180 Tage, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung 30 Jahre freie Wahlen zur Festschrift des Deutschen Bundestages

Berlin, 12. März 2020

180 Tage, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung Festschrift des Deutschen Bundestages 6 Programm der Ausstellungseröffnung 8 Vorwort 10 Begrüßung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble 16 Grußwort der ehemaligen Präsidentin der Volkskammer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl 24 Moderiertes Gespräch zum Wirken der Volkskammer

Dokumentation der Ausstellung 32 „180 Tage, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung: 30 Jahre freie Wahlen zur Volkskammer“ Der Weg zu freien Wahlen Der Wahlkampf Der Wahltag Die 10. Volkskammer Die Wiedervereinigung

$XIGHU,QWHUQHWVHLWHGHV'HXWVFKHQ%XQGHVWDJHVğQ- Inhalt den Sie unter https://www.bundestag.de/volkskammer weitere Informationen zum Thema Volkskammer sowie eine kurze Reportage über die Ausstellung.

2 Ausstellung in der Halle des Paul-Löbe-Hauses zur Feier des 30. Jahrestages der freien Wahlen zur Volkskammer.

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180 Tage, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung Festschrift des Deutschen Bundestages

Empfang der ehemaligen Volkskammerabgeordneten im Deutschen am 12. März 2020

5 Georg Friedrich Händel (1685 – 1759) Auszüge aus den Wassermusik-Suiten, Arr Frederic Mills, gespielt vom Blechbläserquintett des Deutschen Symphonie-Orchesters Falk Maertens, Trompete; Raphael Mentzen, Trompete; Antonio Adriani, Horn; Andreas Klein, Posaune; Johannes Lipp, Tuba

Begrüßungsansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Wolfgang Schäuble

Grußwort der ehemaligen Präsidentin der Volkskammer Dr. Sabine Bergmann-Pohl

Filmeinspieler zur Arbeit der 10. Volkskammer

Programm der Ausstellungseröffnung

6 Moderiertes Gespräch zum Wirken der Volkskammer Ewald König, ehemaliger Korrespondent der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ Ines Arland, Moderation

Enrique Crespo (*1941) Spirituals „The Battle of Jericho“ und „Swing Low, Sweet Chariot“ gespielt vom Blechbläserquintett des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin Falk Maertens, Trompete; Raphael Mentzen, Trompete; Antonio Adriani, Horn; Andreas Klein, Posaune; Johannes Lipp, Tuba

Das Blechbläserquintett des Deut- schen Symphonie-Orchesters Berlin spielt zum Auftakt der Ausstellungs- eröffnung.

7 Auch das Wählen will gelernt sein. Am 18. März 1990 entschieden die DDR-Bürgerin- nen und -Bürger erstmals in freier Wahl über ihre Volksvertretung. 12,4 Millionen Bürgerin- nen und Bürger konnten unter 24 Parteien und Wahlbündnissen wählen, die sich für einen Sitz in der Volkskammer bewarben. 93,4 Prozent machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Damit ihre Stimme auch tatsächlich zählte, hatte die Wahlkommission der DDR schon im Vorfeld, aber auch am Tag der Wahl Aufklärungsarbeit geleistet. Daran erinnerte die Ausstellung „180 Tage, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung. 30 Jahre freie Wahlen zur Volkskammer“ im Paul-Löbe- Haus, die am 12. März 2020 von Bundes- tagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) eröffnet wurde. Mit nur einem Kreuz sollten die Wählerinnen und Wähler die Liste ihrer Wahl kennzeichnen, war auf der Informations- tafel der Wahlkommission zu lesen, die in der Ausstellung zu besichtigen war. Und – ganz wichtig: Der Besuch der Wahlkabine war 3ĠLFKW)đUGLH0HQVFKHQLQGHU''5GHUHQ Wahlvorgang bislang im Falten und Einwerfen eines Wahlzettels bestand, ein Novum. Die Hinweise, die sich handgeschrieben auch am Eingang von Wahllokalen fanden, zeigten Wirkung: Lediglich 0,5 Prozent der Stimmen waren ungültig.

Vorwort

8 Die Ausstellung warf auch einen Blick auf den Wahlkampf. Bunt war er und teils von Pro- tagonisten aus dem Westen geprägt. Helmut Der überwiegenden Zahl von ihnen fehlte jede Kohl warb für die CDU, für die politische Erfahrung. Das galt auch für die SPD. Auch die schon seit dem 9. November damals 43-jährige Ostberliner Lungenfachärz- 1989 nicht mehr trennende Mauer wurde mit tin Sabine Bergmann-Pohl, die Mitglied der Wahlplakaten beklebt. CDU (Ost) war und damit zur Wahlsiegerin „Allianz für Deutschland“ gehörte. Bergmann- Klarer Wahlsieger wurden mit rund 48 Prozent Pohl fungierte in den dann folgenden sechs die Parteien der „Allianz für Deutschland“, in 0RQDWHQELV]XU6HOEVWDXĠùVXQJGHU9RONV- der sich CDU (Ost), Demokratischer Aufbruch kammer als Parlamentspräsidentin. Während (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU) der Ausstellungseröffnung erinnerte sich die zusammengeschlossen hatten. Zweitstärkste heute 73-Jährige vor den vielen geladenen Kraft wurde die SPD (Ost) mit 21,8 Prozent – damaligen Volkskammer-Abgeordneten an gefolgt von der PDS mit 16,3 Prozent. diese „turbulente und ereignisreiche Zeit“. Sie blicke mit Stolz auf die Arbeit der 10. Volks- Für die Tageszeitung „“ kammer zurück. „Wir waren keine parlamen- war es ein „überraschend klarer Sieg der tarischen Routiniers, aber wir waren uns der konservativen Allianz“. Die Bild-Zeitung Verantwortung für unser Land bewusst“, sagte bejubelte das „Ja zur Einheit, zur Freiheit, zu Bergmann-Pohl. Deutschland“. Und auch bei der Tageszeitung „Die Welt“ war von einem „sensationellen Sieg Bundestagspräsident Schäuble äußerte in sei- von CDU und DSU“ die Rede, von dem das nem Grußwort großen Respekt gegenüber den Blatt „schnelle Schritte zur Einheit“ erwartete. Volkskammer-Abgeordneten. „Sie haben die Die Schlagzeilen dieser und anderer Tages- gesetzlichen Voraussetzungen für die Einheit zeitungen am Tag nach der Wahl zeigte die unseres Landes geschaffen“, sagte er. Die Ab- Ausstellung ebenso. geordneten hätten die Aufgabe übernommen, „die Gegenwart zu gestalten, die Vergangen- Aufgeführt wurden auch die Namen der 400 heit zu bewältigen und die Weichen für die Abgeordneten, die der ersten und einzigen Zukunft zu stellen“, und damit Geschichte freien Volkskammer angehörten. geschrieben.

9 Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor 70 Jahren, im Oktober 1950, fanden die ersten Volkskammerwahlen statt. Wahlen, bei denen es nichts zu wählen gab – außer einem einzigen Wahlvorschlag: der Einheitsliste. Das entsprach ganz dem entlarvenden Parlaments- verständnis, wie es der erste Volkskammer- präsident formuliert hatte: „Wir sind und waren kein Parlament, das Phra- sen drischt, zum Fenster hinaus redet und die Staatsbürger mit Parteiengezänk verwirrt. [...] Wo uns Meinungsunterschiede trennten, da ha- ben wir sie miteinander [...] ausgetragen und am Ende solchen Ringes stand immer und in jedem Fall wieder die Einheit, die Gemeinschaft.“

Begrüßung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble

10 In diesem sogenannten Parlament gab es in den folgenden vier Jahrzehnten keine kon- troversen Debatten und keine kritischen Zwischenrufe, dafür aber so gut wie immer einstimmige Beschlüsse. Die Volkskammer war ein reines Akklamationsorgan der Das letzte Jahr war „das schönste Jahr der Ein-Parteien-Herrschaft – bis diese Diktatur DDR“. Das stammt nicht von mir, sondern aufhörte zu funktionieren. Bis die Bürger sich das haben Jens Reich und selbst ermächtigten, die Vertreter der alten formuliert. Es war das Jahr, in dem die DDR Macht an die Runden Tische zwangen und einlöste, was ihr Name seit der Gründung nur die ersten demokratischen Wahlen zur Volks- zum Schein vorgab: eine Demokratie zu sein. NDPPHUGXUFKVHW]WHQ'HU%HVFKOXVVğHO gleich in der ersten Sitzung des Zentralen Der Prozess der Demokratisierung begann Runden Tisches am 7. Dezember 1989. nicht erst am 18. März vor 30 Jahren: Im Spätherbst hatte die alte Volkskammer die Die Ausstellung zeichnet die Entwicklung führende Rolle der SED aus der Verfassung vom Zeitpunkt dieser Entscheidung bis zur gestrichen, die Ost-CDU und die LDPD waren ersten Sitzung des gesamtdeutschen Bundes- aus dem sogenannten Demokratischen Block tages am 4. Oktober 1990 nach. Aber natürlich ausgetreten, und an den Runden Tischen ver- täuscht die Chronologie: Was im Rückblick handelten Vertreter der Bürgerbewegung mit als folgerichtiges Nacheinander von Schritten den Machthabern über neue Wege. Im Dialog hin zur Deutschen Einheit erscheint, war in mit Funktionsträgern jenes Regimes, das sie Wirklichkeit eine Zeit sich überschlagender bespitzelt und drangsaliert hat. Es ging ihnen Ereignisse, voller Ungewissheiten, voller um Öffnung und demokratische Mitbestim- Hoffnungen und Überraschungen. mung – und um Gewaltlosigkeit.

„Sie haben Geschichte geschrieben. Es ist Ihr bleibender historischer Verdienst, die gesetzlichen Voraus- setzungen für die Einheit unseres Landes geschaffen zu haben – in Frieden und Freiheit“, so wendet sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble an die anwesenden ehe- maligen Volkskammerabgeordneten.

11 Der Ausgang der ersten freien Volkskammer- Die Runden Tische waren ein Forum des offe- wahlen war für viele von jenen, die Wider- nen Austauschs und der gemeinsamen Suche stand gegen die Staatsmacht geleistet und den nach Lösungen. Sie haben zugleich einen friedlichen Übergang an den Runden Tischen unschätzbaren Beitrag zum friedlichen Verlauf organisiert hatten, eine Enttäuschung. Und für des Umbruchs geleistet. alle anderen mindestens eine Überraschung. Lothar de Maizière, dem Wahlsieger, war Zur Eigenart der Ereignisse von 1989/90 damals anzusehen, dass er bereits am Wahl- gehört aber nicht allein ihr Charakter als abend die Last spürte, die das mehrheitliche Friedliche Revolution, sondern auch, dass Votum für eine schnellstmögliche Vereinigung die SED im neuen Gewand, unter neuem mit der Bundesrepublik bedeuten würde. Der Namen, in die Entwicklungen auch nach dem Dank dafür, dass Sie alle daran mitgewirkt Mauerfall eingebunden war. Es sind zwei haben, ist im Übrigen für die meisten gering Seiten der gleichen Medaille: das Glück des geblieben. friedlichen Umsturzes und die fortwirkenden Und etwas anderes wird oft übersehen: Verletzungen bei denjenigen, die unter dem Es waren die Bürger der DDR, die sich alten Regime gelitten hatten und nun mit damals mit großer Mehrheit für die staatliche ideologischen wie personellen Kontinuitäten Einheit entschieden – niemand sonst. umgehen mussten. Damit, dass auch ein Richard Schröder wird nicht müde, das zu er- „Wendehals“ im wiedervereinigten Land klären: Die DDR-Bürger haben in freien Wah- Karriere machen konnte – sicher auch ein len ihrer Volkskammer den Auftrag erteilt – Grund für manche Probleme, mit denen wir, und es war ein historisch beispielloser, weil er gerade meine Partei, heute zu kämpfen haben. auf die Selbstabwicklung hinauslief.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und die ehemalige Prä- sidentin der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl erinnern an die turbulente Zeit vor 30 Jahren.

12 als Parlament nach selbstgesetzten demokra- tischen Regeln so gut funktioniert hat. Dass innerhalb von drei Wochen eine Koalition gebildet war, die im Wissen um die Tragweite In der 10. Volkskammer saßen Vertreter von der anstehenden Entscheidungen über eine zwölf Parteien und Vereinigungen, sieben Zweidrittelmehrheit verfügte. Dass sich selbst Fraktionen – und so gut wie niemand, der nach dem Auseinanderbrechen der Koalition über Erfahrungen mit demokratischen Verfah- breite, fraktionsübergreifende Mehrheiten für ren verfügte. Mir sind noch manche hämische die bedeutendsten Beschlüsse der jüngeren Kommentare vornehmlich westdeutscher deutschen Geschichte fanden – trotz der Diffe- Provenienz im Ohr, die von der „Laienspiel- renzen, die es damals zwischen und teilweise truppe“ sprachen. Ein Vorwurf, den Frau auch innerhalb der Fraktionen gab. Bergmann-Pohl selbstbewusst mit dem Hin- Unter immensem zeitlichen Druck und unter ZHLVSDULHUWKDWņGDVVHVGLH3ROLWSURğVNDXP Arbeitsbedingungen, die mein Amtsvorgänger besser geschafft hätten“ – zumal unter den einmal als „offenkundig unzumutbar“ bezeich- damaligen Umständen. net hat, haben Sie, die Mitglieder dieser Volks- Tatsächlich kann es nicht erstaunen, dass in kammer, sich gleichzeitig damit befasst, die diesem Parlament nicht alles reibungslos und Gegenwart zu gestalten, die Vergangenheit zu erst recht nicht nach dem bewährten Bonner bewältigen und die Weichen für die Zukunft Muster verlief. Erstaunlich, dass nach 40 Jahren zu stellen. Auch wenn der Zug in Richtung ohne praktizierte Demokratie die Volkskammer Einheit auf die Gleise gesetzt war:

13 Das Startsignal konnten nur Sie geben: die ge- wählten Repräsentanten der Bürger der DDR. Anschluss unsere innerdeutsche Perspektive Sie haben Geschichte geschrieben. Es ist Ihr um einen Blick von außen weiten. Adam bleibendes historisches Verdienst, die gesetzli- .U]HPLðVNLGHUODQJMÃKULJHQ5HGDNWHXUGHV chen Voraussetzungen für die Einheit unseres polnischen Wochenmagazins „Polityka“, den Landes geschaffen zu haben – in Frieden und wir dazu ebenfalls eingeladen haben, musste Freiheit. seine Teilnahme aus Vorsichtsmaßnahmen Das war nicht nur für die Deutschen, sondern seiner Redaktion leider kurzfristig absagen. auch für unsere Nachbarn von entscheidender Das Wort hat die Präsidentin der ersten und Bedeutung, für ein Europa, das die Teilung letzten freigewählten Volkskammer: Frau des Kalten Krieges überwinden wollte. Bergmann-Pohl, wir freuen uns auf Ihre Erin- Ewald König, früher Korrespondent der öster- nerung an die „kürzeste Lehre und härteste reichischen Tageszeitung „Die Presse“, gehörte Bewährungsprobe ,in Sachen Politik‘“, wie Sie zu den vielen ausländischen Beobachtern, die Ihre Zeit in der Volkskammer einmal zusam- Ihre Arbeit damals verfolgt haben. Er wird im mengefasst haben.

14 Besucherinnen und Besucher betrachten die ausgestellten Werke.

15 Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Schäuble,

keine Angst, hier oben auf dem Podium sind Sie in guten Händen, ich bin ja Lungenfach- ärztin, aber ich gebe die Verantwortung dann ab, wenn Sie wieder vom Podium eilen. Ich möchte Sie alle ganz herzlich begrüßen, und ich sehe so viele ehemalige Volkskammer- abgeordnete, und ich bin ganz traurig, dass wir diese Epidemie haben. Ich hätte so gerne so viele umarmt, weil ich viele lange nicht ge- sehen habe. Daran sieht man, wie dieses halbe Jahr uns zusammengeschweißt hat.

In der Erinnerung an die frei und demo- kratisch gewählte Volkskammer haben alle Zeitzeugen, die auch heute hier vertreten sind, sicher sehr viel zu erzählen. Diese turbulente und ereignisreiche Zeit in einem 10-minütigen Grußwort zu würdigen, bringt mich etwas in Bedrängnis, denn die großartigen Leistungen vieler wichtiger Persönlichkeiten kommen viel zu kurz.

Das betrifft die Leistungen von Bundeskanzler , dem Kanzler der Einheit, und seiner Bundesregierung und gleichermaßen der Regierung unter der Leitung des damali- gen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière sowie von allen Abgeordneten dieser frei ge- wählten Volkskammer.

Grußwort der ehemaligen Präsidentin der Volkskammer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl

16 Der 10. und frei gewählten Volkskammer ge- hörten nur drei Prozent von 409 Abgeordneten an, die auch in der 9. Volkskammer vertreten waren. Sie war in Bezug auf die erlernten Berufe ein Parlament der Ingenieure, Pädago- gen, Ärzte und Naturwissenschaftler, und die Theologen waren mit 7,1 Prozent ebenfalls zahlreich vertreten.

Die wenigsten waren auf diese verantwor- Deshalb möchte ich mich auf einige persönli- tungsvolle Arbeit vorbereitet. Das betraf auch che Erinnerungen beschränken. mich. Am 4. April 1990 saß ich noch in der von mir geleiteten Bezirksstelle für Lungen- Heute vor 30 Jahren stand ich, auch mit der krankheiten und Tuberkulose in Ostberlin Unterstützung von Westberliner CDU-Freun- mit einigen Bedenken, ob ich das Vertrauen den, beim Wahlkampf auf der Straße und der CDU-Fraktion auch nicht enttäusche, die glaubte entgegen allen Prognosen der Wahl- gegen den Willen des designierten Minister- forscher an den Sieg der „Allianz für Deutsch- präsidenten mich für das Amt der Volkskam- land“. Das Ergebnis der ersten freien Volks- merpräsidentin vorgeschlagen hatte. kammer-Wahl war ein eindeutiges Bekenntnis Es kam aber noch „schlimmer“. Am gleichen der Bürger der DDR zur deutschen Einheit. Abend, vor der konstituierenden Sitzung Viele Jahre Praxis als Lungenfachärztin, aber der Volkskammer wurde ich in den Ostber- ohne Erfahrung als Politikerin, war ich nach liner Bezirksvorstand der CDU bestellt. Dort UHLĠLFKHU²EHUOHJXQJXQGVRPDQFKHU²EHUUH- erläuterte mir als „Gesandter“ dungskünste bereit, für ein Abgeordnetenman- von Helmut Kohl, dass mir bei meiner Wahl dat zu kandidieren. als Volkskammerpräsidentin aufgrund einer beabsichtigten Verfassungsänderung auch So wie mir ging es sicher vielen Volkskammer- geschäftsführend die Funktion eines Staats- abgeordneten, die von heute auf morgen ihre oberhauptes übertragen wird. Nach einer Arbeitsplätze verließen, um politische Verant- VFKODĠRVHQ1DFKWVWHOOWHLFKPLFKPXWLJGHQ wortung zu übernehmen. Anforderungen.

„Das Ergebnis der ersten freien Volkskammer-Wahl war ein ein- deutiges Bekenntnis der Bürger der DDR zur deutschen Einheit“, unterstreicht die ehemalige Präsi- dentin der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl in ihrem Grußwort.

17 Wir Abgeordneten waren uns durchaus der Verantwortung bewusst, den Weg aus einer unglückseligen Vergangenheit in eine demo- kratische und zufriedenstellende Zukunft zu gestalten. Deshalb waren wir sehr dankbar, dass der Es gab für uns keine 100 Tage Schonzeit zur Deutsche Bundestag und seine Präsidentin Einarbeitung. Mit 164 Gesetzen, drei Staats- Rita Süssmuth uns damals unbürokratisch verträgen und 93 Beschlüssen war der Umfang mit Rat und Tat unterstützten. So erhielten der Arbeit gewaltig, aber die Zahl der Prob- wir zum Beispiel schnell von der Deutschen leme auch. Wenn wir zunächst glaubten, wir Post moderne schnurlose Telefone. Wir waren seien diejenigen, die vorangingen, so mussten moderner ausgestattet als der Bundestag. Wir wir bald den Eindruck gewinnen, dass wir in beauftragten einen Vizepräsidenten, Herrn Wirklichkeit die Getriebenen waren. Die ho- Dr. Stefan Gottschall von der DSU, der leider hen Erwartungen der Bevölkerung, aber auch auch schon verstorben ist, sich vorrangig um die außenpolitischen Bedingungen erforderten akzeptable Arbeitsbedingungen zu kümmern, von uns schnelles Handeln. was er mit großer Energie und auch Erfolg erledigte. Um meine Arbeit als Volkskammer- Der Beginn der parlamentarischen Arbeit war präsidentin und amtierendes Staatsoberhaupt zunächst geprägt von den unzureichenden Rah- überhaupt bewältigen zu können, hatte ich mit menbedingungen. Es gab keine Abgeordneten- meinem Vizepräsidenten Reinhard Höppner, büros, keine Wohnräume, keine Telefone, auch der leider viel zu früh 2014 verstorben ist, andere technische Hilfsmittel gab es nicht, die Unterstützung und die Zusammenarbeit keine Autos, kurz gesagt, es fehlte an allem. abgesprochen.

18 Er hatte durch seine langjährige Synodalarbeit in der Evangelischen Kirche Erfahrungen mit Gremien, deren Tätigkeit der parlamentari- schen Arbeit durchaus ähnlich ist. Außerdem war er an der Ausarbeitung der Geschäftsord- nung maßgeblich beteiligt.

Als sich die Volkskammer konstituierte, Die Basis unseres gemeinsamen Handelns war waren bereits seit mehr als einem halben die Erfahrung einer friedlichen Revolution, in Jahr wesentliche Schritte der praktischen wie der die Menschen sich von einer erzwunge- formalen Ablösung der DDR-Verfassung durch nen Diktatur eines Unrechtsstaates befreiten. neue grundsätzliche Bestimmungen in Rich- Denn letzten Endes leben die Freiheit und die tung Demokratie, bürgerliche Grundrechte Rechte auf ein menschenwürdiges Dasein, auf und soziale Marktwirtschaft gegangen worden. Gerechtigkeit und Demokratie von dem, was Deshalb konnten wir an eine vorher geleistete wir selbst daraus machen. Die Herausforde- Arbeit anknüpfen. rungen für uns waren riesig. Der Prozess der Wiedervereinigung erforderte von uns klares, Wir waren keine parlamentarischen Routiniers, zielgerichtetes und auch schnelles Handeln. waren uns aber der Verantwortung für unser Nur so war die gewaltige Arbeit zu meistern. Land bewusst. Obwohl sich die politischen Ziele der Fraktionen durchaus sehr unterschie- Sehr schnell kam auch die Erkenntnis, dass den – auf der einen Seite das Ziel einer „demo- wir nicht vier Jahre, sondern viel weniger Zeit kratischeren DDR“ mit einer neuen Verfassung haben würden. Im Gegenteil, wir sollten ne- und auf der anderen Seite das klare Ziel ben den wichtigen und notwendigen Gesetz- eines wiedervereinigten Deutschlands auf der gebungen als Voraussetzung für die deutsche Grundlage des über viele Jahrzehnte bewähr- Einheit dafür sorgen, uns baldmöglichst auch ten Grundgesetzes –, gab es ein faires Mitein- đEHUĠđVVLJ]XPDFKHQXQGIđUXQVHUH6HOEVW- ander auch über die Fraktionsgrenzen hinweg. DXĠùVXQJVRUJHQ

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Gespräch mit ehemali- gen Volkskammerabgeordneten.

19 Und um das Tempo unserer Arbeit zu verdeut- lichen: Im Mai konstituierten sich am gleichen Tag zu gleicher Stunde insgesamt 26 Aus- schüsse der Volkskammer. Am 17. Juni, nach Es war ein emotional aufgeladenes Parlament einer gemeinsamen Feierstunde des Bundes- mit einer Debattenkultur, die mit Spannung tages und der Volkskammer im Konzerthaus in Ost und West verfolgt wurde und sowohl am Gendarmenmarkt, verabschiedeten wir die für Lob als auch Tadel sorgte. Insofern traf der Verfassungsgrundsätze mit der Formulierung: Begriff der Laienspieler, den man uns damals „Die DDR ist ein freiheitlicher, demokratischer, „verlieh“, auch teilweise zu. Wir kamen aus der föderativer, sozialer und ökologisch orientier- Unfreiheit. Wir wollten Demokratie einüben. ter Rechtsstaat.“ Diese Tagung bleibt mir in Kein Wunder, dass wir dabei auch oft über das ewiger Erinnerung, denn unter den Augen un- Ziel hinausschossen und von dem Recht auf serer Gäste, Bundeskanzler Helmut Kohl und Redefreiheit manchmal zu ausgiebig Gebrauch anderer führender Regierungsvertreter und der machten. Bundestagspräsidentin, stürzte uns die Frakti- on der DSU mit einem Antrag zum sofortigen Ich möchte nun einige wesentliche Höhepunk- Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutsch- te unserer parlamentarischen Arbeit heraus- land in erhebliche Turbulenzen. stellen: Bereits in der zweiten Sitzung bekann- ten sich die Abgeordneten zur Verantwortung Am 21. Juni wurde die Währungs-, Wirt- und Schuld der Deutschen in der DDR für schafts- und Sozialunion verabschiedet und ihre Geschichte, was mir besonders für einen eine Erklärung zur Unverletzlichkeit der pol- Staatsbesuch in Israel gemeinsam mit Frau nischen Westgrenze verabschiedet. Süssmuth im Juni 1990 den Weg ebnete. Weitere wichtige Gesetzgebungen für die Die parlamentarische Begleitung der Staatsver- Bildung der Länder und die Vorbereitung der träge und die Gestaltung der Einheit wurden gesamtdeutschen Wahlen, der Übergang von im Mai 1990 durch die Bildung eines Aus- einer Plan- in eine soziale Marktwirtschaft schusses Deutsche Einheit unter der Leitung und die Grundlagen für rechtsstaatliches der beiden Vorsitzenden, Frau Süssmuth und Handeln sind nur einzelne Beispiele der parla- mir, gewährleistet. mentarischen Arbeit.

Die ehemalige Volkskammerprä- sidentin Sabine Bergmann-Pohl und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Gespräch.

20 Zusätzlich standen wir unter dem Druck der alltäglichen Sorgen der Bevölkerung. Der Abbau von Arbeitsplätzen oder wegbrechen- de Handelsbeziehungen zum ehemaligen Ostblock, aber auch die Abwanderung von Tausenden gut ausgebildeten Bürgern, die die DDR in Richtung Westen verließen, waren die Dass diese Wortmeldung in jubelndem Beifall Probleme, mit denen wir uns täglich auseinan- unterging und die einzige frei gewählte Volks- dersetzen mussten. kammer damit auch ihre eigene Abschaffung bejubelte, ist ein Beweis dafür, dass das Par- Eine spannende und kräftezehrende Sitzung lament in dieser Nacht den Mehrheitswillen fand in der Nacht vom 22. zum 23. August seiner Wähler vom 18. März 1990 umsetzte. statt. Lothar de Maizière beantragte nach einer regulären Sitzung der Volkskammer eine Sehr oft beschäftigte sich die Volkskammer Sondersitzung zur Klärung des Beitritts- auch mit den Folgen der Überwachung durch termins der DDR zum Geltungsbereich des die Staatssicherheit für die Menschen und Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutsch- dem Umgang mit der beispiellosen Dokumen- land nach Artikel 23. Nach heftigen und kon- tation von Unrecht und Unterdrückung. Wir troversen Diskussionen einigten wir uns auf setzten uns mit dem Verbleib der Akten in den 3. Oktober. Diese Tagung endete um drei einer zu bildenden Stasiunterlagenbehörde Uhr morgens. Jeder, der in dieser entschei- mit Zweigstellen in den neuen Bundesländern denden Nacht in der Volkskammer oder über durch – gegen den Willen der Bundesregie- die Medien dabei war, wird sich auch an die rung, die eine Archivierung der Staatsicher- Wortmeldung von dem PDS-Vorsitzenden heitsakten im Bundesarchiv favorisierte. Aber nach Bekanntgabe des Abstim- auch die Überprüfung der Abgeordneten der mungsergebnisses erinnern, als er wörtlich sagte: Volkskammer auf eine mögliche Mitarbeit „Das Parlament hat soeben nicht mehr und bei der Staatssicherheit war ein wichtiger nicht weniger als den Untergang der DDR zum Bestandteil der Bewältigung unserer eigenen 3. Oktober beschlossen.“ Vergangenheit.

21 Hervorheben möchte ich noch die Erarbeitung des Einigungsvertrages unter der Leitung von Wolfgang Schäuble und Günther Krause. Mit ca. 1.000 Seiten war er die Grundlage für den Übergang einer 40-jährigen sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft und einen Rechtsstaat. Unsere Arbeit wurde begleitet von vielen langjährigen Mitarbeitern der Volkskammer, die trotz des gesellschaftlichen Wandels und einer ungewissen Zukunft uns auch oft bis Sicher werden irgendwann einmal Historiker in die Nachtstunden unterstützten. Leider über die frei gewählte Volkskammer urteilen. war der mir von der Ost-CDU zur Verfügung Aber keiner von ihnen wird jemals den physi- gestellte Direktor ein informeller Mitarbeiter VFKHQXQGSV\FKLVFKHQ'UXFNQDFKHPSğQGHQ der Staatssicherheit (IM), und er war nicht können, den wir alle täglich erlebten. Ich bin der einzige, der mir als IM „untergeschoben“ sicher, dass die Jahre 1989/90 einen besonderen wurde. Zusätzlich unterstützten uns zeitweilig historischen Stellenwert bekommen werden, Mitarbeiter der Bundesministerien und des denn es ging um nicht weniger als die Verwirkli- Deutschen Bundestages. chung lebendiger Demokratie in der DDR.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausstellungseröffnung im Paul- Löbe-Haus.

22 Die Bürger und ihre frei gewählten Abgeord- neten haben mit ihrem Verhalten, mit Geduld und Besonnenheit, mit drängender Friedfer- tigkeit und vielleicht auch mit etwas Glück Deutschland ist ein regional vielfältiges Land, einen Staat aus den Angeln gehoben und das ist auch das Resümee einer Studie der bald überwunden, der seit 40 Jahren als nicht Konrad-Adenauer-Stiftung von 2019. Ob- antastbar galt. wohl große Teile der Bevölkerung in Ost und West mit ihrem Leben zufrieden sind, gibt Die deutsche Geschichte ist arm an Ereignis- es regionale Unterschiede bei der Demokra- sen, in denen Volksbewegungen den Lauf der tiezufriedenheit, der Zufriedenheit mit der Geschichte positiv gestaltet haben. Insofern Wirtschaftslage und auch bei der Verbreitung blicke ich auch mit ein wenig Stolz auf die Ar- rechts-populistischer Einstellungen – nicht beit der frei gewählten Volkskammer zurück. nur zwischen Ost und West, sondern auch in- Als wir am 2. Oktober 1990 unsere Arbeit nerhalb der alten Bundesrepublik und inner- beendeten, sagte ich u. a. Folgendes in meiner halb der neuen Bundesländer. Konzentrieren Rede: „Viel Geduld und Einfühlungsvermögen wir uns in der Zukunft auf unsere Gemein- auf beiden Seiten werden notwendig sein, samkeiten und Stärken, denn Globalisierung, damit keine Seite Schaden nimmt, damit alte Digitalisierung, Rassismus und Hass in den Gräben zugeschüttet werden und neue nicht sozialen Medien und eine fragile Umwelt sind entstehen können.“ Und heute, 30 Jahre spä- neben dem Erhalt unserer demokratischen ter, muss ich leider feststellen, dass wir nach Grundordnung die gemeinsamen Herausforde- wie vor über Ost und West reden, anstatt die rungen. Aufbauleistungen der Menschen nach 1990 ausreichend zu würdigen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

23 Über den „Blick von außen“ auf die Umwäl- zungen der Jahre 1989 und 1990 und die Rolle der 10. Volkskammer sprach während der Eröffnung der Ausstellung „180 Tage, 164 Ge- setze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung. 30 Jahre freie Wahlen zur Volkskammer“ die Journalistin Ines Arland mit dem damaligen Deutschland-Korrespondenten der österreichi- schen Zeitung „Die Presse“, Ewald König, der sowohl in Bonn als auch in Berlin akkreditiert war. Eingeladen zu der Veranstaltung war DXFKVHLQ.ROOHJH$GDP.U]HPLðVNL5HGDN- teur des polnischen Wochenmagazins „Polity- ka“, der die polnische Sicht auf die Entwick- lungen von damals darstellen sollte. Er musste leider der Veranstaltung fern bleiben, da seine Redaktion mit Blick auf die Corona-Pandemie eine Beteiligung am Gespräch kurzfristig abge- sagt hatte.

Ewald König machte in dem Gespräch deut- lich, schon frühzeitig gemerkt zu haben, „wie groß der Unmut in der DDR ist, der sich zusammenbraut“. Beleg dafür sei die ständig zunehmende Zahl von DDR-Flüchtlingen ge- wesen, aber auch die steigenden Teilnehmer- zahlen bei den Demonstrationen in und anderswo. „Unglaubliche Zeiten“ für ihn als Journalisten seien das gewesen, erinnerte er sich.

Moderiertes Gespräch zum Wirken der Volkskammer Ewald König, ehemaliger Korrespondent der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“, Ines Arland, Moderation Zusammenfassung des Gesprächs von Götz Hausding

24 Moderatorin Ines Arland im Gespräch mit Ewald König, dem ehemaligen Korrespondenten der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“.

25 König war auch live bei jener Pressekonferenz dabei, bei der das SED-Politbüromitglied Günter Arland verwies auf eine Aussage des Bürger- Schabowski versehentlich die Grenzöffnung rechtlers Jens Reich – ehemaliger Mitbegrün- verkündete. „Welche Konsequenzen das gleich der des Neuen Forums –, der von „in die DDR in derselben Nacht haben würde, konnte keiner exportierten West-Wahlen“ gesprochen habe. erahnen“, sagte er. Von Arland auf den Run- „Da ist schon etwas dran“, stimmte König zu. den Tisch angesprochen, sagte der österreichi- Die DDR-Bürger, so seine Einschätzung, hätten sche Korrespondent, es habe seinerzeit eine sich das anders vorgestellt. Die konfrontative erfrischende positive Naivität gegeben. Es sei Art und Weise, wie die Parteien im Wahl- eine riesige historische Leistung gewesen, die kampf miteinander umgegangen seien, habe damaligen Machthaber mit den Oppositionellen manchen DDR-Bürger abgeschreckt, sagte er. zusammenzubringen. Viele hätten schließlich taktisch gewählt, Der Runde Tisch hatte in einer seiner ersten glaubt König. Ziel sei vor allem die Einfüh- Sitzungen den Termin für die Volkskammerwahl rung der D-Mark gewesen, die man sich eher auf den 6. Mai 1990 festgelegt. Um das lähmende von einer konservativen Regierung erhofft Machtvakuum mit der demokratisch nicht legi- hatte. „Die ,Allianz für Deutschland‘ einzufüh- timierten Modrow-Regierung früher zu beenden, ren war ein genialer Trick von Helmut Kohl“, einigte man sich schließlich auf den 18. März befand der Korrespondent. Noch im Februar 1990 als Wahltermin. Und so begann die Phase 1990 hatte schließlich bei Meinungsumfragen des heißen Wahlkampfes mit einem „Schaulau- die SPD mit mehr als 50 Prozent vorn gelegen. fen West“, wie Ines Arland mit Blick auf das starke Engagement westdeutscher Politiker sagte. Die Wahl selbst habe dann für die DDR-Bürger ebenfalls ein Novum dargestellt. Stichwort Ob Helmut Kohl oder Willy Brandt: „Sie alle :DKONDELQHGLHQXQ3ĠLFKWZDU1XUGLHZH- waren Wahlkämpfer, die weder gewählt werden nigsten hätten diese früher genutzt, sagte Kö- konnten, noch wahlberechtigt waren“, sagte Kö- nig. Er erinnerte sich an eine Begebenheit in nig. Insbesondere die CDU aus dem Westen habe einem Wahllokal in Berlin-Pankow, das schon viel in den Wahlkampf investiert, „während an- ab fünf Uhr geöffnet hatte. Den allerersten dere Parteien nicht einmal genug Papier hatten, Wähler habe er damals interviewen wollen, um ihre Wahlkampfveranstaltungen ankündigen sagte er. Der Mann war aber offenbar schon in zu können“. der Marktwirtschaft angekommen.

„Getrieben von der eigenen Bevölke- rung, von der Vergangenheit, vom Ausland und von vielen anderen Kräften“, so blickt Ewald König von außen auf die Arbeit der Volkskam- mer.

26 Als exotisch hat der Journalist die Debatten- kultur in der Volkskammer in Erinnerung, nicht zuletzt manch ellenlange Rede. Zustim- Gern lasse er sich interviewen, habe der mung kam von ihm zur von der ehemaligen Wähler gesagt und zugleich verlangt, dass 20 Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann- D-Mark für jedes seiner Worte vom Zeitungs- Pohl geäußerten Einschätzung, das Parlament verlag der Journalisten an behinderte Kinder sei getrieben gewesen. „Eindeutig war das so“, gespendet werden müssten. „Als wir ihm bestätigte König. „Getrieben von der eigenen klargemacht haben, dass das nicht geht, hat er Bevölkerung, von der Vergangenheit, vom trotzdem mit uns gesprochen“, sagte König. Ausland und von vielen anderen Kräften.“

Ines Arland lenkte das Gespräch in der Folge Auf die Frage Arlands, ob aus seiner Sicht auf nach der Wahl. 38 Sitzungen nicht auch ein anderer Weg zur Einigung als habe die Volkskammer durchgeführt. „Alle im über den erfolgten Beitritt möglich gewe- ²EULJHQDXIZZZEXQGHVWDJGH]XğQGHQŃ sen wäre, sagte König: Man hätte sehr wohl fügte sie hinzu. Aus Sicht des österreichischen aus dem „provisorischen“ Grundgesetz eine Journalisten ist die Volkskammer seinerzeit gesamtdeutsche Verfassung machen können. unterschätzt worden. Das Interesse, gerade der Dem habe aber nicht zuletzt der hohe Zeit- ausländischen Journalisten, habe zuallererst druck im Wege gestanden. „Am wichtigsten bei der DDR-Regierung gelegen, zu Unrecht, ist, dass es friedlich abgelaufen ist und kein wie man heute feststellen könne, sagte der 7URSIHQ%OXWĠRVVŃVDJWHGHU-RXUQDOLVW damalige Vorsitzende im Verein der Auslands- presse. Dass heute – 30 Jahre nach der Wiederverei- nigung – noch immer von Ost und West die Von der DDR-Bevölkerung seien die live Rede sei, die Einheit aus Sicht Arlands „un- übertragenen Debatten aus der Volkskammer fertig“ ist, hat für den Österreicher damit zu mit viel Interesse verfolgt worden. Er habe das tun, „dass beide Seiten ein Wunder erwartet Bild vor Augen, wie sich die Leute vor einem haben“. Noch bis heute gebe es viele Missver- Geschäft drängelten, in dessen Schaufenster ständnisse zwischen Ost und West, „die nicht Fernseher standen, die allesamt eine Sitzung abnehmen, sondern noch zunehmen“. Damit übertrugen. gelte es zu leben, befand König.

27 Das Blechbläserquintett des Deut- schen Symphonie-Orchesters Berlin spielt „The Battle of Jericho“.

28 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausstellungseröffnung während der musikalischen Darbietung. Ganz rechts: Der ehemalige Ministerpräsi- dent der DDR, Lothar de Maizière.

29

Dokumentation der Ausstellung Am 18. März 1990 wurden die Abgeordne- ten der Volkskammer, des Parlaments der DDR, zum ersten Mal frei, direkt und geheim JHZÃKOW:ÃKUHQGGHURIğ]LHOOYHUDQNHUWH Führungsanspruch der SED bislang keinen ZLUNOLFKHQSROLWLVFKHQ(LQĠXVVGHU$EJH- ordneten zugelassen hatte, wandelte sich die Volkskammer nun zu einem echten Parlament, GHVVHQ0LWJOLHGHUDNWLY(LQĠXVVDXIGLHSROLWL- schen Entscheidungen nahmen und den Weg zur deutschen Einheit bereiteten.

Der Wahl waren Proteste und Demonstra- tionen gegen die SED-Staatsführung der DDR vorausgegangen, die erst zum Fall der Mauer am 9. November 1989, dann zur Einrichtung eines Runden Tisches im Dezember 1989 und schließlich zu freien Wahlen geführt hatten. Wie die Wahlen selbst war auch der Wahlkampf eine neue Erfahrung für die Bürgerinnen und Bürger der DDR: Anstelle der SED, die mit den vier Blockparteien als „Nationale Front“ gewöhnlich mit nahezu 100 Prozent Zustimmung aus den Abstimmungen hervorging, stellten sich nun 24 Parteien und Wahlbündnisse zur Wahl.

„180 Tage, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse zur Wiedervereinigung 30 Jahre freie Wahlen zur Volkskammer“

32 Selbstbewusst schalteten sie sich in die Regie- rungsverhandlungen zur Übernahme des „- Unterlagen-Gesetzes“ in den Einigungsvertrag Am 5. April 1990 trat die neu gewählte Volks- ein. Dabei setzten sie eine Zusatzvereinbarung kammer zu ihrer ersten Sitzung im Palast der zum Einigungsvertrag durch, nach der der Republik zusammen. Zu den ersten Aufgaben Deutsche Bundestag nach der Wiedervereinigung der 409 Abgeordneten gehörte die Beset- ein Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten zung des Präsidentenamtes. Mit Dr. Sabine erlassen und einen Sonderbeauftragten für die Bergmann-Pohl (CDU) übernahm zum ersten personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Mal eine Frau die Präsidentschaft eines DDR- Staatssicherheitsdienstes der DDR einsetzen soll- Parlaments. Noch in der ersten Sitzung sprach te. Darüber hinaus gaben sich die Präsidentinnen sie den Wunsch aus, „dass die Parlamente die von Bundestag und Volkskammer, Prof. Dr. Rita Zukunft gestalten, und nicht nur die Regie- Süssmuth und Dr. Sabine Bergmann-Pohl, eine rung“. Dieser Anspruch sollte die Arbeit der eigene Agenda, luden zum Beispiel zu gemein- Volkskammer bestimmen. samen Sitzungen der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ oder reisten gemeinsam nach Israel. In den sechs Monaten zwischen Konstituierung XQG$XĠùVXQJEHZÃOWLJWHQGLH0LWJOLHGHUGHU Die Ausstellung zeigt die Arbeit der frei gewähl- Volkskammer ein beeindruckendes Arbeitspen- ten Volkskammer vom Beschluss des Runden sum. Obwohl sie zunächst weder über ausrei- Tisches, freie Wahlen durchzuführen, über den chende Büroausstattungen verfügten, noch von Wahlkampf bis zur ersten gesamtdeutschen einer funktionierenden Parlamentsverwaltung Sitzung des Deutschen Bundestages nach der unterstützt wurden, hielten sie im Plenum 38 Wiedervereinigung am 4. Oktober 1990 im Sitzungen ab. Sie berieten und verabschiedeten Reichstagsgebäude. Die Protokolle und die 164 Gesetze und fassten 93 Beschlüsse. Filmmitschnitte aller Tagungen werden auf einer Medienstation zur Verfügung gestellt, zudem Dabei ließen die Abgeordneten der Volkskam- erinnert ein aus Anlass der Ausstellung auf- mer keineswegs alle Vorlagen der Regierung un- genommenes Doppelinterview mit Dr. Sabine verändert passieren. So ergänzten sie den von Bergmann-Pohl und Prof. Dr. Rita Süssmuth an der Regierung vorgelegten Gesetzentwurf zur den Schulterschluss der damaligen Parlaments- Änderung und Ergänzung der Verfassung der präsidentinnen, der den Weg zur Wiedervereini- DDR um das Staatsziel „Schutz der Umwelt“. gung ebnen half.

33 Die Kuratorin der Ausstellung Kristina Volke (links) führt den Ministerpräsidenten a.D. Dr. Lothar de Maizière mit seiner Ehefrau (mittig und rechts stehend) und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (vorn rechts) durch die Ausstellung.

34 Ehemalige Abgeordnete der Volks- kammer in der Ausstellung vor Dokumenten ihrer parlamentari- schen Arbeit.

35 1989 ist das Jahr der friedlichen Revolution in der DDR. Von der in der Sow- jetunion ermutigt, formiert sich spätestens seit der gefälschten Kommunalwahl im Mai zunächst in Leipzig, dann in vielen anderen Städten und Gemeinden in friedlichen De- monstrationen organisierter Widerstand gegen die Staatsmacht und den Allmachtsanspruch der SED. Dieser Protest geht von Bürgerrecht- lern, Künstlern und Kirchenvertretern aus, die bislang im Untergrund gewirkt hatten und massive Restriktionen bis zu Zuchthaus und Ausweisung aus der DDR fürchten mussten. Auch die offenen Proteste im Herbst 1989 werden zunächst mit staatlicher Gewalt beantwortet. Viele Demonstranten werden inhaftiert, verhört, oft gefoltert und des Landes verwiesen. Aber im Gegensatz zu den vorange- gangenen Jahren ändert sich die Lage im Laufe weniger Wochen fundamental. Der andauern- de und immer stärker werdende Widerstand bringt das System ins Wanken. Im Gegensatz zum Volksaufstand am 17. Juni 1953, den sow- jetische Truppen niedergeschlagen hatten, ist die DDR-Staatsführung diesmal auf sich allein gestellt. Große Teile der Bevölkerung schlie- ßen sich den Protesten an und fordern Reise-, Presse- und Meinungsfreiheit. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ gibt die Bevölkerung der DDR bald millionenfach zu verstehen, dass sie sich weder einschüchtern noch von ihren Forderungen abbringen lässt.

Der Weg zu freien Wahlen

36 Die DDR steht vor dem Staatsbankrott. Am 7. November 1989 tritt die gesamte Re- Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins ist gierung der DDR, am Tag darauf das Politbüro die Gründung zahlreicher Bürgerbewegungen, zurück. Die Öffnung der Mauer am 9. Novem- die im Oktober 1989 gegründet werden – ber 1989 markiert die Unumkehrbarkeit dieses darunter das „Neue Forum“, die Dresdner tiefgreifenden Umsturzes. „Gruppe der 20“ und der „Demokratische Aufbruch“. Vordringlichstes Ziel der Bürger- In den sich überstürzenden Ereignissen der rechtler sind innerstaatliche Reformen und folgenden Wochen, in denen GLH$XĠùVXQJGHV8QWHUGUđFNXQJVDSSDUDWHV zum neuen Regierungschef gewählt wird, dessen Geheimdienst Staatssicherheit jahr- hunderttausende DDR-Bürger in die Bundes- zehntelang die Bevölkerung bespitzelt und republik übersiedeln, Parteifunktionäre über denunziert hatte. Nacht entmachtet und Stasizentralen gestürmt werden, sind die Bürgerbewegungen maßgeb- Einer der ersten Erfolge ist der Rücktritt Erich lich daran beteiligt, den Umsturz in geordnete Honeckers als Generalsekretär des Zentral- Bahnen zu lenken. Sie setzen die Einrichtung komitees der SED am 18. Oktober 1989. Sein eines „Runden Tisches“ durch, an dem die al- Nachfolger kündigt eine politische ten Blockparteien mit den neuen Bürgerbewe- Wende an und signalisiert immerhin Bereit- gungen über den Fortgang der Veränderungen schaft, auf die Protestforderung nach einem verhandeln. Bereits in der ersten Sitzung des „Dialog“ einzugehen. Zeitgleich bestätigt eine „Runden Tisches“ verständigt man sich auf die interne, von der DDR-Regierung in Auftrag zentrale Grundlage für alle Demokratiebewe- gegebene Analyse, was längst vermutet wurde: gungen: freie Wahlen.

37 Leipziger Montagsdemonstrationen $P6HSWHPEHUğQGHWDXI dem Leipziger Innenstadtring die erste Montagsdemonstration statt. Von den Bürgerrechtlerinnen Katrin Hattenhauer und Gesine Ottmanns im Anschluss an die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche orga- nisiert, ist es der erste offene Stra- ßenprotest, der „ein offenes Land mit freien Menschen“ fordert. Obwohl die Transparente von der Staatssi- cherheit heruntergerissen und die Teilnehmenden auseinandergetrie- ben werden, ist es der Beginn des „Herbsts 89“, in dessen Verlauf nicht nur immer mehr Leipziger, sondern auch Menschen aus , Ost- Berlin, Halle und in ihren Städten auf die Straße gehen. © dpa – Report / transit / Jens P.Riedel

38 Eine zentrale Forderung der Demonstranten sind freie Wahlen. Zuletzt hatten die Bürgerinnen und Bürger der DDR am 7. Mai 1989 gewählt – doch war das Ergebnis der Kommunalwahlen nicht durch die abgegebenen Stimmen, sondern durch SED-Funktionäre im Vorhin- ein festgelegt worden. Dies hatten Bürgerrechtler aus dem Friedens- kreis Berlin-Weißensee zum ersten Mal nachgewiesen und publik gemacht. © Imago / EPD

39 Demonstration in Ost-Berlin am 4. November 1989 Protestdemonstration, veranstaltet von den Kunst- und Kulturschaffen- den der DDR für mehr Demokratie und Reisefreiheit mit ca. 1 Mio. Teilnehmenden. Adresse ihres Pro- testes ist das Parlament der DDR, die Volkskammer mit Sitz im Palast der Republik. © akg-images - AP / Diether Endli- cher

40 Demonstration am 9. Dezember 1989 in Ost-Berlin Bereits am 21. Oktober 1989 hatte in Plauen (Sachsen) eine Demonstra- tion stattgefunden, in der die deut- sche Einheit gefordert wurde. Nur wenige Wochen später ist der Ruf „Wir sind das Volk!“ faktisch von der Forderung „Wir sind ein Volk!“ abgelöst. Die Idee einer demokra- tischen Erneuerung innerhalb der DDR und einer Konföderation der beiden deutschen Staaten gerät da- mit immer mehr ins Hintertreffen. Foto: © akg-images / AP

41 Der Runde Tisch beschließt freie Wahlen Die Gesprächsteilnehmer des Runden Tisches beschließen bei ihrem ersten Treffen in Ost-Berlin DP'H]HPEHUGLH$XĠùVXQJ des Amtes für Nationale Sicher- heit (Stasi) und die Durchführung von Wahlen zur Volkskammer. Es sollten die ersten und letzten freien Wahlen in der DDR sein, denn die 10. Volkskammer wird sich für den Beitritt der DDR zur Bundesrepub- lik entscheiden. Foto: picture alliance / dpa / dpa- Zentralbild

42 Wahlen zur Wiedervereinigung Bundeskanzler Helmut Kohl spricht am 19. Dezember 1989 vor einer Menschenmenge, die sich anläss- lich seines Besuchs in Dresden versammelt. Kohl hält sich für zwei Tage in der Stadt auf und wird stürmisch gefeiert. Die Menschen empfangen ihn mit Plakaten und Sprechchören, in denen sie die deutsche Wiedervereinigung for- dern. © picture alliance / dpa-Bildarchiv / afp

43 Ursprünglich ist der 6. Mai 1990 als Wahltag vorgesehen, doch verliert die amtierende Re- gierung bei der Bevölkerung trotz aller Reformbemühungen zunehmend an Vertrauen. Viele – allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl, der bei seinen Reisen in die DDR mit frenetischem Applaus und mit Plakaten emp- fangen wird, auf denen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gefordert wird –, drängen auf eine Vorverlegung des Wahl- termins. Ende Januar 1990 ist klar, dass die Wahl zur ersten frei gewählten Volkskammer DP0ÃU]VWDWWğQGHQVROO'DGHUVRZ- jetische Staatspräsident Michail Gorbatschow die deutsche Einheit kurz zuvor akzeptiert und gegenüber Bundeskanzler Kohl im Februar zugesagt hatte, dass es Angelegenheit der Deutschen selbst sei, über ihre nationale Ein- heit eigenverantwortlich zu entscheiden, war damit die Hauptgefahr gebannt: eine Interven- tion der sowjetischen Besatzungsmacht gegen die Wiedervereinigung.

Der Wahlkampf

44 Sie ziehen ähnlich viele Bürgerinnen und Bürger an wie noch wenige Monate zuvor die Demonstrationen, mit denen demokra- tische Grundrechte erkämpft und letztlich die Mauer gestürzt wurde. Vielfach rufen die Teilnehmenden dabei andere auf, „richtig“ zu wählen, und dabei warnen die einen vor Kapitalismus, andere vor dem Weiterregieren So werden die Wahlen vor allem von der der Staatspartei SED. Obwohl die Wahlen Frage bestimmt, welche Partei die deutsche ausschließlich die DDR betreffen, engagieren Wiedervereinigung am schnellsten herbeifüh- sich westdeutsche Politiker für den Wahl- ren kann. kampf ihrer ostdeutschen Schwesterparteien, die bis dahin als so genannte Blockparteien Damit beginnt ein Wahlkampf, wie ihn die existiert hatten oder, wie die ostdeutsche SPD DDR noch nie zuvor gesehen hatte: 24 Parteien (zunächst SDP), gerade neu gegründet worden und Wahlbündnisse stellen sich zur Wahl und waren. Im Wahlkampf werden „Kreuzverhöre“ plakatieren in allen Städten und Gemeinden und Fragerunden abgehalten, in denen sich der DDR ihre Botschaften an Häuserwände, die Spitzenkandidaten, die sich oft zum ersten HLOLJDXIJHVWHOOWH:HUEHĠÃFKHQDQ$XWRV%DX- Mal für ein politisches Amt bewerben und in wagen und Stromkästen. Der Plakatwahlkampf vielerlei Hinsicht Neuland betreten, den Fra- wird von Kundgebungen der Parteien in allen gen der Wählerinnen und Wähler stellen und großen Städten der DDR unterstützt. ihre Programme und Ziele erläutern.

45 Zur Wahl stehen folgende Parteien: Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Deutsche Soziale Union (DSU) Bund Freier Demokraten (BFD) Bündnis 90 Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband (Grüne Partei – UFV) Demokratischer Aufbruch – sozial + ökologisch (DA) National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) Aktionsbündnis Vereinigte Linke (AVL) Alternative Jugendliste (AJL) Christliche Liga – Die Partei für das Leben (LIGA) Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) Europäische Föderalistische Partei (EFP) Unabhängige Volkspartei (UVP) Deutsche Biertrinker Union (DBU) Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands (SpAD) Einheit Jetzt Bund Sozialistischer Arbeiter (BSA) Vereinigung der Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik und Demokratie (VAA) Europa-Union der DDR

46 Die bevorstehende Wahl als Plakat- motiv. Kundgebung am 1. Februar 1990, wahrscheinlich auf einer Wahlveranstaltung der Allianz für Deutschland © Süddeutsche Zeitung Photo / Lothar Kucharz

47 Ungewohnter Wahlkampf (1) Am 29. Januar 1990 wirbt ein LKW-Fahrer mit einem selbstge- malten Tuch: „Bei SED-PDS sitzen Sie in der letzten Reihe! Ich wähle SPD“. © Süddeutsche Zeitung Photo / amw

48 (2) Ein Wahlplakat der CDU an einem Trabant. © wir-waren-so-frei.de / Ralf Skiba

49 (3) Plakatekleber für die „Allianz für Deutschland“, einem Wahl- bündnis aus CDU, DSU und DA, in Salzwedel (Sachsen-Anhalt). © bpk / Günter Zint

50 (4) Wahlwerbung in der Schönhau- ser Allee in Berlin, , im März 1990. © bpk / Achim Donath

51 52 (5) Wahlwerbewand in , Erfurter Straße, März 1990. © wir-waren-so-frei.de / Klaus Peter Albrecht

53 (6) Wahlkampfveranstaltung von Bündnis 90 Bündnis 90 war ein Zusammen- schluss aus dem Neuen Forum, der Initiative Frieden und Men- schenrechte sowie der Bewegung Demokratie Jetzt. Im Bild eine Wahlkampfveranstaltung in der Ost-Berliner Gethsemanekirche am 11. März 1990. © ullstein bild – snapshot-photogra- phy / Tobias Seel

54 (7) Wahlkampf von Bündnis 90 mit seinem Kandidaten (späterer Bundespräsident) in War- nemünde im März 1990. © Daniel Biskup

55 Wahlkampf der SPD (1) Altbundeskanzler Willy Brandt spricht am 16. März 1990 auf dem Marktplatz in Wismar für die SPD vor rund 30.000 Menschen. © ullstein bild – Zentralbild / Jürgen Sindermann

56 (2) Im Saalbau im Berliner Bezirk sprechen (rechts) und Hans Mis- selwitz (links), beide Anhänger der kirchlichen Oppositions- und Reformbewegung in der DDR. Sie erhalten von Un- terstützung, der seit dem 16. März 1989 Regierender Bürgermeister von West-Berlin ist. © ullstein bild / Zöllner

57 Wahlkampf für den Bund Freier Wahlkampf der PDS Demokraten Gregor Gysi, Spitzenkandidat der Der ehemalige französische Staats- PDS (heute: Die Linke), setzt im präsident Valery Giscard d’Estaing Wahlkampf auf medienwirksame und Vorsitzende der liberalen Aktionen, für die er Rennwagen und demokratischen Fraktion im fährt oder, wie hier im Bild, einen Europäischen Parlament spricht Fallschirmsprung simuliert. Damit auf einer Wahlkundgebung des verbundene Assoziationen wie der Bundes Freier Demokraten (BFD) in Sprung ins Unbekannte oder das Dresden am 9. März 1990. Der BFD Wappnen für neue Aufgaben stehen war ein Wahlbündnis der liberalen als Sinnbilder für die Kandidatur Parteien LDPD, DFP und der erst vieler Mitglieder der SED-Nachfol- kurz zuvor gegründeten DDR-FDP. gepartei während der Wahlen im Frühjahr 1990. © ullstein bild – Zentralbild / Ull- rich Haessler © ullstein bild – Sauer

58 59 Wahlkampf des Neuen Forums Wolfgang Koch aus Halberstadt druckt Wahlplakate für das Neue Forum mit der Aufschrift „Neues Forum. Neue Hoffnung!“. Mit seiner Druckerpresse aus sowjetischer Pro- duktion kann er täglich nur 2.000 Plakate drucken. © Süddeutsche Zeitung Photo / amw

60 Einladung zum Kreuzverhör Noch nie zuvor mussten sich Mitglieder der Volkskammer einem kritischen Kreuzverhör stellen. Am 10. März 1990 stellen sich die Parteien in der Ost-Berliner Gethse- manekirche kritischen Fragen Jugendlicher. © ullstein bild – Zentralbild / Rein- hard Kaufhold

61 Am 18. März 1990 sind alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger der DDR aufgerufen, sich an den ersten freien Wahlen der DDR zu beteiligen. Um die Prinzipien dieser Wahl deutlich zu machen, plakatieren viele Wahllo- kale Anleitungen zum Ausfüllen des Stimm- zettels. Der Ausgang der Wahl zur 10. Volks- kammer der DDR wird mit höchster Spannung erwartet, die Ergebnisse gelten als kaum vorhersehbar. Der Palast der Republik und der Marx-Engels-Platz davor werden zum Über- tragungsort für Nachrichtensender aus aller Welt, die Medien überschlagen sich mit Son- dersendungen und Liveberichterstattungen. Das Foyer im Palast der Republik wird zum internationalen Pressezentrum, in dem die Fernsehsender aus der DDR und der Bundes- republik ihre Wahlstudios aufgebaut haben.

Der Wahltag

62 Die Wahlbeteiligung beträgt 93,4 Prozent. Als Siegerin aus den Wahlen geht mit 48 Prozent die Allianz für Deutschland hervor, die sich aus der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), der Deutschen Sozia- len Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA) zusammensetzt. Die Sozialde- mokratische Partei Deutschlands (SPD) kommt auf 21,9 Prozent. Es folgen die Partei des Der Wahlausgang vom 18. März 1990 wird als Demokratischen Sozialismus (PDS) mit 16,4 deutliches Votum der Bevölkerung für eine Prozent, der Bund Freier Demokraten mit 5,3 rasche deutsche Einheit gewertet. Drei Viertel Prozent und Bündnis 90, der Zusammen- der Stimmen entfallen auf Parteien, die die schluss der Bürgerbewegungen Neues Forum, Wiedervereinigung der beiden deutschen Demokratie Jetzt sowie der Initiative Frieden Staaten befürworten. Das Wahlergebnis ist für und Menschenrechte, mit 2,9 Prozent. Bei der zuvor maßgebliche Akteure der Friedlichen nach einem reinen Verhältniswahlrecht ohne Revolution enttäuschend: Lediglich sechs Sperrklauseln durchgeführten Wahl bekom- Prozent der Stimmen gehen an Parteien und men zudem fünf weitere Parteien bzw. Listen- Gruppen, die aus der oppositionellen Bürger- verbindungen Mandate in der Volkskammer. bewegung hervorgegangen sind.

63 Eingang zum Wahllokal im Stimm- bezirk 478 (Leipzig) mit einem Aus- hang zur korrekten Stimmabgabe. © Michael Hughes

64 Stimmabgabe in einem Wahllokal in Ost-Berlin. © ullstein bild / amw

65 Warteschlange vor einem Wahllokal in der Bahnhofsstraße von Oebisfel- de (Sachsen-Anhalt). © wir-waren-so-frei.de / Ulrich Pettke

66 Übertragungswagen verschiedener Fernsehsender am 18. März 1990 vor dem Palast der Republik. © wir-waren-so-frei.de / Dagmar Lipper

67 Internationales Pressezentrum am Wahltag im Palast der Republik. © picture alliance / ZB / dpa-Zentral- bild / Karlheinz Schindler

68 69 Es ist die erste freie Wahl in der DDR. Die Bürger werden deshalb schon im Wahlkampf über die Wahlordnung informiert: links das Muster eines Stimmzettels mit allen zur Wahl zugelassenen Parteien, mittig eine allgemeine Information zu den Regeln der Wahl, rechts die gesamte Wahlordnung. linkes Bild (Stimmzettel) © Bundesarchiv/ Bild 183-1990- 0312-021 rechtes Bild (Plakat Wahl `90) © Bundesarchiv/ Plak 100-057-001

70 © Bundesarchiv/ Plak 102-015-017

71 Lothar de Maizière (rechts) und Gregor Gysi (Mitte) warten im Wahlstudio des Fernsehens der DDR auf die Ergebnisse der Wahl. © ullstein bild – snapshot-photogra- phy /Tobias Seeliger

72 Auszählung der Stimmzettel in einem Wahllokal in Leipzig. © Michael Hughes

73 „In dieser Stunde schauen nicht nur die Menschen unseres Landes auf uns, sondern auch unsere Nachbarvölker und die gesamte Welt. 40 Jahre eines schweren Weges gehen in diesem Augenblick zu Ende. Wir schauen zwar immer noch zurück, und wir wissen um die tragischen, uns alle belastenden Ereignisse in unserer Geschichte. Das gilt für die Kata- strophe des Dritten Reiches wie auch für die stalinistische Epoche. Wir wissen damit auch um das Leid, das Deutsche anderen Völkern angetan haben. Wir stellen uns dieser Ge- schichte, und wir wissen um die Verantwor- tung für eine gute Zukunft.

Möge es gelingen, dass von diesem Parlament eine Botschaft des Friedens und der Versöh- nung in die Welt hinausgeht. Möge es uns dazu auch gelingen, dass wir als Abgeord- nete dieses Parlaments und als Vertreter der verschiedenen Parteien zu einer Zusammenar- EHLWğQGHQGLHIđUGLH0HQVFKHQGLHXQVLKU Vertrauen geschenkt haben, das Beste bewirkt. Dazu möge uns Kraft und Mut geschenkt wer- den.“ Lothar Piche (DSU), Alterspräsident der frei gewählten Volkskammer der DDR, in der konstituierenden Sitzung am 5. April 1990.

Die 10. Volkskammer

74 Am 5. April 1990 tritt die neu gewählte Volks- kammer zu ihrer ersten Sitzung im Palast der Republik zusammen. Sie beginnt unter der Leitung des Alterspräsidenten Lothar Piche (DSU), der das Amt anstelle des erkrankten Doch zuvor verabschieden diese in der DDR SPD-Abgeordneten Günter Kilias übernimmt. ersten frei gewählten Abgeordneten eine weg- Zu den ersten Aufgaben der 409 Abgeordneten weisende Erklärung zu ihrem eigenen Selbst- gehört die Besetzung des Präsidentenamtes. verständnis. „Einmütig“ bekennen sie sich Mit Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU) über- „vor der Weltöffentlichkeit zur Verantwortung nimmt zum ersten Mal eine Frau die Präsi- der Deutschen in der DDR für ihre Geschich- dentschaft eines DDR-Parlaments. Sie erhält te“: zu Mitverantwortung an „Demütigung, 214 Stimmen, während auf ihren Gegenkandi- Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, daten Reinhard Höppner (SPD) 171 Stimmen Männer und Kinder“, zur Mitverantwortung entfallen. am „furchtbaren Leiden (…), das Deutsche im Zweiten Weltkrieg den Menschen in der Noch in der ersten Sitzung verbindet Sabine Sowjetunion zugefügt haben“, „zur Mitschuld Bergmann-Pohl ihre Begrüßung der auf den der DDR an der Niederschlagung des Prager Besuchertribünen anwesenden Mitglieder des Frühlings 1968 durch Truppen des Warschau- Deutschen Bundestages mit dem Wunsch, dass er Paktes“, und sie erkennen alle „im Ergebnis die Parlamente die Zukunft gestalten, und des Zweiten Weltkriegs entstandenen deut- nicht nur die Regierung.“ Dieser Anspruch schen Grenzen zu allen Anrainerstaaten“ an. soll die Arbeit der Volkskammer bestimmen. Die Erklärung wird bei 21 Gegenstimmen ohne Zunächst obliegt es der Volkskammer, die Enthaltungen angenommen. In den kommen- Regierung zu wählen. Die zweite Sitzung den sechs Monaten bewältigen die Mitglieder am 12. April 1990 ist deshalb der Wahl des der Volkskammer ein beeindruckendes Arbeits- Ministerpräsidenten und seines Kabinetts pensum. Obwohl sie zunächst weder über gewidmet. Lothar de Maizière wird bei neun ausreichende Büroausstattungen verfügen Stimmenthaltungen mit 265 gegen 108 Stim- noch von einer funktionierenden Parlaments- men gewählt. Über sein Kabinett stimmen die verwaltung unterstützt werden, halten sie 38 Abgeordneten als Ganzes ab. 23 Minister und Sitzungen ab. Sie beraten und verabschieden Ministerinnen werden berufen. dabei 164 Gesetze und 93 Beschlüsse.

75 Dabei lassen die Abgeordneten der Volkskam- mer keineswegs alle Vorlagen der Regierung unverändert passieren. So ergänzen sie den von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR um das Staatsziel „Schutz der Um- welt“. Selbstbewusst schalten sie sich in die Regierungsverhandlungen zur Übernahme des „Stasi-Unterlagen-Gesetzes“ in den Einigungs- vertrag ein. Dabei setzen sie eine Zusatzver- einbarung zum Einigungsvertrag durch, nach der der Deutsche Bundestag nach der Wieder- vereinigung ein Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten schaffen und einen Sonderbeauf- tragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR einsetzen solle. Darüber hinaus geben sich die Präsidentinnen von Bundestag und Volkskammer, Prof. Dr. Rita Süssmuth und Dr. Sabine Bergmann-Pohl, eine eigene Agenda, laden zum Beispiel zu gemeinsamen Sitzungen der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ oder reisen gemeinsam nach Israel.

In einer Sondersitzung in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 beschließt die Volkskammer bei 62 Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen mit 294 Stimmen den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG zum 3. Oktober 1990.

76 Mitglieder der 10. Volkskammer der DDR (CDU) Michael Albrecht (CDU) Petra Albrecht (PDS) Eckard Altmann (CDU) Andreas Amende (SPD) Reinhard Anders (CDU) Dieter Annies (F.D.P.) Lothar Anys (DSU) Karsten Degner (DSU) Hans-Henning Axthelm (CDU) (CDU) (SPD) Jürgen Demloff (PDS) Timo Backofen (DSU) Marlies Deneke (PDS) (SPD) Peter Dierich (CDU) Lothar Barthel (CDU) Peter-Michael Diestel (DSU) Harald Bauer (CDU) Frank Dietrich (CDU) Gunter Bechstein (CDU) Klaus Domke (CDU) (CDU) Bernd Donaubauer (SPD) Kerstin Bednarsky (PDS) Hans-Georg Dorendorf (CDU) Karin Bencze (DFD) (UQVW3DXO'ùUĠHU *3 Rolf Berend (CDU) Hans-Wolf Dorias (CDU) Sabine Bergmann-Pohl (CDU) Burkhard Dörr (LDP) Günter Bergt (PDS) Manfred Dott (DSU) Hans-Dirk Bierling (CDU) Heinrich Douffet (CDU) Karl-Heinz Binus (CDU) Heidrun Dräger (SPD) (IFM) Hans-Wilhelm Ebeling (DSU) Josef Maria Bischoff (SPD) Manfred Eckstein (SPD) (PDS) Wolfgang Ehlers (CDU) Ingrid Bittner (PDS) Irene Ruth Ellenberger (SPD) Heinz Blume (CDU) Konrad Elmer (SPD) Willibald Böck (CDU) (PDS) Frank Bogisch (SPD) Rainer Eppelmann (DA) Ibrahim Manfred Böhme (SPD) Hans-Joachim von Essen (CDU) Jürgen Bohn (LPD) Rudolf Essler (CDU) Katharina Bormann (CDU) Sabine Fache (PDS) Rainer Börner (PDS) Konrad Felber (DFP) (SPD) Walter Fiedler (CDU) Christoph Brandt (CDU) Wolfgang Fiedler (CDU) Wolfgang Braun (CDU) Rüdiger Fikentscher (SPD) (SPD) Klaus-Christian Fischer (NDPD) Thomas Brick (CDU) Michael Fischer (CDU) Dankward Brinksmeier (SPD) (PDS) Jörg Günter Brochnow (CDU) Alfred Förster (SPD) Bernd Brösdorf (SPD) Eva-Maria Förtsch (PDS) (CDU) Peter Franke (DSU) Manfred Buck (CDU) Michael Friedrich (PDS) /RUHQ]&DIğHU &'8  Christina Fritsch (SPD) (PDS) Dieter Frönicke (CDU) Martin Clemens (CDU) (PDS) Klaus-Peter Creter (CDU) Christiane Funke (SPD)

77 Joachim Gauck (NF) Hans Geisler (DA) Ralf Geisthardt (CDU) Johannes Gerlach (SPD) Gerd Gies (CDU) Wolfgang Hotz (PDS) Anne-Karin Glase (CDU) Paul Jacobs (SPD) Dieter Gleisberg (LDP) Susanne Jaffke (CDU) Hans-Gerd Glück (PDS) Renate Jäger (SPD) (DBD) Wolfgang Janka (CDU) Eberhard Goldhahn (CDU) Georg Janovsky (CDU) (CDU) Frank Jauch (SPD) Stefan Gottschall (DSU) Frieder Jelen (CDU) Martin Göttsching (CDU) Margit Jentsch (PDS) Christine Grabe (GP) Rainer Jork (CDU) Juliane Grehn (CDU) Hartmut Junghanns (PDS) Gundolf Gries (CDU) Manfred Kalz (SPD) Rolf Gröger (DSU) Karl-August Kamilli (SPD) Jurij Groß (PDS) Udo Kamm (CDU) Uwe Grüning (CDU) (PDS) Detlef Gürth (CDU) Horst Kauffmann (DFP) Martin Gutzeit (SPD) Peter Kauffold (SPD) Gregor Gysi (PDS) Sylvia-Yvonne Kaufmann (PDS) Hans-Joachim Hacker (SPD) Brigit Kayser (CDU) Hans-Peter Häfner (CDU) (PDS) Karl Hagemann (CDU) Norbert Kertscher (PDS) Andreas Hahn (CDU) Uwe Keßler (CDU) Hans-Jürgen Hahn (PDS) Günter Kilias (SPD) Rosemarie Hajek (SPD) Martin Kirchner (CDU) Lothar Handschack (CDU) Jürgen Kleditzsch (CDU) Wolf-Peter Hannig (PDS) Lothar Klein (DSU) Gert Hartmann (SPD) Thomas Klein (VL/fraktionslos) (CDU) Armin Kleinau (CDU) Jürgen Haschke (DSU) Gerry Kley (LDP) Udo Haschke (CDU) Ulrich Klinkert (CDU) Christian Hauck (CDU) Johannes Kney (LDP) Helmar Hegewald (PDS) Jutta Knop (CDU) Manfred Heise (CDU) Horst Kober (PDS) Rosemarie Heise-Schirdewan (PDS) Manfred Kober (CDU) Dieter Helm (DBD) Dieter-Lebrecht Koch (CDU) Frank Heltzig (SPD) Norbert Koch (DSU) Werner Henning (CDU) Brigitta-Charlotte Kögler (DA) Uwe-Jens Heuer (PDS) Hans-Ulrich Köhler (CDU) Günter Hielscher (LDP) Johanna Köhler (CDU) Peter Hildebrand (GP) Wolfgang König (CDU) Regine Hildebrandt (SPD) Stefan Körber (SPD) Stephan Hilsberg (SPD) Albert Kosler (CDU) Bertram Hoenicke (CDU) Manfred Koslowski (CDU) Dieter Hofmann (DFP) Bärbel Kozian (PDS) Joachim Holz (DBD) Günther Krause (CDU) Klaus Höpcke (PDS) Helmut Krause (DFP) Reinhard Höppner (SPD) Wolfgang Krause (CDU) Günter Hörning (CDU) (SPD)

78 Rüdiger Kreis (CDU) Bärbel Kreuz (PDS) Erdmann Kröger (PDS) Paul Krüger (CDU) Thomas Krüger (SPD) Reiner Krziskewitz (CDU) Reinhard Mocek (PDS) Siegfried Küchler (CDU) Hans Modrow (PDS) Hinrich Kuessner (SPD) Jens Albert Möller (SPD) Harald-Dietrich Kühne (CDU) Luise Morgenstern (SPD) Angela Kummert (PDS) Marion Morgenstern (PDS) Karl-Heinz Kunckel (SPD) Peter-Klaus Mugay (CDU) Wolfgang Kunert (CDU) Rüdiger Natzius (SPD) Wolfgang Kunert (PDS) Manfred Naumann (SPD) Eva Kunz (SPD) Gerhard Neumann (SPD) Gerlinde Kuppe (SPD) Günter Neumeister (SPD) (CDU) Käte Niederkirchner (PDS) Sabine Landgraf (DSU) Ilse Renate Nierade (NF) Heinz Lassowsky (CDU) Johannes Nitsch (CDU) Paul Latussek (DSU) Gabriele Noack (CDU) Conrad-Michael Lehment (LDP) Ludwig Noack (CDU) Michael Leja (CDU) (CDU) Jürgen Leskien (PDS) Günter Nooke (DJ) Elke Lindemann (SPD) Joachim Hubertus Nowack (DSU) Andreas Lindenlaub (DSU) Peter Oleikiewitz (SPD) Frieder Lippmann (SPD) Bernhard Opitz (DFP) Hans Löbel (CDU) (LDP) Hans-Ulrich Lubk (CDU) Christine Ostrowski (PDS) (SPD) Irmtrud Otto (CDU) (PDS) Norbert Otto (CDU) Peter Lüth (CDU) Gisbert Paar (CDU) Michael Luther (CDU) Uwe Patzig (CDU) Jürgen Mäder (GP) Steffen Peltsch (PDS) Lothar de Maizière (CDU) Angelika Sabine Pfeiffer (CDU) Günther Maleuda (DBD) Lothar Piche (DSU) Volker Manhenke (SPD) Rainer Pietsch (NF) Dörte Martini zum Berge (CDU) (GP) Werner Marusch (DBD) Gerhard Pohl (CDU) Gerhard Masuch (CDU) Wolfgang Pohl (PDS) Dietmar Matterne (SPD) Wilhelm Polte (SPD) Gotthilf Matzat (NF) Gerd Poppe (IFM) Markus Meckel (SPD) Rosemarie Priebus (CDU) (PDS) Hermann Quien (SPD) Lothar Meier (PDS) Rolf Rau (CDU) Hanns-Ulrich Meisel (NF) Klaus Rauber (CDU) Gert Meißner (F.D.P.) Stephan Reber(CDU) Werner Meyer-Bodemann (DBD) Stefanie Sigrid Rehm (CDU) (CDU) Jens Reich (NF) Hans-Jürgen Misselwitz (SPD) Klaus Reiche (SPD) Walter Möbus (CDU) (SPD)

79 Bernd Reichelt (GP) Klaus Reichenbach (CDU) Sybille Reider (SPD) Kay Wolfgang Reimann (CDU) Edelbert Richter (SPD) Herbert Richter (PDS) Joachim Richter (SPD) (PDS) Ortwin Ringleb (SPD) (SPD) Walter Romberg (SPD) Heinz Rother (CDU) Christine Rudolph (SPD) Dieter Rudorf (SPD) Thomas von Ryssell (DFP) Michael Schätze (CDU) Jürgen Seidel (CDU) Eberhard Scharf (CDU) Ilja Seifert (PDS) Ernst Otto Volker Schemmel (SPD) Susanne Seils (SPD) Johann Scheringer (PDS) Karl-Ernst Selke (CDU) Dietmar Schicke (LDP) Gisela Sept-Hubrich (SPD) Eberhard Schiffner (CDU) Werner Sobetzko (CDU) Herbert Schirmer (CDU) Wieland Sorge (SPD) (CDU) Peter Stadermann (PDS) Frank Schmidt (CDU) Gerd Staegemann (NDPD) Thomas Schmidt (DSU) Carmen Stange (CDU) Jürgen Schmieder (DFP) Jochen Steinecke (LDP) Joachim Schmiele (DSU) Andreas Steiner (DSU) Boje Schmuhl (CDU) Klaus Steinitz (PDS) Burkhard Schneeweiß (CDU) Joachim Steinmann (CDU) Angela Schneider (PDS) Kurt Stempell (CDU) Reiner Schneider (CDU) Volker Stephan (SPD) Renate Schneider (DSU) Inge Stetter (SPD) Emil Schnell (SPD) (SPD) Martina Schönebeck (PDS) Roswitha Stolfa (PDS) Andreas Schramm (CDU) Christiane Strobach (PDS) Harald Schreiber (CDU) Ingeborg Tamm (CDU) Hans-Julius Schroeder (CDU) Uwe Täschner (GP) Jürgen Schröder (CDU) Frank Terpe (SPD) Richard Schröder (SPD) Olaf Thees (CDU) Cordula Schubert (CDU) Holger Thelen (CDU) Ina Schubert (PDS) (SPD) Christian Friedrich Schultze (SPD) Peter Thietz (F.D.P.) Gerhard Schulz (CDU) Frank Tiesler (DSU) Horst Schulz (DA) (CDU) (NF) Gottfried Timm (SPD) Fritz Schumann (PDS) Willibald Toscher (CDU) (PDS) Nikolaj Klaus Tschalamoff (CDU) Gustav-Adolf Schur (PDS) Hans-Jochen Tschiche (NF) Clemens Schwalbe (CDU) Sabine Uecker (SPD) (SPD) Hartmut Ulbricht (CDU) Jürgen Schwarz (DSU) (DJ) Per-René Seeger (DBD) Dietmar-Richard Unger (CDU)

80 Silvina Vieweg (CDU) Gisela Voigt (PDS) Gotthard Voigt (DSU) Bernd Voigtländer (SPD) Ursula Vollbrecht (SPD) Heinz Wagner (CDU) Hansjoachim Walther (DSU) Eckhard Waschnewski (CDU) Hans Watzek (DBD) Ernst-Hinrich Weber (CDU) Solveig Wegener (PDS) Siegfried Weigel (SPD) Reinhard Weis (SPD) Konrad Weiß (DJ) Gunter Weissgerber (SPD) Frieder Werner (PDS) Kersten Wetzel (CDU) Siegfried Wetzel (CDU) Karsten Wiebke (SPD) (CDU) Frank Wietschel (SPD) Hans-Joachim Willerding (PDS) Johannes Winter (CDU) Bernd Wolf (CDU) Ingrid Wolf (CDU) Vera Wollenberger (GP) Michael Wonneberger (CDU) Dieter Wöstenberg (F.D.P.) Gert Wunderlich (CDU) Martin Wünschmann (CDU) Alexander Würzner (SPD) Alwin Ziel (SPD) Hans Zimmermann (CDU) Rolf Zimmermann (CDU) Klaus-Otto Zirkler (LDP) Lothar Zocher (CDU) Brigitte Zschoche (PDS) Georg Zschornack (DBD)

81 Konstituierende Sitzung der Volks- kammer Am 5. April 1990 tritt die aus der ersten freien und geheimen Wahl der DDR hervorgegangene Volks- kammer im Palast der Republik zu- sammen. Ihre erste Amtshandlung ist die Wahl für das Präsidentenamt. © ullstein bild / ADN- Bildarchiv

82 Abgeordnete der frei gewählten uns nun anvertraut. Tragen wir mit Volkskammer gratulieren Sabine unserer Arbeit den Frühling in das Bergmann-Pohl zur Wahl. In ihrer Land!“ (Protokoll der ersten Tagung Ansprache hatte sie vor den Abge- der Volkskammer vom 5.4.1990). ordneten einen hohen Anspruch an © picture alliance / dpa / Wolfgang das neu gewählte Parlament formu- Kumm liert: „Über jeglichen Parteienegois- mus hinweg muss es uns gelingen, durch eine kluge, von vielen getra- gene Politik wieder die Hoffnung in das Leben der Menschen zu geben, erneut das Vertrauen in die Zukunft zu wagen. Durch unsere gesetzge- berische Arbeit sind Rahmenbedin- gungen zu schaffen, die den Leis- tungswillen des Volkes kräftigen und Leistung erfahrbar machen, die verantwortliches und solidarisches Handeln fördern und das Netz so- zialer Sicherheit fest knüpfen. Das ]DUWH3ĠÃQ]FKHQ'HPRNUDWLHGDV mehr als 50 Jahre überwinterte, ist

83 Bundestagsvizepräsidentin An- nemarie Renger (rechts) beglück- wünscht die neu gewählte Präsi- dentin der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl (links). © ullstein bild / ADN-Bildarchiv

84 Vereidigung des neu gewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maizière wird am 12. April 1990 im Sitzungssaal der Volkskammer vereidigt. Er war in der ersten Tagung der Volkskam- mer von der stärksten Fraktion, der Fraktion der Christlich-Demo- kratischen Union Deutschlands, als Vorsitzender des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik vorgeschlagen und mit der Bildung des Ministerrates der DDR beauftragt worden. Er wird bei neun Stimmenthaltungen mit 265 gegen 108 Stimmen zum Minister- präsidenten gewählt. Die Minister und Ministerinnen seines Kabinetts erhalten im Anschluss en bloc die Zustimmung der Parlamentarier. © ullstein bild / ADN-Bildarchiv

85 86 Regierungserklärung von Lothar de dem Ruf ‚Wir sind das Volk!‘ er- Die Volkskammer mit neuer Regie- Maizière wuchs der Ruf ‚Wir sind ein Volk!‘. rung am 12. April 1990 Das Volk in der DDR konstituierte Am 19. April 1990 verliest Minis- In den Regierungsbänken sitzen sich als Teil eines Volkes, als Teil terpräsident Lothar de Maizière die die gerade gewählten Minister des einen deutschen Volkes, das Regierungserklärung. Er spricht dar- und Ministerinnen des Kabinetts wieder zusammenwachsen soll. in auch der Übergangsregierung un- de Maizière. Das DDR-Emblem im Unsere Wähler haben diesem ihrem ter Hans Modrow und dem Runden Hintergrund hängt noch, wird nach politischen Willen in den Wahlen Tisch als „Wegbereiter der Demo- dem Beschluss der Volkskammer vom 18. März 1990 deutlich kratie“ seinen Dank aus. Er beginnt vom 31. Mai 1990, „alle Staatswap- Ausdruck verliehen. Dieser Wille seine Rede mit den Worten: „Die pen, die sich in und an öffentlichen YHUSĠLFKWHWXQV,KQVRJXWZLH Erneuerung unserer Gesellschaft *HEÃXGHQEHğQGHQŃ]XHQWIHUQHQ nur möglich zu erfüllen, ist unsere stand unter dem Ruf ‚Wir sind das aber bald abgenommen. gemeinsame Verantwortung.“ Volk!‘ Das Volk ist sich seiner selbst © Süddeutsche Zeitung Photo, bewusst geworden. Zum ersten Mal © ullstein bild / ADN-Bildarchiv Fotograf: Paul Glaser seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. Die Wahlen, aus denen dieses Parlament hervorgegangen ist, waren Wahlen des Volkes. Zum ersten Mal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht. Und aus

87 Das Kabinett de Maizière nach der (CDU, für Medienpolitik), Gerhard nungswirtschaft), Kurt Wünsche Wahl am 12. April 1990 Pohl (CDU, für Wirtschaft), Peter (BFD, für Justiz). Pollack (parteilos, für Ernährung, © ullstein bild – Zentralbild / Rein- Die letzte Regierung der DDR stellt Land- und Forstwirtschaft), Manfred hard Kaufhold sich der internationalen Presse, Preiß (BFD, für Regionale und die vor dem Palast der Republik Kommunale Angelegenheiten), wartet. Die Mitglieder des Kabi- Klaus Reichenbach (CDU, Leiter des netts sind: Peter-Michael Diestel Amtes des Ministerpräsidenten), (DSU, für Innere Angelegenheiten Sybille Reider (SPD, für Handel und und Stellvertreter des Ministerprä- Tourismus), Walter Romberg (SPD, sidenten), Hans-Wilhelm Ebeling für Finanzen), Herbert Schirmer (DSU, für Wirtschaftliche Zusam- (CDU, für Kultur), Christa Schmidt menarbeit), Rainer Eppelmann (DA, (CDU, für Frauen und Familie), für Abrüstung und Verteidigung), Emil Schnell (SPD, für Post- und Horst Gibtner (CDU, für Verkehr), Fernmeldewesen), Cordula Schubert Regine Hildebrandt (SPD, für Arbeit (CDU, für Jugend und Sport), und Soziales), Jürgen Kleditzsch Karl-Hermann Steinberg (CDU, für (CDU, für Gesundheit), Markus Umwelt, Naturschutz, Energie und Meckel (SPD, für Auswärtige Reaktorsicherheit), Frank Terpe Angelegenheiten), Hans-Joachim (SPD, für Forschung und Techno- Meyer (parteilos, für Bildung und logie), Axel Viehweger (BFD, für Wissenschaft), Gottfried Müller Bauwesen, Städtebau und Woh-

88 Pressevertreter aus aller Welt foto- JUDğHUHQGDVQHXH.DELQHWW © picture alliance / dpa-Report / dpa-Zentralbild / Reinhard Kaufhold

89 Annäherung der beiden deutschen Parlamente (1) In Begleitung vieler Abgeordneter und Journalisten spazieren Sabine Bergmann-Pohl und Rita Süssmuth am 30. April 1990 vom Palast der Republik in Ost-Berlin zum Reichs- tagsgebäude in West-Berlin. In EHLGHQ*HEÃXGHQğQGHQJHPHLQVDPH Sitzungen statt, in denen sich die beiden Präsidentinnen unter anderem für eine gemeinsame Gedenkveran- staltung am 17. Juni und für eine textgleiche Garantie der polnischen Westgrenze aussprechen. „Dies ist die Stunde der Parlamente“, erklären bei- de Präsidentinnen im Anschluss. Um an diesen historisch denkwürdigen 7DJIRUWDQ]XHULQQHUQSĠDQ]HQEHLGH am Reichstagsgebäude eine Esche. © akg-images / picture alliance / dpa

90 (2) Zu Beginn der gemeinsamen Beratung der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ im Reichstagsgebäude stellen sich die teilnehmenden Parlamentarier zu einem Gruppen- foto vor dem Haupteingang des Reichstagsgebäudes auf. Ganz links vorn: Wolfgang Ullmann; rechts ne- ben Sabine Bergmann-Pohl: Richard Stücklen. © Bundesarchiv / Thomas Uhle- mann / Signatur: Bild 183-1990- 0430-012

91 (3) Die erste gemeinsame Sitzung der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ mit Abgeordneten der Volkskammer und des Deutschen Bundestages am 23. Mai 1990. Im Bild die beiden Präsidentinnen Rita Süssmuth und Sabine Bergmann-Pohl. © Deutscher Bundestag / Hans-Günther Oed

92 (4) Zum Programm der beiden Par- lamentspräsidentinnen gehört ein gemeinsamer Besuch in Israel. Dort werden Rita Süssmuth und Sabine Bergmann-Pohl am 26. Juni 1990 in Jerusalem von Bürgermeister Teddy Kollek empfangen. © ullstein bild / ADN- Bildarchiv

93 Der erste formale Schritt zur Einheit Am 18. Mai 1990 unterzeichnen die Finanzminister Walter Romberg und im Beisein von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Lothar de Maizière den Vertrag über die Bildung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozial- union zwischen Bundesrepublik und DDR im Gobelinsaal des Palais Schaumburg in Bonn. © ullstein bild / ADN-Bildarchiv

94 Demonstrationen vor dem Palast der Republik (1) Die Sitzungen der Volkskammer ZHUGHQKÃXğJYRQ'HPRQVWUDWLR- nen vor dem Palast der Republik begleitet. Inzwischen zeichnet sich ab, dass bei der Wiedervereinigung zahlreiche Betriebe geschlossen und viele Menschen ihre Arbeit verlieren werden. Am 12. Juli 1990 protestieren Mitarbeiter und Mitar- beiterinnen des ehemaligen Fleisch- kombinats Berlin mit Schlachtvieh gegen die sinkenden Absatzchancen für ihre Produkte. Sie demonstrie- ren damit gegen die Agrarpolitik der Regierung und fordern vom Parlament Lösungen bei der Umset- zung der Wirtschaftsunion. © ullstein bild / ADN- Bildarchiv

95 (2) Am 15. Juni 1990 verhandeln die Volkskammerabgeordneten in der Aktuellen Stunde „Fragen und Probleme der künftigen sozialen XQGğQDQ]LHOOHQ$EVLFKHUXQJGHU Studenten der DDR“. Vor dem Platz der Republik fordern Studierende eine Erhöhung der Stipendien nach der Währungsunion auf das von der Regierung berechnete Existenzmini- mum von 495 D-Mark. Markus Meckel spricht zu den Kundgebungsteil- nehmern. © ullstein bild / ADN-Bildarchiv

96 (3) Am 19. Juli 1990 hält die Gewerkschaft der Volkspolizei vor dem Palast der Republik eine Pro- testkundgebung ab. An diesem Tag ğQGHWLQGHU9RONVNDPPHUGLHHUVWH Lesung zum neuen Gesetz über die Aufgaben der Polizei statt. © ullstein bild / ADN- Bildarchiv

97 Sondersitzung der Volkskammer am 17. Juni 1990 Von 1954 bis 1990 war der 17. Juni in der Bundesrepublik gesetzlicher Feiertag. An diesem Tag gedachte man des am 17. Juni 1953 von sowjetischen Truppen niedergeschla- genen Volksaufstands in der DDR. 1963 proklamierte Bundespräsident Heinrich Lübke diesen Tag zum „Na- tionalen Gedenktag des deutschen Volkes“. Am 17. Juni 1990 halten beide deutsche Parlamente im Schau- spielhaus am Gendarmenmarkt eine gemeinsame Gedenkveranstaltung ab, bei der Vertreter beider Parlamente betonen, dass damit „erstmals der Auseinandersetzung mit der Ge- schichte als gemeinsamer Verantwor- tung“ Rechnung getragen werde. © ullstein bild / ADN- Bildarchiv

98 Verhandlungen über den Termin der Wiedervereinigung Am 17. Juni 1990 stellt Jürgen Schwarz (hier stehend im Bild), Fraktionssprecher der DSU, wäh- rend einer Sondertagung der Volks- kammer überraschend den Antrag auf sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Dieser war bereits 1956 bei der Aufnahme des Saarlandes zur Anwendung gekommen. In der anschließenden Debatte verhindern Ministerpräsident de Maizière und SPD-Fraktionschef Schröder den Antrag vor allem, um die nationalen und internationalen Verhandlungen zum Einigungsprozess nicht zu gefährden. © ullstein bild / ADN- Bildarchiv

99 Die Zustimmung zum deutsch-deut- Deutschen. Mit der Verabschie- Entschließung zur Endgültigkeit der schen Staatsvertrag im Deutschen dung des Staatsvertrages über Oder-Neiße-Grenze zu. Bundestag die Währungs-, Wirtschafts- und © Süddeutsche Zeitung Photo / Sozialunion und der Entschließung Der Bundestag stimmt am 21. Juni Sven Simon zur Grenze des künftigen vereinig- 1990 in Bonn für den deutsch- ten Deutschland mit Polen geht es deutschen Staatsvertrag über die um entscheidende Schritte auf dem Schaffung einer Währungs-, Wirt- Weg, die staatliche Einheit Deutsch- schafts- und Sozialunion zwischen lands wiederherzustellen. Meine der Bundesrepublik und der DDR. Damen und Herren, liebe Kollegin- Bundeskanzler Helmut Kohl, hier nen und Kollegen, es kommt jetzt am Rednerpult, sagt zu Beginn darauf an, dass wir dieser histori- seiner Ansprache: „Herr Präsident! schen Chance gewachsen sind, dass Meine sehr verehrten Damen und wir sie verantwortungsbewusst, Herren! Selten in seiner Geschichte klug und in Würde zu nutzen stand der Deutsche Bundestag vor ZLVVHQŃ 6WHQRJUDğVFKHU%HULFKW so bedeutsamen Entscheidungen der 217. Sitzung des Deutschen wie heute. Nach über 40 Jahren Bundestages) schmerzlicher Trennung stehen wir Zeitgleich stimmt auch die jetzt vor der Erfüllung der Hoffnung Volkskammer mit überwältigender der Menschen in Deutschland auf Mehrheit dem Staatsvertrag und der die Einheit und die Freiheit aller

100 Die Wiedereinführung der fünf Bundesländer auf dem Gebiet der DDR Ein Abgeordneter der Volkskam- mer betrachtet eine Karte, auf der die fünf Bundesländer verzeichnet sind, in die das Gebiet der DDR nach der Wiedervereinigung unter- teilt werden soll. Die Volkskammer verabschiedet am 22. Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz, mit dem die 1952 abgeschafften Länder , Sachsen, Sachsen- Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen wiederhergestellt werden. Ost-Berlin erhält einen Status mit Landesbefugnissen. © picture alliance / dpa-Bildarchiv / Wolfgang Kumm

101 Das Stasiunterlagensetz in der vertrag, der zunächst vorsieht, die nete Christine Grabe (Bündnis 90), Volkskammer Akten mit einer dreißigjährigen die dem Vizeparlamentspräsiden- Sperrfrist ins Bundesarchiv nach ten Reinhard Höppner (SPD, halb Ab Juli 1990 beschäftigt sich die Koblenz zu überstellen. Das ruft verdeckt) während einer Sitzung Volkskammer mit einem Gesetzent- Bürgerrechtlerinnen und Bürger- der Volkskammer am 13. September wurf zum Umgang mit den rund rechtler, die im Dezember 1989 1990 eine Unterschriftensammlung sechs Millionen Akten der Staats- Bezirks- und Kreisverwaltungen der übergibt. Deren 21.000 Unter- sicherheit. Das „Gesetz über die Si- Stasi besetzt hatten, erneut auf den zeichnenden erklären sich mit der cherung und Nutzung der personen- Plan. Sie besetzen am 4. Septem- Mahnwache in der Ruschestraße bezogenen Daten des ehemaligen ber Gebäude des Ministeriums für solidarisch und drängen auf den Ministeriums für Staatssicherheit/ Staatssicherheit im Ost-Berliner Be- Verbleib der Akten in der DDR. Es Amtes für Nationale Sicherheit“, zirk , organisieren eine ist der Tag der ersten Lesung des das von einem eigens eingesetzten Mahnwache und fordern neben der Einigungsvertrags in der Volkskam- Sonderausschuss unter Leitung von Einhaltung des von der Volkskam- mer. Am Abend zuvor waren die 23 Joachim Gauck erarbeitet wurde, mer beschlossenen Gesetzes auch, Besetzerinnen und Besetzer der Sta- sieht die Sicherung der Akten, die dass der Umgang mit den Akten sizentrale in Hungerstreik getreten, Zugänglichmachung für die Opfer unter parlamentarische Kontrolle um ihren Forderungen Nachdruck und ihre historische Aufarbeitung gestellt wird. Die Aktion stößt auf zu verleihen. vor. Es wird am 24. August 1990 breites öffentliches Echo, Politiker in der Volkskammer beschlossen, © Bundesarchiv / Karl-Heinz wie Wolfgang Thierse (SPD) solida- läuft aber nicht konform mit den Schindler / Signatur: Bild 183-1990- risieren sich mit den Forderungen. Verhandlungen zum Einigungs- 0913-415 Im Bild zu sehen ist die Abgeord-

102 Wolfgang Thierse (SPD, später Präsident des Deutschen Bundes- tages) im Gespräch mit Marianne Birthler (Bündnis 90, 2000 bis März 2011 die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits- dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik). Beide unterstützen die Forderungen der Bürgerrechtlerinnen und Bürger- rechtler zum Verbleib der Stasi- Akten auf dem Gebiet der DDR. Quelle: picture alliance / dpa-Zent- ralbild / Reinhard Kaufhold

103 Sondersitzung der Volkskammer am lik zum 3. Oktober 1990 (Jubelnder 22./23. August 1990 Beifall bei der CDU/DA, der DSU, teilweise bei der SPD) beschlossen. In den frühen Morgenstunden Ich bedauere, dass die Beschluss- stimmen die Abgeordneten der fassung im Hauruckverfahren über Volkskammer bei sieben Stimment- einen Änderungsantrag geschehen haltungen mit 294 zu 62 Stimmen ist. (…), denn die DDR, wie sie auch für den Beitritt der DDR zum immer historisch beurteilt werden Geltungsbereich des Grundgesetzes wird, war für jeden von uns – mit der Bundesrepublik gemäß Artikel sehr unterschiedlichen Erfahrungen 23 des Grundgesetzes am 3. Okto- – das bisherige Leben. (…) ber 1990. Der Termin war relativ Aber ich bin davon überzeugt, es kurzfristig zwischen Bonn und gibt auch neue Chancen.“ Ost-Berlin ausgehandelt worden. Bundeskanzler Helmut Kohl schlägt Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender zeitgleich vor, fortan den 3. Oktober der PDS in der Volkskammer, gibt zum Nationalfeiertag zu machen. im Anschluss an die Abstimmung eine persönliche Erklärung ab: © ullstein bild / Christian Bach „Frau Präsidentin! Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Repub-

104 Abgeordnete der Volkskammer auf sowie wenige Tage darauf bei der der Zuschauertribüne im Bonner Öffnung des Brandenburger Tores Plenarsaal am 23. August 1990 Ende des vergangenen Jahres sicht- bar. Zuallererst, meine Damen und Der Bundestag stimmt in seiner 221. Herren, haben wir daher heute un- Sitzung über den 3. Oktober als Ter- seren Landsleuten in der DDR dafür min für die Wiedervereinigung ab. zu danken, dass wir in wenigen Unter den Gästen aus Ost-Berlin ist Wochen die Freiheit und Einheit , damals stellvertre- Deutschlands vollendet haben wer- tende Regierungssprecherin des Ka- den. Sie haben mit ihrem Mut, mit binetts de Maizière. Bundeskanzler ihrer Besonnenheit und vor allem Helmut Kohl sagt in seiner Erklä- mit ihrer Freiheitsliebe ein Beispiel rung: „Das Tempo der Entwicklung gegeben, wie sich eine gewaltsame wurde von unseren Landsleuten in Diktatur friedlich überwinden lässt. der DDR bestimmt; von ihrem Ruf Dies wird für alle Zeit zu einem der nach Freiheit und nach Einheit. Zu großartigen Kapitel der deutschen dem Ruf ‚Wir sind das Volk!‘ trat Geschichte gehören“. schon bald hinzu auch der Ruf ‚Wir sind ein Volk!‘. Auf eine mich per- © Presse- und Informationsamt sönlich besonders bewegende Weise der Bundesregierung / Engelbert wurde das bei meiner Rede vor der Reineke Ruine der Frauenkirche in Dresden

105 Die Unterzeichnung des Einigungs- vertrags am 31. August 1990 Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Staatssekretär Günther Krause nach der Unter- zeichnung des Einigungsvertrags im Kronprinzenpalais Unter den Linden. Dieser zweite Staatsvertrag regelt in 45 Artikeln die Einzelhei- ten des Beitritts der DDR zur Bun- desrepublik. Dazu gehört die Fest- legung, dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands und der 3. Oktober fortan als Tag der Deutschen Einheit ein gesetzlicher Feiertag sein soll. © Süddeutsche Zeitung Photo / Werek

106 Besuch Ronald Reagans in der er auch Volkskammerpräsidentin Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl einen Be- such im Palast der Republik ab. Während die Außenminister der vier Siegermächte und der beiden © ullstein bild / ADN-Bildarchiv deutschen Staaten bei den so ge- nannten Zwei-plus-Vier-Gesprächen in Moskau den „Vertrag über die ab- schließenden Regelungen in Bezug auf Deutschland“ unterzeichnen, besucht der frühere amerikanische Präsident Ronald Reagan am 12. September 1990 Berlin. Erst drei Jahre zuvor hatte er den sowjeti- schen Staatschef Michail Gorbat- schow am Brandenburger Tor dazu aufgefordert, die Mauer niederzu- reißen. Nun zeigt er sich über die Schnelligkeit des Wandels über- rascht und bezeichnet die Mauer als „eine verblassende Erinnerung“. Während seines Aufenthaltes stattet

107 „Unser parlamentarisches Wirken wurde ge- tragen von unserem Willen, als frei gewählte Volksvertreter den Weg zur deutschen Einheit so optimal wie möglich für die Menschen in unserem Teil Deutschlands zu gestalten. In oft mühevoller Arbeit haben wir den Versuch unter- nommen, mit der Entwicklung wahrhaft demo- kratischer Elemente die 16 Millionen Bürger anzuspornen und zu ermuntern, den Weg in ein einiges deutsches Vaterland aufrechten Ganges zu beschreiten.“ Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) in ihrer Begrüßungsansprache zur letzten Sitzung der Volkskammer am 2. Oktober 1990

„Am 3. Oktober ist noch nicht das Ende der Trennung Deutschlands erreicht, auch wenn der Rechtsakt der Vereinigung damit abgeschlossen ist. Der 3. Oktober ist der Anfang der Gestaltung der Einheit Deutschlands. […] Morgen feiern wir Hochzeit. Jeder weiß, eine gute Ehe wird es nur, wenn beide Seiten sich verändern, aufeinander zuwachsen und in der Gütergemeinschaft hin- terher nicht ständig darüber diskutiert wird, wer was in die Ehe eingebracht hat.“ Reinhard Höppner (SPD), stellvertretender Präsident der Volkskammer, in seiner Ansprache anlässlich der letzten Sitzung der Volkskammer am 2. Oktober 1990

Die Wiedervereinigung

108 „ Die Volkskammer hatte die Aufgabe, einen „Unter wesentlich besseren Voraussetzungen als Beitrag zu leisten, daß unsere Bürgerinnen und in den vergangenen 40 Jahren haben wir nun- Bürger mit Selbstvertrauen und in Würde in die mehr die Chance einer weiteren demokratischen Einheit gehen können. […] Verhindern wir ge- Grunderneuerung. Nutzen wir sie, aus meinsam eine Atmosphäre, in der sich in diesem diesem Parlament kommend, in Deutschland JUùćHUHQ'HXWVFKODQGVFKRQGHVKDOEMHPDQG gemeinsam! Nehmen wir in die neue Zeit, die schämen soll, nur weil sie oder er bis heute, morgen beginnt, den Vorsatz mit, daß auch in 24.00 Uhr, Bürgerin oder Bürger der DDR war.“ unserem Teil des Landes ein wahres demokrati- Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion der PDS, sches Bewusstsein entstanden ist oder noch im in seiner Ansprache anlässlich der letzten Sit- (QWVWHKHQVLFKEHğQGHWXQGHLQMHGHUYHUVXFKW zung der Volkskammer am 2. Oktober 1990 den anderen über die Parteien hinaus als Men- schen in seiner Freiheit zu ehren, aber vor allem „Das Parlament hat 180 Tage gedauert. Zu langen auch zu verstehen.“ Lobeshymnen ist kein Anlass. Es hat manches Günther Krause, Fraktionsvorsitzender der gut gemacht und anderes gründlich, einiges CDU/DA-Fraktion, in seiner Ansprache anläss- sogar schmählich verfehlt. Auf die Gesamtzen- lich der letzten Sitzung der Volkskammer am sur in den Geschichtsbüchern der Zukunft bin 2. Oktober 1990 ich gespannt. […] Die Gewählten sind verant- wortlich, daß das Gemeinwesen nicht Schaden „Ist es heute ein Tag der Freude? Ja, ich denke. nimmt. Wir müssen an unsere Verantwortung Aber auch dies ganz besonders ist heute ein Tag denken. Die deutsche Einheit ist ein Epochen- des Nachdenkens und ein Tag des Dankes. Wir wechsel, und sie ist zu wichtig, als daß sie für HPSğQGHQWLHIHLQQHUH%HIULHGLJXQJGDćVLFK Millionen zur Erinnerung an ein gebrochenes eine Geschichtssituation gelöst hat. Wir atmen Versprechen, an einen Dolchstoß werden darf. auf. Wir haben es geschafft: Das Unerreichbare, Das muss verhindert werden.“ das Undenkbare wird politische Wirklichkeit.“ Jens Reich, Sprecher der Fraktion Bündnis Rainer Ortleb, Vorsitzender der F.D.P.-Fraktion, 90/Grüne, in seiner Ansprache anlässlich in seiner Ansprache anlässlich der letzten Sit- der letzten Sitzung der Volkskammer am zung der Volkskammer am 2. Oktober 1990 2. Oktober 1990

109 Zu den wichtigsten Gesetzen gehören: – das Gesetz zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozial- union zwischen der Deutschen Demokra- tischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland vom 21. Juni 1990. – das Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik (Ländereinführungsgesetz) vom 22. Juli 1990, mit dem die Länder Branden- burg, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebildet werden. Damit ist eine wichtige Vorausset- Am 2. Oktober 1990 tagt die Volkskammer zung für einen Beitritt nach Artikel 23 des zum letzten Mal. Es ist keine Sitzung, in der Grundgesetzes geschaffen. Beschlüsse diskutiert, Gesetze abgestimmt – das Gesetz über die Sicherung und Nut- oder Grundsatzdebatten geführt werden. Es ist zung der personenbezogenen Daten des die letzte Sitzung vor dem Staatsakt zur deut- ehemaligen Ministeriums für Staatssicher- schen Wiedervereinigung und die Chance, zu- heit /Amtes für Nationale Sicherheit vom rückzublicken. Die 10. Volkskammer der DDR 24. August 1990. ist das Parlament mit der kürzesten Amtszeit – das Gesetz zum Vertrag zwischen der in der Geschichte Deutschlands. Deutschen Demokratischen Republik und In nur sechs Monaten haben die 409 Abge- der Bundesrepublik Deutschland über die ordneten bei 38 Tagungen der Volkskammer Herstellung der Einheit Deutschlands vom 164 Gesetze und 93 Beschlüsse beraten und 20. September 1990, der die Modalitäten verabschiedet. des Beitritts der DDR regelt.

110 Am 2. Oktober 1990 werden die westalliierten Stadtkommandanten in Berlin verabschiedet. Mit der Erklärung Frankreichs, Großbritanni- ens, der USA und der Sowjetunion zur Aus- setzung der Vier-Mächte-Rechte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes zum 3. Oktober endet der Sonderstatus . Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, deren Engagement für die Ausrei- sewilligen aus der DDR noch ein Jahr zuvor von zentraler Bedeutung gewesen war, wird geschlossen. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober feiert fast eine Million Menschen 'HUHLJHQWOLFKH)HVWDNWğQGHWDP auf dem Platz der Republik vor dem Reichs- 3. Oktober in der Philharmonie am Kulturfo- tagsgebäude. Um Mitternacht erleben sie ein rum statt. Am 4. Oktober 1990 tagt der erste riesiges Feuerwerk. Auf der Mitte des Platzes gesamtdeutsche Bundestag nach Ende des wird eine 60 Quadratmeter große Deutsch- Zweiten Weltkriegs im Reichstagsgebäude ODQGĠDJJH]XGHQ.OÃQJHQGHU)UHLKHLWVJORFNH in Berlin. Ihm gehören 144 Abgeordnete der gehisst. Volkskammer an.

111 Festakt zur Wiedervereinigung in es gemeinsam prägen. Wir freuen der Philharmonie am 3. Oktober uns darauf.“ 1990 © ullstein bild / Werek Die ehemalige Volkskammerpräsi- dentin Sabine Bergmann-Pohl bei ihrer Rede anlässlich des Festak- tes zur Wiedervereinigung in der Philharmonie. Um 21 Uhr beginnt das Gewandhausorchester Leipzig unter Leitung von Kurt Masur mit Beethovens 9. Sinfonie zu spielen. /RWKDUGH0DL]LÑUHğQGHWLQVHLQHU letzten Rede als Ministerpräsident und Staatschef der DDR Worte, die in die Geschichte eingehen: „Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen gemeinsam sein wollen, vereint uns zum Staat. Von morgen an wird es ein vereintes Deutschland geben. Wir haben lange darauf gewartet. Wir werden

112 Festakt zur Wiedervereinigung im Schauspielhaus am 2. Oktober 1990 Lothar de Maizière, Rita Süssmuth, Gregor Gysi und Sabine Bergmann-Pohl stoßen vor dem Festakt in der Philharmonie mit einem Glas Sekt an. © Daniel Biskup

113 114 Feier der Wiedervereinigung auf dem Platz der Republik in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 Punkt Mitternacht wird auf dem Platz vor dem Reichstagsgebäude die deutsche Fahne gehisst. Dazu läutet die Freiheitsglocke, die einst ein Geschenk der USA an West-Berlin gewesen war. Seit 1950 ertönte die Glocke vom Turm des Schöneberger Rathauses jeden Sonntag um 12 Uhr und zu besonderen Gedenktagen wie dem 17. Juni. Die Glocke trägt ein Zitat des amerikanischen Staatspräsi- denten Abraham Lincoln als Inschrift: „That this world under God shall have a new birth of freedom. / Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiederge- burt der Freiheit erleben.“ © Süddeutsche Zeitung Photo / Jose Giribas

115 Auf den Stufen des Reichstagsge- bäudes (von links nach rechts): , Willy Brandt, Hans Dietrich Genscher, Hannelore und Helmut Kohl, Richard von Weiz- säcker und Lothar de Maizière. © Barbara Klemm

116 Bundeskanzler Helmut Kohl winkt auf den Stufen des Reichstagsgebäu- des der feiernden Bevölkerung. © ullstein bild / Werek

117 118 Am 4. Oktober 1990 tritt der Volkskammer in den Bundestag wirtschaftliche, soziale und kul- Deutsche Bundestag zur ersten gewählten Kolleginnen und Kolle- turelle Einheit ist der Grundstein gesamtdeutschen Sitzung nach der gen, zusammen mit jenen, die bis gelegt. Jetzt gilt es, Schäden zu Wiedervereinigung im Reichstags- zum 3. Oktober in der Volkskammer beseitigen, Wunden zu heilen, die gebäude zusammen. Zahlreiche außergewöhnliche parlamentarische Folgen 40jähriger Trennung und Ehrengäste aus der ganzen Welt Arbeit geleistet haben. (…) Von nun Unfreiheit zu überwinden. Dazu wohnen diesem historischen Ereig- an hat sich der Deutsche Bundestag bedarf es der gemeinsamen Geduld, nis bei. Bundestagspräsidentin Rita als das gesamtdeutsche Parlament des Augenmaßes und der Solida- Süssmuth begrüßt die Abgeordne- den Aufgaben zu stellen, die sich rität. Dazu bedarf es der großen ten und die Gäste mit den Worten: aus der Vereinigung ergeben. Wir Anstrengung aller Verstandeskräfte, „Nach 57 Jahren versammeln wir werden dabei in besonderem Maße aber auch des Herzens. Es ist ein uns als frei gewählte Abgeordnete auf das spezielle Wissen der Kol- guter Weg zum Wohle unseres des ganzen deutschen Volkes hier leginnen und Kollegen aus Berlin ganzen Volkes. Wir alle wollen jetzt im Reichstag in Berlin. Ein freies und Brandenburg, Mecklenburg- gemeinsam mit Mut und Zuversicht und geeintes Parlament in einem Vorpommern, Sachsen, Sachsen- ans Werk gehen.“ freien und geeinten Berlin, in einem Anhalt und Thüringen angewiesen 6WHQRJUDğVFKHU%HULFKWGHU freien und geeinten Deutschland – VHLQ:LUEUDXFKHQLKUHVSH]LğVFKH Sitzung des Deutschen Bundestages welch ein Tag in der parlamentari- Erfahrung und sagen ihnen zu: Sie vom 4.10.1990) schen Geschichte unseres Landes! sind gleichberechtigte Mitglieder – © Deutscher Bundestag / Presse- Ich begrüße alle hier im Plenarsaal das ist selbstverständlich – dieses Service Steponaitis anwesenden Damen und Herren, Parlaments. Die staatliche Einheit insbesondere die 144 von der ist hergestellt. Für die politische,

119 Impressum

Herausgeber: Deutscher Bundestag Referat IK 2 – Öffentlichkeitsarbeit Platz der Republik 1, 11011 Berlin www.bundestag.de Koordination: Referat IK 2 Lektorat: Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS)

Ausstellung: Deutscher Bundestag, Referat IK 2 Kuratorin und Autorin der Ausstellungstexte: Kristina Volke, Kunstsammlung Deutscher Bundestag Bildredaktion: Sylvia Bohn Gestaltung: Deutscher Bundestag, Referat BL 5, Zentrale Bedarfsdeckung und Logistik Bundestagsadler: Urheber Prof. Ludwig Gies, Bearbeitung 2008 büro uebele Fotos: 2. Umschlagseite u. S. 11, 13, 23, 34 Deutscher Bundestag / Achim Melde; S. 3, 15, 30 DBT / Jens Liebchen; S. 4, 7, 17, 18, 21, 25, 27, 28, 29, 35, DBT / Thomas Imo / photothek.net; S. 38 © dpa – Report / transit / Jens P. Riedel; S. 39 © Imago / EPD; S. 40 © akg-images / AP / Diet-her Endlicher; S. 41 © akg-images / AP; S. 42 © picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild; S. 43 © picture alliance / dpa-Bildarchiv / afp; S. 47 © Süddeutsche Zeitung Photo / Lothar Kucharz; S. 48, S 60, 65 © Süddeutsche Zeitung Photo / amw; S. 49 © wir-waren-so-frei.de / Ralf Skiba; S. 50 © bpk / Günter Zint; S. 51 © bpk / Achim Donath; S. 52- 53 © wir-waren-so-frei. de / Klaus Peter Albrecht; S. 54 © ullstein bild / snapshot-photography / Tobias Seel; S. 55, 113 © Daniel Biskup; S. 56 © ullstein bild / Zentralbild / Jürgen Sindermann; S. 57 © ullstein bild / Zentralbild / Jürgen Sindermann; S. 58 © ullstein bild / Zentralbild / Ull- rich Haessler; S. 59 © ullstein bild / Sauer; S. 61 © ullstein bild / Zentralbild / Reinhard Kaufhold; S. 64, 73 © Michael Hughes; S. 66 © wir-waren-so-frei.de / Ulrich Pettke; S. 67 © wir-waren-so-frei.de / Dagmar Lipper; S. 68-69 © picture alliance / ZB / dpa-Zentral- bild / Karlheinz Schindler; S. 70, 71 Bundesarchiv; S. 72 © ullstein bild / snapshot-photography / Tobias Seeliger; S. 77, 84,85, 86, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 107 © ullstein bild / ADN- Bildarchiv; S. 83 © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm; S. 87 © Süddeutsche Zeitung Photo / Paul Glaser; S. 88-89 © ullstein bild / Zentralbild / Reinhard Kaufhold; S. 90 © akg-images / picture alliance / dpa; S. 91 © Bundesarchiv / Thomas Uhlemann; S. 92 © Deutscher Bundestag / Hans-Günther Oed; S. 100 © Süddeutsche Zeitung Pho- to / Sven Simon; S. 101 © picture alliance / dpa-Bildarchiv / Wolfgang Kumm; S. 102 © Bundesarchiv / Karl-Heinz Schindler; S. 103 © picture alliance / dpa-Zentralbild / Reinhard Kaufhold; S. 104 © ullstein bild / Christian Bach; S. 105 © Presse- und Informationsamt der Bundesregierung / Engelbert Reineke; S. 106, 112, 117 © Süddeutsche Zeitung Photo / Werek; S. 115 © Süddeutsche Zeitung Photo / Jose Giribas; S. 116 © Barbara Klemm; S. 119 © Deutscher Bundestag / Presse-Service Steponaitis Druck: Druckerei Flock, Köln

Stand: Juli 2020 © Deutscher Bundestag, Berlin Alle Rechte vorbehalten.

$XIGHU,QWHUQHWVHLWHGHV'HXWVFKHQ%XQGHVWDJHVğQGHQ6LHXQWHUKWWSVZZZEXQGHVWDJGHYRONVNDPPHUZHLWHUH,QIRUPDWLR- nen zum Thema Volkskammer sowie eine kurze Reportage über die Ausstellung.

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