalb Marlene Mortler Jens Spahn SPD (B) Hans-Werner Kammer Volker Mosblech Carola Stauche (D) Steffen Kampeter Elisabeth Motschmann Dr. Wolfgang Stefinger Niels Annen Steffen Kanitz Dr. Gerd Müller Albert Stegemann Ingrid Arndt-Brauer Alois Karl Carsten Müller Peter Stein Rainer Arnold Anja Karliczek (Braunschweig) Erika Steinbach Heike Baehrens Bernhard Kaster Stefan Müller (Erlangen) Sebastian Steineke Ulrike Bahr Volker Kauder Dr. Philipp Murmann Johannes Steiniger Heinz-Joachim Barchmann Dr. Stefan Kaufmann Dr. Andreas Nick Christian Freiherr von Dr. Katarina Barley Roderich Kiesewetter Michaela Noll Stetten Doris Barnett Dr. Georg Kippels Dr. Georg Nüßlein Dieter Stier Klaus Barthel Volkmar Klein Julia Obermeier Rita Stockhofe Dr. Matthias Bartke Jürgen Klimke Wilfried Oellers Gero Storjohann Sören Bartol Jens Koeppen Florian Oßner Stephan Stracke Bärbel Bas Markus Koob Dr. Tim Ostermann Max Straubinger Uwe Beckmeyer Carsten Körber Henning Otte Matthäus Strebl Lothar Binding Hartmut Koschyk Ingrid Pahlmann Karin Strenz (Heidelberg) Kordula Kovac Sylvia Pantel Thomas Stritzl Burkhard Blienert Michael Kretschmer Martin Patzelt Thomas Strobl (Heilbronn) Willi Brase Gunther Krichbaum Dr. Martin Pätzold Lena Strothmann Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Günter Krings Ulrich Petzold Michael Stübgen Edelgard Bulmahn Rüdiger Kruse Sibylle Pfeiffer Dr. Sabine Sütterlin-Waack Martin Burkert Bettina Kudla Eckhard Pols Dr. Peter Tauber Dr. Lars Castellucci Dr. Roy Kühne Thomas Rachel Antje Tillmann Petra Crone Günter Lach Kerstin Radomski Astrid Timmermann-Fechter Bernhard Daldrup Uwe Lagosky Alexander Radwan Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Daniela De Ridder Dr. Karl A. Lamers Alois Rainer Dr. Volker Ullrich Dr. Karamba Diaby Dr. Norbert Lammert Eckhardt Rehberg Oswin Veith Sabine Dittmar Katharina Landgraf Lothar Riebsamen Thomas Viesehon Martin Dörmann Ulrich Lange Josef Rief Michael Vietz Elvira Drobinski-Weiß Dr. Silke Launert Dr. Heinz Riesenhuber Volkmar Vogel (Kleinsaara) Siegmund Ehrmann Paul Lehrieder Johannes Röring Sven Volmering Michaela Engelmeier 13382 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Petra Ernstberger Kirsten Lühmann Svenja Stadler Dr. Alexander S. Neu (C) Karin Evers-Meyer Caren Marks Martina Stamm-Fibich Thomas Nord Dr. Johannes Fechner Katja Mast Sonja Steffen Petra Pau Dr. Fritz Felgentreu Hilde Mattheis Peer Steinbrück Harald Petzold (Havelland) Elke Ferner Dr. Matthias Miersch Dr. Frank-Walter Steinmeier Richard Pitterle Dr. Ute Finckh-Krämer Klaus Mindrup Christoph Strässer Martina Renner Christian Flisek Susanne Mittag Kerstin Tack Michael Schlecht Gabriele Fograscher Bettina Müller Claudia Tausend Dr. Petra Sitte Dr. Edgar Franke Detlef Müller (Chemnitz) Michael Thews Kersten Steinke Ulrich Freese Michelle Müntefering Dr. Karin Thissen Dr. Kirsten Tackmann Michael Gerdes Dr. Rolf Mützenich Franz Thönnes Azize Tank Martin Gerster Andrea Nahles Carsten Träger Frank Tempel Iris Gleicke Ulli Nissen Rüdiger Veit Dr. Axel Troost Angelika Glöckner Thomas Oppermann Ute Vogt Alexander Ulrich Ulrike Gottschalck Mahmut Özdemir Dirk Vöpel Kathrin Vogler Kerstin Griese (Duisburg) Gabi Weber Dr. Sahra Wagenknecht Gabriele Groneberg Aydan Özoğuz Gülistan Yüksel Halina Wawzyniak Michael Groß Markus Paschke Dagmar Ziegler Harald Weinberg Uli Grötsch Christian Petry Stefan Zierke Birgit Wöllert Wolfgang Gunkel Jeannine Pflugradt Dr. Jens Zimmermann Hubertus Zdebel Bettina Hagedorn Detlev Pilger Manfred Zöllmer Pia Zimmermann Rita Hagl-Kehl Sabine Poschmann Brigitte Zypries Sabine Zimmermann Metin Hakverdi Joachim Poß (Zwickau) Sebastian Hartmann Achim Post (Minden) DIE LINKE. Michael Hartmann Dr. Wilhelm Priesmeier BÜNDNIS 90/ Jan van Aken (Wackernheim) Florian Pronold DIE GRÜNEN Dirk Heidenblut Dr. Sascha Raabe Dr. Dietmar Bartsch Hubertus Heil (Peine) Dr. Simone Raatz Herbert Behrens Luise Amtsberg Gabriela Heinrich Martin Rabanus Karin Binder Kerstin Andreae Marcus Held Mechthild Rawert Matthias W. Birkwald Annalena Baerbock Wolfgang Hellmich Stefan Rebmann Heidrun Bluhm Marieluise Beck (Bremen) Dr. Barbara Hendricks Gerold Reichenbach Christine Buchholz Volker Beck (Köln) (B) Heidtrud Henn Dr. Carola Reimann Eva Bulling-Schröter Dr. Franziska Brantner (D) Gustav Herzog Andreas Rimkus Roland Claus Agnieszka Brugger Gabriele Hiller-Ohm Sönke Rix Sevim Dağdelen Ekin Deligöz Petra Hinz (Essen) Petra Rode-Bosse Dr. Diether Dehm Katja Dörner Thomas Hitschler Dennis Rohde Wolfgang Gehrcke Katharina Dröge Dr. Eva Högl Dr. Martin Rosemann Nicole Gohlke Harald Ebner Matthias Ilgen Dr. Ernst Dieter Rossmann Annette Groth Dr. Thomas Gambke Christina Jantz Michael Roth (Heringen) Dr. Gregor Gysi Matthias Gastel Frank Junge Bernd Rützel Dr. André Hahn Kai Gehring Josip Juratovic Sarah Ryglewski Heike Hänsel Katrin Göring-Eckardt Thomas Jurk Annette Sawade Dr. Rosemarie Hein Anja Hajduk Oliver Kaczmarek Dr. Hans-Joachim Inge Höger Britta Haßelmann Johannes Kahrs ­Schabedoth Andrej Hunko Dr. Anton Hofreiter Ralf Kapschack Axel Schäfer (Bochum) Sigrid Hupach Bärbel Höhn Gabriele Katzmarek Dr. Nina Scheer Ulla Jelpke Uwe Kekeritz Marina Kermer Marianne Schieder Susanna Karawanskij Katja Keul Cansel Kiziltepe Udo Schiefner Kerstin Kassner Maria Klein-Schmeink Lars Klingbeil Dr. Dorothee Schlegel Katja Kipping Tom Koenigs Dr. Bärbel Kofler Ulla Schmidt (Aachen) Jan Korte Sylvia Kotting-Uhl Daniela Kolbe Matthias Schmidt (Berlin) Katrin Kunert Oliver Krischer Birgit Kömpel Dagmar Schmidt (Wetzlar) Caren Lay Stephan Kühn (Dresden) Anette Kramme Carsten Schneider (Erfurt) Sabine Leidig Christian Kühn (Tübingen) Dr. Hans-Ulrich Krüger Ursula Schulte Ralph Lenkert Renate Künast Helga Kühn-Mengel Swen Schulz (Spandau) Michael Leutert Markus Kurth Christine Lambrecht Ewald Schurer Stefan Liebich Monika Lazar Christian Lange (Backnang) Frank Schwabe Dr. Gesine Lötzsch Steffi Lemke Dr. Karl Lauterbach Stefan Schwartze Thomas Lutze Dr. Tobias Lindner Steffen-Claudio Lemme Andreas Schwarz Birgit Menz Nicole Maisch Burkhard Lischka Rita Schwarzelühr-Sutter Cornelia Möhring Peter Meiwald Gabriele Lösekrug-Möller Rainer Spiering Niema Movassat Irene Mihalic Hiltrud Lotze Norbert Spinrath Norbert Müller (Potsdam) Beate Müller-Gemmeke Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13383

(A) Özcan Mutlu Brigitte Pothmer Ulle Schauws Hans-Christian Ströbele (C) Dr. Konstantin von Notz Tabea Rößner Dr. Gerhard Schick Markus Tressel Omid Nouripour Claudia Roth (Augsburg) Dr. Frithjof Schmidt Dr. Julia Verlinden Friedrich Ostendorff Corinna Rüffer Kordula Schulz-Asche Doris Wagner Cem Özdemir Manuel Sarrazin Dr. Wolfgang Beate Walter-Rosenheimer Lisa Paus Elisabeth Scharfenberg Strengmann-Kuhn Dr. Valerie Wilms

Anlage 4 rechtigung. Aber die Fakten, die haben eben auch Ihre Berechtigung. Zu Protokoll gegebene Reden Vor diesem Hintergrund habe ich auch ein Problem zur Beratung des von der Bundesregierung einge- damit, wenn bei einer Prognose von einer halben Mil- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung lion Menschen allzu düstere Weltuntergangsszenarien des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und gezeichnet werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass es anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 19) einzig und allein an uns liegt, ob diese Zuwanderung zu einem Problem oder einer Chance für unser Land wird. Cemile Giousouf (CDU/CSU): Heute diskutieren Es hängt maßgeblich davon ab, wie schnell und wie wir den vorliegenden Gesetzentwurf zur Anpassung un- gut wir Menschen in Arbeit bringen können. Und dafür seres Anerkennungsgesetzes an EU-Richtlinien. Erlau- haben wir schon viel Gutes auf den Weg gebracht. ben Sie einige Worte über die Arbeitsmarktintegration Der Fachkräftemangel in Deutschland war der Grund, von Neuzuzüglern, die wir mit dem Anerkennungsgesetz warum wir seit 2009 viele Anstrengungen unternommen in unseren Arbeitsmarkt integrieren wollen. Wir haben haben, viele Gesetze liberalisiert haben, damit Menschen im Moment einen sehr hohen Beschäftigungsstand in un- mit Einwanderungsgeschichte, aber auch Asylbewerber serem Land, unser Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie schneller auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Das lange nicht mehr, und auch wenn die Wachstumskraft im war auch der Grund, warum 2012 das Anerkennungsge- zweiten Halbjahr etwas schwächer war, haben wir insge- setz ins Leben gerufen wurde. samt in diesem Jahr einen starken wirtschaftlichen Auf- schwung erlebt. Heute diskutieren wir den vorliegenden Gesetzent- wurf. Er dient dazu, Vorgaben der novellierten EU-Richt- Wenn wir uns die Flüchtlingszahlen angucken – wir linie zur Berufsanerkennung in deutsches Recht umzu- rechnen mit einer Anerkennungsquote von 40 bis 50 Pro- setzen. Die wichtigsten Änderungen sind: (B) zent – werden von den erwarteten Menschen in diesem (D) Jahr eine halbe Million Menschen bei uns bleiben. Nach Erstens. Wollen wir mit dem Gesetz ein einheitliches Meinung des DIW-Präsidenten erwirtschaftet ein Flücht- Anerkennungsverfahren innerhalb der Europäischen ling spätestens nach sieben Jahren mehr, als er den Staat Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes schaf- kostet. Deshalb sind auch die Wirtschaftsweisen im Übri- fen. Es soll ein europäischer Berufsausweis für regle- gen der Auffassung, dass wir zwar jetzt in die Integration mentierte Berufe eingeführt werden, der die Mobilität in der Menschen investieren müssen, aber langfristig diese Europa maßgeblich fördert. sich eben für unser Land auszahlt. Zweitens. Die Verfahren der Anerkennung sollen Ich habe mich gefreut, dass vorgestern der neue Lei- durch die elektronische Antragsabgabe weiter moderni- ter des BAMF, Hans-Jürgen Weise, in unserer AG-Innen siert und vereinfacht werden. Es wird die Möglichkeit sehr deutlich gemacht hat, dass die Behauptung, 80 Pro- geschaffen, für reglementierte Berufe Informationen zent der Asylbewerber seien in den deutschen Arbeits- durch Nutzung eines einheitlichen Systems elektronisch markt nicht integrierbar, schlicht falsch ist. Natürlich zu übermitteln. Die Antragsbearbeitung durch die zustän- haben diese keine duale Ausbildung nach unseren Krite- digen Stellen kann dadurch verbessert, die Kommunika- rien und Standards durchlaufen, aber sie haben auch Ar- tion beschleunigt werden. Für die Antragsteller werden beitserfahrung und genau diese sollten wir nutzen – so, Kosten reduziert, da die Beglaubigung von Unterlagen wie sich bislang jede Einwanderergruppe für unser Land zunächst entfällt, bei Bedarf jedoch durch die zuständi- ausgezahlt hat. Bei den Nachkommen jeder Einwande- gen Stellen angefordert werden kann. rergruppe – auch denen der Gastarbeiter, deren Großteil Drittens. Der Antragsteller wird in Zukunft bei regle- als ungelernte Arbeiter in unser Land kamen können wir mentierten Berufen die Möglichkeit bekommen, inner- einen hohen Bildungsanstieg, eine hohe Bildungsaspira- halb von sechs Monaten eine Eignungsprüfung abzule- tion und höhere Berufsabschlüsse verzeichnen, als dies gen. Damit wird ein zügiges Verfahren gewährleistet, das in der Elterngeneration der Fall war. die anerkennende Stelle leisten muss. Das ist ein großes Kompliment an unser Bildungs- Viertens. Wir wollen die Umsetzung des Anerken- system und unsere duale Ausbildung. Es gibt endlose nungsgesetzes weiter beobachten, und das Bundesinsti- Beispiele von Kindern, die aus sogenannten Arbeiterfa- tut für Berufsbildung wird das Monitoring des Anerken- milien kommend – dabei ist es egal, ob mit oder ohne nungsgesetzes kontinuierlich weiterführen. Migrationshintergrund – heute verantwortungsvolle Po- sitionen bekleiden, auch hier im hohen Hause. Ich habe Das müssen wir auch tun, wenn wir das Potenzial die- Verständnis für Fragen und Sorgen; die haben ihre Be- ses Gesetzes in seiner vollen Wirkung nutzen wollen. 13384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Bei der öffentlichen Anhörung haben die Sachverstän- Genau an dieser Stelle setzt der Entschließungsantrag (C) digen die Erfolge aber auch den weiteren Handlungsbe- von meinem Kollegen Karamba Diaby und mir an. darf aufgezeigt. Wir brauchen weitere Finanzierungsmöglichkeiten für Zu den wichtigen Punkten gehört: Qualifizierungsmaßnahmen. Das ist auch erklärtes Ziel der Bundesregierung. So steht es auch im Koalitionsver- Erstens. Laut Statistischem Bundesamt wurden trag. Wir wollen ein Darlehensprogramm und Stipendi- seit dem Inkrafttreten des Gesetzes im April 2012 bis enprogramm. Ich freue mich deshalb, dass das BMBF Ende 2013 rund 26 500 Anträge auf Anerkennung ge- angekündigt hat, ein bundesweites Stipendiumprogramm stellt. Nahezu 96 Prozent aller beschiedenen Verfahren anzulegen, sobald eine valide Einschätzung der Bedarfe wurden mit der Feststellung einer Gleichwertigkeit des möglich ist. Der gestern von der Grünen-Fraktion einge- ausländischen Berufsabschlusses beendet. reichte Entschließungsantrag macht sich ja auch für diese Forderung stark – Schnellschüsse bringen uns aber kei- Zweitens. Besonders groß ist das Interesse an einer nen Schritt weiter. Anerkennung im Bereich der Gesundheitsberufe. In die- sen Berufen sind in Deutschland bereits erhebliche Eng- Lieber Özcan Mutlu, ich möchte auch noch etwas zu pässe zu verzeichnen. Wir begrüßen in diesem Zusam- der Deckelung der Verfahrenskosten sagen, wie in eurem menhang, dass endlich eine zentrale Gutachtenstelle für Antrag gefordert: Die Forderung ist goldrichtig – nur Gesundheitsberufe bei der KMK eingeleitet wird. leider ist es der falsche Adressat! Die Verwaltungsauf- gaben, die in den Bereich der Länder fallen, sind auch Drittens. Die Sachverständigen haben die Bedeutung vollständig von diesen zu übernehmen. Für öffentliche guter Beratungsstrukturen deutlich gemacht. Deshalb Verwaltungsaufgaben werden zudem üblicherweise kos- freue ich mich, dass das BMBF das Beratungsnetzwerk tendeckende Gebühren erhoben. Verfassungsrechtlich ist „Integration durch Qualifizierung – IQ“ zu einer kosten- das aber nun einmal Sache der Länder, und es gibt nur losen Verfahrensbegleitung und Qualifizierungsberatung eingeschränkte Einwirkungsmöglichkeiten der Bundes- im Kontext des Anerkennungsgesetzes weiterentwickeln regierung. wird. Erstmals hat nunmehr jeder und jede auf Grundlage Viertens. Wir haben durch das Anerkennungsgesetz dieses Gesetzes Anspruch, dass der im Ausland erwor- schon heute die Möglichkeit, sogenannte Qualifikati- bene Abschluss geprüft wird. Dieser Rechtsanspruch auf onsanalysen durchzuführen, wenn zum Beispiel Unter- Prüfung, markiert ebenfalls einen Paradigmenwechsel. lagen fehlen oder nicht ausreichend vorgelegt werden Dieses Verfahren sucht in Europa seinesgleichen. Die können. Gerade dieses Instrument ist bei der Erfassung Tatsache, dass viele Zuwanderer durch das Anerken- (B) der Flüchtlinge, die ja oftmals ohne Dokumente aufbre- nungsgesetz de jure und de facto mehr Wertschätzung für (D) chen mussten, eine wichtige Stütze zur Erkennung von ihre früher erworbenen Qualifikationen bekommen, ist Berufsqualifikationen. auf eine erfolgreiche Regierungsinitiative der Union zu- Doch es gibt eben auch noch Verbesserungsmöglich- rückzuführen. Wir sollten uns diese Erfolge nicht klein- keiten – bei einem jungen sehr komplexen Gesetz ist dies reden lassen. Ich plädiere daher als Berichterstatterin nur allzu natürlich. Folgende Punkte möchte ich heraus- wärmstens für die Annahme der Beschlussempfehlung stellen: des federführenden Ausschusses.

Viele Betriebe haben noch keine konkreten Erfahrun- Xaver Jung (CDU/CSU): Unsere Wirtschaft boomt gen mit dem Gesetz gemacht. Der Nutzen des Anerken- und den sozialen Sicherungssystemen geht es so gut, wie nungsgesetzes als Instrument der Personalgewinnung lange nicht. Wir haben heute so viele offene Stellen wie muss noch viel besser verdeutlicht werden. Gerade klei- seit der Deutschen Einheit nicht mehr und werden in den ne und mittlere Betriebe benötigen auch konkrete Unter- nächsten Jahren Millionen Fachkräfte ersetzen müssen, stützung bei Fragen zum Thema Anerkennung. Wir brau- die in den Ruhestand gehen. Demgegenüber hoffen vie- chen also eine stärkere Bekanntmachung. le Einwanderer und Schutzsuchende mit Qualifikationen Die Akzeptanz der Bescheide bei den Unternehmen aus dem Ausland auf einen Job in Deutschland. hängt maßgeblich von der Qualität der Bescheide ab, Das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz erfährt weshalb es notwendig ist, dass wir einen einheitlichen zunehmend größeren Anklang bei der Zielgruppe der Verwaltungsvollzug brauchen. Die Verfahren müssen Zugewanderten. Im abgelaufenen Jahr gab es mit rund vereinheitlicht und Kompetenzen der entscheidenden 20 000 Verfahren zur Anerkennung rund 20 Prozent mehr Stellen gebündelt werden. Anträge als im Vorjahr. Von den beschiedenen Verfahren endeten ca. 80 Prozent mit einer vollen Gleichwertigkeit. Andererseits zieht eine Beratung nicht in jedem Fall Nicht einmal 4 Prozent wurden abgelehnt. Besonders in eine Antragstellung nach sich. Die Ergebnisse hierzu den Gesundheits- und Pflegeberufen bestand erfreuli- durchgeführter Befragungen zeigen unterschiedliche cherweise großes Interesse. Gründe auf. So können zum Beispiel die Kosten für die Durchführung eines Anerkennungsverfahrens Interes- Die öffentliche Anhörung hat sehr wohl gezeigt, dass sierte davon abhalten, einen Antrag zu stellen. Mit an- das Berufsfeststellungsförderunggesetz sich in den letz- deren Worten: Es wird also immer dann problematisch, ten Jahren als notwendiges und im Kern richtiges und wenn die Frage der Bildungsrendite nicht eindeutig zu erfolgreiches Instrument zur Verbesserung der Aner- beantworten ist. kennungssituation und Arbeitsmarktintegration von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13385

(A) Migranten erwiesen hat. Wir haben aber auch erfahren, Aber, wo es Rechte gibt, gibt es auch Pflichten. Um (C) dass es bei der praktischen Umsetzung noch häufig zu hier Fuß fassen zu können, muss man die Sprache kön- Problemen kommt. Diese liegen meist nicht im Verant- nen, und wer Schutz und Sicherheit, in Anspruch nimmt wortungsbereich des Gesetzgebers. Es fehlt an einer (die das Grundgesetz garantiert), muss selbst auch unse- gesetzeskonformen Umsetzungspraxis einiger zuständi- re demokratische und freiheitliche Verfassungsordnung, ger Anerkennungsstellen im Verantwortungsbereich der kennen, anerkennen und leben. Nur wer bereit ist sich an- Länder. zustrengen, kann auf die volle Solidarität und Unterstüt- zung der Bevölkerung zählen. Von Anfang an sollen sie Daher begrüßen wir die Vereinbarung der Länder, die durch die Teilnahme an Integrationskursen erfahren, wie für die Anerkennung zuständigen Stellen und die von den eine offene, pluralistische Gesellschaft funktioniert und Ländern finanzierte Zentralstelle für das ausländische welche Rechts- und Werteordnung in Deutschland gilt. Bildungswesen, angemessen auszustatten. Damit kann der erwartete Aufwuchs von Anträgen zügiger bearbeitet Sie sollen aber auch Informationen bekommen, wel- werden. che Möglichkeiten sie haben, sich bei uns einzubringen. Denn: Viele wissen gar nicht worin die Vorteile einer du- Darüber hinaus brauchen wir begleitende finanzielle alen Ausbildung liegen, oder wie sie sich ihre im Ausland Unterstützungsangebote für Nachqualifizierungsmaß- erworbenen Qualifikationen anrechnen lassen können! nahmen in Ergänzung zu den bestehenden Angeboten. Auch die Verfahrenskosten müssen sozialverträglich Leider können viele Flüchtlinge die notwendigen Un- ausgestaltet werden. terlagen nicht vorlegen. Sie haben aufgrund einer über- stürzten Flucht nicht alle Papiere mitnehmen können Das Anerkennungsgesetz ist aber nur eine Maßnahme oder sie sind verloren gegangen. Durch Fachgespräche von vielen, um die Menschen die zu uns kommen besser und Arbeitsproben besteht nun die Möglichkeit, Kompe- zu integrieren. Im September haben die Bundeskanzlerin tenzen festzustellen und einzustufen. Vielen Dank an die und die Ministerpräsidenten bereits ein Finanzpaket ver- Kooperationspartner der Handwerkskammern sowie der abredet. Bund, Länder und Kommunen (und unzählige Industrie- und Handelskammern. Sie sorgen weiterhin Ehrenamtliche) packen gemeinsam an. Herzlichen Dank für die Einhaltung von Qualitätsstandards. an dieser Stelle! Denn genau darin, in der Qualität der Bescheide, liegt Dem Ministerium für Bildung und Forschung kommt der wesentliche Vorteil des Anerkennungsverfahrens. So- hierbei eine Schlüsselrolle zu. Zahlreiche gezielte Maß- wohl Antragsteller wie Arbeitgeber können ersehen, was nahmen werden unter dem Stichwort „ Integration durch einem ausländischen Bewerber an Qualifikationen fehlt Bildung“ vom BMBF mit mindestens 130 Millionen und wo man ihn nachqualifizieren, oder in die Weiterbil- (B) Euro unterstützt! Wir stärken das Kommunale Bildungs- dung integrieren kann. Anerkennungsberatung und Qua- (D) management. In allen 400 Kreisen oder kreisfreien Städ- lifizierungsberatung werden wichtige Anlaufstellen und ten wird mit Beginn 2016 ein Koordinator zur Organi- sorgen für Transparenz über ausländische Abschlüsse. sation von Bildungsangeboten für Flüchtlinge finanziert. Und hier liegt noch viel mehr Potential; denn auch viele Auch der JOBSTARTER-Programmbereich KAUSA Betriebe kennen diese Möglichkeiten bisher nicht, hier unterstützt die Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen werden wir mit verstärkter Aufklärung ansetzen. mit Migrationshintergrund. Das KAUSA-Netzwerk wird Zum Schluss ein aufmunterndes Zitat einer Antrag- ausgebaut und die Zahl der Stellen wird verdoppelt. In stellerin: „Man braucht viel Geduld für den ganzen Pa- den lokalen Bündnissen für Bildung im Programm „Kul- pierkram. Am Ende lohnt es sich aber und man hat die tur macht stark“ werden die zusätzlichen Angebote für Genugtuung, endlich in dem Beruf arbeiten zu können, junge Flüchtlinge jetzt auch auf die Altersgruppe der jun- der einem liegt und Spaß macht.“ Das wünsche ich jedem gen Erwachsenen ausgeweitet. Antragsteller, jedem hier im Hause und jedem der in un- Das Förderprogramm „Integration durch Bildung“ serem Land arbeitet. existiert bereits seit zehn Jahren. In der Förderperio- de 2015-2018 wurde das Programm erweitert um den Dr. Karamba Diaby (SPD): Seit 2012 verkörpert das Schwerpunkt: „ESF-Qualifizierung im Kontext -Aner Anerkennungsgesetz gelebte Anerkennungskultur. Es kennungsgesetz“. So wird das Programm künftig noch steht für: Chancengleichheit von Eingewanderten. End- mehr auf die Bedürfnisse der Geflüchteten zugeschnitten. lich können sie seit drei Jahren ihre Qualifikationen an- Unabhängig vom Aufenthaltstitel werden Personen mit erkennen lassen. Und es hat Signalwirkung an die Wirt- Migrationshintergrund in den Bereichen Bildung, Be- schaft, nämlich dass wir hier in Deutschland ein großes rufsbildung und lebenslangem Lernen unterstützt. Reservoir an Fachkräften haben. Wer in Deutschland einen beruflichen Neustart -ver Der vorliegende Entwurf zur Änderung des BQFG sucht, hat einen langen Weg vor sich. Viele Menschen setzt die Anpassung an die EU-Richtlinie um. Das Ge- suchen derzeit bei uns Zuflucht vor Terror und Gewalt. setz wird damit modernisiert. Das begrüßt meine Frakti- Viele haben alles zurückgelassen. Wir geben ihnen eine on ausdrücklich. Chance, so wie wir auch Menschen in Deutschland nach 1. Künftig soll die Prüfung der Gleichwertigkeit inner- langer Arbeitslosigkeit eine Chance für den Neustart bie- halb von sechs Monaten abgeschlossen sein. ten. Unser Ziel ist, dass jeder Mensch etwas erreichen kann und ihm dabei geholfen wird. Jeder der einen Neu- 2. Ebenfalls wird die elektronische Antragsbearbei- start wagt hat eine Chance verdient. tung ausgebaut. 13386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) 3. Wichtig ist zudem: Es wird künftig mehr Stellen Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Ja, (C) geben, die Anträge auf Anerkennung annehmen. Das Ge- das gilt auch für Geflüchtete, die Sie ja ausdrücklich in setz wird damit nutzerfreundlicher. Ihrem Antrag erwähnen. Aber: Dies gilt auch für Men- schen, die schon lange bei uns leben, und ebenso für 4. Und nicht zuletzt: Die Weitergabe elektronischer Menschen, die über kurzfristige Auslandsaufenthalte Daten zwischen dem BiBB und dem Statistischen Bun- Qualifikationen erworben haben. desamt wird verbessert. Das sind positive Aspekte. In der Vergangenheit haben wir viele Fehler durch die Es ist aber ein offenes Geheimnis, dass meine Frakti- Nichtanerkennung von ausländischen Abschlüssen ge- on mehr will. macht. Da hieß es aber auch, Deutschland sei kein Ein- Nach immer sehen wir in drei wesentlichen Aspekten wanderungsland. Welch fataler Irrtum! Handlungsbedarf! Wir sind nach wie vor der Ansicht, Die Fehler der Vergangenheit dürfen wir auf keinen dass wir erstens einen Rechtsanspruch auf eine unabhän- Fall wiederholen. Wir müssen vielmehr mit den Lebens­ gige Beratung brauchen. Länder wie Hamburg und Sach- chancen von Menschen, die zu uns kommen, sorgfältiger sen-Anhalt sind dem Bund hier einen Schritt voraus. Da- umgehen. mit steht und fällt ein mögliches Anerkennungsverfahren. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf individuelle und Auch ist das Anerkennungsgesetz ist ein Grundpfeiler unabhängige Beratung für alle Anerkennungssuchenden, unserer Willkommens- und Begleitkultur. unabhängig davon, ob der Beruf nach Landes- oder Bun- Ja, wir sagen „hartelijk welcomen“ zur niederländi- desrecht geregelt ist. Von einem solchen Rechtsanspruch schen Krankenschwester, wenn sie in Deutschland ar- versprechen wir uns noch mehr Anerkennungsverfahren! beiten möchte. Ihr Berufungsanerkennungsverfahre be- Wir fordern zweitens ein Einstiegsdarlehen. Aus- schleunigen wir, denn wir brauchen sie. nahmslos alle Sachverständigen unserer Anhörung wa- Und wir sagen auch „Marhaba“ zu syrischen Ingeni- ren einhellig der Ansicht: Nur mit finanzieller Ausstat- euren, auch wenn das viele Menschen in unserem Land tung wird das Anerkennungsgesetz seine volle Wirkung derzeit nicht gefällt. Wir sind nämlich imstande, auch auf entfalten. Arabisch „Willkommen“ zu sagen. Meine Fraktion meint, dass wir an Finanzierungsinstru­ Ja, Verfahren der Anerkennung von Berufen sind in- ment nicht vorbeikommen werden. Die Antragszahlen nerhalb der EU modernisiert und vereinfacht worden. insgesamt sind uns noch zu niedrig und auch die Quote Auch die entsprechenden Beratungsangebote werden der Teilanerkennungen ist recht hoch. Das heißt wir brau- häufiger genutzt. Aber reicht uns das? chen zwingend flankierende Angebote für die Ausgleich- (B) (D) maßnahmen. Hier brauchen wir Planungssicherheit und Nein, auch wir sehen deutlichen Verbesserungsbedarf: Rechtssicherheit für Anerkennungssuchende. Und das Die Reform des Anerkennungsgesetzes ist ein kleiner geht nur über die Einführung eines Einstiegsdarlehens! Schritt in die richtige Richtung. Aber mit dem Entschlie- Und drittens müssen wir für angemessene, sprich sozi- ßungsantrag haben wir Koalitionspartner noch einmal alverträgliche, Verfahrenskosten sorgen. Wir wissen aus Bewegung in die Sache gebracht. dem Bericht, dass eine hohe Varianz der Verfahrenskos- Was wollen wir? ten existiert, die sich nach Berufsgruppen und Regionen unterscheidet. Die Verfahrenskosten sind bestimmender Transparentere Verfahren, Unterstützung für die Nach- Faktor und genau da müssen ran. qualifizierung – das kann man sehr gut durch Darlehens- und Stipendienprogramme tun, auch an die Senkung der Der heutige Beschluss ist nur eine Wegmarke hin zu Kosten für das Anerkennungsverfahren denken wir, die einem kraftvollen Anerkennungsgesetz. Das drückt auch müssen nämlich sozial verträglich sein; ja, so können der Entschließungsantrags des Ausschusses aus. wir die Zahlen der Anerkennungen noch einmal deutlich steigern. Ich weiß mich in guter Gesellschaft, denn ich Zum Schluss bedanke ich mich bei allen Akteuren werde darauf häufig von den Unternehmen in meinem in den Ministerien, Verwaltungen, den Beratungsstellen Wahlkreis angesprochen. und nicht zuletzt den Kammern für ihren Einsatz. Sie tra- gen maßgeblich zum Erfolg des Gesetzes bei. Aber wir Lassen Sie mich bitte noch auf einen Punkt aufmerk- müssen sie dabei noch stärker unterstützen. sam machen, der mir besonders wichtig ist: Mir geht es auch um die Stärkung der Beratungsangebote in den Hei- Deshalb wiederhole ich: Unser Ziel muss sein, dass matländern der Mobilitätswilligen. Dadurch können wir jeder Mensch entsprechend seiner Qualifikation arbeiten noch einmal Informationen streuen und zur Transparenz kann. Wir dürfen uns daher mit dem Status Quo nicht beitragen. Dazu gehört auch eine enge Kooperation mit zufrieden geben. Lassen Sie uns das Anerkennungsgesetz den Außenhandelskammern. Zudem entspricht dies dem zu einem kraftvollen Instrument echter Teilhabe machen. gestiegenen Beratungsbedarf. Schließlich wird es insgesamt um den Ausbau von in- Dr. Daniela De Ridder (SPD): Das Anerkennungs- novativen Konzepten zur Integration von Zugewanderten gesetz stellt eine zentrale Maßnahme zur Integration von in den Arbeitsmarkt gehen müssen. zugewanderten Menschen in den Arbeitsmarkt dar. Dabei gilt es, die in den jeweiligen Heimatländern erworbenen Ja, ich leugne nicht, dass die Herausforderungen groß Qualifikationen zu würdigen. sind – und sie wachsen noch – wenn täglich viele Men- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13387

(A) schen zu uns kommen, weil sie hier Schutz und Hilfe su- Dann könnten Gleichwertigkeitsfeststellungen schneller (C) chen – aber auch einen Arbeitsplatz. und unbürokratischer getroffen werden und es würde auch kostengünstiger. Wir sollten dies aber nicht als Last empfinden, son- dern als Chance begrüßen: Wenn wir besser hinsehen, Es ist doch unlogisch, in einer Zeit, in der nach jewei- erkennen wir vielerorts die Potenziale und Talente. Dazu ligem Landesrecht ausgebildete Erzieherinnen zum Bei- müssen aber viele von uns die Scheuklappen ablegen und spiel in anderen Bundesländern mit Kusshand genommen den Mut für Verbesserungen aufbringen. werden, obwohl die Ausbildungen höchst unterschied- Helmut Schmidt, dessen Tod wir heute Morgen hier lich sind, bei Ausbildungen, die im Ausland, noch dazu betrauert haben, sagte einst: „In der Krise beweist sich auf höherem Niveau erworben wurden, erst umständliche der Charakter!“ Wir haben jetzt alle miteinander die Gleichwertigkeitsfeststellungen vorzuschalten. Und eine Möglichkeit, dies unter Beweis zu stellen. Wir sollten Zahnärztin, die zum Beispiel in der Ukraine ausgebildet nicht verzagen, sondern „Yalla“ rufen, denn das bedeutet wurde, sollte doch auch bei uns praktizieren dürfen. Ich „Lasst uns aufbrechen!“ jedenfalls hätte keine Bedenken, mich bei ihr auf den Be- handlungsstuhl zu setzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Schukran! Übrigens, bei den neu ankommenden Flüchtlingen habe ich selten einen Aktenordner mit Zeugnissen un- Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Um es gleich term Arm gesehen und nicht alle werden Handyfotos am Anfang zu sagen: Das Gesetz zur Anerkennung er- gemacht haben. Da gab es auf der Flucht wirklich ande- worbener Berufsqualifikationen, das wir heute hier bera- re Sorgen. Wenn wir ihnen eine Zukunft in Deutschland ten, ist lediglich eine Umsetzung einer lange bekannten geben wollen, brauchen wir auch klarere Regelungen zur EU-Richtlinie, der wir bis zum Beginn des neuen Jahres Feststellung von Qualifikationen ohne Vorlage von Zeug- nachkommen müssen. Insofern erscheint der Regelungs- nissen – da sind Anfänge gemacht – und wir brauchen die spielraum gering. Darum werden wir uns bei der Ab- Möglichkeit des Nachholens von Schulabschlüssen auch stimmung zu diesem Gesetz enthalten. Wir enthalten uns nach Ende der Schulpflicht – das ist Ländersache! auch in der Abstimmung zum Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen, weil darin uns wichtige Dinge Und dann die Kosten. In der Anhörung wurde gefor- fehlen. dert, einen einheitlichen Gebührenkorridor festzulegen. Das halten wir für sinnvoll und auch über die Höhe der Ich will es noch einmal betonen: Die Anerkennung Kosten muss noch einmal geredet werden. Wenn es im Ausland erworbener Abschlüsse ist für uns vor allem schon stimmt, dass wir über Zuwanderung und Berufs­ darum wichtig, weil es um die Wertschätzung von Men- anerkennung wenigstens einen Teil des Fachkräftepro- schen und ihrer Fähigkeiten geht, die wir anerkannt wis- (B) blems in wichtigen Berufszweigen lösen, dann können (D) sen wollen, und nicht zuerst um die Möglichkeit, Fach- wir die Finanzierung doch nicht auf die Einzelpersonen kräfteengpässe in Deutschland auszugleichen. übertragen, die das vielleicht nicht leisten können, ohne Darum halten wir es auch für erforderlich, auch bei sich erheblich zu verschulden. Hier muss eine gerechte nicht reglementierten Berufen, mit denen man im Prinzip Lösung für alle her. auch ohne Anerkennung in Deutschland arbeiten darf, die Verfahren zur Anerkennung erheblich zu erleichtern, Doch das bleibt künftigen Gesetzesänderungen vorbe- damit nicht Arbeitskräfte erster und zweiter Klasse ent- halten und die müssen auch mit den Ländern abgestimmt stehen und alle Anspruch auf tarifliche Bezahlung haben. werden. Was in einem Land anerkannt ist, muss auch in Auch Lohndumping muss verhindert werden! allen anderen Ländern anerkannt sein. Sonst haben wir weiter einen Flickenteppich in den Regelungen und der Für die Anerkennung der Berufe, die ohne diese nicht Anerkennungstourismus wird fortgesetzt. ausgeübt werden könnten, erwarten wir, dass kein Un- terschied gemacht wird zwischen den Abschlüssen, die (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir im europäischen Raum erworben wurden, und jenen Özcan Mutlu alle wissen: Die Zuwanderung von qualifizierten Fach- aus sogenannten Drittstaaten. Darum sollten auch die- kräften spielt eine immer wichtigere Rolle bei der De- se Unterlagen künftig elektronisch übermittelt werden ckung des Fachkräftebedarfs unserer Landes. Ich glaube, können. Wir halten es auch für wenig sinnvoll, die nun da sind wir uns auch fraktionsübergreifend alle einig – einzurichtenden einheitlichen Ansprechpartner nur mit auch wenn es bei manchen etwas länger gedauert hat... der Weitergabe der Anträge zu betrauen und ihnen nicht gleichzeitig eine Beratungsfunktion zu übertragen. Büro- Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kratie gibt es doch im Verfahren schon genug. (IAB) hat in seiner aktuellen Studie errechnet, dass bis Wir begrüßen, dass für die Gesundheits- und Heilberu- 2050 jährlich durchschnittlich bis zu 491 000 Menschen fe nun die Gutachterstelle beim Bund mit 16 zusätzlichen aus Drittstaaten einwandern müssen, um das Erwerbsper- Stellen versehen werden soll. Doch alle Sachverständi- sonenpotenzial konstant zu halten. Und was macht die gen haben uns gemahnt, dass 16 Stellen nicht ausrei- Große Koalition? Minimalpolitik! chen, die vielen erforderlichen Gutachten zu erstellen. Auch in Ihrer Novelle des Anerkennungsgesetzes Auch darum schlagen wir vor, für alle Abschlüsse, deren machen Sie nur das, was EU-Richtlinien zwingend vor- Gleichwertigkeit von irgendeiner zuständigen Stelle in schreiben. Bund oder Ländern festgestellt wurde, eine zentrale Da- tenbank zu errichten, auf die zugegriffen werden kann. Das reicht nicht! 13388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Gerade angesichts der großen Zahl der Geflüchteten chen bei weitem nicht aus. Daher können wir uns bei (C) mit beruflicher Qualifikation und Erfahrung ist das ein Ihrem Gesetz leider nicht mal enthalten und müssen ab- echter arbeitsmarkt- und integrationspolitischer Fehler. lehnen. Seit der Einführung des Gesetzes hat die Bundesre- Dabei ist es eigentlich ganz einfach, vorhandene Hür- gierung keine nennenswerten Initiativen ergriffen, um den abzubauen. Ihnen fehlt einfach der Wille oder der die Lage für die Betroffenen ernsthaft zu verbessern. So Mut. Das zeigt sich beispielsweise beim Aufenthaltsge- sind zum Beispiel im Haushalt für 2016 keine zusätzli- setz: Dieses sieht eine Verordnungsermächtigung vor, chen Mittel eingestellt. Wir hatten im Bildungsausschuss den für Hochschulabsolventen vorgesehenen Aufent- eine sehr ausführliche Anhörung. Alle Sachverständigen haltstitel „Blaue Karte EU“ auch Ausländerinnen und haben klar und deutlich die Probleme und den Hand- Ausländern zu erteilen, die keinen Hochschulabschluss lungsbedarf beim Anerkennungsgesetz benannt. Wir se- besitzen, aber eine mindestens fünfjährige vergleichbare hen unsere Kritik darin bestätigt. Berufsqualifikation besitzen. Die Bundesagentur für Arbeit, das Forschungsinstitut Mit dieser simplen Verordnung können wir erreichen, berufliche Bildung, zentrale Anerkennungsanlaufstellen, dass qualifizierte Nichtakademikerinnen und Nichtaka- Gewerkschaften, usw. die Expertinnen und Experten aus demiker aus Drittstaaten mit Berufserfahrung bei uns der Praxis sagen uns, was zu tun ist und Sie ignorieren es. arbeiten können. Wozu veranstalten wir denn solche Anhörungen, wenn Sie sich nichts daraus machen? Das zuständige Ministerium – Frau Nahles ist nicht hier – prüft und prüft, aber die notwendige Verordnung Wir Grüne jedenfalls nehmen im Unterschied zu kommt nicht! Warum nicht? Ihnen die Hinweise und den Auftrag der Expertinnen und Experten und direkt Betroffenen ernst. Unser Ent- Das Anerkennungsgesetz ist richtig und wichtig! Aber schließungsantrag zeigt auf, was jetzt dringend nötig ist. damit es noch besser wird und damit noch mehr Men- Wir wollen: Bürokratische Hürden abbauen, Unterstüt- schen und damit unsere Gesellschaft noch mehr davon zungsangebote ausbauen und Mittel für entsprechende profitieren können, müssen wir jenseits der Anpassung Förderprogramme bereitstellen, Beratungsstrukturen des Gesetzes an EU-Richtlinien mehr tun. Das hat die und Rahmenbedingungen verbessern und vereinfachen, Anhörung gezeigt, dass zeigt auch der Bericht der Bun- damit mehr Menschen vom BQFG profitieren können, desregierung zum Anerkennungsgesetz. Standardisierte Kostenstrukturen. Verfahrens- und Kos- Daher bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Entschlie- tenstrukturen. ßungsantrag zu. Lustigerweise haben Sie im Ausschuss als Koalitions- (B) fraktionen auch einen Entschließungsantrag gestellt und (D) fordern die von Ihnen getragene Regierung auf, einige Anlage 5 Sachverhalte zu prüfen, und stellen darin wieder mal fest, wofür Sie nicht zuständig sind, bzw. verweisen wieder Zu Protokoll gegebene Reden auf die Verantwortung der Bundesländer. zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Der Hammer ist aber, dass sie als GroKo die Bundes- ­Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, regierung auffordern, zu prüfen, inwiefern begleitende weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- finanzielle Unterstützungsangebote für Nachqualifizie- KE: Anerkennung von Kriegsdienstverweigerun- rungsmaßnahmen notwendig sind. Geht‘s noch? Unter- gen erleichtern (Tagesordnungspunkt 20) stützungsangebote und Nachqualifizierungsmaßnahmen sind dringend vonnöten. Das war eine der wesentlichen Jörg Hellmuth (CDU/CSU): Im Grundgesetz Arti- Forderungen der Sachverständigen. Da gibt es nichts zu kel 4 Absatz 3 steht ganz klar: „Niemand darf gegen sein prüfen. Warum setzen Sie das als Regierungsfraktionen Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen nicht einfach um und unterfüttern es finanziell?! werden. Näheres regelt ein Bundesgesetz.“ Wir fordern ein Darlehensprogramm für Nachquali- Im Jahre 2003 wurde das Gesetz über die Verweige- fizierungmaßnahmen und ein Stipendienprogramm für rung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissens- Anerkennungssuchende. gründen vom Bundestagtag beschlossen. Bei der Einbrin- Wir fordern im laufenden Haushaltsverfahren eine gung der Drucksache in die parlamentarische Beratung entsprechende Öffnung des „Meister-BAföGs“ und die begrüßte der damalige Kollege von Ausstattung mit zusätzlichen 200 Millionen Euro. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in seinem Redebei- trag die Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsge- Sie hingegen kleckern nur mit Kleinstbeträgen: setzes und bezog dabei auch alle Verbände mit ein, die 14 Millionen für das Meister-BAföG, ohne weitere Öff- sich seit Jahren für die Kriegsverweigerer einsetzen. Das nung. Das ist halbherzig und kleinmütig. mündliche Verfahren zur Prüfung der Kriegsdienstver- Wir brauchen standardisierte Verfahren und einheitli- weigerungs-Gewissensentscheidung wurde abgeschafft, che Kostenstrukturen. Das sind wichtige und überfällige und die Ausschüsse und Kammern für Kriegsdienstver- Schritte für mehr Integrationschancen. weigerung entfielen. Ihre „Novelle“ und Ihr dürftiger Entschließungsan- Heute müssen die Anträge bei den zuständigen Kar- trag – den sie nur im Ausschuss vorgestellt haben – rei- rierecentern schriftlich oder zur Niederschrift gestellt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13389

(A) werden. Von dort aus werden sie, spätestens 4 Wochen Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder andere. (C) nach Eingang, an das Bundesamt für Familie und zivil- Er ist in der modernen Welt einzigartig und vielseitig: gesellschaftliche Aufgaben weitergeleitet und dort ent- Ob Instandsetzungsfeldwebel, Piloten von Kampfjets, schieden. Sonarmaat, Scharfschützen, Flugzeugmechaniker oder Sanitäter: Alle Angehörigen der Bundeswehr haben den Im § 2 Absatz 2 des Kriegsdienstverweigerungsge- Auftrag, uns und unser Land zu verteidigen. So sieht es setzes sind die Voraussetzungen für die Antragstellung das Grundgesetz vor. Diese für die äußere Sicherheit un- eindeutig definiert, die für die Anerkennung auf Kriegs- seres Staates wesentliche Aufgabe legen wir Tag für Tag dienstverweigerung nach Artikel 4 Absatz 3 des Grund- in die Hände unserer Soldatinnen und Soldaten. gesetzes nötig und aus meiner Sicht unverzichtbar sind und bleiben müssen. Das sind der vollständige tabellari- Das feierliche Gelöbnis ist Ausdruck dieser Besonder- sche Lebenslauf des Antragstellers und eine persönliche heit des Soldatenberufs. Niemand wird einen derartigen ausführliche Darlegung der Beweggründe für die Gewis- Eid leichtfertig sprechen. Auch wird niemand gezwun- sensentscheidung. Dem Antrag können Stellungnahmen gen, diesen Eid zu leisten oder sich für den Dienst bei und Beurteilungen Dritter zur Person und zum Verhal- der Bundeswehr zu verpflichten. Unsere Soldatinnen ten der Antragstellerin und des Antragsstellers beigefügt und Soldaten treffen eine bewusste Entscheidung für den oder beim Bundesamt eingereicht werden. Eine Aner- Dienst an der Waffe. kennung durch das Bundesamt ist unanfechtbar. Bei Ab- Natürlich können sich auch bewusst getroffene Ent- lehnung des Antrages durch das Bundesamt für Familie scheidungen ändern. Entsprechend ist das Recht auf und zivilgesellschaftliche Aufgaben kann der Antragstel- Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen im ler innerhalb eines Monats in Widerspruch gehen. Wird Grundgesetz verankert. Antragsteller müssen, so sehen auch der Widerspruch abgelehnt, hat der Antragssteller es die aktuellen gesetzlichen Regelungen vor, ihre Be- die Möglichkeit einer Klage vor dem zuständigen Ver- weggründe für die Gewissensentscheidung glaubhaft waltungsgericht. darlegen. Wie kam es zur Abkehr von der bewussten Entscheidung für den Dienst an der Waffe? Gab es ein In diese Darlegungen gehören auch die Begründungen Schlüsselerlebnis oder liegt der Entscheidung ein länge- der Soldatinnen und Soldaten, die Sie in den Punkten 4 rer intensiver Wandlungsprozess zugrunde? und 5 Ihres Antrages so anschaulich schildern. Denn jede Entscheidung über die Anerkennung auf Kriegsdienst- Diese Begründungspflicht im Kriegsdienstverweige- verweigerung ist eine Einzelfallentscheidung, hinter der rungsgesetz ist notwendig und angemessen. Eine einfa- ein Einzelschicksal steht. che schriftliche Willenserklärung ohne Begründung ist nicht ausreichend – vor allem mit Blick auf die besonde- (B) Wie Sie sehen, handelt es sich bei der derzeitigen re Verpflichtung, die Soldatinnen und Soldaten eingehen, (D) gesetzlichen Regelung zur Anerkennung von Kriegs- und die besondere Verantwortung, die sie für die Sicher- dienstverweigerung um ein rechtsstaatliches Verfahren, heit unsers Landes tragen. das einer angemessenen Überprüfung der Gewissensent- scheidung gerecht wird. Ihr Antrag, statt dieser Begrün- Natürlich – und dies wird bereits bei der Karrierebe- dungspflicht künftig nur die einfache Willenserklärung in ratung der Bundeswehr thematisiert – müssen sich junge Schriftform oder zur Niederschrift zu setzen, entspricht Menschen, die sich für Aufgaben bei den deutschen nicht dem Grundsatz einer Prüfung eines Grundrechtes, Streitkräften interessieren, mit den Besonderheiten des worum es sich bei einem Antrag auf Kriegsdienstverwei- Soldatenberufs und seinen speziellen Anforderungen in- gerung nach Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz handelt. tensiv befassen. Hierauf legt die Bundeswehr viel Wert. Natürlich wollen wir das Grundrecht auf Kriegs- Im Übrigen ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee dienstverweigerung keinesfalls antasten. Allerdings darf und steht fest zu den demokratischen Grundwerten unse- auch das Recht des Dienstherren nicht eingeschränkt rer Gesellschaft. Auslandseinsätze der Bundeswehr wer- werden, von Kriegsdienstverweigerern eine persönliche den im Bundestag erörtert und entschieden. Von kriegs- und ausführliche Darstellung ihrer Beweggründe zu er- willigen Soldaten zu sprechen, wie in Ihrem Antrag, halten. Wenn jemand bei der Bundeswehr beispielsweise widerspricht nicht nur dem Auftrag der Bundeswehr, ein Medizinstudium mit Facharztausbildung genossen sondern auch der Einstellung ihrer Soldatinnen und Sol- hat – eine Ausbildung, in die die Bundeswehr zigtausen- daten. de Euro investiert – und plötzlich Gewissensbisse wegen Aus den genannten Gründen kann meine Fraktion Ih- des Dienstes an der Waffe bekommt, dann ist eine aus- ren Antrag nur ablehnen. führliche Darstellung seiner Beweggründe das Mindeste, was wir verlangen können und verlangen sollten! Deshalb lehnen wir diesen Antrag der Linken ab. Julia Obermeier (CDU/CSU): Beim öffentlichen Gelöbnis leisten die deutschen Soldatinnen und Soldaten einen feierlichen Schwur: Sie schwören, der Bundesre- Dr. Fritz Felgentreu (SPD): In den 70er-Jahren publik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die mussten sich Kriegsdienstverweigerer noch einem hoch- Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. – notpeinlichen Tribunal stellen, um ihr Verfassungsrecht Mit diesen Worten bekennen sie sich zum Dienst bei der auf die Verweigerung des Dienstes an der Waffe geltend Bundeswehr. Sie gehen damit – aus freien Stücken – eine zu machen. Dieser Kampf ist längst ausgekämpft. Spätes- Verpflichtung von großer Tragweite ein. tens seitdem der Gesetzgeber 1983 den schriftlichen An- 13390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) trag zur Entscheidungsgrundlage des zuständigen Bun- gilt. Davon gehen wir aus. Im Übrigen ist die im Antrag (C) desamtes gemacht hat, ist aus dem politischen Kampf um der Linksfraktion enthaltene Aufforderung an die Bun- die Rechte wehrpflichtiger KDVler „die Luft raus“. Im desregierung, dem Bundestag einen Gesetzentwurf vor- Ergebnis leisteten in den letzten Jahren der Wehrpflicht zulegen, nicht nur inhaltlich unbegründet, sondern auch bis zu ihrer Aussetzung mehr junge Männer Zivildienst parlamentarisch ein Armutszeugnis. Das Kriegsdienst- als Wehrdienst, ohne dass deswegen noch jemand ernst- verweigerungsgesetz ist wahrlich kein kompliziertes Re- haft ihre Gewissensgründe oder ihren Patriotismus infra- gelungswerk. Wenn Sie, verehrte Kolleginnen und Kol- ge gestellt hätte. legen von der Linken, daran etwas ändern wollen, dann bringen Sie doch einfach selbst einen Gesetzentwurf ein. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht machen heute ei- Ablehnen würden wir allerdings aller Voraussicht nach gentlich nur noch Soldatinnen und Soldaten von ihrem auch einen solchen. Recht Gebrauch, den Dienst an der Waffe zu verwei- gern, die sich zuvor freiwillig zu genau diesem Dienst verpflichtet haben. Der Antrag der Linksfraktion, den wir Katrin Kunert (DIE LINKE): Am 8. Mai 1945 en- heute beraten, führt einige Gründe auf, die einen solchen dete der Zweite Weltkrieg. Unter unermesslichen Op- Sinneswandel herbeiführen können. Bei der Bewertung fern bezwang die Anti-Hitler-Koalition den deutschen der Vorschläge der Linksfraktion möchte ich die rechtli- Faschismus. Die deutsche Wehrmacht hat in dem von che, die politische und die handwerkliche Ebene getrennt Deutschland angezettelten Raub- und Vernichtungs- betrachten. krieg an schwersten Verbrechen gegen die Zivilbevölke- rung mitgewirkt. Dennoch haben zahlreiche ehemalige Rechtlich ist der Antrag unnötig. In seinem ersten Wehrmachtsangehörige später ihre Beteiligung an den Teil referiert er korrekt das gegenwärtige Verfahren, das Massenverbrechen oft mit dem Befehlsgehorsam ent- jedem Soldaten und jeder Soldatin, die auf dem Wege schuldigt. Mit dieser Traditionslinie des deutschen Mili- der Kriegsdienstverweigerung ihren Dienst in der Bun- tarismus sollte gebrochen werden – das war der Gedanke deswehr beenden wollen, eine angemessene Würdigung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, wonach jeder ihres Anliegens und einen Bescheid garantiert, gegen und jede das Recht auf Kriegsdienstverweigerung haben den die jeweils betroffenen Personen jederzeit klagen soll. Auch Soldatinnen und Soldaten sind für ihr Handeln können, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Es ist selbst verantwortlich und sollen ihr Handeln an ethische nicht nachvollziehbar, warum dieses Verfahren, das die Prinzipien binden. individuelle Betrachtung eines individuellen Entfrem- dungs- und Entscheidungsprozesses ermöglicht, über den Ich weiß schon, Sie werden wieder sagen, das sei doch bestehenden Rahmen hinaus standardisiert werden sollte. alles prima und unser Antrag somit überflüssig. Dem ist aber nicht so! Leider wurde bei dieser zivilisatorischen (B) Es geht hier um die einzelne Person und ihre persönli- (D) chen Erfahrungen. Wir sollten gar nicht erst versuchen, Errungenschaft auf halber Strecke haltgemacht. Die kon- alle Anträge über ein und denselben Kamm zu scheren. kreten Bestimmungen sind in einem eigenen Gesetz ge- regelt, dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz. Es stellt Politisch ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung hohe, und die Linke meint, zu hohe Hürden für die Aner- auch für aktive Soldaten, die sich freiwillig zu ihrem kennung einer Kriegsdienstverweigerung. Dienst verpflichtet haben, für die SPD-Fraktion ein ho- hes Gut. Es können immer Umstände eintreten, durch die Die Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst sich ein Mensch von dem eigenen Selbstverständnis ent- an der Waffe wird nur auf schriftlichen Antrag gewährt, fremdet, sodass er für sich neue Wege suchen und gehen den die Betroffenen ausführlich begründen müssen. Zu- muss. Sein Recht auf Irrtum – in diesem Falle: über sich sätzlich müssen sie ein konkretes Rechtsschutzbedürfnis selbst – wollen und werden wir dem Staatsbürger in Uni- nachweisen, dass sie in eine schwere Gewissensnot ge- form so wenig vorenthalten wie allen anderen. raten würden, wenn sie zur Teilnahme am Kriegsdienst gezwungen wären. Das gelingt nur wenigen im ersten Andererseits sehen wir natürlich auch, dass ein Sin- Anlauf, sodass trotz bestehender Gewissensnot viele An- neswandel weg vom Freiwilligen hin zum Kriegsdienst- träge abgelehnt werden. Es ist auch kein Argument, zu verweigerer der Begründung bedarf. Es liegt auch im sagen, jetzt, wo die Wehrpflicht ausgesetzt ist, bestehe Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die das Problem praktisch nicht mehr. Das Gegenteil ist der seine Ausbildung als Soldat bezahlt haben, opportunis- Fall! tische Gründe für die Verweigerung, wo das möglich ist, auszuschließen. Eine Vereinfachung des Verfahrens, die Die Zahlen sind eindeutig: Immer mehr Soldatin- darauf hinausläuft, dass ein Soldat fast schon auf Zuruf nen und Soldaten wollen den Kriegsdienst verweigern. die Bundeswehr verlassen kann, lehnen wir deshalb ab. Innerhalb eines Dreivierteljahres, vom 1. Juli 2014 bis Auch diese Soldatinnen und Soldaten sind gegenüber 30. April 2015, haben nach Angaben des Bundesvertei- der Bundesrepublik Deutschland und ihren Bürgern eine digungsministeriums 132 Berufs- und Zeitsoldaten einen Verpflichtung eingegangen. Die Entscheidung darüber, entsprechenden Antrag gestellt. Es sind alle Dienstränge sie aus dieser Verpflichtung zu entlassen, bedarf sorgfäl- betroffen, auch Offiziere. Hinzu kommen noch einige tiger Prüfung und Begründung, und dem trägt das beste- freiwillige Wehrdienstleistende. Männer wollen in der hende Verfahren Rechnung. Es hat sich bewährt. Bundeswehr den Kriegsdienst häufiger verweigern als Frauen. Handwerklich schließlich wird die Koalition sicher- lich keinen Antrag beschließen, in dem der Bundestag Dafür gibt es triftige Gründe: Der veränderte Auftrag aufgefordert wird, festzustellen, dass das Grundgesetz der Bundeswehr, mehr Auslandseinsätze in Konfliktge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13391

(A) bieten durchzuführen, betrifft vor allem Männer und hat die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg aktuell bleibt: Von (C) zur Folge, dass mehr Soldaten an realen Kampf- und deutschem Boden soll nie wieder ein Krieg ausgehen! Gefechtssituationen teilnehmen. Sie erleben erstmals am Darüber sollten wir in den Fachausschüssen beraten. Ich eigenen Leib, was es heißt, töten zu müssen oder getötet freue mich auf die Diskussion. werden zu können. Das ist nicht kleinzureden. Die Fälle von Soldaten, die schwer traumatisiert aus Auslandsein- Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Nie- sätzen der Bundeswehr zurückkehren, sind in den letz- mand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit ten Jahren deutlich gestiegen. Damit sind persönliche der Waffe gezwungen werden.“ So steht es in Artikel 4 Schlüsselerlebnisse verbunden, weshalb sie den weiteren Absatz 3 des Grundgesetzes. Dieses Grundrecht zählt zu Kriegsdienst ablehnen. den wichtigsten Errungenschaften unserer Verfassung. Die Bürokratie wirft ihnen hierbei Knüppel zwischen Und wir müssen Sorge dafür tragen, dass dieses Grund- die Beine. Ein exklusiver Zirkel von gerade mal vier recht von den Bürgerinnen und Bürgern auch tatsächlich Personen ist im Bundesamt für Familie und zivilgesell- genutzt werden kann – ohne dass allzu hohe Hürden sie schaftliche Aufgaben für die Anerkennungsverfahren dabei behindern. In diesem Sinne verstehe ich auch den zuständig. Es besteht ein enormer Bearbeitungsstau, und Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der Linken. die Verfahren dauern zu lange. Die Betroffenen werden Und trotzdem werden wir diesen Antrag nicht unterstüt- zusätzlich zermürbt, obwohl sie im Erfolgsfall ohnehin zen. Denn wir sind zwar durchaus offen dafür, das Ver- die komplette Veränderung ihrer Lebensumstände be- fahren zur Anerkennung einer Kriegsdienstverweigerung wältigen müssen. Sie haben sich vor diesem Hintergrund im Sinne der betroffenen Soldatinnen und Soldaten zu ihre Gewissensentscheidung sicher nicht leicht gemacht. vereinfachen. Hierzu einfach die Begründungspflicht ab- Das verdient Respekt. Deshalb darf mit den Soldatinnen zuschaffen, ist jedoch der falsche Weg. und Soldaten so nicht umgegangen werden! Die Pflicht, den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung Die Entscheidungsfindung, ob einem Antrag stattge- zu begründen, diente früher vor allem zur Gängelung der geben wird oder nicht, ist zudem völlig intransparent. Da Verweigerer. Heute, nach Aussetzung der Wehrpflicht, es sich um eine Gewissensentscheidung handelt, gibt es entfaltet sie einen andere, wie ich finde: heilsame, Wir- kein wissenschaftlich abgesichertes Überprüfungsver- kung. Die Begründungspflicht unterstreicht nämlich, fahren dafür, ob jemand die Wahrheit sagt. Folglich darf dass die Entscheidung, Soldat oder Soldatin zu werden, nicht nach Gutsherrenart mit der Logik des Lügendetek- schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht – und tortests vorgegangen werden. Mir sind einige Betroffene dass diese Entscheidung wohlüberlegt sein will. Wer mit persönlich bekannt, deren Anträge abgelehnt wurden, dem Gedanken spielt, sich als Soldat oder Soldatin zu obwohl Militärseelsorger und andere Gutachter zu dem verpflichten, dem wird von Anfang an verdeutlicht: Die (B) (D) Ergebnis kamen, dass sie vollkommen kriegsdienstun- Bundeswehr lässt dich nicht so einfach wieder gehen. fähig seien. Schlimmer noch: Sie könnten bei weiterem Und diese Mahnung führt im Idealfall dazu, dass nur sol- Dienstverbleib sogar zur Gefahr für die eigene Truppe che Männer und Frauen der Bundeswehr beitreten, die werden, weil sie auch im Verteidigungsfall nicht auf an- sich vorher ernsthaft damit auseinandergesetzt haben, dere Menschen schießen würden. Das können Sie doch was das eigentlich bedeutet; Soldat oder Soldatin zu sein. nicht ignorieren! Den Streitkräften beizutreten, ist etwas anderes, als Durch die Neuausrichtung der Bundeswehr mit der einen Arbeitsvertrag mit der örtlichen Sparkasse oder Orientierung auf eine „Armee im Einsatz“ ist die Dau- der Gärtnerei an der Ecke zu unterschreiben. Wer Soldat eraufgabe verbunden, stets ausreichend kriegsdienstwil- oder Soldatin wird, muss eine gehörige Portion Opfer- liges Personal zu rekrutieren. Die Linke befürchtet, dass bereitschaft und Verantwortungsgefühl mitbringen. Beim es dadurch künftig noch schwerer wird, als Kriegsdienst- „Bund“ gilt es nicht nur, anstrengende Geländemärsche verweigerin oder Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu zu absolvieren, stets korrekt zu grüßen und täglich aufs werden. Das im Artikel 4 des Grundgesetzes verbriefte Neue die Spindordnung herzustellen. Soldat oder Solda- Recht würde dadurch weiter ausgehöhlt und zur bloßen tin zu sein, bedeutet vor allem, bereit zu sein, demokra- Makulatur. tisch legitimierte Gewalt anzuwenden, über Leben und Mit unserem Vorschlag sollen Kriegsdienstverwei- Tod anderer Menschen zu entscheiden – und dabei viel- gerungen einfacher anerkannt werden, indem die freie leicht auch das eigene Leben zu verlieren. Willensbekundung ausreicht und die Begründungspflicht Es gibt also viele gute Gründe, sich gegen den Be- entfällt. Wir wollen dem deutschen Militarismus keine ruf der Soldatin oder des Soldaten zu entscheiden. Und Chance zur Wiederauferstehung geben, auch nicht durch wer sich nicht sicher ist, ob die Bundeswehr wirklich der die Hintertür unter dem Deckmantel von sogenannten richtige Arbeitsplatz ist, der wird durch die Pflicht, einen „humanitären Interventionen“. Es nimmt Ihnen sowie- eventuellen, späteren Antrag auf Kriegsdienstverweige- so niemand mehr ab, dass es bei den Auslandseinsät- rung schlüssig zu begründen, noch einmal aufgefordert: zen der Bundeswehr vordringlich um die Durchsetzung Überleg es Dir noch mal! Vielleicht ist es besser, Du von Demokratie und Menschenrechten ginge oder um unterschreibst erst einmal nur eine vorläufige Verpflich- die Rechte von Frauen. Das sind bestenfalls nützliche tungserklärung. Oder Du meldest Dich erst mal nur für Nebenprodukte des militärischen Eingreifens. Deshalb den Freiwilligen Wehrdienst. zollt die Linke allen Soldatinnen und Soldaten, die aus eigener Einsicht den Kriegsdienst aus Gewissengründen Die Begründungspflicht für den KDV-Antrag nährt verweigern wollen, ihren tiefen Respekt. Sie zeigen, dass also eventuelle Zweifel und verhindert so manch vorei- 13392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) lige Entscheidung. Und diese präventive, abschreckende Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Die schnelle Umset- (C) Wirkung der Begründungspflicht liegt nicht nur im Inter- zung der EU-Mobilitätsrichtlinie ist der CDU/CSU-Bun- esse der Bundeswehr, sondern vor allem im Interesse der destagsfraktion ein wichtiges Anliegen, geht es dabei betroffenen Menschen. doch im Kern um die Stärkung des Rechts auf Freizügig- keit nach Artikel 45 des Vertrages über die Arbeitsweise Trotzdem kommt es natürlich vor, dass junge Männer der Europäischen Union und die Zukunft der heute erst in und Frauen sich falsch entscheiden: Da ist der Alltag in den Arbeitsmarkt hineinwachsenden Arbeitnehmergene- der Kaserne dann doch so ganz anders, als man es sich rationen. Denn wir leben in einer Zeit, wo die nationalen vorgestellt hatte. Da kommt man mit den Kolleginnen Arbeitsmärkte der Europäischen Union einerseits noch und Kollegen so gar nicht zurecht. Und vor allem: Die höchst unterschiedlich ausgestaltet sind, sich anderer- Einstellung zu allem, was mit Einsatz, Gewalt, Verwun- seits aber viele junge Europäer beruflich längst europa- dung und Tod zu tun hat, kann sich durch einige Jahre in weit orientieren. Diese geradezu „grenzenlose“ Freizü- der Bundeswehr tatsächlich fundamental verändern. gigkeit muss deshalb auch vor allem aus Sicht junger, Wir wollen, dass niemand gezwungen wird, gegen weit noch von einer Rente entfernter Arbeitnehmer ihren seinen Willen in der Bundeswehr zu bleiben. Und des- Niederschlag im Abbau unnötiger Mobilitätshindernisse halb sind wir durchaus offen, wenn es darum geht, das finden, wie sie etwa die Regelungen zur betrieblichen Al- bisherige Verfahren zur Kriegsdienstverweigerung einer tersvorsorge mit sich bringen. kritischen Prüfung zu unterziehen. Solche potenziellen Hindernisse sind beispielsweise Ist es wirklich ausreichend, dass die KDV-Anträge zu lange Unverfallbarkeitsfristen für den Erwerb von Be- im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche triebsrentenanwartschaften, die fehlende Wahrung von Aufgaben nur von Sachbearbeitern und Juristen geprüft Betriebsrentenanwartschaften bei einem Arbeitgeber- werden? Sollten hier nicht zumindest in Zweifelsfällen wechsel, Abfindungen von Kleinstanwartschaften ohne auch Psychologen mit einbezogen werden? Und wie Zustimmung der Beschäftigten sowie nicht ausreichende könnten wir wirklich zweifelsfrei sicherstellen, dass die Informationen der Beschäftigten über ihre Betriebsren- Bundeswehr keinerlei Einfluss auf die Prüfung durch das tenansprüche. Diese werden wir durch die nötigen Ände- Bundesamt nimmt? Darüber hinaus könnte auch die Bun- rungen im Betriebsrentengesetz und im Einkommensteu- deswehr einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass junge ergesetz beseitigen. Durch die erst zum 1. Januar 2018 Menschen gar nicht erst in die Situation kommen, einen erfolgende Umsetzung geben wir den Arbeitgebern für Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen. die Beschäftigungszeiten ab diesem Zeitpunkt die Pla- nungs- und Rechtssicherheit einer schonenden Umset- Zum einen müssen die Karrierecenter potenzielle Be- zung. werberinnen und Bewerber viel stärker als bisher auch (B) Mit den Änderungen bei der Unverfallbarkeitsfrist (D) über die Schattenseiten und die Risiken des Berufes stärken wir auch die Arbeitnehmer, indem wir diese Frist aufklären. Zum anderen müssen insbesondere Offiziere nämlich von heute fünf Jahren auf drei Jahre verkürzen viel früher mit der Realität des Truppenalltags und der und die Unverfallbarkeit dabei vom 25. auf das 21. Le- Einsätze konfrontiert werden. Die lange Schonfrist in der bensjahr absenken. In dieser Weise helfen wir den vielen Offiziersausbildung und an der Universität führt nach jungen Arbeitnehmern in der Europäischen Union, die Abschluss des Studiums oft zu einem bösen Erwachen grenzüberschreitend den Arbeitsplatz und Arbeitgeber und bringt die Betroffenen dann in den Verruf, lediglich wechseln. die gute und bezahlte Ausbildung „abgegriffen“ zu haben und sich nun aus dem Staub machen zu wollen. Damit diese nicht an Betriebsrentenregelungen beim Arbeitgeberwechsel scheitern, gelten die neuen Rege- Langwierige Verweigerungsverfahren sind für die lungen nicht nur, wie in der Richtlinie vorgesehen, für betroffenen Soldatinnen und Soldaten extrem belas- zu- und abwandernde Beschäftigte, sondern eben für alle tend. Und für die Bundeswehr sind sie nicht gerade ein Beschäftigen – also auch für diejenigen, die innerhalb Imagegewinn. Deshalb: Lassen Sie uns alles tun, um die Deutschlands den Arbeitgeber wechseln. So stärken wir Anzahl der Kriegsdienstverweigerer möglichst klein zu die zweite Säule der Altersvorsorge „europakonform“, halten! Lassen wir die Begründungspflicht, wie sie ist. indem wir sie nun in den grenzüberschreitenden Arbeits- Sorgen wir dafür, dass alle Rekrutinnen und Rekruten markt einbetten. genau wissen, worauf sie sich einlassen! Und überprüfen wir, was wir noch tun können, damit das Verfahren zur Der europäische Arbeitsmarkt und die europäische KDV-Anerkennung wirklich fair und frei von politischer Wirtschaft hatten in den vergangenen Jahren vielen He- Einflussnahme abläuft! rausforderungen standzuhalten. Hier sind wir aber auf einem guten Weg und werden die kommenden Heraus- forderungen ebenso gut bewältigen. Die Arbeitslosigkeit ist sowohl in der Euro-Zone von 11,5 Prozent im Sep- Anlage 6 tember 2014 innerhalb eines Jahres auf 10,8 Prozent ge- Zu Protokoll gegebene Reden sunken, als auch in der gesamten Europäischen Union im gleichen Zeitraum von 10,1 Prozent auf 9,3 Prozent. zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Die Bundesrepublik Deutschland trägt an diesem ge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung samteuropäischen Erfolg mit ihrer guten nationalen Ar- der EU-Mobilitäts-Richtlinie (Tagesordnungs- beitsmarktpolitik bei und ist eines der Zugpferde dieser punkt 21) Entwicklung. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13393

(A) Um Deutschland auch weiterhin als attraktiven Ar- Änderungsantrag.“ Die Neuregelung ist sinnvoll, und (C) beitsmarkt in der Europäischen Union zu positionieren, ich setze darauf, dass viele Neurentnerinnen und Neu- setzen wir diese Richtlinie nicht nur eins zu eins um, son- rentner davon profitieren werden. Entgegen dem ersten dern gehen noch einen Schritt weiter: Wir verhindern mit Eindruck, handelt es sich eben nicht um eine „lex bosch“. diesem Gesetzentwurf gleichzeitig jegliche ungewünsch- te Diskriminierung der in Deutschland bleibenden Be- Neben der EU-Mobilitäts-Richtlinie wollen wir auch schäftigten. Schon allein das sollte Grund genug sein, das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart meine ich, diesen Gesetzesentwurf voll zu unterstützen. haben, nämlich: „Wir werden die betriebliche Altersvor- sorge stärken.“ Deshalb widmen wir uns auch weiterhin Fragen der zweiten Säule der Alterssicherung. Im Koa- Matthäus Strebl (CDU/CSU): In den letzten Wochen litionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir unser Au- haben wir uns im Plenum, im Ausschuss und in der öf- genmerk insbesondere auf zwei Personengruppen richten fentlichen Anhörung mit der betrieblichen Altersvorsor- wollen: ge befasst. Das begrüße ich sehr, denn es ist ungemein wichtig, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – Beschäftigte mit einem geringeren Einkommen und in Deutschland mit allen Säulen ihre Altersvorsorge si- – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kleinen und chern. In vielen Fällen ermöglicht gerade die betriebli- mittelständischen Unternehmen. che Altersvorsorge Rentnerinnen und Rentnern, ihren gewohnten Lebensstandard zu erhalten und Altersarmut Ebenso dürfen wir auch nicht die Arbeitnehmerinnen zu vermeiden. Unsere Aufgabe ist, die besten Rahmenbe- mit flexiblen Arbeitszeiten, die in vielen Fällen nicht in dingungen dafür zu ermöglichen. Vollzeit tätig sind, vergessen. Denn besonders viele Frau- en müssen unter Altersarmut leiden. Unsere Aufgabe ist Ein erster Schritt ist die Umsetzung der EU-Mobili- es, besonders für diese Beschäftigten die betriebliche Al- täts-Richtlinie in deutsches Recht. Der Gesetzesentwurf tersvorsorge attraktiver zu gestalten. Deshalb werden wir der Koalition verbessert insbesondere die Betriebsren- Anreize schaffen und Hemmnisse abbauen. tenanwartschaften für jüngere Beschäftigte. Er geht so- gar in den wichtigsten Bestandteilen über eine Eins-zu- Ich bin davon überzeugt, dass dieser Gesetzentwurf eins-Umsetzung der Richtlinie hinaus. Damit vermeiden der Bundesregierung der erste Schritt zur Stärkung der wir eine Diskriminierung der inländischen Arbeitneh- betrieblichen Altersvorsorge ist und freue mich auf den merinnen und Arbeitnehmer. weiteren Austausch. Bereits in der ersten Lesung bin ich auf die Herab- setzung der Unverfallbarkeitsfristen und die Auskunfts- Ralf Kapschack (SPD): Am vergangenen Wochen- (B) ansprüche ausführlich eingegangen und möchte es nicht ende hatte ich wirklich Grund zur Freude, nicht nur, weil (D) erneut wiederholen. Hervorheben möchte ich, dass sei- mein Verein das traditionelle Revierderby gegen Schalke tens der Sachverständigen in der Anhörung die Umset- 04 gewonnen hat. Nein, ich hatte tatsächlich auch aus- zung in deutsches Recht als sachgerecht bewertet wurde. gesprochene Freude an unserem Koalitionspartner. Der Vorsitzende der christlich-demokratischen Arbeitneh- Die öffentliche Anhörung hat uns auch die Möglich- merschaft, Karl-Josef Laumann, hat ja am Wochenende keit geboten, insbesondere von den Sozialpartnern, der eine obligatorische betriebliche Altersversorgung gefor- Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersvorsorge und dert. Das finde ich prima. Und deshalb habe ich mich der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eine gefreut. Bewertung des Änderungsantrags zu erhalten. Der Än- derungsantrag wird es Unternehmen mit Pensionsfonds Die betriebliche und tarifvertraglich abgesicherte Al- ermöglichen, eine risikoreichere Kapitalanlage zu be- tersversorgung ist aus Sicht der SPD die beste Form der treiben. Ich stimme den Kritikern zu, dass eine risikorei- privaten und zugleich kollektiven Altersversorgung. Wir chere Anlage gerade für Betriebsrenten auch Nachteile wollen sie stärken und durch die Erleichterung der Allge- haben kann. meinverbindlichkeit auch in Regionen und Branchen in Deutschland durchsetzen, in denen sie derzeit aufgrund Die Beschäftigten müssen aber schon auch einen der geringen Tarifbindung noch viel zu wenig genutzt Überblick haben, mit welchem Betrag sie neben ihrer wird. Eine Stärkung und größere Verbreitung der betrieb- Rente rechnen können. Deshalb finde ich es sinnvoll, lichen Altersvorsorge ist für uns eine wünschenswerte dass eine Mindest-Rente garantiert werden muss, und der Ergänzung der gesetzlichen Rentenversicherung. Da Arbeitgeber finanzielle Mittel nachfließen lassen muss, müssen wir einiges tun. wenn diese nicht erreicht wird. Ebenso stärkt es zwei- felsfrei auch die Zustimmung der Beteiligten, wenn bei- Nach letzten Untersuchungen haben etwa sechzig de Tarifvertragsparteien ausdrücklich ihr Einverständnis Prozent der Beschäftigten Anspruch auf eine betriebliche erklärt haben müssen. Eine garantierte Mindestrente und Altersversorgung. In Großbetrieben gibt es nahezu für die Zustimmung der Tarifvertragsparteien sind Voraus- alle ein Angebot. Im Handwerk aber hat nur jeder Zehn- setzungen, die ich für ungemein wichtig halte. te einen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung. Auch für Mittel- und Kleinbetriebe muss betriebliche Al- In der öffentlichen Anhörung am Montag haben uns tersversorgung selbstverständlich werden. So ist das im sowohl die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge- Koalitionsvertrag formuliert. Und das ist gut so! berverbände als auch der Deutsche Gewerkschaftsbund bestätigt, dass sie die Neuregelung begrüßen. Ich zitiere Wenn kleine Betriebe damit überfordert sind, muss es Herrn Abel vom DGB: „Wir stehen voll hinter diesem nach unserer Ansicht Branchenlösungen geben, die vor 13394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) allem kleinen Unternehmen Risiko und Organisations- Es gibt ein paar Reißleinen, die das verhindern sollen: (C) aufwand abnehmen. Gleichzeitig können solche Einrich- Zum einen darf ein Mindestversorgungsniveau nicht un- tungen durch die entsprechende Größe Kostenvorteile terschritten werden, zum anderen bedürfen Veränderun- beim Vertrieb, bei Verwaltungskosten und bei möglichen gen der bisherigen Politik der Pensionsfonds der Zustim- Anlagen realisieren. Das Arbeitsministerium arbeitet an mung der Tarifvertragsparteien. Das heißt, da werden die entsprechenden Vorschlägen. Um Arbeitnehmerinnen Interessen der Beschäftigten sehr konkret berücksichtigt. und Arbeitnehmer stärker zu motivieren, eine betriebli- Zum Dritten wird eine Einstandspflicht des Arbeitgebers che Altersversorgung aufzubauen, braucht es nach unse- festgeschrieben. rer Meinung aber auch an anderer Stelle Veränderungen. All dies sichert für uns eine vertretbare Lösung vor Heute muss jedem Beschäftigten auf Nachfrage ein dem Hintergrund der Niedrigzinsphase, die betriebliche Angebot zur betrieblichen Entgeltumwandlung gemacht Altersversorgung an der einen oder anderen Stelle in werden. Die SPD will, dass in Zukunft jedes Unterneh- Schwierigkeiten bringt. Wir wollen die betriebliche Al- men eine entsprechende Möglichkeit anbietet, wenn die tersversorgung stärken. Dazu dient in gewissem Umfang Arbeitnehmerin, der Arbeitnehmer nicht selbst darauf auch dieser Gesetzentwurf. Aber nötig ist deutlich mehr. verzichtet. Die Erfahrung in Nachbarländern zeigt, dass eine solche Opt-out-Regelung zu einer deutlich besseren (DIE LINKE): Die Umset- Verbreitung führt. Matthias W. Birkwald zung der EU-Mobilitätsrichtlinie wird in der Gesamt- Attraktive Altersversorgung wird in Zukunft sicher- bewertung vielen Beschäftigten mit einer betriebli- lich auch ein Argument sein, um Arbeitskräfte zu binden chen Altersversorgung, die das Unternehmen innerhalb oder neue zu gewinnen. Deshalb ist das für Unternehmen Deutschlands oder innerhalb der EU wechseln, das Le- nicht nur ein Kostenfaktor. Um betriebliche Altersversor- ben leichter machen. Betriebsrenten gelten ab 2018 nach gung für Beschäftigte lukrativer zu machen, sollten die drei und nicht mehr nach fünf Beschäftigungsjahren als Ersparnisse der Arbeitgeber bei der Entgeltumwandlung unverfallbar und damit als mehr oder weniger garantiert. eingebaut werden. Für diese Garantie wird auch das Mindestalter der Be- schäftigten von 25 auf 21 Jahre gesenkt. Die Anrechnung auf die Grundsicherung ist eine Hürde für Geringverdiener, sich mit betrieblicher Al- In der Anhörung der Sachverständigen, die dazu am tersversorgung zu beschäftigen. Auch da müssen wir ran. Montag stattfand, hat Herr Kleinlein vom Bund der Ver- Gerade Geringverdiener brauchen eine zusätzliche Ab- sicherten noch mal positiv hervorgehoben, dass mit der sicherung im Alter. Die bisherige staatliche Förderung betrieblichen Altersversorgung oft ein kostengünstiger muss deshalb auf den Prüfstand. Schutz vor Berufsunfähigkeit verbunden ist, der deshalb (B) In den nächsten Wochen sollen ja die Ergebnisse ei- auch bei sehr kurzen Vertragslaufzeiten erhalten bleiben (D) nes Gutachtens vorliegen, das vom Finanzministerium sollte. in Auftrag gegeben worden ist. Davon erhoffen wir uns Zukünftig dürfen sogenannte Kleinstanwartschaften Erkenntnisse über die Wirkungen der steuerlichen För- auch nicht mehr ohne Zustimmung der Beschäftigten derung auch der betrieblichen Altersversorgung. Ich ver- abgefunden werden. Dies gilt allerdings nicht bei einem mute, wir werden in Zukunft auch bei der betrieblichen Wechsel innerhalb Deutschlands. Außerdem werden die Altersversorgung mit Zulagen arbeiten müssen, um Ge- Informationsrechte der Beschäftigten über ihre Betriebs- ringverdienern den Zugang zu ermöglichen. Von steuerli- rentenansprüche gestärkt, wobei diese nur auf deren aus- cher Förderung haben sie wegen ihres geringen Einkom- drückliches Verlangen hin erteilt werden. Da sind wir mens in der Regel nichts. Wir brauchen eine Stärkung der mit den jährlichen Renteninformationen der gesetzlichen betrieblichen Altersversorgung. Dazu dient auch dieser Rentenversicherung schon viel weiter, und das sollte Gesetzentwurf. auch für Zusatzversicherungen der Standard sein. In der Anhörung am Montag ist ja deutlich geworden, Union und SPD haben ja in ihrem Koalitionsvertrag dass die wesentlichen Punkte des Entwurfs unstrittig vereinbart, die betriebliche Altersversorgung zu stärken. sind: Der Erwartung, dass durch die Umsetzung der EU-Mo- – Die Verringerung der Unverfallbarkeitsfristen kommt bilitätsrichtlinie die betriebliche Altersversorgung insge- vor allem jungen und mobilen Arbeitskräften zugute. samt an Attraktivität gewinnen werden würde, wurde in der Anhörung ein deutlicher Dämpfer verpasst. – Der Arbeitgeberwechsel hat keine negativen Auswir- kungen auf die bereits erworbenen Ansprüche an die Nichtsdestotrotz hätten wir dem Gesetzentwurf zuge- betriebliche Altersversorgung. stimmt, da er eben durchaus auch die Rechte der Ver- sicherten stärkt. Aber leider hat die Große Koalition – Die Regelung über Abfindungen wird präzisiert. wieder in letzter Minute einen Änderungsantrag dazu ge- – Die Informationspflicht der Arbeitgeber oder Versor- packt, der erstens mit der Richtlinie nichts zu tun hat und gungsträger wird ausgeweitet. zweitens in völlig unzureichender Weise auf ein wirklich strukturelles und großes Problem der betrieblichen Al- Ein Wort noch zu dem Vorschlag, die Anlagemöglich- tersversorgung reagiert. keiten für Pensionsfonds zu verbreitern. Klar heißt das unter Umständen mehr Risiko. Aber anders als Kollege Worum geht es dabei? Die Deutsche Bundesbank Birkwald das im Ausschuss gesagt hat, bedeutet dies verweist darauf, dass das Niedrigzinsumfeld es Unter- nicht ein Zocken auf Kosten der Beschäftigten. nehmen oder ihren Pensionskassen, Pensionsfonds und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13395

(A) Unterstützungskassen – ich zitiere – „erschwert, mit dem aufs Spiel. Das ist für uns nicht akzeptabel! Die Betriebs- (C) dafür angelegten Deckungsvermögen die zugesagten rentnerinnen und -rentner wissen in Zukunft also nicht Versorgungsleistungen zu erwirtschaften.“ (Deutsche mal mehr während der Auszahlungsphase, wieviel Geld Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2013, Versiche- sie bekommen. Die ausgezahlte Betriebsrente ist also rer zwischen niedrigen Zinsen und erhöhten Eigenka- auch sehr kurzfristig vom Ertrag des Pensionsfonds, also pitalanforderungen, S. 13). Das Risiko „besteht darin, seinen Spekulationserfolgen auf den Kapitalmärkten, ab- dass die Erträge aus den Kapitalanlagen bei ungünstiger hängig. Garantiert wird nur noch eine Mindestleistung. Marktentwicklung eventuell nicht ausreichen, um die den Kunden zugesagten Garantieleistungen und darüber Union und SPD gestehen immer noch nicht ein, dass hinausgehende Überschusszahlungen zu erbringen. Dies viele Unternehmen in den 1990er-Jahren ihre Mitarbei- ist besonders bei der Neuanlage in einem dauerhaften terinnen und Mitarbeiter und auch sich selbst von zu Niedrigzinsumfeld von Bedeutung.“ (ebd., S. 74), heißt optimistischen Ertragserwartungen haben ködern lassen. es im Finanzstabilitätsbericht 2013 der Bundesbank. Entsprechend hoch wurden die Anfangsrenten angesetzt bzw. entsprechend wenig zahlten die Arbeitgeberinnen Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, in der und Arbeitgeber ein. Da die Rendite dann aber in der Anhörung haben wir erfahren, dass der konkrete Anlass Folge der Finanzkrise geringer ausfiel als angenommen für Ihren Änderungsantrag die Tatsache war, dass der und die Rückstellungen aus dem Ruder laufen, müssten Pensionsfonds der Robert Bosch GmbH genau diese die Betriebsrentenzusagen jetzt laufend gekürzt werden. Schwierigkeiten hat und die Startrente für Neurentne- rinnen und Neurentner gegenüber 2015 um 17 Prozent Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, hätte gesenkt werden müssen. Darauf hat Bosch in einer mit diesem Änderungsantrag wird es Ihnen vielleicht eigenen Stellungnahme zur Anhörung auf Drucksache gelingen, den Pensionsfonds der Robert Bosch GmbH 18(11)474 explizit hingewiesen. Die Aufsichtsbehörde kurzfristig zu stabilisieren, aber nur, indem Sie ihm er- BaFin hat das bestätigt. lauben, die Anlagestrategie noch riskanter zu gestalten, sich noch mehr vom Kapitalmarkt abhängig zu machen. Zur Veranschaulichung einige Zahlen: Der Bosch-Pen- Damit liefern Sie die Beschäftigten dem Kasino des Fi- sionsfonds ist mit einer Bilanzsumme von 2,5 Milliar- nanzmarktes aus. Damit machen Sie deren Altersvorsor- den Euro der viertgrößte, der bei der BaFin gemeldeten ge zum reinen Spekulationsobjekt. Ganz offensichtlich 31 Pensionsfonds. Er verwaltet Kapitalanlagen im Wert haben Sie aus der Finanzkrise nichts gelernt. von 2,4 Milliarden Euro für 127 000 Anwärterinnen und Anwärter und 39 000 Rentnerinnen und Rentner. Die Linke sagt: Ziehen Sie endlich die Schlussfol- gerung daraus, dass kapitalmarktgestützte Altersver- Pensionsfonds wurden 2002 eingeführt und sind damit sorgung nicht nur für die Beschäftigten hochriskant ist, (B) der jüngste der fünf Durchführungswege der betriebli- sondern auch noch die Unternehmen in den Ruin führt. (D) chen Altersversorgung. Mittlerweile summieren sich laut Deshalb noch einmal unser dringender Appell: Stärken dem Finanzstabilitätsbericht der Bundesbank von 2013 Sie die gesetzliche Rentenversicherung und sorgen Sie die Leistungsansprüche der Versicherten aus allen Pensi- dafür, dass das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent an- onsfonds auf 117 Milliarden Euro (S. 84). Pensionsfonds gehoben wird. haben im Gegensatz zu den anderen Durchführungswe- gen der BAV großzügigere – ich würde sagen: riskantere Wir haben deshalb den Änderungsantrag abgelehnt – Kapitalanlagevorschriften. Sie sollen im Vergleich zu und werden uns insgesamt enthalten. Festzinsanlagen die vermeintlich höheren Renditechan- cen der Börse nutzen und im Gegenzug müssen Sparerin- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die nen und Sparer gegebenenfalls Abstriche bei den Renten- Koalition kann der Europäischen Union durchaus dank- leistungen hinnehmen. bar sein. Schließlich ist es die EU-Mobilitätsrichtlinie, Wie aber reagiert der Pensionsfonds von Bosch auf die die Bundesregierung nun letztlich zwingt, zumindest das Niedrigzinsumfeld? Er überzeugt Union und SPD einen kleinen Teil dessen umzusetzen, was der Koaliti- davon, noch riskantere Anlagestrategien zu erlauben und onsvertrag verspricht. die Garantien für Betriebsrenten noch weiter abzusen- Die betriebliche Altersversorgung sei zu stärken, heißt ken, und er spekuliert im doppelten Wortsinn auf höhere es dort. Doch eigenmächtig gelingt wenig. Der Vorschlag Renditen. von Andrea Nahles, das sogenannte Neue Sozialpartner- Der DGB hat das in seiner Stellungnahme sehr gut modell Betriebsrente, droht gerade am Widerstand der zusammengefasst. Durch die Gesetzesänderung – Zitat Sozialpartner zu scheitern. Bereits zwei Entwürfe aus – „könnten Pensionsfonds auch in der Rentenbezugszeit dem Bundesarbeitsministerium mussten angesichts der versuchen, höhere Renditen zu erwirtschaften. Gleichzei- massiven Gewerkschafts- und Arbeitgeber-Kritik ver- tig steht damit bei Eintritt in die Auszahlungsphase noch worfen werden. nicht für deren gesamte Laufzeit fest, welche Höhe die Eine Einigung ist nicht in Sicht. Und selbst wenn sie es monatlichen Zahlungen haben werden, es besteht also wäre: Die bisherigen Vorschläge zur Nahles-Rente schei- die Gefahr, dass die Zahlungen in ihrer Höhe schwanken nen kaum geeignet, tatsächlich wie geplant eine umfas- und ggf. geringer ausfallen als erhofft.“ sende Verbreitung von Betriebsrenten zu erreichen. Denn Bosch und Union und SPD wetten also auf zukünftig dazu bedürfte es, wenn man sich ehrlich macht, weniger steigende Aktienkurse und setzen damit eine auskömm- einer tarifvertraglichen Lösung als einer gesetzlichen liche und verlässliche Alterssicherung der Beschäftigten Regelung. Jeder neue Arbeitsvertrag müsste automatisch 13396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) mit einem Angebot zur betrieblichen Altersversorgung stellt. Auch hier also wackelt das System angesichts der (C) sowie mit einer freiwilligen Opt-out-Option für die Be- ungesunden wirtschaftlichen Entwicklung. schäftigten verbunden sein. Ob die Bundesregierung ein solches Modell durchsetzen könnte, ist vor dem Hinter- Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Ohne grund der bisherigen Entwicklung allerdings zu bezwei- Frage: Das Drei-Säulen-System ist nach wie vor das rich- feln. tige Modell für die Alterssicherung. Wir setzen uns dafür ein, dass die Betriebsrenten künftig auch all denjenigen Immerhin: Die Umsetzung der EU-Vorgaben, zu der Beschäftigten offen stehen, die bisher faktisch ausge- die Bundesregierung bis 2018 verpflichtet ist, wird Ver- schlossen sind. Die Mobilitätsrichtlinie leistet dazu einen besserungen nach sich ziehen. Die im entsprechenden Beitrag, reicht aber bei weitem nicht aus. Die dritte Säule Gesetzentwurf vorgesehenen verkürzten Unverfallbar- ist endlich auf eine solide Grundlage zu stellen, die eine keitsfristen und die Reduzierung des Mindestalters für faire und transparente Altersvorsorge ermöglicht. Eine den Erhalt von Versorgungsanwartschaften dürften die zentrale Erkenntnis aus der Entwicklung in den vergan- Mobilität von Betriebsrenten erhöhen und ihre Attrakti- genen Jahren ist indes, dass sich gerade die gesetzliche vität steigern. Gerade Jüngere und Frauen werden davon Rentenversicherung als ein Fels in der Brandung erwie- profitieren. Ebenso zu begrüßen ist, dass künftig auch sen hat. Ihr Image als zukunftsunfähiger Dinosaurier die Anwartschaften eher unverfallbar sind und diejeni- konnte sie auch deshalb inzwischen ablegen. Wir wollen gen von ausgeschiedenen Beschäftigten auch nach deren gerade die erste Säule weiter stärken und ihr Leistungs- Ausscheiden dynamisiert werden sollen. Die Ungleich- vermögen so stabil wie möglich halten. Ein Absinken behandlung zwischen ehemaligen und aktiven Arbeit- des Rentenniveaus auf unter 40 Prozent, wie in der heute nehmerinnen und Arbeitnehmern hat damit ein Ende. veröffentlichten Prognos-Studie für die Zeit nach 2030 vorhergesagt, ist jedenfalls mit uns nicht zu machen. Allerdings: Die Bundesregierung hätte bei der Trans- formation der Mobilitätsrichtlinie in nationales Recht durchaus weiter gehen können. Wenig couragiert er- scheint auch der geplante – überaus späte – Termin des Anlage 7 lnkrafttretens des Gesetzes. Erst im nahezu letztmögli- chen Moment, nämlich am 1. Januar 2016, werden die Zu Protokoll gegebene Reden Regelungen Realität. zur Beratung: Im Zusammenhang mit der Mobilitätsrichtlinie disku- – des von der Bundesregierung eingebrachten tieren wir heute auch einen Änderungsantrag der Koali- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des tionsfraktionen. Geplant ist, Pensionsfonds in der Aus- Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und weiterer (B) (D) zahlungsphase die Möglichkeit zu eröffnen, nicht mehr Vorschriften nur versicherungsförmige Anlagestrategien zu verfolgen. Durch die Option, auch risikoreicher zu agieren, sollen – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu während der Rentenbezugszeit höhere Erträge erzielt dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus, werden können als bislang. Wie die öffentliche Anhö- Matthias W. Birkwald, Caren Lay, weiterer Ab- rung im Ausschuss Arbeit und Soziales am vergangenen geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kei- Montag zeigte, ist diese Einschätzung durchaus realis- ne Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf tisch. Wir werden uns diesem Vorschlag deshalb nicht Grundsicherung im Alter entgegenstellen. (Tagesordnungspunkt 22 und Zusatztagesord- Wir täten aber gut daran, den Blick zu weiten. Dass nungspunkt 3) nun bei angelegtem Kapital, das im Zeitraum des Ren- tenbezugs eigentlich ein sicheres Auskommen gewähr- Marlene Mortler (CDU/CSU): Wir haben lange leisten sollte, aggressive Anlagestrategien notwendig diskutiert. Wir haben uns mit Wissenschaftlern, Sozial- erscheinen, ist kein Zufall. Dass selbst ein Großunter- richtern, den zuständigen Beamten und, das ist für mich nehmen wie der Bosch-Konzern, der ein erhebliches In- eine Selbstverständlichkeit, mit den Betroffenen beraten: teresse an der Umsetzung des Änderungsantrags hat, die mit älteren Landwirten, dem landwirtschaftlichen Nach- erforderlichen Renditen für kaum erreichbar hält, weist wuchs und den Ehepartnerinnen von Landwirten. auf ein grundsätzliches Problem kapitalgedeckter Syste- me: nämlich ihre Anfälligkeit für die schwankende Ent- Nun ist es soweit: Mit dem vorliegenden Entwurf zur wicklung der Finanzmärkte. Kapitalgedeckte Altersvor- Änderung des Zwölften Gesetzes Sozialgesetzbuch und sorgesysteme sind seit Jahren unter Druck. Ein Ende der weiterer Vorschriften setzen wir eine der komplexesten Niedrigzinsphase ist nicht absehbar. Vor diesem Hinter- agrarpolitischen Verabredungen unseres Koalitionsver- grund ist auch die Forderung – unter anderem von der Ar- trages um: die Reform der Hofabgabeklausel im Rahmen beitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung – zu der Alterssicherung der Landwirte. verstehen, Unternehmen künftig Pensionsrückstellungen zu erleichtern, indem die Berechnungsvorschrift für den Für alle Nichtlandwirte im Saal: Die Landwirtschaft Rechnungszins angepasst wird. verfügt über ein eigenes System der Alterssicherung. Bauern und Bäuerinnen erhalten mit Vollendung des Übrigens: Bei der Riester-Rente ist die Situation der- 67. Lebensjahres eine Teilrente in Hohe von bis zu zeit nicht besser. Bereits mehrere Versicherungsunter- 660 Euro. Voraussetzung ist, dass die Landwirte ihren nehmen haben das Geschäft mit Neu-Verträgen einge- Hof nicht weiterführen, sondern abgeben. Um diese so- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13397

(A) genannte Hofabgabeklausel geht es bei dem Gesetz, über können neben der Rente weiter bewirtschaftet werden. (C) das wir hier abstimmen. 75 Hektar Wald − das ist schon etwas! Warum ist die Hofabgabe so wichtig? Über 90 Prozent Der dritte Reformbaustein liegt mir besonders am aller landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland sind Herzen: die vollständige Verwirklichung der Eigenstän- nach wie vor Familienunternehmen. Auf jedem dieser digkeit der Ehegattenrente. Bisher hat ein versicherter Bauernhöfe, es sind über 250 000, stellt sich, wenn der Ehepartner erst dann Alterssicherung erhalten, wenn der Betriebsleiter das Rentenalter erreicht, die Frage nach Landwirt den Hof abgegeben hatte – selbst dann, wenn der Zukunft: Wie geht es weiter mit dem Hof? Bleibt er man längst geschieden war. bestehen? Oder schließt er die Tore und der Strukturwan- del setzt sich fort? Und auch einem voll erwerbsgeminderten Landwirt, der seinen Betrieb vor Jahren an die Ehefrau abgegeben Die Hofabgabeklausel ist das Instrument, mit dem wir hat, wurde die Rente wieder entzogen, wenn die Ehefrau einen klaren und rechtzeitigen Übergang der Verantwor- den Betrieb über die Regelaltersgrenze hinaus weiter ge- tung von einer Generation auf die nächste unterstützen. führt hat. Die Rente des einen wird von der Rente des Ich sage es aus eigener Erfahrung: Wenn die ältere Ge- anderen unabhängig. Das ist eine echte Errungenschaft neration nicht bereit ist, den Jungen das Zepter oder bes- für die Frauen in der Landwirtschaft, im Jahr 2016 aber ser den Traktorschlüssel in die Hand zu geben, dann ist auch eine absolute Notwendigkeit! der Hof in Gefahr. Nach 30 Jahren braucht ein landwirt- schaftlicher Betrieb neuen Schwung, neue Tatkraft, neue Auch wenn nie alle zufrieden sind: Das ist wirklich Fachkompetenz und auch einen neuen Blick auf das, was ein ausgewogenes Paket, ein Paket im Interesse der ganz notwendig ist, um einen Betrieb erfolgreich in die Zu- großen Mehrheit unserer Bäuerinnen und Bauern. Ich kunft zu führen. mochte Sie alle um Zustimmung zum vorliegenden Ge- Andererseits gilt: Auch wenn niemand zur Hofabgabe setzentwurf bitten. gezwungen wird, darf die Klausel natürlich nicht zu un- billigen Härten führen. Die abgebende Generation muss Jana Schimke (CDU/CSU): Mit der heutigen ab- wirtschaftlich in der Lage sein, trotz Hofabgabe aus- schließenden Beratung zum 12. Sozialgesetzbuch-Ände- kömmlich zu leben. Dafür braucht sie weiter Einnahmen, rungsgesetz schaffen wir Verbesserungen in verschiede- etwa aus Pacht- oder Veräußerungserlösen. nen Bereichen. Denn das System der landwirtschaftlichen Alterssi- 1. Wir verbessern die sozialpolitischen Rahmenbe- cherung gewährt ja gerade keine Voll-, sondern nur eine dingungen in Deutschland! Das betrifft Bezieher von Teilrente. Diese Einnahmen müssen wir möglich ma- Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. (B) chen. Und natürlich kann der Gesetzgeber keine Hofab- (D) Wir führen für Sparer einen jährlichen Freibetrag von gabe verlangen, wenn sich in einer Region gar keine Hof- 26 Euro für Einnahmen aus Kapitalvermögen und somit nachfolger finden. Auch dafür braucht man Lösungen. insbesondere für Zinseinnahmen ein. Sparen wird sich Deshalb haben wir drei Dinge gemacht: Die Abga- künftig also auch für Grundsicherungsempfänger wieder be flexibilisiert, das Nebeneinkommen gestärkt und die mehr lohnen. Wenn jemand einmalige Einnahmen erzielt, Eigenständigkeit der Ehegattenversicherung vollendet: werden diese künftig erst im Folgemonat angerechnet, Statt einer Veräußerung oder Verpachtung des Betriebs und sollten diese einmaligen Einnahmen bedarfsdeckend kann die Hofabgabe in Zukunft auch durch den Über- sein, sind sie in der Regel auf 6 Monate zu verteilen. Hier gang an eine Gesellschaft erfolgen, sofern der Landwirt sorgen wir für existenzielle Erleichterungen und Verein- an der Unternehmensführung nicht beteiligt ist. fachungen für Menschen im Leistungsbezug. Persönlich hätte ich gern auch die Hofabgabe an den 2. Wir unterstützen die Kommunen! Bereits seit Ehepartner in den Fällen der Teilerwerbsminderung er- 2 Jahren finanziert der Bund vollumfänglich die Grund- möglicht. lm Ergebnis haben wir davon abgesehen, weil sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Schon die Option der Gesellschaftsgründung die meisten mög- damit unterstützen wir die Kommunen in hohem Maße. lichen Fälle erfasst und wir keine darüber hinausgehende Mit dem heutigen Gesetzentwurf gehen wir noch einen Missbrauchsgefahr entstehen lassen wollten. Schritt weiter. Die Bundesländer dürfen künftig eine Flexibilisiert haben wir auch den Renteneintritt: Wie vereinfachte Nachweisführung über die Verwendung auch in der gesetzlichen Rentenversicherung wird in der Gelder anwenden. Damit leisten wir einen wichtigen Zukunft derjenige, der über die Regelaltersgrenze hi- Schritt auch zum Bürokratieabbau. naus arbeitet, einen Rentenzuschlag erhalten. Es geht um 3. Wir gestalten Europa! Seit dem 1. Juli dieses Jah- 0,5 Prozent pro Monat − immerhin. res besteht die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügig- Außerdem stärken wir das Nebeneinkommen. Mir ist keit für Kroatien. Diesen Status verankern wir jetzt im völlig klar, dass viele Landwirte darauf angewiesen sind, SGB III, im Aufenthaltsgesetz und im Freizügigkeitsge- einen Teil des Betriebes weiter zu bewirtschaften. Eben setz. Wir profitieren von der Arbeitnehmerfreizügigkeit, deshalb heben wir den rentenunschädlichen Rückbehalt weil wir dadurch auch qualifizierte Fachkräfte für Man- auf 99 Prozent der sozialversicherungsrechtlichen Min- gelberufe gewinnen. Letztes Jahr waren 93 000 Kroaten destgröße an. Mehr geht nicht, ohne dass Sozialversiche- vorwiegend im verarbeitenden, im Baugewerbe und im rungsbeitrage anfallen. Konkret bedeutet dies: 8 Hektar Gesundheits- und Sozialwesen sozialversicherungs- Ackerland, 2 Hektar Obstflächen und 75 Hektar Wald pflichtig beschäftigt. 13398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Für die Zukunft wird weiterhin von jährlich etwa Kurzarbeitergeldes wurde in den letzten 35 Jahren je- (C) 10 000 weiteren kroatischen Arbeitskräften ausgegan- weils per Rechtsverordnung des Arbeits- und Sozialmi- gen. Dadurch kann unser Fachkräftemangel abgemildert nisterium von sechs auf mindestens zwölf Monate ver- werden und wird den insbesondere auch jungen Men- längert. Mit der gesetzlichen Festlegung auf nun zwölf schen in Europa eine Beschäftigungschance geboten. Monate bieten wir vor allem den Unternehmen und ihren Denn mit einer Arbeitslosenquote von 17,3 Prozent und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Planungssicherheit. einer Jugendarbeitslosigkeit von rund 43 Prozent ähnelt die Arbeitsmarktsituation in Kroatien der in Spanien oder Wir schaffen Gerechtigkeit bei ehemaligen Wehr- auch Griechenland. Die uneingeschränkte Arbeitnehmer- dienstleistenden der NVA. freizügigkeit Kroatiens ist gelebtes Europa und kommt Für Leistungsberechtigte, die während ihres Wehr- Unternehmen und Arbeitsuchenden gleichermaßen zu- dienstes in der Nationalen Volksarmee der DDR eine Be- gute. schädigung erlitten haben, wird für die in diesen Fällen gezahlte Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallver- 4. Wir fördern Integration! Geduldete Ausländer dür- sicherung ein Freibetrag in Höhe der Grundrente nach fen künftig ausbildungsbegleitende Hilfen schneller in dem Bundesversorgungsgesetz eingeführt. Die Verletz- Anspruch nehmen. Wir werden die bisherige Voraufent- tenrente wird dann in Höhe dieses Freibetrages nicht als haltsdauer von 4 Jahren auf 15 Monate herabsetzen. Einkommen auf die Grundsicherung im Alter und auf 5. Wir stärken unseren Arbeitsmarkt! Auch das Kurz- die Erwerbsminderung angerechnet. Damit werden im arbeitergeld verhalf uns in den letzten Jahren, übermäßi- Wehrdienst verletzte Soldaten der NVA mit denen der gen Arbeitsplatzabbau durch wirtschaftliche Krisen gut Bundeswehr gleichgestellt. zu überstehen. Ein entscheidendes Instrument war und Und wir entlasten die Kommunen hinsichtlich ihres ist dabei auch die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes: Verwaltungsaufwandes. Wieviel Zeit räumen wir also unseren Betrieben ein, Krisenzeiten zu bewältigen? Die bisher erfolgreich prak- Durch den Wegfall einer differenzierten Nachweis- tizierte Bezugsdauer von 12 Monaten werden wir jetzt pflicht der Länder bei der Übernahme der Kosten für die auch im Gesetz verankern. Das gibt sowohl den Unter- Leistung der Grundsicherung im Alter durch den Bund nehmen, als auch der Bundesagentur für Arbeit mehr Pla- bieten wir den Ländern und Kommunen den nötigen nungssicherheit. Freiraum, Informationen zum Bildungs- und Teilhabepa- ket zu erheben, die uns bei der Beurteilung helfen. Ebenso widmen wir uns der Gruppe der kurz befristet Beschäftigten. Das sind unter anderem Bürofachkräfte, Neben den zahlreichen Verbesserungen regeln wir Lagerarbeiter, Gästebetreuer oder auch Künstler. Sie er- in dem Gesetzentwurf auch technische Details, die aber (B) halten auch weiterhin, bis Ende Dezember 2016, einen auch zu kleinen materiellen und organisatorischen Ver- (D) Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach einer nur 6-mona- besserungen führen können, wie zum Beispiel die Erhö- tigen Versicherungszeit. hung des Freibetrages um 26 Euro für Einnahmen aus dem Schonvermögen auf Leistungen des SGB XII oder Abschließend werden bereits mit dem Gesetzentwurf die Anrechnung von einmaligen Einnahmen im Folge- sowie mit dem Änderungsantrag mehrere Änderungen monat. des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte vorgenommen. Künftig sollen die agrarpolitische Steue- Ein großer Punkt ist die Verbesserung der Arbeits- rungs- und sozialpolitische Sicherungsfunktion besser in und Ausbildungsunterstützung für Flüchtlinge. Durch Einklang gebracht werden. Dazu werden zum Beispiel die Öffnung der ausbildungsbegleitenden Hilfen für Ge- die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert und die Ab- duldete nach einer Voraufenthaltszeit von 15 Monaten gabemöglichkeiten zwischen Ehegatten erleichtert. ergreifen wir Maßnahmen, die Ausbildungsabbrüche verhindern können und damit den Weg zu Arbeit und In- Heute leisten wir einen Beitrag zur sozialen Markt- tegration erleichtern. wirtschaft, indem wir mit dem SGB-12-Änderungsgesetz sowohl den sozialen Ausgleich fördern als auch arbeits- Die vom Bundesrat, vom Deutschen Verein und ande- marktpolitische Belange berücksichtigen. ren Verbänden in ihren Stellungnahmen geäußerte Kritik, dass sich in dem Gesetzentwurf keine Regelung zur Lö- sung der sogenannten „Erstrentenproblematik“ und der (Wetzlar) (SPD): Wir diskutieren Dagmar Schmidt Anpassung der Regelbedarfsstufe 3 wiederfindet, kann heute zu fortgeschrittener Zeit über ein Gesetz mit Än- ich nachvollziehen. Wir beschäftigen uns schon seit ge- derungen im Sozialgesetzbuch XII, das vielfältige Än- raumer Zeit mit dieser Thematik und werden alsbald Lö- derungen mit sich führt und das man mit Fug und Recht sungsvorschläge darlegen. als Sammelsurium bezeichnen kann – angefangen bei rein technischen Änderungen im SGB XII bis hin zur Und last, but not least: Zu den Verbesserungen bei der Alterssicherung bei Landwirten. Die in dem Entwurf ent- Hofabgabe, vor allem bei der Hofabgabe an den Ehegat- haltenen Änderungen kommen verschiedenen Leuten im ten oder die Ehegattin, wird mein Kollege Dr. Wilhelm Kleinen aber auch im Großen zu Gute. Zusätzlich ent- Priesmeier reden. lasten wir die Kommunen durch eine Reduzierung ihrer Nachweispflichten. Wir regeln in diesem vielfältigen Gesetzentwurf viel Kleines und viel Großes. Doch jede Regelung bringt Wir schaffen endlich rechtliche Klarheit bei der Be- Verbesserung mit sich oder sorgt für mehr Rechts- und zugsdauer des Kurzarbeitergeldes. Die Bezugsdauer des Planungssicherheit. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13399

(A) In diesem Sinne lade ich Sie ein, dem Gesetz zuzu- Weitere 15 Prozent der Betriebe profitieren nur teilweise, (C) stimmen. wenn der Landwirt und sein Ehegatte beide in der AdL versichert sind. Die Neuregelung führt bei dieser Kon- stellation dazu, dass nur einer von beiden Partnern die Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die SPD hat sich immer zu dem sozialen Sicherungssystem in der Land- Rente bekommen kann. wirtschaft bekannt und tut das auch heute. Die Hofab- Auch die Erhöhung des rentenunschädlichen Rück- gabe als Voraussetzung für den Bezug einer Rente war behalts von derzeit 2 Hektar auf fast 8 Hektar landwirt- bei der Einführung der Landwirtschaftlichen Alterssiche- schaftlicher Nutzfläche bedeutet eine erhebliche Verbes- rung 1957 sicher richtig. Sie hat den Strukturwandel in serung. Winzer dürfen in Zukunft zwei Hektar, Besitzer der Landwirtschaft seit fast 60 Jahren begleitet und ist von Sonderkulturen 2,2 Hektar und Forstwirte 75 Hektar immer wieder an die aktuellen Erfordernisse angepasst zurückbehalten. Auch das ist eine deutliche Verbesse- worden. rung. Heute müssen wir uns jedoch die Frage stellen, ob das Mit der Flexibilisierung des Renteneintrittes nehmen bloße Größenwachstum der Betriebe noch Ziel unserer wir eine weitere Anpassung an das allgemeine Renten- Agrarpolitik sein sollte. Brauchen wir denn immer grö- system vor. Gezahlte Beiträge gehen nicht mehr verloren, ßere Betriebe? Will die Gesellschaft das heute überhaupt auch wenn der Hof später abgegeben wird. Das Modell noch? der flexiblen Rente entspricht dem aktuellen Übergangs- modell in der allgemeinen Rentenversicherung. Ich halte Der damals gewünschte Strukturwandel hin zu einer es daher für zeitgemäß, diese individuelle Entscheidung wettbewerbsfähigen Landwirtschaft ist längst eingetre- für den Renteneintritt rentenunschädlich auch im land- ten. Wir haben nur noch 180 000 Vollerwerbsbetriebe. wirtschaftlichen Bereich umzusetzen. Die Hofabgabeverpflichtung schafft zunehmend soziale Ungerechtigkeiten. Für Inhaber kleinerer Betriebe, die Weitere Hofabgabemöglichkeiten wie die rentenun- es durchaus noch gibt, ist die soziale Absicherung allein schädliche Einbringung des Unternehmens in eine Ge- durch den Rentenbezug häufig nicht gewährleistet. Sie sellschaft halte ich für sinnvolle Ergänzungen des vor- sind häufig auf zusätzliches Einkommen neben dem Ren- geschlagenen Gesetzentwurfes, um individuelle Modelle tenbezug angewiesen. umzusetzen. Am Ende wird erst eine Evaluierung in ei- nigen Jahren zeigen, ob die Neuregelungen in der Praxis Aus diesem Grund hat die SPD 2012 auch die Ab- den Landwirten den Bezug ihrer Rente erleichtern und schaffung der Hofabgabe gefordert. Im Koalitionsvertrag zu einem angemessenen Auskommen im Alter beitragen. haben wir durchgesetzt, dass die Hofabgabeverpflichtung An dieser Stelle möchte ich noch einmal besonders (B) neu gestaltet wird. Eine Abschaffung ist uns leider nicht (D) gelungen und am Widerstand der Union gescheitert. die Leistungen der Mitglieder des Arbeitskreises zur Abschaffung der Hofabgabe um Herrn Hugenberg und In der Öffentlichen Anhörung am Montag hat der Herrn Eickmeyer würdigen. Mit viel Sachverstand und Sachverständige Mehl vom Thünen Institut darauf ver- unermüdlichem Engagement haben sie den Dialog und wiesen, dass in Zukunft nur noch ein Drittel der Betriebe die Diskussion zur Hofabgabe seit Jahren ganz wesent- von der Hofabgabe betroffen sein wird. Man müsse sich lich mitbefördert. Zu gegebener Zeit müssen wir die Si- dann in der Tat die Frage stellen, ob es gerechtfertigt sei, tuation neu bewerten. für so einen kleinen Prozentsatz der Betriebe eine Sank- tion aufrechtzuerhalten, die eben zwei Drittel der Berufs- Es bleibt weiterhin unsere Forderung, bei der nächsten kollegen nicht mehr betrifft. sich für uns Sozialdemokraten bietenden Gelegenheit das umzusetzen, was uns in dem gegenwärtigen Kompromiss Die heute hier vorliegende Novellierung der Hofabga- nicht gelungen ist: Die vollständige Abschaffung der beklausel ist eindeutig eine Verbesserung im Unterschied Hofabgabeverpflichtung. zur bisherigen Situation. Für 64 Prozent der Betriebe ist die Hofabgabeverpflichtung damit faktisch abgeschafft (DIE LINKE): Die heu- und für weitere 15 Prozent der Betriebe erheblich ent- Dr. Kirsten Tackmann te vorliegenden Änderungen des SGB XII lösen leider schärft worden. Die verschiedenen Optionen ermöglichen wieder viele Probleme nicht. Aber eine längst überfälli- einem Großteil der Betroffenen, ihre Rentenansprüche zu ge Korrektur gibt es immerhin. Die Verletztenrente von realisieren und gleichzeitig ausreichend zusätzliche Ein- Wehrdienstleistenden der NVA wird nicht länger auf die künfte zu erzielen. 21 Prozent der Landwirte lassen wir Grundsicherung angerechnet. Die Linke hat dafür lange jedoch immer noch ohne wirtschaftliche Lösung für das gekämpft und war nun endlich erfolgreich! Alter zurück. Wir haben einen Kompromiss erarbeitet, nicht mehr und nicht weniger. Dagegen wird die sogenannte Hofabgabeklausel lei- der nur aufgeweicht. Seit den 1950er-Jahren regelt sie, Ja, wir haben die Alterssicherung der Landwirte ein dass eine landwirtschaftliche Rente nur beziehen kann, großes Stück voran gebracht. Wir stärken den eigen- wer vorher den Hof abgibt. Das ist auch kein Problem, ständigen Rentenanspruch des abgebenden Landwirtes solange der Betrieb in der Familie bleibt. gegenüber seinem Ehegatten, insbesondere den der Bäu- erinnen. Die Bäuerinnenrente war bisher abhängig von Aber das ist längst ein Auslaufmodell, zum Beispiel der Entscheidung des Ehemannes den Hof abzugeben. weil die Kinder sich beruflich anders orientiert haben Alleinstehende landwirtschaftliche Unternehmer, das und die Enkel zwar interessiert, aber noch zu jung sind. sind 21 Prozent der Betriebe, profitieren jedoch gar nicht. Dann steht der Hofinhaber vor einem Dilemma: Entwe- 13400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) der er behält den Hof, verliert aber zumindest vorläufig Die Anhörung zur Hofabgabeverpflichtung der Bäue- (C) seine Rentenbeiträge. Oder er verkauft oder verpachtet rinnen und Bauern, um eine kleine Rente zu erhalten, am den Hof, für eine Minirente von 450 Euro! Das ist ein Montag, zeigte einmal mehr, dass Sie von der CDU/CSU drastischer staatlicher Eingriff in die Entscheidung zur in der Vergangenheit, als alles noch so schön einfach Hofnachfolge. war, verharren. Sie halten den Schein einer Verpflichtung aufrecht, die völlig ausgehöhlt und inhaltsleer ist. Nur Und es stellt sich die Frage: Ist das angemessen? Ziel noch 36 Prozent der Alterskassenmitglieder sind von ihr soll die Beförderung des Generationswechsels und damit betroffen. Alle anderen sind nach dem Reförmchen von einer gesunden Agrarstruktur sein. Aber das Problem heute von der Abgabe befreit. ist doch längst, überhaupt eine Hofnachfolge zu finden. Deshalb gehört diese antiquierte Regelung abgeschafft, Vor allem sind aber die Alleinstehenden − immerhin wie das auch der Bundesrat fordert. Aber stattdessen legt 21 Prozent − betroffen. Das zeigt: Sie akzeptieren neben die Koalition heute eine veritable Verschlimmbesserung dem Trauschein nach wie vor keine anderen Partner- vor. schaften. Auch ohne Trauschein wird oft Verantwortung füreinander übernommen, meine Damen und Herren von Ja, es ist gut, dass jetzt Frauen einen eigenständigen der CDU/CSU. Das gilt auch für schwule Bauern oder Rentenanspruch haben und nicht mehr darauf angewie- lesbische Bäuerinnen mit Kind, wie in der Anhörung sen sind, dass der Hof abgegeben wird. Aber wenn nach vom Jungbauern Phillip Brändle von der AG bäuerliche Aussage von Dr. Mehl vom Thünenlnstitut­ am Montag in Landwirtschaft deutlich gemacht wurde. der Anhörung heute der Hofabgabezwang für 64 Prozent der Betriebe faktisch abgeschafft und für weitere 15 Pro- Streichen Sie endlich diese anachronistische inhalts- zent erheblich entschärft wird, warum denn nicht für alle leere Hofabgabeverpflichtung von 1957. Ist ja schon ein abschaffen? bisschen her, aber Sie denken ja in vatikanischen Zeitrau- men. Sie denken in Zeiten, als Opa mit 85 Jahren auf dem Dr. Mehl warnte am Montag doch völlig zu Recht, Sterbebett an seinen 62-jährigen Sohn den Hof übergab. dass es schwer würde, die Hofabgabe für 21 Prozent der Betriebe noch mit agrarstrukturellen Zielen zu rechtferti- Der Jungbauer Brändle machte auch deutlich, dass für gen. Wieso soll ein alleinstehender oder unverheirateter die jetzigen Hofübernehmer die Hofabgabepflicht der Landwirt weiter den Betrieb an Dritte abgeben müssen, Alten keine Bedeutung mehr hat. Er sich vor Hofüber- während Verheiratete ihre Rente beziehen, wenn der nahmeangeboten nicht retten kann. Also Ihr Argument, Gatte oder die Gattin den Hof übernimmt? Diese Diskri- die jungen Bäuerinnen und Bauern brauchen das für ihre minierung von Unverheirateten und Alleinstehenden ist Zukunft, ist gar keines. inakzeptabel! Auch dem Bund der deutschen Landjugend können (B) (D) Für Waldbesitzer wurde auch eine absurde Regelung wir nur zurufen: Kommen Sie bitte endlich in der Ge- gefunden. Sie sollen für eine Minirente ihren Wald ent- genwart an. Seien Sie doch ehrlich: Sie vom Deutschen weder verkaufen, 9 Jahre verpachten oder stilllegen. Bauernverband und CDU/CSU wollen doch gar nicht Aber in unserem Land wird Wald traditionell gar nicht den jahrzehntelang Einzahlenden im Alter ihre wohlver- verpachtet. Und Stilllegung heißt kein Erlös, also nur diente Rente als soziale Anerkennung zukommen lassen, Minirente und Altersarmut. Das geht doch so nicht! Vie- sondern sie wollen nur eines: eiskalte, knallharte Struk- le Kleinstwaldflächen werden von Forstbetriebsgemein- turpolitik. schaften bewirtschaftet. Sie würden durch Zwangsver- Das unterscheidet Sie fundamental von uns. Für uns kauf oder Stilllegung Bewirtschaftungsflächen verlieren. Grüne ist das Altersgeld die wohlverdiente Rente für un- Das ist einfach Unsinn. sere Alten. Wir wollen die Kleinbauern nicht auch noch um ihre paar Hektar Land bringen. Das erkennen Sie ja Der Bodenverkauf mit dem Hof ist überhaupt ein immerhin etwas an mit der Erhöhung der Rückbehaltsflä- spannendes Thema. Die Preisexplosion auf dem Bo- chen auf 7,9 Hektar. denmarkt ist doch bekannt. Man muss nicht besonders hellseherisch begabt sein, um zu behaupten, dass diese Noch ein Drittes. Dass nach wie vor Bäuerinnen und Flächen nicht an Junglandwirte verkauft werden, sondern Bauern mit teilweiser Beeinträchtigung der Erwerbsfä- zur Aufstockung der Minirente an Meistbietende. Statt higkeit erst abgeben müssen, ist überhaupt nicht nach- den Generationenwechsel fördert die Hofabgabeklausel vollziehbar in einer Gesellschaft, die sich gerade um die also den Ausverkauf des Bodens an vagabundierendes Chancen von Menschen mit Beeinträchtigungen große Kapital. Das geht gar nicht! Mühe der Anerkennung und des Ausgleiches gibt. Und dann bleibt der Abgebende oft auch noch auf den Dieses Reförmchen zeigt wieder einmal, dass es CDU/ Unterhaltskosten der Hofstelle sitzen, die nicht gekauft CSU nur um Schaufensterpolitik geht. Man hat es dem wird. Wer also wirklich die breite Streuung des Bodenei- Bauernverband versprochen, deshalb darf die Hofabga- gentums und vor Ort verankerte Landwirtschaftsbetrie- bepflicht nicht ersatzlos gestrichen werden. Klientelpo- be sichern will, muss die Hofabgabeklausel abschaffen. litik statt Sozialpolitik gegen die Schwächsten, unsere Jetzt und für alle. Alten. Und zum Schluss meine Damen und Herren von der Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDU/CSU: Gerade die kleinen Waldbauern pflegen den NEN): Willkommen in der Gegenwart, auch auf dem Wald oft sehr nachhaltig, aber Sie von der CDU/CSU Lande. pflegen nicht die Waldbauern, sondern zwingen sie, ih- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13401

(A) ren Wald zu verpachten und damit oft der Ausplünderung Wir haben noch die Pressemeldungen des Jahres 2013 (C) anheimzugeben. Beerdigen Sie endlich das ausgehöhlte, in Erinnerung mit dem Fall von Schiffsbesatzungen, die inhaltsleere Potemkinsche Dorf, die Hofabgabepflicht! monatelang vor der deutschen Küste ankern mussten, weil der ausländische Schiffseigentümer sich nicht mehr um sie gekümmert hatte und sie ohne Lohn, Proviant und Kraftstoff zurückgelassen hatte. Diese unhaltbare Situa- Anlage 8 tion wollen wir verhindern und vor allem für die Klärung Zu Protokoll gegebene Reden und Absicherung der finanziellen Ansprüche der beschä- digten Seeleute sorgen. zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Wir schaffen also die Voraussetzungen dafür, dass Änderung des Seearbeitsgesetzes (Tagesordnungs- die Schiffsbesatzungen im Falle eines Bruchs des Ar- punkt 23) beitsverhältnisses durch den Reeder ihre Heuer erhalten, und dies bis zu einer Dauer von vier Monaten, dass die Kosten ihrer Heimschaffung bis zu ihrem Wohnort vom Wilfried Oellers (CDU/CSU): Wir beraten heute in Reeder übernommen werden, und nicht zuletzt, dass die 2. und 3. Lesung den von der Bundesregierung einge- grundlegenden Bedürfnisse der Besatzungsmitglieder brachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung wie zum Beispiel ausreichende Ernährung, Trinkwasser- des Seearbeitsgesetzes. Das am 1. August 2013 in Kraft vorräte, Unterkunft, aber auch Kraftstoff für das Schiff getretene Seearbeitsgesetz hat das Seearbeitsüberein- sowie ärztliche Betreuung an Bord finanziell abgesichert kommen 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation sind. (IAO) in nationales Recht umgesetzt und löste damit das völlig veraltete Seemanngesetz von 1957 ab. Mit diesem Dabei möchte ich hervorheben, dass Fälle des Im- Gesetz hat Deutschland 2013 die Voraussetzungen dafür stichlassens durch deutsche Reeder bislang nicht bekannt geschaffen, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen sind. Beachtenswert ist, dass es seit 1958 keinen einzi- der Seeleute an Bord von Kauffahrteischiffen gründlich gen Heimschaffungsfall auf Schiffen deutscher Reeder verbessert und die Mindeststandards eingehalten werden. gegeben hat. Erfreulich ist, dass die deutsche Flagge im internationalen Vergleich als sicher und verantwortungs- Es war der Union ein wichtiges Anliegen, die beson- bewusst gilt. Die Gesetzesänderung soll dies nicht infra- ders schwierigen Arbeitsbedingungen sowie sozialen Be- ge stellen. Sie sichert vielmehr die Wettbewerbsfähigkeit dingungen der Seeleute unter die Lupe zu nehmen und der deutschen Seeschifffahrt im internationalen Kontext. klare sowie weltweit verbindliche Arbeitsbedingungen in deutsches Recht umzusetzen. Damit ist ein deutliches Si- (B) Eine weitere Änderung, die wir sehr begrüßen, ist die (D) gnal zugunsten eines fairen Wettbewerbs im Bereich der Pflicht des Reeders zur Entschädigung aller Seeleute Schifffahrt und für die Seeleute klare Voraussetzung für oder deren Hinterbliebenen bei Tod oder Erwerbsunfä- eine gute soziale Absicherung gesetzt worden. higkeit aufgrund von Arbeitsunfällen oder Berufskrank- Nun hat die Internationale Arbeitskonferenz der IAO heiten. Hier geht es darum, dass alle an Bord Beschäf- auf ihrer Tagung in Genf am 11. Juni 2015 eine weitere tigten abgesichert werden. Also sind auch diejenigen Anpassung des Seearbeitsübereinkommens beschlossen. Seeleute betroffen, die nicht in der deutschen gesetzli- Ziel der Konferenz, das die Bundesregierung unterstützt, chen Unfallversicherung pflichtversichert sind und die ist es, eine bessere Absicherung der Seeleute gegen fi- nach Deutschland entsandt worden sind, aber in ihren nanzielle Risiken in Gefährdungssituationen zu gewähr- Heimatländern versichert bleiben. Der Reeder garantiert leisten. nun die Entschädigung mit einer privaten Versicherung auch für diese an Bord tätigen Arbeitnehmerinnen und Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, ein effektives Arbeitnehmer. System der finanziellen Sicherheit zu etablieren. Dies wollen wir nun in deutsches Recht umsetzen. Wir in der Von besonderer Bedeutung bei dem Gesetzentwurf ist Union begrüßen diese Verbesserung der Lage der Seeleu- die Vereinfachung der Förderung der Sozialeinrichtun- te, die ihre Arbeit unter schweren körperlichen und psy- gen für Seeleute von einer projektbezogenen Förderung chischen Bedingungen verrichten. Es ist daher unerläss- auf eine institutionelle Förderung. Diese Anlaufstellen lich, dass die Schiffer und Matrosen auch in finanziellen für deutsche und ausländische Seeleute sind wichtige Schwierigkeiten nicht allein gelassen werden. Treffpunkte in den Hafenstädten. Das bedeutet konkret, dass im Falle eines Fehlverhal- Es sind meistens kirchliche Träger, die dank vieler eh- tens durch den Reeder, wie bei einem „Imstichlassen“, renamtlich Engagierten Seelsorge leisten und gegen die Seeleute finanziell entschädigt werden. Besonders wich- soziale Isolation der Schiffer und Matrosen arbeiten. An tig bei der Gesetzesänderung ist die Klärung des Begriffs dieser Stelle muss das Engagement der Missionen gebüh- „Imstichlassen“, der in der deutschen Sprachfassung der rend gelobt werden. Mit dem neuen Gesetz vereinfacht IAO als „Zurücklassen“ richtigerweise nicht übernom- sich der Verwaltungsaufwand für die Förderung. Und men worden ist. Im nationalen Recht haben wir eine von der Umstellung profitieren nicht nur die Sozialein- andere Belegung dieses Begriffes und daher ist es von richtungen sondern auch die Seeleute. Die Träger der großer Bedeutung, dass die Neuregelung durch das Ge- Missionen können sich auf ihre wertvolle seelsorgerische setz die rechtswidrige Pflichtverletzung des Reeders als und unterstützende Aufgabe konzentrieren, und wären „Imstichlassen“ bezeichnet. nicht mehr mit bürokratischen Angelegenheiten belastet. 13402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Im Ergebnis führt dieser Gesetzentwurf der Bundes- richtungen, Umsicht beim Bedienen von Kränen und (C) regierung also für alle Betroffenen zu positiven Ände- Winden, Reaktionsgeschwindigkeit zum Erkennen und rungen. Fairer Wettbewerb, angemessene Arbeitsbedin- Beseitigen von Störungen sowie grundsätzliches tech- gungen und finanzielle Absicherung der Seeleute, dafür nisches Verständnis für Motoren oder Umschlags ­und setzten wir uns von der Union ein. Ankereinrichtungen. Wer solch anspruchsvolle Arbeit verrichtet, hat vernünftige soziale Bedingungen und gu- Michael Gerdes (SPD): Wir beraten heute Änderun- ten Arbeitsschutz verdient. Das ist der Kern des Seear- gen im Seearbeitsgesetz, welches für alle Personen gilt, beitsgesetzes. die an Bord eines Schiffes unter deutscher Flagge tätig Erkrankt ein Seemann bei der Arbeit, liegt ein rie- sind. In der Summe geht es um verbindliche Mindest- siges Meer zwischen ihm und seiner Heimat. Schwere standards hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingun- Unfälle und Krankheiten gehörten vor Jahrzehnten auf gen von Seeleuten. dem gefährlichen Arbeitsplatz Schiff zur Tagesordnung. Ausgangspunkt ist das Seearbeitsübereinkommen der Jahrhundertelang waren Seeleute im Notfall auf die allei- Internationalen Arbeitsorganisation (International La- nige Fürsorge ihres Reeders oder Kapitäns angewiesen. bour Organisation, ILO), welches bereits von 66 Staaten So etwas ist heute nicht mehr vorstellbar. Die Schifffahrt ratifiziert wurde (Stand 18. Mai 2015). Das genannte Ab- wird immer moderner, somit braucht es auch moderne kommen gilt schätzungsweise für 1,2 Millionen Seeleute Rahmenbedingungen für die Arbeit auf See. weltweit. Diese Zahl zeigt die immense Bedeutung der Was die Sicherheit auf Schiffen unter deutscher Flag- globalen Schifffahrt. ge angeht, brauchen wir uns nicht zu verstecken. Im in- Die Anpassungen des Seearbeitsgesetzes, die wir ternationalen Vergleich stehen wir gut da. Seeleute auf heute beraten, betreffen die bessere Absicherung von Schiffen unter deutscher Flagge sind automatisch in der Seeleuten gegen finanzielle Risiken in Gefährdungssitu- gesetzlichen Unfallversicherung abgesichert. Die meis- ationen. Konkret beziehen sich die Änderungen auf die ten Seeleute sind zusätzlich durch die deutsche Kran- Verpflichtung von Reedern zum Abschluss einer Versi- ken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung cherung für den Fall des „Imstichlassens“ der Besatzung, sowie der Seemannskasse abgesichert. So muss es sein! die Entschädigung von Seeleuten oder Hinterbliebenen Das SPD-Credo „Gute Arbeit“ gilt nicht nur an Land, bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten sowie die in- sondern auch auf hoher See. stitutionelle Förderung von Seemannsmissionen. (DIE LINKE): Seeleute haben ei- SPD und Union bringen einen Änderungsantrag zum Herbert Behrens nen harten Job. Lange Schichten, kurze Liegezeiten in vorliegenden Gesetzentwurf ein. Wir wollen, dass die den Häfen und wochenlange Abwesenheit von Zuhau- (B) institutionelle Förderung von Sozialeinrichtungen in (D) se sind das Gegenteil von Seefahrer-Romantik. Darum deutschen Häfen nicht erst zum 1. Januar 2017 beginnt, müssen Regeln sein, damit die Seeleute geschützt sind sondern bereits am Tag nach Verkündung des Gesetzes. vor Ausbeutung und unfairer Behandlung. So steht den Missionen mehr Geld für ihre sinnvolle Ar- beit zur Verfügung und verschafft ihnen insgesamt mehr Die Gewerkschaft Verdi hat deshalb für die Besatzun- Planungssicherheit. gen auf deutschen Schiffen Tarifverträge mit den Reedern abgeschlossen, in denen die Arbeitszeit, die Ruhezeiten Positiv hervorheben möchte ich, dass mit der Än- und Urlaubsanspruche und die sogenannte Heimschaf- derung des Seearbeitsgesetzes eine genaue Definition fung geregelt sind. Heimschaffung heißt: Kosten und des „Imstichlassens“ einhergeht. Ein Reeder lässt sei- Transport für die Heimreise haben die Arbeitgeber zu ne Mannschaft im Stich, wenn er die Kosten für die übernehmen. Aber wie im wirklichen Leben halten sich Heimschaffung nicht übernimmt, nicht für medizinische die Reeder als Arbeitgeber nicht immer an das, was sie Betreuung sorgt, mit dem Lohn in Verzug ist, schlech- unterschrieben haben, und versuchen, sich einen Vorteil te Unterkünfte oder ungenügende Verpflegungs- oder zu verschaffen. Trinkwasservorräte bereithält oder das Schiff nicht mit ausreichend Kraftstoff ausgestattet ist. Wenn’s ganz hart wird, dann macht sich ein Reeder sogar aus dem Staub und lässt Mannschaft Mannschaft All diese Anforderungen an ein gutes Arbeitsverhält- sein. Darum ist es sinnvoll, dass nicht ausschließlich im nis zwischen Reeder und Seemann klingen in meinen Tarifvertrag geregelt ist, wer für die so genannte Heim- Ohren eigentlich selbstverständlich. Der raue Alltag auf schaffung bezahlt. Deshalb sollen Seeleute künftig ge- manchen internationalen Handelsschiffen macht die kon- setzlich geschützt werden. Die Linke begrüßt die gesetz- krete Benennung von Mindeststandards aber scheinbar liche Regelung. Wir wollen gute Arbeit auch auf See. Wir notwendig. stimmen dem Gesetz zur Änderung des Seearbeitsgeset- Keine Frage, wir unterstützen diese Gesetzesände- zes zu. rung. Denn jenseits aller Seefahrerromantik, die ich als Künftig sind Reeder verpflichtet, eine Versicherung „Landratte“ maximal aus Seemannsliedern kenne, ist das für den Fall des Imstichlassens der Besatzung abzu- Arbeiten und Leben auf hoher See sehr anspruchsvoll. schließen. Imstichlassen heißt, der Reeder bricht den Ein Schiffsmechaniker zum Beispiel muss verschie- Heuervertrag und die Mannschaft sitzt fern der Heimat denste Fähigkeiten mitbringen. Es braucht Sorgfalt, etwa und muss ihre Heimreise organisieren. Zusätzlich bietet beim Ablesen nautischer Messinstrumente, Verantwor- dieses Gesetz einen besseren Schutz bei Arbeitsunfällen tungsbewusstsein beim Überprüfen der Sicherheitsein- und Berufskrankheiten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13403

(A) Eigentlich gute Voraussetzungen, um den Seemanns- Bord deutsch beflaggter Schiffe seit knapp 60 Jahren (C) beruf attraktiv zu machen. Wie aber sieht die Realität nicht mehr gab. aus? Die Zahl der Arbeitsplätze auf Schiffen unter deut- scher Flagge schrumpft und schrumpft. Denn die deut- Doch Beispiele für im Stich gelassene Seeleute gibt schen Reeder flüchten immer noch scharenweise aus es viele: Erst 2013 haben drei Frachter vor Wangeroo- dem Zuständigkeitsbereich des deutschen Seerechts. Sie ge festgemacht, weil der marokkanische Schiffseigner wechseln mit ihren Schiffen unter anderen Flaggen, wo pleite ging. Das hieß: Kein Treibstoff mehr, keine Ver- sie nicht die Standards einhalten müssen, die über das hi- sorgung mit Lebensmitteln mehr, kein Lohn für die Be- nausgehen, was auf internationaler Ebene vereinbart ist. satzung. Deutsche Behörden und andere Einrichtungen haben sich um die Mannschaft gekümmert. Die Schiffe Regeln müssen dort eingeführt werden, wo der freie sind letztlich versteigert worden. Auch 2008 gab es in Markt nichts mehr regelt, oder wenn Selbstverpflichtun- Brunsbüttel einen ähnlichen Fall mit einer kroatisch-let- gen nicht eingehalten werden. tischen Reederei. Die genannten Beispiele zeigen, dass der Gesetzesvorschlag wichtig ist. Eine darin enthaltene Darum will die Linke auch erreichen, dass die Reeder Versicherungspflicht für solche Fälle begrüßen wir au- in die Pflicht genommen werden, wenn sie Subventio- ßerordentlich. nen aus dem Bundeshalt kriegen. Die Bundesregierung hat den Reedern zugesagt, sie können künftig die Lohn- Die Situation der Seeleute ist dabei, sich weltweit ein steuer vom Seemannslohn vollständig einbehalten und wenig zu verbessern. Ein großer Fortschritt war das im brauchen nicht an den Staat abzuführen. Bisher waren es Jahr 2006 verabschiedete Seearbeitsübereinkommen, das 40 Prozent. Auch Versicherungssteuern auf Erträge aus in Deutschland 2013 in Kraft trat. Dadurch gelten für dem so genannten Erlöspool fallen jetzt dauerhaft weg. die Rechte von Seeleuten endlich weltweite Standards. Die Reeder sollen Marktschwankungen besser abfedern Oft waren die Schiffsbesatzungen aus den Augen und können und internationale konkurrenzfähig bleiben, wird aus dem Sinn ihrer Arbeitgeber. Vielen Reedern und mit argumentiert. Und das Ergebnis: Die Zahl der Handels- ihnen gewissen Flaggenstaaten war das Schicksal ihrer flotte unter deutscher Falle ist auf einem historischen Besatzungen vielfach egal. Entsprechend mies waren die Tiefstand. 395 von knapp 3500 Schiffen der Handelsflot- hygienischen Bedingungen an Bord einiger Schiffe oder te fallen noch unter die Regeln der deutschen Gesetzge- auch die Arbeitszeitregelungen und die Entlohnung. In- bung. zwischen müssen die wesentlichen Arbeitsbedingungen auch vertraglich festgehalten werden, und es gibt An- Das lassen wir nicht zu. Wir bleiben bei unserer For- spruch auf eine Heuerfortzahlung im Krankheitsfall. Das derung: keine Leistung ohne Gegenleistung. Für Aus- ist ein richtiger Fortschritt. Es wird Zeit, dass das inter- (B) flaggen gibt’s kein Geld. Bei Einflaggungen lassen wir nationale Abkommen auch durch weitere Staaten, etwa (D) mit uns reden. China oder die USA, ratifiziert wird. Aber noch ein paar Worte zum Gesetz. Die Seemanns- Aber Deutschland als große Seefahrtnation darf sich mission wird jetzt gesichert gefördert. Man muss sich nicht zurücklehnen. Hierzulande ist es die maritime Aus- dort nicht mehr von Projekt zu Projekt hecheln. Das ist bildung, die vielen angehenden Seeleuten seit Jahren eine gute Nachricht sowohl für die Seemannsmission als sehr große Sorgen bereitet. Das ist es auch, was ich im auch für die Seeleute, die sich gern dorthin wenden. Das Gespräch mit den Seeleuten immer wieder höre. lief zwar in der Vergangenheit immer ganz gut, hat aber doch zu erheblicher Unsicherheit geführt, weil man eben Die große Stillstands-Koalition muss daher endlich nicht wusste, ob ein Projekt akzeptiert wird oder nicht. Lösungen für eine zukunftsfähige und bedarfsgerechte maritime Ausbildung schaffen. Das ist bei der letzten Nun also eine sogenannte institutionelle Förderung. Maritimen Konferenz in Bremerhaven versäumt wor- Die anderen Unterstützer der Seemannsmission Evan- den. Es darf uns nicht weiter der maritime Nachwuchs gelische Kirche Deutschland (EKD), Verband Deutscher wegbrechen. Gerade die Lotsen oder die Schifffahrts- Reeder (VDR), Internationalen Transportarbeiter-För- verwaltung suchen händeringend nautische Fachkräfte. derung (itf), die Hamburger Firma vesseltracker wird‘s Alleine bei den Lotsen an der deutschen Küste müssen freuen. Die Linke stimmt dem ausdrücklich zu, denn wir bis 2025 rund 500 Nautikerstellen neu besetzt werden. wissen, dass die Seemannsmission gute Arbeit leistet. Aber durch unser starres Ausbildungssystem blockieren wir uns selbst. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Den eingebrachten Änderungsantrag begrüßen wir Immer wieder kommt es vor, dass ein Schiffseigentümer sehr. Er ist eine Maßnahme zum Bürokratieabbau, der insolvent geht oder das Schiff aufgrund ausstehender den Seemannsmissionen zugutekommt. Sie müssen sich Forderungen arrestiert, also festgehalten wird. Häufig nicht mehr von Projektförderung zu Projektförderung wurden dann die Seeleute zurückgelassen und waren auf hangeln, sondern erhalten zukünftig direkte Unterstüt- sich alleine gestellt. Verpflegung, Unterkunft und Rück- zung für ihre wirklich gute Arbeit. reise in den Heimatort mussten sie aus der eigenen Kasse zahlen. Danach waren sie oft selbst pleite. Dem Gesetzentwurf stimmen wir zu. Aber packen Sie endlich Reformen bei der maritimen Ausbildung an und Mit dem vorliegenden Gesetzesvorhaben verhindern nehmen endlich die Sorgen der Seeleute um den Schiff- wir, dass Seeleute von ihren Arbeitgebern völlig im Stich fahrtsstandort Deutschland ernst! Die Auszubildenden gelassen werden können. Auch wenn es solche Fälle an und Studierenden in maritimen Berufen warten darauf. 13404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Anlage 9 Die betroffenen Unternehmen haben die notwendigen (C) Rückstellungen vollständig gebildet. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- Der zweite Schritt ist jetzt, dass die Rückstellungs- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nach- kommission Empfehlungen erarbeitet, wie die Sicherung haftung für Rückbau- und Entsorgungskosten im der Finanzierung des Kernenergieausstiegs langfristig Kern­energiebereich (Rückbau- und Entsorgungs- ausgestaltet werden muss. Die Kommission wird die Er- kostennachhaftungsgesetz – Rückbau- und Ent- gebnisse bis Anfang nächsten Jahres vorlegen. Mit dabei sorgungskostennachhaftungsG) (Tagesordnungs- ist ja auch Jürgen Trittin; damit sollten sie ja dem Ergeb- punkt 24) nis trauen. Der dritte Schritt ist dann die Einleitung gesetzlicher Thomas Bareiß (CDU/CSU): Nach Fukushima Maßnahmen; dazu gehört das Nachhaftungsgesetz. haben wir nicht nur einen schnellen Kernenergieausstieg Der skizzierte Weg macht aus meiner Sicht Sinn. Alles bis 2022 beschlossen, sondern auch den Grundstein ge- andere wären jetzt Schnellschüsse. legt für viele weitere Folgeentscheidungen. Wer einen erfolgreichen und damit sicheren und wirtschaftlichen Ich will betonen – bevor falsche Schlüsse gezogen Ausstieg organisieren will, braucht mehr als einen Aus- werden –: Das Anliegen des Nachhaftungsgesetzes ist stiegsfahrplan für die einzelnen Kernkraftwerke. Er nachvollziehbar. Eine Absicherung gegen gesellschafts- braucht ein tragfähiges Gesamtkonzept. rechtliche Veränderungen in den Unternehmen ist richtig. Daher haben wir eine Reihe von Maßnahmen auf den Unternehmen dürfen sich nicht aus der Verantwortung Weg gebracht: Entscheidungen zur Endlagersuche, zur ziehen. Die Unternehmen sind und bleiben verantwort- Zwischenlagerung und zur Finanzierung des Kernener- lich für den Rückbau der Kernkraftwerke und deren Ent- gie-Ausstiegs. Stück für Stück müssen jetzt tragfähige sorgung. und sinnvolle Lösungen gefunden werden. Wir – die CDU/CSU – stellen uns der Verantwortung! Und ich Mit der Einbringung des Gesetzes hat die Bundes- warne hier irgendwelche Parteipolitischen Spielchen zu regierung ein wichtiges Signal gesetzt, das auch schon betreiben. Die sind vorbei! Wirkung gezeigt hat: Eon hat entgegen ursprünglichen Plänen entschieden, die Kernenergiesparte beim Mut- Wir brauchen ein verantwortungsvolles Gesamtkon- terkonzern zu belassen. Schon allein der Gesetzentwurf zept im Sinne aller Beteiligten: zeigt also Wirkung, und die Politik ist kein Zaungast, Dabei steht die Sicherheit ganz zentral im Mittelpunkt. sondern allein wir bestimmen die Spielregeln. Der Bun- (B) destag hat jetzt ausreichend Zeit, die notwendigen Punkte (D) Der Steuerzahler darf nicht der Dumme sein und auf im Rahmen des Gesamtkontexts zu prüfen und zu lösen. den Kosten sitzen bleiben. Wir brauchen jetzt etwas Zeit, um das vorliegende Und die Unternehmen brauchen faire und verlässliche Nachhaftungsgesetz genauer zu prüfen. Denn trotz der Bedingungen. Kürze des Gesetzes – es hat gerade mal fünf Paragrafen – Ich will es auch bei dieser Debatte nochmals unter- gibt es aus meiner Sicht zwei elementare Schwachstellen streichen: Wir wollen die Unternehmen nicht aus ihrer im Gesetz: Die Verfassungskonformität der Ewigkeits- Verantwortung entlassen. Das gesetzliche Verursacher- haftung und die Ausweitung der Haftung auf bisher nicht prinzip gilt. Die Unternehmen müssen für den Rückbau betroffene Körperschaften. der Kernkraftwerke und die Entsorgung des radioaktiven Mit dem Nachhaftungsgesetz soll eine gesetzliche Abfalls aufkommen. Da gibt es keine Diskussion. Aber Nachhaftung von Konzerngesellschaften für die von ih- sie können nur dann dafür aufkommen, wenn wir einen nen beherrschten Betreibergesellschaften von Kernkraft- verlässlichen Rahmen für den Ausstieg aus der Kerne- werken eingeführt werden, die auch mit einem Ende des nergie schaffen. Das gilt für alle Bereiche, angefangen Beherrschungsverhältnisses bestehen bleibt. Die Haftung von der Endlagersuche bis hin zur Finanzierung des Aus- endet erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die ablieferungs- stiegs. pflichtigen Stoffe vollständig in einem Endlager abgelie- Manchmal habe ich den Eindruck, bei den Grünen fert wurden und dieses verschlossen ist. geht es demgegenüber darum, RWE, Eon und EnBW ka- Es gibt meiner Einschätzung nach ernsthafte Stim- putt zu machen. Das wollen wir nicht. Denn bei mir auf men, die sagen, dass eine zeitliche und in der Höhe un- dem Land würde man dazu sagen: Man sollte die Kuh begrenzte Nachhaftung verfassungsrechtlich bedenklich nicht schlachten, die man noch melken will. ist. Das sollten wir ernst nehmen. Die Finanzierung des Kernenergieausstiegs muss im Um es an dieser Stelle nochmals deutlich zu sagen, Gesamtpaket gelöst werden. Zum Gesamtpaket gehören auch die Politik ist in der Pflicht. Wir müssen zeitnah der Stresstest, die Arbeit der Rückstellungskommission verbindliche und verlässliche Rahmenbedingungen für sowie das Nachhaftungsgesetz. Diese Punkte müssen ge- die Endlagerung schaffen. Ein ewiger Such- und Erkun- meinsam entschieden werden. dungsprozess der Endlager hilft in der Sache nicht und In einem ersten Schritte haben wir im Stresstest die den können die Unternehmen auch nicht tragen. Deshalb Rückstellungen der Unternehmen geprüft. Das Gutach- hoffe ich, dass die Endlagerkommission bald zu Ergeb- ten eines unabhängigen Wirtschaftsprüfers hat gezeigt: nissen kommt. Daran arbeiten wir ja alle gemeinsam. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13405

(A) Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Mit atomaren Erblasten schon Ende der 1990er-Jahre erho- (C) dem Gesetz werden auch einzelne Landkreise und Län- ben. der in die Verantwortung genommen, die bisher gar nicht Man kann es nicht anders sagen: Es ist auch eine Ver- in der Haftung standen. Denn im Gesetz wird eine ei- antwortung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, gene Definition von herrschenden Unternehmen- vor die dieses Problem damals nicht angepackt hat und da- genommen, mit der auch Baden-Württemberg und die mit für das heutige Desaster auch eine Mitverantwortung kommunalen Eigner der EnBW in die Haftung genom- trägt! men werden. Diese standen jedoch bisher gar nicht in der Haftung. Die Haftung endet also nicht bei der EnBW, Ein solcher Fonds, wäre er rechtszeitig eingerichtet sondern wird direkt auf das Land, sogar auf die Land- worden, hätte die Gelder aus der Verfügung der Atom- kreise ausgedehnt. Solch eine neue Regelung halte ich konzerne genommen und damit die Finanzmittel – die schlichtweg für nicht umsetzbar. heute so sehr gefährdet sind – gesichert. Den entspre- chenden Antrag unserer Fraktion zur Gründung eines Wir brauchen einen sinnvollen Rahmen für den Kerne- solchen Fonds gegen die Bad-Bank-Pläne der Konzerne nergieausstieg und keine Schnellschüsse. Deshalb wollen hat aber die Mehrheit der Großen Koalition im Bundes- wir jetzt die gebotene Reihenfolge einhalten. Wir wollen tag am 16. Oktober dieses Jahres abgelehnt. die Ergebnisse der Rückstellungskommission abwarten und uns dann des Nachhaftungsgesetzes annehmen. Hinzukommt: Der Gesetzentwurf hat erhebliche Män- gel. Das Gesetz soll verhindern, dass Konzernmütter nicht für abgespaltene AKW-Töchter haften. Es funktio- Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Die Bundesregie- niert aber nicht umgekehrt, wenn die Reaktoren, wie jetzt rung legt heute einen Gesetzentwurf zur Haftungssiche- im Falle Eon, bei der Mutter bleiben, aber große Vermö- rung der Atomkonzerne vor. Damit sollen die Atomkon- genswerte aus dem Konzern ausgegliedert werden, die zerne daran gehindert werden, sich durch Abspaltungen dann nicht mehr zur Haftung herangezogen werden kön- und Bad-Bank-Konstruktionen aus der Verantwortung nen. und der Finanzierung ihrer radioaktiven Hinterlassen- schaften stehlen zu können. Dieses Gesetz wäre vermut- Am letzten Freitag hat der Bundesrat in seiner Stel- lich nicht notwendig, hätten diese und frühere Bundesre- lungnahme zum Nachhaftungsgesetz genau auf dieses gierungen rechtzeitig ihre Hausaufgaben gemacht! Problem hingewiesen: „Der Gesetzentwurf kann nicht verhindern, dass die Energiekonzerne selbst vermögens- Schon seit mehr als einem Jahrzehnt ist klar, dass die los werden, zum Beispiel durch Abspaltung werthaltiger bisherigen Regelungen zu den Entsorgungs-Rückstellun- Vermögensbestandteile oder Aktiensplitting.“ Deswegen gen unverantwortlich und nur zugunsten der Atomkon- fordern wir, das Gesetz entsprechend zu verschärfen. (B) zerne ausgerichtet waren. Sie sind Teil der jahrzehnte- (D) langen staatlichen Begünstigungen, mit denen sich die Außerdem fordern wir, das Gesetz noch in diesem Bundesrepublik den Ausbau der Atomenergie organi- Jahr zu verabschieden. Die Eilbedürftigkeit ergibt sich sierte – auch, damit Deutschland international als Atom- aus unserer Sicht dadurch, dass mindestens einer der macht auf Abruf mitspielen konnte. Atomkonzerne zum 1. Januar 2016 Schritte unternehmen wird, die Einfluss auf die mit dem Gesetz angestrebte Si- Auch für diesen Zweck wurde über Jahrzehnte den cherung der Nachhaftung der Unternehmen haben. Atomkonzernen jeder nur erdenkliche wirtschaftliche Diese Auffassung wird unterstützt durch das Schrei- Vorteil angedient. Und diese Vorteile haben die Konzerne ben des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesmi- auch ohne jede Scheu ausgenutzt und Milliardengewinne nisterium für Wirtschaft und Energie, Uwe Beckmeyer, eingestrichen. Die Kritik an den Regelungen zur Kos- vom gestrigen Tage, in dem die Bundesregierung das ten-Finanzierung des Atommülls durch die Konzerne ist Parlament davor warnt, das Gesetz zur Haftung der mehr als zwei Jahrzehnte von allen Bundesregierungen Stromkonzerne bei den Kosten des Atomausstiegs zu praktisch ignoriert worden. verzögern. Das Gesetz müsse unbedingt spätestens zum „Kriegskassen“ nannte man die Praxis der Entsor- 1. Januar 2016 in Kraft treten, andernfalls würden sich gungs-Rückstellungen, weil die Atomunternehmen quasi für den Bund „erhebliche Risiken“ ergeben. Diese War- mit einer Hausbank ausgestattet waren. Diese Entsor- nung der Bundesregierung geht in Richtung CDU/CSU, gungs-Rückstellungen nutzten die Konzerne für ihre die gestern noch die Verabschiedung des Gesetzes auf gescheiterten Investitionen seit der Liberalisierung der die längere Bank schieben wollte. Trotz der bekannten Strommärkte. Vattenfall kaufte mit den Rückstellungen Risiken. der damaligen Hamburgischen Electricitäts Werke – Schon die neue Atom-Kommission ist ein Alarmsignal HEW – die Berliner BEWAG und die ostdeutsche Braun- für die Steuerzahler. Ihre Zusammensetzung lässt erah- kohle! Eon und RWE finanzierten aus dieser Kriegskasse nen, dass es der Bundesregierung darum geht, den Atom- ihre Beutezüge in Ost- und Südeuropa. konzernen Rabatte bei den Kosten für die Atommülllage- rung zuzuschanzen. Nach den Milliardengeschenken bei Jetzt, wo sich bei ihnen wegen dieser Fehlspekulati- den Braunkohlekraftwerken wird nun das nächste Steuer- onen enorme Schuldenberge aufgebaut haben, wollen geschenk für die Stromkonzerne vorbereitet. sich die Atomkonzerne aus dem Staub machen. Nicht nur hat in diesem Haus die Forderungen Dass die Bundesregierung eine Kommission einsetzt, nach einer grundsätzlichen Neuordnung in Form eines in der die Linke nicht einmal vertreten ist, spottet jedem öffentlichen rechtlichen Fonds für die Finanzierung der Demokratieverständnis und ist kein Zufall: Mit uns ist 13406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) eine Verlagerung der Kosten für den Atommüll auf die von Eon und Vattenfall oder Kündigungen von Beherr- (C) Bürger nicht zu machen! schungs- und Abführungsverträgen. „Eltern haften für ihre Kinder“ ist ein guter Grundsatz, auch in der Atom- Am Ende des Tages muss klar sein: Die atomare Ze- wirtschaft. Allerdings hat Eon auf die Ankündigung des che müssen diejenigen zahlen, die die wirtschaftlichen Nachhaftungsgesetzes schnell reagiert und angekündigt, Vorteile jahrzehntelang eingefahren haben: Die Atom- seine Atomsparte nicht in die geplante neue Gesellschaft konzerne und nicht die Steuerzahler. „Uniper“ auszugliedern, sondern beim Mutterkonzern zu belassen Warum wohl! Weil Kinder für ihre Eltern eben Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht haften. Anders als im wirklichen Leben muss das Wir befassen uns heute mit dem Nachhaftungsgesetz. Es hier aber sein, und deshalb muss an dieser Stelle im Ge- regelt die Frage, wer im Falle einer Zahlungsunfähigkeit setzgebungsverfahren nachgearbeitet werden. Wichtig von Atomkraftwerksbetreibern für die Kosten von Rück- ist – das hat uns Staatssekretär Beckmeyer heute noch bau ihrer AKW und Endlagerung ihres Atommülls haftet. mal schriftlich gegeben –, dass das Gesetz noch in die- Diese Regelung ist keine Aufgabe der inzwischen instal- sem Jahr beschlossen wird, damit es seine Wirkmacht lierten „Kommission zur Überprüfung der Finanzierung auch auf die für den 1. Januar 2016 angekündigte Auf- des Kernenergieausstiegs (KFK)“. Die Haftungsregelung spaltung von Eon ausüben kann. ist ganz im Gegenteil eine Voraussetzung für die Arbeit der KFK. Denn erst wenn klar ist, dass Konzerne sich Insofern ist es erfreulich, dass die Union ihren hartnä- nicht durch Umstrukturierungen und Aufspaltungen der ckigen Widerstand, die Anhörung zum Gesetz nicht wie umfassenden Haftung für die Kosten von Rückbau und geplant noch in diesem Monat, sondern erst im nächsten Endlagerung entziehen können – einfach durch Verringe- Jahr durchzuführen, aufgegeben hat. Das heißt hoffent- rung ihres Haftungsvermögen –, erst dann kann auf ehr- lich, dass die Abgeordneten von CDU und CSU auch be- licher Basis über die Sicherung der Rückstellungen für reit sind, die zweite und dritte Lesung des Nachhaftungs- diese Aufgaben verhandelt werden. gesetzes noch in diesem Jahr durchzuführen. Sie werden sich – so hoffe ich – nicht vorwerfen lassen wollen, dass Insofern sind alle Bestrebungen, den Beschluss des sie Komplize der Konzerne statt Anwalt der Steuerzahle- „Gesetzes zur Nachhaftung für Rückbau- und Entsor- rinnen und Steuerzahler sind. gungskosten im Kernenergiebereich“ zeitlich hinter die Ergebnisse der KFK zu schieben oder gar in die Ergeb- nisse einfließen zu lassen, ein Spiel mit falschen Karten Uwe Beckmeyer, Parl . Staatssekretär beim Bundes- und werden von uns Grünen nicht akzeptiert. minister für Wirtschaft und Energie: Nach den Ereignis- sen in Fukushima im Jahr 2011 hat der Gesetzgeber den (B) In beiden Fällen – der Nachhaftung wie der Sicherung schrittweisen Ausstieg aus der nuklearen Stromerzeugung (D) der Rückstellungen – geht es nichtsdestoweniger um in Deutschland beschlossen. Bis zum Jahr 2022 werden das gleiche Ziel: die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die derzeit acht noch im Leistungsbetrieb befindlichen davor zu schützen, dass die Kosten für das dicke Ende Kernkraftwerke vom Netz gehen. Sie müssen dann still- der Atomkraft auf sie abgewälzt werden. Genau das ist gelegt und zurückgebaut werden. Die radioaktiven Ab- das offensichtliche Ziel der Atomkonzerne: möglichst fälle müssen verpackt, zwischengelagert und in Endlager viel der auf sie zukommenden Kosten auf die öffentli- verbracht werden. Dies wird hohe Kosten verursachen. che Hand abzuwälzen. Die Begründungen dafür wer- Diese Kosten müssen die Betreiber der Kernkraftwerke den derzeit bei jeder Gelegenheit wiederholt: Es sei der tragen. Das ergibt sich aus dem Atomgesetz und ist der Staat gewesen, der den Einstieg in die Atomkraft gewollt Kern des atomrechtlichen Verursacherprinzips. habe – also müsse der auch für die Kosten geradestehen. Der Neustart bei der Endlagersuche werde so viel teu- Dieses Verursacherprinzip ist nicht neu. Es steht schon rer, als wenn man Gorleben fertig gebaut hätte – diese immer im Atomgesetz. Neu ist hingegen die Situation, Mehrkosten seien schon gar nicht den Energiekonzernen die durch den Ausstiegsbeschluss entstanden ist. Für zuzuordnen. Vergessen die Milliarden, die mit den Atom- die Betreiber bedeutet die seit dem Jahr 2011 geltende kraftwerken verdient wurden? Vergessen die immensen Rechtslage, dass einerseits die Einnahmen aus dem Be- Subventionen, mit denen der Staat den Energieversor- trieb der Kernkraftwerke wegfallen und anderseits die gern den Einstieg in die Atomkraft versüßte? Bisher Rückbau- und Entsorgungskosten nun unmittelbar anste- haben die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gezahlt, hen. die Konzerne verdient. Auf dieses gewohnte Muster wol- len die Konzerne nicht verzichten. Dieses Muster wird Um die öffentlichen Haushalte vor fremdverursachten aber nun eines ohne Wert. Die Vereinbarungen, wer den Risiken zu schützen und dem Verursacherprinzip auch Rückbau der Atomkraftwerke und die Endlagerung des langfristig zur Anwendung zu verhelfen, hat die Bundes- Atommülls bezahlt, sind nicht neu, sondern schon lange regierung mit dem „Gesetz zur Nachhaftung für Rück- in Gesetzesform gegossen. Gut, wenn der Staat sich hier bau- und Entsorgungskosten im Kernenergiebereich“ ein nicht erpressen und nicht unter Druck setzen lässt. Gesetzesvorhaben beschlossen, das bestehende Rechts- lücken schließen soll. Gut, dass es als ersten Schritt ein Nachhaftungsgesetz geben wird. Bisher haben wir eine Nachhaftung von fünf Ich möchte Ihnen kurz erläutern, worin wir diese Re- Jahren. Lächerlich angesichts der Zeiträume für Stillle- gelungslücke sehen: Gegenwärtig sind die Betreiber von gung der AKW, Endlagersuche und Endlagerbetrieb. Und Kernkraftwerken in Konzerne eingegliedert. Aufgrund wirkungslos angesichts der Unternehmensaufspaltungen von vertraglichen Vereinbarungen sind die herrschenden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13407

(A) Konzerngesellschaften verpflichtet, für Verbindlichkei- Anlage 10 (C) ten der Betreiber einzustehen. Zu Protokoll gegebene Reden Aber diese Verträge können in der Zukunft geändert und die Konzerne neu strukturiert werden. Nach jetziger zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Rechtslage besteht in der Regel eine befristete Nachhaf- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung tung der Konzerne für die Verpflichtungen der Kernkraft- des Hochschulstatistikgesetzes (Tagesordnungs- werksbetreiber – und zwar für einen Zeitraum von fünf punkt 25) Jahren. Katrin Albsteiger (CDU/CSU): Statistik wird als Diese Frist halten wir für zu kurz, weil die Entsor- die Lehre von Methoden zum Umgang mit quantitativen gungsverpflichtungen voraussichtlich erst im Verlauf der Informationen definiert. Im Allgemeinen also eine sehr nächsten Jahrzehnte anstehen werden. Wir schlagen da- trockene und von den meisten unterschätzte Materie. her mit dem Entwurf eines „Gesetzes zur Nachhaftung Aber die Hochschulstatistik ist für die verschiedenen für Rückbau- und Entsorgungskosten im Kernenergiebe- Bildungs- und Forschungsinstitutionen eine enorm wich- reich“ eine Sonderregelung speziell für diesen Bereich tige Arbeitsgrundlage. Auch für uns politische Entschei- vor. Statt einer allgemeinen Nachhaftung von fünf Jahren dungsträger sind die erhobenen Kennzahlen eine sehr soll nun eine den spezifischen Verhältnissen beim Rück- wichtige Informationsquelle, um die jeweilige politische bau von Kernkraftwerken und der nuklearen Entsorgung Lage besser beurteilen zu können. Den großen Stellen- angemessene Befristung gelten. Wir möchten sie für die- wert, den die Hochschulstatistik genießt, zeigt sich da- sen Bereich erheblich erweitern und bis zum Verschluss ran, dass der Ausschuss für die Hochschulstatistik dem eines zukünftigen Endlagers erstrecken. Es geht also um Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- die gesetzliche Absicherung einer Konzernhaftung für abschätzung regelmäßig einen detaillierten Bericht über den nuklearen Entsorgungsbereich. den Sachstand der Datenlage liefert. Ich möchte aber auch klar aufzeigen, was wir mit dem Die Grundlage dieses Berichts ist das Gesetz, über das Gesetz nicht bezwecken. Das sind vor allem zwei Dinge: wir heute sprechen und das wir als Große Koalition no- Erstens ändert das Gesetzesvorhaben nichts an den ei- vellieren wollen. Der 15. Bericht des Ausschusses für die gentlichen atomrechtlichen Verpflichtungen. Der Gesetz- Hochschulstatistik mahnte ebenfalls an, dass Änderun- entwurf beschränkt sich auf eine Regelung zur Sicherung gen im Gesetz notwendig seien, weil die Bereitstellung der Finanzierung. von steuerungsrelevanten Informationen für die Hoch- schulpolitik, die Hochschulplanung und Hochschulver- (B) Zweitens ändern wir nichts an der unternehmerischen waltung vor dem Hintergrund des Wandels in den Uni- (D) Freiheit der Energieversorgungsunternehmen, sich durch versitäten auch in Zukunft sichergestellt werden muss. gestalterische Maßnahmen weiter zu entwickeln. Eine Dieser Wandel war und ist ja tatsächlich enorm. Vermögenssicherung dergestalt, dass konkrete Vermö- gensgegenstände für eine Haftung der Entsorgungsver- Der Reformprozess – nach Beginn des Bologna-Pro- bindlichkeiten zugeordnet werden, bezweckt das Geset- zesses und der damit einhergehenden Einführung der ge- zesvorhaben nicht. stuften Studiengänge – hat sich rasant entwickelt und ist bereits weit vorangeschritten. Das Hochschulstatistikge- Dieses Gesetzesvorhaben ist zeitkritisch. Wir wollen setz in der jetzigen Fassung kann aber die jetzige Situati- erreichen, dass es noch in diesem Jahr in Kraft tritt, da- on an den deutschen Hochschulen nicht mehr genügend mit wir nicht noch auf den letzten Metern von betroffe- abbilden. Insbesondere Daten zu Übergängen zwischen nen Konzernen vor vollendete Tatsachen gestellt und mit dem Bachelor- und Masterstudium sowie über den Stu- Rückwirkungsfragen konfrontiert werden. Der Bundes- dienerfolg und den Studienabbruch werden als Grundla- rat hat diese Eilbedürftigkeit bei der Terminierung seiner ge für die ressourcenschonende Planung von Kapazitäten Beratungen berücksichtigt. Wenn wir es hier im Bundes- sowie für Steuerungsaufgaben im Hochschulbereich be- tag genauso halten und umgehend in die Ausschussbera- nötigt. tungen einsteigen, ist ein rechtzeitiges Inkrafttreten vor Ende dieses Jahres erreichbar. Durch die Verlängerung des Hochschulpaktes bis 2023 wird sich der Bund mit zusätzlich mit 9,9 Milliar- Für weitergehende Fragen und eine umfassende den Euro beteiligen. Bei dieser richtigen, aber auch sehr Überprüfung der Finanzierung der nuklearen Entsor- großen finanziellen Beteiligung des Bundes muss sich gungslasten hat die Bundesregierung die Kommission diese Investition aber auch auszahlen. Wir wünschen uns zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieaus- wenige Studienabbrecher; das heißt, das Geld sollte auch stiegs – kurz: KFK – eingesetzt. Sie soll bis Frühjahr zielgenau investiert werden. Ob all die Instrumente und nächsten Jahres hierzu Empfehlungen entwickeln. Einige eingesetzten Mittel wirksam sind, werden uns die Daten, von Ihnen sind ja Mitglieder der Kommission und wer- Fakten und Hintergrundinformationen künftig besser sa- den zu ihrem Gelingen beitragen. gen können. Ich glaube, dass wir mit dem Gesetzentwurf zur Kon- Auch bei vielen anderen Programmen, bei denen wir zernnachhaftung einen wichtigen ersten Schritt zur Si- uns als Bund engagieren, wie beispielsweise der Exzel- cherstellung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs lenzinitiative oder dem Qualitätspakt für Forschung und setzen. Er ist – ich will es noch einmal betonen – eilbe- Lehre, müssen wir wissen, ob die Beteiligung des Bundes dürftig. trägt. Das novellierte Hochschulstatistikgesetz wird uns 13408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) dabei eine sehr gute Arbeitsgrundlage sein. Schließlich Hochschule verlassen oder etwa das Studienfach ge- (C) wird auch die Qualifikationsphase nach dem Hochschul- wechselt haben. Diese Wissenslücken wollen wir schlie- abschluss nach erfolgreicher Novellierung abgebildet. ßen. Zugleich müssen wir die Statistik anpassen, um un- sere Lieferpflichten gegenüber der EU für internationale Erstmals wird eine Verlaufsstatistik vom ersten Hoch- Statistiken erfüllen zu können. schulsemester bis zum Studienabschluss einschließlich der Promotionsphase eingeführt. Dabei wird ein Ver- Hier setzt die Novelle des Hochschulstatistikgesetzes schlüsselungsverfahren verwendet, das mit datenschutz- an. Lassen Sie mich wesentliche Verbesserungen in den rechtlichen Anforderungen vereinbar ist. Die Einführung drei Haupt-Themenbereichen skizzieren: dieser Promovierendenstatistik ist neben der Novellie- rung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und dem Erstens wird es künftig eine Verlaufsstatistik vom Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nach- ersten Hochschulsemester bis zum Studienabschluss ge- wuchses ein wichtiger Baustein, der uns helfen wird, ben. Die Hochschulen werden in jedem Semester Infor- in Zukunft die Verbesserung der Situation des wissen- mationen über Fachwechsel, Abbrüche und Übergänge schaftlichen Nachwuchses voranzutreiben. zwischen Bachelor- und Masterstudium semesterweise Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der uns statistisch erfassen. Dabei werden die Daten aller Studie- vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung zu be- renden individuell erfasst, aber so sicher verschlüsselt, grüßen ist. Erstens verfügt die Wissenschaftspolitik nun dass damit die Datenschutzvorgaben sicher eingehalten über eine verbesserte Datenlage zu Übergängen zwi- werden können. Wir erhalten damit erstmals belastbare schen dem Bachelor- und Masterstudium sowie über den Daten zur Abbildung von Studienabbrüchen und zum Studienerfolg und den Studienabbruch. Wir haben somit Studienerfolg, aber auch zu internationaler Mobilität und erstmals Informationen über den Ablauf eines Studiums, Wanderungsbewegungen der Studierenden. sowie eines Fach- oder Hochschulwechsels. Zweitens wird mit der Novelle eine Promovierendenstatistik ein- Der zweite Bereich betrifft die Erfassung des wissen- geführt. Dieser bisherige Graubereich kann jetzt sehr ge- schaftlichen Nachwuchses. Hier ist die Datenlage bislang nau abgebildet werden. dürftig. Dies soll sich ändern durch eine neue Promovie- rendenstatistik. Die erfassten Daten werden aber leider Die Novellierung des Hochschulstatistikgesetzes fügt nur einen Teil der Promovierenden abbilden können – sich daher uneingeschränkt in die guten Maßnahmen die- eine lückenlose Erfassung kann nicht gewährleistet wer- ser Regierung im Bereich Bildung und Forschung ein. den. Ursächlich hierfür ist die mangelhafte verbindliche Regelung für die Meldung von Promovierenden. Wün- schenswert wäre deshalb die Schaffung eines eigenen (B) Oliver Kaczmarek (SPD): Seit der Bologna-Reform (D) und der Einführung von Bachelor- und Masterstudien- hochschulrechtlichen Status für Promovierende, der eine gängen vor über zehn Jahren haben sich Studienverläufe kontinuierliche Meldung der Promovierenden beinhaltet. stark gewandelt. Zunehmende Autonomie der Hochschu- Das liegt jedoch in Länderzuständigkeit und kann des- len, Diversifizierung der Studierendenschaft, neue Auf- halb nicht durch das Hochschulstatistikgesetz geliefert gabenfelder der Hochschulen wie Weiterbildung schaf- werden. fen Bedarf für mehr und bessere Informationen zum Studienverlauf. An dritter Stelle steht die Aufnahme sozialer Merk- male in den Datenkatalog – selbstverständlich so wie Die bestehende Hochschulstatistik erfasst diese neuen alle erhobenen Daten vollständig anonymisiert. Daten Herausforderungen noch nicht ausreichend. Wir können zur Bildungsherkunft etwa werden bislang nicht erfasst, uns aber bei wichtigen hochschulpolitischen Entschei- können aber dazu beitragen, das zielgruppenspezifische dungen nicht allein auf repräsentative Befragungen oder Angebot an den Hochschulen zu verbessern. Dadurch Forschungsprojekte berufen. Die amtliche Statistik muss werden bewährte Erhebungen wie etwa die Sozialerhe- für die modernen Anforderungen fit gemacht werden. Sie bung des Deutschen Studentenwerkes nicht ersetzt, aber ist ein unverzichtbarer Datenpool, der Aufschluss über es wird eine zusätzliche solide Datenbasis geschaffen, die die Situation an den Hochschulen liefert und für die Poli- auch für wissenschaftliche Zwecke hilfreich sein kann. tik unverzichtbares Steuerungswissen bereitstellt. Mit den durch die Novelle des Hochschulstatistik- Auf diesem Weg haben wir als Politik nicht nur Ent- gesetzes gewonnenen, zusätzlichen Informationen sind scheidungsgrundlagen, sondern werden auch von Zeit Steuerungsinstrumente von Politik, Hochschulen und zu Zeit über die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnah- Verwaltung gezielter einsetzbar – und an die Bedürfnis- men informiert. Hochschulstatistik ist deshalb weder Ni- se der Studierenden anpassbar. Die Weiterentwicklung schen- noch Spezialistenthema. Hochschulstatistik liefert ist somit ein richtiger und konsequenter Schritt, der die neben den normativen bildungspolitischen Vorstellungen notwendige Voraussetzung schafft zur Verbesserung von ein empirisches Grundgerüst für die Weiterentwicklung der Hochschulpolitik! Lehre und Forschung. An dieser Stelle gilt deshalb schon einmal der Dank denjenigen Statistikexperten aus dem Derzeit wissen wir noch zu wenig über die Auswir- Bund und den Ländern, die die Novelle in detaillierter kungen der Veränderungen an den Hochschulen. So wis- Vorarbeit vorbereitet haben. Wir können diese sehr gute sen wir beispielsweise lediglich, dass im vergangenen Vorlage im Gesetzgebungsverfahren gut verwerten und Jahr 28 von Hundert Bachelorstudierenden ihr Studium damit schon bald für mehr Transparenz hochschulpoliti- abgebrochen haben. Unklar bleibt, ob sie tatsächlich die scher Entscheidungen sorgen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13409

(A) Martin Rabanus (SPD): Eine verlässliche und objek- Mit diesen und anderen Fragen werden uns aber sicher (C) tive Hochschulstatistik ist nach meiner Auffassung eine auch im parlamentarischen Verfahren noch beschäftigen, unverzichtbare Basis für bildungspolitische Entschei- und darauf freue ich mich. dungen. Wegen der föderalen Struktur unseres Staates gilt dies umso mehr, da die Entscheidungsträger in Bund Nicole Gohlke (DIE LINKE): Wir diskutieren heute und Ländern für ihre Beratungen und Entscheidungen auf die von der Bundesregierung geplanten Änderungen im neutral und objektiv erhobene Daten angewiesen sind. Hochschulstatistikgesetz. In der Begründung des Gesetz- entwurfs heißt es: „Die Hochschullandschaft hat sich seit Bevor ich zu den aus meiner Sicht wichtigsten Aspek- der Einführung der gestuften Studiengänge grundlegend ten des Gesetzentwurfs komme, möchte ich aber auch verändert und kann mit dem geltenden Hochschulsta- Danke sagen. Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kol- tistikgesetz nicht mehr hinreichend abgebildet werden. legen in den Hochschulen, den statistischen Landesäm- Insbesondere Daten zwischen dem Bachelor- und dem tern und im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden, die Masterstudium werden als Grundlage für die Planung mit großer Sorgfalt und viel Engagement in der Sache von Kapazitäten im Hochschulbereich benötigt.“ die Hochschulstatistik erstellen und uns eine wichtige Grundlage für unsere Arbeit liefern. Und ich danke all Zu dieser Erkenntnis muss man der Bundesregierung denjenigen, die bei der Entwicklung des Gesetzentwurfs ja wirklich gratulieren – ganze 16 Jahre nach der Ein- mitgewirkt haben, denn er enthält tatsächlich entschei- führung der Bologna-Reform. Angesichts dessen hätte dende Verbesserungen. die Forderung nach einer Veränderung im Hochschul- statistikgesetz wohl schon etwas früher kommen müs- In der Vergangenheit haben wir immer wieder festge- sen. Insgesamt hört es sich so an, als mache es sich die stellt, dass die Hochschulstatistik nicht ausreicht, nicht Bundesregierung mal wieder leicht und das fehlende Da- alle Daten bereithält, die wir benötigen. Dies betrifft aus tenmaterial für den seit Jahren anhaltenden Mangel an meiner Sicht in erster Linie die Studienverlaufsstatis- Studienplätzen verantwortlich. Wenn sie nur das richtige tik, die wir mit diesem Gesetzentwurf einführen wollen. Datenmaterial zur Verfügung gehabt hätte, dann wären Denn bisher wissen wir nicht viel über die Bewegungen ausreichend Studienkapazitäten an den Hochschulen der Studierenden im Hochschulsystem. Ist jeder gezählte geschaffen worden und dann gäbe es auch ausreichend Studienabbruch tatsächlich ein Abbruch, der schnell als Masterstudienplätze? ein Scheitern im System gewertet wird? Oder ist es „nur“ ein Fach- oder ein Ortswechsel? Dem kann ich nur entgegenhalten: Die Aussetzung der Wehrpflicht und die doppelten Abiturjahrgänge wa- Das können wir in Zukunft präzise nachzeichnen. Wir ren auch ohne die Veränderungen in der Hochschulsta- (B) erhalten die Informationen über Fachwechsel, Abbrüche tistik absehbar und planbar – dass dem so ungenügend (D) und Übergänge vom Bachelor zum Master sowie vom begegnet wurde, ist schlicht politisches Versagen. Die Master zur Promotion. Und wir können feststellen, bei erhöhte Studierneigung wäre aber auch mit den Mitteln welcher Hochschule welche Ausprägungen in besonde- der Hochschulstatistik nicht vorhersehbar gewesen, denn rer Weise stattfinden. Das liefert auch den Hochschulen auch eine Statistik für die aktuell Studierenden lässt ei- eine hervorragende Datenlage, auf der sie eigene Evalu- nen nicht in die Zukunft schauen. Dies sollten Sie zumin- ierungsprozesse aufsetzen können. Die Studienverlaufs- dest einmal bedenken, bevor Sie sich jetzt so beherzt an statistik wird uns viele wertvolle Erkenntnisse liefern. die Änderungen der Hochschulstatistik machen.

Zwei Punkte aus dem Gesetzentwurf möchte ich noch Und ich frage mich: Wenn bereits jetzt erhobene Daten hervorheben: nicht zu politischer Aktivität führen, warum müssen wir dann noch mehr erheben? Bereits jetzt wird zum Beispiel Erstens werden wir eine Promovierendenstatistik auf- immer wieder festgestellt, dass die soziale Selektivität im nehmen. Auch das ist neu, auch ist es ein echter Gewinn hiesigen Hochschulsystem enorm ist. Doch diesen Er- an Erkenntnis, auch wenn es vor allem auf Anforderun- kenntnissen folgten doch bislang kaum Taten. Ich frage gen der Europäischen Union zurückzuführen ist. Aber mich wirklich, warum noch mehr Daten erhoben werden natürlich ist es gerade für die strategische Steuerung sollen, wenn schon die vorhandenen nicht genutzt wer- unserer Bemühungen um den wissenschaftlichen Nach- den. Daten alleine bringen keine Lösung der Probleme! wuchs hilfreich – ich nenne beispielhaft die Förderung Insgesamt suggeriert der Gesetzentwurf, die beste- von Frauen in der Wissenschaft und das Stichwort In- henden Probleme in den Bereichen Internationalisierung, ternationalisierung – hier zukünftig auf eine gesicherte Mobilität, Studienverlauf, Beschäftigungsverhältnisse, Datenbasis zurückgreifen zu können. Heterogenität der Studierendenschaft, Diversität, etc. lösen zu können. Ich sage Ihnen eines: Wenn die Hoch- Zum Zweiten weise ich auch auf die Schaffung der schulen endlich bedarfsgerecht ausfinanziert wären, zentralen Auswertungsdatenbank hin. Denn natürlich müssten viele der Daten, die Sie jetzt neu in das Hoch- sind die Daten nicht Selbstzweck, sondern müssen ver- schulstatistikgesetz aufnehmen wollen, gar nicht erst er- nünftig recherchierbar und vor allem aggregierbar sein, hoben werden. Das wäre doch mal ein Handlungsansatz! sonst sind Erkenntnisse daraus nicht möglich. Und der Zugriff auf die und der Umgang mit den Daten muss na- Des Weiteren gewähren die vorgesehenen Maßnah- türlich auch unseren hohen Anforderungen an den Daten- men zu Anonymisierung und Pseudonymisierung in dem schutz genügen. Das letztere ist aus Sicht der SPD-Bun- Gesetzentwurf aus unserer Sicht nicht das notwendige destagsfraktion unabdingbar. Maß an Datenschutz der einzelnen Personen. Zukünftig 13410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) soll es nicht nur den einzelnen Hochschulen ermöglicht Wir begrüßen auch, dass mehr Informationen über die (C) werden, persönliche Profile von ihren Studierenden zu Hochschulleitungen erfasst werden, damit das Monito- erstellen, sondern ebenso Bund und Ländern – und dann ring zur Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft sogar von allen Studierenden in Deutschland. besser stattfinden kann. Und zu guter Letzt wird immer wieder argumentiert, Außerdem begrüßen wir ausdrücklich, dass der dass man die Hochschulstatistik an die erforderlichen Migrationshintergrund nun besser erfasst werden kann. Daten von Eurostat anpassen müsse. Nach meinem Durch das Erhebungsmerkmal „weitere Staatsangehö- Kenntnisstand müsste man lediglich einen Punkt zur Mo- rigkeit“ werden vor allem junge Menschen, die aufgrund bilität von Studierenden in der bisherigen Hochschulsta- des „Optionsmodells“ mit ihrem 23. Geburtstag eine tistik ersetzen, um dies zu erfüllen. Alle anderen Anfor- Entscheidung treffen müssen, besser erfasst. Doppel- derungen wären mit der bisherigen Erhebung von Daten staatlichkeit wird damit von der gesellschaftlichen Wirk- bereits lieferbar. lichkeit endlich auch zur statistisch abbildbaren Größe. Daten hin oder her, letztendlich kommt es auf den po- Bisher ist es so: Vor dem Stichtag werden sie als al- litischen Willen an, Probleme frühzeitig und mit adäqua- lein „deutsch“ geführt. Nach dem Stichtag, wenn sie sich ten Mitteln entgegenzuwirken. Anhand verschiedener für die andere Staatsbürgerschaft entscheiden, als allein Beispiele zum Beispiel beim Zulassungschaos zeigt sich „ausländisch“. Dieser spurenlose Wechsel macht ihre allerdings, dass die Bundesregierung offenbar gar nicht „Bildungssozialisation“ unkenntlich. Die bevorstehende an der Lösung dieser Probleme interessiert ist. Mit dem Aufnahme des Erhebungsmerkmals „weitere Staatsange- Hochschulstatistikgesetz wird eine Schaufensterpolitik hörigkeit“ in der Hochschulstatistik ist aus bildungspoli- betrieben, um Problembewusstsein und Handlungsfähig- tischer Perspektive zwingend notwendig, damit sichtbar keit vorzutäuschen. wird, ob wir die angestrebte hohe Bildungsbeteiligung aller gesellschaftlichen Schichten tatsächlich erreichen. Diese Sammelwut an Daten ist mit der Linken nicht Nicht zuletzt ist ebenfalls erfreulich, dass laut Gesetz- machbar. entwurf für die Statistik die ohnehin von den Hochschu- len erfassten Verwaltungsdaten genutzt werden können. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zur Das wäre eine Verbesserung in doppelter Hinsicht: Für Geisterstunde beraten wir heute den Regierungsentwurf mehr Daten ist nicht mehr Bürokratie nötig, weil diese für eine Novelle des Hochschulstatistikgesetzes. Ich Daten schon erfasst worden sind. Und wenn sie nur noch freue mich, dass die Regierung endlich ihre Änderungs- übertragen werden müssen, stehen sie sicher schneller vorschläge zur Debatte stellt. Denn es ist schon zweiein- zur Verfügung. (B) halb Jahre her, dass der Ausschuss für Hochschulstatistik Zurzeit diskutieren wir die Reform des Wissenschafts- (D) klargemacht hat, an welchen Stellen und wie die Hoch- zeitvertragsgesetzes. Wir hoffen, dass das Erweitern des schulstatistik verbessert werden muss, um für politische Merkmalskatalogs zum wissenschaftlichen Personal und Entscheidungen eine bessere Datengrundlage bereitzu- das Aufnehmen aller Promovierenden dazu führen, dass stellen. wir alle ein noch besseres Bild über die Situation des wis- Wir teilen das Ziel des Gesetzes, Politik und Verwal- senschaftlichen Nachwuchses bekommen. Dies leistet tung – also Parlamenten und Ministerien –, genauere Da- auch die geplante Erfassung der „Art der Qualifizierungs- ten bereitzustellen, um die dynamische Entwicklung der position“. Damit können die unterschiedlichen Karrie- Hochschullandschaft und die Wirkung von politischen rewege und -verläufe des wissenschaftlichen Nachwuch- Entscheidungen abbilden zu können. Zahlreiche Verän- ses abgebildet und analysiert werden. So werden die derungen gab es in den letzten Jahren, aber bei vielen seit den rot-grünen Reformen Anfang der 2000er-Jahre Fragen scheitert die Antwort an fehlenden Daten: Wie hat differenzierten Qualifikations- bzw. Karrierewege von sich die Bologna-Reform ausgewirkt, zum Beispiel der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Übergang vom Bachelor-Studium in den Master? Wie wie etwa die Juniorprofessur und die Nachwuchsgrup- haben und müssen sich Lehrkapazität und Lehrinhalte penleitungen in der Statistik etabliert. entwickeln, wenn es mehr Studierende der ersten Gene- Trotz dieser vielen sinnvollen Änderungen muss auch ration gibt oder auch mehr mit beruflicher Qualifikation? diese Gesetzesnovelle einem kritischen Blick unterzogen Nicht zuletzt haben sich auch die Lieferverpflichtungen werden. Mit den Ländern diskutiert die Bundesregierung gegenüber Eurostat – dem statistischen Amt der Europä- derzeit noch über die zentrale Auswertungsdatenbank. Es ischen Union – verändert. Dem trägt die Novelle Rech- ist gut, dass das Gesetz die notwendige rechtliche Grund- nung. Mit ihr dürfte sich arbeiten lassen. lage schafft für eine zentrale Auswertungsdatenbank. Denn die kann und soll die flexible und zeitnahe Erstel- Wir begrüßen die Einführung einer Studienverlaufs- lung von Standard- und Sonderauswertungen sichern. statistik. Diese haben wir politisch mehrmals eingefor- dert. Sie beseitigt unter anderen eine große Wissenslü- Allerdings haben die Länder im Bundesrat diese Re- cke – die über den Studienabbruch. Bisher gab es keine gelung mehrheitlich kritisiert: Aus ihrer Sicht muss die Chance, einen echten Abbruch zu unterscheiden vom zentrale Auswertungsdatenbank nicht zwingend beim bloßen Wechsel des Studienfachs oder des Studienortes. Statistischen Bundesamt angesiedelt sein. Stattdessen Die Studienverlaufsstatistik ermöglicht das. Auch kön- sollen darüber nach geübter Praxis die Statistikämter nen damit endlich auch die gestuften Studiengänge Ba- entscheiden und das per Verwaltungsvereinbarung festle- chelor/Master und die Promotionsphase erfasst werden. gen. Das sollten wir diskutieren, denn es gibt Argumente Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13411

(A) dafür. Die Statistikämter haben unterschiedliche Schwer- schulwechsel. Die Übergänge vom Bachelor zum Master (C) punktkompetenzen, sodass durchaus fachliche Gründe sowie zur Promotion können dargestellt werden. Studi- bestehen können, warum ein Landesamt für die Hoch- enabbrüche und Studienerfolge werden umfassend und schuldaten zuständig sein sollte. vor allem zeitnah abgebildet. Warum ausgerechnet die Bundesregierung so darauf Zweitens. An dieser Stelle will ich einen sensiblen pocht, dass die zentrale Auswertungsdatenbank beim Punkt ansprechen, auf den die Datenschützer zu Recht Statistischen Bundesamt angesiedelt sein muss, über- immer wieder hingewiesen haben: Um Studienverläufe rascht ein wenig. Denn die Regierung und allen voran genau beschreiben zu können, ist es notwendig, perso- Bundesbildungsministerin Wanka waren in der Vergan- nenbezogene Daten miteinander zu verknüpfen. In enger genheit nie müde zu betonen, dass die Hochschulen Län- Zusammenarbeit mit der Bundesbeauftragten für den derangelegenheit seien. Datenschutz und die Informationsfreiheit fiel daher die Entscheidung für ein Verschlüsselungsverfahren, das den Vielleicht ist über die Debatte zur Erarbeitung der hohen datenschutzrechtlichen Anforderungen Stand hält. Hochschulstatistikgesetz-Novelle die Einsicht gewach- Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich für die sen, dass der Bund eine stärkere Rolle bei der Weiter- gute und konstruktive Zusammenarbeit. entwicklung von Hochschulen spielen sollte. Wir unter- stützen gerne dabei, die richtigen Schlüsse aus neuem Drittens: Wichtiges Ziel der Hochschulpolitik ist, Steuerungswissen zu ziehen. Nur Daten an Eurostat zu dass die Studierenden international mobiler werden. Die übermitteln, wäre nicht unser Verständnis einer aktiven Hochschulstatistik erfasst künftig auch die Auslandsmo- Wissenschaftspolitik. bilität besser als bisher. Viertens: Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist, Stefan Müller, Parl . Staatssekretär bei der Bundes- die Bedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs ministerin für Bildung und Forschung: Politik muss sich zu verbessern. Deshalb soll eine Promovierenden-Sta- immer wieder neu an den Bedarfen der Gesellschaft ori- tistik eingeführt werden. Merkmale wie beispielsweise entieren – das gilt für alle Bereiche und besonders auch Bildungsabschlüsse und Vorqualifikationen bei der Erst- für Deutschlands Rolle als Wissenschaftsstandort. berufung zur Professur erlauben künftig Analysen von Die Hochschulen stehen vielfältigen Herausforderun- Qualifizierungs- und Karrierewegen. Dies sind - unver gen gegenüber: Die Bologna-Reform hat die Studiengän- zichtbare Informationen, wenn wir eventuell bestehende ge grundlegend reformiert. Mit dem Hochschulpakt und Hürden im wissenschaftlichen Werdegang beseitigen und der Exzellenzinitiative haben wir neue und erfolgreiche den Übergang an den Schnittstellen der Wissenschafts- Instrumente geschaffen. Eine evidenzbasierte Wissen- karriere optimieren wollen. (B) (D) schaftspolitik ist dabei selbstverständlich geworden. Da- Fünftens. Wir sind verpflichtet, Daten an Eurostat zu für brauchen wir zuverlässige Daten auf der Grundlage liefern. des Hochschulstatistikgesetzes. Dieses Gesetz wurde vor 25 Jahren zum letzten Mal wesentlich geändert. Die Sechstens. Nicht nur für die staatlichen und privaten Folge liegt auf der Hand: Das Gesetz kann heute seiner Hochschulen, auch für die Berufsakademien müssen Aufgabe nicht mehr gerecht werden. nach der EU-Verordnung Daten geliefert werden. Hierfür schaffen wir jetzt die gesetzliche Grundlage. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie hoch genau die Zahl der Studienabbrecher ist, wie die Übergänge vom Mit der Novellierung wird darüber hinaus die rechtli- Bachelor- zum Masterstudium aussehen, wie sich die che Basis geschaffen, ein zentrales Auswertungssystem Auslandsmobilität der Studierenden entwickelt, wie viele aufzubauen. So können die sehr umfangreichen Daten Promovierende es an den Hochschulen gibt und welche aus der Hochschulstatistik noch umfassender, schneller, Qualifizierungswege der wissenschaftliche Nachwuchs flexibler und kostengünstiger genutzt werden. einschlägt. Bei all diesen Überlegungen war uns wichtig, die Ar- Die dazu regelmäßig veröffentlichten Daten stammen beitsbelastung für die Datenlieferanten in Grenzen zu aus gesonderten Studien und sind von daher unvollstän- halten. Daher konzentrieren wir uns überwiegend auf dig und nur schwer miteinander vergleichbar. Dies wird Verwaltungsdaten, die den Hochschulen bereits vorlie- mit dieser Novelle anders. Darüber hinaus bestehen Lie- gen, und streichen die Personalstellenstatistik und die ferverpflichtungen nach EU-Recht, für die wir eine nati- Gasthörerstatistik. onale gesetzliche Grundlage brauchen. Ich denke, dies ist in jeder Hinsicht eine ausgewogene Bundes- und Ländervertreter haben vor diesem Hin- Gesetzvorlage, die allen Interessen entgegenkommt. tergrund gemeinsam mit Vertretern von Hochschulen und Verbänden im Ausschuss für die Hochschulstatistik Vorschläge für die Novellierung des Hochschulstatistik- Anlage 11 gesetzes erarbeitet. Diese Vorschläge waren die Basis für den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung. Zu Protokoll gegebene Reden Vier wesentliche Elemente der Änderung sind: zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Erstens. Die Einführung einer Studienverlaufssta- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- tistik. Erstmalig erhalten wir damit Informationen über derung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsge- den genauen Ablauf des Studiums, über Fach- und Hoch- sellschaftsgesetzes (Tagesordnungspunkt 26) 13412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) Reinhold Sendker (CDU/CSU): In der Haushalts- das, was Sie wollen, liebe Kollegin Willms. Dann gehen (C) bewirtschaftung unserer Verkehrsprojekte hat sich in wir doch gemeinsam diesen Weg! den letzten Jahren Bemerkenswertes getan: In 2011 die Einführung des Finanzkreislaufes Straße, im Ergebnis Wenn wir schon nicht beim Thema ÖPP zusammen- mit deutlich mehr Transparenz und folglich mit mehr kommen, dann eben hier bei der VIFG! Im Ergebnis Akzeptanz. In dieser Wahlperiode nun die Herstellung bringt das neue System nicht nur mehr Information und der Überjährigkeit, nun der Wendepunkt zum Investiti- Controlling. Das ist alles in allem ein deutliches Plus an onshochlauf, und schließlich die Stärkung der Nutzerfi- Haushaltswahrheit und -klarheit, also eine Stärkung des nanzierung durch unsere Koalition. Das sind ganz her- Parlaments, und die lassen Sie uns heute gemeinsam be- ausragende Botschaften für unsere Verkehrsanlagen in schließen! Deutschland! Nach meinem Wissenstand befindet sich die VIFG Im Übrigen eine starke Momentaufnahme zur Halbzeit nach einigen Testläufen auch in der Lage, die Verände- unserer Koalition, und liebe Kolleginnen und Kollegen rungen schnell umzusetzen. Man rechnet wohl bei der in den Koalitionsfraktionen: Diese Erfolge hätten doch Durchführung des „Zahlungsverkehrs Bundesfernstra- schon längst auch den Beifall der Opposition verdient! ßen“ über das neue System für das kommende Jahr mit rund 500 000 Buchungen. Im Vergleich zu 2015 verzehn- Nun kommt ein weiterer Baustein hinzu: nämlich die facht sich damit die Gesamtzahl der Geschäftsvorfälle. Komplettbewirtschaftung aller Mittel des Bundesfern- Diese gewaltige Erhöhung erklärt sich auch durch die straßenausbaus durch die Verkehrsinfrastrukturfinan- Übernahme der Betriebsdienste. Exakt dafür benötigt die zierungsgesellschaft (VIFG). Das heißt Bau, Erhalt und VIFG lediglich drei zusätzliche Vollzeitkräfte. Diese ex- Betrieb der Bundesfernstraßen sollen zukünftig über das zellente Vorbereitung und das erhöhte Aufgabenvolumen Finanzmanagementsystem der VIFG – bewirtschaftet schultert die VIFG mit nur wenig mehr an Personal und werden. Unsere VIFG ist ja schon einige Jahre sehr er- ich denke genau das verdient an dieser Stelle auch einmal folgreich und vor allem kompetent in der Abwicklung Dank und Anerkennung! der Straßeninvestitionsprojekte unterwegs, sprich in der Bewirtschaftung der LKW-Maut. Und noch ein Positivum: Denn der Bund wird zu- künftig auch seine Verantwortung für die Finanzierung Insgesamt hat der Bund im Jahr 2014 rund 5,5 Milli- der Straßenbaulast und Fachaufsicht gegenüber den Auf- arden Euro in die Bundesfernstraßen investiert. Davon tragsverwaltungen umfassender wahrnehmen können. wurden 3,4 Milliarden Euro über die VIFG abgewickelt. Der hier häufig zitierte Bundesrechnungshof fordert ja Beteiligte des Systems sind alle Bundesländer sowie die schon länger dazu auf, eine umfassendere Fachaufsicht Projektgesellschaft Deutsche Einheit. Das Finanzma- auszuüben. Dem kommen wir nun ausdrücklich nach. (B) nagement der VIFG ermöglicht nun auch für die Gesamt- (D) betrachtung tagesaktuelle Berichte der Mittelverwendung Und auch die Arbeitsebene der Länder steht dem und weitere Infos über unseren Verkehrsinvest mit Blick Entwurf durchaus positiv gegenüber. So zum Beispiel auf ihre die Auswertungsmöglichkeiten: je Maßnahme, je kann man eine Entlastung bei der Erstellung der Verwen- Bundesland, je Amt, je Kreditor, für diverse Zeiträume, dungsnachweise erwarten. Fast alle Landesbauverwal- und dergleichen mehr. Das ist die Transparenz, die wir tungen sind doch bei zu wenig Fachpersonal teils völlig uns wünschen, das ist zukunftsfähige Verkehrspolitik für überlastet. Und es ist richtig: Für unsere Bauverwaltun- unser Land. gen ergibt sich durch das neue System zunächst auch noch ein Umstellungsaufwand, mittel- und langfristig Gegenwärtig bestehen noch zwei Abrechnungssys- aber eine deutliche Entlastung. Also ohne Zweifel ein teme: Ein Teil der Mittel wird über die VIFG abgewi- Kraftakt für alle Beteiligten, aber er lohnt sich auch für ckelt, die restlichen Mittel werden bekanntlich über das alle. Mehr Transparenz im Bundeshaushalt, das ist unser HKR-Verfahren des Bundes bewirtschaftet. Dieses Ne- aller Anliegen. Mit diesem Gesetzentwurf erweisen wir beneinander der Systeme wollen wir nun im Ergebnis diesem Ziel einen großen Dienst. Deshalb bitte ich Sie mit deutlich mehr Transparenz auflösen. Die Finanzie- alle um Ihre Zustimmung hier und heute in zweiter und rung und Bewirtschaftung der Bundesfernstraßen wird dritter Lesung. ab 2016 also konsistent und vollständig innerhalb eines Bewirtschaftungssystems ausgewiesen. Mit dem Haus- Wie lautet doch das Logo der VIFG: „Wir bahnen halt 2016 weisen wir daher im Einzelplan 12 nicht mehr Wege!“. Und für diese neuen Wege stellen wir heute die die Maut- und Steuermittel getrennt aus, sondern in ei- Ampel auf grünes Licht. nem gemeinsamen Titel. Sebastian Hartmann (SPD): Die Verabschiedung Und mit der Komplettbewirtschaftung durch die des VIFG-Änderungsgesetzes ist ein Meilenstein auf VIFG können ferner der Politik, dem Bund und den Auf- dem Weg zu einer transparenten, nachvollziehbaren In- tragsverwaltungen der Länder Daten für unterschiedliche frastrukturfinanzierung im Bundesstraßenbau. Informationsbedürfnisse bereitgestellt werden. Regie- rung und Parlament erhalten zukünftig weitere Optionen, Gemäß dem Beschluss des Haushaltsausschusses Ende auch vermehrt betriebswirtschaftliche Elemente nutzen 2014 werden ab dem Haushaltsjahr 2016 im Kapitel 12 zu können. Grundlage dafür ist das Finanzmanagement die einzelnen Straßenbautitel umorganisiert, sodass aus der VIFG, das auf einer betriebswirtschaftlichen SAP den bisher getrennt behandelten Titeln für ÖPP-Projekte Software basiert. Ein echter Fortschritt also! Die Option und solchen in Durchführung der öffentlichen Hand ein betriebswirtschaftlicher Betrachtungen, das ist ja auch gemeinsamer Titel 1201 geworden ist. Damit in Zukunft Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 13413

(A) Verwaltung und Controlling beider Finanzierungssyste- Ich habe nichts gegen ein einheitliches Finanzmanage- (C) me im selben Finanzmanagementsystem zusammenge- mentsystem für alle Bundesfernstraßen. Ich habe aber führt werden können, verabschieden wir dieses Gesetz. etwas dagegen, dass dies eine Gesellschaft übernehmen Das FMS der VIFG leistet genau dies: Es schafft eine soll, die sich als Kompetenzzentrum für ÖPP bezeichnet. gemeinsame Basis zur Vergleichbarkeit der Zahlungs- Deshalb freue ich mich auch sehr darüber, dass der Bun- ströme im konventionellen wie im ÖPP-Straßenbau, und desrat ähnliche Bedenken hat wie wir. es verschafft dem Parlament dabei entscheidende Vortei- le bezüglich der Nachvollziehbarkeit und der politischen Denn – Sie können das leugnen, solange sie wollen – Steuerungsgewalt für den Straßenbau des Bundes. dieses Gesetz ist ein weiterer Schritt hin zu einer Bundes- fernstraßengesellschaft. Ein erster großer Schritt war der Vergleichbarkeit von konventioneller Beschaffung sogenannte „Finanzierungskreislauf Straße“, weswegen von Infrastruktur und ÖPP ist hier das Stichwort: Wir seit 2011 aus den Mauteinnahmen nur noch Straßenbau greifen bislang vor einer Projektentscheidung auf die finanziert wird. 2016 nun folgt ein weiterer Schritt mit Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen zurück, doch dies ist der einheitlichen – schon mal ausgelagerten – Mittelver- ja eine Prognoseentscheidung. Der dafür benötigte Da- waltung. tenraum wird durch die heutige Entscheidung für dieses Gesetz deutlich verbessert. Stellen wir in Zukunft die Va- Vorbild aller Überlegungen für eine solche Gesell- rianten auch im Zahlungsstrom und damit unter realen schaft ist die österreichische ASFINAG. Dabei gibt es Bedingungen nebeneinander! aber einen entscheidenden Unterschied. Die ASFINAG macht kein ÖPP, sie lehnt es soagr rundheraus ab. Es gab Die Auftragsverwaltungen der Länder haben bei der ein einziges derartiges Projekt bei der ASFINAG – und Vorbereitung des Software-Einsatzes der VIFG große das reichte dieser. Die VIFG hingegen verwaltet nur die Flexibilität bewiesen. Wenn am 1. Januar die Umstellung Mauteinnahmen – und ist ansonsten eben „Kompetenz- vom bisherigen HKR-System zur Datenerfassung im zentrum“ für ÖPP. Deswegen wird die VIFG niemals zur FMS der VIFG beginnt, hat vorher eine intensive Ein­ deutschen ASFINAG werden, sondern eine Gesellschaft, arbeitung dafür gesorgt, dass der Übergang geräuschlos die nur dem Zweck dient, privates Kapital für den Stra- und sauber vollzogen werden kann. Die VIFG hat die ßenbau zu mobilisieren. Auftragsverwaltungen der Bundesländer hier individuell betreut und eventuell drohende Inkompatibilitäten oder Alle, die davon reden, die VIFG zur ASFINAG aus- Schnittstellenprobleme vollständig ausgeräumt. Alle zubauen, würden den Bock zum Gärtner machen. Das Straßenbauverwaltungen der Länder werden zur Bedie- sollten sich vor allem die Grünen zu Herzen nehmen, die nung des Systems in der Lage sein, und auf der anderen ÖPP verhindern, aber die VIFG umbauen wollen. Beides Seite auch umgehend davon profitieren, dass sie Auswer- zusammen geht nicht! Die VIFG, hochbezahlter Versor- (B) (D) tungen ihrer Daten inklusive aller Zahlungsströme ta- gungsposten für altgediente Beamte des BMVI, sollte gesaktuell für jede einzelne und die Gesamtmenge ihrer man sofort abwickeln. Baumaßnahmen vornehmen können. Wir lehnen PPP konsequent ab, weil das Ganze am Auch die Opposition scheint mittlerweile zu der Über- Ende erheblich teurer wird als die konventionelle Be- zeugung gelangt zu sein, dass diese Änderung sinnvoll schaffung. Dies hat der Bundesrechnungshof mehrmals und nötig ist. Man kann sich darüber hinaus durchaus sehr deutlich nachgewiesen. Ja, die Koalition will das offen zeigen für eine Erweiterung des FMS für die An- nicht hören und behauptet das Gegenteil. Wenn Sie sich lagenbuchhaltung, wie es die Grünen fordern, muss sich so sicher sind: Lassen Sie doch mal nachrechnen, wie aber natürlich darüber im Klaren sein, dass dafür eine teuer 5 durchschnittliche Ausbauprojekte pro Kilometer weitergehende Gesetzesänderung benötigt würde. Dass waren, wie teuer der Betrieb ist etc. und setzen Sie das es sich hier insgesamt um ein mustergültiges Beispiel gegen die Kosten für die Betreibermodelle. Legen Sie für Bürokratieabbau handelt, wie Sie es im Ausschuss uns doch bitte ein Mal einen entsprechend Bericht vor, bejubelt haben, geht an der Sache zwar vorbei, liebe der in einer Ex-Post-Analyse ganz klar belegt, dass ÖPP Frau Kollegin Wilms, aber über die Bewertung von An- günstiger ist. Ich bezweifle sehr, dass Ihnen das gelingen lagevermögen der Bundesfernstraßen können wir bei wird. Gelegenheit sicher gern reden. Wir werden uns dieser Aufgabe ohnehin bei der Fortentwicklung der Wegekos- Meine Fraktion beantragt, dass die Planung und Vor- tenrechnung zu widmen haben. Dort ist der richtige Platz bereitung für eine Bundesfernstraßengesellschaft sofort und auch Zeitpunkt. eingestellt wird. Und wir lehnen die hier vorgelegte Änderung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell- schaftsgesetz deshalb ab. Übrigens – und das finde ich Sabine Leidig (DIE LINKE): Die Bundesregierung wirklich bemerkenswert – hat auch die CSU-Landtags- beabsichtigt, mit dem „Entwurf eines Ersten Gesetzes fraktion in Bayern gerade in einem Dringlichkeitsantrag zur Änderung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungs- eine Fernstraßengesellschaft entschieden abgelehnt. gesetzes“ der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell- schaft (VIFG) weitere Aufgaben und Zuständigkeiten zu Die Bundesländer wollen eine gründliche Problem­ übertragen. Im Zentrum steht dabei, dass die VIFG neben analyse vornehmen und danach Schritte zur Verbesse- den Einnahmen aus der Lkw-Maut zukünftig auch die im rung der Straßenbauverwaltung (Auftragsverwaltung) Bundeshaushalt veranschlagten Mittel für Neubau, Aus- vorschlagen. Und das ist auch aus unserer Sicht die rich- bau, Erhaltung, Betrieb und Unterhaltung von Bundes- tige Reihenfolge. Die Ergebnisse der „Kommission Bau fernstraßen verwalten und verteilen soll. und Unterhaltung des Verkehrsnetzes“ liegen im Früh- 13414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015

(A) jahr 2016 vor und bis dahin sollte der Bund jetzt nicht damit, einen Haushalt zu verabschieden. Wir legen fest, (C) schon Veränderungen an der Struktur beschließen. welches Verkehrsprojekt mit welchen Mittel realisiert werden soll. Wirklich interessant ist aber, was das Ver- Wir verlangen stattdessen, dass eine ganz andere Re- kehrsministerium aus den Beschlüssen des Bundestages form der Straßenbauverwaltung stattfindet. Die muss vor macht: 2014 wurden die Mittel für Schienenprojekte zu allem bei der Bundesregierung selber ansetzen, die ihrer einem Viertel nicht ausgegeben. Bei den Wasserstraßen Aufsicht bislang nicht gerecht wird. Eine effektive Steu- sieht es kaum besser aus: Hier wurden 185 Millionen erung des Bundes im Sinne einer prioritären Umsetzung Euro nicht verbaut. Noch krasser steht der Kombinierte von Straßenprojekten ließe sich dabei durch einfach- oder Verkehr da. Von 92,7 Millionen Euro wurden nur 17,9 untergesetzlich umzusetzende Maßnahmen sicherstellen, Millionen Euro genutzt – das ist weniger als ein Fünftel. beispielsweise durch frühzeitige Finanzierungszusagen des Bundes (wie bei Investitionen in die Bundesschie- Richtig ärgerlich wird es aber, wenn man sieht, wo das nenwege), durch mehrjährige Finanzierungspläne für Geld hingeht: Fast alles landet im Straßenbau. Von 2012 Einzelprojekte oder durch die Erhöhung des Bundesan- bis 2014 wurden hier 1,3 Milliarden Euro mehr ausgege- teils an den Planungskosten. ben, als von diesem hohen Haus vorgesehen war. Es gibt Darüber hinaus soll nach Vorliegen des Endberichts einen eindeutigen Profiteur: Zu über einem Drittel landen der von den Bundesländern ins Leben gerufenen Kom- die Mittel in bayrischen Straßen. mission „Bau und Unterhaltung des Verkehrsnetzes“ Besonders dreist ist der Minister selbst: Letztes Jahr noch in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit den hat er sich die teuerste Ortsumgehung Bayerns für sei- Ländern Vorschläge für eine Reform der Auftragsverwal- nen Wahlkreis genehmigen lassen. Jetzt kommt heraus: tung Straße zu erarbeiten und umzusetzen. Dabei müssen Schon vor der Genehmigung wusste er, dass die ganze die sachkundigen Beschäftigen aus den entsprechenden Sache durch den Tunnel fast 32 Millionen Euro teurer Bereichen unbedingt einbezogen werden, weil deren Ver- wird! Trotzdem stand im Haushaltsentwurf weiter die änderungsvorschläge in der Regel aus fundierter Erfah- alte Summe. Für Herrn Dobrindt ist der Bundeshaushalt rung resultieren und der Sache dienen. offensichtlich nicht viel mehr als eine Art Empfehlung. Dass Sie sich das in der Koalition gefallen lassen! Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den Beratungen ist deutlich geworden: Die einheitliche Dieses Beispiel macht deutlich: Die Finanzierung Abrechnung von Straßenprojekten ist sinnvoll. In den von Verkehrsprojekten muss reformiert werden. Es kann Ausschüssen wurde der Entwurf schließlich ohne Gegen- nicht sein, dass manche Länder mit ihren Straßenverwal- stimmen bewilligt. Es ist schon sehr viel zu den Vorzü- tungen sich besonders auf die Fehler im System ausge- (B) gen des neuen Abrechnungssystems gesagt worden. Jetzt richtet haben. (D) muss es umgesetzt werden, und zwar zügig. Das alles ist jedoch nur ein klitzekleines Lösungsdetail für eine sehr Ein richtiger Schritt ist jetzt der Auftrag der Landes- viel umfassendere Problemlage. Deswegen müssen wir verkehrsminister, eine eigene Kommission unter Herrn uns die Gesamtsituation ansehen. Bodewig zu beauftragen. Eine gründliche Analyse ist die Voraussetzung für eine dauerhafte Lösung der Probleme. Wir sind weit von einem effizienten System entfernt. Das sehen die Kolleginnen und Kollegen der Linken lei- Das Grundprinzip ist: Die Länder planen und bauen, der der anders. Sie haben schon vor der Analyse eine Lösung Bund zahlt. Das ist, als ob man mit der goldenen Kredit- – und lehnen eine Fernstraßengesellschaft rundweg ab. karte eines Freundes einkaufen geht. Der prüft zwar seine So machen Sie eben Politik: Besitzstandwahrung statt Kontoauszüge, schießt aber im Zweifel immer nach. Die einen unbefangenen Blick nach vorne. Sie haben immer Länder können sich darauf verlassen, dass begonnene eine Lösung. Ob die auch zum Problem passt, ist ihnen Projekte immer fertig gebaut werden – oft mit teilweise nicht so wichtig. absurden Kostensteigerungen. Wer sich damit etwas intensiver beschäftigt, dem ist Man kann eine Fernstraßengesellschaft entweder rich- klar: In diesem Finanzierungssystem werden falsche tig oder falsch machen. Auch die Länder müssen etwas Anreize gesetzt. Es macht Projekte teurer. Es führt dazu, davon haben. Know-how und Synergien dürfen nicht dass Mittel anders verteilt werden als vorgesehen. verloren gehen. Wichtig ist: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Denn unser Auftrag ist, mit Steuergeldern ver- Schauen wir uns mal genauer an, was wir in diesem antwortungsbewusst umzugehen. Trauen wir uns endlich Haus machen. Jedes Jahr verbringen wir sehr viel Zeit an die notwendigen Änderungen heran. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. November 2015 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333