Nicht dass auch Schilys Stuhl wackelte, im Gegenteil. Keiner sitzt so fest an Schrö- ders Seite wie der Innenminister, selbstsi- cher bis zur Arroganz. Für die Grünen – und damit für den Koalitionsfrieden – hat sich der Ex-Grüne in der Regierung als permanente Provokation etabliert. „Der Otto kündigt jede Art von Kollegialität in der rot-grünen Koalition auf“, schimpft der grüne Abgeordnete Cem Özdemir. Wie ernst die Lage ist, wurde den Spit- zenleuten am späten Donnerstagabend beim Koalitionsgipfel im Kanzleramt klar, wo es laut Vizekanzler „klar, hef- tig und nicht immer schön“ zur Sache ging. „Und Sie bestimmen nicht, wann ein Ge-

setzentwurf ins Kabinett kommt“, fauchte GUENSCHE / MELDEPRESS MAREIKE Schröder die Spitzen-Grüne Mazedonien-Abstimmung im *: „Abgeordnete nicht wie Kinder behandeln“ an, als die den engen Terminplan in Sachen Zuwanderungsgesetz in Frage stellte. Grü- diese diplomatische Floskel konnte sich die schließlich nicht der Generalmanager der nen-Fraktionschef Rezzo Schlauch analy- Koalition nicht verständigen. Außenminis- Grünen“ – kann als neutral gelten, sieht er sierte in der kleinen Runde, dass die Part- ter Fischer, aus der Nahostkrise mittler- doch die Radikalopposition seiner Partei ner wohl bei keinem Thema so weit aus- weile an Vermittlerrollen gewöhnt, suchte mit genauso viel Skepsis wie die Sturheit einander seien wie bei der Zuwanderung. nach Anknüpfungspunkten zwischen den seines Freundes . Spät in der Nacht erklärte Grünen-Chefin verfeindeten Lagern. Er selbst – „ich bin Doch viel gebracht haben die Vermitt- Roth lapidar, der „Dissens ist festgestellt“. lerdienste nicht. „Das Thema langsam run- „We agreed to disagree“, auf mehr als * Am 29. August. terzufahren“, rät ein führender Grüner an- Die Abweichler der SPD-Fraktion

Die 19 SPD-Abgeordneten, die gegen die Beteiligung am Nato-Einsatz in Mazedonien Christine Lehder, 48, gestimmt haben, sind keine homogene Diplomingenieurin Gruppe. Im SPIEGEL legen sie ihre Gründe dar. „Ich habe lange überlegt. Der Balkan braucht eine Gesamt- strategie, keine sporadischen , 45, Einsätze, deren Ausgang Gewerkschaftssekretär ungewiss und gefährlich ist.“ „Die Nato-Strategie auf dem Balkan ist gescheitert, weil sie nicht dazu bei- trägt, dass Frieden in der Christa Lörcher, 60, Region entsteht.“ Lehrkrankenschwester FOTOS: DEUTSCHER BUNDESTAG DEUTSCHER FOTOS: „Mein Vater hat im Ersten Welt- Peter Dreßen, 58, „Ich habe ein fast unend- krieg in der russischen, im DGB-Kreisvorsitzender liches Vertrauen in die Zweiten in der deutschen Ar- „Ich bin Kriegswaise und Bundesregierung. Da mee gekämpft. Militäreinsätze Organisator von vielen sind kein Mittel der Politik.“ Friedensdemos. In diesem Fall gibt es nur eine Grenze: konnte ich nicht anders.“ mein Gewissen.“ Christine Lucyga, 57, Götz-Peter Lohmann, 59, Fremdsprachenlehrerin Harald Friese, 56, Diplompsychologe „Mir waren zu viele Fragen Bürgermeister a. D. Der Mecklenburger Abgeordnete war offen. Ich hatte große Beden- „Ich befürchte, dass die Politik bis 1989 parteilos und stieß über ken, dass die Bundeswehr in in eine Gewaltfalle läuft wie die DDR-Bürgerrechtler vom Neuen ein militärisches Abenteuer schon im Kosovo. Politische Forum zur Politik. hineingezogen werden könnte.“ Konflikte können nicht mit Soldaten gelöst werden.“

Rüdiger Veit, 52, Wolfgang Grotthaus, 54, Adolf Ostertag, 62, Rechtsanwalt Angestellter Gewerkschaftssekretär „Die Mission hat nicht mal „Ich möchte nicht Eltern „Mit 18 habe ich den Kriegs- eine symbolische Wirkung. gegenübertreten müssen, die dienst verweigert, ich bin Stattdessen werden wir Stück sagen: Du bist schuld daran, Pazifist. Ich habe noch nie für Stück in einen Bürgerkrieg dass unser Sohn im Zinksarg für einen Auslandseinsatz der hineingezogen.“ zurückgekommen ist.“ Bundeswehr gestimmt.“

28 der spiegel 37/2001 Freie Meinung SPD-Generalsekretär Franz Bruch der Koalition geht“. Mehrmals Praktisch jeder grüne Funktionär, erzählt Müntefering droht den 19 Ab- sprach der sonst so moderate Schwabe vom etwa Bundesumweltminister Jürgen Trit- weichlern seiner Partei, die gegen Ende der Zusammenarbeit und forderte tin, habe in seiner politischen Arbeit per- den Mazedonien-Einsatz gestimmt die Abgeordneten auf, in den nächsten sönliche Erfahrungen mit dem Schicksal haben, mit Nachteilen. zwei Wochen in ihren Heimatzeitungen ausländischer Flüchtlinge gemacht. Finden Sie das in Ordnung? Stimmung gegen Schily zu machen. Angeschärft wird der Konflikt durch die Wie tief der Graben zwischen SPD und Positionskämpfe für die anstehenden Lis- Befragte Anhänger Grünen ist, davon konnten sich am vergan- tenaufstellungen zur Bundestagswahl. Par- gesamt West Ost der SPD genen Mittwoch die in Berlin versammelten teichef Kuhn sah sich unter Druck mächti- deutschen Botschafter überzeugen. Bei ei- ger Landesvorsitzender seines eigenen JA 12 11 18 17 ner Konferenz des Auswärtigen Amtes Realo-Flügels. Der bayerische Parteichef referierte Schilys Staatssekretär Claus , einer der Wortführer des NEIN 71 72 65 75 Henning Schapper ausführlich über die Basis-Protests gegen den Gesetzentwurf, Bestimmungen des Gesetzentwurfs zur Re- informierte seine Partei per Brief darüber, NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 4. bis 6. form der Zuwanderung und des Auslän- dass er ab 2002 im Bundestag persönlich September; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe derrechts. Dann erklärte die neben ihm „konsequent dagegenhalten“ wolle, wenn sitzende Ausländerbeauftragte Marieluise „Gauweiler, Stoiber und – leider – manch- Beck (Grüne) den verdutzten Diplomaten, mal auch Schily den Karren des Rechts- gesichts der Schwere des Konflikts. Einen warum genau diese Reform dem „Ansehen staats in den Dreck ziehen wollen“. Konsens in der Ausländerfrage von der Deutschlands in Europa und der Welt“ Bei der Fraktionsklausur vor dem Union bis zu den Grünen zu stiften, wie es schade, EU-Standards unterlaufe und zum abendlichen Koalitionsgespräch im Kanz- Otto Schilys Ziel war, habe sich als nicht Beispiel das deutsch-türkische Verhältnis leramt hatten die Abgeordneten vergange- machbar erwiesen. bedrohe. nen Donnerstag nacheinander den Kropf Andere Grüne feuerten die eigenen Leu- Für die Grünen, so die einhellige Ana- geleert über das unmögliche Verhalten te nur noch weiter an. Parteichef Fritz lyse an der Berliner Spitze, ist das Thema Schilys. Spätestens da wurde Schlauch und Kuhn nannte die Zuwanderung am Freitag Zuwanderung ähnlich sensibel wie der Fischer klar, dass sie ihre Parteifreunde eine „so ernsthafte Frage, dass es bis zum Krieg im Kosovo und der Atomausstieg. von der Palme herunterholen mussten.

Renate Gudrun Roos, 56, Rennebach, Sekretärin, Nachrückerin für 53, Angestellte „Seit Jahrzehnten lautet meine „Ich bin Pazifis- tiefe Überzeugung: Militär tin und werde kann weder Frieden schaffen gegen jeden noch erhalten.“ Einsatz deutscher Soldaten stimmen. Ich habe Struck ge- René Röspel, 37, sagt: Ich kann es nicht.“ Biologe „Meine Begründung ist die gleiche wie bei Kosovo und Ost- FOTOS: DEUTSCHER BUNDESTAG DEUTSCHER FOTOS: Timor: Ich bin gegen die Konstanze „Die deutsche Außenpolitik wird Entsendung deutscher Soldaten Wegner, 63, durch die kriminellen Machenschaf- ins Ausland.“ Historikerin ten der UÇK instrumentalisiert. Da- „Ich glaube Hansjörg Schäfer, 57, nicht, dass die durch kann ein dritter albanischer Gynäkologe UÇK wirkungs- Krieg entstehen – in Montenegro.“ „Für den Nato-Einsatz gibt es kein voll entwaffnet Uno-Mandat. Die Nato ist für wird. Sie wird sich wieder Konrad Gilges, 60, Fliesenleger die Entwaffnung ungeeignet, weil neue Waffen beschaffen.“ Der Kölner stimmt seit jeher konsequent auf Parteitagen sie einige auf dem Balkan für und im Parlament gegen jeglichen Militäreinsatz. Sein parteiisch halten.“ Pazifismus wird deshalb selbst in der Fraktionsspitze ak- zeptiert. Sigrid Skarpelis-Sperk, 56, Volkswirtin „Wenn die politischen Möglichkeiten „Wenn man ein Feuer löschen ausgeschöpft sind und Militär- will, sollte man nicht gegen den Rauch vorgehen, sondern präsenz erforderlich ist, dann ist die gegen den Brandherd. Und das Uno zuständig und nicht die Nato.“ ist die UÇK.“

Bernd Reuter, 60, Bauingenieur Waltraud Wolff, 45, Nach 22 Jahren im Bundestag tritt der unauffällige Schulleiterin Hesse 2002 nicht wieder an. Die Motive für sein überra- „SPD-Außenpolitik soll Friedens- schendes Nein werden von der Fraktionsspitze an- politik sein. Man kann nicht Frie- gezweifelt. Er habe sich dafür gerächt, dass der Kanzler den schaffen, indem man in 30 ihn bei einem Besuch in seinem Wahlkreis nicht eingela- Tagen Waffen von den Verbrecher- den habe. „Das ist dummes Zeug“, empört sich Reuter. banden der UÇK einsammelt.“

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