Peter Gillies marktwirtschaft.de

Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik marktwirtschaft.de

Jahr 2000 – das ist auch Chiffre für Hoffnungen, die nicht gerade bescheiden sind: persönliche Freiheit und Wohlstand für alle, sozialer Zusammenhalt in lebenswertem Umfeld, und dies nachhaltig und dauerhaft – auch für Kinder und Enkel. Das alles dürfte zu schaffen sein, wenn wir uns darauf verständigen, in Deutschland wieder marktwirtschaft.de anzuklicken und sie uns zunutze zu machen – nicht als Fetisch, sondern im Sinne Ludwig Erhards als Angebot für eine an Freiheit und Verantwortung orientierte Lebensordnung.

Die hier vorgelegte Arbeit von Peter Gillies macht Marktwirtschaft auf unkonventionelle Weise anschaulich, erklärt Zusammenhänge, schärft den Blick fürs Ganze. Und sie zeigt, was jetzt zu tun ist, damit Marktwirtschaft wieder ihr Potenzial entfalten kann. Die Aufgeschlossenheit dafür wächst. Schöpferische Unruhe macht sich breit und verändert die Verhaltensweisen. Nicht nur die jungen Menschen der Internet-Generation fragen Eigenverantwortung nach und werden Politik daran messen, ob sie die Voraussetzungen für eine Gesellschaft mündiger Bürger gewährleistet.

Die Zeit ist reif für den Aufbruch und für ein neues Zutrauen in die Zukunft. marktwirtschaft.de wird allenthalben ihr Kennzeichen sein. Auch bei uns.

Gert Dahlmanns

© 2000 Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik Kisseleffstraße 10 • 61348 Bad Homburg Vorstand: Gert Dahlmanns Internet: www.marktwirtschaft.de e-mail: [email protected] Karikaturen: Berndt A. Skott Gestaltung und Lektorat: Konrad Morath ISBN 3-89015-073-X

2 Vorwort

Deutschland sei, so behaupten Spötter, ein wieder quälenden Fragen Antworten zu ge- glückliches Land, bewohnt von trübsinnigen ben. Wo bleibt die Moral in der Wirtschaft, Bürgern. Oder ist es umgekehrt? Jedenfalls wie entsteht Arbeit, wie sicher sind die Ren- klaffen private und öffentliche Befindlichkeit ten und wie gerecht die Steuern? Verenden wir auseinander. Ähnlich gilt auch für das Orga- alle im sozialen Elend oder wahlweise in der nisationsprinzip unserer Wirtschaft: Die Deut- Globalisierungsfalle? Der Vorzug der folgen- schen jauchzen über jedes Sonderangebot im den Kapitel ist, dass man bei jedem mit dem Supermarkt, jammern aber über die Bedin- Lesen anfangen und bei jedem – was mich be- gungen, unter denen es zustande kommt. trüben würde – auch aufhören kann. Es bean- sprucht keine Vollständigkeit, sondern ähnelt Zukunft gibt es nicht ohne Herkunft. Und eher der Marktwirtschaft: spontan, unbere- beides nicht ohne Auskunft. Das Leitbild der chenbar, bisweilen chaotisch. sozialen Marktwirtschaft half, Deutschland aus den Trümmern zu befreien, eröffnete den Dem Frankfurter Institut bin ich dankbar für Weg zur zweitgrößten Handelsmacht der Welt die Anregung, Herrn Dr. Konrad Morath für und bescherte seinen Bürgern einen nie dage- das überaus sorgfältige und kenntnisreiche wesenen Wohlstand. Im letzten Dezennium Lektorat. Als wir über einen Titel des Buches des 20. Jahrhundert siegte sie eindrucksvoll diskutierten, hatten wir eine ganze Reihe von über alle Systeme der Zwangswirtschaft. Po- Wortspielen durchdekliniert – bewährte, an- pulär oder gar beliebt wurde sie dennoch nie. gestaubte, kesse. Nichts schien geeignet, alles war schon endlos repetiert. Dann half indirekt Deutschland betritt das 21. Jahrhundert mit das Megahirn Internet: Ein Mausklick unter einem unvergleichlichen ordnungspolitischen der Adresse „www.marktwirtschaft.de“ ergab Erbe, ist sich dessen aber kaum bewusst. In – nichts. Kein Eintrag. Gesellschaften scheint es Schätze zu geben, die immer von neuem gehoben werden müssen. Irgendwie erhellend. Unter Millionen von Auf die Frage, wer für Krankheit und Alter wichtigen und witzigen, flüssigen und über- verantwortlich sei, antworteten Ende 1999 gut flüssigen Kennungen blieb ein Zentralbegriff zwei Drittel der Deutschen: der Staat. Zu- der deutschen Geschichte auf der Daten- gleich allerdings bezweifeln fast neun Zehntel, autobahn gesichts- und namenlos. URL not dass die gesetzliche Rente den Lebensstandard found, kein Anschluß unter dieser Nummer. im Alter sichert. Die Menschen beginnen zu Mittlerweile gehört die Domain „marktwirt- ahnen oder bereits zu spüren, dass ihnen die schaft.de“ dem Frankfurter Institut. Freiheit der Entscheidung wieder etwas abver- langt, dass der Fürsorgestaat in den letzten Am Beginn eines neuen Jahrhunderts, gar Zügen liegt. Jahrtausends, haben drei Berufsgruppen Kon- junktur: Propheten, Katastropheten und Ehrgeiz dieser Schrift ist es nicht, die Ökono- Schlaumeier. Sie werfen die Frage auf, ob man mie umzupflügen oder ihr epochale Erkennt- neue Kapitel aufschlagen und damit zwangs- nisse hinzuzufügen. Mit einigen Essays – eher läufig alte Inhalte zerschlagen muss. Oder im Plauderton – versucht es, auf die immer könnte es sein, dass es auch Erfahrungen gibt,

3 die man von den Vätern ererbt, um sie zu er- nungspolitsch steuert. Aber sie wüßten zu- werben und schließlich zu besitzen? Die mindest, dass die meisten Malaisen nicht Marktwirtschaft ist ein derartiges Ordnungs- schicksalhaft, sondern hausgemacht und des- prinzip, das sich gefahrlos ins neue Jahrhun- wegen lösbar sind. Und dass eine Gesellschaft dert mitnehmen ließe. Mit ihr fuhr man bis- nie mehr verteilen sollte, als ihre Bürger erar- her so übel nicht. Und wo sie Mängel zeigte, beiten. lag es nicht an ihr, sondern an ihren Anwen- dern. Sie mag zerschlissen ausschauen, aber die marktwirtschaft.de soll Verständnis wecken ihr innewohnende Kraft wird noch manche für – nein, nicht für eine Ideologie, sondern Überraschung für uns bereit halten. Vermut- für ein Organisationsprinzip mit dem Vorzug, lich wird sie das vor uns liegende Jahrhundert sich bewährt zu haben. Die Leitidee der prägen. Marktwirtschaft könnte ihren Erfolg im an- brechenden 21. Jahrhundert durchaus wieder- Mich würde es nicht stören, wenn die mürri- holen. Dann hätten die Deutschen Anlaß, ihre schen Zweifler an der Marktwirtschaft nach Bangigkeiten abzustreifen. dieser Lektüre besser gelaunt um sich – und in die Gesellschaft – blickten. Vielleicht können sie auch dann noch nicht erkennen, wohin die zweitgrößte Handelsnation der Welt ord- Bonn, im Januar 2000 Peter Gillies

4 Inhalt

1. Wie moralisch ist die Marktwirtschaft? 7

2. Arbeit für alle: Wie es geht 20

3. Ratlos im Steuerdschungel 35

4. Freibier für alle? Der deutsche Sozialstaat in der Falle 44

5. Die Rente ist sicher . . . ein Problem 54

6. Blankoscheck für Fitness gibt es nicht 67

7. Erstickungstod im Paragrafendschungel 77

8. . . . sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht 86

9. Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance 92

5 6 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

Warum packt die Deutschen nach einem hal- immer höhere Zwangsbeiträge in die Kol- ben Jahrhundert Fortschritt der Zweifel an ih- lektivsysteme und zugleich verbreitet sich das rem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft? Gefühl sozialer Unzufriedenheit; auch die War nicht sie das Erfolgsrezept, mit dem sie Steuerlasten klettern ständig, während sich das Land aus den Trümmern des Krieges er- gleichzeitig der Staat in schwindelerregenden hoben? An der Schwelle eines neuen Jahrhun- Dimensionen ver- derts und Jahrtausends nagt der Zweifel an ih- schuldet; der techni- Unter allen verfügbaren ökonomi- nen, wie dieses Land seine Wirtschaft und sei- sche Fortschritt be- schen Systemen ist das der Markt- ne soziale Sicherung organisieren soll. Im öf- schert jenen, die um wirtschaft das effizienteste. Es geht sparsam mit den knappen Ressour- fentlichen Diskurs gilt das ökonomische Leit- ihn kämpfen, hö- cen um, fördert und belohnt die bild als angestaubt und verschlissen. Politiker heren Wohlstand, Leistung. Nichts spricht gegen die suchen nach anderen, nach sogenannten Drit- kostet aber anderer- Wiederholung ihrer einstigen ten Wegen zwischen den beiden Polen Markt- seits Arbeitsplätze. Erfolge. wirtschaft und Zwangswirtschaft. Schließlich belohne das System nicht (immer) die Leistungsfähi- Das Ordnungssystem der sozialen Marktwirt- gen, sondern (zu) oft auch nur die trickreichen schaft basiert nur oberflächlich auf einem ge- Cleverles. Dass diese und andere ökonomi- sellschaftlichen Konsens. Es war immer um- schen Unzulänglichkeiten nicht auf die Män- stritten, freilich in Aufschwungphasen mit gel, sondern auf die Abwesenheit von Markt- Wachstum stärker als in Rezessionen mit Pro- wirtschaft zurückzuführen ist, stößt auf Un- blemen und Arbeitslosigkeit. Schon Ludwig verständnis. Erhard – der das Kompliment vom „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“ gar nicht Der Wettbewerb, jenes Prinzip von Vorstoß mochte – konnte dieses Leitbild nur gegen ge- und Verfolgung, also die Jagd nach der mög- ballten Widerstand aus Parteien und Gewerk- lichst besten und preiswerten Lösung, ist das schaften durchsetzen. Zwar begreifen auch Zentrum des marktwirtschaftlichen Leitbil- heute Herr und Frau Normalverbraucher, des. Beim Sport hat niemand Probleme damit. dass ein niedriger Preis bei möglichst hoher Das Prinzip, stets der höheren und besseren Qualität erstrebenswert sei. Die Kehrseite der Leistung nachzujagen, wird dort allgemein wettbewerblichen Logik jedoch – dass der we- akzeptiert. Da geht es um Zentimeter und niger Leistungfähige aus dem Markt ausschei- Tausendstelsekunden. Das Publikum spendet den muss – wird ausgeblendet oder nur wider- brausenden Beifall. Nie käme es auf den Ge- willig zur Kenntnis genommen. danken, dem Letztplatzierten etwa deswegen zu applaudieren, weil es sich um einen Allein- Vor allem mit den vermeintlichen Widersprü- erzieher mit psychosozialen Problemen han- chen der Marktwirtschaft hat die öffentliche delt. Beim Kampf um die sportliche Höchst- Meinung ihre Probleme. Es nimmt sich wie leistung wird kein Pardon gegeben. ein Paradoxon aus, mit dem die Zweifler nicht fertig werden: Eine zähe und hohe Erwerbslo- Selbst den demokratischen Wettbewerb, das sigkeit, gleichzeitig gibt es allenthalben genug Wechselspiel zwischen Regierung und Oppo- zu tun in diesem Lande; die Bürger zahlen sition in den Parlamenten, haben die Deut-

7 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

schen nach einem halben Jahrhundert Trai- macht, im Supermarkt jedem Sonderangebot ning verinnerlicht. Anders beim Wettbewerb nachzujagen. Dass dieser Wettbewerb dazu in der Wirtschaft. Dort gilt die Höchstlei- führt, dass Einzelhändler aufgeben müssen, stung nicht so viel. Sie verfolgen sie mit Miss- kümmert ihn herzlich wenig. Aber wenn öf- trauen. Denn schließlich habe der Sieger seine fentliche Klagelieder über den Tod des „Tante- Ellenbogen benutzt und die Konkurrenten Emma-Ladens“ angestimmt werden, singt er aus dem Felde geschlagen. Der Verdacht der kräftig mit. Wohl möchte er ihn retten, nicht Unmenschlichkeit kommt auf. „Kaltherzig“ aber dafür bezahlen. seien die Mitbewerber aus dem Rennen ge- drängt worden. Der Ein unbehinderter und zugleich fairer Wett- Lebenselixier des marktwirtschaftli- Mächtige habe ge- bewerb ermöglicht Höchstleistungen, ver- chen Leitbildes ist ein wirksamer siegt und die Ohn- nichtet andererseits aber veraltete und über- Wettbewerb. Ihn zu fördern bedeu- mächtigen schutz- ständige Produktionen. Dieser Prozess der tet Zerstörung ineffektiver Struktu- los zurückgelassen. „schöpferischen Zerstörung“ ist für viele Be- ren, also ständige Innovation. Der Wettbewerb verdient den Schutz Vor allem der wei- teiligte und Betroffene eine schmerzhafte Er- des Staates, nicht aber der Wettbe- tergehende Gedan- fahrung. Sie verlieren Marktanteile, Gewinne, werber. ke, dass eine Gesell- Arbeitsplätze. Mitunter müssen sie, wenn sie schaft, in der sich sich dem Wandel nicht stellen, sogar ihren letz- alle am Eigennutz orientieren, am Ende zu ten Gang antreten – den zum Konkursrichter. mehr Wohlstand führt, wird verweigert. Dass In der deutschen Gesellschaft herrscht hierzu die Masse der Einzelleistungen in die Bahnen eine segmentarische Wahrnehmung: Ja zu den des Gemeinwohls gelenkt werden und dort Wohlstandsgewinnen, nein zu den unbeque- Wohlfahrt entfalten, gehört nicht zur norma- men und bisweilen bitteren Folgen des Struk- len deutschen Befindlichkeit. turwandels. Aber das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Das Ergebnis marktwirtschaftlicher Prozesse wird zwar – wenn es die Einkommen erhöht – begrüßt, aber mit seinen Folgen haben die Bür- Ein Beispiel – fast aus dem Leben ger Schwierigkeiten. In der Bürotechnik bei- Angenommen, ein Kaufhaus fordert doppelt so hohe Preise wie spielsweise hat der Fortschritt die mechanische die Konkurrenz und begründet die Aufschläge damit, dass es sei- durch die elektrische Schreibmaschine ver- nen Mitarbeitern außergewöhnlich komfortable Sozialleistungen drängt, letztere wiederum musste, wie der Fern- gewähre. Man zahle, so erklärt das Unternehmen, ein doppeltes schreiber, dem Computer weichen. Dennoch Weihnachts- und Urlaubsgeld, versorge Hunderte von alleinerzie- tobten in jeder Phase des Strukturwandels die henden und kinderreichen Müttern, spendiere jedem zweimal jähr- Kämpfe um die überständigen Fabriken und lich eine Kur, und die bezahlte Mittagspause sei auf drei Stunden Arbeitsplätze. Dieses Beharrungsvermögen hat ausgeweitet. Auf die Kunden dieses Kaufhauses wird die warm- unter anderem dazu geführt, dass die Deut- herzige Sozialpolitik nicht den geringsten Eindruck machen. Sie schen zwar das Faxgerät ersannen und entwi- werden es wegen der hohen Preise meiden und zum billigeren ckelten, aber den Japanern die lukrative Markt- Konkurrenten überlaufen. Derselbe Prozess läuft auch weltweit einführung nahezu kampflos überließen. ab. Billigprodukte aus Fernost oder Südamerika werden nicht des- halb gemieden, weil die Menschen, die sie herstellen, sozial nicht Obgleich der Weltmarkt den Deutschen man- so üppig abgesichert sind. Sie werden trotzdem gekauft – weil sie ches Lehrstück verpasste, bleibt die Wahrneh- preiswert sind und weil niemand mehr Geld als unbedingt nötig mung des Durchschnittsverbrauchers gespal- dafür ausgeben möchte. ten. Einerseits hat er es sich zum Hobby ge-

8 Gillies • marktwirtschaft.de

Wirbelwind Privatisierung sammenbruch des Monopols gab ihnen und den Verbrauchern nicht nur Preisvorteile, son- Die jüngste deutsche Wirtschaftsgeschichte ist dern auch mehr Freiheit – die Freiheit der Wahl voll von Beispielen, in denen ineffiziente Res- ist stets eine wichtige Folge funktionierenden sourcenverwendung und überteuerte Besitz- marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Beides stände mit Gewalt zu retten versucht wurden. zusammen – mehr Konsumfreiheit und niedri- Demonstrationen allerorten, um das Überle- gere Preise – führte ben von Unternehmen zu sichern, die nicht dazu, dass mittler- Im Gegensatz zur Bürokratie wirkt mehr konkurrenzfähig waren. Überdies fehlt weile auch die breite der Markt nicht durch Macht und es vielen an Fantasie, wie sich Produkte und Öffentlichkeit ihren Kontrolle, sondern durch Motivation. Dienstleistungen auf den Märkten von mor- Frieden mit diesem Er löst die Probleme durch Leistung von der Basis statt durch Befehl von gen entwickeln und ausbreiten könnten. Strukturwandel ge- oben. Einen wichtigen Schub in macht hat. Sie er- diese Richtung gibt die Privatisie- Die Privatisierung des deutschen Telefonnetzes fuhr, dass er den rung. bot ein anschauliches Beispiel dafür. Als die po- Wohlstand mehrt litische Debatte darüber losgetreten wurde, und mehr Wahlfreiheit erlaubt. Freilich muss konnten sich nur wenige vorstellen, dass Telefo- sich der Telefonkunde heute bemühen, die für nieren auch außerhalb eines staatlichen Mono- ihn jeweils günstigste Offerte aus dem Heer der pols möglich sei. Hinzu kam die diffuse Furcht jungen Anbieter herauszufiltern. Die eingelei- vor Arbeitsplatzverlusten. Dann fuhr die Pri- tete Liberalisierung des Energiemarktes dürfte vatisierung wie ein Wirbelwind in die Telekom- nach dem gleichen Muster ablaufen. munikation. Zwar wurden einige angestamm- te Arbeitsplätze abgebaut, aber in dem nun- Am Beispiel der Privatisierung wird auch mehr entmonopolisierten Markt enstanden deutlich, dass der Wettbewerb immer auch die viele neue. Die Privatisierung war der Start- Funktion hat, Macht zu teilen und ihre Bal- schuss für einen Vorstoß in die neuen Märkte lung zu verhindern. In der globalisierten Welt der kommunikativen Hochtechnologie. Inter- sind Monopole selten geworden. Im ersten net und Online-Dienste, Mobilfunk, Daten- Drittel dieses Jahrhunderts waren monopoli- autobahnen unvorstellbaren Ausmaßes. Nur stische Strukturen dagegen keine Seltenheit. eine Anwendung von vielen: Heute kann ein Sie galten für Kohle und Stahl, für Teile des Chirurg in München die Herzoperation seines Maschinenbaus, in der Chemie, im Schiffbau Kollegen in Houston/Texas „live“ verfolgen, ja und manchen anderen Bereichen. Der vor al- er kann sogar selbst mitoperieren. Die Chan- lem nach dem Zweiten Weltkrieg aufbrechen- cen dieser Telemedizin – nur ein Zweig breiter de internationale Wettbewerb hat die meisten Anwendung – sind noch nicht im entferntesten zerschlagen. Noch zu Zeiten der Weimarer genutzt. Republik gab es im Deutschen Reich rund 2500 Industriekartelle und Verkaufssyndikate. Mindestens genauso wichtig ist, dass es beim Sie alle wären heute nicht durchzuhalten. Al- Telefonieren rasante Preissenkungen gab. Da- lein die Konkurrenz aus Fernost hätte sie mit fand der Standort Deutschland endlich längst ausgehebelt. Anschluss an die internationale Entwicklung der Kommunikationstechnologie. Die deut- Das Prinzip der Machtverteilung stellt sich schen Unternehmen hatten unter der Mono- heute auf andere Weise. Es betrifft das Verhält- polisierung gelitten. Sie bremste den Fortschritt nis zwischen staatlicher und privater Tätig- aus und verursachte überhöhte Kosten. Der Zu- keit. Noch in den sechziger Jahren, als Voll-

9 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

und zuweilen Übervollbeschäftigung herrsch- das mit einem starken Staat verbunden ist. Sei- te, beanspruchte der Staat weniger als ein Drit- ne Stärke soll allerdings nicht darin liegen, dass tel des Sozialprodukts. Gegen Ende dieses Bürokraten in die feinsten Verästelungen von Jahrhunderts stieg dieser Anteil auf die Hälf- Wirtschaftsprozessen eindringen und sie zu len- te. Oder anders: Je zweite Mark, die die Deut- ken versuchen. Mit dem Wunsch nach einem schen erarbeiten, wird durch staatliche Kassen „starken Staat“ verbinden sich nicht Omnipo- vereinnahmt, bürokratisch verwaltet und tenz und Regelungswut, sondern das Bild vom überwiegend nach unökonomischen Prin- Schiedsrichter: Er soll für faire Wettbewerbsbe- zipien gelenkt. Motor dieser wachsenden dingungen sorgen, soll allgemeine Regeln auf- Staatsquote waren die Sozialleistungen, die in stellen und ihre Einhaltung garantieren, nie- kollektiven Kassen organisiert sind. Da dem mals aber selbst mitspielen. Tausende von Un- Bürger immer weniger Eigenvorsorge zuge- ternehmen – von der Brauerei bis zur Bank – traut und zugemutet wurde, übernahmen öf- sind heute in staatlichem oder halbstaatlichem fentliche Kollektive die Absicherung. Das Besitz und Einfluss. Beispiele belegen, dass es raubte dem privaten Sektor die Entfaltung und meistens schief geht, wenn der Staat sich als Un- kostete entsprechend Arbeitsplätze. Der inter- ternehmer versucht. Kapital wird verschleu- nationale Vergleich ergibt, dass Länder mit ei- dert, Beschäftigung gefährdet. ner niedrigen Staatsquote zwischen 30 und 40 Prozent kaum Beschäftigungsprobleme ha- Die List des Marktes ben. Jene dagegen mit hoher Staatsquote wei- sen auch überproportional hohe Arbeitslosen- Ein häufiger Vorwurf gegen den angeblich ent- quoten aus. fesselten Kapitalismus lautet, er wecke in den Menschen die dunklen Seiten, er verführe zu Die ausgeuferte Staatstätigkeit zugunsten der Egoismus und Eigennutz. Dabei blieben, so Privatwirtschaft zu drosseln, erzeugt bei den heißt es, gesellschaftliche Werte wie die Soli- Skeptikern den Verdacht, die Marktwirtschaft darität auf der Strecke. Das Argument ist ernst lege es auf einen Nachtwächterstaat an. Tatsäch- zu nehmen, aber vordergründig und falsch. lich war und ist sie stets ein Leitbild gewesen, Richtig ist, dass jeder Arbeitnehmer darauf bedacht ist, seine Arbeitsleistung zu einem möglichst hohen Preis an sein Unternehmen Ausufernder Staat zu verkaufen. Dafür kämpfen die Gewerk- schaften. Auch die Betriebe ihrerseits versu- Staatsausgaben insgesamt sowie Sozialbudget chen, möglichst rationell zu produzieren und in Prozent des BIP, 1960 - 1998 den höchsten erzielbaren Preis zu realisieren. Staatsausgaben Sozialbudget In der List der Marktwirtschaft liegt es jedoch, 60 dass der Wettbewerb beides verhindern muss. Schützenswert ist nicht der Wettbewerber, 40 sondern der Wettbewerb.

Verstößt das nicht gegen gängige Moralvor- 20 stellungen? Das Gegenteil ist der Fall. Der den Menschen gegebene individuelle Gewerbefleiß

0 fördert einerseits die Höchstleistung und sorgt 60 65 70 75 80 85 90 95 andererseits dafür, dass die Menge des Produ- Quelle: BMA zierten genügend Spielräume für jene eröffnet,

10 Gillies • marktwirtschaft.de

die im Tempo der Umbrüche nicht mithalten kalten Marktwirtschaft hat der Nationalöko- können. Das Menschenbild der Markwirt- nom Wolfram Engels einmal folgende an- schaft ist nicht von edler Solidarität. Es ist schauliche Fiktion geliefert: Die Gastwirte in auch nicht auf bestimmte Werte abonniert, Frankfurt gestalten ihre Speisekarten autonom ausgenommen vielleicht die Freiheit und die und fordern ohne Rücksicht auf ihre Gäste Fairness. Die Soziale Marktwirtschaft bietet auch noch autonome Preise. Das ärgert die lediglich eine Organisationsform, in der Bürger. Sie beschlie- „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) mög- ßen, alle Restau- Marktpreise sind die verlässlichsten lich wird. Ihre ethische Rechtfertigung liegt rants zu „demokra- Indikatoren für Knappheiten. Sie darin, dass Schaffen vor Verteilen geht. Ihre tisieren“. Also wer- durch angeblich soziale Eingriffe zu Akzeptanz leidet jedoch darunter, dass sich den die Speisekar- verfälschen erzeugt entweder Mangel oder Überfluss, in jedem Fall aber gewaltige gesellschaftliche Kräfte von den Ge- ten und die Preise täuscht es Verbraucher und Unter- werkschaften bis zu den Kirchen vor allem vom Magistrat fest- nehmen und lenkt knappe Ressour- dem Verteilen widmen und dort Gerechtigkeit gelegt. Dieser ist cen in die falsche Richtung. anmahnen, wie sie sie verstehen. Dagegen hat schließlich demo- die Ethik des Schaffens eine verschwindend kratisch gewählt. Früher waren die Gäste, kleine Lobby. Der Kuchen kann aber nur ver- wenn ihnen die Kneipe nicht gefiel, in die teilt werden, wenn ihn zuvor emsige Men- nächste gegangen oder hatten zuhause geges- schen backen. sen. Nun wirken sie mittelbar – über das ge- wählte Stadtparlament – an den Gastwirt- Steine statt Brot schaften mit. Dass damit der Geschmack der Bürger getroffen wird, ist gleichwohl nicht Dass die soziale Sicherung und die Verteilung wahrscheinlich. Wenn der Magistrat die des Wohlstandes allein davon abhängen, ob „Kneipendemokratie“ funktionsfähig halten zuvor ein genügend üppiges Sozialprodukt er- will, bieten sich ihm auf Dauer nur folgende arbeitet wird, findet öffentlich keinen brausen- Alternativen: Entweder er muss die Bürger den Beifall. Es ist bequemer und populärer, zwingen können, in den Restaurants zu essen, Forderungen anzumelden, ohne darauf Rück- oder aber er muss die Gastwirte, denen die sicht zu nehmen: höhere Einkommen, mehr Gäste weglaufen, aus der Stadtkasse finanziell sozialer Komfort bei weniger Arbeitsschweiß. entschädigen. Diese Gutmenschen geben den Bürgern je- doch Steine statt Brot, denn sie verfügen vor- Diese „Demokratisierung“, die so trefflich schnell über Ressourcen, die noch nicht ge- klingt, kennt letztlich nur Verlierer. Die Gäs- schaffen sind. Im Übrigen ist auch und gerade te bekommen schlechtes Essen und können in der Markwirtschaft mehr Gemeinsinn die Menüs auch nicht mehr beeinflussen. möglich. Denn nur leistungsbereite, einkom- Mehr noch: Sie müssen die Verluste der mensstarke und deshalb freie Bürger verfügen schlechten Gastronomie auch noch mit ihren über jene Unabhängigkeit, die Solidarität mit Steuergroschen ausgleichen. Das Stadtparla- den Schwachen erst ermöglicht. ment könnte sogar, so Engels, auch noch das private Mittagessen „demokratisieren“. Dann Führt der Wettbewerb nicht zu Formen wirt- würde abgestimmt, was es in den Familien zu schaftlicher Macht, die sich der demokrati- Mittag gibt. In jeder Stufe dieser „Demokrati- schen Kontrolle durch den Wähler entziehen? sierung“ verlöre der Bürger ein Quentchen Zu dem Schlagwort von der Demokratisie- Freiheit und Selbstbestimmung. Die Kosten rung der angeblich menschenfeindlichen und stiegen und das Essen würde immer mieser.

11 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

Überdies wären weitere Gastronomie-Büro- nie sein Ziel, auch wenn bisweilen Gegenteili- kraten nötig. Demokratie ist also auch eine ges propagiert wird. Ein bequemes Ordnungs- Form der Herrschaft, freilich für die Wirt- system ist er freilich nicht, ebenso wenig eine schaft nicht taug- Weltanschauung. Handel und Wandel nach Freiheit ist das übergeordnete Prinzip lich. Markt und Bü- den Gesetzen des Marktes zu ordnen ist nicht für Demokratie und Markt. Geistes- rokratie, so Engels, mehr und nicht weniger als ein Organisa- geschichtlich ist der Neoliberalismus sind unterschiedli- tionsprinzip. die Pfahlwurzel moderner marktwirt- che Systeme: Auf schaftlicher Systeme. Er bekennt sich zur bürgerlichen Freiheit sowie dem Markt sind die Der Bürger und der Markt – eine zur Selbstverantwortung, der Nacht- Teilnehmer gleich- Liebe ohne Leidenschaft wächterstaat war nie sein Ziel. Als berechtigt und kei- politisches Schimpfwort taugt „Neo- ner Hierarchie un- Trotz der offensichtlichen Erfolge dieses Sy- liberalismus“ schon deshalb nicht. tergeordnet. Er stems ist das Urteil darüber verhalten. Nach kommt ohne Herr- einem halben Jahrhundert schätzt der Deut- schaft aus. Im Gegensatz zur Bürokratie arbei- sche seine gesellschaftliche Verfassung und das tet der Markt mit Motivation statt mit Kon- Grundgesetz zwar, aber es ist eine Liebe ohne trolle. Seine Initiative geht von der Basis, nicht Leidenschaft. „Was meinen Sie: Hat sich die von der Spitze aus; es zählen Erfolg und Lei- Soziale Marktwirtschaft bisher bewährt, oder stung, nicht der Gehorsam gegenüber Obrig- hat sie sich nicht bewährt?“, fragte das ipos- keiten. Institut im Mai 1999 einen repräsentativen Kreis von Bürgern. Die Antwort begeistert Die Erfahrung belegt, dass sich der Markt als Marktwirtschaftler nicht, braucht sie aber überlegener Organisator von Wohlstand er- auch nicht zu beunruhigen: 76 Prozent bejah- wiesen hat, nicht als Mechanik, die von Staats- ten die Frage (78 Prozent in West- und 69 Pro- dienern justiert wird. Ein Wohlfahrtsstaat mit zent in Ostdeutschland). „Nicht bewährt“ ent- allgemeiner Fürsorge für alle Wechselfälle war gegneten 17 Prozent (davon 15 im Westen und 24 Prozent im Osten).

Demokratie und Marktwirtschaft Die Demoskopen bohrten nach und fragten „Auf welche Eigenschaften unseres Landes Für die Mehrheit der Deutschen ist Demokratie ohne sind Sie als Deutscher besonders stolz?“. An Marktwirtschaft nicht denkbar – Ergebnis einer Befragung erster Stelle mit 45 Prozent rangiert „Sozialer des ipos-Instituts Westdeutsche Frieden“, gefolgt von der „Wirtschaftskraft“ Ostdeutsche 78 mit 33 und der „Demokratischen Ordnung“ 69 mit 29 Prozent (Mehrfachnennungen waren möglich). Über die Jahrzehnte betrachtet ist der Stolz über die wirtschaftliche Leistung des Landes geschrumpft, während das Ziel des so- zialen Friedens ständig nach vorn rückte. Dar- „Was meinen Sie, 22 in werden zwei Tendenzen deutlich: Seit den ist Demokratie fünfziger Jahren der noch jungen Bundesre- 12 10 10 ohne Marktwirt- publik, in denen jedermann die Ärmel auf- schaft möglich?“ krempelte, wuchs die Konfliktscheu. Gleich- ist möglich ist nicht weiß nicht zeitig wurde der Konsens immer beliebter. möglich Das erklärt die Beliebtheit von Runden Ti-

12 Gillies • marktwirtschaft.de

schen, Bündnissen und Konzertierten Aktio- faire Startchance. Da jedoch sozioökonomische nen. Die Deutschen scheuen Entscheidungen Prozesse nicht ohne Brüche verlaufen und je- und schätzen die gesellschaftliche Harmonie. der Eingriff Unfrieden an anderer Stelle schuf, Dabei schwingt offenbar die Hoffnung mit, wurde Verteilung auf diesem Wege ließen sich die gewohnten zum Dauerzustand. Wer im nächsten Jahrhundert die Besitzstände erhalten. Die Korrekturen marktwirtschaftlichen Kräfte wieder häuften sich. Und beleben will, muss gegen die ver- Vom Zauber der Freiheit gestreift am Ende wusste nie- engte Wahrnehmung der Bürger mand mehr, wer ankämpfen. Sie sind auf Verteilung fixiert, nicht aufs Produzieren. Die Deutschen empfinden ihre politische und wen aus welchen wirtschaftliche Verfassung mehrheitlich als Kassen subventio- Kuppelprodukt. Beide – Demokratie und niert. Zusätzlich angetrieben wurde der Marktwirtschaft – sind durch das Prinzip der Umverteilungswucher durch staatliche Glücks- Freiheit miteinander verbunden. Das Gefühl versprechen und den Neid. Aber der zu beglük- der Freiheit durchlebte in der deutschen Seele kende Bürger erhält ein Danaergeschenk: statt in den letzten Jahrzehnten ein Wechselbad. Der der verheißenen Sicherheit die Unsicherheit (in Frankfurter Philosoph Max Horkheimer Form von vier Millionen Arbeitslosen). brachte das Gegensatzpaar auf die schlichte For- mel „Je mehr Freiheit, desto weniger Gleich- „Wir waren alle gleich, und wir hatten Arbeit. heit; je mehr Gleichheit, desto weniger Frei- Darum war es eine schöne Zeit,“ meint jeder heit“. Vom „Zauber der Freiheit“ (Max Weber) zweite Ostdeutsche über die untergegangene wurden die Deutschen in den Jahren des Auf- DDR laut einer Allensbach-Umfrage. Nur 26 baus durchaus gestreift. Dann aber – und vor Prozent widersprachen ausdrücklich. Der allem seit der deutschen Einheit – zogen sie Antagonismus über Freiheit und Gleichheit immer stärker die Gleichheit vor. Sie galt ih- spaltet die Deutschen. Vor die Alternative ge- nen als Synonym für soziale Gerechtigkeit. stellt, bevorzugt die Hälfte der Ost- und im- Ganz anders reagierten die Angelsachsen: Ih- merhin ein Drittel der Westdeutschen die nen ist seit Jahrzehnten die Freiheit doppelt so Gleichheit. In den letzten Jahren geht der wichtig wie die Gleichheit. Trend weiter in diese Richtung – zu Lasten der Freiheit. Der Vorsatz, allen Bürgern ein möglichst kom- fortables Leben zu sichern, folgt der Flagge der Für die Gleichheit wird viel und laut ge- Gleichheit. Er fragt nicht nach der Herkunft kämpft, für die Freiheit lautlos und eher mit der Einkommen, sondern nur nach ihrer Ver- mechanischer Unlust. Das gilt freilich nur für teilung. Dabei werden schlichte Muster bevor- Demokratien, in denen der Genuss der Frei- zugt: Wer weniger als die Hälfte des Durch- heit ein Normalzustand ist. In Diktaturen ist schnitts verdient, ist arm; jeder braucht als es umgekehrt: Da dort die Freiheit unter Grundsicherung 1300, 1500 oder 1800 Mark Verschluss ist, wird die Gleichheit als morali- monatlich. sche Überlegenheit und Geborgenheit einge- kleidet. Der „höchst denkbare Grad der Gleichheit fasziniert – im Gegensatz zur Frei- Gleichheit ist die Knechtschaft“ (Treitschke). heit. Freiheit hat man eben, Gleichheit nie. Einst wurde sie als Chancengerechtigkeit be- Freiheit ist unbequem. Man muss sich an- griffen, als Hilfe zur Selbsthilfe, als Motivation strengen, um sich zu entfalten, muss sich dem zu Bildung und Aufstieg im Wettbewerb, als Wettbewerb stellen, um den Anschluss nicht

13 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

zu verpassen, muss mehr leisten als vorge- Gleichheit stetig, während die Freiheit unter- schrieben, Verantwortung übernehmen statt lag. Im Wahljahr 1998 jedoch wechselten die sie von anderen oder vom Staat einzuklagen. Deutschen unerwartet die Fronten: Derzeit Antriebsmotor ist die Ungleichheit, bewusst dominiert die Freiheit wieder mit rund 50 in Kauf genommen, weil nur durch sie am Prozent vor den Anhängern der Gleichheit (36 Ende alle reicher werden, nicht aber dadurch, Prozent). Das sei eine „existenzielle und mut- dass man das Sozialprodukt nur geschickt auf- machende Entscheidung für Deutschlands Zu- teilt (statt es zu vermehren). kunft,“ stellt die Meinungsforscherin Elisa- beth Noelle-Neumann fest. Seit dem Herbst Freiheit fördere Egoismus, die Gleichheit be- 1998 hat sich also innerhalb des Gegensatz- kämpfe ihn, heißt es. Dieser Imperativ wech- paares Freiheit und Gleichheit ein erstaunli- selt jedoch seine Bedeutung, wenn man „Ego- cher Wandel vollzogen. Erstmals in diesem ismus“ durch „Erwerbstrieb“ ersetzt. Deswe- Jahrzehnt bekennen sich wieder mehr Deut- gen ist nicht die Ellenbogengesellschaft, son- sche zum Grundwert der Freiheit statt zur dern die Sitzfleischgesellschaft die Bedrohung Gleichheit. Dahinter verbirgt sich ein „aufre- moderner Wohlfahrtsstaaten. gender gesellschaftlicher Paradigmenwechsel“, sagte sie auf den 14. Erlanger Medientagen Bei der Wiedervereinigung 1990 hatten 65 Pro- 1999. Freiheit stehe für Selbstverantwortung, zent der Deutschen der Freiheit den Vorzug individuelle Anstrengung und Optimismus; gegeben, nur 22 Prozent der Gleichheit, der wer sich zur Gleichheit bekenne, erwarte alles sozialen Gerechtigkeit. Seither gewann die vom Staat, sei eher verkniffen und misstraue dem Leistungsprinzip.

Beliebte Spendierhosen Muntermacher Freiheit Eine Nation wie die amerikanische, in der die Elisabeth Noelle-Neumann, die Gründerin des Instituts für Demo- Menschen zuerst auf sich vertrauen und an sich skopie in Allensbach am Bodensee, fand einen anderen bemer- glauben, zählt denn auch kaum noch Arbeits- kenswerten Zusammenhang heraus: Menschen, die sich in Le- lose. Die Liberalen umschreiben dies mit der ben und Beruf frei fühlen, sind stets auch besser gelaunt. „Fühlen Forderung, die Schwachen vor den Cleveren zu Sie sich morgens frisch und munter oder müde und unlustig?“ schützen. Sozialpolitik erzeugt keinen Wohl- wurde gefragt. Jene, die ein hohes subjektives Freiheitsgefühl stand, vielmehr ist Wohlstand Voraussetzung empfinden, waren doppelt so munter wie die anderen, die in ih- für sozialpolitisches Tun. Effizienz und Wett- rem Leben die Freiheit vermissen. Die Frage „Wann haben sie bewerb sind somit keine kaltherzigen Pro- zum letzten Mal so richtig aus vollem Herzen gelacht?“ klingt un- fitmaximen, sondern ursoziale Bedingungen. ernst, aber die Antworten waren aufschlussreich. Gestern hätten sie herzhaft gelacht, meinten 51 Prozent derjenigen mit großem, Dass sich Freiheit und Gleichheit wie kom- aber nur 33 Prozent der Befragten mit geringem Freiheitsgefühl. munizierende Röhren verhalten, ist linken wie Auch der Krankenstand in den Betrieben und das Freiheits- rechten Philosophen seit langem geläufig. Der empfinden korrelieren miteinander. Von den Arbeitern mit hohem egalitäre Denkansatz ist populär, jener der Freiheitsgefühl haben 54 Prozent im letzten Jahr keinen Tag we- Freiheit dagegen fordernd: Schlaraffenland gen Krankheit gefehlt, bei den anderen mit geringem Freiheits- versus Verantwortungsgesellschaft. In den letz- gefühl waren es nur 23 Prozent. Betriebssoziologen wissen längst, ten Jahren verwischten sich die Grenzen. dass gute Laune, Motivation und Freiheit miteinander verwoben Auch die Adepten Ludwig Erhards schlüpf- sind. ten immer häufiger in die Spendierhosen. Die

14 Gillies • marktwirtschaft.de

Linke dagegen, die gern alle gleich- hobeln wollte, wurde umso nach- denklicher, je unfinanzierbarer der Sozialstaat wurde. Der uralte Ant- agonismus, wie gleich und wie frei eine Gesellschaft sich macht oder fühlt, prägt bis heute den öffentli- chen Diskurs. Diese Grundbefind- lichkeit wird zur Messlatte vieler Ta- gesfragen: Ist Sozialhilfe eine Ein- kommensgarantie auch für Arbeits- unwillige? Muss die brave Verkäuferin den Stu- ziale Befriedung immer weniger. Eine rätsel- denten auf Dauer finanzieren, ohne dass jener hafte, fast paradoxe Korrelation: Der Wohl- zu Gegenleistungen gezwungen ist? Müssen stand wächst, das soziale Missvergnügen eben- Löhne immer steigen, auch wenn die Arbeit falls. Es herrscht der öffentliche Eindruck vor, nicht produktiver wird? das Ziel der sozialen Gerechtigkeit, eingeklei- det in das Gewand der Gleichheit, rücke in Oder: Kann man Arbeit „gerechter“ verteilen, immer weitere Ferne, je heftiger man sie be- aber die dazugehörenden Einkommen unan- gehrt. getastet lassen? Ist eine Zahnkrone Gegen- stand kollektiver oder individueller Vorsorge? Die ideologischen Auseinandersetzungen in- Sollte ein Land auf Dauer mit Sozialleistun- nerhalb der Sozialdemokratie sind nach dem gen Zuwanderer anlocken? Ist es fair, gleich- Regierungswechsel 1998 in die Öffentlichkeit hohe Alterseinkommen ungeachtet der eige- übergeschwappt und haben eine Grundsatz- nen Beitragsleistung zu gewähren? Ist es unso- debatte ausgelöst, die über die Partei hinaus- zial, niedrigbezahlte Erwerbsarbeit anzuneh- reicht. Dieser Richtungsstreit hat einen Begriff men oder sozialer, arbeitslos zu bleiben? Müs- in die Debatte gezerrt und ihn sogleich zu sen Unternehmen für etwas subventioniert einem neuen Schimpfwort hochstilisiert: den werden, was sie ohnehin täten? „Es muss et- Neoliberalismus. Das wirtschaftspolitische was geschehen, aber es darf nichts passieren“, Leitbild einer breiten politischen Mehrheit ist spottete der einstige Bundesfinanzminister im Grundsatz geblieben: Die soziale Markt- über die Reaktionsfähigkeit deut- wirtschaft, allenfalls seit etwa einem Jahrzehnt scher Politik. Der Korrekturbedarf ist unab- durch den Begriff „ökologisch“ ergänzt. De- weisbar. „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die ren Erneuerung hatten sich alle Parteien auf Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, ihre Fahnen geschrieben. Sie übertrafen ein- sind entweder Phantasten oder Charlatans“ ander in ihrem Renovierungseifer. Gleichzei- (Goethe). tig wurde dieses Leitbild von der Linken mit Kritik überzogen: Es begünstige Lohnkürzun- Paradoxes Missvergnügen gen, Sozialabbau, Einschnitte bei Arbeitneh- merrechten und eine Umverteilung von Arm Derzeit bietet der Staat in 37 bürokratischen nach Reich. Ist dieses Modell, das den Deut- Anlaufstellen mehr als 150 verschiedene Sozi- schen in einem halben Jahrhundert einen un- alleistungen an. Gut ein Drittel des Sozialpro- vergleichlichen Massenwohlstand bescherte dukts wird auf diesem Wege umverteilt. Trotz und zu einem weltweit begehrten Exportarti- dieser gewaltigen Verschiebung gelingt die so- kel geriet, abgewrackt und schrottreif?

15 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

Der Neoliberalismus gerät dabei zur Keule der für Recht und Ordnung, garantiert das Eigen- Kritiker. Ein zügellos entfesselter Kapitalis- tum und die Vertragsfreiheit. Der Staat sollte mus erzeuge wachsende Armut und Arbeits- nur die Ordnungsformen skizzieren, in denen losigkeit, so wird behauptet, verpeste die sich Markt und Wettbewerb abspielen, nicht Umwelt und inszeniere ein globales Finanz- aber die Wirtschaft durch Eingriffe lenken. monopoly. Wurzel dieser und aller anderen Übel sei ebendieser Neoliberalismus. Dieses Prinzip zielt auf ständige Macht- verteilung, nicht auf Machtballung und Ver- Gegen Machtgelüste der krustung. Zu ihm gehören freilich auch sozia- Obrigkeiten le Sicherheit und der Schutz der Bevölkerung gegen technische und gesundheitliche Risiken. Eine erstaunliche und unhistorische Begriffs- Der Staat mag beispielsweise für die moderne verwirrung. Der Neoliberalismus, den bürger- Bio- und Gentechnologie Normen und Stan- lichen Freiheiten ebenso wie der Aufklärung dards vorgeben, sich aber nicht in die Wege verpflichtet, stellte die historische Antwort auf einmischen, auf denen die Wirtschaft diese die Hyperinflation von 1923 und die Welt- Produkte erzeugt und bestimmte Verfahren wirtschaftskrise 1929/31 dar. Liberalismus entwickelt und anwendet. und Neoliberalismus haben nicht nur den gleichen Wortstamm, sondern stellen nur Es kennzeichnet offene Gesellschaften, dass leicht unterschiedliche Entwicklungsphasen die Aufgaben des Staates nicht ehern festge- des freiheitlichen Individualismus dar. Beide schrieben sind. Das Evolutionäre liberaler Ge- verbindet mehr als sie trennt. Sie wollten den meinwesen bringt es mit sich, dass Art und Staat domestizieren, eine Antwort auf die All- Umfang staatlicher Eingriffe und Wohltaten macht des Absolutismus einerseits und die auch einem gewissen Zeitgeist unterliegen. merkantile Staatswirtschaft andererseits ge- Wenn eine Sozialhilfeempfänger-Familie ben. durch Nichtarbeit ein gleichhohes oder gar höheres Einkommen als eine arbeitende Fa- Der Liberalismus hat immer Front gemacht milie erzielt, ist jedoch ein wichtiger Markt- gegen Allmachtsgelüste der Obrigkeiten. grundsatz gravierend verletzt: das Leistungs- Auch in seiner jüngeren Form verstand er sich prinzip. Für die Väter des Liberalismus wäre stets als Gegenpol zu aufgeblähten Staatsappa- es unvorstellbar gewesen, dass auf Steuerzah- raten. Der Neoliberalismus überwand die lers Kosten öffentliche Lustbarkeiten wie Laissez-faire-Wirtschaften einerseits und den Rockkonzerte gefördert werden oder ein kri- Staatsinterventionismus des frühen Jahrhun- mineller Jugendlicher für mehr als 70.000 derts andererseits. Er korrigierte die Systeme Mark in eine Resozialisierung nach Argentini- zugunsten der Entscheidungsfreiheit des Bür- en geschickt wird. gers. Er plädiert für die Trennung von Staat und Gesellschaft. Jeder Bürger mag sein Le- Von seinen Gegnern wird der Neoliberalis- ben so einrichten und seine Risiken so absi- mus gern mit dem Nachtwächterstaat gleich- chern, wie es ihm gefällt. Keine Instanz sei gesetzt. Das ist auch hier eine üble Nachrede. geeignet, den Bürgern das Glück zu verord- Der Staat sollte zwar schlank, aber stark sein. nen. Sie sollte es ihnen nicht einmal verhei- Er sollte das Soziale abfedern, sich aber nicht ßen. Für die gesellschaftlichen Prozesse gibt dem Wahn hingeben, er könne das Schlaraf- der Staat lediglich einen Rahmen vor, sichert fenland nebst Freibier für alle anbieten. Dann das Land nach außen und nach innen, sorgt würde Wohltat zur Plage – das wäre nicht nur

16 Gillies • marktwirtschaft.de

unfinanzierbar, sondern auch eine Entmündi- Kollektiv ruft, ist das Leitbild. Allerdings ge- gung des Bürgers. Absicherung gegen unver- hört eine Vision nicht zum neoliberalen Ge- schuldete Notfälle – ja; Absicherung gegen alle dankengut: Der verhätschelte Sozialuntertan, Wechselfälle des Lebens – nein. der von sich nichts, aber vom Staat alles Wer die Marktwirtschaft zu erneuern Aus diesem Blickwinkel ist die staatliche Sozi- erwartet. Aus dieser antritt, sich auf Ludwig Erhard beruft alversicherung als Pflichtversicherung nur Sicht ist es mehr als und gleichzeitig den Neoliberalismus dann geboten, wenn private Versicherung und eine lässliche Sünde, verdammt, verhält sich wie ein Vorsorge im Wettbewerb die Ziele nicht zu er- wenn mit Gesetzen Genießer, der den Wein liebt, aber reichen vermögen. Bei der Pflegeversicherung wie jenen über 630- den Winzer hasst. ist dieses Prinzip verletzt worden. Die Ren- Mark-Jobs oder die tenversicherung schlüge den gleichen Weg ein, Scheinselbständigkeit die Bürger gegen ihren wenn sie hohe Renten kürzt, um niedrige auf- Willen in die Sozialkollektive zurückgezwun- zubessern. Damit würden alle Arbeitnehmer gen werden. indirekt enteignet, weil man sie ihrer durch Beiträge erworbenen Ansprüche beraubt. Die Woher aber nun die Beschimpfung eines ord- Behauptung, so werde nach sozialen Prinzipi- nungspolitischen Leitbildes, das sich alle zu re- en umverteilt, ist ein scheinsozialer Vorwand. novieren anschicken? Das ideologische Un- wohlsein stammt nicht aus dem Neoliberalis- Der Staat – schlank, aber stark mus, sondern aus der dauernden und an- schwellenden Verletzung seiner Prinzipien Die politische Polemik gegen den Neolibera- und deren Folgen. Zum Beispiel Sozialstaat: lismus unterschlägt, dass dieses gesellschaftli- Gut ein Drittel des Sozialprodukts wird auf che Leitbild die Pfahlwurzel auch der Sozia- höchst verschlungenen Wegen und mit höchst len Marktwirtschaft ist. Über die Freiburger ungewissen Folgen umverteilt. Trotz dieser ge- Schule der „Ordoliberalen“, jener ausgeprägt waltigen Verschiebung wächst das Missver- deutschen Variante der dreißiger Jahre, wurde gnügen mit dem Wohlstand. Der Wohlfahrts- er später zur Konstanten des Erhardschen staat, dem es früher offenbar mühelos gelang, Aufbruchs von 1948. Ludwig Erhard, der Va- mit geringer Umverteilung Zufriedenheit zu ter der Deutschen Mark und des wirtschaftli- bewirken, schafft mit hohen Umverteilungs- chen Aufbruchs, hat stets auch den freiheitli- quoten nur mehr weitere Sozialprobleme. De- chen Charakter betont und sich gegen ren größtes ist die Arbeitslosigkeit. Fragen „Freibeutertum“ auf den Märkten ausgespro- sind zwingend: Wann kippen Verteilungs- chen. anstrengungen ins Unsoziale? Warum haben sich Soziales und Marktwirtschaft entfremdet, Es gehört zu den historischen Verdiensten der je heftiger man sie miteinander zu verkoppeln neoliberalen Ökonomen, dass sie für einen suchte? starken Staat, fairen Leistungswettbewerb und verlässliche Rahmenbedingungen plädierten. In den meisten westlichen Demokratien tre- Der Staat soll den Wettbewerb sichern und ten Politiker mit dem Vorsatz an, allen Bür- schützen. Der Bürger mag sich frei – aber gern ein möglichst komfortables Leben zu si- nicht zügellos-anarchisch – entfalten, sein chern. Dabei folgen sie der Flagge der Gleich- Gewerbefleiß fördere den Massenwohlstand. heit. Sie fragen nicht mehr nach der Funkti- Das freie Individuum, zuerst für sich und die onsfähigkeit des Wettbewerbs und nicht nach Seinen sorgend, bevor es nach dem rettenden dem Schweiß, unter dem Einkommen entste-

17 Wie moralisch ist die Marktwirtschaft?

hen, sondern mühen sich nur um deren Vertei- Vor dieser Kulisse haben es Politiker, denen es lung. Mit einer Konvention, wer weniger als die um Stimmenmaximierung geht, besonders Hälfte des Durchschnitts verdient, sei arm, wer- schwer. Denn der egalitäre Denkansatz ist po- den der staatlichen pulär, jener der Freiheit dagegen fordernd. Die Abkehr von der Eigenverantwor- Intervention Tür Dass die Polemik gegen den Neoliberalismus tung und der Ruf nach dem Staat und Tor geöffnet. nicht frei von Heuchelei ist, zeigt die Debatte entmündigen die Bürger und Die Definition ist des Jahres 1999. Einerseits wird der Begriff als machen sie abhängig von öffentlicher willkürlich. Warum Moralkeule gegen kapitalistische Auswüchse Fürsorge. Die rekordhohen Beträge gilt nicht als arm, und internationale Finsterlinge gebraucht, an- für Steuern und Abgaben empfinden wer nichts oder an- dererseits berufen sich die Kritiker gleichzei- sie jedoch als Ausbeutung. Die Bürger wehren sich, indem sie dererseits ein Durch- tig auf seine Prinzipien. So zitierte der ehema- ihrerseits den Staat auszubeuten schnittseinkommen lige Kanzleramtsamtsminister Bodo Hom- oder aus den kollektiven Systemen verdient? Im ersten bach (SPD) zustimmend das tragende Element auszusteigen versuchen – ein Fall gäbe es allen- der Erhardschen Wirtschaftspolitik, wonach absurder Teufelskreis. falls einige Arme, Wohlstand nie durch Division, sondern stets die allerdings durch nur durch Multiplikation des Sozialprodukts die Sozialhilfe abgefedert würden, im zweiten entstehe. Gemeint ist: Nicht die mehr oder Fall vielleicht ein Elendsheer von zwanzig Mil- minder geschickte Verteilung des Erarbeiteten lionen Deutschen. Egalitäre Denkansätze wie bringt die Volkswirtschaft voran, sondern nur diese beseitigen die Armut nicht, sondern die Vermehrung des Sozialprodukts durch schaffen sie erst, weil sie die einzige Wohl- Wachstum. Offen ist freilich, ob und wie von standsquelle – die Leistung – verstopfen. dieser Ansicht auf die Ordnungspolitik der ge- samten Partei geschlossen werden darf. In Gruppeninteressen gefangen Nun gelten verbale Feindbilder in Gestalt von Zwischen Demokratieverfassung und Markt- „-ismen“ stets als nützliches und willkomme- verfassung haben sich Gruppendemokratie nes Beiwerk der Politik. Sie gehören zur Tak- und Korporatismus gezwängt. Der Blick rich- tik. Aber dahinter steht eine Strategie: die tet sich nicht mehr auf das Individuum, son- Umdeutung der Wirtschaftspolitik, ein Kurs- dern auf die jeweils stärkste Interessengruppe, wechsel in Richtung auf mehr Interventionis- die man zu gewinnen trachtet. Das Bündnis mus im Gewande der Solidarität. Da wirkt die für Arbeit ist eine solche korporatistische Uto- bewährte Blaupause der sozialen Marktwirt- pie, weil sie Marktversagen durch solidarische schaft störend. Der Kunstgriff: Die ökonomi- Sprüche zu ersetzen versucht. Zudem sind Le- schen und sozialen Probleme, die durch einen gislative und Exekutive ein stillschweigendes Mangel an Marktwirtschaft verursacht sind, Bündnis eingegangen und geben damit ihre werden dieser angelastet statt den emsigen Funktion der Gewaltenteilung auf. Diese Interventionisten. Gewaltenintegration zeigt sich im Deutschen auch dadurch, dass der öffentliche Der Sozialstaat dürfe keine Hängematte sein, Dienst unter den Mandatsträgern zugenom- mahnte Hombach, sondern müsse ein Tram- men hat und bereits über die absolute Mehr- polin werden: Jeder Bürger möge seine eige- heit verfügt. Dieser Prozess steigert die Fixie- nen Kräfte trainieren und eigenverantwortlich rung auf Gruppeninteressen und lässt das Bild soviel Muskeln bilden, dass er den Anschluss des freiheitlichen und eigenverantwortlichen an den Wohlstand wieder aus eigener Kraft Bürgers verblassen. schafft. Diese interessante Metapher Hom-

18 Gillies • marktwirtschaft.de

bachs hatte den linken Flügel der SPD jedoch den als Notwehr gegenüber dem allmächtigen bis aufs Blut gereizt. Welcher Graben sich Staat und gierigen Fiskus verstanden. Wenn durch die Sozialdemokratie zieht, zeigt die sich die Meinung verfestigt, in diesem System Reaktion des SPD-Sozialexperten Rudolf sei der Ehrliche der Dumme, drohen am Ende Dreßler: Er nannte Hombachs Denkmodell nicht nur Moralverfall und Rechtsbruch, son- inhuman und pervers. dern Entsolidarisierung.

Die soziale Marktwirtschaft – Längst scheint vergessen: Moral und Markt nicht nur ein Schönwettersystem sind keine Gegensätze. Die Marktwirtschaft ist weder eine Weltanschauung noch zwingt Nach dem Sieg der Markt- über die Planwirt- sie den Bürgern bestimmte gesellschaftliche schaft hätte man erwartet, dass die eigene Wirt- Werte auf. Sie ist lediglich ein Organisations- schaftsordnung mit mehr Selbstbewusstsein prinzip, in dessen Rahmen größtmöglicher zur Kenntnis genommen würde. Das Gegen- Wohlstand bei angemessener Sozialsicherung teil trat ein. Die Selbstzweifel wuchsen, je stär- bewirkt werden kann. Ihre Solidarität ergibt ker der internationale Wettbewerb wuchs und sich aus ihrer Leistungsfähigkeit. Die heutigen der Kostenblock des Sozialen drückte. Die Probleme von Arbeitslosigkeit, Staatsver- Marktwirtschaft geriet unter die Herrschaft der schuldung, Überforderung und Wachstums- Sozialpolitik. Dass es zu ihrem Wesen gehört, schwäche sind nicht die Folge marktwirt- dem Bürger nicht alle Lebensrisiken abzuneh- schaftlichen Versagens. Ihre Ursache liegt um- men, wurde nicht mehr wahrgenommen, wur- gekehrt darin, dass die Volkswirtschaft mark- de verdrängt. Sie geriet in den Verdacht, nur wirtschaftliche Regeln missachtet oder ver- mehr ein Schönwettersystem zu sein. biegt.

Ordnungspolitische Zweifel und Selbstzweifel Wer im nächsten Jahrhundert die marktwirt- führten zu einer Aussteigermentalität. Alle schaftlichen Kräfte wieder beleben will, muss Möglichkeiten zu nutzen, sich den kollekti- gegen die segmentarische Wahrnehmung der ven Zwängen zu entziehen, ist zu einem Brei- Bürger ankämpfen. Derzeit verkennen sie die tensport geworden. Gelockt durch einen Wucht sowie das Tempo des technischen und Rechtsanspruch nutzen junge Leute die Sozi- weltweiten Wandels, wiegen sich in der Sicher- alhilfe zu einer willkommenen Auszeit. Eine heit unfinanzierbar gewordener Besitzstände verwirrende, komplizierte und überhöhte Be- und erheben – bestärkt durch Politiker – An- steuerung verführt zu Tricks und zur Steuer- sprüche, die sie nicht erarbeiten. Die Ord- hinterziehung. Die Schattenwirtschaft – „die nungsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft Schweiz des kleinen Mannes“ – hat besorgnis- sind der Schlüssel, um den Standort Deutsch- erregende Dimensionen angenommen. Ihr land attraktiver zu machen und die drängen- Volumen wird auf bis zu sechshundert Milli- den ökonomischen und sozialen Probleme zu arden Mark jährlich geschätzt, weit mehr als lösen. Ein Meinungsklima, in dem die Regeln der Bundeshaushalt eines Jahres. Die Metho- des Marktes wieder erstrebt statt verachtet den, sich aus dem System auszuklinken, wer- werden, ist dafür zwingend.

19 Arbeit für alle: Wie es geht

Geht den Deutschen die Arbeit aus? Warum sein, alle Menschen in Arbeit zu bringen, die befinden sich einige Länder auf dem Rückweg dies wollen. zur Vollbeschäftigung – die Vereinigten Staa- ten, Großbritannien, Dänemark oder die Nie- In der Tat – es geht. Nur müsste man sich an- derlande –, während andere wie Deutschland, fangs darauf besinnen, dass auch der Arbeits- Frankreich oder Italien daran scheitern? Die markt ein Markt ist, besser: sein sollte. Er Befürchtung, hierzulande gebe es nichts mehr funktioniert nach dem Gesetz von Märkten, zu tun, ist sicherlich verwegen. Dass in dieser weil und wenn er Angebot und Nachfrage zur Gesellschaft oder auf diesem Globus ange- Deckung zu bringen vermag. Vereinfacht: Die sichts von industriellem Fortschritt, wachsen- „Ware Arbeit“ liegt im Schaufenster und wird den Wohlstandsbedürfnissen einerseits und feilgeboten. Es finden sich aber keine Käufer, Elend andererseits, den Menschen die Arbeit die sie zu diesem hohen Preis abnehmen wol- ausgehen könnte, ist unrealistisch. Knapp ist len. Nun greift der Anbieter der Ware Arbeit nicht die Arbeit, sondern der gutbezahlte Ar- zu einem ungewöhnlichen Trick: Er senkt beitsplatz, verbunden mit allen Insignien der nicht etwa den Preis, um seine „Ladenhüter“ sozialen Sicherheit für Krankheit, Alter, Ur- loszuwerden, sondern er erhöht ihn. Dabei laub und üblichem Lebenskomfort. Es gilt argumentiert er, der überhöhte Preis sei aus also, das vermeintliche Paradoxon „Viel Ar- sozialen Gründen erforderlich. Auch die bis- beit, wenig Arbeitsplätze“ aufzulösen. Zu wi- herige Arbeit habe er immer zu einem stei- derlegen ist auch die Behauptung, Arbeitslo- genden Preis losgeschlagen. Zudem warnt er sigkeit sei der siamesische Zwilling von Wachs- seine potenziellen Käufer, sie unterlägen vie- tum und Wohlstand. lerlei Gesetzen, die ihnen den Geschmack dar- an verderben würden. Nach dieser Anti-Wer- Deutschland, der europäische Kontinent, fast bung – hohe Preise und eingeschränkter Nut- die ganze Welt, sie alle stöhnen unter der Gei- zen – tritt die marktwirtschaftliche Folge auch ßel der Arbeitslosigkeit. Sie wird allseits als hier ein: Der Berg an nicht absetzbarer Ware drängendste Aufgabe empfunden. Immer her- schrumpft nicht, er wächst vielmehr. rischer fordern Bürger deren Lösung ein – und immer hektischer empfiehlt sich die Politik Der Imperativ „Arbeit für alle“ wird gleich- als Problemlöser. Nicht nur vor Wahlen lockt wohl als dauernder Urschrei ausgestoßen, der sie mit mehr Beschäftigung. Auch danach wer- die Bürger beeindrucken und geneigt machen kelt sie eifrig an Rezepten. Versprechungen, soll. Aber er tut es nicht. Nur schlichte Ge- die Erwerbslosigkeit binnen bestimmter Fri- müter glauben noch an das Geschenk der Voll- sten gleich um einige Millionen zu senken, beschäftigung zum gesellschaftlichen Nullta- wurden durch die Realität widerlegt. Darauf- rif. Dennoch versprechen Staaten, Regierun- hin hielt man sich mit Verheißungen zurück gen und Politiker weiter unbeirrt eine Lei- und setzte die Hoffnungen auf den Gemein- stung, die nur andere erbringen können. So sinn, auf konsensuale Lösungen an „Runden ist die Debatte um die Beschäftigung zu einem Tischen“ oder im „Bündnis für Arbeit“. Bei unehrlichen, zuweilen heuchlerischen Aus- gutem Willen aller Beteiligten, so heißt es tausch von Worthülsen geworden. Die politi- hoffnungsschwanger, müsste es doch möglich sche Klasse hat sich über Jahre dazu verleiten

20 Gillies • marktwirtschaft.de

lassen, Arbeitsplätze zu versprechen. Im öf- beitslose entschieden haben, korrigieren sich fentlichen Bewusstsein nistete sich der Glaube unter der Hand. Unter Bruch oder Negierung an ihre Omnipotenz ein. Das rächt sich. Alle von Tarifverträgen passen sie den Preis der Ar- Versprechen auf eine schmerzfreie Rückkehr beit langsam der zur Vollbeschäftigung erwiesen sich als hohl. realen Nachfrage Arbeitslosigkeit ist kein unabwendba- Es ist halt bequemer, sich an die Einklag- an. Vor allem in den res Schicksal, das über eine Gesell- barkeit von Arbeit zu klammern, statt die neuen Bundeslän- schaft hereinbricht. Eine Analyse Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen, unter dern, wo das Ar- ihrer Ursachen belegt, dass Arbeits- denen alte Arbeitsplätze verschwinden und beitslosenproblem marktprobleme vor allem hausge- neue entstehen. noch drängender als macht sind. im Westen ist, wer- Egoistische Jobbesitzer den Niedriglöhne akzeptiert, und die Gewerk- schaft blickt zur Seite. Bis zu jenem Preis für Blicken wir auf die glücklichen neun Zehntel die Arbeit, der wieder zur Vollbeschäftigung der deutschen Bevölkerung, die einen Arbeits- passt, ist es freilich ein langer Weg. platz besitzen. Sie mögen zwar fürchten, auch einmal erwerbslos zu werden, aber Folgerun- Wie muss ein Arbeitsmarkt funktionieren, gen haben sie daraus nicht gezogen. Vielmehr auf dem jeder, der arbeiten will, dies auch haben sie ihre Position bedenkenlos ausgebaut, kann? Vorweg: Von einem Markt, auf dem ihre Einkommen gesteigert und ihre soziale Si- Anbieter und Nachfrager in freier Entschei- cherheit mit mehr Komfort ausgestattet. Der dung und ohne Bevormundung zusammen- Rest der Jobsuchenden wurde von beidem aus- finden, und arbeiten, wie, wann und zu wel- gesperrt – nicht durch Habgier oder niedere In- chem Lohn es beiden nötig erscheint, kann in stinkte, sondern durch Strangulierung der Deutschland nicht die Rede sein. Das Problem Marktmechanismen. Bei Fortsetzung dieser beginnt mit dem Preis für die Arbeit, also Taktik droht die Spaltung der Gesellschaft und die Überfrachtung der Sozialkassen.

Arbeitsplätze direkt zu schaffen vermag der Arbeitslosigkeit – keine Einbahnstraße Staat nur in seinen eigenen Organisationen. Arbeitslosenquoten ausgewählter Länder 1993 - 1998 Diese sind jedoch mit Personal und dessen in Prozent ausufernden Kosten bereits beängstigend über- lastet. Weitere Blähungen würden an anderer, 10 produktiver Stelle wiederum Arbeitsplätze D kosten. Dieser Weg der weiteren Aufblähung des Staatsapparats scheidet also als Arbeits- 8 beschaffer aus, wenngleich er immer wieder beschritten wird.

6 UK Längst sucht sich das Problem eigene Lösungs- wege. Die florierende Schattenwirtschaft ist DK einer, das Verhalten der Tarifpolitik ein ande- USA rer. Die Gewerkschaften, die sich über Jahre 4 für die Einkommenswahrung der Arbeits- 93 94 95 96 97 98 besitzer und gegen den Arbeitsplatz für Ar- Quelle: OECD

21 Arbeit für alle: Wie es geht

Lohn und Gehalt. Die Tarifpolitik von Ge- und Produkte nutzt. Wenn zukunftsträchtige werkschaften und Arbeitgeber fixiert den Branchen wie die Gen- und Biotechnologie Lohn nicht nach dem Marktwert der Arbeit, mit Ängsten überfrachtet werden, entstehen sondern pauschal und flächendeckend für gan- die Arbeitsplätze nicht daheim, sondern im ze Branchen und Regionen, unabhängig da- Ausland. Hier macht sich allerdings in den von, ob ein Job dadurch in Gefahr gerät, über- letzten Jahren ein Wandel bemerkbar. Die bezahlt und damit unrentabel wird. Dabei ver- Menschen begreifen, dass beispielsweise die stehen die deutschen Gewerkschaften die Gentechnologie nicht an „Frankenstein-Mon- Lohnpolitik als Einkommenspolitik nur für stern“ arbeitet, sondern vermutlich nur mit die Besitzer von Ar- ihrer Hilfe Krankheiten wie Krebs und Aids Wenn eine Handelskammer in ihrem beitsplätzen. Für besiegt werden können. Bezirk mehr Schwarzarbeiter als die suchenden Er- registrierte Arbeitslose zählt, ist dies werbslosen werden Blüte im Schatten ein Indiz, dass sich die Menschen dadurch die Hür- klammheimlich und auf ungesetzli- den, einen Job zu Was auf dem kartellierten und verkrusteten chen Umwegen etwas sichern, was ihnen öffentlich verheißen, aber nicht erhaschen, noch hö- Arbeitsmarkt nicht zu haben ist – nämlich ein gegeben wird: Arbeitsplätze. her. Ihnen ist es ver- Job – beschaffen sich die Menschen auf ande- boten, ihre Arbeit rem Wege. Die Schattenwirtschaft, deren Volu- zu Konditionen an- men auf jährlich rund 550 Milliarden bis 600 zubieten, die unterhalb der vom Tarifkartell Milliarden Mark geschätzt wird, summiert sich ausgehandelten liegen. Die Folge dieser Strate- mittlerweile auf ein Sechstel des Sozialprodukt, gie ist, dass das Arbeitslosenproblem nicht ohne dass sie offiziell darin eingeht. Im Schat- durch die Verantwortlichen – die Tarifpartner ten zeigt sich, wie es geht: Unbehindert von – gelöst, sondern einem Dritten aufgeladen Gesetzen und Vorschriften, von Steuern und wird: dem Staat und seinen Sozialkassen. Abgaben, entstehen fleißig Arbeit, Güter, Dienstleistungen und Einkommen. Der Staat, Ein dichtes Netz von Regulierungen verhin- der mit kriminalistischem Aufwand diesen dert zudem, dass nötige Arbeit getan wird. Schatten aufhellen will, tut durch seine Finanz– Tarifliche und gesetzliche Vorschriften über und Sozialpolitik alles, damit er länger wird. Er Arbeits- und Ruhezeiten, über Kündigungen, bekämpft die Schwarzarbeit mit Regelungen Mindestlöhne, den Ladenschluss sowie eine und Razzien und verhindert dennoch nicht, Vielzahl von Einschränkungen wirken wie dass sie immer attraktiver wird. Arbeitsverbote. Diese Regulierungen werden vordergründig als soziale Schutzmaßnahmen Erwerbslosigkeit wird nicht nur unter dem definiert, wirken aber in Wahrheit unsozial – Kosten-, sondern auch unter dem System- arbeitsplatzvernichtend. aspekt diskutiert: Arbeit sei zu teuer, meinen die einen; eine unmenschliche kapitalistische Neben dem Preis für die Arbeit und ihrer Re- Globalisierung mache sie zunehmend über- gulierung ist eine Grundbefindlichkeit für die flüssig, klagen die anderen. Zwei Erscheinun- Rückkehr zur Vollbeschäftigung wichtig: das gen werden, weil sie politisch als wenig kor- beherzte Bekenntnis zu wirtschaftlichem rekt gelten, ausgeblendet. Es sind die hohe Wachstum. Dieses wiederum bedingt, dass die Zuwanderung nach Deutschland und die ver- Gesellschaft den Fortschritt nicht ablehnt änderte Erwerbsneigung. Beides steigere die oder ihm sich nur widerwillig beugt, sondern Nachfrage nach Arbeitsplätzen um viele Mil- offen die Chancen für neue Entwicklungen lionen Jobs – mit diesem Schub wäre auch

22 Gillies • marktwirtschaft.de

eine flexiblere Volkswirtschaft als die deutsche lem der Frauen. In den Zeiten der Vollbeschäf- nur schwer fertig geworden, heißt es. tigung lag die Quote der Erwerbswilligen bei rund 60 Prozent, heute liegt sie bei über 70 Derzeit sind rund siebeneinhalb Millionen Prozent. Noch nie in der deutschen Geschich- Ausländer aus 200 Staaten in Deutschland re- te äußerte sich der Drang zur Erwerbsarbeit gistriert. Dazu kommt eine unbekannte Zahl so deutlich, noch nie wünschten sich soviel von illegal Zugewanderten und Eingeschleu- Menschen eine Erwerbsarbeit wie heute. Vor sten. Allein zwischen 1990 und 1996 ergab allem Frauen drängen auf diesen Markt. Viele sich ein Nettosaldo (aus Zuwanderung und Menschen sehen in der Arbeit die entschei- Fortzügen) von rund 3,8 Millionen. Der dende, bisweilen die einzige Methode, sich Rechtsstatus dieser Menschen schwankt zwi- selbst zu verwirklichen. Ein offenes und ver- schen garantierter Aufenthaltserlaubnis und bessertes System von Bildung und Ausbildung Duldung. Mehr als 80 Prozent besitzen einen weist ihnen diesen Weg. Die Erwerbsneigung europäischen Pass, die größte Gruppe sind die ist auf einem historischen Höchststand und ehemals angeworbenen Gastarbeiter, daneben steigt vermutlich weiter. Besonders hoch war Flüchtlinge, Asylberechtigte sowie Asylbe- sie im Osten, gleicht sich aber im Laufe der werber. Jahre dem Westen an. Allerdings liegt die deut- sche Erwerbsquote gravierend niedriger als in Damit hat Deutschland – de facto längst ein vergleichbaren Ländern mit geringen Beschäf- Einwanderungsland – in einem Jahrzehnt tigungsproblemen. mehr Zuwanderer aufgenommen als alle an- deren 14 EU-Staaten zusammen. Viele Aus- Gruppen, die früher keine Arbeit nachfragten, länder wuchsen in zwei Generationen in die es heute aber tun, wollen durch Erwerb ihren deutsche Arbeitswelt hinein. Andererseits Wohlstand steigern. In einer freien Wirtschaft übernehmen Aussiedler und andere Zugewan- sollte sie niemand daran hindern. Hinzu kom- derte Tätigkeiten, die den Deutschen zu men langfristige soziale und kulturelle Trends: schlecht bezahlt oder aus anderen Gründen Die Gesellschaft sucht die individuelle Selbst- unannehmbar erscheinen. So erteilt die Bun- verwirklichung, den Sinn ihres Lebens, vor al- desanstalt für Arbeit jährlich rund eine Mil- lem in der Erwerbsarbeit. Zerbrechende Fami- lion Arbeitserlaubnisse an Ausländer, weil lienbande und ein veränderter Wertekanon be- Deutsche – angeblich – für diese Jobs nicht zu fördern diese Entwicklung. finden seien. Vom BAföG in die Frührente? Die Frage, ob die Zuwanderer den Arbeits- markt be- oder entlasten, ist emotionsbeladen. Bei näherem Hinsehen findet sich Erstaunli- In der Frühphase des Zustroms, als Gastarbei- ches: Eine hohe Erwerbsneigung ist – in ande- ter noch mit der Blaskapelle am Bahnhof be- ren Ländern jedenfalls – kein Vorbote für grüßt wurden, konnten sie Produktions- hohe Arbeitslosigkeit und kein Hindernis für engpässe überwinden helfen und haben so den eine hohe Erwerbsquote. Eine forciert verrin- Wohlstand im Lande kräftig erhöht. Ob sie gerte Tages-, Wochen- oder Jahresarbeitszeit heute bereits mehr konsumieren als sie produ- führt wegen der hohen Arbeitskosten zum zieren, ist offen. Gegenteil. Sie bremst die Beschäftigung. Der statistische Befund belegt, dass die deutsche Ein zweites, oft verkanntes Indiz ist die gestie- Strategie, das Arbeitsangebot künstlich durch gene Erwerbsneigung der Deutschen, vor al- verlängerte Bildungswege, Vorruhestand und

23 Arbeit für alle: Wie es geht

Frührente sowie Arbeitszeitverkürzung zu stark befrachtet ist, werden weniger davon ab- verringern, der falsche Weg ist. geschlossen. Wer Arbeit attraktiver machen will, muss diese Verbindung erst lockern und So registrieren Dänemark, die USA und Ja- dann lösen. Denn die soziale Sicherung an den pan hohe Erwerbsquoten von rund 80 Pro- Arbeitsvertrag zu binden, setzt ihn den stän- zent, aber gleichzeitig die niedrigsten Arbeits- digen Widrigkeiten und Änderungen der So- losenquoten (zwi- zialpolitik aus. Das ist beschäftigungsfeind- schen 4,1 und 5,1 lich. Die Senkung der Lohnnebenkosten, ver- Auf dem Königsweg, durch Innovati- on und Dynamik neue Vorsprünge zu Prozent). In Län- baler Bestandteil aller Politprogramme, ist da- gewinnen und so attraktive Arbeits- dern mit niedrige- für ein erster Schritt. Eine dauerhaft hohe felder zu erschließen, ist es noch ren Erwerbsquoten Arbeitslosigkeit löst entsprechend hohe So- recht einsam. wie Deutschland zialkosten aus. Diese wiederum verteuern die und Frankreich – Arbeit durch steigende Lohnnebenkosten, zwischen 68 und 71 Prozent – werden dage- führen zu Jobverlusten, verführen zu Schwarz- gen hohe Arbeitslosenraten (zwischen 9,4 und arbeit, Steuerhinterziehung und letztlich zu 11,7 Prozent) festgestellt. Je mehr Menschen Wachstumsverlusten. sich in den Arbeitsprozess eingliedern, desto dynamischer entwickelt sich die Wirtschaft. Arbeitsmarktprobleme, vor allem Offenbar ist die Methode, das Arbeitskräfte- hausgemacht angebot staatlicherseits zu verringern, eine de- fensive Strategie, die die Beschäftigung dros- Wer immer mit Arbeitsmarktzahlen jongliert, selt, statt sie zu fördern. sollte nie unterschlagen, dass die Erwerbslo- sigkeit kein Tornado ist, der zwanghaft über Dieser Effekt zeigt sich auch, wenn man die Menschen gekommen ist. Globalisierung Jahresarbeitszeit und Lohnnebenkosten ne- und ein beinharter Wettbewerb vernichten beneinander hält. Im internationalen Ver- Arbeitsplätze, lautet eine gängige Klage – als gleich ergaben sich 1997 folgende Jahres- ob über das einst vollbeschäftigte Deutschland arbeitszeiten: Japan 1990 Stunden, USA 1967, ein unabwendbares Schicksal hereingebrochen Großbritannien 1731, Frankreich 1539 und sei. Eine Analyse der Ursachen belegt jedoch, Deutschland 1519 Jahresstunden. In den Län- dass die Probleme vor allem hausgemacht dern mit ausgeprägter Verringerung der Ar- sind. Wer die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, beitszeiten sind die Personalnebenkosten be- ist gut beraten, ihre Ursachen trennscharf aus- sonders hoch. In Italien betrugen sie 103 Pro- zumachen und sich auf die korrigierbaren zent eines Bruttostundenlohns, in Frankreich Trends zu konzentrieren. Wie auf allen ande- 93 und in Deutschland 82 Prozent (1997). In ren Märkten gilt: Ungleichgewichte sind kein Ländern mit niedriger Arbeitslosigkeit sind Schicksal, sondern die Folge von Handlungen die Nebenkosten des Lohns entsprechend ge- und Unterlassungen der Beteiligten. ring: Großbritannien 40 Prozent, USA 39, Dänemark 25 Prozent. Wenn sich die Arbeitsmarktpolitik darauf fi- xiert, nur auf die Menge von Arbeit zu bli- Ein Webfehler des verkrusteten Systems liegt cken und diese möglichst „gerecht auf mehr darin, dass Einkommen, soziale Wohlfahrt Schultern zu verteilen“, hat sie den Kampf ge- und diverse Annehmlichkeiten an einem ein- gen die Arbeitslosigkeit schon verloren. Die zigen Konstrukt festgemacht sind: dem Ar- Vorstellung, es gebe nur einen begrenzten oder beitsvertrag. Weil er mit diesen Kosten zu sogar schrumpfenden Vorrat an verfügbarer

24 Gillies • marktwirtschaft.de

Arbeit, verkennt den wirtschaftlichen Struk- teur bis zum Berater, von der Gärtnerei bis zu turwandel. Dabei übersieht sie die zielfüh- einfachen Pflegeaufgaben. Da der Staat nie- rende Strategie, durch dynamische und einla- manden zwingen will und kann, diese Jobs zu dende Rahmenbedingungen mehr Arbeits- akzeptieren, weichen die Arbeitslosen in die chancen zu eröffnen, statt lediglich die vor- Sozialhilfe und die Schwarzarbeit aus. Für handenen zu verteilen. scharfe Rechner ist diese Lösung oft attrakti- ver als eine „weiße“ Erwerbsarbeit. Leidtragende dieser Fehleinschätzung sind vor allem die Problemgruppen, die Langzeit- Aus diesem Problem ist die Idee des Kombi- arbeitslosen und jene ohne Qualifikation. Gut lohns entstanden. Um die niedrig bezahlte Ar- anderthalb Millionen Arbeitslose haben kei- beit gegenüber dem gut abgefederten Sozial- ne Ausbildung. Sie in einen Job zu bringen ist system attraktiver zu machen, wurde vorge- besonders schwierig. Vor allem die hohen schlagen, die Löhne durch Subventionen so Löhne verhindern dies. Befragungen ergaben, aufzubessern, dass sie höher sind als die Sozial- dass fast vier Fünftel der Unternehmen preis- hilfe. Dieser Denkansatz hat Vorteile: Sozialhil- werte Arbeitskräfte suchen, aber angesichts feempfänger, teilweise seit Jahren einer der hohen Löhne darauf verzichten. So blei- Erwerbsarbeit entwöhnt, werden zur Arbeits- ben zwischen drei und vier Millionen Jobs im aufnahme angereizt. Ihnen wird deutlich ge- Service unbesetzt (andere Hochrechnungen macht, dass die Sozialleistungen nicht vom kommen auf bedeutend höhere Zahlen): im Himmel fallen, sondern von anderen – dem Gaststättengewerbe, im Handel, bei sozialen Steuerzahler – verdient werden. Bei steigenden und privaten Diensten. Die Palette reicht vom Löhnen sinkt der Subventionsbedarf. Die Silberputzer im Hotel über den Parkservice Kombilöhner erhalten eine Chance für den oder Tütenpacker im Handel, vom Anima- Einstieg in den normalen Arbeitsmarkt.

Deutschland: Fehlstart in die Dienstleistungsgesellschaft

Die Industrie fertigt mit immer weniger Menschen immer deutsche Dienstleistungssektor dem amerikanischen annä- mehr Produkte. Anderswo hat das Wachstum der Dienstleis- hert, ergäben sich in Deutschland bei den distributiven Diens- tungsgesellschaft einen ansehnlichen Ausgleich für den Ver- ten wie Handel, Wartung und Reparatur rund 1,7 Millionen lust an Industriejobs gebracht. Nicht so in Deutschland. Ein neue Jobs, im wirtschaftsnahen Service (Beratung, Werbung, Vergleich mit den USA zeigt die Schere: In den Vereinigten Leasing, Planung) gut zwei Millionen, bei den Freizeitdiensten Staaten arbeiten 345 von 1000 Erwerbstätigen im Dienst- (Gastronomie, Erholung, Kultur) weitere 1,9 Millionen und leistungssektor, in Deutschland nur 261 Personen. Umge- bei den Sozial- und Erziehungsleistungen deutlich mehr als kehrt schaffen in den USA 114 von 1000 Erwerbstätigen in zwei Millionen Arbeitsplatzchancen. Selbst wenn unterstellt der Produktion, in Deutschland sind es – noch – 166. Weil wird, dass die statistische Zurechenbarkeit zwischen Pro- die Gesellschaft diesen Strukturwandel nicht fördert, son- duktion und Dienstleistungen in den USA und Deutschland dern sich ihm eher widerwillig ergibt, ihn meist auch zu etwas unscharf ist, „ergeben sich rechnerisch bis zu sechs bremsen versucht, reicht die Flexibilität nicht aus, verlorene Millionen Beschäftigungsmöglichkeiten, die aufgrund des ver- Jobs durch kreative neue zu ersetzen. späteten deutschen Übergangs zur Dienstleistungsgesell- Bei einer Gegenüberstellung zwischen den USA und Deutsch- schaft ungenutzt bleiben“ (so die Sozialwissenschaftler Rolf land auf der Jahresbasis von 1995 ergaben sich sogar noch Heinze und Wolfgang Streeck, die in einer Expertengruppe höhere Jobpotentiale. Wenn man unterstellt, dass sich der dem Bündnis für Arbeit zuarbeiten).

25 Arbeit für alle: Wie es geht

Dem stehen jedoch gewichtige Nachteile ge- („Mohrensiedlungen“), die in „Nachbar- genüber. Bei steigendem Angebot an Kombi- schaftshilfe“ hochgezogen wurden. Aber auch Jobs muss der Staat immer mehr Steuergelder der Gärtner, die Friseuse, der Lehrer, der Arzt, aufwenden. Das Modell diskriminiert die Teil- der Anwalt, der Journalist, die Klavierlehre- zeitarbeit. Der Staat subventioniert Personen rin, die Putzhilfe, der Fensterputzer, der Me- unabhängig von ihrer Bedürftigkeit. Bezu- chaniker und viele andere Berufe arbeiten schusst werden auch bestehende Jobs und schon mal „nebenbei“. Die Einstiegsfrage lau- nicht nur zusätzliche. Das Modell birgt ver- tet stets „Brauchen Sie eine Rechnung?“. Nicht fassungsrechtliche selten überlässt der Chef seinem fleißigen Probleme, weil glei- Maurergesellen übers Wochenende den Beton- Die blühende Schattenwirtschaft, deren Volumen auf rund 550 che Tatbestände un- mischer, fördert also genau das, was er vor sei- Milliarden bis 600 Milliarden Mark gleich behandelt ner Innung beklagt. geschätzt wird, zeigt den Weg: Arbeit werden. Schließlich ist in Deutschland zu teuer und mit ist es bei einem un- Schwarzarbeit bedeutet Hinterziehung von zu hohen Steuern und Abgaben veränderten Exis- Steuern und Sozialabgaben. Wie hoch die belastet. tenzminimum der Ausfälle tatsächlich sind, ist umstritten. Denn Sozialhilfe für den Staat sehr teuer. Ob es die auch der „Schwarze“ benötigt Betriebsmittel, Schwarzarbeit bekämpfen hilft, ist umstritten. die er im Baumarkt kauft, wofür er Steuern Gleiches gilt für die Hoffnung, die Lohn- zahlt. So kurbelt die schwarze Wirtschaft die subventionen würden durch entsprechende weiße an. Der Wachstumseffekt dieser verbor- Einsparungen von Sozialhilfe gedeckt. genen Tätigkeit sollte nicht unterschätzt wer- den, denn viele Güter und Dienste wären zu Schlüsselfrage: „Brauchen Sie den offiziell hohen Arbeitskosten gar nicht eine Rechnung?“ entstanden. So ist der Wohlstand der Deut- schen durch diese verborgene Dynamik hö- Eine sehr dynamische und blühende „Branche“ her, als die Statistiken ihn ausweisen. Auf die ist in Deutschland die Schwarzarbeit. Berech- Sozialkassen wirkt Schwarzarbeit sehr unter- nungen der Bundesbank, der offiziellen Stati- schiedlich. Die emsigen Feierabendwerker stik und von Wissenschaftlern zeigen ihr rasan- zahlen keine Rentenversicherungsbeiträge, lö- tes Wachstum: Mitte der siebziger Jahre wurde sen aber auch keine Leistungen aus. Arbeits- sie auf 59 Milliarden Mark geschätzt, was 5,8 losen- und Krankenversicherung sind stärker Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ent- betroffen. Denn krank werden kann man bei sprach. Von 1980 bis 1990 kletterte der „schwar- illegaler Tätigkeit ebenso wie bei legaler. ze“ Umsatz von 159 auf 296 Milliarden Mark (12,2 Prozent des BIP). 1995 wurde sie bereits Dies soll die Schattenwirtschaft nicht verharm- auf 481 und 1997 auf 546 Milliarden Mark ge- losen. Ihre wirkliche Bedrohung liegt weniger schätzt. Das entsprach bereits 15 Prozent des im Ökonomischen als im Gesellschaftlichen: Inlandsprodukts. An der Jahrhundertwende Immer mehr Bürger missachten staatliche Ge- dürfte sie 600 Milliarden Mark umsetzen. setze und verharmlosen die Verstöße als „Not- wehr“ gegenüber einem allzu gierigen Fiskus. In der Schattenwirtschaft sind der illegalen Das – wie übrigens auch die Steuerhinterzie- Phantasie keine Grenzen gesetzt. Ihre klassi- hung – führt zu einer unausgesprochenen Mah- schen Erscheinungsformen findet man im nung: Die Steuern und Abgaben in Deutsch- Handwerk, vor allem auf dem Bau. Im ländli- land sind zu hoch. Wird das nicht korrigiert, chen Raum gibt es ganze Häuserreihen folgt der Steuerverdrossenheit die Staatsver-

26 Gillies • marktwirtschaft.de

drossenheit. Hier liegt die zentrale Gefahr der Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Bleiben wir in der Realität. „Versuchen Sie mal, nach 18.30 Uhr in Deutschland etwas zu essen zu bekommen, ohne dass Sie dabei auf ausländische Kräfte zurückgreifen“, meinte der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble in einem Gespräch mit Handelsvertretern im Bonner Wasserwerk. „Vermutlich würden Sie verhungern“, folgerte er. Gewiss gibt es hier- zulande noch deutsche Gastwirte mit deut- schem Personal. Aber die Branche ist sicher, ohne ausländische Kräfte nicht mehr auskom- men zu können. Als der Plan diskutiert wur- de, Kriegsflüchtlinge aus Bosnien massiver als bisher in ihre Heimat zurückzuschicken, be- fürchtete eine Landesregierung gar einen „Pflegenotstand“.

Die Deutschen lieben Spargel, Erdbeeren und Wein. Aber ohne polnische, russische oder jugoslawische Erntehelfer können offenbar weder der Spargel gestochen, noch die Erdbee- ren gepflückt oder der Wein gelesen werden. Dass die germanische Müllabfuhr und andere Dienstleistungen ohne hilfswillige Ausländer sind. Selbst für die schon länger in Deutsch- ins Schleudern käme, ist bekannt. land lebenden und arbeitenden Ausländer fällt der Vergleich zwischen der sozialen Absiche- Die Arbeitsämter gewähren im Jahr weit mehr rung bei Nichtarbeit und dem Lohn für ge- als eine Million Arbeitserlaubnisse für Nicht- ring bezahlte Tätigkeiten nicht zugunsten ei- EU-Ausländer. Um darunter einen Stempel ner Arbeitsaufnahme aus. Das ist eine Erklä- zu drücken, muss zuvor der Beweis erbracht rung für die blühende Schattenwirtschaft, werden, dass Deutsche für diese Arbeiten aber auch für die Attraktivität der sozialen nicht zur Verfügung stehen. Dieser Beweis Absicherung. Am Rande: Mit der langsamen wird für drei Viertel der Fälle erfolgreich ge- Erholung am Arbeitsmarkt wird es auch wie- führt. Dass ein Thai- oder ein China-Restau- der zunehmend schwieriger, die wachsende rant einschlägigen fernöstlichen Sachverstands Zahl an offenen Stellen zu besetzen. bedarf, liegt auf der Hand. Aber die Masse der Arbeitserlaubnisse wird für Tätigkeiten ge- Ihre Zahl führt in der monatlichen Berichter- währt, die einstmals von Deutschen zustande stattung der Bundesanstalt für Arbeit ein Schat- gebracht wurden. tendasein. Das ist schade, denn sie ist ein Früh- indikator für die künftige Entwicklung. Sie Gewiss handelt es sich hier um Verrichtungen, zeigt zudem, dass die registrierte Erwerbslosig- die für Arbeitslose nicht sonderlich attraktiv keit kein monolithischer Block ist. Innerhalb

27 Arbeit für alle: Wie es geht

der relativ starren Gesamtzahl gibt es viel Be- destens fünf eigene Stundenlöhne aufwenden. wegung. Die offenen Stellen, die aus Nürnberg Eine fettgedruckte Einladung zur Schwarzar- gemeldet werden, geben nur einen Teil der Va- beit. kanzen wieder. Mittlerweile melden die Betrie- be zwei Fünftel ihrer Jobangebote den Arbeits- Wenn in einem Haushalt ein Familienmitglied ämtern. Von zehn offenen Stellen gehen also so pflegebedürftig wird, dass ein Heimauf- nur vier in die Statistik. Am Ende der enthalt zwingend scheint, sind viele Menschen neunziger Jahre gibt es also deutlich mehr als erschüttert, wenn sie die Preise für die Heim- eine Million Arbeitsangebote, die nicht oder unterbringung erfahren. 5000 oder 6000 Mark nicht rasch genug wahrgenommen werden. Be- im Monat sind keine Seltenheit. Selbst gut ver- stimmte Branchen suchen händeringend Leu- dienende Familien vermögen derartige Beträ- te, die sie am Markt nicht bekommen – weil es ge nicht aufzubringen. Warum sind diese und den Bewerbern an der nötigen Qualifikation andere Leistungen so unverschämt teuer? War- fehlt oder sie die angebotene Tätigkeit persön- um berechnet eine Autowerkstatt Apotheker- lich für nicht zumutbar halten. preise, warum kostet die Reparatur einer Waschmaschine soviel wie ein Radio, und war- Die Bürger begehren hohe Einkommen und um ist der Urlaub auf Mallorca preiswerter als eine komfortable soziale Absicherung, bekla- die Ferien im heimischen Schwarzwald? gen aber gleichzeitig die hohen Stundenlöh- ne, wenn sie selbst einen Handwerker brau- Die Erklärung in allen diesen Fällen: Hinter chen. Dieses bizarre Ungleichgewicht wird an der korrekt abgerechneten Arbeit in Deutsch- einem Beispiel deutlich: Wenn ein Maurer für land verbergen sich die hohen Kosten des so- sein eigenes Häuschen einen Klempner enga- zialen Netzes und der anderen Ansprüche an giert, muss er für dessen Arbeitsstunde min- die Lebensqualität. Die Arbeitskosten sind also nicht nur das Entgelt für die sichtbare Tätigkeit, sondern gleichzeitig auch der Preis für die verborgenen Leistungen der sozialen Arbeitskosten I: Brutto-Zuwächse kamen Absicherung. Dazu gehören der sechswöchi- nicht an ge Urlaub plus Urlaubsgeld, der Verdienstaus- fall bei Abwesenheit und im Krankheitsfall, Bruttolohn- und Gehaltssumme sowie Nettolohn- und die Absicherung gegen Alter, Krankheit, Pfle- Gehaltssumme je Beschäftigtem und Monat 1991 - 1998, preisbereinigt, 1991 = 100 ge, Unfall und gegen andere Risiken.

112 Es kann also niemals billig sein, was in Wahr- Bruttolohn- und heit systematisch verteuert wurde. Kein Pfleger Gehaltssumme arbeitet für ein Vergelt’s Gott, kein Handwer- 108 ker verzichtet auf soziale Wohltaten, nur um den Preis für seine Arbeit wieder konkurrenz- fähig zu machen. Die Tarifpolitik hat ihn darin 104 bestärkt. Denn sie entschied sich für die Erhal- Nettolohn- und Gehaltssumme tung und den Ausbau der gewohnten Standards und gegen die Wettbewerbsfähigkeit. 100 1991 1993 1995 1997 Dass dieses Land im Export so erfolgreich ge- Quelle: IW Köln blieben ist, hängt damit zusammen, dass eine

28 Gillies • marktwirtschaft.de

kapitalintensive Hochtechnologie und ein in- mer häufiger wird Mehrarbeit durch Freizeit novatives Qualitätsbewusstsein den Anteil der abgegolten. Entsprechend hat sich der Anteil Lohnkosten überdecken. Wo sie jedoch be- der Arbeitnehmer, die auf Bezahlung beste- herrschend bleiben, ist Arbeit zu teuer und hen, in anderthalb Jahrzehnten etwa halbiert. nicht mehr wettbewerbsfähig. So taucht der Für das Unternehmen sind Überstunden kei- deutsche Maurer in die Schattenwirtschaft ab ne attraktive, sondern die teuerste Form der und die Lohnfertigung der Näherin nach Arbeitsleistung. Sie sind mit hohen Lohnzu- Tschechien. Beide werden auf diesem Wege schlägen verbunden, und der Chef muss seine wieder konkurrenzfähig. Auf der Strecke blei- Mitarbeiter – meist auch den Betriebsrat – ben rund vier Millionen Arbeitslose. dazu überreden und sie dafür gewinnen. Viele Unternehmen können dennoch nicht auf Überstundenabbau keine Lösung Überstunden verzichten. Denn damit über- brücken sie Engpässe und Krankheitsquoten, Neben den Empfehlungen, die Wochen- reagieren auf eilige Großaufträge oder saisona- arbeitszeit auf 30 oder gar 20 Stunden zu sen- le Schwankungen des Geschäfts. Wer seine Fle- ken, ist die Forderung nach einem umfassen- xibilität wahren will, um im Markt zu blei- den Abbau von Überstunden im Dauer- ben, kann darauf nicht verzichten. Überstun- gespräch – als weitere „Patentlösung“, die auf den sichern die Wettbewerbsfähigkeit und da- Verteilung der Arbeitsmenge abzielt. Dahin- mit die Arbeitsplätze. ter steht vereinfacht folgende Überlegung: Wenn 18 Arbeiter, die über ihre Norm- Die Vorstellung, Arbeit sei homogen und des- arbeitszeit von 36 Stunden hinaus wöchent- wegen beliebig teilbar, reflektiert das verblas- lich zwei Überstunden schieben, künftig dar- auf verzichten, könnte man stattdessen einen weiteren Arbeiter einstellen. Über die volks- Arbeitskosten II: Deutschland an der Spitze wirtschaftliche Dimension dieser Mehrarbeit streiten sich die Experten. Die Bundesanstalt Arbeitskosten je Arbeiterstunde, Verarbeitende Industrie 1998, in D-Mark für Arbeit errechnet aus knapp zwei Milliar- Direktlohn den bezahlten Überstunden im Jahr ein Lohnzusatzkosten Potenzial von 1,2 Millionen Arbeitsplätzen. D Die unbezahlte Mehrarbeit – es gibt sie in Fül- CH le – bliebe dabei unberücksichtigt. Von Ge- DK werkschaftsseite wird behauptet, es könnten B zwischen 240.000 bis 630.000 normale Ar- S beitsverhältnisse entstehen, wenn Betriebe NL und Behörden konsequent auf Überstunden USA verzichteten. Ein anderes Wirtschafts- J forschungsinstitut veranschlagt diesen Job-Ef- F fekt nur auf 20.000 Stellen, ein drittes meint UK dagegen, Überstundenabbau vernichte sogar I Arbeitsplätze. E IRL Ein Blick in die Realität erleichtert das Urteil. P Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich die 01020304050 Überstundenleistung ständig verringert. Im- Quelle: IW Köln

29 Arbeit für alle: Wie es geht

sende Bild des am Fließband schaffenden In- Machtloses „Bündnis für Arbeit“ dustriearbeiters. Wenn 18 Durchschnittsarbei- ter auf ihre zwei Überstunden verzichten und Aber wenn alle es nur ernsthaft wollen, muss so einen neuen Kollegen bekommen, dann es doch zu schaffen sein! Deutschland hat mit setzt dies voraus, dass der Neue exakt die glei- seiner auf Konsens gerichteten Verbände- che Tätigkeit ausübt wie seine 18 Kollegen. demokratie auch in früheren Jahrzehnten ei- Unterstellt man jedoch die Realität – dass sich nen hohen Beschäftigungsstand bewirkt. Aus nämlich die Tätigkeiten vielfältig unterschei- dieser trotzigen Feststellung wurde das „Bünd- den – geht das Mo- nis für Arbeit“ geboren. Die Idee ist, alle ge- Das „Bündnis für Arbeit“ mag das dell der Teilbarkeit sellschaftlichen Kräfte an einem Tisch zu ver- gesellschaftliche Klima entspannen, nicht auf. Überse- sammeln und gemeinsam mehr Wachstum, aber es verhindert zielführende hen wird auch, dass Wohlstand und Arbeitsplätze zu schaffen. Ein- Lösungen. Derartige Konsensrunden pflegen die Verantwortung für die ein Vertriebsmitar- geladen sind die Wirtschaftsverbände und die Beschäftigung auf Dritte abzuwäl- beiter, der etwas län- Gewerkschaften, Regie führt der Staat. Er zen, statt sie wahrzunehmen. Der ger schafft, die Ar- reicht einen Klingelbeutel herum, in den jeder Regisseur Staat sollte sich auf die beitsplätze anderer, ein Opfer geben sollte. Und am Ende steht, so ordnungspolitischen Bedingungen beispielsweise in der die Hoffnung, ein höherer Beschäftigungs- für eine wachstums- und Fertigung, sichert. grad. Karl Schiller nannte dies in den sechziger innovationsfreundliche Wirtschafts- politik beschränken. Da die häufig gerin- und siebziger Jahren im Rahmen der „Kon- ge Qualifikation der zertierten Aktion“ den „runden Tisch der ge- Arbeitslosen ein Hauptproblem ist, kommt sellschaftlichen Vernunft“. eines hinzu: Wenn Facharbeiter, Meister, Sach- bearbeiter und Ingenieure auf Mehrarbeit ver- Kann diese Hoffnung aufgehen? Gewiss geht zichten, ist es unwahrscheinlich, dass sich im von dem Bündnis Herzenswärme in einer ver- Arbeitslosenreservoir die entsprechende Qua- meintlich kalten Wirtschaft aus. Es strahlt lifikation findet. Leisten sie jedoch mehr, er- Gemeinsinn aus und ist populär. Aber alles halten auch die Wenigqualifizierten wieder spricht dafür, dass die Beteiligten, mehr noch eine Chance. die auf handfeste Ergebnisse wartende Öffent- lichkeit, einem Irrtum unterliegen. Innerhalb Ein durch Druck oder Gesetz erzwungener der Triade am Runden Tisch verfolgt jeder Abbau von Überstunden hätte fatale Folgen. Teilnehmer eigene Ziele. Wechselseitige Zuge- Er liefe wie jedes Arbeitsverbot auf Wachs- ständnisse, mit denen wieder ein funktionie- tums- und damit Beschäftigungsverzichte hin- render Arbeitsmarkt entsteht, sind unwahr- aus. Wer jedoch die Erwerbslosigkeit abbauen scheinlich. Die Verbände der Arbeitgeber bei- will, muss den umgekehrten Weg gehen: die spielsweise sind außerstande, im Namen ihrer Arbeitszeiten flexibler an den Markterforder- Mitglieder Verpflichtungserklärungen abzuge- nissen orientieren, nicht an der kollektiv-sta- ben, etwa jene, binnen einer bestimmten Frist tischen Vorstellung, dass die Sirene Montag- niemanden zu entlassen oder soundsoviel früh die Mitarbeiter ruft und sie Freitagnach- neue Leute einzustellen. Das wäre ebenso naiv mittag im Gleichschritt wieder entlässt. Eine wie das Zugeständnis der Gewerkschaften, „atmende“ Arbeitszeit skizziert ohnehin die ihre Lohnpolitik zu mäßigen oder die Tarif- Zukunft. Denn im nächsten Jahrhundert wer- abkommen durch Niedriglöhne unterlaufen den Prozesse kaum noch nach der Anwesen- zu lassen. Auch der Staat als Regisseur bräuch- heit der Arbeitnehmer abgewickelt, sondern te kein Bündnis, um die Wachstumsbedin- danach, ob sie ihre Aufgabe erfüllen. gungen zu verbessern, also die Steuern und

30 Gillies • marktwirtschaft.de

Abgaben zu senken sowie die Sozialsysteme dern, wenn der Staat Kredite aufnimmt, um zu durchforsten. Jedes Zugeständnis liefe auf die schwache Nachfrage zu beleben. Das be- die Beschneidung von Besitzständen und Sou- wirke mehr Kaufkraft, danach wieder höhere veränitäten hinaus. Und beides will keiner. Steuereinahmen, und der Staat könne die auf- genommenen Schulden alsdann zurückzah- So werden keine Konzepte gewechselt, son- len. Keynes lehnte Lohnsenkungen in der dern Worte. Dennoch nimmt man an diesem Wirtschaftsflaute ab, weil er soziale Konflikte Alibitreffen teil, weil man sich nicht dem Vor- befürchtete. Keinesfalls aber empfahl er Lohn- wurf der Blockade aussetzen will. Das „Bünd- erhöhungen, um die Nachfrage anzukurbeln. nis für Arbeit“ mag somit das gesellschaftli- Der Ökonom vertrat nur die Meinung, dass che Klima entspannen, konkrete Lösungen durch Lohnsenkungen nicht immer neue Ar- verhindern die Interessenlagen. Die Verant- beitsplätze entstehen. wortung für die Beschäftigung wird abgewälzt statt wahrgenommen. Einige Gewerkschaften erhoben die Kauf- kraftheorie des Lohnes dennoch zu ihrem Cre- Wundersames Perpetuum mobile do. Ökonomisch ist sie unlogisch. Denn es kann nicht stimmen, dass Unternehmen umso Der Regisseur Staat sollte besser die ordnungs- wettbewerbsfähiger werden, je höhere Löhne politische Arbeitsteilung unterstreichen: Die sie zahlen. Die Kaufkrafttheorie des Lohnes Europäische Zentralbank sorgt durch knappes übersieht einen wichtigen Zusammenhang: Ta- Geld für möglichst stabile Preise, der Staat sa- niert die Sozialsysteme sowie sein Budget und fördert den Wettbewerb durch Privatisierung, und die Tarifparteien verantworten die Be- Lohnsteigerungen: Hohe Kosten, schäftigung. Diese Arbeitsteilung wird durch geringer Kaufkraftzuwachs Beschwörungen an Bündnis-Tischen ver- Angenommen, ein Mitarbeiter bekomme einen wischt. Lohnzuschlag von 100 D-Mark. Das kostet sei- nen Arbeitgeber 121 D-Mark. Als kaufkräftige Ein anderer Denkansatz, um mehr Schwung Nachfrage kommen davon lediglich rund 35 Mark in die Wirtschaft zu bringen, ist die Kaufkraft- bei inländischen Unternehmen an. Die Rechnung theorie des Lohnes. Sie wird als belebendes im einzelnen: Doping von einigen Gewerkschaften propa- giert. In ihrer schlichten Form lautet sie: Gebt Lohnzuschlag brutto 100,00 DM den Leuten einfach mehr Geld in die Hand, + Arbeitgeberbeiträge zur damit sie mehr konsumieren können; das för- Sozialversicherung 21,05 DM dert die Nachfrage, regt Investitionen an und Belastung des Arbeitgebers 121,05 DM letztlich die Beschäftigung. Ein wundersames Lohnzuschlag brutto 100,00 DM Perpetuum mobile. – Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung 21,05 DM Es beruht auf einem Missverständnis, das auf – Lohnsteuer 27,15 DM den britischen Nationalökonomen John Lohnzuschlag netto 51,80 DM Maynard Keynes (1883-1946) zurückgeht. Er – Ausgaben für Importe 11,50 DM hat die Kaufkrafttheorie geadelt. Aus der De- – Ersparnis 5,65 DM pression der dreißiger Jahre folgerte er, kon- Ausgaben für heimische Güter 34,65 DM junkturelle Arbeitslosigkeit lasse sich verhin- Quelle: IW Köln

31 Arbeit für alle: Wie es geht

riferhöhungen bessern zwar die Einkommen schäftigung – und mit ihr die Nachfrage. Im der Arbeitnehmer auf (zumindest dann, wenn Jahre 1998 wurden in der Branche die Löhne die Inflation dies nicht wieder wegfrisst), aber erhöht, was rund 70.000 Mitarbeiter, das sind sie sind gleichzeitig auch Kostenerhöhungen für zwei Prozent der Belegschaft, kostete, wäh- die Betriebe. Mehr noch: Dieser Kosteneffekt rend die Lohnzurückhaltung des Vorjahres übertrifft den Einkommenseffekt in den Lohn- 50.000 neue Stellen ermöglichte. tüten bei weitem. Moderate Tarifpolitik ist eine Kaufkrafttheo- Die Rechnung auf der vorigen Seite zeigt: Um rie der aufgeklärten Art: Sie schafft kaufkräf- die inländische Nachfrage mit 35 Mark anzu- tige Nachfrage durch Arbeitseinkommen. kurbeln, fallen im Betrieb Kosten von 121 Dies geschieht sogar nachhaltig, wogegen die Mark an. Dieses simple Belebung sich stets nur als Strohfeuer Das Motto „Mehr Arbeit durch schlechte Geschäft erwies. Es hinterließ neben dem Katzenjam- weniger Bescheidenheit“ führt direkt wird dadurch zwar mer hohe Schulden, die auch im Aufschwung in die Arbeitslosigkeit. etwas aufgehellt, nicht mehr getilgt wurden. Erwerbslosigkeit dass auch die Sozial- ist spätestens seit den achtziger Jahren nicht abgaben und das Sparen irgendwann den Kon- mehr auf mangelnde Güternachfrage zurück- sum stimulieren. Aber die Rechnung, dass sich zuführen, sondern auf zu hohe Kosten und die Wirtschaft am eigenen Schopf aus der Ar- Verkrustungen des Arbeitsmarktes. beitslosigkeit ziehen könnte, bleibt eine öko- nomische Sackgasse. Sie rechtfertigt ein „Ende Wer die Beschäftigung ankurbeln will, muss der Bescheidenheit“ nicht. also erstens die Kurbel finden und sie zweitens an der richtigen Stelle ansetzen. Der auch von Wirtschaftspolitikern gern be- nutzte Ausspruch „Autos kaufen keine Autos“ Wachstumspessimismus verfehlt soll von Henry Ford stammen. Gemeint ist: Arbeitnehmer können Produkte nur kaufen, Die Theorie, alle Industrienationen befänden wenn sie über genügend Kaufkraft verfügen. sich in einer epochalen Wachstumsmüdigkeit Und auch das intelligenteste Produkt verdorrt und seien zwangsläufig nicht mehr in der als Ladenhüter, wenn kein Käufer es erwirbt. Lage, genügend Arbeitsplätze anzubieten, ist ein Irrtum. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Der Lohn ist janusköpfig. Einerseits ist er vergleichbare Länder es trotz moderaten Kostenfaktor, andererseits löst er Nachfrage- Wachstums schaffen, ihre Beschäftigung stän- effekte aus. Der naive Glaube an die Kaufkraft- dig zu steigern, während anderen dies nicht theorie – „Rauf mit den Löhnen, und die gelingt? Wirtschaft brummt“ – verkennt aber vor al- lem den Zeitfaktor und die Wirkung auf die Ein Blick auf die internationalen Märkte hilft, Wettbewerbsfähigkeit. Aus der Metall- und diese Frage zu beantworten. Seit 1970 schufen Elektroindustrie, der meist die undankbare die westlichen Industriestaaten rund 110 Mil- Pilotfunktion in der Tarifrunde zufällt, sind lionen neuer Arbeitsplätze. Die Länder der einschlägige Erkenntnisse zu gewinnen. In den Europäischen Union (EU) brachten es dage- Zeiten kräftiger Lohnerhöhungen hat sich gen nur auf 14 Millionen. Anders: Obgleich nicht die Nachfrage erhöht, sondern die Ar- die EU rund 40 Prozent der Bevölkerung die- beitslosigkeit. Als die IG Metall auf maßvol- ser Länder stellt, erwirtschaftete sie nur ein len Kurs ging, wuchs dagegen wieder die Be- Achtel des Beschäftigungsgewinns. Die USA,

32 Gillies • marktwirtschaft.de

Neuseeland, Dänemark, Großbritannien oder se ist in Holland relativ hoch, wobei etwa zwei die Niederlande nähern sich dagegen der Voll- Drittel später fest eingestellt werden. Wer dort beschäftigung. Sie schafften etwas, woran an- arbeitsfähig ist, erhält nur dann Sozialhilfe, dere scheiterten: einen Interessenausgleich wenn er beweist, alles unternommen zu ha- zwischen den Arbeitsplatzbesitzern und den ben, um seinen Lebenstandard durch eigene Arbeitslosen. Sie bauten ihre Systeme so um, Arbeit zu sichern. Die Bedingungen für Er- dass die Jobeigentümer zugunsten der Joblosen werbsunfähigkeit und den Bezug von Kran- zurücksteckten. Dieser Wachstumseffekt wur- kengeld wurden verschärft. de dadurch noch befördert, dass die Staaten ihren Anspruch auf das Sozialprodukt zurück- Der Schwenk zu einer beschäftigungs- schraubten. Der Vorwurf eines „Jobless fördernden Lohnpolitik war für die holländi- Growth“ (Wachstum ohne Beschäftigung) schen Gewerkschaften nicht leicht. Sie nah- wurde von diesen Ländern entkräftet. men anfangs eine gewisse Schwächung hin und konnten erst nach Jahren ihre Mitglieder- Als beispielhaft gelten vor allem die Nieder- zahlen wieder steigern – im gleichen Maße, lande. Dort setzten sich 1982 in einer tiefen wie die Arbeitsplätze wieder zunahmen. Die Rezession und Wachstumskrise der Staat, die Gewerkschaften und die Unternehmen an ei- Wachstumsschwellen nen Tisch und schlossen den Pakt von Was- senaar. Im Unterschied zum deutschen Aufschlussreich: Die OECD untersuchte für den Zeitraum „Bündnis“ wurde der Grundstein für eine 1990 bis 1997 die Frage, bei welchem Wachstum neue langfristig moderate Lohnpolitik gelegt. Die Arbeitsplätze entstehen. Diese Korrelation stellt sich in den Wirkung: Die Lohnkosten je Stunde kletter- Ländern sehr unterschiedlich dar. Die Grafik gibt für verschie- ten in Holland in anderthalb Jahrzehnten um dene Länder wieder, um wieviel Prozent sich die Erwerbs- 42 Prozent, in Deutschland um 82 Prozent. tätigkeit ändert, wenn die Wirtschaft um 1 Prozent wächst. Entsprechend geringer war der Rationalisie- rungsdruck, also auch der Druck in Richtung NL Entlassungen. Unterstützt wurde dieser Trend USA durch eine Reduktion der Sozialversicherungs- beiträge. Sie sanken in den Niederlanden von A 39 Prozent (1985) auf 35 Prozent (1998), wäh- DK rend sie in Deutschland in derselben Zeit von 32 auf 38 Prozent kletterten. Die Holländer UK froren ihre Sozialleistungen ein und senkten F die Steuern, was alle Parteien mittrugen. D Weder durch Gesetz noch durch Tarifvertrag I wurde die generelle Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich verkürzt. Wer kürzer arbeiten -0,6-0,4 -0,2 0 +0,2 +0,4 +0,6 +0,8 wollte, konnte dies – freilich bei Einkommens- In den Ländern mit niedriger Arbeitslosigkeit muss es also einbußen. Dadurch bekam die Teilzeitarbeit Bedingungen geben, unter denen schon aus geringem in den Niederlanden einen Schub. Sie liegt bei Wachstum sehr schnell Arbeitsplätze entstehen. Deutsch- durchschnittlich 38 Prozent (Männer 17, Frau- land, Frankreich und Italien gehören nicht dazu. Bei ihnen en 68 Prozent), in Deutschland nur bei gut 16 gehen auch in einer leicht wachsenden Wirtschaft Jobs verloren. Prozent. Die Zahl flexibler Arbeitsverhältnis-

33 Arbeit für alle: Wie es geht

Lehren aus dem niederländischen Modell in weniger als fünf Prozent. Auch die USA und Stichworten: Der gesellschaftliche Konsens Länder wie Dänemark, Großbritannien und von Wassenaar setzte dem Wachstum der So- Neuseeland erkämpften sich durch Flexibili- zialleistungen Gren- tät und Reformen mehr Beschäftigung. Die Anlass zu öffentlicher Trübsal besteht zen, reformierte al- Job-Maschine USA verstand es, ihr Wachstum auch auf dem Arbeitsmarkt nicht. so den Sozialstaat. durch geringe Lohnzuwächse bei sehr hoher Mehrere westliche Industriestaaten Die Gruppen nah- Lohndifferenzierung in Millionen neuer Ar- haben bewiesen, wie man auch aus men die Arbeitslo- beitsplätze umzuwandeln. Hohe Mobilität bei moderatem Wachstum Arbeitsplätze sen zulasten der flexiblen Arbeitsmarktstrukturen führte in schlagen kann. Voraussetzung dafür sind allerdings konsequente Refor- Arbeitsplatzbesitzer Großbritannien zu einem Beschäftgungs- men im Tarif-, Arbeitsmarkt- und ins Visier, die Ge- höchststand. In Neuseeland wurde deregu- Sozialsystem. werkschaften er- liert, die kollektive Lohnfindung durch eine möglichten eine dezentrale und betriebsnahe ersetzt. Auch dauerhafte Wende zu moderaten Löhnen. Wer Dänemark beschritt diesen Weg. Dort straffte Beschäftigung bewirken will, muss sich auf der Sozialstaat seine Ausgaben, drängte auf lange Fristen einstellen und Beharrlichkeit be- Lohnzurückhaltung und lockerte die Regeln weisen. In den Niederlanden dauerte die Um- seines Arbeitsmarktes. Der Erfolg dieser steuerung immerhin anderthalb Jahrzehnte. Länder: Sie konnten im letzten Jahrfünft ihre Aber der Erfolg kann sich sehen lassen: Die Arbeitslosenzahlen in etwa halbieren. In Arbeitslosigkeit sank von deutlich zwölf auf Deutschland kletterten sie.

34 Ratlos im Steuerdschungel

Die Steuern in Deutschland sind zu hoch, kommen voll versteuert, ein Viertel profitiert werden zu kompliziert erhoben, wirken un- von legalen Ausnahmen, das restliche Viertel gerecht und schaden dem Wachstum wie der bleibt unversteuert, wird also hinterzogen. Beschäftigung. Selten sind sich die Experten Eine überschlägige, wenn auch theoretische quer durch die gesellschaftlichen Reihen so Rechnung: Würde und könnte man die hin- einig wie in diesem Urteil. Paul Kirchhof, bis terzogenen sowie die legal begünstigten Ein- 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, kommen voll versteuern, könnte die Steuer- bezeichnete das Steuerrecht gar als „Schrott“. last der braven und ehrlichen Bürger halbiert Allenthalben beifälliges Nicken. Seit der werden. In diese Richtung denken die meisten Gründung der Bundesrepublik 1949 haben 19 Steuerreformer in den westlichen Industrie- Kabinette versucht und versprochen, das Ab- staaten. Freilich schafften es die deutschen gabensystem einfacher und gerechter zu ma- Politiker – im Gegensatz zu vielen Konkur- chen. Geschehen ist das Gegenteil: Es wurde renzländern – nie bis in die Realität. immer undurchdringlicher und damit auch ungerechter. Der Unmut der Bürger wächst, Wie kann es gehen? An Vorbildern fehlt es Steuerverdruss schlägt in Staatsverdrossenheit nicht. Die Geschichte ist gespickt mit törich- um. „Wenn die Deutschen wüssten, wie sie ten Steuerreformen, die Unfrieden, Krieg und besteuert werden, wären sie schon längst zu Elend bewirkten, und ebenso mit klugen Re- Revolutionären geworden,“ bemerkte der formen, die Wohlstand und Zufriedenheit Finanzwissenschaftler Günter Schmölders. brachten. Der Nestor aller Nationalökono- men, der schottische Moralphilosoph Adam Offen zu revoltieren ist des Deutschen Sache Smith (1723-1790), hat präzise beschrieben, nicht. Er schaukelt lieber heimlich sein Ver- wie eine faire, gerechte und angemessene Be- dientes am Finanzamt vorbei. Nach Schät- steuerung auszusehen hat (Kasten). zung des Sachverständigenrates („Die Fünf Weisen“) wird nur rund die Hälfte aller Ein- Smiths Grundsätze der Besteuerung sind hochmodern, aber viele moderne Wohl- fahrtsstaaten verstoßen täglich gegen sie. Da- Adam Smith: Vier Prinzipien mit wurde eine Ursprungshoffnung des Par- der Besteuerung lamentarismus in Deutschland bitter ent- täuscht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gin- è Jedermann soll nach seinen Fähigkeiten und Einkommen ge- gen die Reformer mit Elan gegen die Ver- recht besteuert werden. Der Fiskus soll dabei den Gewerbefleiß schwendungssucht ihrer Fürsten vor und nicht behindern. wollten das drückende Steuerjoch endlich è Die Steuern sollen für jeden Bürger klar und deutlich zu erken- abwerfen. Wenn die Landstände und später nen sein. die Parlamente selbst über die Höhe ihrer è Der Staat soll „unmerklich“ zulangen, also den Bürger so be- Steuerlast entschieden – so glaubten sie – sei steuern, wie ihm die Zahlung am bequemsten ist und am leichte- eine maßvolle Besteuerung naturgemäß an- sten fällt. Dieses Prinzip enthält ein Übermaßverbot. gelegt. Ein historischer Irrtum. Der Demo- è Die Kosten der Steuererhebung mögen möglichst gering, das kratie wohnt die Versuchung inne, dass die System also praktikabel, einfach und transparent sein. Gewählten den Wähler für käuflich halten

35 Ratlos im Steuerdschungel

und dies auch regelmäßig probieren, selbst sind auf die eine oder andere Art abgaben- um den Preis hoher Verschuldung. pflichtig. Besteuert werden hierzulande der Lohn und das Einkommen, das Essen und das „Angesichts leerer öffentlicher Kassen ...“ ist Trinken, Kaffee, Tee, Branntwein, der Sekt eine häufig gebrauchte Rede – und Ausrede. und der Wein, das Wasser, die Arbeit und das Sie leistet der An- Arbeitszimmer, das Abwasser, der Regen, die Die Klage über das Steuerunwesen sicht Vorschub, die Pension, das Sparbuch und vieles andere. Im ist keine Erfindung der Neuzeit. reichen Bürger eines Kino zahlt man Vergnügungssteuer, in der Besteuert wurden früher: die Ernte, Landes überließen Kneipe Schankerlaubnissteuer, im stehenden Kutschen, Fenster, Bärte, Kaffee, ihren Staat der Ar- Auto Kfz-Steuer, im fahrenden Mineralölsteu- Perücken, Nachtigallen, Mörder, mut. Dieser Ein- er, für die Zimmerwärme gibt es die Heizöl- Titel, Ämter, Seelen, Jungfrauen, Huren, eitler Tand, Spitzen, Luxus, druck ist grund- steuer. Der lachende Erbe zahlt Erbschaftsteu- Salz, Zucker – die Liste ist endlos falsch. Tatsächlich er, für Großzügige gibt es die Schenkung- und voll praller fürstlicher Phantasie. verbucht der Fiskus steuer, für Umweltbewegte die Ökosteuer, für Arg drangsalierte beispielsweise der Jahr für Jahr neue Zocker die Spiel-, Rennwett- und Lotterie- Merowingerkönig Chilperich im Einnahmerekorde. steuer, für Menschen, die partout nicht nach sechsten Jahrhundert seine Unterta- nen. Als die Steuereintreiber wieder Bund, Länder und Luxemburg wollen, die Zinsabschlagsteuer. einmal nahten, „bemächtigte sich die Gemeinden kassier- Wer ein Häuschen kauft, zahlt Grunderwerb- Menge der Steuerbücher und ver- ten im Jahr 1998 steuer, wer es besitzt Grundsteuer und viele brannte sie“, berichtet die Chronik. rund 833 Milliarden weitere Abgaben. Gläubige zahlen Kirchen- Und des Königs Beamten gleich mit. Mark an Steuern, steuer, Raucher Tabaksteuer, Gewerbetreiben- Beiläufig meuchelte der Mob in ein Jahr später wa- de Gewerbesteuer, Körperschaften Körper- Limoges einige geistliche Herren und pfählte den Abt. Derartige Methoden ren es rund 880 Mil- schaftsteuer. zur Steuervermeidung gelten heute liarden, im Jahre als unschicklich. 2000 wird mit 904 Die Liste ist keineswegs vollständig. Hinzu Milliarden Mark ge- kommen Quasisteuern wie die Milch-, die rechnet. Bis 2002 erreichen die Einnahmen Fehlbelegungs-, die Stellpatz- oder die Schwer- (ohne Abgaben und Quasisteuern) rund 960 Milliarden Mark. Da die Steuerschätzungen traditionell sehr vorsichtig veranschlagt wer- Steuerrekorde am laufenden Band den, darf alsbald mit einer Billion Mark ge- rechnet werden. Darin sind gut 40 Milliarden Gesamtes Steueraufkommen, Deutschland für die EU enthalten. 1960 - 2000, in Mrd. Mark

Die Bürger sind also dem Staat gegenüber kei- 800 neswegs knauserig. Sie bedienen ihn in Über- fülle, wenn auch nicht freiwillig. Das Problem 600 liegt nur darin, dass die öffentlichen Kassen noch flinker geleert werden, als der Steuerzah- 400 ler sie zu füllen vermag. Die Finanznot des Staates und seine Überschuldung sind kein 200 Einnahme-, sondern ein Ausgabeproblem. 0 Nur das milde Lächeln des Finanzbeamten ist 6065 70 75 80 85 90 95 00 steuerfrei, die restlichen Lebensäußerungen Quelle: BMF

36 Gillies • marktwirtschaft.de

behindertenabgabe. Und auf alles kommt die Absurde Belastung Mehrwertsteuer, die auch als Steuer auf Steuer erhoben wird. Die Familie Normalverbraucher unterschei- det nicht mehr zwischen Steuern und anderen Ursprünglich galt in der Finanzwissenschaft Abgaben. Für sie gilt nur, was „unter dem ein schlichtes Prinzip: Steuern sind Einnahmen Strich in der Lohntüte bleibt“. Dass bestimm- des Staates, die allen auferlegt werden, ohne dass te Einkommen Belastungen zwischen 60 und daraus eine Gegenleistung abzuleiten wäre. So 70 Prozent unterliegen, ist geläufig. Weniger war es schon eine Sackgasse, beispielsweise die bekannt ist dagegen, dass selbst der Durch- Autofahrer durch hohe Steuern auf Treibstoff schnittsverdiener Zwangsabgaben an den Fis- zur Finanzierung des Straßennetzes heranzu- kus und die Parafisci leisten muss, die rund die ziehen. Diese Zweckbindung verstößt gegen Hälfte seines Einkommens aufzehren. Das das Steuerprinzip. Immer wieder erlag die Poli- Karl-Bräuer-Institut, getragen vom Bund der tik jedoch der Versuchung, durch Abgaben die Steuerzahler, hat für den Durchschnitts- Wirtschaftsaktivitäten in die eine oder andere verdiener des Jahres 1999 folgende Gesamt- Richtung zu lenken. rechnung aufgemacht:

Steuern mit Steuern Bruttoarbeitskosten 60.143 DM – Arbeitgeberbeiträge zur Sozial- Das Steuern durch Steuern hat den Fiskalstaat versicherung 8.541 DM weder dynamischer noch gerechter gemacht, Bruttoarbeitsentgelt 51.692 DM sondern lediglich noch unübersichtlicher. Alle – Einbehaltene Lohnsteuer 8.922 DM Bundesregierungen glaubten, sie müssten be- – Arbeitnehmerbeiträge zur Sozial- stimmte Gruppen, Produkte, Branchen oder versicherung 8.451 DM Regionen durch Malus oder Bonus fördern Direkte Abzüge vom Bruttoarbeitsentgelt 17.373 DM Verbleibender Nettolohn 34.319 DM oder bremsen. Diese wachsende Lust zur Inter- Belastung mit indirekten Steuern 5.085 DM vention führte dazu, dass die Bergbauern im Sü- den, die Werften im Norden, der Wohnungs- Verbleibende Kaufkraft 29.234 DM bau im Osten oder die Kumpel im Westen ei- ner steuernden Hand bedürften. Auch ausge- Die Belastung eines Durchschnittsverdieners wählte Gruppen erfreuen sich fiskalischer Für- mit Steuern und Sozialabgaben beträgt also sorge. Die Tänzerin und der Artist, der Nacht- 51,4 Prozent der jährlichen Bruttoarbeits- arbeiter und der Journalist, der Politiker und kosten, die vom Arbeitgeber aufgewendet wer- der Beamte ohnehin, der Pendler und der Tier- den. Wie rigide der Zugriff des Staates auf die liebhaber, der Kirchgänger und das Ehepaar mit Einkommen seiner Bürger ist, zeigt ein Ver- Weekend-Ehe, der Sparer und der Schichtarbei- gleich über die letzten vier Jahrzehnte. Im Jah- ter – diese und viele andere genießen Vergünsti- re 1960 betrugen die durchschnittlichen gungen, die sich zu einem Dickicht ausgewach- Bruttoarbeitskosten 6.728 Mark, wovon 2.263 sen haben, in dem die Logik ein Fremdkörper Mark an Steuern und Abgaben, also rund ein ist. Jede Sondervergünstigung lädt, wenn nicht Drittel abgingen. Im Jahre 2000 werden vom zur Umgehung, so doch zur Ausdeutung und Verdienst in Höhe von 53.235 Mark rund 51 Dehnung ein. Allein bei der Berechnung der Prozent abgezwackt (31.580 Mark). Anders: Fahrtkilometer zwischen Wohnungs- und Ar- In vier Jahrzehnten stiegen die Einkommen beitsstätte würden jährlich, so schätzen Exper- um etwa das Neunfache, die Zwangsabgaben ten, satte Milliardenbeträge getrickst. dagegen um das Vierzehnfache.

37 Ratlos im Steuerdschungel

Durchschnittsrechnungen wie diese sagen viel schreibungs- und anderen Tricks. So spricht und zugleich wenig. Vor allem klären sie nicht alles für eine Steuerreform, deren Ziel es ist, darüber auf, welche Einkommensgruppe wel- die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und che Lasten trägt. Ein Blick auf den Steuer- dabei die Steuersätze zu senken. kuchen ist hilfreich: Die „Besserverdiener“, die jährlich mehr als 143.000 Mark versteuern, Gibt es eine objektive Grenze für die steuer- stellen fünf Prozent der Bevölkerung; sie dürf- politische Vernunft? Über diese Frage sind ten rund 20 Prozent der steuerpflichtigen Ein- finanzwissenschaftliche Bibliotheken gefüllt kommen erzielen, bringen aber rund 41 Pro- worden. In der Bibel war es der Zehnte, Beet- zent der gesamten Lohn- und Einkommen- hoven zahlte fünf Prozent Einkommensteuer, steuer auf. Wie das in Preußen galt 1891 ein Höchstsatz von vier Rund 60 Prozent der gesamten, Bundesfinanzmini- Prozent, 1920 einer von 60 Prozent. Nach dem weltweiten Steuerliteratur sind, so sterium für 1998 be- Kontrollratsgesetz von 1946 betrug der haben Spötter errechnet, in deut- richtete, trägt auch Spitzensteuersatz sogar 95 Prozent. Dagegen scher Sprache abgefasst. Wenn die Einkommens- nimmt sich der heutige Höchstsatz von 53 diese Paragrafenflut einmal zu gruppe zwischen Prozent – plus Solidaritätszuschlag von 5,5 stocken droht, kommt dankenswer- terweise ein neuer Finanzminister 71.000 und 143.000 Prozent – noch vergleichsweise milde aus. In daher und kündigt zum Schrecken Jahresverdienst eine den achtziger Jahren – der Bundesfinanzmini- aller Bürger eine Steuerreform an. überdurchschnittli- ster hieß – kam erstmals Oskar Lafontaine ist dieser Coup che Last. Ihr Bevöl- die Theorie auf, die Grenze der Steuerbela- trotz seiner kurzen Stippvisite aufs kerungsanteil be- stung liege irgendwo bei der Hälfte des Ein- glänzendste gelungen. Hans Eichel läuft sich auf 25 kommens. Höhere Sätze verstießen, so die arbeitet daran, wie man hört. Prozent, ihr Steuer- damalige Ansicht, gegen ein Gebot der Sitt- aufkommen dage- lichkeit. gen rund 36 Prozent. Einkommen zwischen 40.000 und 71.000 Mark steuern dagegen nur Die „größere Hälfte“ 19 Prozent zum Steuerkuchen bei, während sie 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Diesen Aspekt griff das Bundesverfassungsge- Und die Kleinverdiener (rund 14.000 bis richt mit seinem aufsehenerregenden Urteil 40.000 Mark) tragen nur vier Prozent zum zur Vermögensteuer auf, die es für grundge- Steueraufkommen bei, obgleich sie 40 Prozent setzwidrig erklärte. Verfassungsrichter Paul aller Bürger stellen. Rund neun Millionen Kirchhof erinnerte in diesem Zusammenhang Steuerpflichtige entrichten überhaupt keine an das Sechste Testament von Friedrich dem Lohn- und Einkommensteuer. Es zahlen also Großen von 1768: „Es ist gerecht, dass jeder immer weniger immer mehr. Einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staa- tes tragen zu helfen, aber es ist gar nicht ge- Die Behauptung, der Fiskus verschone die recht, dass er die Hälfte seines jährlichen Ein- Reichen und melke die Armen, ist also nicht kommens mit dem Souverän teilt. Bauer, Bür- haltbar, verbreitet jedoch allgemeinen Steuer- ger und Edelmann müssen in einem gut ver- verdruss. Dabei wäre der Staat gut beraten, sei- walteten Staat einen großen Teil ihrer Ein- ne wirklichen Finanziers bei Laune zu halten. künfte selbst genießen und sie nicht mit der Viele von ihnen sind Unternehmer, und von Regierung teilen.“ denen begehrt jedermann etwas besonders Kostbares: neue Jobs. Überdies verführen die Mit diesem preußisch-liberalen „Halbteilungs- deutschen Höchststeuersätze zu allerlei Ab- grundsatz“ hat das Bundesverfassungsgericht

38 Gillies • marktwirtschaft.de

Steuergeschichte geschrieben. Es ist freilich deutungsfähig. Der Beschluss vom 22. Juni 1995 zur Vermögensteuer befindet, dass wei- tere Steuern nur zulässig sind, „soweit die steu- erliche Gesamtbelastung des Sollertrags bei typisierender Betrachtung von Einkommen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Tei- lung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt.“ Die Konditionierung der Verfas- sungsrichter lässt also mehrere Ausdeutungen zu. Aber sie wird zunehmend als psychologi- sche Grenze der Besteuerung empfunden und nen Ländern, Abschreibungen und Freibeträ- gewertet. Das Schicksal des Halbteilungs- ge vielerlei Art. Eine Reform mit verbreiterter grundsatzes ist ungewiß, zumal sich der Bun- Bemessungsgrundlage würde den Cleveren, desfinanzhof in einem Urteil 1999 davon di- den Tricksern und Moglern das Handwerk stanzierte. erschweren. Der brave Steuerzahler wäre nicht länger der Dumme. Gesucht: Großer Steuerentwurf Eine derartige Re- Das beliebte Stichwort vom Steuer- form wäre der wich- schlupfloch suggeriert, dass sich die Wieviel der Staat seinen Bürgern ohne Scha- tigste Beitrag zu gutverdienende Kaste aus der den für Wirtschaft und Gemeinwohl wegneh- mehr Steuerehrlich- Solidarität aller Steuerzahler verab- schiedet, indem sie Vergünstigungen men darf, begleitete alle Reformüberlegungen. keit und zu weniger schamlos ausnutzt. Das Gegenteil ist Mit steigender Belastung nahm der Reform- Finanzbürokratie. richtig: Gerade weil sie sich solida- druck schon seit Jahrzehnten zu. In vielen risch zeigte und in Projekte investier- Kommissionen und Gremien wurden Ent- Der Bürger versteht te, in die der Staat sie lockte, wurde würfe verfertigt, die jedoch an den politischen das System ohnehin sie mit Abschreibungen belohnt, die Mehrheiten scheiterten. Dabei sind sich die längst nicht mehr. ihre Steuerlast kräftig minderten. Für die Besserverdiener, die dieser staat- Reformer quer durch alle Lager einig: Gerech- Der Fall des Finanz- lichen Einladung folgten, setzte es ter und einfacher bedeutet: die zahlreichen amts Bad Homburg öffentliche Hiebe. Sie gehen an den Ausnahmen und Vergünstigungen abräumen ging durch die Pres- falschen Adressaten. Es ist der regu- und das Geld dazu verwenden, die hohen Steu- se. Dort war man lierende Fiskus. ersätze zu senken. ebenso überrascht wie in Behörden anderer Regionen, deren Be- Wie groß die Spielräume dafür sind, zeigt die wohner als betucht gelten: Statt üppiger Ein- oben bereits zitierte überschlägige Rechnung kommensteuern nahmen die Finanzbehörden des Sachverständigenrates: Die Hälfte aller in immer häufiger Erstattungswünsche entge- der Bundesrepublik Deutschland erzielten gen. So blieben selbst Jahresverdienste von Einkommen unterliegt der vollen Steuer. Ein mehreren hunderttausend bis einer Million Viertel wird von der Steuer befreit, weil sie – Mark steuerfrei. Bisweilen zahlte das Finanz- wie der Staat es wünschte – aus irgendeinem amt sogar zurück. Der moralische Aufschrei Grunde besonders förderungswürdig sind. Zu war vernehmlich. Vergessen wird freilich den begünstigten Zwecken gehören Woh- meist, dass es sich dabei um die Folgen lega- nungs- und Gewerbebauten im Osten, die len, vom Steuergesetzgeber gewollten Verhal- Beteiligung an Schiffen und Flugzeugen in fer- tens handelt: Es ist der Staat, der steuerliche

39 Ratlos im Steuerdschungel

Gestaltungsspielräume öffnet und die Ma- Reagans Schwenk ist mit einem Mann verbun- schen im Steuernetz weitet, durch die der Steu- den, der in die Geschichte einging: Arthur erzahler erwartungsgemäß schlüpft. Laffer, ein junger Wirtschaftswissenschaftler aus Kalifornien. Er erinnerte die Politik an die Amerika, du hast es besser schlichte Erfahrung, dass sich eine Politik stän- diger Steuerhöhungen irgendwann einmal ab- Wie beherzt Reformen angepackt werden nutzt. Von einem gewissen Punkt an führen können, zeigt der internationale Vergleich. In höhere Steuersätze nicht mehr zu Mehrein- den neunziger Jahren haben die meisten nahmen der Staatskassen, weil die Menschen, Volkswirtschaften, die auch Wettbewerber der statt durch Leistung den Wohlstand zu erhö- deutschen sind, ihre Steuern gesenkt. Am grif- hen, ihre Energien darauf verwenden, nach figsten ist das Beispiel der Vereinigten Staaten. Schlupflöchern im Dickicht zu fahnden. Die Dort stand US-Präsident Ronald Reagan vor Steuerschraube dreht leer. fast zwei Jahrzehnten vor einem ähnlichen Problem wie der Standort Deutschland heu- Reagan griff die einleuchtende Idee auf und te: Der Wirtschaft fehlte es an Dynamik, die reformierte das Steuersystem, stellte es wieder Abschreibungshaie nutzen das überkompli- vom Kopf auf die Füße. Der amerikanische zierte Steuerrecht derart extensiv aus, dass Normalverdiener zahlte nur 15 Prozent Ein- selbst gewinnstarke Großkonzerne kaum kommensteuer, die etwas höheren Einkom- noch Steuern zahlten. men rund 30 Prozent, und für Unternehmen wurde der Höchstsatz von 46 auf 34 Prozent gesenkt. Es dauerte allerdings einige Jahre, be- Steuerwettbewerb: Deutschland allenfalls vor diese Dreistufenreform ihre Wirkung ent- Mittelmaß faltete. Dann aber ergriff die amerikanische Wirtschaft eine ungeahnte Dynamik. Bill Senkung der Körperschaftsteuer auf einbehaltene Gewinne Clinton fuhr die Ernte dieser Reform ein: sowie Senkung des Spitzensatzes der Einkommensteuer in langanhaltendes Wirtschaftswachstum, stark Deutschland und ausgewählten Industriestaaten zwischen steigende Beschäftigung, hohe Steuermehr- 1984 und 1998, Steuersätze in Prozent einnahmen des Staates. Das US-Budget weist mittlerweile steigende Überschüsse auf. Die Einkommen- DF J UKUSA steuer 90 amerikanische Gesellschaft steuert auf einen Zustand zu, den sie in diesem Jahrhundert 80 noch nicht registriert hatte: einen schulden- 70 freien Staat. Derzeit debattiert sie über die Ver- 60 wendung der Überschüsse, wobei das republi- kanische Lager für weitere Steuersenkungen 50 eintritt, während die Demokraten mit dem 40 Geld eher die Sozial- und Bildungsausgaben Körperschaft- steigern wollen. steuer 60

50 Steuerreformen müssen, wenn sie die erhoffte Belebungswirkung entfalten sollen, alle Bürger 40 spürbar entlasten. Nur mit einem „Big Bang“ 30 wird jener Motivationsschub ausgelöst, der wie- Quelle: IW Köln der zu mehr Wachstum und neuen Arbeitsplät-

40 Gillies • marktwirtschaft.de

zen führt. Davon ließen sich auch deutsche Re- Zusammenhang beklagt Paul Kirchhof, Fi- former anregen. In der CDU/CSU war es de- nanz- und Steuerrechtler in Heidelberg, im- ren Finanzexperte , der ein mer wieder. Die ge- Mehrstufenmodell ins Gespräch brachte. Ein- wählten Abgeordne- Laffers Theorie geht davon aus, dass kommen zwischen dem Freibetrag von 12.000 ten verstünden sich bei einem Steuersatz von null die Mark und 20.000 Mark Jahreseinkommen soll- immer weniger als Staatseinnahmen ebenfalls null sind. ten mit einem Satz von acht Prozent besteuert Schutztruppe vor Aber auch bei einem Steuersatz von 100 Prozent sind die Staatseinnah- werden; bis zur Grenze von 30.000 Mark soll- steuerlichem Über- men wiederum bei null. Der Ökonom ten für jede weitere verdiente Mark 18 Pfenni- maß, sondern als wurde milde belächelt. Aber immer- ge Steuern fällig werden und die Steuerlast für Vorreiter ständig hin gelang es ihm, einen Präsiden- jede Mark über 30.000 höchstens 28 Prozent neuer Staatsausga- tenberater von diesem Zusammen- betragen. Die FDP nahm ein ähnliches Drei- ben und in deren hang zu überzeugen. Beide speisten in einem Washingtoner Nobel- stufenmodell in ihr Wahlkampfprogramm 1998 Kielwasser wieder- restaurant. Da griff Laffer zu einer auf. Der bürgerlichen Koalition erschien dieses um höherer Steu- Serviette und zeichnete darauf seine Modell allerdings zu weitgehend. Ihr Peters- ern. Daraus folge, glockenähnliche Kurve, die „Laffer- berger Modell, das Reste dieser Idee enthielt, so Kirchhof, dass Kurve“ über die Korrelation von wurde von der SPD 1998 im Bundesrat abge- die Gerichte den Steuersätzen und Staatseinnahmen. blockt. Schutz des Steuer- pflichtigen übernehmen müssten, weil die Po- Unvermutet erlebte das Stufenmodell jedoch litik darin versagt. eine Renaissance. Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Peter Struck, inzwi- Notwehr gegen fiskalischen schen Chef der größten Parlamentsfraktion, Übermut regte ein Modell mit Sätzen von 15, 25 und dem Höchstsatz von 35 Prozent an. Er nannte Es kommt die Moral ins Spiel. Wenn es denn dieses Konzept zutreffend sozial gerecht und eine Lehre aus der Geschichte gibt, dann diese: einfach. Damit aber war er seiner Fraktion Stets lag die Gefahr darin, dass Steuerverdruss weit voraus. Die Opposition aus Union und in Staatsverdrossenheit umschlägt. In jedem FDP signalisierte Bereitschaft mitzuziehen. Lehrbuch der Finanzwissenschaft – und in je- Aber die Linke der Sozialdemokraten stoppte nem der Lebenserfahrung – lässt sich nachlesen: das Projekt. Struck wurde vom Kanzler Mit den Steuersätzen steigt der Steuer- zurückgepfiffen, eine Chance ging vorüber. widerstand der Bürger. Früher oder später wird Wieder einmal zeigte sich, dass deutsche Steu- Steuervermeidung als Notwehrakt gegen fiska- erreformen selten das Wachstum und die Ar- lischen Übermut betrachtet. Entsprechend beitsplätze im Visier haben, sondern stets auf sinkt das Unrechtsbewusstsein der Steuerbür- die Verteilung schielen. Obgleich noch nie in ger. Ermuntert fühlen sie sich ferner dadurch, der Geschichte Arme dadurch reich geworden dass auch andere Kleindelikte wie Ladendieb- sind, dass man Reiche arm machte, führt dem stahl, Schwarzfahren oder Schwarzarbeiten Gesetzgeber meist der Neid die Feder. Auf der „entkriminalisiert“ – in Wahrheit bagatellisiert Strecke blieben die Erfordernisse einer dyna- – werden sollen. Warum sollte der Steuerzahler mischen Wirtschaftspolitik – und damit die vornehm abseits stehen, wenn rechtsstaatliche Arbeitsplätze. Prinzipien anderswo geschleift werden?

Der Schutz des Bürgers vor dem überzogenen Noch bedrohlicher ist, dass mit den Grenzen Zugriff des Fiskus ist unterentwickelt. Diesen der Besteuerung auch jene der Solidarität ge-

41 Ratlos im Steuerdschungel

aus dessen fürsorglichen Betreuungssystemen aus? Unter Führung der Auskenner und der Trickser versucht er jene Pflichten, die er als Joch empfindet, abzustreifen. Beim Fiskus und seinen Parafisci gibt es Indizien dafür, dass sich die Entwicklungslinien der Gesellschaft und ihrer Organisationsformen trennen. Die Deutsche Bundesbank beklagt die Erosion der Steuerbasis. In Wahrheit erodiert der Werte- kanon des Gemeinwesens.

Worum geht es im deutschen Steuer- dschungel? Vor allem darum, vor lauter Bäu- sprengt werden. Die ökonomische Logik – men den Wald auszumachen. Erstens: Die nicht die rechtliche – gebietet den Ausstieg aus Steuerlast in Deutschland ist für alle, für Bür- einem System dauernder Überlast bei unge- ger wie für Unternehmen, zu hoch. Sie gehört brochenen Ausgaben und hoher Verschul- kräftig gesenkt, um Wachstum, Investitionen dung des Staates. Und wenn sich junge Arbeit- und Beschäftigung zu beleben. Zweitens: Die nehmer aus einem Rentensystem ausklinken Steuererhebung ist zu kompliziert, wohinter wollen, dessen Beiträge nicht einmal Sparzin- sich Ungerechtigkeiten verbergen. Beide Pro- sen, sondern Verluste erbringen, wer wollte bleme werden durch die Steuerreformversuche ihnen das verübeln? Dass privater Steuerbe- 1999-2002 nicht gelöst, sondern nur touchiert, trug strafbar ist, nicht jedoch die öffentliche teilweise sogar verschlimmert. Verschwendung von Steuergeldern, wird nicht verstanden. Erst beim Abfassen der Steuerer- Zaghaft statt beherzt klärung kommen die Menschen dahinter, wie- viel Geld man sparen würde, wenn man dem Richtig ist, dass Kleinverdiener mit einigen Finanzamt beweisen könnte, dass man keines Zehnmarkscheinen begünstigt werden. Dieser hat. Dieser Versuch ist zu einem Breitensport Effekt ist aber keinesfalls so durchschlagend, mutiert: die neue Gerissenheit. dass mit einer „kräftigen Belebung der Binnen- nachfrage“ zu rechnen ist. Da Arbeitsplätze Der Maxime „Wer bei der Steuer nicht mo- weder vom Finanz- noch vom Sozialminister gelt, verdient nur Mitleid“ folgte vor einem geschaffen werden, sondern einzig von der Jahrzehnt nur etwa ein Viertel der Bürger. Wirtschaft, bäumt sich die Frage auf, ob die Heute ist es fast die Hälfte. Das ergaben Um- Unternehmen durch die Steueränderungen zu fragen. Rund 80 Prozent konstatieren, dass Neueinstellungen bewegt werden. Steuerehrlichkeit nicht mehr honoriert wird. Einer gleichen Mehrheit macht es überdies Damit ist nicht zu rechnen, denn die Wirt- Spaß, dem Staat ein Schnippchen zu schlagen. schaft trägt die Hauptlast der Steuererhöhun- gen. Folgerichtig ergab eine jüngste Umfrage, Steuerflucht als Emanzipation unter Führung dass nur drei Prozent der Unternehmen auf- der Schlaumeier? Die Frage drängt sich auf grund der rot-grünen Steuermodelle Neuein- und könnte auch Erklärungsmuster des poli- stellungen planen, aber 30 Prozent ihre Be- tischen Verdrusses sein: Verabschiedet sich der schäftigung verringern wollen. Zwei Drittel Bürger ratenweise vom Staat und klinkt er sich antworten, bei ihnen bleibe alles beim alten.

42 Gillies • marktwirtschaft.de

Moral Aus der Geschichte kann man lernen. Einen sehr originellen Vorschlag zur Steuerehrlichkeit Vermutlich werden die letzten Jahre des 20. unterbreitete ein französischer Finanzminister Jahrhunderts als Periode der vertanen Chan- seinem Sonnenkönig. Ludwig XIV. möge zwar cen in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Es nicht die menschli- ist versäumt worden, aus einer hasenfüßigen che Dummheit be- Mit den Grenzen der Besteuerung eine beherzte Reform zu machen. Wer den steuern, wohl aber werden auch jene der Solidarität Wildwuchs beschneiden will, sollte es mit der die Intelligenz seiner gesprengt. Axt, nicht mit der Nagelschere versuchen. Die Untertanen. Dabei Reden des früheren Bundespräsidenten Ro- sollte sich jedermann selbst einstufen – in der man Herzog sind dazu ein reicher Zitaten- Hoffnung, keiner gebe sich die Blöße seiner schatz. „Ich möchte den Deutschen sehen, der Dummheit. noch eine ehrliche Steuererklärung abgibt. Wer sich gesetzestreu verhält, muss sich Vermutlich wäre das aufschlussreiche Experi- manchmal wie ein Idiot vorkommen“, meint ment mit dem Ergebnis ausgegangen: Lieber Herzog. Dem werden wohl alle Bürger zu- doof und gerissen, aber dafür steuerfrei. Man- stimmen können – die gesetzestreuen wie die che behaupten, dieses Prinzip gelte auch heu- anderen. te schon.

43 Freibier für alle? Der deutsche Sozialstaat in der Falle

Der deutsche Sozialstaat ist an die Grenze sei- recht genannt werden, wenn der Staat seinen ner Finanzierbarkeit gestoßen. Ihm ist längst Bürgern soviel aus der Tasche zieht, dass sich der Überblick verloren gegangen, wer wen zusätzliche Leistung und Arbeit kaum mehr subventioniert. In dieser unübersichtlichen lohnen? Verteilung wird Wohltat zur Plage. Es ist ein Paradoxon, dass die Sozialausgaben ständig Munter fliegen die Vorwürfe über die politi- klettern, aber das Gefühl der sozialen Befrie- sche Bühne: Die einen wittern Raubbau am dung sich immer weniger einstellt. Das System Sozialstaat, die anderen fürchten seine Zerstö- lädt zu einer Ausbeutung aller durch alle ein. rung durch finanzielle Überforderung. Beide Traut man dem Kollektiv alles, aber dem Bür- Lager haben so unrecht nicht. Denn die stei- ger nichts zu? Ist er nur alle vier Jahre mün- genden Sozialausgaben verletzen einerseits das dig, oder auch im täglichen Sozialstaat? Der Prinzip einer fairen Lastenverteilung und be- schillernde Doppelbegriff „soziale Gerechtig- schädigen die Gerechtigkeit, andererseits ist keit“ ist zu einer Falle geworden. der Konkurs des Sozialsystems absehbar, wenn es nicht grundsätzlich korrigiert wird. Was ist sozial? Niemand, auch der versierteste Experte nicht, Der Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“, zu vermag einen verlässlichen Überblick zu lie- dem sich alle Parteien und Gruppen beken- fern, wer wen warum aus vermeintlich sozia- nen, geht wie ein Handschmeichler durch die len Gründen alimentiert. gesellschaftlichen Reihen. Jeder versteht etwas anderes darunter, man hat Mühe mit seiner Im Wohlfahrtsstaat werden die Vermögensbil- Definition. Selbst der liberale Ökonom und dung, die Wohnung, das Haus, der Schwimm- Nobelpreisträger Friedrich August von bad- oder Theaterbesuch, das Rockkonzert, Hayek (1899-1992) ist daran verzweifelt: die Sprachenreise nach London, die Kinder-, „Mehr als zehn Jahre habe ich mich intensiv Ehe- und Scheidungsberatung und vieles an- damit befasst, den Sinn des Begriffs ,soziale dere bezuschusst. Etwa die Hälfte des Bundes- Gerechtigkeit‘ herauszufinden. Der Versuch gebiets – eine der reichsten Volkswirtschaften ist gescheitert.“ der Welt – gilt als strukturschwache, also sub- ventionsbedürftige Region. Der Staat fördert Die Bundesrepublik definiert sich als sozialer Überschussproduzenten wie die Bauern, die Rechtsstaat. Was aber ist sozial? Soll es allen Kumpel oder die Winzer, immer weniger aber Bürger gleich gut – und damit gleich schlecht das Mangelprodukt Investitionen, aus dem al- – gehen? Verhindert das Sozialstaatsprinzip die lein Wachstum und Beschäftigung entstehen. blanke Not oder ist mit ihm eine Wohlfahrts- garantie für alle verbunden? Wieviel soll der Welcher sozialen Logik folgt es, bestimmte Bürger selbst dazu beitragen oder sichert ein Gruppen aus überständigen Branchen oder fürsorgender Staat den Lebensstandard auch Schornsteinindustrien mit Zuschüssen zu be- dann, wenn der Bürger die Hände in den denken und damit die innovativen Bereiche, Schoß legt? Gibt es so etwas wie staatliche aus denen künftiges Wachstum kommt, zu be- Garantie auf Glück? Darf es denn noch ge- nachteiligen?

44 Gillies • marktwirtschaft.de

Der deutsche Sozialstaat schürt die Illusion, stammt ein Zitat, das auch heute nachdenk- es sei unsozial, zu einem Niedrigtarif zu arbei- lich stimmt: „Mein Gedanke war, die arbei- ten, hingegen sozial, sich arbeitslos zu melden. tenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sa- Doch welchen Sinn macht es, im Zuge solcher gen bestechen, den Staat als soziale Einrich- „Sozialpolitik“ den Preis für die Arbeit so tung anzusehen, die ihretwegen besteht und hoch zu treiben, dass sich die Chancen der für ihr Wohl sorgen möchte.“ Arbeitsuchenden mit jedem Kostenschub ver- schlechtern? Entstanden ist daraus eine riesige Geldvertei- lungs- und Umverteilungsmaschine. Anfang Dass der Staat eingreift und umverteilt, um der sechziger Jahre betrug die Summe aller Not abzuwenden und das soziale Wohlbefin- Sozialleistungen rund 66 Milliarden, an der den zu heben, ist im wesentlichen der Prozess Jahrhundertwende etwa das Zwanzigfache da- der letzten 120 Jahre. Die Geburt des deut- von. Gemessen am Sozialprodukt betrug das schen Sozialstaats wird meist mit einem Na- Sozialbudget seinerzeit ein Fünftel, heute mit men verbunden: Otto von Bismarck. Von ihm gut 1,3 Billionen Mark mehr als ein Drittel.

Sozialpolitische Kostproben: Ein unvollständiger Katalog

è Ein Hilfsarbeiter schafft wacker 38 Stunden in der Wo- oder Irisdiagnostik behandelt zu werden wünschen, rekla- che und verdient 1800 Mark netto im Monat. Mit einiger mieren sie dafür den Sozialstaat. Bestürzung sieht er, dass sein Nachbar das gleiche Netto- è Im gesetzlich fixierten Bildungsurlaub werden Kurse an- einkommen vom Sozialamt erhält, ohne einen Finger krumm geboten wie „Englisch auf Malta“, „Gewaltfreier Widerstand zu machen. Auf Sozialhilfe besteht ein Rechtsanspruch, auf mit Kreativität und Witz“ (in Frankreich), „Segeln auf der Arbeitseinkommen nicht. Nordsee“, „Giftküche Genlabor“, „Ökologischer Widerstand è Der 28-jährige Bürgerkriegsflüchtling Jashar T. bezieht im Wendland“, „Schwule und Lesben in London“, „Bildungs- in Berlin seit 1998 Sozialhilfe. Er will sich ein Haus für urlaub im Hamburger Hafen“ oder „Kaffee- und Bananen- 150.000 Mark kaufen und behauptet gegenüber der Behör- seminar in Costa Rica“. de, er habe sich das Geld von der Sozialhilfe abgespart. è Kindergeld bekommen Arbeitslose wie Millionäre. è Kumpel im Steinkohlenbergbau und Landwirte werden è Gut ein Drittel der Deutschen gilt als so bedürftig, dass mit Milliardenbeträgen subventioniert, damit sie Produkte er- ihnen der Anspruch auf eine verbilligte Sozialwohnung ein- zeugen, die überteuert sind und ohne Zuschüsse nicht ab- geräumt wird. Da ihr Einkommen nur beim Einzug geprüft setzbar wären. wird, werden Milliarden von Steuergeldern an Menschen è Der Sohn wohlhabender Eltern studiert auf Kosten des ausgeschüttet, die der Zuschüsse nicht mehr bedürfen. An- Arbeiters, dessen Kinder nicht in den Genuss akademischer dererseits versperrt dieser Mechanismus den wirklich be- Bildungschancen kommen können oder wollen. dürftigen Wohnungssuchenden die Chance auf eine preis- è Ein gut verdienender Angestellter zahlt im Laufe seines werte Bleibe. Arbeitslebens rund eine Million Mark zwangsweise in die è Die alleinerziehende Tochter bekommt Sozialhilfe und kollektive Rentenversicherung, erhält aber im Ruhestand nur Wohngeld, wenn sie im Hause ihres vermögenden Vaters eine Rente, die nicht einmal der Verzinsung eines Bundes- zur Miete wohnt. schätzchens entspricht. è Ist es noch fair, wenn ein Deutscher, 1966 geboren, im è Die Deutschen schätzen den Urlaub unter südlicher Son- Laufe seines Arbeitslebens mehr als 900.000 Mark für den ne. Wenn sie jedoch in Kur fahren, Stützstrümpfe oder ein Sozialstaat zahlt, aber nur knapp 500.000 Mark an Leistun- Brillengestell brauchen, mit homöopathischen Wässerchen gen von ihm erhält?

45 Freibier für alle? Der deutsche Sozialstaat in der Falle

Eine merkwürdige Kasse, dieses deutsche So- Renten, Krankheits- und Pflegekosten finan- zialbudget: Je mehr Geld für die Betreuung ziert, Arbeitsplätze subventioniert, Lebens- verwendet wird, desto unzufriedener werden risiken abgefedert, Wohnungen, das Sparen die Betreuten. Familien werden unterstützt, und die Vermögensbildung gefördert – 39 Ämter bieten 155 verschiedene Sozialleistun- gen und Beratungen gegen die Wechselfälle des Die sozialstaatliche Geschichtstafel Lebens an. im Zeitraffer Wieviel ist genug? 1881 Als Reichskanzler verfasste Bismarck 1881 die „Kai- serliche Botschaft“, mit der Majestät die Sozialge- Seiner ursprünglichen Funktion, für die Ar- 1883 setzgebung einleitete. Es folgten 1883 die erste Kran- men und Notleidenden zu sorgen, ist der So- kenversicherung für Arbeiter, eine gesetzliche Un- zialstaat längst entwachsen. Die Masse des 1884/89 fallversicherung 1884 sowie 1889 die erste Alters- Umverteilten wandert zwischen den Briefta- 1911 und Invaliditätsversicherung. 1911 wurde die Ren- schen einer breiten Mittelschicht hin und her. 1916 tenversicherung für Angestellte geschaffen, 1916 Aus unzähligen Töpfen werden Transfers, Zu- das Rentenzugangsalter von 70 auf 65 Jahre ge- schüsse, Subventionen und Beihilfen gezahlt. 1927 senkt. Die Weimarer Republik begründete 1927 die Anzunehmen wäre, dass mit steigenden Auf- Arbeitslosenversicherung, die in der Weltwirtschafts- wendungen auch die soziale Befriedung der depression zwischen 1930 und 1933 in die Krise geriet. Die Sozialleistungen wurden gekürzt. Menschen wächst. Das ist offenbar ein Irrtum. 1949 Bei Gründung der Bundesrepublik wurde 1949 das Ein bizarrer Befund: Obgleich sich die Ausga- Sozialstaatsprinzip in der Verfassung verankert. Der ben für soziale Zwecke vervielfacht haben, 1957 vermutlich wichtigste Schritt war 1957 die Einfüh- wachsen Kritik und Unbehagen ständig. Der rung der dynamischen – weil parallel zu den Brut- Staat, der auszog, Wohlstand in Wohlfahrt zu toeinkommen mitwachsenden – Rente durch die Re- verwandeln, wird nicht gelobt sondern ge- 1961 gierung Adenauer. Seit 1961 gibt es einen Rechts- scholten, weil sich unter seinem Sozialregime anspruch auf Sozialhilfe. Die Lohnfortzahlung bei die gut gemeinten Gaben in Plagen verwan- 1970/72 Krankheit wurde 1970 eingeführt. 1972 öffnete sich deln. Schon längst hat er den Überblick über die Rentenversicherung für Selbständige, die Alters- Wirkung und Folgen seiner Beglückungs- 1977 grenze wurde flexibel. 1977 versuchte die Bundes- maschine verloren. Heute stellt sich die neue regierung erstmals die anschwellenden Kosten des soziale Frage: „Wieviel ist genug?“. Gesundheitswesen zu senken, mehrere weitere Kostendämpfungsgesetze folgten. Das jüngste soll 1992 2000 in Kraft treten. 1992 änderte die Regierung Ein ungewohnter Bazillus schleicht sich in die Kohl die Rentenformel: Die Altersbezüge richten sich deutsche Wohnstube und bohrt sich sogar ins nicht mehr nach den Brutto-, sondern nach den Net- mittelständische Lebensgefühl: die Angst vor 1994 tolöhnen. 1994 wurde als vierte Säule des Sozial- Armut. Unter zyklischen Schwankungen systems die Pflegeversicherung errichtet. Unter dem wächst der allgemeine Wohlstand, aber gleich- 1996 Eindruck der Rentenlast wird 1996 die Altersgren- zeitig steigt die Zahl der Armen – falls man ze angehoben. Ein demografischer Faktor in der Statistiken glaubt. Andererseits schwellen, so 1997/99 Rentenformel wird 1997 beschlossen, aber 1999 wird kritisiert, die Vermögen breiter Massen von der Regierung Schröder wieder abgeschafft. Für in die Billionensummen. Kampfbegriffe wie 2000/01 die Jahre 2000 und 2001 ist geplant, die Netto- jene von der Armuts- oder der Zwei-Drittel- rentenformel zu suspendieren; die Bezüge sollen Gesellschaft machen die Runde. Kann ein dann nur noch so stark steigen wie die Lebenshal- tungskosten. Land reich sein und seine Bewohner zugleich arm?

46 Gillies • marktwirtschaft.de

Mehr als eine Milliarde Menschen auf dieser den Bezug von Sozialhilfe. Als arm gilt danach drangvoll engen Erde müssen mit etwa einem jeder, der nicht mindestens die Hälfte eines Dollar pro Tag auskommen. Sind sie arm oder Durchschnittseinkommens verdient. Das wä- sind es nur jene, die hungers sterben oder von ren 11,8 Prozent der West- und acht Prozent vermeidbaren Seuchen hingerafft werden? Und der Osthaushalte. Man ist verblüfft: Im Osten in den Industriestaaten: Sind es die Kleinverdie- weniger Arme als ner, die jede Mark dreimal umdrehen und neid- im reichen Westen? voll auf jene blicken, die sich mehr leisten kön- Armut wird meist Das Verteilungsmonstrum Sozial- staat wird seine Versprechungen auf nen? Sind es Familien, bei denen es nur zum relativ definiert. Lebensstandardgarantien und Urlaub auf Balkonien reicht, sind es die Sozial- Diese Methode ver- Rundumversorgung einkassieren hilfeempfänger? Ist es die Kleinrentnerin oder sucht nicht, die und seine Transferströme reduzieren der Bettler in der Fußgängerzone, der Bahn- nackte Not zu mes- und sie zu den wirklichen sozialen hofspenner, sind es die Vagabunden der Städte sen, sondern orien- Brennpunkten führen müssen. oder die herumstreifenden Drücker? Die allein- tiert sich am Wohl- erziehende Mutter, die ihrem Kind keinen stand aller. Da die Durchschnittseinkommen Tamagotchi kaufen kann oder der verkrachte in den neuen Bundesländern noch niedriger Student, der sich mit Jobs über Wasser hält? liegen und auch nicht so stark gespreizt sind Die „Working Poor“ als Ergebnis eines „Jobless wie in der Altrepublik, sind also auch die ent- Growth“, das Tagelöhner produziert? sprechenden Armutswerte geringer.

Dass es einem deutschen Sozialhilfeempfänger Armutsquoten lassen sich nach Belieben defi- besser geht als einem Ingenieur in Bangladesh, nieren. Mag eine Gesellschaft und Volkswirt- ist kein erhellender Beleg, aber ein Hinweis schaft auch noch so reich sein – Schlusslichter auf den Kern des Begriffs: nackte Existenznot. der Einkommensskala gibt es immer. Dabei Definierte man die Armut absolut als Hun- wird nicht akzeptiert, dass die Sozialhilfe eben gern, Frieren und Existenzbedrohung, hätte kein Indikator von Armut ist, sondern eine man Schwierigkeiten, in Deutschland Arme Methode zu ihrer Beseitigung. zu finden. So stehen sich zwei Deutungen ge- genüber: In Deutschland sei praktisch nie- „Die These (von einer wachsenden Massen- mand arm, weil zumindest die Sozialhilfe alle armut) ist für die Bundesrepublik Deutsch- Grundbedürfnisse abdeckt. land empirisch nicht belegbar“, widerspricht das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Verwegene Armutsdefinitionen Köln. Es bezieht sich dabei auf Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Diesem Bild steht die Vision einer schwellen- (DIW) in Berlin. Dabei werden die unteren den, grauen Armutsgesellschaft gegenüber. Haushaltsnettoeinkommen dem Durch- Mindestens jeder achte Deutsche sei heute schnittseinkommen gegenübergestellt. schon arm, wird errechnet, und in der Globalisierungsfalle würden sich laufend wei- Es ergeben sich folgende „Armutsquoten“: tere verfangen. Extrapolierte man diese Ent- Legt man 40 Prozent des Durchschnittsver- wicklung, wäre alsbald die Mehrheit des Vol- dienstes als Armutsgrenze zugrunde, stieg die kes ins Elend gefallen. Zahl der armen Haushalte im Jahrzehnt zwi- schen 1985 und 1995 von fünf auf sechs Pro- In einer Studie knüpft der Deutsche Gewerk- zent. Verbreiteter ist die These, die Hälfte des schaftsbund (DGB) seinen Armutsbegriff an Durchschnittseinkommens ziehe die Armuts-

47 Freibier für alle? Der deutsche Sozialstaat in der Falle

grenze. In diesem Fall wären 12,8 Prozent arm, hatten. Die große Mehrheit der heute über 50- während es 1985 noch 11,9 Prozent waren. Jährigen ist also in Familien aufgewachsen, die Noch mehr Arme gibt die Statistik her, wenn nach heutigen Kriterien Armutshaushalte wa- man 60 Prozent der Durchschnittsverdienste ren. Deutsche Sozialhilfebezieher übertreffen als Limit unterstellt. Dann wären 21,8 Prozent schon heute den Lebensstandard jedes zwei- (gegenüber 20,9 Prozent im Jahr 1985) bereits ten Europäers, vom Rest der Welt ganz zu arm – also gut jeder fünfte Deutsche. schweigen.

Alle Definitionen der Armut sind verwegen. Sind die relativen Armen in der Einkommens- Die derzeit übliche Statistik führt zu bizarren verteilung in den letzten Jahren zurückgefal- Folgerungen. Wenn die Einkommen und der len? Auch das ist nicht zu belegen, meint das Wohlstand aller IW. Zwischen 1980 und 1994 sind die Haus- Sozialhilfeempfänger erreichen steigen, klettert no- haltseinkommen im Durchschnitt um 61,5 heute ein Wohlstandsniveau, wie es tabene auch der Prozent geklettert, die der Sozialhilfeempfän- Facharbeiter und Beamte in den Durchschnitt mit. ger um 73 Prozent. In der gleichen Zeit hatten fünfziger Jahren hatten. Sie übertref- Die Folge: Die – die Angestellten nur 53 Prozent zugelegt, Ar- fen damit den Lebensstandard jedes statistische – Be- beiter um 48, die Beamten um 56, die Rentner zweiten Europäers. dürftigkeit nimmt um 64 Prozent. Unter den abhängig Beschäf- mit dem Wohl- tigten liegen die Sozialhilfeempfänger beim stand zu. Umgekehrt ist das gleiche Parado- Einkommenszuwachs also deutlich vorn. xon festzumachen. Denn mit sinkendem Wohlstand nähme die Armut ab. Und wenn Attraktive deutsche Armut alle nichts verdienten, wäre sie verschwunden. Dass diese so definierte Armut aus dem Nach diesem Muster stiege sie auch, wenn menschenverachtenden Kapitalismus her- man die Sozialhilfe aufstockte, was vielfach rührt, ist für manche beschlossene Sache. gefordert wird. Dagegen nähme die Zahl der Auch das ist jedoch kaum zu belegen. Rech- Bedürftigen ab, wenn man die Sozialhilfe senk- net man aus den Haushalten die Ausländer te und allein sie als Maßstab für Armut be- heraus, bietet sich eine andere Sicht. Die „Ar- nutzt. Diese bizarren Folgen einer statistisch mut“ geht in allen Einkommenskategorien zu- gedeuteten Armutsgesellschaft folgen dem re- rück: an der 50-Prozent-Schwelle von 11,1 Pro- lativen Vergleich. Da sich die Gesellschaft vor zent (1985) auf 9,9 Prozent (1995). Auch bei einer absoluten Definition der Armut scheut den anderen Armutsgrenzen – bei 40 und 60 – also Hunger, existenzieller Mangel aller Le- Prozent der Durchschnittseinkommen – hat bensgrundlagen –, greifen viele zu statistischen sich die Einkommenslage der Haushalte ohne Einkommensgrößen. Der Bezug von Sozial- Ausländer im letzten Jahrzehnt nicht ver- hilfe ist die griffigste. schlechtert, sondern verbessert. Deutschland hat also Armut importiert. Unter dem Etat- Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirt- titel „Sozialhilfe“ verbirgt sich mithin auch schaft und Gesellschaft Bonn (IWG), hat das Entwicklungshilfe. Niveau der heutigen Sozialhilfe mit dem Le- bensstandard der fünfziger Jahre verglichen. Die statistische Zunahme der deutschen Danach leben die Sozialhilfeempfänger heute Armutsquote ist also auch ausländerinduziert. auf einem Wohlstandsniveau, wie ihn damals Zuwanderer fanden hier einen Lebensstandard Facharbeiter, mittlere Angestellte und Beamte vor, den sie zu Hause selten kannten. Für sie

48 Gillies • marktwirtschaft.de

ist die Zuwanderung kein Einstieg in die „Armutsgesellschaft“ gewesen, sondern im Gegenteil einer in eine, wiewohl relative, Wohlstandsgesellschaft. Das erklärt die Be- liebtheit Deutschlands als Einwanderungs- land.

Damit klärt sich auch ein anderes Paradoxon auf. In Deutschland wachse die Kinderarmut, heißt es. Das stimmt, denn heute bedürfen doppelt soviel Kinder wie noch vor andert- halb Jahrzehnten der Unterstützung durch das Sozialamt. Der Grund liegt auch darin, dass die zugewanderten Ausländer überdurch- schnittlich kinderreich sind. Diesen Kindern geht es unter deutschen „Armutsbedingun- gen“ weit besser als im Elend ihrer Herkunfts- länder. Allerdings fallen auch deutsche Kin- Viele Biografien – die Fachleute nennen sie der häufiger ins „letzte Netz“ der Sozialhilfe. „Sozialhilfekarrieren“ – ähneln sich. Der Al- Der Grund: Die Familienbindungen zerbre- leinernährer der Familie wird arbeitslos, be- chen. Das Leitbild ist heute nicht mehr die kommt zuerst Arbeitslosenunterstützung, da- Drei- oder Vier-Generationen-Familie, die ihr nach Arbeitslosenhilfe. Alsdann rutscht er mit eigenes soziales Netz spannte, sondern der seiner Familie in die Sozialhilfe. Dieses Risiko hedonistisch lebende Single. Und wenn dieser potenziert sich mit der Zahl der Kinder, einer Lust auf Kinder verspürt, erwartet er vom So- schlechten Ausbildung, Suchtproblemen, zialstaat deren Finanzierung. Scheidung, Krankheit oder riskanten Raten- krediten. Das belegt, dass die wichtigste Sozi- Typische Sozialhilfekarrieren alpolitik in der Bekämpfung der Arbeitslosig- keit besteht. Grob gerastert hat die deutsche Sozialhilfe drei Schwerpunkte: Rund ein Drittel der Bezieher Nicht selten macht eine Scheidung aus einem von Sozialhilfe sind Asylbewerber. Ein zwei- bislang wirtschaftlich intakten „Mittelstands- tes Drittel betrifft Pflegefälle. Selbst Ruhe- betrieb Familie“ leicht zwei oder mehr Sozial- ständler mit hohen Altersbezügen bemerken fälle. Auch wer einem Kredithai in die Fänge im Alter zu ihrem Schrecken, dass die teure gerät oder den Verlockungen der Konsumlust Heimpflege davon nicht zu finanzieren ist. nicht widerstehen kann, ist gefährdet. Allein- Dann springt das Sozialamt ein. Mit der obli- erziehende sind eine wachsende Risikogruppe. gatorischen Pflegeversicherung ist dieser Der Staat übernimmt die Rolle des biologi- Trend abgemildert, aber nicht gebrochen wor- schen Vaters, der sich abgesetzt hat oder den den. Die dritte Hauptursache ist die Arbeits- Lebensunterhalt seiner Kinder nicht oder losigkeit. Hinzu kommen unzureichende nicht ausreichend finanziert. Wenn eine Frau Renten sowie Faktoren, die in der Person der behauptet, sie kenne den Vater ihres Kindes Betreffenden liegen: Krankheit, Behinderung, nicht, oder kenne ihn zwar, aber wolle ihn Passivität, Leistungsunwille, Suchtverhalten, nicht preisgeben, springt die Sozialhilfe ein. Verschwendung mit Überschuldung. Den Alleinerziehenden gilt öffentliche Für-

49 Freibier für alle? Der deutsche Sozialstaat in der Falle

sorglichkeit. Sie geht so weit, dass manche meinheit zu nehmen. Die jungen Leute ent- auch deshalb mit ihrem Partner keine neue gegnen, sie seien anspruchslos und kämen mit Ehe eingehen, weil sie als Alleinerziehende fi- der „Staatsknete“ plus einiger Gelegenheitsar- nanziell besser abzuschneiden glauben und beiten gut über die Runden. In der Abwägung sich mehr öffentlichen Mitgefühls als eine in- zwischen harter Arbeit und Sozialstaats-Tropf takte Familie erfreuen. entscheiden sie sich für den genügsamen Mü- ßiggang. Sie tauschen Zeit gegen Geld. Gewiss kein Gütesiegel des deutschen Sozial- modells der Marktwirtschaft ist der Befund, dass Armut – ein Tabuthema Kinderreichtum eine Familie ökonomisch zurückwirft. Es ist dem Fiskus und seinen Armut ist mit Tabus umgeben. Es sei ein The- Sozialkassen nicht gelungen, die Generationen ma, bei dem man sich leicht den Mund ver- fair zu behandeln. Gegenüber den kinderlosen brennen könnte, meint jeder sechste Deut- Doppelverdienern tragen Eltern ein überdurch- sche. Die Political Correctness reiht Armut schnittliches wirtschaftliches Risiko. ein in einen Katalog, der Themen wie Asylan- ten, Juden, Nazis, Ausländer und Behinderte Sozialpolitikern bereitet auch die wachsende umfasst. Deswegen hat die Politik auch größ- Zahl jugendlicher Bedürftiger Sorgen. Im Al- te Mühen dabei, Sozialhilfeempfänger mit der ter zwischen 18 und knapp 30 Jahren gilt es in Drohung von Zahlungskürzungen dazu zu bestimmten Milieus zunehmend als schick, bewegen, eine zumutbare Arbeit anzuneh- einmal eine „Auszeit“ auf Kosten der Allge- men. Das gelang erst in den letzten Jahren.

Allerdings empfinden die Deutschen die Be- Sozialoptische Täuschungen kämpfung von Armut offenbar als so dring- lich nicht. Im Katalog der politischen Vor- Subjektiv gefärbt und letztlich inkonsistent: die Einschätzun- rangbedürfnisse taucht der Begriff nicht oder gen der Deutschen zur Wohlstandssituation in ihrem Land. nur ganz am Rande auf. Die Sorgen, die die Das zeigen die Antworten auf Fragen, die Allensbacher Bürger umtreiben, sind Kriminalität, Arbeits- Meinungsforscher 1995 einem repräsentativen Querschnitt losigkeit, Asylanten- und Ausländerfragen, die stellten. Anworten in Prozent 80 Renten oder der Wirtschaftsaufschwung.

Der Neid ist ein wichtiger Beweger in der Verteilungsdebatte der Sozialstaaten. Er vaga- „Glauben Sie, dass es bundiert in beiden Richtungen: von Arm 15 nach Reich und umgekehrt. Wenn eine Sozial- bei uns heute wirkliche 5 Armut gibt?“ hilfeempfänger-Familie mit zwei Kindern ein- nein unent- ja schließlich aller Zuschüsse und Vergünstigun- schieden 59 gen auf ein Jahresnetto von rund 34.000 Mark kommt (in den Bundesländern unterschied- lich), fragt sich mancher Kleinverdiener, war- „Kennen Sie jemanden, 17 18 um er noch arbeitet. Dieses Lohnabstands- den Sie als arm gebot zwischen Einkommen aus Arbeit und bezeichnen würden?“ aus Nichtarbeit ist über Jahre hinweg von der keinen einen zwei oder mehr Politik missachtet worden, obgleich es die Lei- Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach stungsbereitschaft gravierend unterminiert.

50 Gillies • marktwirtschaft.de

Die Zahl der Sozialhilfebezieher ist kein star- Heer der Helfer, Betreuer, Beauftragten, Sozi- rer Millionenblock. Die Regel „Einmal arm – alarbeiter, Pädagogen definiert durch seinen immer arm“ gilt nicht. 57 Prozent sind Armutsbegriff seine Arbeitsplätze. Das Per- Überbrücker, die im Durchschnitt nur vier sonalangebot schafft sich die Nachfrage. Dass Monate zum Sozialamt gehen: Rentner, die die parlamentarische Opposition überall die auf die erste Überweisung warten, Studenten, angeblich von der Regierung geschaffene oder die nach Abschluss noch keinen Job gefunden geduldete Not beklagt, gehört ebenso zum po- haben, Wehrpflichtige, Wechsler, Arbeitslose, litischen Alltag wie die stete Forderung nach die ihren neuen Job erst einige Monate später „Armutsberichten“. Dazu leistet die Armuts- antreten, Geschiedene, die auf Unterhalt war- forschung, die zu einer wissenschaftlichen ten. Rechnet man zu diesen die „Mehrfach- Wachstumsdisziplin geworden ist, Beistand. überbrücker“ hinzu, sind es 74 Prozent, für Neuerdings wird als Kontrastprogramm auch die die Sozialhilfe nur eine Episode bleibt. In ein Reichtumsbericht gefordert. Zahlen: 55 Prozent beziehen die Unterstüt- zung weniger als ein Jahr, 19 Prozent zwischen Natürlich ist es alles andere als eine Lust, zum ein und zwei Jahre, 8 Prozent zwei bis drei Jah- Sozialamt zu gehen und seine Bedürftigkeit re und 4 Prozent drei bis vier Jahre. nachzuweisen. Auch gibt es daneben noch ver- schämte Arme. Vor rund zwei Jahrzehnten sei Je bedrohlicher, desto wohlfahrts- auf einen Sozialhilfeberechtigten ein weiterer staatlicher gekommen, der den Gang zur Behörde scheu- te. Seitdem die Sozialhilfe als immer weniger Eine eherne und ständig ausgegrenzte, zur Ar- unschicklich gilt und mit einem Rechtsan- mut verdammte Unterklasse gibt es in spruch verbunden wurde, ist nach Experten- Deutschland nicht. Der harte Kern sind die ansicht die Zahl der verschämten Armen ge- oft resignierenden Langzeitbezieher (14 Pro- schrumpft. Aber jene, die aus Stolz oder Un- zent), die mehr als vier Jahre Kunde beim So- kenntnis öffentliche Hilfe ablehnen, gibt es zialamt sind. Was leicht übersehen wird: Un- noch immer. terstützungsempfänger werden ohne Zuzah- lung medizinisch behandelt, brauchen keine Rezeptgebühren zu zahlen, können öffentli- che Verkehrsmittel kostenlos benutzen und Abnehmende Altersarmut erhalten manche andere Vergünstigungen. Der Aus dem Armutsbericht 1998 von Rheinland-Pfalz ergibt sich nicht „typische Sozialfall“ ist also eher der seltene. nur, dass Armut für begrenzte Lebensabschnitte die Norm ist, son- dern auch, dass die Altersarmut nicht zu-, sondern abnimmt. Der Neben der Political Correctness gibt es gesell- Anteil der über 65-Jährigen an den Sozialhilfeempfängern ist von schaftliche Gruppen, die am Bild der Armuts- 26 Prozent im Jahr 1975 auf acht Prozent Ende 1996 gesunken. gesellschaft ein spezielles Interesse haben. Die Wenn sich die Sozialhilfe an den Lebensverhältnissen der Mehr- Wohlfahrtsverbände sind mit rund einer Mil- heit orientiere, „ist der Anspruch auf Hilfen fast unbegrenzbar,“ lion Mitarbeiter ein gewaltiger Arbeitgeber, meint der zuständige Landesminister Florian Gerster (SPD). Er eine Wachstumsbranche. Sie haben am „Mil- beklagt, dass die Gesellschaft nur die würdige Lebensführung in lionenheer der Armen“ ein – wie ein Ökonom der Sozialhilfe anmahne, aber den anderen Teil des Gesetzes aus- es umschrieb – schlichtes Beschäftigungs- und blende: dass die staatliche Hilfe den Empfänger „so weit wie mög- Umsatzinteresse. Denn je bedrohlicher die lich befähigen soll, unabhängig zu leben; hierbei muss er nach Lage ausschaut, desto höher ist die Nachfrage seinen Kräften mitwirken“. nach wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Das

51 Freibier für alle? Der deutsche Sozialstaat in der Falle

Die Politik pflegt die Armut auf das Geld zu fehlt dieser Solidarität ein wichtiges Sicher- reduzieren. Das ist zu kurz gesprungen. Zer- heitsmerkmal: Niemand kann sich mehr dar- rüttete Familien, Suchtprobleme, Vereinsa- auf verlassen, dass ihm im Krisenfall gegeben mung, Lieblosigkeit und andere Mangeler- wird, was er selber aufbrachte, als andere es scheinungen im gesellschaftlichen Umgang benötigten. lassen sich per Sozialamt nicht korrigieren. Ein zerschlissener Wertekanon und die von Deutsche Arbeitnehmer verdienen nicht zu manchen Gruppen und Medien gehätschelte wenig, sondern erhalten zu wenig ausbezahlt. Aussteigermentalität haben eine neue Armut Der stetig gewachsene Anteil von zwangsent- erzeugt, der mit Regelsätzen nicht beizukom- eigneten Einkommen macht sie zu Gefange- men ist. nen eines Wohlfahrtsstaates, der seinen Bür- gern immer mehr Risiken abzunehmen ver- Subsidiaritätsprinzip neu beleben sprach, aber diese tatsächlich erhöhte, weil sie nicht mehr finanzierbar sind. Parallel dazu Die Transporteure jener Horrorvisionen von erlosch die Eigenveranwortung der Menschen der unentrinnbaren deutschen Armutsge- und machte sie mit jeder neu ausgelobten sellschaft übersehen, dass es dieser Gesellschaft Sozialleistung unmündiger. Am Ende steht wie kaum einer ge- der „soziale Untertan“, wie Ludwig Erhard die lang, ihre Bedürftig- Perversion seiner Marktwirtschaft beschrieb. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt vor allem Selbstverantwortung: Der Staat keit solidarisch und und seine Kollektive dürfen nur großzügig zu lösen. Sie hat längst eingesetzt. Wenn es mehr lohnt, unterstützend eingreifen, wenn der Wenn freilich die also rationell ist, darüber nachzudenken, wie Einzelne nachweisbar alles tut, um Wachstumsspiel- man möglichst viel aus einem System heraus- für sich und die Seinen zu sorgen, räume enger wer- holt, als darüber, wie man mit dessen knap- bevor er nach dem Staat ruft. den, ist das Leitbild pen Mitteln sparsam umgeht, ist der Konkurs der Selbstverwirkli- absehbar. Das gilt für die vielen Subventionen, chung auf Kosten Dritter nicht mehr das Renten- und die anderen Versorgungs- finanzierbar. Der Lebensentwurf der Selbst- systeme. Viele öffentliche Zuwendungen sind verantwortung durch Arbeit und Eigenlei- mit dem Etikett „Nulltarif“ beklebt, weshalb stung bedarf eines Schubs von Subsidiarität – sie zu Ausbeutung und Verschwendung ten- ein Prinzip, das in Europa neuerdings hochge- dieren. Dann bewirken steigende Ausgaben halten wird, aber leider so hoch, dass kaum für die Wohlfahrt kein Mehr an sozialer Ge- jemand herankommt. Am Rande: Umfragen rechtigkeit, sondern ein Weniger. ergaben, dass nur drei Prozent aller Deutschen sich unter diesem Begriff etwas vorstellen kön- In der Krankenversicherung versuchen Gesun- nen. de wie Kranke, möglichst viel aus dem System herauszuholen. Schließlich steigen die Beiträ- Dieses Prinzip, dass zuerst jedermann für sich ge ja auch ständig, rechtfertigen sie sich. Nicht selber sorgen sollte, bevor er andere in An- nur bei der Rente beutet die gegenwärtige die spruch nimmt, ist verblasst. An seine Stelle künftige Generation aus. Niemanden interes- rückte die Solidarität, die stets fordert, ohne siert es, wieviel ein Studium kostet und wer es den Preis zu nennen, den „die anderen“ dafür gerechterweise finanzieren sollte. Manche entrichten müssen. Da die wichtigsten Lebens- schmücken sich gar damit, unter Vermeidung risiken nicht mehr individuell, sondern in kol- von regulärer Arbeit eine Auszeit auf öffentli- lektiven Zwangssystemen organisiert sind, che Kosten zu nehmen.

52 Gillies • marktwirtschaft.de

Dass die Deutschen insgesamt immer reicher Marktwirtschaft ist diesem Ziel sehr nahe ge- werden, berichtet regelmäßig die Deutsche kommen. Ein überbordender Sozialstaat ge- Bundesbank. Zwischen 1970 und 1996 ist das fährdet es wieder. Er steckt in der Falle. Gesamtvermögen von 1,5 auf nahezu 13 Bil- lionen Mark gestiegen. Es besteht zu rund fünf So oder so: Das Verteilungsmonstrum Sozial- Billionen aus den verschiedenen Formen des staat wird seine Versprechungen auf Lebens- Geldvermögens (vom Sparbuch bis zum standardgarantien und Rundumversorgung Versicherungs- oder Bausparvertrag), zu 6,3 einkassieren müssen. Es muss seine Transfer- Billionen aus Haus- und Wohnungsvermögen, ströme reduzieren, transparent machen und der Rest von 1,5 Billionen besteht aus sie letztlich zu den Gebrauchsvermögen. Unerwähnt bleiben da- wirklichen sozialen Rund 80 Prozent der Deutschen sind bei die Renten- und Pensionsansprüche. Brennpunkten füh- der Meinung, in ihrem Lande werde ren. Vor allem gilt zuviel gejammert. Mehr als zwei Verschämt arm – unverschämt es, sich darauf zu be- Drittel finden, ihre Gesellschaft lebe sinnen, dass der im Wohlstand und gebe sich zu reich? Unrecht der Wehleidigkeit hin. Staat seinen Bür- Auf diese Statistik folgt der Vorwurf, nur eine gern nur geben dünne Schicht habe es zu Reichtum gebracht, kann, was er ihnen zuvor abnahm. Das be- während gleichzeitig die Armut zugenommen dingt eine Sozial- und Wirtschaftspolitik aus habe. Der Slogan „verschämte Armut und un- einem Guss. verschämter Reichtum“ suggeriert, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer Die Ausbeutungsmechanismen müssen ge- ärmer werden, also eine Spaltung der Gesell- schleift, das Leitbild des mündigen und selbst- schaft einsetze. Aus Expertenstudien ergibt verantwortlichen Bürgers wieder geschärft sich jedoch, dass ein derartiger Verelendungs- werden. Das Menschenbild, mit dem eine prozess nicht zu beweisen ist. So berichtet das Volkswirtschaft im globalen Wettbewerb Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Schritt halten will, ist das der Leistung und (DIW), dass sich die Schere zwischen Arm Selbstverantwortung, nicht das der allgemei- und Reich in Deutschland nicht geöffnet habe. nen Fürsorge. Vielmehr seien zwischen 1985 und 1995 die Einkommen aller Schichten gewachsen. Die Ein vernünftiger Rückbau des Sozialstaates ist Einkommensverteilung habe sich „nicht signi- unausweichlich. Er erfordert vor allem Mut. fikant“ verändert. Ängstliches Bemühen um den gesellschaftli- chen Konsens macht die Politik dagegen zum „Wohlstand für alle“ war eine der grundlegen- Spielball von Gruppeninteressen. Und zer- den Maximen Ludwig Erhards. Die soziale stört den Sozialstaat vollends.

53 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

Das System der deutschen Sozialrenten steckt brachten 15,5 Jahre in ihrer Jugend und Aus- in einer tiefen Krise. Die von der Sozialpolitik bildung aber nur 11,5 Jahre in der Rente; so geschürte Illusion, immer mehr Ruheständler verblieben 48 Erwerbsjahre. Die Elterngene- könnten auf Dauer von immer weniger akti- ration, etwa vom Geburtsjahrgang 1942 an, ven Arbeitnehmern durchgefüttert werden, arbeitete nur noch 40 Jahre und bringt es auf glaubt der Bürger nicht mehr. Die Menschen 18 Rentenjahre. Für die 1970 Geborenen gilt: befürchten zunehmend, ihr Arbeitsleben knapp 20 Jahre Ausbildung, rund 22 Renten- könnte mit einem Betrug enden. Der Vertrag jahre und nur noch 38 Erwerbsjahre. Diese der Generationen ist zu einem Kampf der Ge- sich weiter öffnende Schere reißt immer grö- nerationen geworden, bei dem sich die Jungen ßere Löcher in die Rentenkasse. Hinzu tritt von den Alten ausgebeutet fühlen. Das Ver- die enorme Belastung der Staatskassen durch trauen in die staatliche Rente, die finanziell die Beamtenpensionen. und im Wortsinn von der Hand in den Mund lebt, schwindet dramatisch. Die Verheißung Ende der Illusionen von der unbegrenzt leistungsfähigen staatli- chen Rentenversicherung ist der bitteren Rea- Die Politik hat diese auf Jahrzehnte angelegte lität gewichen. Sie lautet: Das geltende System Krise zuerst negiert, dann verdrängt und mit steuert auf einen Bankrott zu, wenn es nicht ständigen Reparaturen kaschiert. Sie versuchte durch ein langfristig finanzierbares und Ver- krampfhaft, die Verpackung des Systems auf- trauen stiftendes Modell abgelöst wird. rechtzuerhalten, verringerte aber Schritt für Schritt ihren Inhalt – wie ein gestrandeter Wal, Die „dynamische Rente“, 1957 von der Regie- der seines Elementes beraubt und durch sein rung Adenauer ins Werk gesetzt, hat zur Vor- eigenes Gewicht erdrückt wird. Die Funda- aussetzung, dass möglichst viele Erwerbstäti- mente bestanden aus beständigem Wirt- ge eine verhältnismäßig kleine Gruppe von schaftswachstum und unveränderter Alters- Ruheständlern versorgen. Dies war über Jahr- struktur. Mit der unbeweisbaren Behauptung zehnte der Fall, weshalb sich das System in den „Die Rente ist sicher“ und anderen Sedativa Anfangsjahren auch bewährte. Heute liegen wurde die Bevölkerung über den Ernst der diese Voraussetzungen nicht mehr vor. Die Lage getäuscht. Eine demokratisch verfasste Zahl der Erwerbstätigen schrumpft, die der Gesellschaft, in der ständig irgendwo gewählt Rentner steigt. Das gesamtwirtschaftliche Ar- wird, fand nicht die Kraft zu tragfähigen Re- beitsvolumen nimmt ab, andererseits gehen formen. Sie benutzte das System der Alters- die Menschen früher in den Ruhestand und sicherung als Herrschaftsinstrument, um so- leben länger, beziehen also auch länger ihre zialpolitische Wohltaten auszuschenken, de- Rente. nen zweierlei gemeinsam war: Sie waren po- pulär, und sie waren auf lange Sicht nicht Das System gerät von mehreren Seiten unter finanzierbar. Druck: Die Deutschen verweilen immer län- ger im Bildungssystem; ihr Arbeitsleben wird Mittlerweile haben die Bürger aber „den Bra- immer kürzer, ihr Ruhestand entsprechend ten gerochen“. Das einstige Vertrauen in die länger. In Zahlen: Unsere Großeltern ver- Rente ist einem tiefen Misstrauen gewichen.

54 Gillies • marktwirtschaft.de

Es spricht sich herum, dass es sich bei der Ren- Die Bereitschaft, den gewohnten Lebensstan- te nicht um einen Spartopf handelt, aus dem dard etwas einzuschränken, um stattdessen für jeder im Alter entnimmt, was er im Arbeitsle- das Alter etwas zurückzulegen, ist gering. Ur- ben eingezahlt hat. Die Bürger ahnen, dass die laub, Auto, Reisen und Anschaffungen rangie- Rentenversicherung von der Hand in den ren hoch. Auf die Frage, für was es sich zu Mund lebt und werden durch die hektischen sparen lohnt, stehen an erster Stelle mit 42 und vertrauenzerstörenden Eingriffe in das Prozent Urlaub und Reise. Es folgen Rückla- System bestätigt. Die Beschwörung des gen und mit 29 Prozent erst das Alter. Das „Generationenvertrages“ findet keine Gläubi- nimmt nicht wunder, denn warum sollte man gen mehr. Dass die jeweils aktive Verdiener- eigenverantwortlich vorsorgen, wenn doch der generation für die Ruheständler zahlt – in der Staat ständig die Sicherheit der Rente be- Hoffnung, dass die nachwachsende Generati- schwört und Garantien für einen auskömmli- on ein Gleiches tut, wenn man alt geworden chen Lebensabend abgibt? ist – geht nicht mehr auf. Dafür taugt die Bevölkerungsentwicklung Urlaub, Auto, Rente nicht mehr als Fundament, jedenfalls dann nicht, wenn man beim Umlageverfahren Über die Hauptursachen der Rentenkrise – zu bleibt. Eine normale Alterspyramide hat ein wenig Erwerbstätige, zu viele Alte – scheinen breites Fundament, also die Neugeborenen, die Bürger weitgehend informiert. Über die und verjüngt sich sanft zur Spitze bis zu den Konsequenzen daraus sind sie unsicher. Das Hundertjährigen. Zwei Kriege haben in die Modell einer niedrigen, aus allgemeinen Steu- deutsche Bevölkerungspyramide bereits tiefe ern finanzierten Grundrente wird allgemein Breschen geschlagen. Daneben ist die Basis abgelehnt. Nur die Gruppen mit geringem immer schmaler geworden. Die Deutschen Einkommen können ihm etwas abgewinnen. zeugen zu wenig Kinder. 1965 hatte jede Auf die Frage, wer für die Rente geradestehen gebärfähige Frau statistisch noch 2,5 Kinder. soll, scheint man sich auf den ersten Blick weitgehend einig: der Staat, die Arbeitgeber und der einzelne Beschäftigte. Wenn die Um- Alternde Gesellschaft frageforscher jedoch nachbohren, wird deut- lich, dass vor allem der Staat in die Verantwor- Entwicklung der Gesamtbevölkerung und der Altersstruktur in tung genommen wird. Deutschland, 2000 bis 2040, in Mio. Über 60-Jährige 20- bis 60-Jährige Im Alter arm zu sein gehört zu den Urängs- Unter 20-Jährige 80 ten des Menschen. Merkwürdigerweise orien- tiert er sein Spar- und Konsumverhalten nicht daran. Bedenklich ist, dass trotz eines verbrei- 60 teten Gefühl der Besorgnis drei von fünf Akti- ven nur wenig oder überhaupt nichts für ihr 40 Alter ansparen. Je jünger die Sparer, desto we- niger legen sie dafür auf die hohe Kante. Das 20 wundert nicht, denn jeder zweite Deutsche, so die Sinus-Umfrage, verfügt angesichts sei- 0 ner Konsumgewohnheiten über keine Geld- 2000 2010 2020 2030 2040 reserven, um für den Ruhestand zu sparen. Quelle: Prognos

55 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

Dann folgte der Pillenknick, und die Gebur- lich. Aus Berichten der Bundesregierung er- tenrate fiel steil ab. Mitte der siebziger Jahre gibt sich, dass 2040 ein 60-jähriger Mann noch lag sie nur noch bei 1,5 Kindern und sackte in 21, eine gleichaltrige Frau noch 26 Lebensjah- den neunziger Jahren weiter auf etwa 1,2 Kin- re erwarten darf. Mithin: Beide beziehen 21 der ab. Das bestandserhaltende Niveau liegt beziehungsweise 26 Jahre lang Rente – wenn jedoch bei 2,1 Kindern pro Frau. Dieses wur- alles so bleibt, wie es ist. de bereits in den siebziger Jahren unterschrit- ten. Seither also ersetzt die Kindergeneration Über die Zwiebel zum Pilz zahlenmäßig nicht mehr ihre Eltern. Der wei- tere Rückgang in den neunziger Jahren ist vor Entsprechend verändert sich die Gestalt der allem auf das schwache Geburtenverhalten in Bevölkerungs-„Pyramide“. Sie enwickelt sich Ostdeutschland zurückzuführen. über die Form einer Zwiebel langsam zu ei- nem Pilz: Die jüngeren Jahrgänge sind immer Zu Beginn dieses Jahrhunderts lebten 60-jäh- schwächer besetzt, die älteren immer dichter. rige Männer statistisch noch etwa 13 Jahre, Vor 35 Jahren war ein Sechstel der Bevölke- Frauen 14 Jahre. Am Ende dieses Jahrhunderts rung älter als 60 Jahre, heute ist es ein Fünftel. ist die Lebenserwartung eines 60-jährigen In 35 Jahren wird es reichlich ein Drittel sein. Mannes auf fast 19 Jahre gestiegen, die einer Im Jahre 2050 – die Renten- und Bevölke- Frau auf fast 23 Jahre. Der medizinische Fort- rungspolitik rechnet zwangsläufig in langen schritt macht eine weiter steigende Lebenser- Fristen – wird mehr als ein Drittel älter als 59 wartung dieser älteren Jahrgänge wahrschein- Jahre sein, nur noch ein Sechstel jünger als 20

Zwischen Hoffen und Bangen: Die Rentenbefindlichkeit der Deutschen

Sozialpolitik und Bürgerempfinden driften auseinander. Heute Arbeitnehmer immer wieder vorstellig werden und nach Tricks misstrauen bereits rund zwei Drittel der Deutschen der poli- fragen, wie sie aus dem Zwangskollektiv der Renten- tischen Rentengarantie. 47 Prozent meinen, sie sei „ernst- beitragszahlung aussteigen könnten. Die Meinung, die Sozi- haft in Gefahr“, 15 Prozent sind unsicher, 38 Prozent hoffen alrente sichere im Ruhestand nicht den gewohnten Lebens- noch auf verbessernde Reformen. Vor 20 Jahren glaubten standard, sondern – im besten Falle – die Hälfte davon, darf noch 50 Prozent, dass ihr Lebensstandard als Rentner un- die herrschende genannt werden. gefährdet sei, heute nur noch 30 Prozent. Von den Mittvier- Das Münchner Sinus Institut erfragte 1999 die „Renten- zigern bis zu den Endfünfzigern hält nur noch jeder Dritte befindlichkeit“ der Deutschen. Das Ergebnis ist alarmierend das Rentensystem für verlässlich. Unter den Jüngeren ist und ein Hilferuf an die Sozialpolitik: das Misstrauen noch dramatischer ausgeprägt: Nur noch jeder Die drei größten Sorgen der Deutschen sind ihre Gesund- Sechste hält die Rente für sicher. Aufschlussreich ist, dass heit, ihr Arbeitsplatz und die Altersversorgung. Dass die Rente die ostdeutschen Rentner, deren Bezüge seit der Einheit ex- noch einen sorgenfreien Lebensabend garantiere, glauben orbitant gestiegen sind, nur zu 26 Prozent glauben, sie sei- immer weniger. Dabei sind die Ansprüche an den Lebens- en ausreichend abgesichert. Einzig unter den gegenwärti- abend hoch. Mehr als zwei Drittel nennen die Rente unsi- gen Rentnern gibt es noch eine Mehrheit, die an die cher. Die jüngeren Aktiven sind zu 73 Prozent pessimistisch, Verlässlichkeit des Systems glaubt. Sie hat auch Grund dazu. die Älteren zu 65 Prozent. Jeder vierte Aktive rechnet sogar Denn sie ist verhältnismäßig wenig betroffen. Schließlich über- mit einer Rente, die weniger als die Hälfte seine Nettoein- weisen die Versicherungsträger jeden Monat pünktlich die kommens ausmacht. Dennoch möchte eine Mehrheit an der Bezüge. Personalabteilungen berichten aber, dass jüngere beitragsbezogenen Altersversorgung festhalten.

56 Gillies • marktwirtschaft.de

Jahre. Innerhalb eines knappen Menschenle- Zwangsrente immer bens hat sich also der Altenanteil verdoppelt. unattraktiver Grob vereinfacht: Heute versorgen zwei Be- rufstätige etwa einen Rentner, um das Jahr Während der „Rentnerberg“ der nächsten 2040 wird das Verhältnis eins zu eins sein. Ein Jahrzehnte recht zuverlässig zu erfassen ist, lie- historisch einmaliger, dramatischer Vorgang. gen auf der Beitragsseite – bei den Aktiven – statistische Unsicherheiten. Wie der Arbeits- Eine vergleichbare Verschiebung der Bevölke- markt eine Generation später aussehen mag, rungsstruktur von Jung nach Alt gab es noch hängt von manchen Unwägbarkeiten ab. Die nie in der Geschichte. Die Folge, etwas holz- Trends sind jedoch unter Experten nicht um- schnittartig: Wenn die Aktiven von morgen stritten: Es wird immer mehr Ruheständler mehr als doppelt soviel Rentner versorgen und immer weniger Aktive geben, die Beschäf- müssen wie die Aktiven heute, verdoppeln tigungsverhältnisse werden immer unsteter. sich entweder die Beiträge oder aber die Ren- Daraus ergibt sich, dass das Rentensystem für ten werden halbiert. Vor diesem Hintergrund alle, die es zwangsweise finanzieren, immer ist weder die „reale Utopie“ zu verwirklichen, weniger attraktiv wird. Es wächst die Nei- dass möglichst alle mit 58, 59 oder 60 Jahren gung, es zu meiden oder aus ihm auszustei- bei voller Rente in den Ruhestand wechseln, gen. Wie der Verband Deutscher Rentenver- noch werden Reparaturmaßnahmen am Um- sicherungsträger berichtet, sichert er bereits lagesystem dieses fundamentale Dilemma zu rund ein Viertel der Beschäftigten außerhalb lösen vermögen. der gesetzlichen Rentenversicherung ab.

Innerhalb der aktiven Jahre hat sich die Zeit, So ist die Neigung zum Ausstieg aus dem die der Mensch für Arbeit aufwendet, ständig Rentenkollektiv schon heute Realität. Die verringert. In den letzten vier Jahrzehnten sack- Jungen, deren Aussichten auf ein auskömmli- te die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von ches Altersruhegeld sich ständig verdüstern, 2160 auf 1560 Stunden. Das Arbeitsvolumen versuchen sich als Aussteiger. Eine besorgnis- pro westdeutschen Einwohner halbierte sich erregend hohe Zahl hat für sich die Sozialhilfe fast: von 1100 Stunden Mitte der fünfziger auf als Beruf entdeckt. Schwarzarbeit und rund 650 Stunden gegen Ende der neunziger Schattenwirtschaft sind zu einem Breitensport Jahre. Weil der Rentenbeitrag nur an einem geworden. Ihr Jahresumsatz wird auf fast ein Haken hängt – dem Arbeitsverhältnis –, ist Sechstel des „weißen“ Sozialprodukts ge- auch die Art der Beschäftigungsverhältnisse für schätzt. das Rentensystem wichtig. So sank die Zahl der Normalarbeitsverträge stetig. An ihre Stelle tra- Andere flüchten in abgabefreie Beschäfti- ten unstete Jobs wie Teilzeit- und Frist- gungsverhältnisse oder in die Schein- arbeitsverhältnisse, Arbeitsbeschaffungsmaß- selbständigkeit. In diesen Fällen ist ihre Alters- nahmen, geringfügige Beschäftigung, Kurz- versorgung dann Privatsache. Hauptursache und Leiharbeit, abhängige (Schein-)Selbständig- der Fluchtbewegung aus dem Kollektiv sind keit und andere ungenormte Formen des Er- vorrangig die Folgen eines gewandelten Ar- werbs. Dieser Trend zu „Patchwork-Biografien“ beitsmarktes. Aber der Nebeneffekt, dem wird sich im Zuge steigender Mobilitätsan- staatlichen Rentensystem zu entkommen, ist forderungen der Wirtschaft fortsetzen. Für die nicht unerwünscht. Die Rente ist, wie alle an- Rentenkasse bedeutet er: Die Beitragseinnah- deren Sozialleistungen, die von einem Arbeits- men werden ebenfalls unsteter. verhältnis abhängen, auf Sand gebaut.

57 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

Mit sogenannten Reformen versucht die Poli- durch die Neuregelung der Ausbildungszeiten tik seit Jahren, die Schere zwischen den An- (Reform von 1992) verliert ein Versicherter, forderungen an das System und seiner wahren der 2001 in Rente geht, mit einer anrechenba- Leistungsfähigkeit zu schließen. Das geschah ren Zeit von bis dahin neun Ausbildungsjah- durch Beitragserhöhungen einerseits und ren 322 Mark monatlich. Er spürt es freilich durch Rentenkürzungen andererseits. 1957 erst in vielen Jahren. zahlten ein Arbeitnehmer und sein Betrieb 106 Mark monatlich (Höchstbetrag) in die Daraus ergibt sich, dass Einzahlungen in die Rentenkasse. Diese Summe stieg steil an und Rentenkasse heute eine denkbar schlechte Ver- überschritt mit 1010 Mark im Jahr 1985 erst- mögensanlage darstellen. Die Rendite von Bei- mals die Tausendmarkgrenze. 1998 hatte der trägen zur gesetzlichen Rentenversicherung Höchstbetrag bereits 1764 Mark monatlich geht gegen Null und ist bei bestimmten Ar- erreicht. Seit etwa 1970 sind die Beiträge zur beitnehmern bereits negativ. Das Deutsche Rentenversicherung auch deutlich stärker ge- Institut für Altersvorsorge errechnet: Rentner klettert als die Löhne und Gehälter. des Geburtsjahrgangs 1930 bringen es auf

Beiträge rauf, Leistungsfähigkeit runter Rentenkarrieren: Junge Jahrgänge im Nachteil Trotz der ständig gestiegenen Beiträge wurden die Leistungsversprechen gekürzt. Einige Bei- Wie unterschiedlich Alt und Jung vom heutigen gesetzlichen spiele: 1977 wurden mit einem Spargesetz die Rentensystem behandelt werden, zeigen vier Beispiele: Rentenanwartschaften um 23 Prozent gekürzt, è Ein Durchschnittsverdiener, 1930 geboren, hat in 45 Berufs- 1983 gab es einen Beitragsabzug zur Kranken- jahren 187.168 Mark in die Rentenversicherung einbezahlt. An versicherung der Rentner, 1984 fiel der Rentenleistungen erhielte er dagegen 327.471 Mark. Das ent- Kinderzuschuss für Rentner weg. 1992 wurde spricht nach Berechnung des Deutschen Instituts für Altersvorsor- ein Abschlag bei Rentenbeginn mit 63 Jahren ge einer realen, also inflationsbereinigten Rendite von drei Pro- beschlossen, eine weitere Senkung für die An- zent. Für ihn warfen die Beiträge keinen berauschenden, aber rechnung von Ausbildungszeiten sowie ein immerhin einen recht ordentlichen Ertrag ab. Abschlag für die Altersrente von Frauen. è Ist der Durchschnittsverdiener 1950 geboren, sieht die Rendi- Dann führte man den sogenannten Demo- te für ihn bereits magerer aus, ist aber noch positiv. Er zahlt rund grafie-Faktor ein. Mit ihm sollte das Renten- 326.000 Mark ein und erhält als Rente 354.000 Mark heraus. niveau langfristig von 70 auf 64 Prozent sin- Seine Rendite beläuft sich auf ein Prozent. ken. Diese Maßnahme nahm die neue rot-grü- è Für den Geburtsjahrgang 1970 verzinsen sich die Zahlungen ne Bundesregierung wieder zurück und ersetz- in die Rentenkasse überhaupt nicht mehr. Er leistet als alleinste- te sie durch einen anderen Kunstgriff: Die hender Durchschnittsverdiener fast eine halbe Million (499.000 Renten sollen 2000 und 2001 nicht parallel zu Mark), erhält aber als Rente nur 427.000 Mark ausgezahlt. Ren- den Nettoeinkommen steigen, wie es die dite: negativ. Der Versicherte erhält also für seine Beiträge nicht Rentenformel eigentlich vorsieht, sondern nur einmal Zinsen wie auf einem normalen Sparbuch. noch in Höhe der Inflationsrate. è Ein Angehöriger des Jahrgangs 1980, heute gerade volljährig, wird 619.000 Mark einzahlen, aber nur 480.000 Mark heraus- Vielen, wahrscheinlich den meisten Rentnern, bekommen. Für seine Beitragsmark bekommt er nur 78 Pfennige vor allem aber den jüngeren Arbeitnehmern, zurück. Aber auch dies ist höchst unsicher, denn mit weiteren ist die Dimension dieser Kürzungsmaßnah- Änderungen der Rentengesetze ist zu rechnen. men nicht voll bewusst. Ein Beispiel: Allein Quelle: Deutsches Institut für Altersvorsorge

58 Gillies • marktwirtschaft.de

(real) drei Prozent, die von 1959 nur noch auf Zusammenhang ist längst aufgelöst. Seit Jahr- 1,5 Prozent, jene des Jahrgangs 1970 auf eine zehnten gewährt der Bund Leistungen, für die „Rendite“ in der Nähe von Null. Vom Jahr- keine Beiträge gezahlt wurden, andererseits gang 1980 an rutschen die Erträge deutlich ins schießt der Bund aus Steuermitteln in die Ren- Negative. Diejenigen, die voll im Beruf stehen tenkasse ein. Zwischen 1995 und 2000 wird und ihr Arbeitsleben noch vor sich haben, er- sich sein Zuschuss von rund 64 auf 116 Milli- leiden einen realen Vermögensverlust. Aus die- arden Mark im Jahr nahezu verdoppelt haben. ser Verteilungswirkung kommt der Vorwurf, Begründet wird diese Rentensubvention mit die ältere Generation beute die junge aus. jenen Leistungen, die dem Versicherungs- prinzip fremd sind. Dabei handelt es sich bei- Nahezu alle Formen der Vermögensbildung spielsweise um Folgelasten des Zweiten Welt- sind attraktiver als die Beiträge zur gesetzlichen kriegs und der deutschen Einheit, um vorge- Rente. Festverzinsliche Wertpapiere erbrachten zogene Altersrenten, Anrechnungszeiten der seit den sechziger Jahren reale Renditen zwi- Ausbildung, die Krankenversicherung der schen 3,6 und 5,7 Prozent, übertrafen also die Rentner, Fremdrenten, Zeiten der Kinderer- Beitragszahlungen deutlich. Die Anlage in Ak- ziehung, die Rente nach Mindesteinkommen tien zahlte sich, gemessen am Deutschen Akti- und anderes. Die Höhe dieser „versicherungs- enindex Dax, mit fünf Prozent (1955-1991) bis fremden Leistungen“ ist umstritten. In jedem zwölf Prozent (1980-1997) aus. Eine weitere Fall zahlt die Rentenversicherung hier Leistun- Merkzahl für die Rentabilität des Systems: gen an Gruppen, die vorher keine oder keine Wenn ein Durchschnittsverdiener rund 26 Jah- der Rentenhöhe entsprechenden Beiträge ent- re in die Rentenversicherung einbezahlte, hat er richtet haben. gerade einmal einen Rentenanspruch in der Höhe der Sozialhilfe erworben. Auf diese be- Der stark steigende Bundeszuschuss bedeutet, steht ein Rechtsanspruch, die Garantie der Ren- dass alle Steuerzahler für bestimmte Renten- te ist dagegen rechtlich umstritten. Beiträge und Renten: Wachsende Diskrepanz Hektik auf dem Verschiebebahn- hof Werte von Beiträgen und Renten für unverheiratete Männer der Geburtsjahrgänge 1930 bis 1980 Die Politiker kontern, dies sei Panikmache, Angaben in 1.000 DM, preisbereinigt Wert der GRV-Rente um politische Stimmungen zu schüren und Wert der Beiträge Reklame für die private Versicherung zu ma- 1.200 chen. Im übrigen würde dabei übersehen, dass der Bund hohe Zuschüsse in die Rentenkassen 1.000 leiste. Ferner sei das breite Leistungsspektrum 800 der gesetzlichen Rentenversicherung, bei- spielsweise in Fällen von Erwerbs- und Berufs- 600 unfähigkeit, zu beachten. 400 Der Begriff der „beitragsbezogenen Rente“, 200 von der Politik wie eine Monstranz voran- getragen, suggeriert den Versicherten, wer viel 0 und lange „geklebt“ hat, erhält auch ein ent- 1930 1935 1940 1945 1950 1960 1970 1980 sprechend hohes Alterseinkommen. Dieser Quelle: Deutsches Institut für Altersvorsorge

59 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

probleme in Anspruch genommen werden. ge zu senken. Die Wirkung dieser Abgaben Dies gilt auch, wenn sie selber gar nicht in den kann hier nicht im einzelnen dargestellt wer- Genuss von Leistungen kommen. Es findet den. In Bezug auf die Rentner nur soviel: Dass also beispielsweise eine Umverteilung vom die Senioren von diesem Umverteilungstrick Selbständigen, der Eigenvorsorge betrieben profitieren, ist keineswegs ausgemacht. Einer- hat, zugunsten eines hochverdienenden Mana- seits trägt er zwar dazu bei, das Rentenniveau gers statt, der zwangsweise rentenversichert ist. hoch zu halten. Auf der anderen Seite müssen Noch schwerer wiegt der Einwand, dass sich die Rentner künftig höhere Energiesteuern dadurch die Rente in Richtung auf eine staatli- zahlen und damit einen Teil der Renten selbst che Einheitsversicherung hinbewegt. So hat bezahlen, ohne dass sie – anders als die Unter- sich der Staatsanteil an der Rentenversiche- nehmen – durch niedrigere Sozialabgaben ent- rung in den neunziger Jahren auf rund 30 Pro- schädigt werden, denn im Ruhestand zahlen zent verdoppelt. Damit sind auch die politi- sie keine mehr. Überdies ist diese Um- schen Ambitionen zu erklären, möglichst vie- verteilungslogik brüchig, weil der Sinn von le oder besser möglichst alle Gruppen in das Umweltsteuern darin liegt, den Naturver- Kollektiv hineinzuzwingen. brauch zu verringern, nicht aber darin, ein marodes Sozialsystem zu retten. Auf die ironi- Auf dem Verschiebebahnhof zwischen Ren- sche Spitze getrieben: Wer seine Rente sichern ten- und Steuerkasse herrscht schon seit vie- will, muss möglichst viel Benzin, Heizöl und len Jahren ein lebhafter Rangierverkehr. 1998 Strom verbauchen. Folgt er stattdessen den wurde die Mehrwertsteuer um einen Prozent- ökologischen Sparappellen, gefährdet er die punkt erhöht, um, wie es hieß, eine weitere sozialen Systeme. Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags zu verhindern. 1999 wurden Ökosteuern in Kraft Volle Rente mit Sechzig? gesetzt mit dem Ziel, die Last der Sozialbeiträ- Trotz der offensichtlichen finanziellen Schwie- rigkeiten versucht die Politik, die Leistungen gleichwohl auszuweiten. Die erhöhte Berück- Milliardenschweres Vorhaben sichtigung von Kindererziehungszeiten über- frachtet das ohnehin brüchige System weiter. Eine seriöse Finanzierung der vollen Rente mit Sechzig ist nicht in Dass die Aussicht, später die eigene Rente Sicht. Die Gewerkschaften schlugen vor, das Projekt teilweise aus „hochkindern“ zu können, die Gebärfähigkeit einem Tariffonds zu finanzieren, der von Arbeitnehmern und Be- steigert, wird erhofft, ist aber nicht bewiesen. trieben hälftig zu füllen wäre. Dies würde, so rechnet Meinhard Der Entschluss zu einem Kind wird von vie- Miegel vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn (IWG) len Faktoren beeinflusst, wohl am wenigsten vor, im ersten Jahr 12 und im fünften Jahr 60 Milliarden Mark von dem seiner Rentenwirksamkeit. kosten, insgesamt 180 Milliarden Mark. Wenn geschätzte 480.000 Arbeitnehmer, fasziniert von der Frührente, fünf Jahre früher ih- Ein besonders riskanter Plan ist die „volle Ren- ren Arbeitsplatz räumten, kostete dies die Rentenversicherung ins- te mit 60“. Das Modell entstammt der Gedan- gesamt rund weitere 200 Milliarden Mark. Dafür würden nach kenwelt von Sozialingenieuren in Bundesregie- Gewerkschaftsberechnungen zwischen 160.000 und 800.000 rung und Gewerkschaften. Sein Ziel ist, einige Arbeitsplätze vorübergehend frei. „Pointiert formuliert,“ so Miegel, Jahrgänge mit 60 Jahren aufs Altenteil zu „soll also die Bevölkerung annähernd 400 Milliarden Mark auf- schieben, um auf deren Arbeitsplätzen Jünge- bringen, damit der ältere Herr Müller der jüngeren Frau Meier für re unterzubringen. Das Vorhaben wäre eine die Dauer von vier, fünf Jahren einen Arbeitsplatz überlässt.“ verkappte Erhöhung der Sozialbeiträge und

60 Gillies • marktwirtschaft.de

zwänge jüngere Jahrgänge zu einem Lohnver- zicht, ohne dass sie davon profitieren. Käme es zu einem Tariffonds, würden die Gewerk- schaften ihn auf ihre Lohnforderungen drauf- zusatteln versuchen. Durch eine Beitragserhö- hung sinken die Nettoeinkommen der Arbeit- nehmer und mit ihnen die Renten, falls sie daran noch angekoppelt sind. Schließlich ist zweifelhaft, ob für die Frührentner tatsächlich Jüngere auf deren Arbeitsplätze nachrücken. Die Unternehmen dürften auf die Steigerung ihrer Arbeitskosten mit Rationalisierung rea- gieren. Das Projekt ist kaum finanzierbar, un- gerecht gegenüber nicht begünstigten Jahrgän- gen, zielt auf die Abschaffung der – gerade her- aufgesetzten – Altersgrenzen und gefährdet das Gremien mit 60 oder 55 Jahren einsetzt. Da- ohnehin fragile Umlagesystem weiter. bei erreichen sie doppelt so schnell wie Beam- te die Höchstgrenze von 75 Prozent der End- Scheinsoziale Umverteilungs- bezüge und können auch Ansprüche aus meh- spiele reren Funktionen kumulieren (beispielsweise als Minister und als Abgeordeneter). Der Eine andere schwerwiegende Verletzung der Verwaltungswissenschaftler Hans Herbert Beitragsbezogenheit sind die Pläne von Politi- von Arnim pickte ein besonders bizarres Bei- kern, die hohen Renten zu kappen, um die spiel in Nordrhein-Westfalen heraus: Dort niedrigen aufzubessern. Das klingt sozial, ist haben Minister bereits nach vier Amtsjahren aber in Wahrheit das Gegenteil: Der leistungs- einen Rentenanspruch von 43 Prozent ihrer fähige und zahlungsbereite Arbeitnehmer Bezüge. Das entspricht einer Pension von wird im Alter um den vollen Lohn seines Ar- rund 9.700 Mark, zahlbar dreizehnmal im beitslebens betrogen. Andererseits genießen Jahr. Auf die Amtszeiten werden jedoch das Gruppen, die wenig geleistet und entspre- Studium, Abgeordnetenzeiten und andere Tä- chend wenig oder gar nichts eingezahlt haben, tigkeiten im öffentlichen Dienst angerechnet. unverdiente Subventionen. Die Praxis, die So ergibt sich für einige Minister der rot-grü- Renten möglichst gleichhobeln zu wollen, be- nen Landesregierung in Düsseldorf bereits schädigt ein wesentliches Fundament: das Ver- nach vier Jahren eine Monatspension von trauen. 14.226 Mark, errechnet von Arnim. Diese „Doppelt- und Dreifachversorgung“ von Poli- Dass Politiker so leichtfertig damit umgehen, tikern sei eine trickreiche Privilegienhäufung, hängt möglicherweise damit zusammen, dass die zudem verfassungsrechtlich zweifelhaft sei, sich die Parlamente und der öffentliche Dienst meint er. Dieser Hintergrund verleiht den eine ungewöhnlich üppige, teilweise empö- rentenpolitischen Einlassungen von Politikern rend hohe Altersversorgung genehmigen. Ab- einen speziellen Charme. geordnete des Bundestages und der Länderpar- lamente erhalten bereits nach einer oder nach Griffen Konrad Adenauer und Ludwig Er- zwei Wahlperioden eine lebenslängliche Alter- hard, der erste Bundeskanzler und sein legen- versorgung, die je nach Zugehörigkeit zu den därer Wirtschaftsminister, zur falschen For-

61 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

mel, als sie 1957 die umlagefinanzierte „dyna- wirkt, dass Steuersenkungen die Renten stär- mische Rente“ kreierten? Nicht unbedingt, ker erhöhen. Unter Rentenexperten gibt es denn aus damaliger Sicht schien das Gleichge- Zweifel, ob überhaupt jemals zur Nettoformel wicht des Systems garantiert: Die Wirtschaft zurückgekehrt werden sollte. wuchs ständig, Arbeitslose gab es kaum, und die Deutschen zeugten genügend Kinder, um Aber das Prinzip, dass die Renten den Netto- das Verhältnis zwischen Aktiven und Ruhe- löhnen folgen sollen, ist ohnehin durch die ständlern im Lot zu halten. Warnungen vor Pläne der Bundesregierung durchlöchert. Das den demografischen Risiken trat Adenauer Kabinett Kohl hatte einen demografischen stets kühl entgegen: „Kinder bekommen die Faktor in die Rentenberechnung eingeführt, Leute immer.“ mit dem auch die Rentner an den Folgen der Überalterung der Bevölkerung beteiligt wer- Abschied von der Nettolohn- den sollten. Dadurch wäre das Rentenniveau orientierung langfristig von 70 auf 64 Prozent des durch- schnittlichen Nettoeinkommens gefallen. Die- Selbst innerhalb des Umlagesystems sind vie- ses Modell hätte das System etwas stabilisiert, le Formeln der Umverteilung zwischen den ohne indes dessen Grundprobleme zu lösen. Generationen möglich. Ursprünglich waren Das Kabinett Schröder/Fischer nahm diesen die Renten an die Bruttolöhne und -gehälter Demografie-Faktor wieder zurück und setzte angekoppelt. Da letztere stetig und kräftig stie- die Nettoformel kurzerhand für zwei Jahre gen, aber gleichzei- außer Kraft: Die Renten sollen 2000 und 2001 Wie hektisch an einem System tig auch die Abga- nur noch wie die Inflationsrate steigen. Statt herumgedoktert wird, zeigt der Ab- benlast der Beschäf- der voraussichtlichen Erhöhung von 3,7 und lauf der sozialpolitischen Meinungs- tigten, kletterten die 3,5 Prozent sollen die Rentner nur noch den bildung. Noch am Aschermittwoch Renten zu schnell. Preisausgleich von voraussichtlich 0,7 und 1,5 1999, am 17. Februar, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder Darauf wechselte Prozent als Aufbesserung erhalten. Bei einer bekräftigt: „Ich stehe dafür, dass man zum Netto- Rente von 2000 Mark bedeutet dies einen Ver- auch in Zukunft die Renten so prinzip. Es dämpfte lust von 102 Mark monatlich, bei einer 2500- steigen wie die Nettoeinkommen der Rentensteigerun- Mark-Rente einen von 128 Mark. Für den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- gen. Die Nettofor- Durchschnittsrentner, den es nur statistisch mer, was sie in der Lohntüte bekom- men. Das ist ein Prinzip, das wir mel taugt dann gibt, summieren sich die Verluste über die Jah- nicht antasten werden.“ Nur wenige nicht mehr, wenn re durchaus auf Summen von 15.000 Mark. Monate später war das Prinzip der Fiskus und die durchbrochen. Sozialkassen die Ab- Ob die Rentner an den Sparaktionen eines gaben senken und hoch verschuldeten Staates beteiligt werden durch Ökosteuern die Last umverteilen wol- sollten, ist diskussionswürdig. Aber sie dürf- len. Das hätte zur Folge, dass die Rentner – ten diese Reformabsichten als Willkür und ungewollt – eine Erhöhung ihrer Bezüge be- Vertrauensbruch empfinden. Gleichzeitig sol- kämen, wenn die Ökosteuern für eine Sen- len die Kleinrenten einen Zuschlag erhalten. kung der Sozialbeiträge verwendet werden. Das würde vermutlich jene Arbeitnehmer auf- Ließe man diesen Effekt unbeachtet, müssten bringen, die brav über ihr Arbeitsleben hin- die Rentenbeiträge erhöht werden. Das wäre weg ihre Rentenbeiträge eingezahlt haben und ebenfalls nicht erwünscht, denn es behinderte jetzt dafür bluten müssen, dass andere weni- die Beschäftigung. Die Nettoformel, an der die ger emsig gearbeitet und gezahlt haben als sie. Bundesregierung von 1999 formal festhält, be- Die hohe Beitragslast hat es ihnen meist nicht

62 Gillies • marktwirtschaft.de

erlaubt, private Rücklagen anzusparen, wäh- schon jetzt unlogisch. Diese Verwirrung wür- rend diejenigen, die lieber konsumiert als vor- de steigen, wenn bespielsweise die Steuerer- gesorgt haben, jetzt für ihre Sorglosigkeit be- höhung für Lebensversicherungen dann nicht lohnt werden. Wenn aus sozialen oder ande- greift, wenn „altersbedingter Kapitalbedarf“ ren Gründen die Kleinrenten geliftet werden vorliegt. Wer will das – rechtlich wasserdicht – sollen – nun gut, aber bitteschön nicht aus der beurteilen? Rentenkasse. Angesichts der Rentenmisere stellt sich den Die Furcht vor der Versorgungs- Beitragszahlern von heute eine schwierige Fra- lücke ge: Wie hoch ist meine Versorgungslücke, wenn die staatliche Seit Mitte der fünfziger Jahre formuliert die Rente nur 50, 30 Dem Sozialminister ins Stammbuch: Politik – erst vorsichtig, dann immer deutlicher oder noch weniger Es geht vor allem darum, das – eine Botschaft, die ihr früher nie über die Lip- Prozent meines Le- Rentensystem aus der politischen pen gekommen wäre: Für den gewohnten Le- bensstandards im Beliebigkeit herauszulösen und es bensstandard reicht die gesetzliche Rente nicht Alter abdeckt? Ein wieder mit Verlässlichkeit auszu- rüsten. aus; deswegen sei private Vorsorge nötig. Die komfortabler Ruhe- Politik folgte dieser Einsicht nicht, denn die stand beginnt mit Rahmenbedingungen für private Kapitalbil- einer wichtigen, aber sehr komplizierten dung wurden nicht verbessert, sondern ver- Rechnung: Wie groß ist diese ungedeckte Lük- schlechtert. Hier sind an erster Stelle die hohen ke, also die Differenz des tatsächlichen Alters- Abzüge von den Bruttoeinkommen zu nennen. einkommens zum gewünschten Lebenshal- Auch die steuerliche Behandlung während der tungsniveau. Wegen des langfristigen Zinses- Kapitalbildung begünstigt die Vorsorge nicht. zinseffekts wird sie meist unterschätzt. Ein Ein grobes politisches Versäumnis war es auch, Beispiel: Wer mit 60 Jahren in die Rente wech- die Betriebsrente steuerlich so stiefmütterlich selt und mit 20 weiteren Ruhestandsjahren zu behandeln. Gleiches gilt für die steuerliche rechnet (die Lebenserwartung liegt darunter, Verschlechterung der Direktversicherung und aber sicher ist sicher – es könnte unglückli- die geplante Kürzung der Sparerfreibeträge. cherweise sein, dass man länger lebt, als die Zwischen sieben und acht Millionen Arbeit- Statistik einem zubilligt), benötigt bei Renten- nehmer haben heute noch Anrechte auf eine beginn eine Zusatzrente von jährlich rund Betriebsrente, Tendenz sinkend. Der Gesetzge- 15.000 Mark. Anders gewendet: Wer heute ber hat die Rahmenbedingungen dafür ständig schon weiß, dass ihm in 20 Jahren rund verschlechtert. Immer weniger Unternehmen 500.000 Mark Versorgungskapital fehlen, wagen es deshalb, ihren Mitarbeitern eine müsste, um diese Lücke zu schließen, monat- Betriebsrente zuzusagen. lich 1.170 Mark sparen. Dabei sind eine Infla- tionsrate von 2,5 Prozent und ein Zins von 5,5 Die private Lebensversicherung ist eine tragen- Prozent unterstellt. de Säule der Eigenvorsorge. Die Furcht vor dem Rentendilemma treibt den Versicherern Was ist zu tun? Vor allem geht es darum, das die Kundschaft zu. Als die Pläne bekannt Rentensystem aus der politischen Beliebigkeit wurden, die Lebensversicherung zusätzlich zu herauszulösen und es wieder mit Verlässlich- besteuern, registrierte die Branche eine stark keit auszurüsten. Es bedarf eines unerschüt- steigende Nachfrage. Die Besteuerung des terlichen Vertrauens, das über Jahrzehnte Altersversorgungssystems ist alles in allem trägt. Jedes neue Leistungsversprechen ohne

63 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

finanzielle Deckung schürt dagegen die Finanz- worbener und selbstbewusster Kunde. krise. Als Büttel und Regulierung für den Ar- Schließlich würde ihm das System etwas ge- beitsmarkt taugt das Rentensystem nicht. Zu ben, was ihm das jetzige vorenthält: eine ange- klären ist ferner die Frage, ob und wie die Rent- messene Rendite seiner Sparleistungen. ner am allgemeinen Produktionsfortschritt teil- nehmen sollen, den die aktive Generation er- Gegen dieses Modell werden Einwände erho- wirtschaftet. Das bedingt eine neue Renten- ben. Ein Umstieg sei nicht möglich und zu formel, die den Wandel der Altersstruktur wie teuer, heißt es. Dies deshalb, weil man die den des Arbeitsmarktes widerspiegelt. Rentner, die vom Umlagesystem leben, nicht im Regen stehen lassen könne. Denn von den Kapitaldeckung: Rente auf dem Beitragszahlern könne nicht erwartet werden, Kontoauszug dass sie für beide Systeme zahlen, also einer- seits für die Rentner nach Umlage, anderer- Diese Argumente weisen zwingend auf einen seits die Ansparleistungen für ihre eigene Ka- Paradigmenwechsel hin – weg vom Umlage- pitalanlage. Wissenschaftliche Untersuchungen system, hin zum Kapitaldeckungsverfahren. belegen jedoch, dass ein schrittweiser Wechsel Gegenüber der heutigen Unberechenbarkeit durchaus möglich ist. (Kasten auf S. 65) hätte letzteres unvergleichliche Vorzüge: Eine private und individuelle Vorsorge gäbe den Das Argument, hier balle sich ein Kapital- Menschen wieder Sicherheit und Vertrauen. stock zusammen, der zum wirtschaftlichen Jedermann könnte auf einem Kontoauszug lau- Machtmissbrauch verführt, trägt nicht. Das fend überprüfen, wie hoch sein angespartes deutsche Finanzsystem ist leistungsfähig ge- Versorgungsniveau ist. Die Arbeitskosten wür- nug, dies im Wettbewerb zu managen. Die den gedämpft und der Kapitalmarkt gefördert. Kritik aus der Politik ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, dass sie fürchtet, mit der Pri- Die Skizze des Kapitaldeckungsverfahrens ist vatisierung der Altersvorsorge ein Herrschafts- kaum umstritten, nur seine Verwirklichungs- instrument zu verlieren. Im übrigen wäre die chancen sind es. Niemand wäre mehr bevor- Erfahrung mit dem Kapitaldeckungsverfahren mundet oder den Widrigkeiten und Unbere- für Deutschland so neu nicht: Die berufsstän- chenbarkeiten von Wahlkämpfen ausgeliefert. dischen Versorgungswerke der Ärzte, Anwäl- Er würde nicht mehr durch Sozialbürokratien te, Steuerberater, Apotheker oder Journalisten gegängelt und entmündigt, wohl aber – das ist verfahren bereits seit Jahrzehnten ähnlich. die Kehrseite – wäre er selbst für sein Alter verantwortlich. Vermutlich müsste für die Attraktive Beiträge in Europa sorglosen Bürger eine Pflichtmindestversor- gung verordnet werden, damit niemand aus Man braucht nicht um den Erdball zu reisen, Lässigkeit im Alter dem Staat zur Last fällt. um Ansätze für kapitalgedeckte Altersversor- Die darüber hinausgehenden Ersparnisse und gungen zu entdecken. Großbritannien oder ihre Anlage in Vermögenswerten wären Pri- die Niederlande sind Beispiele dafür. Alle Bri- vatsache. Das Management dieser Renten- ten zahlen in eine staatliche Basisrente, aus der oder Pensionsfonds würden anstelle des Staa- sie im Alter 20 Prozent eines Durchschnitts- tes die privaten Kapitalanlagegesellschaften einkommens beziehen. Weiter wurde verord- übernehmen. Der Sparer wäre kein Antrag- net, dass jedermann einer Zusatzversorgung steller mehr bei der BfA (Bundesversiche- beitritt, es sei denn, er weist eine entsprechen- rungsanstalt für Angestellte), sondern ein um- de private Absicherung nach. Darüber hinaus

64 Gillies • marktwirtschaft.de

ist privates Sparen in Pensionsfonds möglich. Mark. Das entspricht einem Gesamtvermö- Diese unterliegen, wie auch in den USA, ei- gen pro Haushalt von rund 350.000 Mark. Die nem gewissen Anlagerisiko. Die langen Lauf- Rentenansprüche, die eigentlich zum Ver- zeiten entschärfen es allerdings. In Großbri- mögensstatus dazugehören, sind hierbei nicht tannien verwalten die Pensionsfonds ein Ver- berücksichtigt. mögen, das bereits rund 80 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts entspricht, in den Nie- Aber der bei einem Kapitaldeckungsverfahren derlanden sind es fast 90 Prozent. Deutschland einsetzende Druck zur eigenen Vorsorge wür- bringt es für vergleichbare Fonds nur auf de und müsste das Konsumverhalten der Men- knapp sechs Prozent. schen beeinflussen. Während das Sparen in Versicherungen oder für den Erwerb von Im- Natürlich stellt sich die Frage der Spar- mobilien Vorsorgecharakter hat, stehen die fähigkeit und -bereitschaft der Deutschen. Altersrücklagen in einem Wettbewerb mit Unter dem Schirm der staatlichen Renten- Konsumwünschen wie Urlaub, Verreisen, garantie wurden sie vom privaten Vorsorge- Auto, Hobby sowie größeren Anschaffungen. gedanken stark entwöhnt. Dabei sind sie rei- Umfragen belegen, dass die Bereitschaft sehr cher als sie glauben und wissen. Das Volksver- gering ist, kleinere und lieb gewonnene mögen der Deutschen beträgt nach Angaben Konsumwünsche zugunsten der Altersvorsor- der Bundesbank insgesamt rund 13 Billionen ge zurückzustellen oder einzuschränken.

So geht’s: Geordneter Rückzug aus dem Umlageverfahren

Der Nürnberger Wissenschaftler Manfred Neumann hat in deckung untersucht. Er spricht sich entschieden für einen einer Studie für das Frankfurter Institut errechnet, dass ein Übergang zur Kapitaldeckung aus, schätzt aber die Bela- vollständiger Umstieg zur Kapitaldeckung möglich ist, wenn stung der Erwerbstätigen schon heute für zu hoch, um par- die demografisch noch nicht so angespannten Jahre bis 2015 allel zur Befriedigung der im alten System erworbenen An- geschickt genutzt werden. Sein Vorschlag: sprüche den Aufbau eines hinreichend großen Kapitalstocks è Ab sofort sollten neue Rentenansprüche ausschließlich noch zu schultern. Er plädiert daher für eine abgespeckte im Kapitaldeckungsverfahren erworben werden – für ein Lösung: Der Beitragssatz für die kapitalgedeckte Rente soll Nettorentenniveau von 70 Prozent wäre ein Beitragssatz von jeweils so festgelegt werden, dass der Gesamtbeitrag 25 Pro- knapp 10 Prozent ausreichend. zent nicht überschreitet. Der Beirat erwartet unter dieser è Die im Rahmen der alten Gesetzlichen Rentenversiche- Voraussetzung ein gemischtes Alterssicherungssystem, in rung erworbenen Ansprüche werden nach wie vor durch dem langfristig die Hälfte der regulären Altersrente auf Kapital- Umlagebeiträge finanziert. Die Höhe dieser Beiträge wird deckung beruht. Auch damit würde ein gewaltiger Schritt in durch sofortige Anhebung des Renteneintrittsalters auf 65 Richtung einer sehr viel effizienteren Finanzierung des Jahre und durch angemessene Rentenabschläge bei vorzei- Rentensystems getan. tiger Verrentung in Grenzen gehalten. Der Systemwechsel schlösse natürlich in beiden Fällen wei- è Der Gesamtbeitrag für die neue kapitalgedeckte und die tere Leistungsversprechen für die eine oder andere Gruppe auslaufende Umlagerente würde die Marke von 24 Prozent aus. Die Politik dürfte froh sein, aus der Position des guten nicht überschreiten. Nach 2030 wäre ein deutlicher Rück- Onkels entlassen zu werden, der zur Wahrung seiner beruf- gang zu erwarten. lichen Perspektiven vor jeder Wahl in die Spendierhosen Auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschafts- schlüpft und unseriöse finanzielle Versprechungen abgeben ministerium hat die möglichen Übergangspfade zur Kapital- muss.

65 Die Rente ist sicher . . . ein Problem

Andererseits sind die Senioren vermögender 1000 Mark monatlich (Durchschnitt: 600 und sparfähiger, als es in der öffentlichen Dar- Mark). Die Alten blättern in diesem Jahr al- stellung zum Ausdruck kommt. Das mediale lein 15 Milliarden Mark für Reisen hin. Die Bild der Senioren ist von zwei einander wider- Generation der „Whoopies“ – die Abkürzung sprechenden Klischees bestimmt: Mehrheit- für „Well-off older people“ – ist nicht nur bio- lich dominiert die Einschätzung, die Alten sei- logisch auf dem Vormarsch. en arm, gebrechlich, einsam und pflegebedürf- tig. In der Realität hat jedoch eine andere Be- Übrigens und nicht nur am Rande: Ob der trachtung ständig an Gewicht gewonnen: Die Herbst des Lebens ein goldener wird, hängt Senioren sind heute jünger denn je, wohlha- nicht nur vom Gelde ab. Zwar kann man sich bender als alle Altersgruppen und wollen ihr mit Geld Konsum und manchmal auch Liebe Leben genießen. Ein großer Teil des Konsum- und Zuwendung kaufen – die der Kinder und potentials liegt heute bei den „50 Plus“, wie Enkel beispielsweise. Aber die wichtigsten die Gruppe genannt wird. Die über 55-Jähri- Güter sind nicht käuflich. Gesundheit, ein gen verfügen über fast die Hälfte des gesamten gutes Gläschen mit Freunden, eine Runde Geldvermögens, besitzen also mehr als alle Skat oder ein Schachspiel, der Baum im Gar- anderen Altersgruppen. Etwa ein Viertel ver- ten, der wieder blüht, das Lachen der Kinder fügt – nach Abzug aller Lebenshaltungskosten und Enkel. Vor diesem Hintergrund gewin- – über ein freies Taschengeld von mehr als nen die heftigen Diskussionen über die Ren- ten eine andere Dimension: Die viel beschwo- rene Altersarmut hängt keinesfalls allein vom Beispiel Chile: Totaler Systemwechsel Gelde ab.

Dass die Umstellung sogar im Hauruck-Verfahren funktioniert, zeigt ein Blick auf den anderen Teil der Erdkugel: nach Chile. Dort hat Man muss die Reform wollen der Diktator Pinochet Anfang der achtziger Jahre einen radikalen Für eine konsistente Reform des brüchigen Schnitt gemacht. Ein verwirrendes System von rund 150 staatli- deutschen Umlagesystems gibt es genügend chen Versorgungsanstalten hatte wie anderswo ständig Defizite, Vorschläge. Die Furcht, mit der sie diskutiert Beitragserhöhungen und zugleich Leistungskürzungen produziert. werden, ist nicht berechtigt. Freilich müssen Es wurde auf Kapitaldeckung umgestellt. Die Folgeregierung un- die Reformer zuvor einige Geständnisse able- ter Eduardo Frei schaffte die Arbeitgeberbeiträge ab. Den kritischen gen: Die derzeitige gesetzliche Alterssicherung Systemwechsel bewerkstelligte das südamerikanische Land so, ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten; sie si- dass es den Versicherten die freie Wahl ließ, ob sie weiter in das chert nie mehr den gewohnten und gewünsch- Umlagesystem zahlen oder lieber selber sparen wollten. Neun von ten Lebensstandard. Sie überfordert die nach- zehn Chilenen optierten für das Kapitalsparen. Jeder Arbeitneh- wachsende Generation, ist eine denkbar mer zahlt zehn Prozent seines Lohnes auf ein individuelles Anla- schlechte Vermögensanlage und strahlt kein gekonto bei einem der 19 öffentlich zugelassenen Pensionsfonds Vertrauen mehr aus. ein. Täglich veröffentlichen die Zeitungen Chiles den Performance- Vergleich der Fonds. Wer mit der erwirtschafteten Rendite seines Eine Reform in Richtung Kapitaldeckung Fonds unzufrieden ist, darf kurzfristig in einen anderen wechseln, gäbe den Bürger nicht nur wieder Sicherheit, von dem er ein besseres Anlagemanagement erhofft. Die Versor- sondern auch ein Stück mehr Freiheit. Man gungsleistungen des neues Systems sind deutlich höher als die muss sie nur wollen. Vermutlich wartet auf des maroden alten. Teilweise haben sich die Renten vervielfacht. die Bürger die schwierige Aufgabe, die Politik Da zwei Fünftel des Fondsvermögens in Staatsanleihen investiert davon zu überzeugen und so die Beharrung sind, gab dies der chilenischen Wirtschaft zusätzlich einen Schub. zu überwinden.

66 Blankoscheck für Fitness gibt es nicht

Das deutsche Gesundheitswesen ist modern, folgt die Überweisung an den Facharzt. Die- aber teuer und krank. Mit mehr als vierzig ser wirft die gleichen Apparaturen an und ei- Gesetzen wurde über Jahrzehnte versucht, sei- nige weitere dazu. Auch sein Maschinenpark ne Kosten zu dämpfen. Eine Reform löste die will schließlich ausgelastet werden. Erfolgt andere ab. Gleichzeitig wurde das System im- dann die Einweisung ins Krankenhaus, wer- mer brüchiger, Patienten, Beitragszahler, Ärz- den die gleichen Untersuchungen nochmals te, Kassen und und andere „Leistungserbrin- wiederholt. ger“ immer zorniger. Im Kampf um den 500- Milliarden-Markt versuchen alle Beteiligten Über diese leidigen Doppelt- und Dreifach- ihren Anteil zu Lasten der jeweils anderen untersuchungen wird seit Jahren geklagt. Ge- Leistungserbringer des Medizinbetriebs zu er- schehen ist deshalb nichts, weil das System höhen. Da in diesem System kaum jemand frei dazu einlädt. Selbst die Röntgen-Fachärzte entscheiden kann, der Wettbewerb und die räumen ein, dass jede zweite Röntgenuntersu- Marktkräfte ausgeschaltet sind und alles regu- chung – immerhin rund 50 Millionen Befun- liert wird, ist die Gesundheitsversorgung zu de im Jahr – überflüssig, bisweilen sogar schäd- einer organisierten Ausbeutung mutiert. Um lich sei. Gleiches gilt für die Verschreibung den Infarkt des Systems zu verhindern, ist eine von Medikamenten mit ungewisser oder frag- Reform zwingend, die den gesamten medizi- würdiger Wirkung, für unnötige, aber belieb- nischen Kreislauf in Richtung auf eine wirt- te Eingriffe in die Leibeshöhle, für Psychothe- schaftliche Verwendung der Versicherten- rapien oder naturärztlich-homöopathische beiträge zwingt. Anwendungen. Nicht dass nicht jeder Bürger das Recht hätte, sein Geld abseits der Schul- Nicht nur Deutschland, die ganze Welt jagt medizin in umstrittene Therapien zu tragen einem Phantom nach: dem absoluten und oder zu fragwürdigen Gurus zu laufen – aber ständigen Wohlbefinden. Wer und was ist ge- eben nicht das Geld der Mitversicherten. sund? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat es als eine Art Grundrecht des Der Grund für Millionen teurer Mehrfach- Menschen definiert, den „Zustand vollkom- untersuchungen ist nicht nur Diagnose-Miß- menen physischen, psychischen und sozialen trauen gegenüber Kollegen, sondern ein wirt- Wohlbefindens“. Daran gemessen wäre nie- schaftliches Motiv: Die teuren Apparate, mit mand mehr gesund und alle Menschen krank. denen Deutschlands Praxen und Kliniken aus- Denn irgendeine physische, psychische oder gerüstet sind, warten auf möglichst gleichmä- soziale Unpässlichkeit findet sich allemal. ßige Auslastung. Sie müssen sich amortisieren, denn jede Praxis ist ein Wirtschaftsbetrieb. „Dann machen wir erst mal eine Blutsen- Das Problem wäre schlagartig behoben und kung,“ sagt der Hausarzt, der wegen eines Lei- die Leistungen des Gesundheitssystems auf das dens oder „nur mal so“ aufgesucht wird. Da- medizinisch Notwendige reduziert, wüsste der neben vielleicht ein Belastungs-EKG plus Ul- Patient um den Preis für die jeweilige Anwen- traschall sowie einige weitere Apparatean- dung und müsste die Mehrfachuntersuchun- wendungen. Bei Hustenreiz oder Unregelmä- gen aus eigener Tasche zahlen. Insofern folgt ßigkeiten der Atemwege wird gern geröngt. Es die Auslastung der Medizintechnik schon ei-

67 Blankoscheck für Fitness gibt es nicht

ner ökonomischen Logik, freilich einer fehl- soviel Pillen und geben ein Vielfaches für ihre gesteuerten. Die Beträge, um die es hier geht, Gesundheit aus. Am Beginn der neunziger sind beachtlich. Der Sachverständigenrat für Jahre rechneten die Ärzte rund 320 Millionen die Konzertierte Aktion im Gesundheitswe- Fälle ab, 1996 waren es bereits 420 Millionen. sen veranschlagt allein die Kosten für überflüs- sige Labor- und sonstige Doppeluntersuchun- Wachstumsbranche mit Wachs- gen auf 25 Milliarden Mark, rund ein Zehntel tumsstörungen der gesetzlichen Krankenkassenausgaben. Warum der Erwerb einer Flasche Hustensaft, Das deutsche Gesundheitswesen summiert sich von Schnupfenspray oder Stützstrümpfen zur am Ende des Jahrhunderts auf Ausgaben von Solidarität der Versichertengemeinschaft gehö- schätzungsweise 550 Milliarden Mark im Jahr. ren sollen, ist nicht zu erklären. Davon entfallen 248 Milliarden Mark auf die gesetzliche Krankenversicherung (1998). Seit Sind die Deutschen gesund und ihr Gesund- 1980 hat sich dieser Betrag etwa verdreifacht, heitswesen krank oder ist es umgekehrt? Ei- ist aber gemessen in der wirtschaftlichen Lei- nerseits müssen sie gesünder als früher sein, stung (Bruttoinlandsprodukt) relativ konstant denn ihre Lebenserwartung ist deutlich gestie- bei rund sechs Prozent geblieben. Der Löwen- gen. Andererseits fühlen sie sich, ausweislich anteil von 85 Milliarden Mark entfällt auf die langfristiger Umfragen, kränker denn je. Ge- Krankenhäuser, 41 Milliarden Mark fließen den genüber den siebziger Jahren gehen sie dop- Ärzten zu, 33 Milliarden gehen für Arzneien pelt so häufig zum Arzt, schlucken dreimal drauf, 21 Milliarden für Zahnärzte und Zahn- ersatz, 18 Milliarden für Heilmittel. In den Rest teilen sich die Ausgaben für Verwaltung, Kran- Der Gesundheitskuchen kengeld, Schwangerschaft, Kuren und sonstige Leistungen. In dieses Zwangskollektiv sind Ausgaben für Gesundheit 1996 nach Leistungsträgern, in neun von zehn Deutschen eingespannt. 51 Mil- Prozent der Gesamtausgaben in Höhe von 525,6 Mrd. DM lionen Versicherte in der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) zahlen – zusammen Gesetzliche Kranken- mit ihren Arbeitgebern – jährlich gut 240 Mil- versicherung (46,5%) liarden ein. 7,2 Millionen Bürger sind nicht ge- Arbeitgeber (14,1%) setzlich, sondern privat versichert. In Deutsch- land haben sich 113.000 Ärzte sowie 52.000 Öffentliche Haushalte Zahnärzte niedergelassen. Insgesamt sind (12,1%) knapp 290.000 Ärzte berufstätig, rund 50.000 mehr als 1990. Die Kassen, deren Verwal- Renten- und Unfall- tungkosten in den neunziger Jahren um etwa versicherung (10,1%) die Hälfte und damit stärker als die für ärztli- che Behandlung stiegen, zahlen jährlich rund Private Haushalte 85 Milliarden Mark an rund 2200 Kliniken. (8,0%)

Private Krankenver- Das Gesundheitswesen ist eine Wachstums- sicherung (5,0%) branche. Es beschäftigt gut vier Millionen Gesetzliche Pflege- Menschen, mehr als die Branchen Automo- versicherung (4,2%) bil, Chemie, Elektrotechnik, Metall und Er- Quelle: Statistisches Bundesamt nährung zusammen. Unter den Lehrberufen

68 Gillies • marktwirtschaft.de

dominiert bei jungen Frauen mit großem Ab- sen ist der Wettbewerb, das Lebenselixier der stand – vor der Bürokauffrau – die Arzt- und Marktwirtschaft, nicht erwünscht. Und wo er Zahnarzthelferin. Allein die Praxen deutscher gestattet wäre, wird er verhindert. Wer seine Zahnärzte bieten, worauf deren Berufsverbän- Ausgaben kostenbewußt steuert und mög- de stolz hinweisen, mehr Arbeitsplätze an als lichst hohe Qualitä- die Konzerne BMW, Viag und Audi zusam- ten zu möglichst Unser Gesundheitssystem ist men. Weil die Behandlung eines Patienten nur niedrigen Preisen undurchsichtig und verführt seine begrenzt rationalisiert werden kann, ist das anstrebt, wird nicht Teilnehmer zu Tricks und Durch- Wachstum des Gesundheitswesen besonders – wie auf funktio- stechereien. Wettbewerb wird hier beschäftigungsfreundlich. nierenden Märkten von den wenigsten gewünscht. – belohnt, sondern Warum klettern dort die Kosten schneller als bestraft. Der wichtigste Steuerungsmechanis- in anderen Bereichen und warum bewirken mus und Knappheitsindikator – der Preis – ist höhere Ausgaben keine entsprechend höhere im Gesundheitswesen ausgeschaltet. Eine Be- Zufriedenheit? Dafür gibt es mehrere Grün- sonderheit kommt hinzu: In der Medizin de, die sich jedoch auf einen wesentlichen re- schafft sich das Angebot seine eigene Nachfra- duzieren lassen: die Abwesenheit der Markt- ge. Wenn der behandelnde Arzt eine Therapie kräfte. In der Gesetzlichen Krankenversiche- durchführt, glaubt der Patient an deren Not- rung wird der Krankenschein als eine Art wendigkeit, auch wenn sie vielleicht nur der Blankoscheck mißbraucht: Wer ihn in die ökonomischen Praxenlogik des Arztes folgt. Hände bekommt, hat kein Interesse daran, die Summe möglichst niedrig zu halten, sondern Der Kreislauf der Versichertengelder kann also sie im Gegenteil zu steigern. Denn alle Betei- gar keinen wirtschaftlichen Prinzipien folgen, ligten wissen, dass nicht sie die Gesamtsum- denn er ist auf Verteilung nach außer- me begleichen, sondern „die anderen“, eben ökonomischen Maßstäben, nicht auf Rationa- das Kollektiv – Alice im Plünderland. lität getrimmt. Alles ist scheinbar kostenlos: der Arztbesuch, der Krankenhausaufenthalt, Die Versorgung mit Gesundheit geschieht die Medizin, die Kur. Unter dem schwammi- nicht unter Marktbedingungen, weil weder gen, aber beliebten Begriff der Solidarität ver- die Nachfrager noch die Anbieter über Ko- heißt die Politik den Menschen die beste und stentransparenz verfügen. Auf die jahrelange modernste Versorgung und fügt hinzu: Die Forderung, den Patienten endlich einen regel- Gesundheit sei ein so derart kostbares Gut, das mäßigen Kontoauszug über seine Behand- man sie keinesfalls den Kräften des freien lungskosten zuzuschicken, entgegnete die zu- Marktes überlassen dürfe. Niemand dieser ständige Gesundheitsministerin in einem Ge- Politiker käme auf den Gedanken, die Versor- spräch, dies sei möglicherweise kontraproduk- gung mit Essen und Trinken zu verstaatlichen, tiv. Denn dann erfahre der Patient, wie wenig weil man lebensnotwendige Grundbedürfnis- seine letzte Behandlung gekostet habe. Das se nicht dem Markt überlassen dürfe. ermuntere ihn vielleicht dazu, noch mehr medizinische Leistungen nachzufragen, um Verordnete Selbstausbeutung seinen hohen und ständig steigenden Beitrag wieder hereinzuholen. Die Verheißung, mit dem Beitrag sei eine Ga- rantie auf Gesundheit und Fitness zum Null- Bedarf dieses System des unmündigen und tarif verbunden, verführt zu steigender Nut- uninformierten Patienten? Im Gesundheitswe- zung des medizinischen Angebots. „Ich will

69 Blankoscheck für Fitness gibt es nicht

schließlich meinen hohen Beitrag wieder her- gung abzuwägen – nur bei seinem kostbarsten einholen,“ rechtfertigen Versicherte die Inan- Gut, seiner Gesundheit, soll nicht möglich spruchnahme. Aber kollektive Sicherungs- sein, was bei seinem angeblich liebsten Kind, systeme brechen zusammen, wenn jedermann dem Auto, gang und gäbe ist? Gibt es einen nur vom Interesse geleitet wird, möglichst viel „Zwei-Klassen-Automobilismus“, weil sich ei- aus dem riesigen Topf herauszuholen. Selbst- ner hoch oder niedrig mit entsprechender beteiligung und Eigenvorsorge sind die einzi- Selbstbeteiligung versichert? gen Dämme gegen die Selbstausbeutung eines Systems. Das jedoch sei unsolidarisch, weil es Angebot schafft sich Nachfrage den „kleinen Mann“ benachteiligt und zu ei- ner „Zwei-Klassen-Medizin“ führe, behaupten An der kollektiven Ausbeutung sind nicht nur viele Sozialpolitiker. Aber: Wenn der Deut- die Versicherten, sondern auch alle anderen so sche sein Auto versichert, pflegt er sehr ge- genannten Leistungsanbieter beteiligt: die be- schickt zwischen Prämie und Selbstbeteili- amtenähnlich strukturierten Krankenkassen, die ihren Kostendruck auf die Versichtern ab- wälzen, die Krankenhäuser, die ihre Patienten stets einige Tage länger als medizinisch not- Ärzte produzieren Patienten wendig in ihren Betten halten, die Apotheken, die Pharmaindustrie, die Ärzte und die Je mehr Ärzte, desto gesünder die Menschen – sollte man vermu- Gerätehersteller. ten. Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Schon vor dreitausend Jah- ren haben die Chinesen erkannt, daß mit der Zahl der Ärzte die Diese „Leistungserbringer“ kämpfen um einen Zahl der Kranken nicht sinkt, sondern wächst. In den letzten zwei Finanzkuchen, der nicht mehr größer werden Jahrzehnten hat sich die Zahl der Ärzte etwa verdreifacht. Daraus darf, will man nicht die Arbeitslosigkeit erhö- zu schließen, die medizinische Versorgung habe sich verbessert, hen. Jährlich werden in Deutschland aber die Patienten seien zufriedener und lebten länger, ist jedoch falsch. fünf- bis sechsmal soviel Ärzte wie benötigt In Deutschland sind die Gesundheitsausgaben seit 1980 um gut ausgebildet. Jede neue medizinische Leistung, ein Fünftel geklettert, die Bürger sind jedoch mit ihrem System die vom Gesundheitssystem „kostenlos“ ange- nur durchschnittlich zufrieden. In den Niederlanden oder in Belgi- boten wird, findet sofort Abnehmer. Die en, wo Aufwand und Kostenauftrieb deutlich geringer waren, äu- Therapieschwelle sinkt, weil Unpässlichkeiten ßern sich die Bewohner weit zufriedener über ihr Gesundheits- des Alltags oder des Alters nicht mehr als system. Am auffälligsten ist die Beurteilung in Schweden und Dä- normale Begleiterscheinung des Lebens gewer- nemark. Dort sind die Gesundheitskosten seit 1980 um Werte tet werden, sondern zu aufwendigen Behand- zwischen acht und 14 Prozent gesunken, gleichzeitig äußerte sich lungen führen. Aus rund achtzig Heilberufen die Bevölkerung äußerst zufrieden. – Krankengymnasten, Diätassistenten, Logo- Ein aufwendiges Gesundheitssystem garantiert auch kein länge- päden, Masseuren etc. – kommen neue Ange- res Leben. Deutschland liegt mit einer Ärztedichte von 34 (je bote, die zusätzliche Nachfrage auslösen. Hin- 100.000 Einwohner) international sehr weit vorn, seine Bürger zu drängen neue Anbieter wie Naturheil- haben aber keine beeindruckend lange Lebenserwartung. Sie liegt kundler und Heilpraktiker in das System. Seit bei 80,3 Jahren für Frauen und bei 74,1 Jahren für Männer. Die Anfang 1999 dürfen auch die Psychologen und Niederländer leben dagegen etwas länger, obgleich sie sich mit Psychotherapeuten über die Krankenkassen knapp 26 Ärzten auf 100.000 Einwohner begnügen. Japan kommt abrechnen. mit halb so viel Ärzten wie Deutschland aus, was die Lebenser- wartung auf rekordhohe Werte steigert – 83,8 Jahre für Frauen Weitere Ausgabensteigerungen sind auch des- und 77,2 Jahre für Männer. halb wahrscheinlich, weil neue Pharma-Wirk-

70 Gillies • marktwirtschaft.de

stoffe in die Praxen und Apotheken drängen, die Herbeiführung wie auch die Beiseitigung von teuren neuen Gerätschaften ganz abgese- von Schwangerschaften, obgleich diese alles hen. Der medizinische Maschinenpark in andere als eine Krankheit darstellen und eher deutschen Praxen bewegt sich auf High-Tech- auf eine blühende Gesundheit schließen las- Niveau: Kernspintomo- und Sonografen, sen. Herzkatheter-, Röntgen- und Testapparate so- wie vieles andere. Andererseits wandert schät- Das System ist voller bizarrer Folgen. Ein zungsweise jede fünfte Arzneipackung Volk, das jährlich rund 80 Milliarden Mark ungeöffnet in den Müll – sie kostet ja (fast) für Auslandsreisen ausgibt, protestiert bereits, nichts. wenn es für Kur oder Pillen etwas Die größte Goldgrube der Welt, so Kurlaub und Haxenbruch zuzahlen soll. Nor- spotten Gesundheitsökonomen, sei male Unpässlichkei- die deutsche Mundhöhle. Karies Schon die Vision, der Mensch könne seine ten in den verschie- aber ist kein Schicksalsschlag, Gesundheit einem Kollektiv überantworten denen Lebenspha- sondern die Folge mangelhafter Zahnpflege. Der folgerichtige und von ihm gesichert bekommen, ist eine il- sen werden nicht Versuch, die Jugend durch entspre- lusionäre Fehlsteuerung. Gesundheit beginnt mehr hingenom- chende Leistungen dazu zu drängen, bei jedem einzelnen. Die erfolgreichsten Werk- men, sondern als scheiterte. Gleichzeitig erregen sich zeuge, sich vom Leben zum Tode zu beför- Krankheiten thera- Medien bis zur Hysterie über dern, sind Messer und Gabel. Üppiges, fettes piert. Das beginnt Amalgam, die Gentechnologie und und ballaststoffarmes Essen, Bewegungsar- bei den hormonel- den Cholesterinspiegel. mut, Rauchen, Alkohol und andere Un- len Problemen der mäßigkeiten sind die bedeutendsten Krank- Pubertät und endet bei leichtem Gelenkver- heitsursachen. Denn die mit Abstand wich- schleiß im Alter. Ein Sozialhilfeempfänger be- tigste Todesursache sind Herz- und Kreislauf- zahlt nicht nur keinen Beitrag, sondern be- krankheiten. Anders gewendet: Die wichtig- kommt alle Leistungen hundertprozentig er- ste Form der Gesundheitserhaltung ist ohne stattet, oft sogar teurere Medikamente als der jeden Krankenschein erhältlich. Die Bestre- brave Beitragszahler. In der Umsonst-Gesell- bungen, nicht nur die Gesundheit, sondern schaft sind merkwürdige Dinge eingerissen. auch das Wohlbefinden kollektiv zu beför- dern, lenkten den Blick auf Wellness und Fit- Die wieder eingeführte Lohnfortzahlung im ness. Eine entlarvende Vokabel für die Fehl- Krankheitsfall ist die stete Versuchung zur steuerung des Systems ist der „Kurlaub“ – Ausbeutung der Versichertengemeinschaft. Urlaub auf Krankenschein unter dem Deck- Alles urmenschliche Reaktionen: Bei Risiken, mantel einer Kur. Der von Politikern neuer- gegen die man „kostenlos“ versichert ist, steigt dings propagierte Vorrang der Vorsorge dürfte die Versuchung („Moral Hazard“), den Versi- neue Kostenschübe auslösen. cherungsfall nicht abzuwenden, sondern her- beizuführen. Der blaue Montag, mittlerweile Das Kollektiv finanziert auch manchen Über- ein blauer Freitag, genießt nahezu Verfas- mut. Selbstverschuldete Krankheiten – der sungsrang. Allerdings hat sich hier einiges ge- Haxenbruch beim Skilaufen, die Knochen- wandelt: Die Krankenquoten sind auf den fraktur während einer Sauftour, der Unfall niedrigsten Stand seit Jahrzehnten gefallen, bei Risikosportarten, Lungenkrebs als Folge steigen aber offenbar wieder an. Im öffentli- des Rauchens und vieles andere – werden chen Dienst, der kein Arbeitsplatzrisiko vom Kollektiv finanziert. Es bezahlt sowohl kennt, sind sie am höchsten.

71 Blankoscheck für Fitness gibt es nicht

Die Ausgaben für Gesundheit an die Lohn- entwicklung zu koppeln, dürfte auch deswe- gen nicht aufgehen, weil die Löhne aus gesamt- wirtschaftlichen Gründen nur sehr gering stei- gen dürfen, während die Krankheits- und Medizinkosten sich daran nicht halten. Ange- sichts der Überalterung der Bevölkerung, neu- er Verfahren und Methoden zur Behandlung wäre es eine Illusion zu glauben, die Kosten des Gesundheitswesens ließen sich – bei un- verändert hohen Ansprüchen der Versicher- ten – an die Lohnsumme koppeln.

In der Globalbudget-Falle Hinzu kommt, dass in den Gremien der Krankenkassenbürokratie, die auf einen Wenn sich die Kosten nicht begrenzen lassen, Machtzuwachs rechnen darf, keine Markt- liegt es auf der Hand, ihre Stabilität durch Be- wirtschaftler das Sagen haben, sondern über- fehl zu erzwingen. Seit Jahren schon werden wiegend die Gewerkschaften. Wenn es um die von Sozialpolitikern Modelle erwogen, um die Auflösung eines unrentablen Krankenhauses Ausgaben gesetzlich zu stoppen. Derartige geht, dürften sie im Zweifelsfall die Interessen Deckelungen oder Budgets sind Rationie- der Wirtschaftlichkeit zurückstellen und sich rungsmaßnahmen aus dem Lehrbuch der zugunsten ihres organisierten Personals ent- Planwirtschaft. Die Befürworter meinen, da- scheiden, also für die Erhaltung überständiger mit werde ein doppeltes Ziel erreicht: Die Bei- Arbeitsplätze. träge steigen nicht weiter, und die Versorgung der Patienten sei wie bisher gesichert, weil sich Am Quartalsende Pillenknappheit das globale Budget an der gesamtwirtschaftli- chen Lohnsumme orientiert. Globalbudgets für die ärztliche Behandlung und für die Verschreibung von Arzneimitteln Die Haupteinwände gegen die Budgetierung: tauchen das Arzt-Patient-Verhältnis in ein Durch die Reglementierung werden die neues Licht. Da der Mediziner befürchten bisherigen Unzulänglichkeiten, Fehlsteuerun- muss, für die Überschreitung seines Budgets gen und Unwirtschaftlichkeiten des Systems oder das seiner Kollegen persönlich finanziell nicht beseitigt, sondern fortgeschrieben. haftbar gemacht zu werden, wird er bei teuren Wenn Ärzte, aus Furcht vor einer Überschrei- Behandlungsmethoden zögern. Wenn diese tung ihres Budget, bestimmte Behandlungen Einsparungen nur Menschen träfe, die simu- unterlassen oder sie auf das nächste Quartal lieren oder Arztbesuche als Freizeisport be- verschieben, siegt die Buchhaltung über die trachten, wäre dagegen nichts einzuwenden. Medizin. Die Kontrolle der Budgets löst ein Aber die Leidtragenden könnten auch Patien- Wirrwarr von Interventionen aus, verunsi- ten sein, die dringend teurer Medikamente chert Ärzte und Patienten und wirkt als Treib- oder Operationen bedürfen. Beides davon ab- satz für die Verwaltungskosten. Die Kranken- hängig zu machen, ob man sich am Anfang kassen, deren Ausgaben zu etwa 80 Prozent oder am Ende eines Quartals befindet und wie gesetzlich oder durch Verträge fixiert sind, hät- das Budget des Arztes gerade ausgelastet ist, ist ten alle Mühe, die Budgets einzuhalten. ein medizinischer Aberwitz. Die Planwirt-

72 Gillies • marktwirtschaft.de

schaft kollidiert mit dem Eid des Hippokra- Die Grundproblematik der sozialen Sicherung, tes. Und sie bewirkt genau das, was sie verhin- der demografische Wandel, schlägt auch im dern soll: eine Zwei-Klassen-Medizin. Gesundheitswesen durch. Die Menschen wer- den immer älter und damit anfälliger. Rentner Eine Budgetierung perpetuiert die Planwirt- zahlen, gemessen an den Leistungen, die sie in schaft im Gesundheitswesen, weil sie an des- Anspruch nehmen, zu geringe Beiträge. Da- sen Vergütungssystem nichts ändert. Jeder neben legt der medizinische Fortschritt ein ärztliche Handgriff kann einzeln abgerechnet Tempo vor, das ebenfalls die Kosten treibt. werden; er hat einen bestimten Punktwert. Andererseits begehren die Patienten, was ver- Die Punkte werden mit einem im Nachhin- ständlich ist, die beste und modernste Versor- ein errechneten Pfennigbetrag multipliziert. gung. Leider ist sie meist auch die teuerste. Das Daraus ergibt sich das Honorar des Kassen- Versprechen, die Kassen könnten dies stets ga- arztes. Erbringen alle Ärzte nur geringe Lei- rantieren, ist nicht einlösbar – jedenfalls nicht stungen, ist der Punktwert hoch. Steigern sie zu unveränderten Beiträgen. jedoch ihre Leistungen, veranlassen also mehr Untersuchungen, Behandlungen und Ver- Infarkttherapie schreibungen, sinkt der Punktwert, was die Experten als „Hamsterrad-Effekt“ bezeichen. Die optimal gewünschte medizinische Rund- Sie arbeiten also mehr für das gleiche, mitun- um-Versorgung ist zu konstanten Kosten nicht ter sogar für weniger Geld. zu haben. Dem Gesundheitswesen steht des- halb ein ähnliches Schicksal wie dem Renten- Dieses System führt dazu, dass Patienten mit system bevor: Mit den kollektiven Zwangs- teuren Behandlungen und Verschreibungen beiträgen der Arbeitnehmer wird nicht mehr möglichst gemieden und nicht angenommen der gewohnte gesamte Lebenskomfort zu fi- werden. Gleiches gilt übrigens für die Kran- nanzieren sein, sondern nur noch eine Grund- kenkassen, die im Wettbewerb versuchen, sicherung. Den Rest müssen die Versicherten schlechte Risiken abzuwerfen und gute einzu- aus eigener Tasche finanzieren. kaufen. Eine kinderreiche Familie mit Diabe- tes und Behinderung ist bei keiner Kasse be- In beiden Systemen läuft die Entwicklung also liebt und bekommt das leider auch zu spüren. auf mehr Eigenvorsorge und Selbstbeteiligung Um einen gutverdienenden jungen Single da- hinaus. Gegen die großen Gesundheitsrisiken gegen reißen sich die Kassen. Bei den Ärzten wären dann alle pflichtversichert. Alles was setzt eine ähnlich verquere Überlegung ein: mit Wohlbefinden, Sonderwünschen, Fitness Sie werden den Patienten so lange behandeln und den kleinen Störungen zwischen Unpäss- wie sie glauben, dass es dem Durchschnitts- lichkeit und Zipperlein zu tun hat, wäre Pri- wert eines Krankenscheins entspricht. Über- vatsache. Eine Welle neuer Defizite würde die steigt die Behandlung diese Summe, wird er Kassen allein dann überrollen, wenn man zwei für sie – wirtschaftlich – uninteressant. Er mag Mittel auf Krankenschein zuließe: das Potenz- ins nächste Quartal verschoben, an eine Kli- mittel Viagra und die Antifettpille Xenikal. nik oder einen Facharzt überwiesen werden. Beide „Life-Style“-Medikamente zielen ins Es fällt auf, dass viele Ärzte gehäuft gegen Zentrum moderner Lebensbedürfnisse: po- Quartalsende einen Fortbildungskurs besu- tent zu sein und schlank. Sie zu erfüllen kann chen, denn bei geschlossener Praxis entstehen aber nicht Aufgabe einer Zwangsversicherung keine Behandlungskosten, für die sie haftbar sein. Es ist schon schlimm genug, dass die zu machen wären. Gesundheitsbewussten die Risiken von Alko-

73 Blankoscheck für Fitness gibt es nicht

holikern, Rauchern, Übergewichtigen und Rezeptgebühr dagegen zwingt den Blick auf Extremsportlern mittragen müssen. den Preis.

Dem gesetzlich Versicherten ist das Gefühl für In deutschen Krankenhäusern verweilen die die Knappheit der Ressourcen abhanden ge- Patienten ungewöhnlich lange, ohne deswegen kommen. Selbstbeteiligung, Beitragsrückge- gesünder zu sein. Die Zahl der Krankenhaus- währ bei Nichtinanspruchnahme und andere betten ist deutlich höher als in vergleichbaren Methoden stärken dieses Gefühl wieder. Der Industrieländern. Dauert es bei den Deut- Spruch „Das zahlt ja alles die Kasse“ verlöre schen grundsätzlich länger, bis sie gesund wer- dann seinen kostentreibenden Charakter. Und den oder verführt mangelnde Kostenverant- die Menschen würden mit ihrer Gesundheit wortung dazu, die Patienten länger im teuren sorgfältiger umgehen. Bett zu halten? Nach einer OECD-Studie be- steht in deutschen Krankenhäusern ein Über- Die Reform des Gesundheitswesens muß mit hang von 85.000 unwirtschaftlichen Betten. einem Grundgedanken beginnen: Kollektiv kann man nur gegen das medizinisch Notwen- Dass der Preis einer medizinischen Leistung dige versichert sein. nichts über deren Güte aussagt, belegt ein Bei- Grundsicherung und private Vorsorge Für das Wünschba- spiel des Universitätskrankenhauses Eppen- – wie bei der Rente weist diese re und das allgemei- dorf. Verglichen wurden Herzpatienten über Leitidee auch für die Reform des ne Wohlbefinden zehn Jahre, wobei eine Gruppe konservativ Gesundheitswesens die Richtung. sind die Bürger (kleinere Eingriffe, medikamentös) behandelt selbst verantwort- wurde, während man der anderen ein neues lich. Sollten sich die Kassen in diesen Wettlauf Herz einpflanzte. Abgesehen von ausgespro- wagen, ist ihre sichere Pleite programmiert. chenen Notfällen war die Lebenserwartung Deswegen war es eine bizarre Fehlentwick- beider Gruppen über zehn Jahre hinweg eine lung, den „Kurlaub“ auf Krankenschein zu vergleichbare. Einen Unterschied gab es frei- propagieren, Töpferkurse zur Selbstfindung lich: Der Transplantationspatient kostete über und Bauchtanzaerobic anzubieten. zehn Jahre rund 550.000 Mark, der konserva- tiv behandelt Herzkranke dagegen nur Medikamente auf dem Müll 166.000 Mark. Nach Schätzungen von Exper- ten liegt allein in der Diabetikerversorgung ein Die Menschen geben Unsummen für Müsli, Sparpotenzial von 17 Milliarden Mark. Jan fettarme Kost, Diätlebensmittel und Natur- Boetius, Vorstandsvorsitzender der Deutschen heilverfahren aus – als ihnen jedoch der Zu- Krankenversicherung nennt ein Beispiel: Ein schlag fürs Brillengestell gestrichen wurde, bra- schlecht behandelter Diabetiker mit einem chen vorrevolutionäre Zustände aus. Und hohen Erblindungs- und Amputationsiriko wenn man schon eine Rezeptgebühr bezahlen verursacht jährliche Behandlungskosten von muß, soll der Arzt doch gefälligst das teuerste 12.125 Mark. Wird er dagegen optimal einge- aller möglichen Medikamente verschreiben. stellt, sänken die Kosten auf 3.500 Mark jähr- Diese Erstattungspraxis führt dazu, daß der lich. Es sei also durchaus möglich, Kosten- Patient nicht das geringste Interesse an preis- disziplin und steigende Lebensqulität mitein- werten Pillen hat. Weil das so ist, haben sich ander zu verbinden. die Medikamentenausgaben pro Mitglied seit 1980 fast verdoppelt. Arzneinen in Milliarden- Gesucht wird also ein System, in dem Arzt werten wandern jährlich auf den Müll. Die und Patient selber ein Interesse an kostengün-

74 Gillies • marktwirtschaft.de

stigen Leistungen spüren und entwickeln. Die- seln und Anreize zum wirtschaftlichen Um- ser Prozeß beginnt mit der Information, wie- gang mit den knappen Geldern vermitteln. viel seine Behandlung überhaupt kostet. Eine Dann würde es auch nicht geschehen, dass schlimme Fernwirkung der organisierten Ver- jährlich Medikamente in Milliardenwerten auf schwendung ist die Arbeitslosigkeit. Denn mit dem Müll landen und die Patienten nicht jedem Kostenschub werden Arbeitsplätze mehr bedenkenlos aus dem Solidartopf ent- kostbarer und seltener. Insofern ist eine markt- nehmen, „weil ja die Kasse zahlt“. Das Gespür wirtschaftliche Gesundheitspolitik auch die an der eigenen Geldbörse entfaltete schon im- beste Beschäftigungspolitik. In der privaten mer eine höchst erzieherische Wirkung. Wer Krankenversicherung findet diese Steuerung Krankheiten und ihre Vermeidung an der ei- bereits weitgehend statt. genen Brieftasche bemerkt, verhält sich nach aller Lebenserfahrung schadenvermeidend ge- Eine moderne Gesundheitspolitik, die auch genüber seiner Versichertengemeinschaft. Die- den medizinischen Fortschritt nicht durch se Wirkung macht jene Ressourcen frei, die Rationierung bremst, muss also bei den Versi- für die Behandlung großer, schwerer gesund- cherten das Vollkasko-Anspruchsdenken dros- heitlicher und sozialer Risiken nötig sind.

Skizze einer Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung

è Kein Bürger darf darauf setzen, dass ihn der Staat im ausgegrenzt werden. Für chronisch Kranke, die hohe Kosten Notfall versorgt. Deshalb muss es eine Grundversicherung verursachen, aber optimal versorgt werden müssen, könnte geben. Welche Grundleistungen diese Pflichtversicherung es eine rückversichernde Absprache zwischen den Kassen übernimmt, legen Ärzte und Kassesn gemeinsam mit der geben. Regierung fest. è Wettbewerb zwischen und innerhalb aller Leistungsan- è Da der Medizinbetrieb der einzige ist, der seine Nachfra- bieter ist nötig. Er schließt den Konkurs von Leistungsan- ge selbst steuert, sollte nicht mehr nach Einzelleistung, son- bietern ein, die nicht mehr wettbewerbsfähg sind. Warum dern nach Fallpauschalen abgerechnet werden. Der Arzt er- sollten Apotheken, die besonders günstig einkaufen, diesen hält pro Patient oder pro Fall eine feste Summe. Je sparsa- Preisvorteil nicht weitergeben dürfen, um Kunden damit mer er behandelt, desto größer sein Honorar. anzulocken? Warum werden die Preise für ärztliche Leistun- è In die Krankenversicherung werden Selbstbeteiligungen gen nicht frei verhandelt, statt im Kartell zwischen Kassen- sowie ein Bonus/Malus-System eingearbeitet. Die Autover- ärzten und Kassen festgezurrt zu werden? sicherung unterscheidet zwischen der nackten Haftpflicht è Zum mündigen Patienten gehören nicht nur Wahltarife, und daneben den Teil- und Vollkaskotarifen mit unterschied- sondern auch die Möglichkeit der Kostenerstattung. Die Bei- lichem Selbstbehalt. Wer in jedem Jahr eine bestimmte Sum- hilfe für die Beamten, in der durchweg großzügiger verord- me von Arztrechnungen aus der eigenen Tasche bezahlt, net wird, wartet auf eine Überprüfung. wird dafür mit einem niedrigen Grundtarif belohnt. Wer kei- è Die Krankenkosten sollten vom Arbeitsvertrag abgekop- ne Selbstbeteiligung wünscht oder riskieren möchte, also die pelt werden. Rundumversorgung will, zahlt die höchste Prämie. Daneben è Umverteilende Sozialleistungen wie Erziehungsurlaub kann man Versicherte, die keine oder nur geringe Leistun- oder Mutterschaftsgeld gehören über Steuern finanziert. An- gen in Anspruch nehmen, am Jahresende mit einem Bo- dere Leistungen wie Abtreibungen oder Sterilisation sind nus, einer Rückvergütung, belohnen. schwerlich Aufgabe der Solidargemeinschaft. è Im System muss es andererseits Solidarklauseln geben, è Zu prüfen ist ferner, ob auch künftig Ehepartner beitrags- die verhindern, dass Patienten mit besonders teuren Leiden frei mitversichert werden sollten.

75 Blankoscheck für Fitness gibt es nicht

Selbstbeteiligung und Eigenverantwortung fahrung mit der schlagkräftig organisierten sind kein Bruch mit der Solidarität, sondern Lobby des Medizinbetriebs. ihre Vorausetzung. „Alles wird schlechter, nur eines wird besser: Die Reform ist nicht nur ein gesundheits- Die Moral wird schlechter“, spotten Zyniker. politischer Prozess, sondern ein gesellschaftli- Aber diese verschlissene Moral ist nicht die cher. Was zur Sanierung des Gesundheitswe- Schuld des Patienten, sondern die Folge einer sens notwendig ist, erfordert das Umdenken Fehlsteuerung des kollektiven Systems. Hier aller: der Gesunden wie der Kranken und ei- muß wie in den anderen Abteilungen des nes der Politik. Sich mit den mächtigen Lob- Sozialstaates das Subsidiariätsprinzip gelten: by-Gruppen des Medizinbetriebs anzulegen Das Kollektiv soll nur dann einspringen, wenn und gar für mehr Markt einzutreten, war und der Einzelne sich nicht selbst helfen kann. So- ist für die verantwortlichen Politiker stets ein lange das System nicht auf den Wettbewerb Spitzentanz im Haifischbecken. Gesundheits- umgesteuert wird, bleibt jede Gesundheitsre- minister aller Regierungen machten ihre Er- form so unwirksam wie die vorhergegangene.

76 Erstickungstod im Paragrafendschungel

In Deutschland sorgen rund fünf Millionen und Wohlfahrtsproduktion, das man wechsel- Staatsdiener unter Anwendung von rund weise Daseinsvorsorge oder Lebensqualität 110.000 Gesetzen, Verordnungen, Erlassen nennt, öffnen sie ihre Schalter und empfehlen und Normen unermüdlich für das Glück und sich als vermeintlich kostenloser Problemlöser das Wohlbefinden der Bürger. Beides aber will für die Wechselfälle des Lebens. Dass sich hin- sich partout nicht einstellen. Eher im Gegen- ter dem versprochenen Nulltarif für das Ge- teil: Mit wachsender Bürokratie steigt die Ver- meinwesen ein gepfefferter Preis verbirgt, stellt drießlichkeit der von Staat Umsorgten. Die sich erst später heraus. ausufernde Staatstätigkeit kostet nicht nur Geld, sondern Wettbewerbsfähigkeit und Ar- Wer die ausgelobten Leistungen in Anspruch beitsplätze. Sie ersetzt Motivation durch An- nimmt, muss sich zuvor als Betreuungsfall ordnung und entmündigt die Bürger. In der definieren. Das fällt immer leichter, weil jeder- Amtsstube verendet die Freiheit der Bürger. mann ermuntert wird, bevor er selbst zu Wer- Wer dort Leistungen erwartet, wird mit dem ke geht, zu fragen, Hinweis beschieden, die Kassen seien leer. Das ob nicht irgendwo „Wen Sie fleisisch arbeiten, So ist falsch. Denn noch nie in der deutschen Ge- Staatshilfe winkt. In können sie ihre arbeit des morgens schichte hat der Bürger die öffentlichen Kas- der anschwellenden in Curenten Sachen in 3 Stunden sen so emsig gefüllt wie derzeit. Das Problem Loseblattsammlung verrichten; wen Sie Sich aber liegt darin, dass sie noch nie so schnell geleert öffentlicher Subsi- Historien vertzehlen, tzeitungen lesen, So ist der gantze Tag nicht wurden. dien, Fürsorgeleis- lang genug.“ tungen, Förderpro- (Friedrich der Große in einer Antwort Die Bürokratie ist ein notwendiges Organi- grammen und Ab- auf die Beschwerde eines Beamten sationsprinzip aller Gemeinwesen. Ihre Ver- schreibungsvergüns- wegen Arbeitsüberlastung) fechter pflegen mit Verheißungen zu werben. tigungen findet sich Alles werde gerechter, fürsorglicher, sozialer schon etwas. Wer es wagen sollte, auch nur und menschlicher. In der Realität zeigte sich eine Gartenmauer ohne Prämie zu ziehen und das Gegenteil. „Wenn die Arbeiter die Macht ohne zuvor Amtsstempel einzuholen, gilt als übernehmen, dann werden sie den alten büro- Sonderling. kratischen Apparat bis auf die Grundfesten zerschmettern, werden ihn bis auf die Wur- Der Staat sponsert seine Bürger nicht nur für zeln vernichten,“ schrieb Lenin vor der Revo- Verrichtungen, die sie ohnehin vorhaben, son- lution. Danach änderte er seine Meinung: dern umsorgt sie auch sonst. Das Betreuungs- „Unsere lebendige Arbeit versinkt in einem wesen steht in Blüte. Beraten und betreut wer- toten Meer von Papier. Ein fauliger bürokrati- den: Frauen, neuerdings auch Männer, Kin- scher Sumpf saugt uns alle auf“, bekannte er der, Jugendliche, Mieter, Verbraucher, Auslän- nach der Revolution. der, die betriebliche Mitbestimmung, die Si- cherheit, der Feuer- wie der Daten- und Um- Soziale Wohlfahrtsstaaten geben sich schon weltschutz, Junge und Alte, Kranke wie Ge- längst nicht mehr damit zufrieden, nur dort sunde, Raucher, Legastheniker, Alleinerzie- zu helfen, wo der Einzelne überfordert ist. hende, Nichtschwimmer, Radfahrer, Fettlei- Ausgehend von einem Konzept der Glücks- bige, Beamte – kurzum: keine Gruppe, für die

77 Erstickungstod im Paragrafendschungel

es nicht emsige und teure Beauftragte sowie tät gedacht war, kippt in ihr Gegenteil: in flächendeckende Beratungsangebote gäbe. Entsolidarisierung.

Für stabil Heterosexuelle bieten sich Ehe-, Gewiss gibt es Bürger, die ihre Probleme aus Problem-, Partner- und Scheidungsberatungen eigener Kraft nicht lösen können und eines an. Den anderen widmen sich Schwulen- und amtlichen Beistands bedürfen. Aber die Lesbenreferate, das Eröffnungsfanal jeder rot- Rundumbetreuung, mit der sich Sozialstaaten grünen Landesregie- heute schmücken, hat Ausmaße angenom- Die Kosten des Staatsapparats rung. Der Markt men, die das Gegenteil des Erwünschten be- haben eine beeindruckende Höhe für öffentliche Bera- wirken: Weil der Bürger letztlich selbst an sei- erklommen. Allein die Personalauf- tung ist ein schnell ne Überforderung glaubt, bewirkt er sie. So wendungen von Bund, Ländern und wachsender. Dabei entmündigt er sich und begibt sich seiner Frei- Gemeinden, die noch 1950 knapp schafft sich das An- heiten. Eine betreuungswütige Politik denkt sieben Milliarden Mark betrugen, hatten sich bis 1970 knapp verzehn- gebot die Nachfra- nicht an den aufklärerischen Gesellschafts- facht. Sie kletterten 1990 bereits auf ge. Weil es zu viele entwurf aller Freien, sondern verengt sich auf 249 Milliarden Mark und lagen Absolventen allerlei Zielgruppenpädagogik. 1996 bei 390 Milliarden Mark, Fächer – Studien- obgleich die Zahl der Staatsdiener – gang „Diskussions- Mit der Vertreibung des Risikos aus dem Le- vor allem wegen der Privatisierungen – von mehr als sechs auf gut fünf wissenschaften“ – ben überfordert sich jedes Gemeinwesen und Millionen Menschen sank. Würde gibt, ersinnen Gut- – wegen der schwellenden Kosten – auch künf- dieses Wachstum sich fortsetzen, menschen einen tige Generationen. Eine Umfrage ergab, dass betrügen die Personalkosten im Beratungsbedarf. die Deutschen, deren „Angst“ in den interna- Jahre 2040 mehr als eine Billion Wird er laut und tionalen Wortschatz einging, den Begriff Mark, errechnete der Steuerzahler- dringlich genug vor- „Restrisiko“ für gefährlicher als „Risiko“ hal- bund. getragen, finden ten. Sie jetten an fernste Gestade, surfen über sich rasch die nötigen politischen Mehrheiten. die Meere, springen an Gummiseilen von Via- Flugs sind dann die Haushaltsmittel nebst dukten, aber der Zwanzigmarkschein für die Planstellen bewilligt. Und die Politik Kassenbrille weckt in ihnen vorrevolutionäre schmückt sich mit soziokultureller Progres- Gelüste. sivität. RkReAÜG MV Für rund 500.000 Kinder unter 13 Jahren zahlt Vater Staat jährlich die Alimente, weil sich die Beim RkReAÜG MV, dem Entwurf eines biologischen Väter abgesetzt haben. Das sum- Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischeti- miert sich auf rund 1,7 Milliarden Mark. Vie- kettierungsaufgabenübertragungsgesetzes des le geschiedene Väter melden sich arbeitslos, Landes Mecklenburg-Vorpommern, mag le- um sich vor dem Unterhalt zu drücken. Selbst diglich die Bezeichnung komisch wirken. wenn die Kindsmutter den Erzeuger preiszu- Doch Bürokratie nach deutscher Art ist längst geben sich weigert, zahlt der Staat. Vor dreißig zu einer Realsatire geronnen. Ein Blick in die Jahren lebte nur jedes 75. Kind von der Sozial- tägliche Wirklichkeit ist aufschlussreich. Der hilfe, heute fast jedes sechste (was auch auf den Abstand zwischen zwei Kleiderhaken in Kin- Kinderreichtum der Zugewanderten zurück- dergärten sei amtsseitig nach der „durch- zuführen ist). Die Unterhaltskasse ist einer schnittlichen Sprungweite von Kopfläusen“ zu von vielen Schaltern geworden, die einladend bemessen, spottete der CDU-Landtagsabge- und regresslos geöffnet sind. Was als Solidari- ordnete Robert Koch auf einem Kommunal-

78 Gillies • marktwirtschaft.de

kongress. Die „Verordnung über die Berufs- ausbildung zum Gärtner/Gärtnerin“ umfasst einschließlich des Rahmenlehrplans 74 Seiten. 1972 war das gärtnerische Berufsbild noch mit 18 Seiten, inklusive Meisterprüfung, ausge- kommen.

Die Berufsgenossenschaft, eine ergiebige Regu- lierungsquelle und Quälgeist vieler Betriebe, definierte: „Ein Bildschirm-Arbeitsplatz im Sinne der Vorschriften ist ein Arbeitsplatz, der mit einem Bildschirmgerät ausgestattet ist. Das bedeutet, jeder Arbeitsplatz, auf dem ein Bild- schirm steht, ist ein Bildschirm-Arbeitsplatz.“ Diese überraschende Feststellung duldet keinen Widerspruch. Gleiches gilt für die ausschwei- fende Tätigkeit in ökologischen Angelegenhei- ten. Hier bildete sich eine neue Form von Bü- „Frauen und Müll“ 40.526 Mark wert. In rokratie heraus. Entschlossene Kleingruppen Niederlaubach, so geißelte der Steuerzahler- und finanzstarke Großorganisationen zwingen verband, sei für 800.000 Mark eine Leichen- der Gesellschaft nach Art einer Inquisition halle gebaut worden, obgleich die Gemeinde Kampagnen auf, die Amtstätigkeiten herausfor- jährlich nur fünf Bestattungen zu beklagen dern, wobei die Anklage über den Beweis tri- hat. Der bekannte Schürmannbau in Bonn umphiert. Dass ein Piepmatz mit Namen war einst für 468 Millionen Mark veranschlagt Wachtelkönig, den noch niemand im Baugebiet worden, später wurden seine Kosten auf rund erblickt hat, dort Projekte in Millionenhöhe zu 1,3 Milliarden Mark geschätzt. Das Land Ber- verhindern vermag, ist bemerkenswert. Auf die lin fördert die Rock- und Popmusik mit im- Umweltabteilungen chemischer Unternehmen merhin 600.000 Mark im Jahr. gehen jährlich zwischen 20.000 und 30.000 Blatt einschlägiger Vorschriften nieder. Zu einer vom Lande Hessen angeschafften Zaunwickelmaschine (Kosten 24.000 Mark), In Wuppertal freute sich ein Steuerzahler über die ihren Dienst verweigerte, wurde amt- eine Erstattung von seinem Finanzamt. Sie licherseits festgestellt, „dass sie für Abbau von betrug sechs Pfennige. Der Brief, der diese Knotengeflecht, nicht aber für Sechseck- freudige Mitteilung enthielt, war mit einer geflecht geeignet ist. Aus diesem Grunde fehl- Mark Porto frankiert. te selbst zum Zeitpunkt der Prüfung noch jeg- liche Einsatzkonzeption. Das Gerät war noch Mit dem Geld des Steuerzahlers wird allerlei originalverpackt.“ Für 450.000 Mark baute gefördert, nicht selten auch Unsinniges, häu- man in Obertopfstedt einen Hohlweg aus, um fig Kabarettreifes. In Berlin, so fanden Boule- den Ort an die Bundestraße 54 anzubinden. vardreporter heraus, wurde die Erforschung Die Straße fiel zu schmal aus, die Bitumen- des kleinbäuerlichen Einsatzes von Eseln in decke zu dünn. Sie wurde gesperrt und durch Marokko mit 197.000 Mark gefördert. Die einen Erdwall blockiert. Die Aufzählung ku- Frauenpolitik in Kenia zu durchleuchten ko- rioser, ärgerlicher und törichter Verschwen- stete 356.238 Mark. Frankfurt war die Studie dung füllt Bibliotheken.

79 Erstickungstod im Paragrafendschungel

Die Kosten öffentlicher Bauten werden bei Qualität, Datenschutz, Störfälle, Emissions- Bewilligung niedrig veranschlagt, in der Pra- schutz, Umwelt, Frauen etc. Was hat der Be- xis sind sie meist um ein Vielfaches teurer. Die trieb mit der Miete seines Mitarbeiters oder Steigerungen waren zwar absehbar, wurden den Pflegekosten lange nach der Pensionie- aber von den Initiatoren unterschlagen, her- rung zu schaffen? Nichts. Dennoch wurden nach werden sie mit Unvermeidlichkeiten ent- ihm diese Pflichten vom Staat aufgebrummt. schuldigt. So sollte die Turnhalle mit ellipti- scher Glaskuppel in Halstenbeck fünf Millio- Als die neue Ökosteuer verabschiedet wurde, nen kosten, am Ende wurden 15,6 Millionen mussten zuerst einige hundert Planstellen für Mark daraus. Dummerweise stürzte die Glas- Zoll- und Finanzbeamte geschaffen werden – kuppel ein, was die Leibesübungen behindert. das Beurteilungs- und Genehmigungsverfah- Da wird gerechnet und getürkt, genehmigt ren ist höchst kompliziert. Nun entschuldi- und widerrufen – so der Bau einer Windkraft- gen sich die Politiker damit, man werde doch anlage just an der Stelle, wo sie in die Einflug- wohl noch eine Lohnbescheinigung oder eine schneise des nahen Militärflughafens ragt. Als Meldung ausfüllen können. Das ist eine unzu- Belege großer Politik dienen die Beschaffungs- lässige Verharmlosung, denn die Summe der maßnahmen der Bundeswehr sowie die Regie- Hand- und Spanndienste geht in die Milliar- rungsbauten in Berlin, besonders das neue den. Bundeskanzleramt. Überall im Lande gibt es Brücken, die nach Nirgendwo führen, aufwen- Der Staat verdonnert die Betriebe im Jahr zu dige, aber ungenutzte Projekte und Bauten, in Dienstleistungen im Wert von rund 60 Milli- denen sich Kommunalpolitiker ein Denkmal arden Mark, mehr als anderthalb Prozent des setzen. Seit einigen Jahren ist der Rückbau en gesamten Sozialprodukts. Durchschnittlicher vogue: Um den einst geförderten Verkehrsfluss Zeitaufwand: 92 Arbeitstage, durchschnittli- wieder zu drosseln, werden Betonschikanen che Kosten: 63.000 Mark. Schlimmer noch: und Blumentöpfe ins Straßennetz eingewebt. Diese Belastungen steigen jährlich um weitere vier Prozent. Getragen werden sie vor allem Frondienste des Mittelstandes von kleinen und mittleren Unternehmen – eine Wettbewerbsverzerrung zu Lasten des Die unbezahlten Frondienste der Betriebe für Staat und Gesellschaft sind ein moralischer, mehr noch ein ordnungspolitischer Skandal. Teure Hand- und Spanndienste Formulare für Steuern, Abgaben, Statistiken, Durchschnittliche bürokratiebedingte Aufwendungen der Melde- und andere Bescheinigungen nerven privaten Wirtschaft je Beschäftigten und je Betrieb, nach die Büros und kosten Milliarden. Jedes mittle- Betriebsgrößen re Unternehmen muss jährlich 29 amtliche Erklärungen allein für die Umsatzsteuer bear- Betriebsgröße Bürokratiekosten (Beschäftigte) – je Beschäftigten – je Betrieb beiten. Es gibt 60 Begründungen, warum die Personalabteilung oder die Lohnbuchhaltung 10 - 19 3.048 DM 40.658 DM Verdienstbescheinigungen ausstellen müssen. 20 - 49 1.682 DM 50.158 DM Dafür gibt es 20 verschiedene Formulare. 50 - 99 1.214 DM 77.717 DM 100 - 499 829 DM 183.630 DM Rund 5,5 Milliarden Mark kosten jährlich die Aufwendungen für Beauftragte: für die Sicher- 500 + 305 DM 275.200 DM heit, das Abwasser, den Abfall, Gefahrgüter, Quelle: ASU

80 Gillies • marktwirtschaft.de

Mittelstandes und zu Gunsten der Großkon- Generalüberholung der staatlichen Dienste zerne, wie die Arbeitsgemeinschaft Selbstän- wartet noch immer auf beherzte Reformer. diger Unternehmer (ASU) beklagt. „Das Ausmaß staatlicher Überregulierung so- wie die immer expansiver gewordene staatli- Wie konzentrationsfördernd diese staatlichen che Bürokratie ist inzwischen zu einem Spanndienste sind, zeigt folgende Rechnung: Belastungsfaktor für den Wirtschaftsstandort Ein Kleinbetrieb muss pro Mitarbeiter 62 Deutschland geworden“, beklagte Rupert Stunden für die Bürokratie aufwenden, für ei- Scholz 1997. Der Politiker äußerte sich in sei- nen Mitarbeiter im Großbetrieb sind es nur ner Funktion als Vorsitzender der Sachver- 5,5 Stunden. In Mark und Pfenning: Der Klei- ständigenkommis- ne wendet 7.000 Mark je Arbeitsplatz auf, der sion „Schlanker Der Verdacht drängt sich auf, dass Große nur 300 Mark im Jahr. Diese Büro- Staat“. die Bürokratisierung ein klammheim- kratiekosten sind eine Art indirekter Steuer, liches Arbeitsbeschaffungsprogramm die ständig steigt, aber über die niemand In Wirtschaftsun- darstellt. Das mag überspitzt sein. Aber der Mittelstand fragt sich spricht. Sie geht zu Lasten der Gewinne und ternehmen sorgt schon, warum der Staat ihn nicht für letztlich zu Lasten der Arbeitsplätze. Wann der Wettbewerb für die Zwangsdienste, die er kostenlos führen staatliche Instanzen eine Kostenrech- die effiziente Ver- für ihn verrichten muss, bezahlt. nung für ihre Gesetzgebungsmaschine ein? wendung der knap- Stattdessen wird er gezwungen, sich Das ist angesichts der legislativen Emsigkeit pen Mittel. Verwei- eines wachsenden Heeres von Beratern, Gutachtern, Experten, nötig, denn im ersten Jahrfünft der achtziger gern sie sich, schei- Prüfern und Kontrolleuren zu Jahre verabschiedte der Bundestag 139 Geset- den sie aus dem bedienen. Sie erfüllen im Grunde ze, im Zeitraum von 1994 bis 1998 schon 565 Markt aus. Im öf- staatliche Aufgaben, müssen aber Gesetze. fentlichen Dienst privat finanziert werden. übt diese Kraft kei- Von der Vision zur Utopie: ne entsprechenden Zwänge aus. Er steht nicht Der schlanke Staat unter dem Existenzdruck zur ständigen Lei- stungssteigerung. Ein Amtsleiter wird nicht Der Vorschlag, alle Gesetze auf ihre Folgeko- befördert, wenn er Sparsamkeit an den Tag sten – nein, nicht für den Staat, sondern für legt. Für ihn gilt subjektiv eine andere Logik: die Wirtschaft – zu prüfen und gegebenenfalls Je mehr „Umsatz“ er mit öffentlichen Mitteln auf sie zu verzichten, ist originell, aber nie be- macht und je mehr Untergebene er dafür um folgt worden. Allein wenn man die Voranmel- sich schart, desto größer seine Beförderungs- dung für die Umsatzsteuer von einem auf drei chancen. Monate verlängerte, könnten 24 von 36 Mil- lionen Meldevorgängen eingespart werden, Bürokratischen Apparaten wohnt nicht die mahnte die ASU. Eine einheitliche Verdienst- Tendenz zur Sparsamkeit, sondern zur Ver- bescheinung für alle Behörden hätte ähnliche schwendung inne. Wenn eine Behörde über- Effekte. flüssige Ausgaben verhindert, werden ihr im nächsten Jahr die Etatansätze gekürzt. Das er- Über Jahrzehnte hat Wirtschaft rationalisiert, klärt auch das „Dezemberfieber“ in Behörden, ihre Kostenstrukturen gestrafft und ihre Hier- die am Jahresende noch rasch die verfügbaren archien abgeflacht. Diese Strategie des „Lean Titel ausgeben, mitunter die Hälfte des gesam- Management“ findet beim Staat keine Ent- ten Jahresetats. Im Grunde wird der Einzelne sprechung. „Lean Government“, der „schlan- dafür belohnt, dass er gegen die Interessen sei- ke Staat“, bleibt bestenfalls eine Vision. Die ner Organisation verstößt. Diese falsche Mo-

81 Erstickungstod im Paragrafendschungel

tivation wird begünstigt, weil Leistung sich Staatsdiener sind nicht zu beneiden. Sie sind nur selten auszahlt, da ohnehin nach anderen das Ziel fauler Beamtenwitze und das will- Regeln oder dem Dienstalter befördert wird. kommene Objekt von Karikaturisten. In der Bürokratie sind sie zwar Mittäter, aber zu- Der Vorwurf ginge jedoch fehl, würde man gleich ihre Opfer. Auch sie beklagen ständig ihn gegen die Staatsdiener richten. Jeder Be- die Flut von Gesetzen und Normen, die über hördenleiter kämpft – systemgerecht! – um sie hereinbricht. Hinzu tritt der Neid über seinen Etat und seine Mitarbeiter. Seine effek- ihre Privilegien und ihre Altersversorgung, die tive Leistung zu be- sie ohne Beiträge erwerben. Ein modernes „Hiernechst erinnere Euch noch- urteilen und ent- Rechungswesen würde die Ursachen aufde- mahlen, in Euren Berichten nicht so sprechend zu beloh- cken und den Mitarbeitern wieder mehr Ar- abscheulich weitläufig zu seyn, son- nen, fällt zudem beitsfreude vermitteln. Nichts beglückt arbei- dern gleich ad rem zu kommen, und schwer, weil es kein tende Menschen mehr als die Belohnung ihrer nicht 100 Wörter zu einer Sache gebrauchen, die mit 2 Wörtern betriebswirtschaft- Leistung. gesagt werden kann. Ihr werdet liches Rechnungs- daher solches künftig beobachten.“ wesen gibt, das die Geldmangel als Motor der Reform Friedrich II, der Große, König von Kosten transparent Preußen, 1712-1786, in einer macht. Dieses ist Unter geltenden Bedingungen bieten sich nur Kabinettsorder an seinen Minister v. Görne. aber das wichtigste zwei Methoden für eine rationellere Staats- Organisations- und tätigkeit an: der Geldmangel und die Privati- Steuerungsinstrument. Erst vereinzelt gehen sierung. Erst wenn den Finanzministern und Behörden von der alten Einnahmen-Ausga- Kämmerern das Geld ausgeht, ersinnen sie ben-Rechnung, der Kameralistik, ab und er- Rationalisierungsverfahren. Dann wird die Be- proben Kosten- und Leistungsrechnungen. willigung neuer Planstellen und neuer Aufga- ben und Ausgaben schwerer. Das fördert auch Nicht dass nicht auch im deutschen Berufs- langfristig den sparsamen Umgang mit Steu- beamtentum Leistungsprinzipien gelten, nur: ergeldern. sie sind fehlgesteuert. Alle Versuche, unter den heutigen Bedingungen Leistung extra zu ver- Die Privatisierung ist ein erfolgversprechender gelten, hätten eine unerwünschte Folge: Sie Umweg zur Effizienz. Durch sie werden Behör- begünstigten Liebedienerei, Klüngel- und den, öffentliche Betriebe und staatliche Regie- Parteibuchwirtschaft oder Protektion. Eine unternehmen gezwungen, sich dem Wettbe- transparente Kostenrechnung schüfe dagegen werb zu stellen. Die Privatisierung der Deut- wettbewerbliche Fakten. Mit ihr könnte man schen Bundespost mit ihren drei Schwestern – vergleichen, warum die Ausstellung eines Rei- Telekom, Gelbe Post, Postbank – ist dafür ein sepasses, einer Baugenehmigung oder eines gelungenes Beispiel. Die Deutsche Telekom AG Verwaltungsaktes in Flensburg teurer als in hat sich zu einem globalen Kommunikations- Rosenheim – oder umgekehrt – ist. Erst bei unternehmen gewandelt. Dieser Prozess hat Vorlage dieses Vergleichs entstünde ein Druck nicht nur das Telefonieren erstaunlich verbil- in Richtung Effizienz. Dann könnten Behör- ligt, sondern auch der gesamten Branche unge- den nach dem Prinzip von Profit-Centern ge- ahnte Wachstumsimpulse vermittelt. Die Deut- führt werden. Damit käme man auch der Ant- sche Post AG entwickelt sich zu einem interna- wort auf die Frage näher, welcher Behörden- tionalen Transport- und Logistikkonzern, der typ besonders rationell arbeitet und ob große an die Börse strebt. Auch die Postbank wird oder kleine Einheiten erfolgreicher verwalten. innerhalb des Kreditgewerbes von ihren Kon-

82 Gillies • marktwirtschaft.de

kurrenten ernst genommen. Die Liberalisie- ren. Häufig sind Nachzahlungen fällig. Dafür rung der Energiewirtschaft wird vergleichbare wurden „Cash Quick Terminals“ angeschafft. Wettbewerbsimpulse auslösen. Diese Geräte passen jedoch kaum in die Dienstfahrzeuge, sind umständlich zu bedie- In den Wind geprüft nen und störanfällig. Die mobile Kontroll- gruppe Frankfurt am Main hat mit zwei Ter- Über die vernünftige, sprich: wirtschaftliche minals im Jahre 1996 exakt 11,53 Mark einge- Verwendung der Steuergelder wachen die Rech- nommen. Dann ging sie wieder zum alten nungshöfe des Bundes und der Länder. Ihre Verfahren über: Die Laster wurden zur näch- Berichte sind eine aufschlussreiche Quelle für sten der 5.500 festen Zahlstellen dirigiert; die die Verschwendung öffentlicher Mittel. Sie modernen Terminals lagern in den Büros. summiert sich auf Milliarden, aber der lässige Umgang zeigt sich im Detail. In seinen 1999er Auf eine bizarre Vorschrift weist der Hambur- „Bemerkungen zur Haushalts- und Wirt- ger Rechtswissenschaftler Jürgen Schwabe hin. schaftsführung des Bundes“ hat der Bundes- Sie könnte einen Standardfall für die künftige rechnungshof unter anderem festgestellt, dass Juristenausbildung abgeben. Es handelt sich um zwischen 100 und 200 Millionen Mark dafür die Seite 2199 des Bundesgesetzblattes I 1998, ausgegeben wurden, den Schilderwald an deut- Nummer 54, worin dem Publikum die Ände- schen Straßen um ein Drittel auf 20 Millionen rung der Wasserskiverordnung bekannt gege- Schilder zu vermehren. Experten der Automo- ben wird. Fortan darf auf Binnenwasserstraßen bilclubs weisen dagegen seit Jahren darauf hin, nur Wasserski gefahren wrden, „wenn der dass der Schilderwald die Wahrnehmungsfähig- Wasserskiläufer eine geeignete Wasserskiweste keit der Autofahrer längst bei weitem über- oder einen geeigneten Wasserskianzug trägt.“ steigt. Er könnte ohne weiteres um die Hälfte Dies liegt vor, wenn die Weste der Regel C803 gelichtet werden, wobei der Verkehrsfluss an Si- oder C804 entspricht. Diese Regeln seien bei cherheit nicht verlöre, sondern gewönne. der International Waterski Federation in Lau- sanne niedergelegt. Laut Ministerium will man Für den Umzug von Bonn nach Berlin wird damit der Unterkühlung der Wassersportler der Bund bis 2004 rund 2800 Millionen Mark vorbeugen. Der Rechtsgelehrte entgegnet, im bereitstellen, um die Nachteile für die Region Sommer sei es überwiegend warm und ein ge- Bonn auszugleichen. Im Rahmen dieser Sub- stürzter Wasserskiläufer können ohnehin bin- vention werden auch zinsbegünstigte Kredite nen Sekunden geborgen werden. Abgesehen da- an Kleinunternehmen gewährt. Der Rech- von, dass Surfer auch ohne Weste segeln dürfen nungshof stellte fest, dass ein Millionenkredit – die Vorschrift sei ohnehin verfassungswidrig. vergeben wurde, obgleich jeweils nur ein ein- ziger Arbeitsplatz (in der Gastronomie oder Über die sinkende Steuermoral der Deutschen im Autohandel) geschaffen wurde. Der wird viel geklagt. Sie ist auf die gestiegene Steuerzahlerbund verweist auf ein interessan- Abgabenlast und die Kompliziertheit der Er- tes Detail: Der Inhaber eines Naturkost- hebung zurückzuführen. Aber die Kehrseite geschäftes für Tiere erhielt ein Darlehen von der Steuermoral ist die Ausgabenmoral des 67.000 Mark für die Entwicklung und den Staates. Nach Berechnungen des Steuerzahler- Vertrieb von „Nachtkerzenöl für Hunde“. bundes hat der Staat allein im letzten Jahr- zehnt 480 Milliarden Mark durch Miss- Zollkontrolleure pflegen an Autobahnen von wirtschaft verschwendet. Dabei ist noch nicht Lastkraftwagen Nutzungsgebühren zu kassie- einmal berücksichtigt, wie die Behörden der

83 Erstickungstod im Paragrafendschungel

Europäischen Union das Geld verschleudern, Mark jährlich – sind stets Theorie geblieben. Korruption, Bestechung und Subventions- Es ist beispielsweise für einen modernen betrug dulden, nicht oder nur mangelhaft ahn- Wirtschaftsstandort nicht zu verstehen, wenn den. im Umkreis von 150 Kilometern um die Großstadt Hamburg fünf Landesregierungen Der Vorschlag, die öffentliche Verschwendung zuständig sind. durch einen Amtsankläger verfolgen zu lassen, stammt aus den siebziger Jahren, ohne dass Was kostet die Schwimmoper? bisher etwas geschehen wäre. Ein Untreue- Paragraf könnte die Verschleuderung durch Der Weg zum schlanken Staat ist jedoch al- Straf- und Disziplinarverfahren bekämpfen. lein vom Gesetzgeber nicht zu bewältigen. Er Abgelehnt wurde die Idee bisher mit dem bedarf einer neuen Form der Bürger- Argument, dadurch entstehe nur eine neue verantwortung. Erst wenn die Bürger dem Behörde, die den Wirrwarr der bestehenden Ziel einer amtlichen Vollversorgung, einer vergrößere. In der öffentlichen Debatte man- Rundumbetreuung durch staatliche Dienste gelt es nicht an Rationalisierungsvorschlägen. abschwören, hat der flexible Staat eine Chan- Die Verringerung der Parlamente und der po- ce. Politikern, die, um gewählt zu werden, litischen Posten oder der 16 Bundesländer auf ständig neue Leistungen ausloben, komforta- acht – geschätzter Spareffekt acht Milliarden ble Schwimmopern versprechen oder sich Denkmäler setzen wollen, muss die Frage nach der Finanzierung der Wohltaten gestellt Herkulesaufgabe Bürokratiereform werden. Zur Mündigkeit des Wählers gehört die umfassende Information durch die Ge- Für die Neuorientierung des Staates und seiner Verwaltung gibt es wählten. eine Fülle von Ansatzpunkten. Hier eine kleine Auswahl: è Im schlanken Staat muss der Beamte schnell auf den Markt Bisweilen gibt es aber auch Binnenkritik, die und die Kundenwünsche reagieren, statt sie abzuwimmeln. hoffen lässt. Beachtliche Beiträge leisten dazu è Die Hierarchiestufen gehören abgeschmolzen, die Ämter unter die oberen und die höchsten Gerichte, wenn Konkurrenzdruck gesetzt. sie staatliche Ausgabe- und Regulierungswut è Die zähen Abläufe müssen verkürzt und vereinfacht werden. in die Schranken weisen. So befand das è Statt auf die Etats sollten die Staatsdiener auf Gewinnmaximie- Finanzgericht Rheinland-Pfalz 1999, dass die rung im Interesse des Steuerzahlers getrimmt werden. Steuervordrucke ein „Buch mit sieben Siegeln“ è Kredite und Subventionen dürfen nicht nach politischem Wohl- darstellten, das der Steuerpflichtige nicht mehr wollen, sondern nach Bonität und Risiko vergeben werden. verstehe. Unter dem Aktenzeichen 1 K 2553/ è Gebühren sind an den betriebswirtschaftlichen Kosten, nicht an 98 obsiegte eine Familie über ihr Finanzamt. der Daumenpeilung des beschließenden Stadtrates zu orientieren. Sie hatte an ihr Einfamilienhaus angebaut und è Der staatliche Hoheitsakt ist durch Service am Kunden abzulö- übersehen, dass für die Kosten von 42.000 sen, um dessen Gunst die Behörde kämpfen muss. Mark eine Steuervergünstigung winkt. Das è Nicht zuletzt: Die bisher unkündbaren Staatsdiener sollten dem Finanzamt hatte dies mit dem Hinweis abge- Risiko von Entlassung und Arbeitslosigkeit ausgesetzt werden. Sie lehnt, die Familie habe in „grobem Verschul- müssten wie jedermann Beiträge für ihre Altersversorgung zahlen, den“ die „Anlage FW“ des Steuervordrucks die nicht nach dem letzten – dem höchsten – Gehalt, sondern wie nicht beachtet. Das Finanzgericht war ande- beim Rentner nach dem Einkommensdurchschnitt des Arbeitsle- rer Ansicht. Die steuerzahlende Familie sei bens und nach den gezahlten Beiträgen zu bemessen wären. damit überfordert gewesen, ein Irrtum sei ihr deshalb nicht anzulasten, urteilte es. Man darf

84 Gillies • marktwirtschaft.de

gespannt sein, wie lange die Behörde für die für die gegenseitige Liebe, und die Polizei stö- Erstellung rechtlich einwandfreier Formulare re die Freude nicht.“ Eine Crux der heutigen benötigt. Bürokratie ist, dass sie sich nicht mehr dem Härtefall widmet. Vielmehr ist der Normal- Wer den Staatsapparat mit dem modernen bürger zum Betreuungsfall geworden. Deshalb Management in Unternehmen vergleicht, stößt wächst sie mit jeder neuen Aufgabe, die man auf eine Fülle von reformerischen Herausforde- ihr zuweist. Weil die Politik darin nicht inne- rungen – eine Herkulesaufgabe für ein Staats- hält, nehmen der Staat und seine Organe den wesen, in dessen Parlamenten die Staatsdiener Bürger in den Schwitzkasten. „Dezisionis- den Löwenanteil der Mandate stellen. In den tische Exaktheit beherrscht das Funktionieren Fraktionen der großen Volksparteien verfügen jeder modernen Organisation“, bemerkte der sie über die absolute Mehrheit von 54 Prozent. Staatsrechtler Carl Schmitt. Zur Reform- 316 von 669 Abgeordneten im 14. Deutschen fähigkeit von Bürokratien schrieb der Nobel- Bundestag, der am 27. September 1998 gewählt preisträger Friedrich A. von Hayek, sie litten wurde, standen schon vorher auf staatlichen an der „Mystik von Hoheit und Herrschaft“. Besoldungslisten. Die stärkste Fraktion ist die der Lehrer mit 137 Mandaten (im 13. Bundes- Die Wut über den verlorenen Groschen – der tag noch 120). Die Gruppe der Unternehmer, sich zu Millionen und Milliarden summiert – Landwirte und selbständigen Handwerker ist ist verständlich. Aber der Steuerzahler sei ge- weiter von 57 auf 44 geschmolzen. tröstet: Nach der amtlichen Friedhofs- ordnung ist die Verwaltung verpflichtet, min- „Meine Hauptlehre ist“, so sagte Goethe im destens einmal jährlich am Grabstein jedes Oktober 1830 zu seinem Eckermann, „vorläu- Verstorbenen zu rütteln. Auch auf die Büro- fig diese: Der Vater sorge für sein Haus, der kratie wartet eine Rüttelprobe – woran nicht Handwerker für seine Kunden, der Geistliche zu rütteln ist.

85 . . . sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht

Wenn ein Waldbesitzer nur soviel Bäume ein- der deutschen Industrie, die Partei von Bünd- schlägt wie gleichzeitig wieder nachwachsen, nis 90/Die Grünen oder die Gewerkschaften. folgt er einem über Jahrtausende bewährten Auch sonst gibt es gesellschaftlich keinen Wi- Prinzip: dem der Nachhaltigkeit. Lange Zeit derspruch. Das Prinzip der Nachhaltigkeit wurde dieser ursprünglich forstwirtschaftliche folgt der praktischen Vernunft. Im Politiker- Begriff aufs Ökologische beschränkt. Er gilt repertoire findet es sich seit längerem. Es gilt aber für alle Ressourcen. Warum empfinden als positiv besetzt, weil es zur Umsicht und die politischen Staatslenker zwar Scham dar- zu edlem Verzicht, zur „Rücksicht auf unsere über, wenn sie ihren Kinder“ mahnt. Das Prinzip der Nachhaltigkeit geht Kindern und Enkel über die Forderung nach dauerhaft- verdreckte Land- Was jeder Landwirt oder Förster seit Jahrhun- umweltgerechter Entwicklung weit schaften und eine derten weiß, fand nur langsam Eingang in die hinaus. Es gilt für alle Ressourcen – verpestete Atmo- öffentliche Debatte. Einen Schub bekam die für ökonomische und soziale genauso wie für ökologische. sphäre hinterlassen, Idee der Nachhaltigkeit – englisch: Sustain- aber nicht die ge- ability oder auch Sustainable Development, ringsten Skrupel, ihnen gigantische Schulden- dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung – von berge und marode Sozialsysteme zu vererben? der UN-Konferenz über Umwelt und Ent- Alle wichtigen Ressourcen auf diesem Erdball wicklung 1992 in Rio de Janeiro. Dort wurde nachhaltig zu verwalten bedeutet, von den eine Kommission zu diesem Thema einge- Zinsen zu leben und daraus zumindest noch setzt. Anfangs war sie auf das Ökologische soviel Erneuerung zu finanzieren, dass das begrenzt. Je mehr die Industriestaaten an die Kapital nicht vergreist. Investoren wissen das. Grenzen ihrer Ressourcen stießen, desto be- Staaten, Bürger und Gesellschaften haben da- liebter wurde es, den Maßstab der Nachhal- mit ihre Mühe. „Wir verfeuern das Holz, an tigkeit auch auf andere Lebensbereiche auszu- dem sich unsere Kinder und Enkel wärmen dehnen. Die spendablen Wohlfahrtsstaaten sollten,“ lautet ein Spruch, der in allen Lagern spürten, dass ihre Politik gegen den haus- repetiert wird. väterlichen Grundsatz der Nachhaltigkeit ver- stößt. „Nachhaltige Entwicklung bedeutet eine Ent- wicklung, die den Bedürfnissen der gegenwär- Die Nachhaltigkeit ist als Prinzip nicht umstrit- tig lebenden Menschen entspricht, ohne die ten, nur ihr Anwendungsradius ist es. Dass die Fähigkeiten künftiger Generationen zur Be- Ressourcen der Schöpfung begrenzt sind, hat friedigung ihrer Bedürfnisse zu gefährden“, sich herumgesprochen. Die Begrenztheit in an- manifestierte die World Commission on En- deren Bereichen wie dem Sozialen oder dem vironment and Development (Umweltschutz Ökonomischen hält man dagegen für dehnbar. und Entwicklung) im Jahre 1987. Das Prinzip Wenn die Politik das Leben auf Kosten der Sub- der Nachhaltigkeit beginnt sich nur langsam stanz propagiert, hofft sie dabei auf zweierlei: in der deutschen Gesellschaft einzurichten. erstens auf brausenden Beifall mit der Folge der Auf ihren Jahrestagungen Ende der neunziger Wiederwahl, zweitens darauf, dass es keiner Jahre benutzten ihn gleichermaßen so unter- merkt. Aber die Gesellschaften bemerkten es, schiedliche Organisationen wie die Verbände dass sie dazu eingeladen wurden, über ihre Ver-

86 Gillies • marktwirtschaft.de

hältnisse zu leben. Keine Generation darf sich mehr leisten, als sie leistet, es sei denn, sie möch- te sich zugrunde richten. Konflikte mit einer Verteilungspolitik, die gerne ausschenkt, was noch nicht erarbeitet ist, sind da unvermeidlich.

Vorsorge statt Reparatur

Ökologisch beginnt der Diskurs mit der Ein- sicht, dass der nachsorgende Umweltschutz durch den integrierten abzulösen ist. Bürger, Wirtschaft und Verbraucher sollten also die Naturschätze nicht maßlos verbrauchen und erst hernach die Schäden reparieren, sondern von Anfang an die Folgen ihres Umwelt- verbrauchs einkalkulieren und – wo immer gischen Technologien, die einen immer grö- möglich – ihn einschränken oder ganz vermei- ßeren Anteil am deutschen Export ausma- den. Alle erneuerbaren Ressourcen sollen in chen. Ein überschlägige Rechnung: Würden dem Maße genutzt werden wie sie nachwach- in der ganzen Welt die Umweltstandards wie sen. Jene Ressourcen, die sich nicht erneuern, in Deutschland gelten, wäre der weltweite sollten nur so weit verbraucht werden, wie sie CO -Ausstoß 17 Prozent niedriger als er tat- 2 durch andere ersetzbar sind. sächlich ist.

Hinzu kommt, dass die Umweltbelastungen Prinzipien der Nachhaltigkeit setzen an allen so gedrosselt werden müssen, dass sie insge- Punkten von Produktionsprozessen an. Der samt die Belastbarkeit der Ökosysteme nicht Imperativ der Kreislaufwirtschaft hat mittler- sprengen. Für die Industrien bedeutet das weile ganze Bran- nicht nur, ihre Produktionsprozesse diesen chen erfasst. Einige Eisen- und Stahlguss kommt mittler- Prinzipien anzupassen, sondern auch ihren Stichworte: Prozess- weile zu 87 Prozent aus Recycling Kapitalstock unter ökologischen Gesichts- optimierung, Filter und Stahlschrott, nur zu 13 Prozent noch aus Roheisen. 95 Prozent des punkten umzurüsten. Entgegen dem öffentli- und neue Synthe- Formsandes werden wiederverwertet. chen Eindruck ist die deutsche Industrie auf sen, Wiederverwer- Bei Kupfer liegt der Recycling-Anteil diesem Wege recht gut vorangekommen. Sie tung, Müllvermei- bei 57 Prozent. reduzierte die Umweltbelastung, ohne ihre dung, Vermarktung Produktion drosseln zu müssen. Das angeb- von Ausschuss- und Nebenprodukten, Er- lich eherne Gesetz, mit jedem Produktions- schließung von Sekundärrohstoffen, weniger zuwachs steige unvermeidlich auch der Ver- Energie bei weniger Emissionen. brauch an natürlichen Ressourcen, konnte außer Kraft gesetzt werden. Eine sensibilisierte Abfallpolitik hat den „Müllnotstand“ verhindert. Heute konkurrie- In den letzten dreißig Jahren halbierte die In- ren bereits – überdimensionierte – Müllver- dustrie ihren Anteil am Endenergieverbrauch. wertungsanlagen um den knapp gewordenen Verbesserte Technologien und schonende Ver- Abfall. Zeitungen und Zeitschriften werden fahren strapazieren die Umwelt immer weni- zunehmend auf Altpapier gedruckt, einige ger. Das führte zwangsläufig zu neuen ökolo- Branchen bewegen sich erfolgreich auf die

87 . . . sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht

Kreislaufwirtschaft zu. Der möglichst ge- Die Schuld der Verschuldung schlossene Kreislauf, in dem kein Stoff verlo- ren geht und keiner die Natur schädigen soll, Überall möchten die Menschen sauberes Was- zielt auf Umweltentlastung ohne Wohlstands- ser trinken, reine Luft atmen und sich in einer verzicht. Das Denken in Kreisläufen folgt möglichst unberührten Natur ergehen. Aber nicht dem ökologischen Spinner mit Jute- sie haben noch weitere Bedürfnisse: Sie wol- beutel, sondern der kühlen Kalkulation. An len essen und konsumieren, sie begehren Ar- ihrem Ende steht die viel zitierte Versöhnung beit und Einkommen, stabile Absicherungen von Ökonomie und Ökologie. gegen die Lebensrisiken. Es geht also nicht nur um das empfindliche Ökosystem Erde, son- Führende Positionen auf den Märkten sind dern auch um die Menschen auf ihr. Eine Ge- nur durch ständige Innovation zu behaupten. sellschaft, die ihren Gegenwartskonsum nicht Das gilt auch für den Umweltschutz. Zu die- aus eigener Arbeit finanziert, sondern mit sem Bild passt es nicht, wenn die Umwelt- Schulden bezahlt, verstößt brachial gegen die bewegten, die für Ressourcenschonung de- Nachhaltigkeit. monstrieren, gleichzeitig jene neuen Techni- ken ablehnen, die dem Umweltschutz dienen. Wie stark die Nachhaltigkeit der Finanzpoli- In der aufgeregten Debatte wird übersehen, tik verletzt ist, zeigt sich in der Schere zwi- dass Bio- und Gentechnologien Wachstums- schen Krediten und Investitionen des Staates. branchen mit ungewöhnlicher bedeutender In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die ökologischer Fantasie sind. Und dass die Kern- Zinsen auf Staatsschulden (plus Zuschüsse an energie – horribile dictu – eine besonders um- die Sozialversicherung) verdoppelt, der weltschonende Form der Stromerzeugung Investitionsanteil, die Bildung inklusive, aber darstellt, die zudem den Treibhauseffekt min- nahezu halbiert. Wenn jede vierte Steuermark dert. bereits dafür verwendet werden muss, die Zin- sen auf – längst verpulverte – Altkredite zu begleichen, wird der Spielraum für Zukunfts- investitionen immer enger. Unheilvolle Schere

Zinsausgaben und Bruttoinvestitionen der Gebietskörper- Nachhaltige Stabilitätspolitik für schaften 1960 – 1998, Mrd. D-Mark (in Preisen von 1995) den Euro Auch bei dem Experiment einer Europäi- 120 Zinsausgaben schen Währungsunion war die Nachhaltigkeit 100 das Kern- und Hauptproblem. Ob das neue Europageld so stabil sein wird, wie seine Er- 80 finder sich das vorstellten, hängt nicht davon

60 ab, in welchem Zustand sich die Länder an ei- nem Stichtag in die Währungsunion begaben, 40 Investitionen sondern davon, ob sie eine dauerhafte – nach- haltige – Stabilitätspolitik betreiben. Die Ein- 20 trittsbedingungen in den Euro-Club waren an 0 den Konvergenzkriterien von Inflationsrate, 60 65 70 75 80 85 90 95 Staatsverschuldung, Zinsen und währungspo- Quelle: SVR; ab 1995 revidierte VGR-Daten litischer Stetigkeit festgemacht. Schon bei Be-

88 Gillies • marktwirtschaft.de

ginn hatte die Politik diese Kriterien so zu- Die Systeme der deutschen Sozialversicherung rechtgebogen, dass mit der politisch er- stecken in der Krise, weil sie nicht mehr der wünschten Zahl von Mitgliedern begonnen Nachhaltigkeit folgen. Ihre Verwalter denken werden konnte. Wenige Monate danach be- nicht mehr daran, gehrte Italien bereits eine Dispens von den – was sie der nächsten Nachhaltigkeit in der sozialen Siche- ohnehin nicht sonderlich ehrgeizigen – Stabi- Generation hinter- rung ist nur durch private Initiative, litätskriterien. Die Finanzmärkte reagierten lassen. Sie sind auf Wettbewerb und Kostentransparenz erschüttert. Nach Ansicht vieler Volkswirte wählerwirksamen zu haben. Für die großen Lebens- wird das Euro-Experiment auf Dauer nicht ge- Augenblickskon- risiken ist eine vom Staat verordnete lingen, wenn ihm die Basis einer Politischen sum fixiert, nicht Versicherungspflicht sinnvoll. Alles andere ist Privatsache. Union fehlt. Sie ist die Summe einer auf Nach- auf Stetigkeit und haltigkeit angelegten Integrationspolitik. Verlässlichkeit. Sie negieren die demografischen Herausforderun- Fürsorge trübt den Blick für gen. Das weitverbreitete Fürsorgeprinzip Eigenvorsorge trübt den Blick des Bürgers für seine Eigen- vorsorge. Der Glaube an den omnipotenten Staat, der alles regelt und den Bürger vor allen Widrig- Die öffentliche Debatte über die Arbeit wird keiten schützt, ist mit der Nachhaltigkeit von ihrer augenblicklichen Knappheit be- ebenso wenig zu vereinbaren wie die Politik stimmt. Eine Strategie, die „Massenkaufkraft der Umverteilung. Der sich daraus aufblähen- zu stärken“, um über die Nachfragebelebung de Staatsapparat erschwert Reformen und mehr Konsum und letztlich mehr Jobs zu bremst den Fortschritt. schaffen, stellt den klassischen Verstoß gegen die Nachhaltigkeit dar. Zielführend und zu- Die Eigenverantwortlichkeit wieder zu stär- kunftssicher ist dagegen eine Lohnpolitik, die ken, ist ein Merkmal der Nachhaltigkeit. Das nicht den Gegenwartskonsum in den Blick Gegenteil dieser Politik ist es, aus den Sozial- nimmt, sondern die Sicherheit der bestehen- systemen einen hohen Gegenwartskonsum zu den und die Menge der zu schaffenden neuen schöpfen, den Nachgeborenen aber die Beglei- Arbeitsplätze. Das Stichwort vom „Ende der chung dieser Rechnung zu überlassen. Die Bescheidenheit“ als Aufforderung zur Umv- kollektiven Kassen leben von der Hand in den erteilung zugunsten der Arbeitsplatzbesitzer Mund, allen voran das Renten- und das ist ein Schlag ins Gesicht der Nachhaltigkeit. Krankenversicherungssystem. Es verhindert die Umrüstung des Kapital- stocks und stellt ein Danaergeschenk für die Wie muss eine verlässliche, treffsichere und Arbeitnehmer dar. nachhaltige Sozialpolitik aussehen? Sie setzt vor allem auf die private Initiative und stellt Die Nachhaltigkeit lässt den Blick nicht abir- über den Wettbewerb Kostentransparenz von ren, sondern zwingt ihn zum Kern der Pro- Einnahmen und Ausgaben her. Dabei decken bleme. Deutschland hat seinen Export gestei- Pflichtversicherungen die großen Risiken ab, gert, aber Marktanteile verloren. Seine seit Jah- die den Einzelnen überfordern könnten. Alles ren defizitäre Leistungsbilanz zeigt, „dass sich was über die Basis des Notwendigen hinaus- die heutige Generation mehr leistet als sie lei- geht, also das Wohlbefinden und den Lebens- stet“, wie es Industrepräsident Henkel sagte. standard berührt, ist Privatsache. Dafür mag Nie gab dieses Land so viel für die soziale Si- jeder nach eigenem Gutdünken vorsorgen. cherung aus wie derzeit – dennoch schwellen

89 . . . sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht

die Forderungen nach immer weiteren Lei- Ehrliche dabei oft der Dumme ist, prallt am stungen an. Wer wen finanziert, warum und Panzer des öffentlichen Bewusstseins selbst mit welchen Folgen – Fragen werden nicht dann ab, wenn es als wichtige Ursache für die gestellt. Schon die Bemerkung, ob es noch fair Arbeitslosigkeit identifiziert wurde. sei, dass auch betuchte Eltern für ihren Sohn oder ihre Tochter einen kostenlosen Studien- Die Abwesenheit von Nachhaltigkeit ist in fast platz erhalten, den ein Facharbeiter mit sei- allen Bereichen zu beklagen. Das sei kein nen braven Steuern finanziert, gilt als un- Wunder, wird eingewendet, denn die Politik schicklich. sei unter dem Druck ständiger Wahltermine auf die kurze Sicht abonniert. Sie suche stets In der Bildungspolitik stößt der Staat an fi- den sofortigen Applaus, was ihr nicht vorzu- nanzielle und konzeptionelle Grenzen. Er ver- werfen sei. Davon und von entsprechenden waltet und teilt zu, reglementiert und zentrali- Wählerreaktionen lebe sie schließlich. Ein siert. Das produziert zwar Zeugnisse und ex- Politiker denke an die nächsten Wahlen, ein aminierte Formal- Staatsmann an die nächste Generation, lautet In allen Bereichen – nicht nur in der bildung, nicht aber ein abgegriffenes Bonmot. Beider Unterschei- Ökologie – zwingt die Leitidee der das schöpferische dungsmerkmal ist die Nachhaltigkeit. Der Nachhaltigkeit dazu, mit nüchterner Wissen und die Kernfrage lautet jedoch: Soll es in der hekti- Vernunft den Kern der Probleme in Leistungseliten. Im schen Tagespolitik tatsächlich unmöglich sein, den Blick zu nehmen. schärfer werdenden das nachhaltig Zwingende durchzusetzen, Wettbewerb der statt auf den präsenten Beifall der Ignoranten Standorte sind Bürger und Wirtschaft auf zu schielen? Haben die Wähler aller Genera- Schulen und Hochschulen angewiesen, die tionen vielleicht sogar einen Instinkt für die Leistungseliten heranbilden. Dies schaffen sie langfristig seriöse Lösung unter Inkaufnahme wiederum nur, wenn sich alle untereinander von Augenblicksschmerz? Oder bringt es tat- dem Binnenwettbewerb stellen: die Bundes- sächlich Mehrheiten, ein Krebsgeschwür länder, die Schulen, die Universitäten, die Leh- durch Handauflegen statt durch Operation rer und Professoren, die Schüler und Studen- heilen zu wollen? ten. Wenn die Bildungsanstalten um die be- sten Lehrer konkurrieren und die Universitä- Die Innovation ist der Herzmuskel jeder blü- ten untereinander wetteifern, dann würde der henden Wirtschaft. Bleibt sie aus, steigt die Wettbewerb genügend Geld freisetzen, damit Volkswirtschaft ab und mit ihr der Lebens- allen Studenten, die begabt und bedürftig sind, standard. Nötig ist also, den Nährboden für auskömmliche Stipendien gezahlt werden neue Produkte, Dienstleistungen und Erfin- können. dungen stets aufzubereiten, zu pflügen und zu düngen. Andererseits sind Innovationen leicht Vom Beifall der Ignoranten verderblich, weil das Neue stets das Her- kömmliche entwertet. Diesen Prozess des In Steuersachen ist die Nachhaltigkeit völlig Werdens und Vergehens in Gang zu halten, außer Kontrolle geraten. Der Fiskus und die entspricht einer nachhaltigen, weil auf die Parafisci machen Kasse. Beiden ist jedes Argu- nächsten Generationen gerichteten Politik. ment dafür recht. Hilfsweise schieben sie vor, sie wollten mit noch höheren Steuern die Ren- Dass der Gedanke der Nachhaltigkeit im öf- ten retten, die Volksgesundheit schützen oder fentlichen Diskurs und in allen Lagern immer europäische Harmonie herstellen. Dass der mehr an Boden gewinnt, ist zu begrüßen. Sie

90 Gillies • marktwirtschaft.de

stellt einen Prüfstand für Zukunftstauglich- cen wie Arbeit, Sozialem, Investitionen, In- keit dar. Freilich sollte sie nicht nur bei novationen, bürgerlichen Freiheiten und Feuchtbiotopen, dem Wachtelkönig oder der Hoffnungen umgegangen wird. Dort wird Großtrappe in Anschlag gebracht werden. Zukunft verschleudert, oft sogar noch unter öffentlichem Applaus. Die Nachhaltigkeit Es gibt gesellschaftliche Bereiche, in denen verdient einen Nachhall auch und vor allem noch um vieles bedenkenloser mit Ressour- abseits der Ökologie.

91 Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance

Ein Gespenst geht um in Europa: die nalisten Hans-Peter Martin und Harald Schu- Globalisierung. Dieser Begriff beschreibt die mann und „Der Terror der Ökonomie“, Wirkungen des weltweiten Wettbewerbs auf verfasst von der französischen Literatin die heimischen Märkte. In Deutschland hat Viviane Forrester. Beide zeichnen ein düsteres die Globalisierung einen schlechten Ruf. In bis schreckliches Bild der Folgen einer welt- öffentlichen Debatten gilt sie als Horror- wirtschaftlichen Vernetzung. In der „Globali- vision: Sie zerstöre sierungsfalle“ wird geschildert, wie der welt- Die Globalisierung ist keine Erfindung oder vertreibe Ar- weite Wettbewerbsdruck den Globus mit Ent- der neunziger Jahre dieses ausge- beitsplätze, meinen lassungswellen überschwemmt, wie Demokra- henden Jahrhunderts. Als die ihre Kritiker, raube tie und Wohlstand bedroht, der industrielle Menschen in der jungen Bundesre- der Jugend die Norden geschwächt und die Entwicklungslän- publik Deutschland nach dem Kriege Chance auf den der des Südens gefährdet werden. Am Ende energisch die Trümmer abräumten Berufseinstieg, füh- stehe die „Einfünftelgesellschaft“ – nur jeder und sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte einen allseits beneideten re zu allgemein sin- fünfte Arbeitsplatz werde noch benötigt –, Wohlstand erarbeiteten, nannte man kenden Einkom- während der Rest verelende. diesen Prozeß noch nicht „Globalisie- men und setze die rung“, aber es war eine. Das Land Sozialsysteme der- Viviane Forrester geht mit ihrem „J’accuse“ fand durch Fleiß, Entbehrung und art unter Druck, noch erbarmungsloser mit der Weltwirtschaft Arbeit wieder Anschluss an die Welt- wirtschaft. Den heutigen Katastro- dass immer breitere ins Gericht. Noch nie in der Geschichte, so pheten mit ihrer „Globalisierungs- Bevölkerungs- beklagt sie, seien die Sozialsysteme und die falle“, in der wir alle angeblich schichten unter die Menschen so „kalt und fundamental“ und „bis verenden, wäre damals niemand Räder der Armut auf die Knochen ausgesaugt“ worden wie heu- gefolgt. gerieten. Sie mache, te, nie zuvor sei so etwas „Schreckenerregen- salopp gesprochen, des“ und „Totalitäres“ wie die Globalisierung die Armen ärmer und die Reichen reicher. Zu- über die Menschheit gekommen. Die Litera- dem sei die Weltwirtschaft in die Hände der tin bekennt zwar, dass sie keine wirtschafts- „Spekulanten“ geraten, deren entfesselter politische Expertin sei, aber das Buch verkauf- „Casinokapitalismus“ den Erdball ins Un- te sich glänzend. glück stürze. Schließlich entmündige sie die Staaten, deren demokratisch gewählte Politi- Was ist Globalisierung? ker sich dem Wettbewerbsdruck, der sozialen Anpassung nach unten, beugen müssten und Wie so oft bei hochkontroversen Debatten ihre nationale Souveränität verlören. klaffen die mediale und die reale Seite eines Problems weit auseinander. Was ist Globa- Im öffentlichen Diskurs ist der Begriff lisierung, wie wirkt sie, welche Risiken und Globalisierung deswegen überwiegend nega- Chancen birgt sie? tiv besetzt. Als Indiz dafür dürfen die Ver- kaufserfolge zweier Wirtschaftssachbücher Vorweg: Auch wenn dieses Epos ohne Ka- gelten, von denen mehr als eine halbe Million tharsis endlos variiert wird – eine Erfindung Exemplare verkauft wurden. Spitzenauflagen der Postmoderne ist die weltweite Vernetzung erzielten „Die Globalisierungsfalle“ der Jour- mit ihren dramatischen Folgen keineswegs.

92 Gillies • marktwirtschaft.de

Was trieben die Phönizier, die Ägypter oder Die Souveränitäten von Nationen wankten. die Römer, die mit friedlichen – und biswei- Die neugierigen und anpassungsfähigen Rei- len auch militärischen – Mitteln ihre damals che stiegen auf, die Besitzstandswahrer fielen noch kleinen Welten eroberten, sicherten und zurück. Ein sich verschiebendes Koordinaten- mit Handel vernetzten, anderes als „Globali- system schafft stets neue Fakten – so wie der sierung“? Die Weltgeschichte ist eine Abfolge veränderte Heringszug die Bedeutung der einschlägiger – gelungener und misslungener Hanse schmälerte. Damals wie heute versuch- – Versuche, mit der Goldkatze, dem Kapital ten sich die Mächtigen mit Waffen, Gesetzen oder dem Schwert Macht und Wohlstand der und Sanktionen gegen die Handelsfreiheiten eigenen und oft auch der fremden Bevölke- zu wehren. Globalisierung rief stets die Pro- rung zu mehren. „Jeder kluge Familienvater tektionisten auf den Plan. Auch daran hat sich befolgt den Grundsatz, niemals etwas zu Hau- bis heute nichts geändert. se anzufertigen, was er billiger einkaufen kann. Was aber in der Wirtschaftsführung eines Fa- Vom Schongang zum Turbo milienhaushalts klug ist, kann dann auch im Ganzen einer Volkswirtschaft kaum Torheit Dass der Fortschritt eine Schnecke sei, ist ein sein.“ Diese Sätze des schottischen National- geflügeltes Verdikt der Literaten. Es mag ge- ökonomen und Moraltheologen Adam Smith sellschaftlich und sozial mehr denn je zutref- (1723-1790) gelten unverändert bis heute. fen, die Technik aber hat es längst ausgehebelt. Der Fortschritt bewegt sich mit rasender Ge- Das Phänomen der arbeitsteiligen Verflech- schwindigkeit. Das war in der „Globalisie- tung pflügt die Weltgeschichte um, kehrt zu- rung“ des 12. und 13. Jahrhunderts anders. gestandermaßen mitunter das Unterste zu- Marco Polo reiste nach China und erschloss oberst. In nur dreißig Jahren – zwischen 1492 die neuen Handelswege gemächlich. Obgleich und 1522 – öffnen der Genueser Christoph in den dortigen weltoffenen Sung- und Yüan- Kolumbus und der Florentiner Amerigo Dynastien so prägende Innovationen wie das Vespucci die Neue Welt, findet der Portugiese Schießpulver, die Magnetnadel, das Papiergeld Vasco da Gama den Seeweg nach Ostindien und der Buchdruck längst erfunden waren – und umsegelt Fernão des Magalhães erstmals Europa benötigte einige Jahrhunderte länger, die Erde. In der Folge verschiebt sich die glo- um sie zu begreifen und am Markt durchzu- bale Tektonik: Der Mittelmeerraum verliert setzen. Damals lief der globale Akzelerator an Einfluss, die Macht der italienischen Kauf- noch im Schongang, heute ist der Turbo ein- leute schmilzt. Spanier und Portugiesen, spä- geschaltet. ter die Niederländer und Engländer, steigen auf. Die auf Asien gerichteten Handels- Der britische Wirtschaftshistoriker Harold Compagnien läuteten dann eine weitere Phase James definiert die erste Globalisierung dieses der Vernetzung ein. Ähnlichkeiten mit heute Jahrhunderts mit der Inbetriebnahme des er- liegen auf der Hand: Das pazifische Becken, sten transatlantischen Kabels im Jahre 1906. vor einem halben Jahrhundert noch eine Mit ihm konnten erstmals Finanzdaten von Armutsregion, lehrt heute die Industrieländer Amerika nach Europa und umgekehrt trans- das Fürchten. portiert werden. Folge davon war, dass die Börsenkräche in New York von 1906 und Als der atlantische den mediterranen Handel 1907 ihre Schatten sofort auch auf die Börsen ablöste, verschoben sich nicht nur Macht- von Berlin und Wien warfen. Dadurch konn- konstellationen und Wohlstandshäufungen. ten die Börsen rascher reagieren. James nennt

93 Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance

auch den Siegeszug der Singer-Nähmaschine Wiederholt sich Geschichte nie oder wieder- ein frühes Symbol der Globalisierung. Der holt sie sich immer? Stellt sie eine Abfolge von Historiker meint, die Dynamik der heutigen Unvergleichlichem dar? Gibt es Zukunft ohne Globalisierung wecke Erinnerungen an eine Herkunft? Globalisierung hat Reiche aus dem Zeit, in der der Staat historischen Dunkel ins Licht gezerrt und an- Die Globalisierung bedeutet stets, nur ein Spieler un- dere in ihm verschwinden lassen. Die junge Grenzen einzureißen, sich dem ter vielen gewesen Bundesrepublik Deutschland ist aus der Wettbewerb und dem Neuen zu ist. Heute hätten die Trümmerlandschaft eines verlorenen Krieges stellen, es zu adaptieren, zu integrie- nationalen Wirt- durch die Globalisierung zum „Wohlstand für ren und neu zu befruchten. Wer die schaftsgeflechte, die alle“ (Ludwig Erhard) gelangt und heute Welt- Gesetze der Märkte akzeptiert, statt sie verbiegen oder austricksen zu früher die Staaten meister oder zumindest Vize im Export. wollen, erkennt die Globalisierung als prägten, viel an Ge- Chance für das nächste Jahrtau- wicht verloren. Und Unbeeindruckt von den Lebenslinien der send. damit wäre auch die Weltwirtschaft entwerfen die heutigen Kriti- Bedeutung der Staa- ker ein Zerrbild globaler Weinerlichkeit: Mas- ten geschrumpft. James sieht darin keinen senarbeitslosigkeit und perspektivlose Jugend, Nachteil, denn damit würde die Überdehnung überschuldete Staaten und zerbröckelnde des Staatsgedankens, der Glaube an die Mach- Sozialsysteme, rücksichtsloses Lohn- und barkeit, zurückgedreht – für Europa eine Kostendumping, beinharter und inhumaner nützliche Lehrstunde, denn es müsste sich von Verdrängungswettbewerb, Entmachtung der seinen überzogenen Staatsvorstellungen verab- Demokratie durch transnationale Großkon- schieden. zerne und das blitzschnell agierende Finanz- kapital. Sollte sich die Globalisierung, mit der Keine Zukunft ohne Herkunft viele Generationen erfolgreich gewachsen sind, tatsächlich erstmals in der Historie ge- Auch jenseits von Angebot und Nachfrage gen den Menschen wenden? wirken die globalen Wirtschaftskräfte. Kultur- pessimisten behaupten damals wie heute, die Nichts von alledem. Die Familie Normalver- Welt orientiere sich stets am schnöden Mam- braucher erlebt die Folgen der Globalisierung mon. Dabei blieben die feinen Künste und alle täglich – und genießt sie. Im Supermarkt kauft edlen Werte auf der Strecke. Auch diese Visi- sie Papayas und Kiwis von fernen Gestaden, on wird durch die Geschichte widerlegt. Mit stellt sich Blumen aufs Vertiko, die am Vortag dem Welthandel blühte auch das Außer- aus Südamerika eingeflogen wurden, leistet ökonomische, so die Dichtung am Beginn der sich Erdbeeren vom Kap zu Weihnachten. Neuzeit sowie Drama und Singspiel im chine- Und sie sitzt zusammen mit zwei Milliarden sischen Reich der Mongolen, wie es Marco Menschen vor dem Bildschirm, wenn die Polo kennenlernte. Das wundert nicht. Denn Prinzessin der Herzen oder die deutschen Globalisierung bedeutet stets, Grenzen einzu- Fußballhoffnungen zu Grabe getragen wer- reißen, sich dem Wettbewerb und dem Neuen den. Der amerikanische und zugleich weltwei- zu stellen, es zu adaptieren, zu integrieren und te Nachrichtensender CNN gilt als eine Iko- neu zu befruchten. Deswegen ist der intole- ne des informierten Globalmenschen. Er rante Islam heute ebenso rückwärtsgewandt sucht im Internet das beste Angebot für Maß- wie der deutsche Christenmensch, der schon hemden oder die preisgünstigsten Automobi- die Nase rümpft, wenn seine Tochter mit ei- le, verschickt seine Botschaften per e-mail. nem Inder flirtet. Auch das ist Globalisierung, ebenso die Tatsa-

94 Gillies • marktwirtschaft.de

che, dass die Deutschen Jahr um Jahr den Ti- tel des Reiseweltmeisters erringen. Das sind die Folgen einer zusammenwachsenden Welt, in der Grenzen ihre Bedeutung verlieren. Der Vi- deorecorder im Wohnzimmer trägt zwar noch das Label von Siemens oder Philips, aber sein Innenleben kommt von weither.

Aber ganz tief drinnen liebt der Deutsche of- fenbar eher die Kartoffelchips als die Mikro- chips. Nur langsam – in Deutschland zu lang- sam – beginnt er die Chancen der vernetzten Kommunikation zu erkennen und zu nutzen. Freilich hat die Globalisierung vor den Wohl- stand den Wettbewerb gesetzt. Man muss die- ses Konkurrenzprinzip nicht mögen, aber von allen vergleichbaren Schlachtordnungen ist es nicht nur das humanste, sondern auch das ef- fektivste. Natürlich bekennt sich der Sieger zu „konkurrenzlos“ niedrigen Preisen an. Dar- leichter zu ihm als der Unterlegene, der be- aus folgt eine schmerzhafte Erkenntnis: Um schämt in den Konkurs entweichen muss. Die leistungsfähig zu bleiben, muss sich der Be- selbstverantwortete Freiheit, die das Recht auf trieb – weil und wenn er seine Kosten nicht Pleite einschließt, wird nie den bequemen Weg anzupassen vermag – einer neuen, reiferen planieren. Produktlinie widmen. Globalisierung beför- dert Innovation. Ein Herrenhemd ist heute in Hochlohn- ländern zu konkurrenzfähigen Preisen nicht Wohlstandsmotor Wettbewerb mehr zu nähen. Die europäische Haute Cou- ture wäre schon längst am Ende, gäbe es nicht Angelpunkt vieler Missverständnisse ist das die fleißigen Midinetten im ganz Nahen oder Bild vom Wettbewerb, der inneren Logik der sehr Fernen Osten. Globalisierung. Er vergrößert die Märkte al- ler – und zum Wohle aller. Er erleichtert den Wichtige Erkenntnis am Rande: Das Gesetz Transport von Gütern und Wissen, er feuert der komparativen Kosten, das so viele Arbeits- an und revolutioniert. Den Missmut der plätze in die weite Welt expedierte, sicherte Zivilisationskritik erregt er durch die schöpfe- auch solche daheim. Das vergessen seine Kri- rische Zerstörung: Jeder Newcomer auf dem tiker oft. Markt richtet seine Energien darauf, den je- weiligen Wettbewerber zu entthronen, wohl Jeder Betriebsrat muss sich irgendwann oder wissend oder ahnend, dass ihm selbst irgend- gar laufend mit den Folgen des weltweiten und wann das gleiche Schicksal bevorstehen könn- beinharten Wettbewerbs befassen. Da arbeiten te. Seine Hoffnung ist freilich, dass ihm aus- Polen und Portugiesen auf der Baustelle zum reichend Zeit für eine möglichst rentable Pro- halben Lohn und vertreiben die Altsassen von duktion verbleibt. Die wirtschaftliche Pro- ihrem warmen Arbeitsplatz. Da bietet die duktion und das Wissen sind, so bitter es für Konkurrenz aus Taiwan das eigene Produkt Besitzstandswahrer klingen mag, auf stete Zer-

95 Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance

störung gerichtet. Abweichende Annahmen illusionslos. Auf die Spitze getrieben: Welches wären naiv. Interesse hat ein brasilianischer oder koreani- scher Arbeiter, auf seine preisgünstige Produk- Die Effizienzsteigerung der Weltmärkte hat tion nur deshalb zu verzichten, damit im fer- im Laufe ihrer Erfolgsgeschichte so viel Res- nen Europa bei Krankheit der volle Lohn, sourcen erwirtschaftet, dass daraus ein in der Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie üppige Geschichte einmaliges soziales Netz geknüpft Renten gezahlt werden können? Antwort: kei- werden konnte. Mit steigender Verflechtung nes. blieben sogar soviel Mittel übrig, dass auch vieles subventioniert wurde, was Leistung Vielmehr bietet die weltweite Vernetzung den bringen könnte, aber es nicht mag. Das gilt Entwicklungs- wie den Schwellenländern die für sterbende Schornsteinindustrien wie für einmalige Chance, vom wachsenden Kuchen die cleveren Abkassierer. Geschützt wurde endlich auch ein Stück zu erhaschen. Das ist nicht der Wettbewerb, sondern vor dem ungleich bedeutender als die beste Entwick- Wettbewerb, damit aber gleichzeitig vor sei- lungshilfe. Den ärmeren Ländern diesen Aus- nen wohlstandssteigernden Folgen. weg aus ihrem Elend zu versperren oder zu verbieten ist inhuman. Der Wettbewerb im Dass hungrige Volkswirtschaften auf saturier- Welthandel ist kein Nullsummenspiel, weil te treffen, erklärt nur einen geringen Teil der ständig neue Märkte und damit zugleich neue Arbeitslosen- und Sozialprobleme. Wettbe- Chancen entstehen. Internationale Untersu- werb und Globalisierung sind nicht am Ende chungen ergaben, dass Handelswachstum un- des zweiten Jahrtausends erfunden worden. ter dem Strich mehr Arbeitsplätze entstehen Neu ist nur das gestiegene Tempo der Mobili- lässt, als vernichtet werden. Bestehende Han- tät. Sie begrenzt die Umverteilung rasch und delsschranken abzubauen, ist wie ein warmer

Löwen, Gazellen und der Wettbewerb

Eine ebenso putzige wie treffende Metapher für die Effizienz- samen vermehren. So beeinflusse jeder Teilnehmer – ganz steigerung durch den Wettbewerb fand der Tiefseetaucher gegen sein ursprüngliches Interesse – die Höherentwicklung Hans Hass in einem Buch über Management. Er vergleicht und Höchstleistung des jeweils anderen. die Konkurrenz an den Märkten mit dem Kampf zwischen Ist aber der globalisierte Wettbewerb nicht zu einem solchen Räuber und Beutetier, in diesem Fall zwischen Löwe und Raubtierkäfig geworden, in dem Jäger und Gejagte unter Gazelle. Kein Löwe sei an Gazellen interessiert, die schnel- Mutationsstress einer zwanghaften Höherentwicklung zutrei- ler laufen können als er selbst, denn dann würde er verhun- ben? Hier endet der Vergleich, denn es kommt der mensch- gern. Und doch sei es genau der Löwe, der die effiziente liche Sozialstaat ins Spiel. Er wurde geschaffen, um die we- Auslese bewirke. Denn er reißt die langsamen Gazellen (die niger Leistungsfähigen vor den brutalen Formen der Auslese sich also nicht fortpflanzen) und verschont die flinkeren, weil zu schützen. Im Bilde von Hans Hass: Sozialhilfe für die sie ihm entwischen. schlappen Löwen und die langsamen Gazellen. Das Pro- Die Folgen bei der Gazelle seien ähnlich. Denn sie habe blem freilich liegt darin, dass im Nachbargehege, dessen wahrlich kein Interesse an ständig leistungsfähigeren und Tore sich immer weiter öffnen, die Leistungsschwächeren schnelleren Löwen. Dennoch verursacht sie durch ihre Mu- vom Heger nicht gleichermaßen vor der Auslese geschützt tationen genau diese. Den langsameren Löwen entkommt werden. Prallen sie im freien Feld aufeinander, ist das Schick- sie, weshalb sich die schnellen Räuber auf Kosten der lang- sal der Geschützten besiegelt.

96 Gillies • marktwirtschaft.de

Wohlstandsregen für die wirtschaftliche Frei- schäftigung nahe sind. Das trifft für die USA, heit der Menschen. Kanada, Irland, die Niederlande, Neuseeland, Großbritannien und andere zu. Keineswegs Populäre Trugschlüsse sind dort nur minderwertige „McJobs“ an den Theken von Ham- Der wichtigste Treibsatz der Entwicklung burgerbuden ge- Je stärker die weltweite Arbeitsteilung sind die direkten Investitionen des einen im schaffen worden. vorangetrieben wird, desto mehr anderen Land. Sie spiegeln die Suche nach dem Der Aufschwung erhöhen sich die Realeinkommen. jeweils attraktivsten Standort wider. Hier hat- erfasste ebenso hef- Die EU profitierte am meisten von der Verflechtung. Die dynamischsten tig die qualifizierten te Deutschland – wie mehrere Industrieländer Regionen mit besonders hohem – über Jahre schlechte Karten. Erst in jüngster Produktions- und Pro-Kopf-Wachstum der Einkommen Zeit hat der Standort Deutschland wieder et- Dienstleistungsbe- waren freilich Südostasien und das was gewonnen. Aber bis weit in die neunziger rufe. In den Län- pazifische Becken. Jahre sind die ihm zufließenden Direkt- dern mit stark stei- investitionen um rund ein Drittel ge- gender Beschäftigung entfielen in der ersten schrumpft, jene nach Südostasien, Südameri- Hälfte der neunziger Jahre rund zwei Drittel ka sowie Mittel- und Osteuropa dagegen kräf- auf Berufe mit überdurchschnittlichen Ver- tig gewachsen. Das bedeutet, dass Investoren diensten. zwar um manche Regionen einen großen Bo- gen schlagen, aber nicht, dass damit schon Richtig ist aber, dass die Weltwirtschaft die Arbeitsplätze abgebaut, weil exportiert wer- Souveränität der Nationalstaaten beschneidet, den. Die spitzen Jubelrufe über die deutschen je näher sie zueinanderrücken. Wenn jeder Exporterfolge sollten freilich mit einem ande- Produzent global um jeden Kunden buhlt, ren Argument verknüpft werden: Der Markt- können extreme nationale Standards für die anteil der deutschen Wirtschaft am Welthan- soziale Sicherung und die Lebensqualität nicht del sank stetig. mehr durchgehalten werden. Die Globalisie-

Die Bedingungen und die Kosten der Arbeit bleiben trotz Verflechtung eine Hausaufgabe. Globalisierung begünstigt Dynamik der Dass, wer sich ihr ergibt, in der Globa- Entwicklungsländer lisierungsfalle verende, ist ein Trugschluss, wenngleich – siehe oben – ein populärer. In Bruttoinlandprodukt (real) und Ausfuhren der Industrie- länder und der Entwicklungsländer 1990 bis 1998 den 29 Ländern der Organisation für Wirt- 1990 = 100 schaftliche Entwicklung und Zusammenar- beit (OECD) wuchs die Beschäftigung in den 160 200 Entwicklungsländer letzten drei Jahrzehnten um mehr als ein Drit- Entwicklungsländer 175 tel, freilich in Europa – Ausnahmen: Nieder- 140 lande, Norwegen, Irland – am schwächsten. 150 Allerdings stieg die Erwerbsbeteiligung, vor 120 allem die der Frauen stark. 125

Industrieländer Dass die Globalisierung kein Jobkiller ist, 100Industrieländer 100 zeigt sich an Ländern, die trotz (oder wegen?) 89 92 95 98 89 92 95 98 des verschärften Wettbewerbs geringe Arbeits- Bruttoinlandsprodukt Exporte losenraten verzeichnen oder gar der Vollbe- Quelle: SVR

97 Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance

rungsskeptiker nennen dies das Souveränitäts- Vom beschworenen Ende des Sozialstaates Dilemma. Anders gewendet: Die Weltmärkte kann wenigstens so lange keine Rede sein, wie dulden nationalen Unfug nicht mehr, im üb- die Mittel für ihn ständig steigen. Das ist in rigen auch keine Kriege. So ist eine funk- Deutschland der Fall. Die Sozialleistungen tionierende Arbeitsteilung nicht nur ein Bei- sind auch in der Europäischen Union ständig trag zum Welthandel, sondern auch zum Welt- geklettert, und zwar ständig schneller als die frieden. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihrer Mit- gliedstaaten. Für das dynamische Sozialwachs- Denationalisierung bedeutet Machtbeschnei- tum, absolut und pro Kopf, ist auch nicht die dung. Ein Staat, der sich in Omnipotenz wiegt deutsche Wiedervereinigung verantwortlich und seine Bürger – als verfügte er noch über zu machen. Das Wachstums- und Beschäfti- geschlossene Grenzen – mit konfiskatorischen gungsproblem liegt darin, dass die Sozialleis- Steuern und Abgaben belastet, katapultiert tungen gestiegen, die Investitionen jedoch zu- sich und seine Wirt- rückgeblieben sind. Es ist belegt, dass die Billigkonkur- schaft rasch aus dem renz von Entwicklungs- und Markt. Wenn er so- Abgeschottet in die Sackgasse? Schwellenländern nur dann zu ziale Verheißungen Arbeitslosigkeit von Geringqualifizier- zu gewähren sucht, Der von außen beförderte Disziplinierungs- ten führt, wenn die Industrieländer eine Lohndifferenzierung zwischen die seine Bewohner druck legt diese Versäumnisse schonungslos qualifizierter und gering qualifizierter nicht erarbeiten und offen und mahnt dazu, Übertreibungen abzu- Arbeit nicht zulassen. er sich deswegen zu schneiden. Damit und durch technische Inno- hoch verschuldet, vation würde Arbeit auch in Hochlohnlän- versündigt er sich nicht nur an den künftigen dern wieder konkurrenzfähiger. Durch Generationen, sondern an seiner aktuellen Abschottung gegen die Globalisierung sind Konkurrenzfähigkeit. Er gerät in eine Ab- die üppig ausgestatteten und konkurs- wärtsspirale, aus der er sich nur mit Reformen bedrohten Sozialsysteme jedenfalls nicht zu befreien kann, die ein Ziel haben sollten: Wie- retten. Gemeinsame Standards – beispielswei- derherstellung seiner Wettbewerbsfähigkeit. se in Europa – zu verabreden, um zu retten, was nicht zu finanzieren ist, führt in die Sack- Der Zwang zu Disziplin, Vernunft und gasse. verteilungspolitischem Augenmaß ist vermut- lich die wichtigste Wirkung von Globali- Die Versuchung zur Abschottung ist leider sierung. Behäbigkeit, wie sie Deutschland, auch eine supranationale. Über den Preis- Frankreich, Italien und andere an den Tag le- gesängen zur europäischen Integration wird gen, wird abgestraft – beispielsweise durch leicht vergessen, dass die Blockbildung – nied- Arbeitslosigkeit. Das Beschäftigungsproblem rige Zölle und günstige Konditionen im In- wird nicht durch Lohndruck, sondern durch nern, hohe Mauern nach außen – nicht in die mangelnde Flexibilität erzeugt. Man blockt Zukunft weist. Das gilt für die Europäische sich durch Mindeststandards ab, durch Union und für das Nordamerikanische Han- Arbeitsverbote, kollektive Regelungsmecha- delsabkommen Nafta ebenso wie für Asean, nismen, abschottende Kartelle, kurzum durch Mercosur und andere Blöcke. Zwischen die- Abwehr des Anpassungsdrucks, statt durch sen Oligopolisten herrscht zwar Wettbewerb, dessen wendige Aufnahme. Das Problem aber „Grenzverletzern“ drohen Sanktionen. kommt nicht schicksalhaft über uns, sondern Sie beschneiden ihre Freiheiten und behindern ist hausgemacht. deren Entfaltung.

98 Gillies • marktwirtschaft.de

Die Seidenstraßen des Mittelalters sind die Glas- Milliarden von Devisen blitzschnell um den fasern von heute. Sie transportieren annähernd Globus befördert werden. Die Gelder von mit Lichtgeschwindigkeit nicht nur Daten und Anlegern, Unternehmen und Finanz- Informationen, sondern auch Kapitalströme. institutionen spüren auch feinsten Rendite- Dass dreistellige Dollarmilliarden täglich per unterschieden nach Mausklick um den Globus huschen, ist per se und nutzen sie. Die- Die Versuche, mit Handelsschranken noch kein Anlass zur Sorge. Zwei Gründe mah- se gewaltigen Fi- den Wettbewerb zu bremsen, um nen jedoch zur Umsicht: Erstens haben sich nanzströme haben das heimische Lohn- und Sozial- die Finanzströme mitunter sehr weit von der sich bisweilen weit niveau zu zementieren, kennen nur Realwirtschaft entfernt und sind bisweilen in von der Realwirt- Verlierer, weil sie den wohlstands- schaffenden Freihandel blockieren. einen spekulativen und virtuellen Cyberspace schaft entfernt und Wer Branchen oder Bevölkerungs- entrückt. Noch wichtiger ist aber zweitens der führen in Form von gruppen, die vom Strukturwandel Anteil der „unbesicherten“ Milliarden, jener va- Derivaten ein Ei- bedroht sind, helfen will, sollte dies gabundierenden Bewegungen, die nicht durch genleben. Für Län- nicht mit Protektionismus versuchen. ein Gegengeschäft abgesichert sind. der, deren Währun- gen wackeln, sind sie eine ständige Mahnung Aus dieser Furcht hat ein Vorschlag Freunde zur Disziplin, nicht selten auch eine Gefahr. gefunden, der unmittelbar auf die finanziellen Dimensionen der Globalisierung wirken soll: Gut gemeint, aber untauglich: die Tobin-Steuer. Der Wirtschaftswissen- Die Tobin-Steuer schaftler James Tobin wollte, wie er gestand, „etwas Sand ins Getriebe internationaler Fi- Tobin unterstellt, dass vor allem die kurzfri- nanzmärkte streuen“ – durch eine prozentua- stigen und hektischen Kapitalbewegungen auf le Steuer auf alle Devisentransaktionen. Diese die Realwirtschaft durchschlagen und sie irri- Idee ist schon recht betagt. Der Nobelpreis- tieren. Deswegen sollte seine Steuer, ein Auf- träger von 1981 hatte 1972 in seinen Vorlesun- schlag für alle Devisenumsätze, die Ausschlä- gen in Princeton eine Steuer auf kurzfristige ge beruhigen. Damit würden spekulative Devisenbewegungen vorgeschlagen. Er wollte Geldbewegungen weniger attraktiv. Während damit einerseits die Finanzverantwortung in- die übergroße Mehrheit der Ökonomen die ternationalisieren, andererseits die Autonomie Idee für grundsätzlich falsch hält, ist sie unter der nationalen monetären Politik stärken und Politikern recht beliebt. Die Tobin-Steuer das System krisenresistent machen. kommt dem Regulierungsbedürfnis der Poli- tik entgegen. Frankreich hatte sogar versucht, Finanzkreise und Banken empfanden den Vor- sie auf die Tagesordnung des G 7-Gipfels 1995 schlag als gut gemeinte, liebenswerte Spinne- zu boxen. Das scheiterte vor allem an den rei. Tobins Vorschlag sprang frontal gegen den USA und Deutschland. damaligen Zeitgeist: Das feste Währungssy- stem von Bretton Woods brach gerade zusam- Wie funktioniert die Tobin-Steuer? Sie soll je- men und wurde durch flexible Wechselkurse den Devisentausch, jede Exportzahlung und abgelöst. Die Finanzwelt war optimistisch Direktinvestition, den Handel der Banken un- und brachte für neue Regulierungen nicht das tereinander – ausgenommen zwischen Zen- geringste Verständnis auf. tralbanken – belasten. Auf den Nennwert die- ser Transaktionen soll ein Malus gezahlt wer- Seither sind die Finanzmärkte jedoch mächtig den, wobei Sätze zwischen 0,05 und einem angeschwollen. Per Mausklick können heute Prozent ins Gespräch gebracht wurden. Tobin

99 Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance

waren jedoch die Fristen wichtig: Die Steuer einem Devisensteuersatz von 0,5 Prozent – zu soll nicht auf lang-, sondern nur auf kurzfri- rechnen. stige Geldbewegungen erhoben werden. Funktionieren könnte der Plan natürlich nur, Im Falle einer lediglich 0,5-prozentigen Steuer wenn alle Länder der Welt sich ihm unter- liefe das darauf hinaus, dass der Zins für Mo- würfen. Blieben auch nur einige abseits, wür- natsgeld um etwa ein Zehntel höher läge. In- de das Kapital sofort in diese Länder abfließen länder würden also sofort zögern, ihr Geld ins und in den Off-Shore-Zentren arbeiten. Die Ausland zu bringen, denn ein Zinsgewinn kleinen Länder haben also nicht das geringste wäre dann nicht zu erwarten. Damit könn- Interesse an der Steuer. ten, so die Tobin-Verfechter, Zahlungsbilan- zen stabilisiert werden. Zugleich gewönnen Aber auch andere dürften sich schwerlich da- die einzelnen Länder wieder Spielraum für mit anfreunden. Denn der Plan bedeutete die ihre nationale Zinspolitik zurück. Aufgabe der nationalen Steuerhoheit. Politi- ker aber pflegen ihre eigenen Steuerquellen zu Schwarze Devisenmärkte lieben, weil sie das wichtigste Mittel sind, um ihre Wähler zu beglücken. Einen besonderen Charme hat das Tobin- Modell für Umverteiler. Die Steuer soll vom Selbst bei globaler Durchsetzung und entspre- Internationalen Währungsfonds (IWF) kon- chend scharfen Kontrollbehörden gäbe es Aus- trolliert und erhoben werden. Das ein- weichmöglichkeiten. Anleger würden auf De- kommende Geld stünde für internationale rivate umsteigen, die Bildung von schwarzen Sozial- und Entwicklungshilfe bereit, auch für Devisenmärkten wäre wahrscheinlich. Wäh- den Umweltschutz und die Eindämmung der rungskrisen würden nicht beseitigt, sondern Armut. Die internationalen Hilfsorganisatio- nur verborgen, um hernach umso heftiger aus- nen wären nicht mehr auf die Beiträge der zubrechen. Geberländer angewiesen, sondern verfügten dann über eine eigene Steuerquelle. Nach gro- Politisch unterstützt wird der Plan in der Bun- ben Schätzungen wäre mit dem gewaltigen desrepublik nur von zwei Parteien: den Grü- Aufkommen von 500 Milliarden Dollar – bei nen und der SED-Nachfolgepartei PDS. „Zur Verminderung von Spekulation wollen Bünd- nis 90/Die Grünen eine Umsatzsteuer auf De- visengeschäfte erheben (Tobinsteuer). Der EU Gigantische internationale Finanzmärkte kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu, um auch in der OECD und schließlich weltweit Als Tobin seinen Vorschlag referierte, lag der tägliche monetäre eine solche Regelung durchzusetzen. Die be- Umschlag bei etwa 20 Milliarden Dollar. Heute dagegen wird er lastet langfristige Kapitalanlagen kaum; Spe- auf 1,3 Billionen Dollar pro Tag geschätzt. Bei einem Welthandels- kulationen mit minimalen Renditeunter- volumen von rund vier Billionen bedeutet das: An den internatio- schieden lohnen sich aber nicht mehr.“ Soweit nalen Finanzmärkten wird in nur drei Tagen der Gegenwert des das Wahlprogramm der Grünen. Die SPD ließ gesamtem Jahreswelthandels umgeschlagen. Dieses gigantische Wohlwollen erkennen, blieb aber bis heute Wachstum bereitet vor allem jenen Politikern Bauchgrimmen, die reserviert. Im bürgerlichen Lager ist man der misstrauisch gegenüber der Globalisierung sind und ihre nationa- Ansicht, die Steuer kuriere nur an Sympto- le Souveränität mit allen Mitteln bewahren oder wiederherstellen men, ohne die Ursachen von Wirtschafts- und wollen – selbst um den Preis von Regulierungen. Währungsturbulenzen anzugehen.

100 Gillies • marktwirtschaft.de

Gegen die Tobin-Steuer werden vor allem vier Aber ansonsten ist der kosmopolitische Denk- Argumente vorgebacht: Wenn der Devisen- ansatz als Replik auf die Globalisierung der markt durch die Steuer gedrosselt und verklei- einzig erfolgsverprechende. Im globalen Dorf nert wird, fallen die Währungsschwankungen liften Arbeitsteilung, ständiges Lernen und noch heftiger aus, als würde man sie durch Spezialisierung das Qualitäts- und Wohl- kurzfristige Geschäfte täglich ausgleichen. standsniveau stän- dig an. Damit ha- Zweitens spiegeln die Märkte wegen der Steu- ben alle Versuche, Politische Fehlleistungen werden von den internationalen Märkten un- er nicht mehr die wirklichen Auffassungen mit der heimischen nachsichtig abgestraft. Dann sind der Teilnehmer wider, sondern künstlich ver- Gelddruckmaschi- Schlachtrufe wie „Buy british!“ oder zerrte Fundamentaldaten. Der Wechselkurs ne die Nachfrage „Achetez français!“ ebenso lächerlich verlöre seine Kompassfunktion. anzukurbeln und wie „Deutsche, kauft deutsche Arbeitsplätze zu er- Bananen!“. Ob das dritte Gegenargument – Liquiditäts- zeugen, an Schlag- verlust und entsprechend hohe Währungs- kraft verloren. Wenn Unternehmen global schwankungen (Volatilität) – tatsächlich trägt, agieren (müssen), sind sie dem Zugriff der na- ist dagegen offen. Denn auch ohne kurzfristi- tionalen Wohlfahrtsstaaten entzogen. ge Bewegungen bleibt es bei großen Finanz- volumina. Der vierte Einwand ist ordnungs- Heilsamer Globalisierungsdruck politischer Natur: Devisenmärkte müssen, wenn sie ihre Marktausgleichsfunktion erfül- Dass Globalisierung Weltoffenheit erzwingt len sollen, immer offen und unreglementiert und die Krähwinkel-Politik ad absurdum sein; Eingriffe in diesen Mechanismus, zumal führt, ist kein Unglück. Gleiches gilt für den nationale, verzerren stets den Wettbewerb. damit einhergehenden Machtverlust korpora- Schließlich ist die Mobilität des Kapitals eine tistischer Schutztruppen wie die Gewerk- wichtige Quelle des internationalen Wohl- schaften und Verbände. stands. Andererseits braucht das Transnationale den Wer diese Kräfte fürchtet, braucht sich ledig- „starken Staat“ auf globaler Ebene: Wer für lich an die Motive zu erinnern, die Kapital zur den Weltmarkt produziert, ist auf eine Abwanderung bewegt: schlechte Standort- verlässliche Bandbreite von Standards für die bedingungen, hohe Steuern, starre Güter- und Umwelt, die Sicherheit der Nahrungsmittel Arbeitsmärkte, überfrachtete Sozialsysteme, und gewisse Normen angewiesen. Einen Wett- Bürokratenwillkür, Rechtsunsicherheit, Kor- bewerb der Standorte, der Steuer- und Sozial- ruption. Da das Geld immer zum besten Wirt systeme mag es weiter geben. Aber sie bedür- geht – wohin denn sonst? – hat ein Land nur fen keiner regulierenden Eingriffe, sondern le- für diese besten Bedingungen zu sorgen. Dann diglich jener globalen Fairness, wie ein braucht es auch keine Währungskrisen zu Schiedsrichter sie herstellt. Freilich muss die fürchten. Das Tobin-Konzept hat die Schwä- Politik, die im Nationalen verwurzelt ist, ihre che, dass es nicht möglich ist, „schlechte“ von heimische Regulierungswut drosseln und den „nützlichen“ Kapitalbewegungen zu trennen. Blick über Grenzen weiten. Die Befürchtung, Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass die Globalisierung sei eine Gefahr für Nord die Freizügigkeit des Kapitals zu den großen – und Süd, für Industrie- wie für Entwicklungs- auch wohlstandsschaffenden – Errungenschaf- länder, wird gegenstandslos, wenn die natio- ten der letzten Jahrzehnte zählt. nale Politik diese „Entmachtung“ akzeptiert.

101 Globalisierung – keine Falle, sondern eine Chance

Angst ist gerade angesichts der vermeintlichen keit nie zurückfallen. Lassen sie darin nach, „Globalisierungsfalle“ ein schlechter Ratgeber. werden sie durch die Märkte abgestraft – un- Gefragt ist vielmehr der Mut, den Globalisie- ter anderem durch Arbeitslosigkeit oder ande- rungsdruck zu akzeptieren, Versuchungen der re Wohlstandsverluste. Trainingsläufe dafür Abschottung gegen den internationalen Wett- sind beispielsweise die neue Europawährung bewerb zu widerstehen und stattdessen das zu Euro oder die Agenda zur Erweiterung der tun, was ohnehin zu tun ist: die Arbeitsmärk- Europäischen Union. Um beides zu vollen- te, die soziale Sicherung und das Steuersystem den, müssen zuvor Reformen bewältigt wer- so auszutarieren, dass sie zukunftsfähig werden. den. Verweigern die Nationalstaaten sie, ist das Scheitern auch der ehrgeizigsten Visionen und Die Globalisierung ist der ökonomische Im- Bündnisse programmiert. In Abwandlung ei- perativ für alle Staaten, ihre nationalen Sozi- nes Aphorismus’ von Karl Schiller über die al-, Steuer-, Markt- und Kostenbedingungen Stabilität: globalization begins at home. Dann jeweils so rasch an internationale Standards an- verliert die Globalisierung ihren medialen zupassen, dass sie in ihrer Wettbewerbsfähig- Schrecken und eröffnet neue Chancen.

102 Peter Gillies

Der Verfasser dieser Schrift, Berliner vom Jahrgang 1939, ist freier Journalist und Autor der Tageszeitung „Die Welt“, deren Chefre- dakteur er sechs Jahre war. Der gelernte Bank- kaufmann studierte Betriebswirtschaft an der Freien Universität Berlin (Diplom-Kauf- mann) und promovierte 1989 in Gießen (Dr. rer. pol.). Zwischen 1966 und 1995 Redakteur und Korrespondent in Hamburg, Bonn und Berlin. Peter Gillies wurde mehrfach ausge- zeichnet, u.a. 1983 mit dem Ludwig-Erhard- Preis für Wirtschaftspublizistik und 1990 mit dem Karl-Bräuer-Preis. Heute lebt der Autor von marktwirtschaft.de bei Bonn.

103