Plenarprotokoll 13/7

Deutscher

Stenographischer Bericht

7. Sitzung

Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Inhalt:

Abweichung von den Richtlinien für die Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 290 A Fragestunde, für die Aktuellen Stunden Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ sowie der Vereinbarung über die Befragung DIE GRÜNEN 292 C der Bundesregierung in der Sitzungswoche ab 12. Dezember 1994 259 A Klaus-Jürgen Warnick PDS 294 B Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 295 C Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des Bundeskanz- Ingrid Matthäus-Maier SPD 296 D lers Achim Großmann SPD 297 B (Fortsetzung der Aussprache) Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 299 A SPD 259 B Elke Ferner SPD 300 A Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBWFT 263 A Dr. Dionys Jobst CDU/CSU 301 B Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜ , Bundesminister BMV 303 D NEN 267 A Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE Dr. F.D.P. 268B GRÜNEN 305 C Hans-Werner Bertl SPD 270 B CDU/CSU 306 C - Eckart Kuhlwein SPD 270 C F.D.P. 307 B 271 A Dr. Ludwig Elm PDS Dr. PDS 309 D Dr. SPD 272 D, 282 B Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident Nächste Sitzung 310 D (Bayern) 276 B, 283 A Dr. Peter Glotz SPD 277 B Anlage 1 Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ Liste der entschuldigten Abgeordneten 311* A DIE GRÜNEN 277 D Horst Kubatschka SPD 278 A Anlage 2 279 C Jörg Tauss SPD Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Tages- Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) BÜND ordnungspunkt: Regierungserklärung des NIS 90/DIE GRÜNEN 281 A Bundeskanzlers (Fortsetzung der Ausspra- Achim Großmann SPD 283 D che) Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 287 B Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister 311* C Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 288 C BMPT Otto Reschke SPD 289 B Anlage 3 Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 289 C Amtliche Mitteilungen 312* D

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7. Sitzung

Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, und einer Deutschen Akademie der Wissenschaften liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröff- zunächst ganz freundlich interpretieren. net. Aber manche Äußerungen von Herrn Schäuble und Interfraktionell ist vereinbart worden, daß in der von Ihnen, Herr Rüttgers, nähren das Mißtrauen, ob Sitzungswoche vom 12. Dezember 1994 mit Rücksicht hier nicht vor allem ein Propagandainstrument für auf die Haushaltsberatungen keine Befragung der technischen und wissenschaftlichen Fortschritt zur Bundesregierung, keine Aktuellen Stunden und Überwindung von lästiger Technikfeindlichkeit und keine Fragestunden stattfinden. Sind Sie mit der lästiger Fortschrittsskepsis entstehen soll und weniger Abweichung von der Geschäftsordnung einverstan- ein offenes Diskussionsforum, ob hier nicht auch ein den? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann Renommierprojekt in Gang gesetzt werden soll, des- können wir so verfahren. sen Gestehungskosten vorhandene Wissenschaftsin- Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklä - stitutionen, vorhandene Akademien zu bezahlen rung des Bundeskanzlers fort: haben. Regierungserklärung des Bundeskanzlers (Beifall bei der SPD) mit anschließender Aussprache Sie, Herr Rüttgers, werden Ihre bisher eher vage Idee Ich erinnere daran, daß wir am Mittwoch für die konkretisieren müssen, um die Zweifel zu überwin- heutige Aussprache vier Stunden beschlossen ha- den. ben. Wir beginnen mit den Bereichen Bildung, Wissen- Meine Damen und Herren, das Bewußtsein der schaft, Forschung und Kultur. gemeinsamen Herkunft und der Wille zur gemeinsa- men Zukunft, so hat der Bundeskanzler in seiner Das Wort hat unser Kollege Wolfgang Thierse. Regierungserklärung gesagt, seien Voraussetzungen für die innere Einheit der Deutschen. Richtig! Er hat Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine hinzugefügt: sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanz- Dazu gehört, daß wir sowohl die Geschichte der ler hat in seiner Regierungserklärung von der Not- wendigkeit einer geistigen Standortbestimmung ge- alten Bundesrepublik als auch jene der früheren DDR als untrennbare Teile unserer gemeinsamen sprochen. Dem ist durchaus zuzustimmen, auch wenn Vergangenheit verstehen. die Regierungserklärung selbst gewiß kein sonderlich guter Beitrag dazu war. Aber wir wollen sie auch nicht (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Sehr wahr!) an allzu hohen Erwartungen messen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich will dem ausdrücklich zustimmen. Aber in Wirk- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der lichkeit tun Sie das genaue Gegenteil. Die von Ihnen PDS) forcierte Art des Umgangs mit der DDR-Vergangen- heit, die gegen die SPD gerichtete Rote-Socken- Es ist richtig: In den nächsten Jahren geht es in Wahlkampfkampagne, das hysterische Gerede von Deutschland nicht nur um eine enorme ökonomische Komplizenschaften — dies alles befördert eben nicht und soziale Aufbau- und Umbauleistung, sondern Verstehen, sondern Ressentiments und Vorurteile. auch und ebensosehr um eine demokratische und intellektuelle Aufbauleistung, um den Streit und die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Einigung darüber, auf welche Art der Zukunftsorien- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der tierung für unser Land, auf welche Art von Fortschritt PDS) in Wissenschaft und Technik die Gesellschaft sich wird verständigen können. Das hat Politik nicht allein Günter Gaus hat vor Jahren einmal gesagt: Wer und nicht zuerst zu entscheiden. Sich Rat zu holen ist über die deutsche Einheit nachdenkt, muß darüber also nicht verwerflich, im Gegenteil. So will ich denn nachdenken, wie Deutschland mit seinen Kommuni- Ihre Vorschläge zur Bildung eines Technologierates sten lebt. Als Gaus dies äußerte, waren die Kommu- 260 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Wolfgang Thierse nisten noch an der Macht. Sie sind es zum Glück nicht Aber Ihre Politik für Ostdeutschland, die uns in den mehr. nächsten Jahren erwartet, wird, fürchte ich, für viele (Beifall bei der SPD) wieder zur Enttäuschung werden. Aber wir sollten im Gausschen Sinne nachdenken, (Zuruf von der CDU/CSU: Thema!) gelassener als bisher. Denn die Kommunisten sind zwar erheblich weniger geworden, aber sie sind Ich will nur ein paar Beispiele nennen. Wann und natürlich nicht vollständig verschwunden, sie sind wie eigentlich wollen Sie für eine wirkungsvolle noch da. Ein Teil von ihnen hat sich eine Nachfolge- Begrenzung der Mietenexplosion in Ostdeutschland partei geschaffen, die aus der SED stammt, gewiß, mit sorgen? Wann fällt der unsinnige, lebensfremde und dieser aber nicht mehr identisch ist. Mit dieser Partei willkürliche Stichtag, der automatisch redlichen von gilt es, sich politisch auseinanderzusetzen und nicht so unredlichem Erwerb von Wohnimmobilien unter- scheidet? kleinkariert und kleinmütig, wie das CDU und CSU in den letzten Tagen z. B. gegenüber (Beifall bei der SPD) praktiziert haben. Das war peinlich und unangemes- Wieso halten Sie stur am Privatisierungszwang fest, sen. dem Wohnungsgesellschaften unterliegen, wenn sie Altschuldenhilfe beanspruchen wollen? Wann fallen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die nicht zu rechtfertigenden strafrechtlichen Ele- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mente im Rentenüberleitungsgesetz? Wann kapieren Sie werden mir hoffentlich glauben, daß ich nach Sie endlich, daß Rentenrecht kein Strafrecht sein DDR-Erfahrung und nach der Erfahrung eines ziem- darf? lich brutalen PDS-Wahlkampfes gegen mich (Beifall bei der SPD) (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Mir kommen Wann endlich ringen Sie sich dazu durch, einer die Tränen!) Neuregelung des § 218 zuzustimmen keinen Anlaß zu freundlichen Gefühlen gegenüber (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben die der PDS habe. falsche Rede, Herr Thierse!) (Beifall bei der SPD) — nein, nein —, die der Würde der Frauen entspricht und eben auch ostdeutschen Erfahrungen? Aber ich sage genauso: Wenn wir die Auseinander- setzung nicht selbstbewußt und offensiv, differenziert (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und großzügig zugleich und an den demokratischen Von der Förderung der mittelständischen Unter- Grundwerten orientiert führen, dann wird das eben nehmen ist in Ihrer Koalitionsvereinbarung die Rede. keine Einladung zur Demokratie für diejenigen sein, Das ist notwendig, aber fast zu spät. Ohne eine die der Demokratie immer noch ziemlich fremd Regelung des Altschuldenproblems wird es nicht gegenüberstehen. gehen. Und so weiter und so fort. Das sind Fragen, (Beifall bei der SPD) meine Damen und Herren, für deren Beantwortung man sich in Ostdeutschland brennend interessiert. Wenn es nicht gelingt, geschichtliche Prägungen, gewachsene Identitäten der Ostdeutschen zu erken- Wenn Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung davon nen und zu respektieren, dann wird das eben immer reden — Herr Krüger hat gestern auch davon gere- det —, daß es sinnvoll sei, aus den ostdeutschen wieder jene wütende oder beschönigende Vergan- genheitsfixierung unterstützen, für die die PDS auch Erfahrungen der zurückliegenden Jahre zu lernen, steht. dann stimme ich dem ausdrücklich zu. Das wäre ein Schritt wirklicher Gleichberechtigung. Aber warum (Beifall der Abg. [Köln] [SPD]) muß als Beispiel dafür ausgerechnet das Beschleuni- gungsgesetz des Herrn Krause herhalten? Ich habe Stigmatisierung und Ausgrenzung sind der Nährbo- etwas dagegen, daß ostdeutsche Erfahrungen zum den, auf dem die PDS gedeiht, und CDU und CSU Abbau demokratischer Errungenschaften der alten versuchen, davon zu profitieren. Bundesrepublik instrumentalisiert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Es bleibt dabei: Für uns Sozialdemokraten ist die Das wäre der falsche Ausdruck des Nutzens ostdeut- PDS ein politischer Gegner und Konkurrent, mit dem scher Erfahrungen. wir uns als Demokraten auseinanderzusetzen haben und auseinandersetzen. Da müssen wir von Ihnen Die deutsche Einheit bleibt eine Zukunftsaufgabe, nicht belehrt werden. die uns noch bis in das nächste Jahrtausend beschäf- tigen wird. Deshalb beklage ich, wie wenig Ost- (Beifall bei der SPD) deutschland in der Regierungserklärung des Bundes- Vor allem aber wird diese Auseinandersetzung kanzlers eine Rolle gespielt hat. dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die ostdeut- Zum Beispiel — und damit komme ich auf das schen Probleme zu lösen, die nicht nur ökonomischer Thema der Debatte am heutigen Vormittag zu- und sozialer Art sind, sondern eben auch moralischer rück — — und psychologischer Natur. (Zurufe von der CDU/CSU: Oho! — Und das (Zuruf von der CDU/CSU: Zum Thema!) nach zehn Minuten Redezeit!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 261

Wolfgang Thierse — Sie werden mir doch erlauben, über die Themen zu Meine Damen und Herren, dieses Land braucht reden, die grundlegende Themen der deutschen Poli- wirklich eine forschungs- und technologiepolitische tik sind. Offensive. Wir müssen das fördern, was Deutschland schon immer stark gemacht hat: den Erfindungsgeist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) seiner Techniker und Ingenieure, die hohe Motivation und Qualifikation seiner Facharbeiter, die Flexibilität Wann ich das tue, ist doch auch mir überlassen. Seien und Innovationsfähigkeit seines Mittelstands, die Ent- Sie nicht so kleinlich. scheidungskraft und Risikobereitschaft des Manage- Zum Beispiel hätte doch auch der Umstand Auf- ments und die Lernfähigkeit und den Lernwillen merksamkeit verdient, daß 90 % all derjenigen, die in seiner Menschen. Bildung und Ausbildung müssen in Ostdeutschland im Rahmen wissenschaftlicher und unserer Gesellschaft wieder zu einem herausragen- industrienaher Forschung beschäftigt waren, heute den Thema gemacht werden. dort nicht mehr beschäftigt sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die notorische Zweitrangigkeit von Bildung und For- Das ist, finde ich, die für die Zukunft Ostdeutschlands schung muß endlich überwunden werden. Wenn Sie schlimmste Zahl. dies versuchen, Herr Rüttgers, werden Sie unsere Meine Damen und Herren, in Ostdeutschland liegt energische Unterstützung finden. ein gigantisches Zukunftspotential brach. Der Scha- Auffallend ist — um noch einmal auf das zuvor den, der da angerichtet worden ist, ist enorm. Das genannte Stichwort zurückzukommen —, daß die ganze Deutschland kann sich vor dem Hintergrund Wiederherstellung der Industrieforschung in Ost- der Standortdebatte die Verschwendung solcher Res- deutschland in Ihren Ankündigungen so gut wie keine sourcen einfach nicht länger leisten. Rolle spielt, obwohl sie nach Jahren des Niedergangs (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und der Abwicklung höchste Priorität genießen der PDS) müßte. Ohne industrienahe Forschung wird es in Ich frage Sie also, was Sie zu tun gedenken, um dieses Ostdeutschland keine leistungsfähige mittelständi- sche Industri Potential auszuschöpfen und den betroffenen Wissen- e geben können, keinen Wiederaufbau schaftlern wieder eine berufliche Perspektive zu ver- industrieller Strukturen und keine sicheren Arbeits- schaffen. plätze im produzierenden Gewerbe. Der Standort Ostdeutschland hat nur dann eine Chance, wenn es Modernisierung und Innovation schafft man doch gelingt, durch energische Anstrengungen dorthin nur, wenn man die wissenschaftlichen Potenzen eines Innovations- und Modernisierungspotential zu lenken Landes nutzt und vermehrt. Diese Aufforderung rich- bzw. aufzubauen. tet sich eben nicht nur an die deutsche Wirtschaft, die Meine Damen und Herren, kaum ein Land mit einer in mancherlei Hinsicht die Zukunft immer noch zu vergleichbaren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verschlafen scheint; sie richtet sich auch an diejeni- hat sein Bildungs- und Hochschulwesen in den letzten gen, die für die Politik verantwortlich sind. Jahren so vernachlässigt wie Deutschland. Sie haben nun ein neues Zukunftsministerium ins (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Leben gerufen und wollen die Bereiche Bildung, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Forschung, Wissenschaft, Technologie und Hoch- Bildung, Ausbildung und Wissenschaft sind unter schule integrieren. Ich halte das für eine bemerkens- - werte Idee. Sie stammt ja auch von uns. Sie stand in Ihrer Regierungstätigkeit zum Sparstrumpf der Nation unserem Regierungsprogramm. geworden. (Beifall bei der SPD) (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist doch alles Unsinn!) Sie haben ebenfalls angekündigt, den Etat für Forschung und Technologie überproportional wach- Auf diese Weise wird auch die Zukunft unserer sen zu lassen. Wir begrüßen das. Schließlich ist auch Gesellschaft weggespart. dies eine SPD-Forderung. Es ist ein billiges Argument, einerseits die langen (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Anke Studienzeiten zu beklagen — wie in Ihrer Koalitions- Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig! Seit Jah vereinbarung geschehen — und andererseits den ren!) Studentinnen und Studenten eine gescheite mate- rielle Absicherung über das BAföG vorzuenthalten Es ist wahrlich an der Zeit, sie einzulösen; denn in und sich seinen Pflichten bei der Hochschulfinanzie- Ihrer bisherigen Amtszeit haben Sie es geschafft, den rung zu entziehen. Forschungshaushalt von 2,8 % auf deutlich unter 2 % zu drücken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Mül- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So ist es!) ler [] [PDS]) Aber — angesichts Ihrer Ankündigung will ich gleich Seit Mitte September liegt der Entwurf des Bundes- hinzufügen —: Wir haben ja die Erfahrung, daß man rates zur Novellierung des BAföG vor, der die Ihren Worten nicht so leicht Glauben schenken darf, Bedarfssätze um 4 % und die Freibeträge um 2 % sondern erst einmal die Taten abwarten muß. Ich lasse erhöhen sowie einige weitere Verbesserungen noch mich gern überraschen, was „überproportional wach- für dieses Jahr in Kraft setzen will. Die Koalition sen" heißt. Ich bin gespannt. ignoriert die Lage der Studentinnen und Studenten, 262 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Wolfgang Thierse wenn sie über das BAföG erst nächstes Jahr entschei- weiterzuentwickeln und Neues zu erfinden, sondern den will. So kompliziert ist der Sachverhalt doch nicht, auch, sie gesellschaftlich zu beherrschen. daß Sie nicht sofort darüber befinden könnten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Das ökologische Wissen ist in kurzer Zeit Bildung und Ausbildung sind kein Luxus, auch nicht gewaltig gewachsen. Wir kennen die Gefahren, aber bloß gesellschaftliches Verteilungsinstrument indivi- unser Verhalten hat auf diese Gefahren bisher nur dueller Chancen. Bildung und Ausbildung sind Inve- — vornehm ausgedrückt — sehr maßvoll reagiert, stitionen in eine friedliche, demokratische und nur eher mit Verdrängung als mit Verhaltensänderung. dann auch ökonomisch erfolgreiche gemeinsame Ökologische Kompetenz erwerben heißt deshalb, die Zukunft. Deshalb muß Schluß sein mit einer bildungs- erforderliche Verantwortung und die Flexibilität zu politischen Diskussion, in der vor allem nach fiskali- entwickeln, die zu den notwendigen Verhaltensände- schen Gesichtspunkten über den 12- oder 13jährigen rungen führen können. Bildungsweg, über mehr oder weniger Unterrichts- stunden und über größere bzw. kleinere Klassen Viertens. In der enger werdenden einen Welt gibt es entschieden werden soll. Dies sind alles gewiß keine die tägliche Konfrontation mit dem Fremden, auch mit unwichtigen Fragen. Was wir aber wirklich brauchen, fremden Menschen und Kulturen. Wir müssen in einer ist eine neue große öffentliche Debatte über die Ziele immer mehr medial vermittelten Welt, die uns in von Bildung und Ausbildung. Sie ist an der Zeit. hohem Maße mit Klischees und Vereinfachungen versorgt, an Sensibilität, Toleranz, Neugier und Nicht zuletzt die deutsche Einheit und der Zusam- Gewaltfreiheit im Umgang untereinander interessiert menbruch der bipolaren Welt der Systemauseinan- sein. Wir brauchen Konzepte für eine interkulturelle dersetzung, aber auch die rasanten technologischen Erziehung. und sozialökonomischen Entwicklungen bieten uns Chance und Notwendigkeit zugleich für eine solche Fünftens. Wir müssen einen anderen Umgang mit Debatte. In Ostdeutschland und auch bei unseren der Zeit — sowohl mit unserer individuellen Zeit als östlichen Nachbarn ist die radikale Umwertung von auch mit der Geschichte — lernen. Wenn wir uns Werten und Verhaltensgewohnheiten gewiß drasti- daran erinnern, was vor uns war, und wenn wir scher, jedenfalls offensichtlicher als im scheinbar trauern können um das, was davon verlorengegangen weniger berührten Westen. Tatsächlich wissen wir sein mag, dann finden wir auch neue Energien zur aber auch gesamtdeutsch nicht mehr so genau, was an Gestaltung der Zukunft. So verstandene geschichtli- die Stelle des verlorenen, des unsicher gewordenen che Kompetenz und Erinnerungsvermögen nützen Alten treten soll. auch der Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Orientierung in einer ziemlich Lassen Sie mich einige Stichworte nennen, an schnellen Zeit zu finden. denen sich die Debatte über eine zweite Bildungsre- form oder vielmehr über die erste gesamtdeutsche Sechstens. Ich werde den empörten Satz, wir Ost- Bildungsreform orientieren müßte. deutschen hätten Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen, so schnell nicht vergessen — Erstens. Die Erwerbsarbeit verliert an Bedeutung und auch nicht meine Irritation und meine Verärge- für die persönliche Identität und Zufriedenheit, ganz rung über diesen Satz. Es scheint, daß die Kompetenz gleich, ob dies durch die unerwünschte, aber massen- für das Ringen um Gerechtigkeit in einer pluralisti- hafte Arbeitslosigkeit erzwungen wird oder ob wir mit schen Gesellschaft immer neu geschaffen werden genereller Arbeitszeitverkürzung, Teilzeitarbeit, Sab- ist Voraussetzung für wie Ausdruck batjahren oder welchen Modellen auch immer die muß. Pluralismus von Freiheit. Konkrete Gerechtigkeit aber ist nicht Folgen der technischen und wirtschaftlichen Entwick- statisch und nicht dogmatisch bestimmbar. Sie muß lung gestalten. Mobilität und die Fähigkeit, sich in vielmehr immer wieder gesucht und gefunden wer- neue Lebenszusammenhänge zu begeben und alte zu den. Wer aber mit einer solchen Aussage die rechts- verlassen, müssen entwickelt werden. Wir dürfen es staatlichen Regeln für die Suche nach Gerechtigkeit in angesichts dieser absehbaren Entwicklung nicht Zweifel setzt, befindet sich auf gefährlichem Weg. gedankenlos bei einer Vermittlung von Werten belas- sen, die die Persönlichkeitsbildung, das Selbstbe- (Beifall bei der SPD) wußtsein und die individuelle Identität vor allem an die erfolgreiche Erwerbsarbeit knüpfen, so unersetz- Die Fähigkeit, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von lich diese auch ist. Unrecht zu unterscheiden, soziale Demokratie wie rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares Angebot für Zweitens. Die Durchdringung, die Gestaltung unse- Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit anzuerkennen, rer Gesellschaft durch Technik erfordert eine neue sind Schlüsselqualifikationen für die demokratische technologische Kompetenz. Wenn Sie so wollen, muß Gesellschaft. Technikfolgenabschätzung eine allgemein verbrei- (Beifall bei der SPD) tete Fähigkeit werden. Technik darf uns nicht beherr- schen, Technik soll uns lediglich Werkzeuge schaffen. Meine Damen und Herren, das Bildungssystem Dabei soll sie keine neuen Machtverhältnisse begrün- wird uns keine politische Entscheidung abnehmen, den, sondern uns von lästigen Tätigkeiten befreien, keinen Konflikt ersparen können und es auch nicht neue Handlungs- und Lebensmöglichkeiten eröffnen. dürfen. Aber es muß unsere Kinder befähigen, soziale Technologische Kompetenz kann deshalb nicht nur Demokratie zu bewahren, zu entwickeln und in der bedeuten, die Technik physisch zu beherrschen, sie komplizierter und unübersichtlicher werdenden Welt Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 263

Wolfgang Thierse zu leben, die wir ihnen hinterlassen und die sich wird es möglich sein, das zu ändern. Ich bin deshalb ständig schneller ändert. froh, daß die Koalition als ersten Schritt über die schon Deshalb brauchen wir eine neue Debatte darüber, im Haushaltsentwurf 1995 vorgesehene überpropor- was zu diesem Zweck von unserem Bildungssystem, tionale Steigerung hinaus die Steigerung der Haus- von der Grundschule bis zur Universität, von der haltsmittel für Zukunftsinvestitionen in den nächsten beruflichen Bildung bis zur Volkshochschule, gelei- Jahren fortsetzen will. stet werden muß. Ein solches Projekt hätte ich mir von Aber, meine Damen und Herren, so wichtig das einer Regierungserklärung gewünscht, die auf der Geld ist, Geld ist nicht alles. Innovation beginnt in den Höhe der Zeit sein will. Die erste gesamtdeutsche Köpfen, und Innovationsfähigkeit ist der Schlüssel für Bildungsreform ist notwendig. Zukunftsfähigkeit. (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN]: Das merkt man Ihrer Regie- GRÜNEN) rung aber nicht an!) Sie ist unser wichtigster Rohstoff. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, For- Diese Innovationsfähigkeit ist zugleich eine Her- schung und Technologie, Dr. Jürgen Rüttgers. ausforderung, die sich — auch das, meine ich, muß man sagen — nicht nur an die Politik richtet. Nicht die Politik allein kann die Fragen beantworten. Dieses Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Problem geht uns alle an, und es fordert uns alle, vor Wissenschaft, Forschung und Technologie: Frau Prä- allem die jungen Menschen, die in der Ausbildung sidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lieber sind und sich für ihr späteres Berufsleben qualifizie- Herr Kollege Thierse, ich bin Ihnen, wenn ich Ihre ren. Es geht ja gerade um ihre Lebenschancen in einer Rede richtig erspürt habe, dankbar für die grundsätz- Zeit, die von grundlegenden Veränderungen gekenn- liche Zustimmung, die Sie den Punkten gezollt haben, zeichnet ist. Es geht die Forschungs- und Bildungsein- die in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers richtungen an, die Unternehmen und ihre Mitarbeiter, zum Thema Bildung und Wissenschaft, Forschung die Selbständigen. Und es geht die Leistungseliten in und Technologie angesprochen worden sind. Ich unserem Land an. Dazu zähle ich den hochmotivierten glaube, das ist eine gute Ausgangslage, trotz der Facharbeiter genauso wie den Forscher und den Kritik, die sicherlich auch zu dieser Debatte gehört. Ingenieur. Wenn heute viele eher ängstlich in die Ich will Ihnen auch ausdrücklich, Herr Thierse, Zukunft blicken, dann müssen wir Anwalt sein für darin zustimmen, daß gerade Bemühungen um die diejenigen, die Neues wagen, die den Mut haben, ihr neuen Bundesländer in den nächsten Monaten und Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Jahren im Vordergrund der Arbeit meines Ministeri- ums stehen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deshalb, meine Damen und Herren, werte Kollegin- der F.D.P.) nen und Kollegen, ist es unsere wichtigste Aufgabe, Zukunft nicht als das Morgen zu begreifen, das dem Wir haben da hochmotivierte und kochqualifizierte Heute zwangsläufig folgt, sie nicht als bloße Fortset- Forscher und Wissenschaftler, die einen Vergleich zung des Status quo zu verstehen, sondern als Gestal- weltweit nicht zu scheuen brauchen. Deshalb tut jede tungsaufgabe, die den Willen zur Veränderung vor- Anstrengung not, das, was in dieser Umbruchzeit aussetzt. vielleicht unausweichlich war, wieder aufzuarbeiten und hier Chancen zu eröffnen. In unserem Land — auch das wissen wir aus Ich bin persönlich zutiefst davon überzeugt, daß vielfältigen öffentlichen Diskussionen — haben, gerade die Forschungs- und Wissenschaftslandschaft zumindest in dem, was dann veröffentlicht über- in den neuen Bundesländern auch im europäischen kommt, Bedenkenträger Konjunktur. Ich meine, wir Vergleich in der Zukunft riesige Chancen hat, und ich müssen sicherlich bedenken und abwägen, was wir in glaube, wir können sie insgesamt nutzen. Zukunft wollen. Aber, meine Damen und Herren, dann müssen wir auch zupacken und uns etwas Meine Damen und Herren, gestern hat der Deut- zutrauen. sche Bundestag über den Wirtschaftsstandort Deutschland diskutiert. Naturgemäß standen bei die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ser Debatte die Kostenstrukturen unserer Wirtschaft ordneten der F.D.P.) im Vordergrund. Aber ich glaube, das Kostenproblem Die Bundesregierung ist sich ihrer Verantwortung ist nur eine Seite. Der Strukturwandel wird nur bewußt. Ich glaube, das haben wir mit der Koalitions- gelingen, wenn wir es schaffen, die Innovationsbe- vereinbarung und dem neuen Ministerium für Bil- reitschaft in Deutschland zu erhöhen. dung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Es ist wahr: Leider haben viele Unternehmen in der unterstrichen. Rezession die Aufwendungen für Forschung und Ausbildung gekürzt. Es ist auch wahr, daß die öffent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- liche Hand angesichts der Sonderlasten durch Rezes- ordneten der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] sion und Erblast des Sozialismus nicht das Geld zur [SPD]: Und das war alles?) Verfügung stellen konnte, das wünschenswert gewe- Meine Damen und Herren, daß dieses neue Ministe- sen wäre. Aber je weiter der Konsolidierungsprozeß rium als Zukunftsministerium bezeichnet wird, freut der öffentlichen Haushalte fortschreitet, desto eher mich; dennoch will ich von vornherein möglichen 264 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Fehlinterpretationen vorbeugen. Zukunft ist weder sind die Märkte, auf denen die Beherrschung fortge- am Reißbrett noch am ministeriellen Schreibtisch schrittener Technologien eine herausragende Rolle plan- und machbar. Das muß immer klar sein. für die Wettbewerbsposition spielt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Deshalb dürfen wir uns nicht zurücklehnen, wenn rdneten der F.D.P.) etwa Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen: Was uns zukunftsfähig macht, sind die vielen Men- Innovationen dauern in Deutschland zu lange, schen, die Ideen haben, die mit Gestaltungsfreude sind realitätsfern und schlecht geplant. Von 1919 und Leistungsbereitschaft an neue Aufgaben heran- Erstideen, die von den Innovationsforschern gehen. Wissenschaft und Forschung brauchen Frei- überprüft wurden, erblickten nur 176 das Licht räume. Die Freiheit der Wissenschaft ist mehr als ein des Marktes. verbrieftes Recht. Sie ist Voraussetzung für Kreativität Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere an und Erfindungsreichtum, allerdings auch für Verant- uns vorbeiziehen. Das ist nicht nur eine Frage von wortung und selbstkritische Überprüfung. politischen Entscheidungen, sondern zuerst einmal Wenn ich vom Innovationsstandort spreche, geht es eine Frage der Beweglichkeit in den Köpfen. mir auch um eine bessere und flexiblere Abstimmung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zwischen Bildungssystem und Arbeitswelt, zwischen Bildung und Forschung. Ich glaube, die Zusammen- In vielen Unternehmen hat inzwischen, wenn ich fassung in diesem Ministerium ist Ausdruck dieser dies recht sehe, ein deutlicher Wandlungsprozeß Notwendigkeit. Ich verstehe sie zumindest nicht nur eingesetzt. Ihr Ziel ist es, die Diskrepanz zwischen den als Verschlankung, sondern sie ist Programm. — auch im internationalen Vergleich — hohen FuE- Aufwendungen und den keineswegs optimalen Wo Bruchstellen Austausch und Synergie verhin- Marktergebnissen abzubauen. Die Wirtschaft hat die dern, müssen Brücken den Wissenschafts- und Anfor- Notwendigkeit einer schnelleren Umsetzung wissen- derungstransfer gewährleisten. Wir brauchen kurze schaftlicher Erkenntnisse in wettbewerbsfähige Pro- Wege, meine Damen und Herren, um unsere Flexibi- dukte erkannt. Aber klar ist auch: ohne neue Ideen lität und Reaktionsfähigkeit zu erhöhen. Wir wollen keine neuen Produkte. Grundlagenforschung und Menschen zusammenführen, die in unserer vielglied- anwendungsorientierte Forschung widersprechen rigen Forschungs-, Wissenschafts- und Unterneh- sich nicht. Sie sind zwei Seiten der gleichen menslandschaft Großartiges leisten. Medaille. Seit langem — Sie kennen diese Debatte — wird ja (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) über das Für und Wider strategischer Allianzen diskutiert. Da gibt es die einen, die verweisen auf Wir haben gute Grundlagen. Die großen Wissen- Japan, und andere beschwören den Wettbewerb. Ich schaftsorganisationen haben ihre Leistungsfähigkeit finde, wir haben in Deutschland eine eigenständige in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis Tradition. Wir haben plurale und föderale Strukturen, gestellt. Sie sind und bleiben unverzichtbare Bestand- und ich finde, sie haben sich bewährt. teile unserer Forschungs- und Wissenschaftsland- schaft. (Zuruf des Abg. [SPD]) Im Bildungsbereich stellt sich daneben die Frage, ob Aber es gibt natürlich eine lebhafte Diskussion um die unsere Bildungsgänge mit der schnellen Entwicklung politischen Schwerpunkte, und, lieber Herr Schily, des Wissens und der Fertigkeiten in einer sich w an das ist nicht die Vergangenheit. Das ist aktuelle -o-delnden Berufswelt Schritt halten. Herr Thierse, da Diskussion unter Leuten, die sich auskennen. stimme ich Ihnen ausdrücklich zu: Bildung heißt Wir sollten nicht — das ist eine Botschaft, die heute immer auch Persönlichkeitsbildung, heißt Erziehung, von hier ausgehen kann — in alten Gräben verharren: heißt Wertevermittlung. Das ist mehr als Technik, das hier die Verfechter einer Industriepolitik und dort die ist mehr als Organisation. Wenn ich auch da die Anhänger einer reinen ordnungspolitischen Lehre. Hinweise in Ihrer Rede richtig verstanden habe, Ich finde, wir sollten uns unserer Stärken bewußt sein sollten wir in ein Gespräch eintreten über das, was Sie und darauf aufbauen. Dazu gehört, daß wir den — für meinen Geschmack und mein Gefühl zu groß — Dialog der besten Köpfe unseres Landes ausbauen, als große Bildungsreform bezeichnet haben. indem wir sie an einen Tisch holen. Mancher wird sich aus eingefahrenen Denkstruktu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ren und aus liebgewordenen Organisationsschlachten herausbewegen müssen und zuerst einmal die Bei den Spitzentechnologien des 21. Jahrhunderts, Debatte über Inhalte führen müssen. Das — auch da z. B. bei der Mikroelektronik, liegen wir nicht durch- will ich zustimmen — ist ganz sicherlich nicht zuerst weg an der Spitze. Aber wie man durch gezielte eine Debatte, die auf dem großen Markt ausgetragen Strategien eine Spitzenstellung erreichen kann, Herr werden kann. Aber vielleicht gibt es dort eine Chance, Fischer, zeigt gerade das Beispiel der Umwelttechno- weiterzukommen. logien. Hier sind deutsche Unternehmen international marktführend. Die Exporterfolge zeigen dies über- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. deutlich. sowie bei Abgeordneten der SPD) Als Exportnation und Hochlohnland muß sich Wenn Bildung die jungen Menschen zu einer akti- unsere Wirtschaft auf den Märkten behaupten, auf ven und eigenverantwortlichen Mitgestaltung im denen sich mit innovativen Produkten und Dienstlei- Berufsleben befähigen muß, dann ist dies ein wichti- stungen eine hohe Wertschöpfung erzielen läßt. Das ges und ein zentrales Thema. Ich bin deshalb froh, daß Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 265

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers in der Koalitionsvereinbarung ein Bündel von Maß- sern und in Zusammenarbeit mit den Ländern eine nahmen dazu vorgeschlagen worden ist. Strukturreform erreichen, die zur Verkürzung der durchschnittlichen Studienzeiten führt, der Lehre grö- Unser Ziel ist, die berufliche und akademische ßeres Gewicht gibt, die Eigenverantwortung der Bildung zu stärken und damit Ansehen und Förde- Hochschulen und den Wettbewerb untereinander rung der beruflichen Bildung aufzuwerten, Ausbil- stärkt. Ich will ausdrücklich sagen: Das ist eine dungszeiten zu optimieren und durch neue Elemente schwierige Aufgabe, die nur in ganz enger Zusam- der Fort- und Weiterbildung für ein lebenslanges menarbeit mit den Ländern und unter Beteiligung der Lernen zu ergänzen. Hochschulen gelöst werden kann. (Zuruf der Abg. Otto Schily [SPD]) Meine Damen und Herren, die bestehenden Bund- — Herr Schily, wenn Sie demnächst vielleicht wieder Länder-Hochschulsonderprogramme wollen wir ge- einmal — wenn ich auf Ihren Zwischenruf eingehen meinsam mit den Ländern zu einem Gesamtkonzept darf — mit einem Lehrling sprechen, dann werden Sie zusammenfügen. Besondere Bedeutung kommt dabei merken, vor welchen Anforderungen dieser steht. Das strukturfördernden Maßnahmen und der Förderung ist also ein ganz wichtiger Punkt. von Frauen in der Wissenschaft zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Ich will hier auch sehr deutlich sagen: Ich beobachte NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Pe- die Aufweichung unseres dualen Bildungssystems ter Glotz [SPD]) mit Sorge. Für viele Unternehmen ist es anscheinend Die gemeinsame Bund-Länder-Hochschulbaufinan- allemal günstiger, statt mehr als 100 000 DM in eine zierung soll an die veränderten Rahmenbedingungen dreijährige Lehrzeit zu investieren, einen Fachhoch- angepaßt werden. Ich hoffe, daß es gelingt, durch schulabgänger einzustellen. Aber der schon heute Konzentration der Förderung neue Handlungsspiel- akute Facharbeitermangel — er ist im dualen System räume zu gewinnen. die Folge von zuwenig Ausbildung in den Betrieben — kann zur Wachstumsbremse werden. Wenn das duale Neben diesen Bemühungen — wenn Sie wollen, System ausblutet, dann leidet unsere gesamte Wirt- Herr Thierse: neben einer Offensive — im Bildungs- schaft an Kreislaufschwäche. bereich wollen wir die Schubkräfte für Forschung und Technologie stärken. Die Bundesregierung beabsich- Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Attraktivität der tigt, die Haushaltsmittel für Forschung und Technolo- beruflichen Bildung nachhaltig zu stärken. Dabei geht gie überproportional zu steigern, um Spielräume für es auch um die Gleichwertigkeit von beruflichen und neue Ideen, insbesondere in den Spitzentechnolo- allgemeinbildenden bzw. akademischen Ausbil- gien, und die notwendige Förderung der Industriefor- Ich meine, wir brauchen eine größere dungsgängen. schung in den neuen Bundesländern zu eröffnen. Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademi- Dazu habe ich bereits zu Beginn das Notwendige scher Bildung. Ausbildungsangebote, die betriebliche gesagt. und Hochschulausbildung verbinden, sollen daher gezielt gefördert werden. Wo Forschung mit öffentlichen Mitteln finanziert (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wird, hat der Bürger ein Recht darauf, daß sie ziel- orientiert und effizient ist. Wissenschaft und For- Wir werden darüber hinaus die Begabtenförderung in schung haben ihrerseits einen Anspruch auf klare der beruflichen Bildung weiterentwickeln und zu- Leitziele in der öffentlichen Förderung. Das Instru- gleich die Qualifizierungsmöglichkeiten leistungs- mentarium der Wissenschafts- und Technologieförde- schwächerer Jugendlicher und Erwachsener verbes- rung soll flexibler und einfacher werden, womit vor sern. Wir streben insgesamt eine Reform der Ausbil- allem dem wichtigen Beitrag der kleinen und mittel- dungsförderung unter Einbeziehung der beruflichen großen Unternehmen zum Innovationsprozeß gedient Aufstiegsfortbildung an, zu der ich alsbald Vorschläge werden soll. unterbreiten werde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Besonderen Wert werden wir dabei in allen Berei- Die schwierige Lage an den Hochschulen ist allge- chen der Forschungsförderung auf eine systematische mein bekannt. Ich glaube, es wäre falsch, sie zu Erfolgskontrolle des Mitteleinsatzes legen. Ich finde, beschönigen. Die Hörsäle sind zu voll, die Bibliothe- gerade in Zeiten knapper Kassen können wir uns ken überlastet. Ich will jetzt auch nicht einfach nur auf Reibungsverluste und Fehlinvestitionen nicht lei- die Erstverantwortung der Länder hinweisen. Dieses sten, politische Spiel ist bekannt und braucht nicht wieder- holt zu werden. Es ist manchmal hilfreich, aber nicht (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sehr wahr!) immer erfolgreich. obwohl — auch das muß beachtet werden — For- (Dr. Peter Glotz [SPD]: Stimmt!) schung immer mit Unbekanntem zu tun hat, immer Aber zur Wahrheit gehört: Die Probleme sind nicht nur mit etwas zu tun hat, dessen Ergebnis nicht von eine Frage des Haushalts; ich glaube, sie sind viel- vornherein feststeht. Deshalb kann natürlich nicht am schichtiger. Deshalb brauchen unsere Hochschulen Schreibtisch gesagt werden, was schließlich heraus- eine verläßliche Perspektive. zukommen hat, wenn Geld eingesetzt wird. Durch eine Änderung des Hochschulrahmengeset- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ein zes wollen wir die Situation der Hochschulen verbes- bißchen ahnen kann man es schon!) 266 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers — Kollege Weng, diese Debatte wird ja zwischen den Ich hoffe — dank der guten Vorarbeit —, daß der Forschungs- und Bildungspolitikern und den Haus- Forschungsministerrat, Herr Kollege Glotz, am 1. De- haltspolitikem seit Jahren geführt. zember 1994 weitere zehn Programme verabschieden (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wird. Aber jetzt neu, Herr Minister!) Meine Damen und Herren, zur europäischen — Einverstanden, Herr stellvertretender Fraktions- Dimension gehört auch, daß unser Land als Ort der vorsitzender. Da wird vielleicht die neue Gesamtver- internationalen Begegnung einen hohen Stellenwert antwortung das Blickfeld etwas weiten. und festen Platz hat. Ich glaube, verehrter Herr Thierse, daß die Forschung kann beim besten Willen nicht effektiv Gründung einer Akademie der sein, wenn ihr Fesseln angelegt werden, die ein Wissenschaften dazu beitragen kann. Wir haben diese vernünftiges Arbeiten verhindern und zusätzlichen Idee als Angebot in die Koalitionsvereinbarung aufge- Kostendruck erzeugen. Wenn wir einerseits Geld für nommen, damit Bund und Länder, Wissenschaft und Forschungsprojekte ausgeben und andererseits Ge- bestehende Akademien an einem Strang ziehen. Ich setze schaffen, Verordnungen erlassen und bürokrati- hoffe, Herr Thierse, daß es uns gelingt, darüber breite sche Verfahren zelebrieren, die ein freizügiges und Übereinstimmung zu erzielen. Ich nehme das Ange- kreatives Forschen und Entwickeln unmöglich ma- bot — und so habe ich Ihre „Kritik" zu Beginn verstanden — zum Gespräch über diese Frage an, chen, dann verhindern wir Wettbewerb und mehr zumal es nicht darum geht, gegen Bestehendes und Effizienz in Forschung und Wissenschaft. Bewährtes zu konkurrieren, sondern beides in Ich will das an einem Beispiel deutlich machen, das gemeinsamer Verantwortung zu ergänzen. mir in einem Gespräch mit der IG Chemie vorgetragen worden ist. Dabei ging es um die Erweiterung einer (Dr. Peter Glotz [SPD]: Das werden Sie vor innovativen Anlage mit einem Investitionswert von allem den Ländern klarmachen müssen!) knapp 40 Millionen DM. Nachdem die umfangreichen — Das glaube ich, Herr Glotz. Aber das ist eine Genehmigungsunterlagen vom Unternehmen im Mai Diskussion, die wir führen müssen. Ich bin insofern 1991 dem Regierungspräsidenten vorgelegt worden über die Resonanz, die es trotz aller Skepsis auch in waren, begann die große Zeit des Wartens. Bis zum der wissenschaftlichen community gibt, froh, denn sie heutigen Tage, meine Damen und Herren, wurde zeigt Offenheit. — Ich bin dankbar, daß heute nicht noch kein einziger Spatenstich getan, aber — und das nur Herr Thierse, sondern auch der ehemalige Vorsit- ist ein wichtiger Punkt — allein die Planung hat zende des Forschungsausschusses, der Herr Kollege inzwischen mehr als 6 Millionen DM — bei einem Investitionsvolumen von 40 Millionen DM — gekostet. Catenhusen, die Bereitschaft der SPD zum Dialog erklärt hat. Das muß sich ändern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Bei allem, was wir an Investitionen in die Zukunft ordneten der F.D.P. und der SPD) Deutschlands als Innovationsstandort planen und ein- bringen wollen, ist es notwendig, daß wir uns um den Deshalb ist es unser Ziel, forschungs- und innovations Konsens zwischen Bund und Ländern, zwischen Wis- freundlichere Rahmenbedingungen zu schaffen. senschaft und Forschung und zwischen Politik und Wir müssen bestehendes Recht und geübte Verwal- Wirtschaft bemühen. Ich bin für Vorschläge offen, weil tungspraxis — und auf das letztere möchte ich beson- Offenheit die Voraussetzung für Innovations- und deren Wert legen; denn manches, was hier in Bonn Erneuerungsfähigkeit ist. richtig beschlossen, erdacht und in Gesetzesform gekleidet worden ist, bekommt seine schrecklichen Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich - Auswirkungen erst dann, wenn es im Rahmen des ausdrücklich sagen: Ich verstehe diejenigen, die nicht Verwaltungsverfahrens verfeinert und so lange durch bei jedem Projekt gleich Hurra schreien. Ich weiß, daß die Mangel gedreht worden ist, bis zum Schluß keiner Konsens nur zu erzielen ist, wenn vorher offen über mehr die ursprüngliche Intention kennt — auf Inno- Chancen und Risiken diskutiert wurde. vationshemmnisse überprüfen. Wo immer es möglich Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik darf ist, müssen diese beseitigt werden. nicht grenzenlos sein. Es gibt Grenzen, z. B. die Auch wir im Deutschen Bundestag sollten darauf Würde des Menschen, die nicht überschritten werden achten, daß vor der Entstehung neuer Rechtsvorschrif- dürfen. Insofern muß sich jeder Forscher, aber auch ten — und das gilt natürlich noch viel stärker für die jeder Politiker die Frage stellen, ob wir eigentlich alles Ministerien — sensibler über mögliche negative Aus- dürfen, was wir heute schon können. Aber angesichts wirkungen auf wissenschaftliche Belange nachge- von Hunger und Arbeitslosigkeit, von Umweltschä- dacht wird. den und Krankheit müssen wir auch die Frage beant- worten, ob wir eigentlich schon alles können, was wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge können müßten. ordneten der F.D.P.) Das gilt auch für europäische Regelungen in For- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. schung und Entwicklung. Mein Amtsvorgänger hat sowie bei Abgeordneten der SPD) auch auf diesem Feld mit grobem Einsatz die Zeit der Meine Damen und Herren, ohne Innovations- und deutschen Präsidentschaft im Europäischen Rat Erneuerungsfähigkeit hat Deutschland keine sichere genutzt. Zukunft. Die Bundesregierung will mit dem neuen (Anke Fuchs [Köln] [SPD] und Dr. Peter Glotz Ministerium für Bildung und Wissenschaft, Forschung [SPD]: Welcher?) und Technologie ein verläßlicher Partner im Bündnis Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 267

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers der Zukunft sein. Ich persönlich freue mich auf unsere bringen, die Sackgassentechnologien von vorgestern Zusammenarbeit. unserer Bevölkerung tatsächlich als Innovationen zu (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und verkaufen. der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Meine Damen und Herren von den Koalitionsfrak- der Abgeordnete M anuel Kiper. tionen, ich möchte einen zweiten Punkt benennen: Sie verschlafen die eigentlichen technologischen Her- ausforderungen der Zukunft. Sie behaupten „Offen- Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): heit für neue Lösungen". Die Sonnenenergie aber Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und führt nicht einmal ein Schattendasein in Ihrem Regie- Herren! Der Herr Bundesminister hat in seiner Rede rungsprogramm. Für die Bundesregierung bleibt Son- betont, daß Innovationsfähigkeit wesentliches Ele- nenenergie ein schwarzes Loch. ment der Sicherung des Standorts Deutschland zu sein habe. Mit der Betonung von Innovation und Zukunft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) versucht die Bundesregierung offensichtlich, sich sel- Sie parlieren von Spitzentechnologien und angebli- ber Mut zu machen, wohlwissend, daß sie zu dieser chen Schlüsseltechnologien wie der Gentechnik. Sie Innovation nicht mehr fähig ist. schwören auf Gott und meinen doch, selber Schöpfer (Zuruf von der CDU/CSU: Woher wissen Sie spielen zu dürfen. Sie laufen den Seifenblasen der denn das?) Gentechnik hinterher. Die gentechnischen Grenz- Ein Reformprogramm wollen und können Sie doch überschreitungen werden sich ethisch, gesellschaft- gar nicht mehr vorlegen; ich werde das hier im lich und ökonomisch als ein Riesenverlustgeschäft einzelnen belegen. Um davon abzulenken, haben Sie entpuppen. Entgeht Ihnen denn, daß der gentech- nun Herrn Rüttgers zum Zukunftsminister auf gebla- nisch verheißene Aids-Impfstoff ein Traum bleibt? Er sen. ist ferner denn je! Entgeht Ihnen denn, daß die ganze (Widerspruch bei der CDU/CSU) Branche in den USA einen riesigen Verlust macht? Die Branche hatte im letzten Jahr ein 2-Milliarden- Inzwischen ist er auf das Normalmaß eines Bundes- Dollar-Verlustgeschäft zu verzeichnen. ministers wieder zurückgeschrumpft worden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß es bedauerlich (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ist, daß bei der Namensgebung dieses Ministeriums Bedenken sind kein Wert an sich, Herr Kol- der innovative Bereich der letzten Legislaturperiode, lege!) nämlich die Technikfolgenabschätzung, einfach unter — Das ist richtig. Ich möchte hier, meine Damen und den Tisch gefallen ist. Herren, auch betonen, daß die kritische Auseinander- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzung mit der Gentechnik, die Ablehnung der sowie bei Abgeordneten der PDS) Gentechnik seitens unserer Fraktion nicht eine blinde Die Gesundschrumpfung des Kabinetts wurde von Herangehensweise an Technik insgesamt ist, daß dies uns lange gefordert. Die SPD hat gesagt, sie schreibe keine Absage unserer Fraktion an Biotechnologie sich diese Forderung auf die eigenen Fahnen. Wir oder Enzymtechnologie ist. Wir sind sehr wohl zu begrüßen, daß das Kabinett verkleinert worden ist. einer differenzierten Prüfung neuer biotechnologi- Wir begrüßen die Zusammenlegung der beiden Mini- scher Verfahren bereit. sterien. Aber die einfache Addition der beiden Mini- (Zuruf von der F.D.P.: Seit wann denn?) sterien ist unzureichend. Die zu einer „Offensive für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur" hoch- Wir werden darüber im einzelnen noch zu reden stilisierte Koalitionsvereinbarung ist ungeeignet, um haben. die wissenschaftlichen und technischen Herausforde- Meine Damen und Herren, ich möchte drittens rungen der Zukunft tatsächlich anzupacken. sagen: Sie wollen jetzt die hinderlichen rechtlichen Folgende Punkte möchte ich hier nennen. Rahmenbedingungen überprüfen. Wir haben die De- Erstens. „Weiter so" ist das Motto der Regierungs- regulierung der Gentechnik erlebt. Wir haben heute erklärung. Die Bundesregierung hält fest — wir haben im Bundesrat die Gentechniksicherheitsverordnung das in den letzten beiden Tagen gehört; das steht auch auf der Tagesordnung. Ich halte es für unverantwort- in der Regierungserklärung — am Forschungsreaktor lich, daß von seiten der Bundesregierung — und ich muß hier auch die SPD ansprechen: wohl im Einver- Garching II, obwohl bundesweit Atomphysiker vor den außenpolitischen Risiken der dort geplanten Nut- nehmen mit SPD-Landesregierungen — das Schutzni- zung von hochangereichertem Uran warnen. veau enorm abgesenkt wird und in Zukunft auch S 1- und S 2-Bereichsabfälle und Abwässer aus Genlabors (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Genproduktionsstätten einfach in die Umwelt sowie bei Abgeordneten der PDS) entlassen werden können. Sie, meine Damen und Es gibt Alternativen: Ich erinnere nur an die Neu- Herren, bewahren nicht mehr die Schöpfung, sondern tronenspallationsanlage. Das könnte eine tatsächliche offensichtlich ist Ihr neuer Leitspruch: die Schöpfung Innovation sein. Aber dazu ringt sich die Bundesregie- durch Genzwitter aufmischen. rung nicht durch. Sie hält fest an überholten For- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schungsschwerpunkten wie Atomtechnik, Fusions- energie, bemannte Weltraumforschung und Militär- Ich möchte noch — viertens — sagen: Es ist sehr gut forschung. Herr Rüttgers, Sie werden es nicht fertig- — und wir begrüßen das —, daß in den neuen 268 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Manuel Kiper Bundesländern Anreize für Forschungs- und Ent- Wer über Deutschland spricht — Herr Kollege wicklungsleistungen unterstützt werden. Wir möch- Thierse hat recht, daß wir da auch über Denkhaltun- ten auch hier betonen, daß wir die angekündigte gen sprechen müssen —, der muß wissen, wie wir aus überproportionale Aufstockung des Bundeshaushalts der Katastrophe von 1945 herausgekommen sind: für Forschung und Technologie begrüßen. Aller- nicht nur mit Überlegungen, welche Technologien dings: Wenn Sie weiter Sackgassentechnologien hät- uns schaden, sondern mit der Erkenntnis, daß wir scheln, werden wohl die angeblich intelligenten technische Höchstleistungsfähigkeit brauchen, um Arbeitsplätze der Zukunft eher eine kürzere Restlauf- wieder auf die Beine zu kommen. Das haben wir dann zeit haben als der Bundeskanzler. mit großer Kraftanstrengung auch geschafft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- und bei der PDS) ten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Initia- Darüber sprechen wir bei diesen Themen. tiven der Bundesregierung zur Gründung einer Aka- demie der Wissenschaften, aber wir warnen Sie, hier Wenn man in Deutschland — nicht nur in diesem einseitig auf Eliten — auf die besten Köpfe, wie Herr Hause, sondern auch außerhalb — solche Debatten Rüttgers sagte — zu setzen. Wir brauchen eine Demo- führt, bekommt man den Eindruck, daß ein großer Teil kratisierung der Wissenschaft, eine Demokratisie- der Öffentlichkeit denkt, unsere Zukunft sei mit rung der Forschungslandschaft. Sie sollten runde Beschäftigungsprogrammen, mit Umstrukturierun- Tische, Sie sollten offene Foren machen. gen, mit großen Gedankengebäuden für Übergangs- modelle und mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu Meine Damen und Herren, die Leitlinie der For- gewinnen. Es haben sich ganze Gruppen mit Inbrunst schungs- und Technologiepolitik muß Zukunftsfähig- dem zweiten Arbeitsmarkt gewidmet. keit sein. Herr Minister Rüttgers, wir wünschen Ihnen, daß Sie nicht ein Angström werden, die kleinste Meine Damen und Herren, wir sind in Gefahr, als Maßeinheit im Raum. Wir wünschen Ihnen, daß „ein Gesellschaft insgesamt den Blick für die eigentlichen Rüttgers" in Zukunft nicht das Synonym für die Grundlagen für Beschäftigung, Wohlstand und kleinste Einheit von Zukunftsfähigkeit wird. Zukunftssicherung zu verlieren. In unserem Land geht es um Fähigkeit zur Spitze, nicht nur um die Finan- Ich danke Ihnen. zierung von Beschäftigungsprogrammen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Wir brauchen die technische Höchstleistungsfähig- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der keit nicht, um andere beiseite zu drängen. Wir brau- Abgeordnete Dr. Wolfg ang Gerhardt das Wort. chen sie, weil wir Arbeitsplätze, die heute im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigungspolitisch gestützt wer- den, wieder zu wirklich produktiven Beschäftigungs- Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Frau Präsidentin! verhältnissen des ersten Arbeitsmarktes machen wol- Meine Damen und Herren! Wer vor den Folgen der len. Technologie warnt, muß immer auch die Folgen des (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Verzichts auf Technologie im Auge behalten. Ein ten der CDU/CSU) einfacher Hinweis: In den Vereinigten Staaten von Wenn es einen Unterschied zu Gruppen in der Amerika arbeiten im biotechnologischen Bereich - 100 000 Mitarbeiter. Damit bestehen 100 000 hoch Opposition gibt, dann formuliere ich den, insbeson- qualifizierte Beschäftigungsverhältnisse, darunter dere für meine Fraktion, so: Nicht Gedankengebäude 20 000 mit Wissenschaftlern. In unserem Land, das über eine neue Verteilung werden die Beschäftigung doch wirklich eine Position zu verteidigen hat, haben der Zukunft sichern, sondern nur die Fähigkeit und wir noch nicht einmal 1 000 Mitarbeiter. Es geht also die Kraft einer Gesellschaft zur ständigen Innovation. gar nicht um die Frage der Folge einer Technologie, Das ist der Unterschied zwischen uns! sondern es geht um die Frage des Verlierens des (Beifall bei der F.D.P.) Anschlusses auf dem Gebiet einer Schlüsseltechnolo- gie und um zukünftige moderne Beschäftigungsver- Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir nicht hältnisse. nur in unserer praktischen politischen Arbeit, sondern auch in unserem Denken einige Steine aus dem Weg (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne räumen. Wir müssen einiges abbauen, was zu Lasten ten der CDU/CSU) der Innovationen geht. In Deutschland gehen Pionier- Wir müssen uns darüber klar werden, vor welchen gewinne verloren, weil wir zu lange verfahren haben, Aufgabenstellungen wir stehen und in welchem Land weil wir ein Konglomerat von Vorschriften haben, das wir über diese Themen diskutieren. lähmt, weil wir zuviel auf Strukturerhalt setzen und den Weg für Neues verbauen. Natürlich hat die F.D.P. Diese Bundesregierung, wir alle und die Menschen nicht die Illusion, daß Privatisierung und Deregulie- im Land unternehmen die gewaltige Anstrengung, rung sofort wirken. Wir wissen aber, daß sie für den eine von der SED zur Schrottreife geführte Volkswirt- schaft wieder aufzubauen und enorme Mittel zu Aufbau neuer Beschäftigungsfelder zumindest be- investieren. Gleichzeitig machen wir uns daran, einen günstigend wirken. Einstieg in eines der Felder zu suchen, das für unser Jeder weiß, daß unser Land an Beweglichkeit ver- Land ein Stabilisator ist. loren hat, daß der Staat überfordert worden ist und daß Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 269

Dr. Wolfgang Gerhardt das Gleichgewicht zwischen Freiheit und persönli- festhalten — ist nie eine Begründung für ein politi- cher Verantwortung aus den Fugen geraten ist. sches Programm. Neid ist ein Charakterfehler. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der (Beifall bei der F.D.P.) CDU/CSU) Da müssen wir ansetzen, das müssen wir ändern, weil Wer, weil er die naturgegebenen Unterschiede Qualifizierung und Bildung nichts nutzen werden, der Leistungsfähigkeit verschiedener Menschen wenn in unserem Land das Bewußtsein einer Staats- leugnet .. ., kundschaft gepflegt und der Weg zur Staatsbürger- — so formuliert Professor Markl - schaft mit eigener Verantwortung nicht gesucht wird. die Auswahl und Pflege der Begabung verwei- (Beifall bei der F.D.P.) gert, beseitigt dadurch nicht die Ungleichheit der Talente, er vergeudet sie nur. Meine Damen und Herren, Forschung und Innova- Das ist der Sachverhalt, über den wir uns im klaren tion, Kreativität und wissenschaftliche Neugier, das sein müssen, wenn wir einen neuen Anlauf in Bildung sind Felder mit Bereitschaft zu außerordentlicher und Erziehung, in Forschung und Entwicklung neh- Leistung und zur Herausbildung der Fähigkeit, men wollen. Wir müssen unsere Haltung zu diesem Höchstleistungen zu erbringen. Das erfordert eine Feld klären und nicht nur Fragen der Finanzierung bestimmte geistige Haltung. Notwendig ist die Bereit- erörtern. Wir müssen Wettbewerb und Vielfalt wieder schaft, Risiken einzugehen, langen Atem in der installieren. Wir müssen akzeptieren, daß es unter- Grundlagenforschung zu haben, Stärke zu akzeptie- schiedliche Leistungsfähigkeit gibt. Wir dürfen stär- ren, und sogar darauf aus zu sein, möglichst viele kere und leistungsfähigere Menschen nicht als Bedro- Stärken entstehen zu lassen. Das ist kein Feld für hung für schwächere erklären, sondern wir müssen sie Gleichmacher und für Menschen, die in Vollkaskover- als Glück, als Voraussetzung empfinden, den anderen sicherungssystemen denken. Im Kern müssen wir weg in den Systemen zu helfen, die wir haben. von den alten Themen des bildungspolitischen Auf- bruchs der 60er Jahre in unserem Land, der stecken- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - geblieben ist. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Zählen Sie sich zur Elite?) (Dr. Peter Glotz [SPD]: Aber davon sind wir Die Koalitionsvereinbarung sieht überproportionale längst weg!) Haushaltssteigerungen vor. Wir werden bei Haus- haltsdebatten Gelegenheit haben, diese Erörterungen — Nein, wir sind nicht weg. Sehen Sie sich die Länder fortzuführen. Auf eines möchte ich für meine Fraktion an! Ich bringe es auf den Punkt: Ihre Partei macht in aufmerksam machen: Wir werden noch einmal eine den Ländern eine Schulpolitik, die immer noch nicht Anstrengung bei der Bund-Länder-Finanzierung im begriffen hat, daß Chancengleichheit zu gewährlei- Hochschulbau unternehmen müssen. Das angekün- sten ist, aber nie gleiche Ergebnisse für alle heraus- digte überproportionale Wachstum muß sich hier kommen können. konkretisieren. (Beifall des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD]) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir müssen ganz deutlich sagen, daß von Bund und Ich greife das sehr präzise auf: Wir müssen auch Ländern noch einmal eine Anstrengung unternom- über den Begriff Leistung einen offenen Diskurs men werden muß, um im Hochschulbau weiterzukom- suchen. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft men. sind keine Kategorien einer Ellbogengesellschaft. Sie (Dr. Peter Glotz [SPD]: Sehr gut! Richtig! sind Bestandteil der sicheren Lebensführung von Jawohl!) Menschen. Sie sind überhaupt erst die Voraussetzung von Verantwortungsübernahme in einer freiheitli- Das ist eine gemeinsame verantwortliche Aufgabe. chen Gesellschaft. Leistung und soziales Empfinden Unsere Erwartung an die Länder ist, sich zu präzisie- stehen sich im übrigen nicht diametral gegenüber. ren, nicht alles und jedes vorzuschlagen, auch not- Soziale Kompetenz wird nicht in bestimmten Schulfor- wendige forschungsintensive Maßnahmen zu ent- men erzeugt, soziale Kompetenz entsteht im Kopf, scheiden und im eigenen Kabinett die Entscheidung nach Begegnung mit anspruchsvollen Inhalten im herbeizuführen. Unterricht, in der Begegnung mit Menschen, oder sie Eines geht nicht: daß die Bundesregierung öffent- entsteht nicht. Sie entsteht auf keinen Fall durch lich kritisiert wird, weil sie die Mittel noch nicht Herabsetzung des Niveaus, sondern nur in der Förde- ausreichend steigert, aber die jeweiligen Landesfi- rung möglichst vieler nach oben. nanzminister diese Summe in ihren jeweiligen Kabi- netten schon in Abgang gestellt haben, weil sie sich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) darüber freuen.

Wie oft, Herr Kollege Glotz, hat die politische und (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) die gesellschaftliche Auseinandersetzung in unserem Wir wollen eine einheitliche Stellungnahme der Land diesen Sachverhalt so dramatisch verkürzt, wie Länder haben. Auch die Länder können zu Kostensen- oft sind in den Ländern ganze Schulformdiskussionen kungen beitragen. Ich spreche mich für meine Frak- mit völlig falschen Ansätzen über Eliten gepflegt tion für diesen nochmaligen Anlauf zur Steigerung der worden! Neid — das möchte ich an dieser Stelle Mittel aus, weil am Ende Verkürzungen von Studien- 270 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Wolfgang Gerhardt zeiten, Strukturreformen an den Hochschulen und Ist Ihnen bekannt, daß in einer Fachgruppe beim auch die Beseitigung von Mängeln im Management Deutschen Industrie- und Handelstag im Zusammen- der Hochschulen nur gelingen werden, wenn wir auch hang mit der beruflichen Bildung die Kosten des eine vernünftige Plattform in der Finanzierung haben. dualen Bildungssystems als wettbewerbsverzerrend Dann können Hochschulen ihre eigenen Hausaufga- für die deutsche Wirtschaft gesehen werden und daß ben erledigen. dort zunehmend englische und französische Modelle Die Stärkung der beruflichen Bildung war in den von verschulter oder teilverschulter beruflicher Bil- Verhandlungen das Ziel der F.D.P. Es gibt unbestreit- dung als eine Alternative gesehen werden? bar eine enge Verknüpfung von Qualifizierung und (Zuruf von der F.D.P.: Übernehmen Sie wirtschaftlichem Erfolg. Meine Fraktion und auch ich das?) sind es leid, daß in Deutschland, wenn über Qualifi- Meine Frage an Sie: Wie stehen Sie zur Verantwor- zierung und Bildung gesprochen wird, ausschließlich tung der deutschen Wirtschaft, auch in der Frage der von BAföG, von Hochschulen, von Gymnasien und Investitionen im Bereich des dualen Bildungssy- von weiterführenden Schulen die Rede ist. Ein großer stems? Teil der jungen Generation — wir haben nur eine einzige — sucht über den beruflichen Bildungsweg Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Die hat die Wirt- seine Chancen. schaft ganz klar, ganz eindeutig. Ich verstehe Ihre (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Frage in diesem Zusammenhang nicht. Habe ich denn ten der CDU/CSU) in meiner Rede behauptet, daß ich sie aus der Verant- Die müssen wissen, daß wir sie im Blickfeld haben. wortung herausnehmen wollte? — Nein, das ist ganz eindeutig. Wer heute sieht, daß berufliche Ausbildung, beruf- liche Prüfungen schon an so hohen Qualifikationsni- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gerhardt, es veaus hängen, daß viele sie nicht schaffen, und daß gibt noch eine Frage des Abgeordneten Kuhlwein. solche ohne Zertifikat kaum einen Arbeitsplatz fin- den, der wird auch das als Feld neben einer BAföG- Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Dann lasse ich auch Diskussion sehen müssen, dem wir uns zuwenden die noch zu. wollen. Wir möchten der jungen Generation, die im beruf- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kuhlwein. lichen Bildungssystem ist, ausdrücklich sagen, daß wir ihr Partner sein wollen, daß auch sie für die Zukunft Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Gerhardt, Sie gebraucht werden. haben zu Recht von dem hohen Qualifikationsniveau, (Beifall bei der F.D.P.) das sich in der Berufsausbildung ergibt, gesprochen. Dazu gehört eben die Förderung der Gleichwertig- Ist Ihnen bekannt, daß Ihre Fraktion in diesem Haus in keit von beruflichen und allgemeinbildenden Ausbil- der vergangenen Legislaturperiode einen Ände- dungsgängen, ebenso die Aufforderung an das Fach- rungsantrag zum Hochschulrahmengesetz abgelehnt hochschulsystem, ein studienbegleitendes Angebot in hat, mit dem wir ermöglichen wollten, daß auch allen Ländern für diejenigen zu machen, die nach dem Berufserfahrene ohne Abitur grundsätzlich den Hoch- Abitur in die Berufsausbildung gehen. Sie sollten schulzugang bekommen können? parallel dazu studieren können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Herr Kollege Kuhl-- wein, ich unterstelle jetzt einmal, daß das so war. Dann Dazu gehört im übrigen auch eine Aufforderung an darf ich Ihnen heute die freudige Mitteilung machen, die Hochschulen, nicht nur diejenigen zu sehen, die daß wir in der Koalitionsvereinbarung mit unserem mit der traditionellen Hochschulreife, Abitur oder Partner erreicht haben, daß wir jetzt solche Zugangs- Fachabitur, zu ihnen kommen, sondern auch diejeni- möglichkeiten schaffen wollen. gen zu sehen, die mit erheblicher Reife nach langer beruflicher Qualifizierung vor den Türen der Hoch- (Beifall bei der F.D.P. — Horst Kubatschka schulen stehen könnten. Dieses Potential darf nicht [SPD]: Dann haben wir ja etwas erreicht! Die verlorengehen. sind ja lernfähig!) Ich darf zusammenfassen: Wir müssen uns wieder (Dr. Peter Glotz [SPD]: Das fordern wir seit daranmachen, Substanz und Qualität aufzubauen, Jahren!) anstatt ausschließlich von vorhandener Substanz zu leben. Das ist der Auftrag in diesem Feld. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gerhardt, Wir müssen die Fähigkeit zur ständigen Innovation gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten über Bildung, Qualifizierung und Forschung schaffen, Bertl? anstatt in Verteilungsmodellen steckenzubleiben. Wir müssen einen langen Atem in die Grundlagen- forschung bringen, auch Rückschläge in Kauf nehmen (F.D.P.): Ja; bitte. Dr. Wolfgang Gerhardt und exzellente Leistungen geradezu hervorrufen. Wir dürfen wissenschaftliche Neugier nie einengen.

Hans - Werner Bertl (SPD): Herr Kollege, Sie haben Wir brauchen eine neue, stärkere Bewertung der eben von Höchstleistungen gesprochen. Höchstlei- beruflichen Bildung. Es gibt eine einzige junge Gene- stung bedeutet Training und Investition. ration. Deshalb geht es nicht nur um ein BAföG- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 271

Dr. Wolfgang Gerhardt I Thema, sondern um gleiche Chancen, gleichen Start Nehmen wir das hochschulpolitische Beispiel stell- und gleiche Zuwendung auch für junge Menschen in vertretend für die vom Kanzler gerühmten guten der beruflichen Bildung. Grundlagen für die Zukunft: Wie ernst meint es die Der größte Technologietransfer vollzieht sich über neue Regierung wirklich damit, der Austrocknung des die Qualifizierung von Menschen. Sie sichern und Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland entschie- schaffen nicht nur Produkte und Arbeit, sondern sie den entgegenzuwirken? Hier gelten keine schönen stabilisieren auch unsere Demokratie in einer Weltof- Sprüche, hier zählt einzig und allein der Anteil von fenheit, die wir bewahren wollen, durch ihr Können, Bildung, Wissenschaft und Kultur am Bruttosozialpro- durch ihre Leistung. Wir, die F.D.P. und diese Koali- dukt. tion, wollen der Partner solcher Menschen sein. Schaut man sich die Zahlen in den Haushaltspla- Wir wünschen uns, Herr Bundesminister Rüttgers, nungen des vergangenen Jahrzehnts an, versteht eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Wir wünschen jeder: Allein mit der Bildung eines Zukunftsministeri- Ihnen Glück in Ihrem Amt und Erfolg. ums — unabhängig davon, wo dieser Beg riff geprägt Ich sage sehr persönlich: Ich danke für meine wurde — ist kein Blumentopf zu gewinnen. Es fehlt Fraktion auch Herrn Professor Laermann für die der Regierung bisher an Geist, Ideen und Geld, um geleistete Arbeit. sich den Aufgaben der Jahrhundertwende angemes- Auf eine erfolgreiche Legislaturpe riode! sen zu stellen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD]) Um welche Fragen geht es? Angesichts der massen- haften Zerstörung kreativen wissenschaftlichen Po- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster redet tentials in Ostdeutschland seit 1990 ist zu fragen, jetzt der Abgeordnete Dr. Ludwig Elm. wann und mit welchen Einsichten die Zukunftsvisio- nen über den Kanzler und seine Berater gekommen sind. Allerdings war in den neuen Ländern auch das Dr. Ludwig Elm (PDS): Frau Präsidentin! Meine Erbe der Stagnation, veralteter Ausstattungen und Damen und Herren! „Bildung, Wissenschaft, For- ausgebliebener materiell-technischer Erneuerung zu schung, Innovation und Kultur sind für Gesellschaft übernehmen. Hinzu kamen Rückstände und Defizite, und Wirtschaft zentrale Grundlagen der Zukunftsge- die aus den langjährig erheblich eingeschränkten staltung. Sie sind unerläßlich für eine auch langfristig internationalen wissenschaftlichen Kommunikations- innovative Gesellschaft. " Diese Aussage in der Koali- möglichkeiten resultierten. tionsvereinbarung wird mit weiteren Feststellungen unterlegt, beispielsweise wenn Bildung, Wissenschaft Das wertvollste Erbe jedoch war ein vorwiegend und Forschung als Schwerpunkte der Zukunftssiche- hochqualifiziertes, quantitativ bedeutendes und rung bezeichnet werden. hochmotiviertes Potential von Wissenschaftlerinnen Der Kanzler sprach in der Regierungserklärung von und Wissenschaftlern an den ostdeutschen Universi- guten Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in täten und Hochschulen, in außeruniversitären Ein- die Zukunft. Die Schlußfolgerungen, die daraus abge- richtungen — besonders an der Akademie der Wis- leitet werden, fordern allerdings zum Widerspruch senschaften — sowie in leistungsfähigen Forschungs- und zur weiteren kritischen Erörterung heraus. Erst zentren der Industrie. Ein solches existierte beispiel- wenn man bereit ist — wir haben heute Ankündigun- haft im Carl-Zeiss-Werk in Jena, dessen Nachfolge- gen in diesem Sinn gehört —, daraus für die Haushalts- betriebe gegenwärtig in kritische Phasen geraten und planung prinzipielle Konsequenzen und andere Prio- vermutlich bald weitere hochqualifizierte und hoch- ritäten abzuleiten, wird es mit dem spezialisierte Kräfte abstoßen werden. Wissenschaftsstandort Deutschland wirklich ernst gemeint. Bildung, Wissenschaft und Kultur müssen Allein zwischen Oktober 1991 und April 1992 wur- weg vom Katzentisch auf den Kanzlertisch. Ist der den in Thüringen 3 700 Arbeitsplätze — das entspricht Tisch dieses Kanzlers der richtige für hohe Erwartun- 55 % — in Forschung und Technologie abgebaut. gen? Übergreifend ist davon auszugehen, daß von 85 000 Beschäftigten in der ostdeutschen Industrieforschung Jedenfalls gelangte der ehemalige Präsident des heute nur noch weniger als 10 000 einen entsprechen- Wissenschaftsrates, Dieter Simon, zu einer äußerst den Arbeitsplatz haben. skeptischen Beurteilung der Situation und der Aus- sichten der Hohen Schulen. Er sagte zu den zwei (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Hört! Hört!) Bildungsgipfeln im November/Dezember vergange- nen Jahres — ich zitiere —: In ehemaligen Akademieeinrichtungen verblieb etwa Sie erbrachten, daß auf absehbare Zeit Taten ein Drittel und an den ostdeutschen Universitäten ca. nicht auf die Tagesordnung zu setzen seien. Es sei die Hälfte, mit großen Differenzierungen nach den denn, sie kosteten nichts. Im Zeitraffer Wissenschaftsgebieten und Tätigkeitsgruppen. — so Simon weiter — Die Bundesregierung ist mit Nachdruck darauf zu reduziert sich die gemeinsame Hochschulpolitik verweisen, daß die Ausschaltung der intellektuellen des Bundes und der Länder demnach auf die und der künstlerischen Elite der DDR ihren Preis Stichworte: „Öffnen", „Offenhalten" und „Weg- haben wird. Das Forschungspotential der Indust rie, sehen". Man könnte es auch Bankrott nennen. der akademischen Einrichtungen und anderer Institu- (Beifall bei der PDS) tionen, das in die Wüste geschickt wurde, wurde mit 272 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Ludwig Elm unfrommen Sprüchen verabschiedet. Es wird mit Die Regierung muß forschungspolitische Visionen frommen Sprüchen nicht ersetzt werden können. formulieren und dafür in der Gesellschaft Förderer und Moderator sein. Wir brauchen dringend neue (Beifall bei der PDS — Dr. Uwe-Jens Heuer regenerierbare Energien, neue Informationsinfra- [PDS]: Hören Sie zu, Herr Bundeskanzler!) strukturen, neue Verkehrs- und Umweltlösungen, Wenn Sie über den Wissenschaftsstandort Deutsch- Lösungen zur Humanisierung des Arbeitslebens. Die land sprechen, vergessen Sie bitte nicht, daß Tau- Verantwortung für die Grundlagenforschung ist poli- sende von Intellektuellen im Osten Deutschlands in tisch und finanziell wahrzunehmen. Wir werden die der Arbeitslosigkeit oder im vorgezogenen Ruhestand Haushaltsdebatte benutzen, um die spezielleren f or- einer fortschreitenden Dequalifizierung ausgesetzt schungs- und technologiepolitischen Positionen unse- sind und ihr Wissen und Können zeitweilig oder auf rer Gruppe zu unterbreiten. Dauer brachgelegt und entwertet werden. Als Ergeb- Ich bemerke abschließend: Wir treten dafür ein, nis erreichen uns beispielsweise allein aus Berlin schrittweise und zielstrebig eine primär an gesamtge- Nachrichten über einen alarmierenden Anstieg von sellschaftlichen und globalen Problemlagen und Langzeitarbeitslosigkeit bei Wissenschaftlern. Bei- Interessen orientierte zivile Forschung in den Grund- spielsweise sprang sie in Ostberlin von 5 000 im Jahr lagen und für die verschiedensten Anwendungsberei- 1993 auf 13 000 in diesem Jahr, im selben Zeitraum in che zu entwickeln. Westberlin von 14 000 auf 24 000. Welches Land kann Vorrang haben darin eine verstärkte Friedens-, sich so etwas leisten? Deutschland offenbar, das sich Sicherheits- und Abrüstungsforschung, eine beschei- ohnehin der Welt gern mal als Klassenbester und mal den dimensionierte Weltraum- und Luftfahrtfor- als Schulmeister darstellt. schung, intensivierte Forschung zu ökologischen Pro- blemen und eine Industrieforschung, die auf Beschäf- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ tigung und Weiterbildungsmöglichkeiten, auf ent- CSU) sprechende Kommunikationssysteme, umweltfreund- Kritische Signale und Hinweise auf Defizite und liche Verkehrs- und Verfahrensentwicklungen und wachsende Schwierigkeiten kommen seit Jahren schließlich auch das dringliche und übergeordnete auch aus den Universitäten und Fachhochschulen der Ziel einer gerechten, friedensfördernden Weltwirt- alten Länder, insbesondere zu solchen komplexen schaftsordnung ausgerichtet ist. Problemkreisen wie den Widerständen gegen eine (Beifall bei der PDS) substantielle Reform der Hochschule, des Studiums, Vielleicht — lassen Sie mich das zum Abschluß der Studiengänge, und den aus unzureichender sagen — gelingen uns bescheidene Schritte auf einem Finanzierung resultierenden Problemen ungenügen- schwierigen Weg, dessen eigentliches Ziel Bertolt der Ausstattung und daraus erwachsender Überla- Brecht durch Galileo Galilei mit den einfachen Worten stung von Lehrkräften, Hörsälen, Labors, Bibliothe- umschreiben ließ: ken, Studentenheimen, aber auch bezüglich der bürokratisch-administrativen Versuche, Reformen Ich bin dafür, daß das einzige Ziel der Wissen- nicht nach wissenschaftlichen, substantiellen Gebo- schaft darin besteht, die Mühseligkeit der ten, sondern nach den vom Finanzminister vorgege- menschlichen Existenz zu erleichtern. benen Zwängen und Grenzen zu vollziehen. Ich danke Ihnen. Bildungsökonomie ist wichtig; das Wichtigste aber (Beifall bei der PDS) ist eine neue Bestimmung der Bildungsidee für heute und morgen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt das (Beifall bei der PDS) Wort dem Kollegen Dr. Peter Glotz. Was müssen junge Menschen können und beherr- schen? Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten haben Dr. Peter Glotz (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr sie sich anzueignen, um in der veränderten Welt des verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat ausgehenden 20. Jahrhunderts gut auf das 21. vorbe- gelächelt, als der Kollege Thierse darauf hingewiesen reitet zu sein? Wir brauchen einen Generationenver- hat, daß die Konzentration der Kompetenzen Bildung trag für Bildung und Jugend, für das Offenhalten der und Forschung ein Vorschlag der Sozialdemokraten Hochschulbildung, für Chancengleichheit in der Bil- im Wahlkampf war. Nun sind wir alle vom Glück dung und die Aufwertung der beruflichen Bildung. überflutet, wenn der Kanzler lächelt. Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) und darüber hinaus, begreifen Sie doch endlich, daß Aber in diesem Fall kann ich nur sagen: Er kann so viel die überlange Studienzeit in der Bundesrepublik lächeln, wie er will. Dies war der Vorschlag, den keine primär bildungspolitische, sondern eine soziale Scharping mit seiner Regierungsstruktur gemacht hat. Frage ist, daß die bisherigen Umstände und Zustände Die Regierung ist ihm gefolgt. Es ist richtig, daß Sie an den Universitäten und Hochschulen einer rationel- ihm gefolgt sind. Aber es war ein Vorschlag der leren Studiengestaltung und Studienzeitverkürzun- Sozialdemokraten, meine Damen und Herren. gen nicht förderlich sind! (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ (Beifall bei der PDS) CSU) Deshalb steht auch die angemessene Fortentwicklung Die Konzentration der Kompetenzen ist allerdings des BAföG weiterhin vordringlich auf der Tagesord- eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für nung. die angekündigte Offensive für Bildung und For- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 273

Dr. Peter Glotz schung. Der neue Minister muß jetzt im Kabinett die bau, Kraftfahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie —, Erkenntnis durchsetzen, daß die Erziehung unserer in ernsten Krisen stecken und ihren Höhepunkt über- Kinder und die Stärkung der Innovationsfähigkeit schritten haben. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts unserer Gesellschaft wichtiger sind als die Beschaf- müßten jetzt neue Industrien die Stafette überneh- fung irgendeines Waffensystems oder irgendeine men. Bloß sind wir bei den leistungsbestimmenden neue Steuersubvention. Schlüsselkomponenten der Zukunftsindustrien — ob das jetzt die Telekommunikation, die Industrieauto- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten matisierung, die Autoelektronik oder die Medizin- der PDS und des Abg. [Berlin] technik sind — in einem schrecklichen Rückstand. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Da genügt es nicht, Herr Rüttgers, daß Sie sagen: Dafür biete ich Herrn Rüttgers die Kooperation der Wir sind in der Mikroelektronik nicht durchweg an der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion an. Dabei Spitze. Nein, wir sind leider in einem schrecklichen geht es nicht nur um den selbstverständlichen Brauch, Rückstand. Diese Wahrheit muß am Anfang Ihrer Herr Kollege Rüttgers, einem Minister die berühmten Amtsperiode stehen, Herr Kollege Rüttgers. 100 Tage Schonfrist zuzubilligen. Herr Bundesmini- ster Rüttgers wird selbst wissen, daß er, trotz einiger (Beifall bei der SPD) Lehrjahre in der Forschung, zuerst einmal als politi- Andrew Grove, der frühere Präsident von Intel, scher Manager in dieses Ressort kommt. Noch kann er einer der innovativsten Halbleiterfirmen der Welt, hat nicht das Renommee von Hans Maier oder Eduard schon vor zwei Jahrzehnten gesagt: Das Risiko einzu- Pestel haben. Aber er hat sich den Ruf eines seriösen gehen, das 21. Jahrhundert mit einer zweitrangigen Gesprächspartners erworben, auch in unserer Frak- Halbleiterindustrie zu betreten, ist reine Narrheit. — tion. Er hat ganz offensichtlich den Rückhalt des Wir sind dieses Risiko eingegangen und haben gleich Bundeskanzlers und eine starke Stellung in seiner auch noch andere Basistechnologien drangegeben, Fraktion. z. B. Computertechnik, Unterhaltungselektronik und Ich stehe nicht an, zu sagen: Das sind gute Voraus- optoelektronische Techniken. setzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit in einem Ich sage: In den letzten zwölf Jahren hat es die schwierigen Ressort. Wenn es Ihnen gelingt, Herr Bundesregierung versäumt, auf diese Probleme, die Kollege Rüttgers, die Leerformeln der Koalitionsver- sie als Regierung nicht lösen konnte, aber zu deren einbarung zu konkreter Politik zu machen, dann Lösung sie hätte beitragen müssen, mit der notwendi- können Sie in vielen Sachfragen auf die Unterstüt- gen Drastik hinzuweisen. zung der Bildungs- und Forschungspolitiker der SPD (Beifall bei der SPD) zählen. Statt einer marktwirtschaftlich orientierten Industrie- (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Das ist politik haben Sie sich ordnungspolitischem Prediger doch was!) tum überlassen, und das war ein ganz katastrophaler Damit bin ich aber schon bei dieser Koalitionsver- Fehler. einbarung und der Regierungserklärung. Sie wollen (Beifall bei der SPD) eine Offensive für Bildung, Wissenschaft, Forschung Jetzt sagen Sie, Herr Rüttgers, Sie wollen sich nicht und Kultur starten. Das ist gut. Schlecht aber ist, daß in den Graben begeben. Das ist der Hinweis auf die man weder der Regierungserklärung noch der Koali- Schwierigkeiten in Ihrer Koalition, den ich absolut tionsvereinbarung auch nur die Spur einer Bildungs- verstehe. Ich muß Ihnen nur sagen: Ihre forschungs- idee entnehmen kann. Die Bundesregierung be- politischen Vorgänger haben sich meiner Erfahrung- schreibt weder die Probleme, vor denen wir stehen, nach immer dann, wenn ein Ordnungspolitiker aus noch formuliert sie eine Antwort auf diese Probleme. der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums Statt dessen wird Bildungspolitik auf Bildungsökono- auftauchte, in die nächste Ecke des Zimmers verzogen mie und Forschungspolitik auf den sogenannten und, wenn ein Mauseloch da war, sich in dieses Anwendungsbezug reduziert. Das ist dünn, dürr und verkrochen. ärmlich. (Beifall bei der SPD) (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Nein!) Ich möchte mit drei Bemerkungen zur Forschungs- Wir brauchen eine vernünftige, realistische Koope- politik beginnen. Mitten in dem tiefgreifenden Prozeß der Verwandlung unserer Industriegesellschaft in ration von Wirtschaft, Staat, Wissenschaft und Gewerkschaften. Niemand will den Unternehmen in eine Informationsgesellschaft stecken wir ja in einer ihre Investitionsentscheidungen hineinreden. Aber strukturellen Krise unserer Wirtschaft. Jedem ist klar, daß Kohle, Massenstahl, Standardschiffbau, Massen- über die große Linie muß es statt unverbindlicher textilien die Zukunft nicht bestimmen können. Jedem Plaudereien auf dem Petersberg einen kontinuierli- diesen unterschiedlichen ist auch klar, daß wir unsere Zusagen gegenüber chen Dialog zwischen diesen Bereichen erfüllen müssen, beispielsweise Lebensmächten — Politik, Wirtschaft und Wissen- auch gegenüber der Kohle. Dazu ist bisher leider kein schaft — geben. Wort gefallen. Das ist falsch. (Beifall bei der SPD) Spätestens in der Rezession 1993 aber haben wir Das ist nicht nur eine Auffassung von uns Sozialde- noch entdeckt, meine Damen und Herren, daß die vier mokraten und angeblicher Planifikateure, sondern die großen Industriezweige, die das Wachstum in den gefestigte Meinung, wie Sie sie inzwischen beim BDI letzten Jahrzehnten ge tragen haben — Maschinen und beim ZVEI, aber eben auch bei Persönlichkeiten 274 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Peter Glotz der Wirtschaft, von Jürgen Schrempp bis zu Heinrich diesen Tagen diskutieren, auf die Verdreifachung der von Pierer, von Roland Berger bis zu Gerhard Zeidler, Zahl der hochindustrialisierten Länder eingegangen hören können. Diese Herren stehen alle nicht in dem ist. Wenn man dies aber nicht bedenkt, kann m an Verdacht, irgendeiner versteckten Form von Sozialis- treiben. keine vernünftige Forschungspolitik be mus anzuhängen. Im Klub der Reichen befinden sich jetzt 1 Milliarde Hören Sie auf diese Herren, hochverehrter Herr Menschen, die sich der knappen Ressourcen unserer Kollege Rüttgers! Sie müssen springen, und Sie müs- Erde bedienen. Mindestens 2 Milliarden Menschen in sen sich an diesem Punkt auch mit Graf Lambsdorff Asien und Lateinamerika schicken sich an, diesen auseinandersetzen, sonst können Sie keinen Erfolg Club zu stürmen. Daraus muß man in der Forschungs- haben. und Technologiepolitik Konsequenzen ziehen. (Beifall bei der SPD) Nun hat die Bundesregierung in den letzten Mona- Es ist zu einfach, wie der Bundeskanzler immer ten vor der Wahl manches erkannt. Sie hat nämlich wieder schlicht Technikoptimismus einzufordern. Ich stehe nicht im Verdacht eines Kulturpessimisten, aber erkannt, daß man nicht so weitermachen kann wie Ihr Begriff von „Bedenkenträger" ist zu einfach, Herr bisher. Der Bundeskanzler spricht von einem Techno- Kollege Rüttgers. logierat, und Sie sprechen von einer Akademie der Wissenschaften. Die Frage wird lauten: In welchem (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Aber er stimmt!) Verhältnis stehen eigentlich diese beiden Institutio- nen zueinander? Ich glaube, daß das in Deutschland weitverbreitete Der Technologierat leidet bisher ein bißchen an der Bewußtsein von der Endlichkeit der natürlichen Res- Konzeption. Die Bundesregierung berät sich selbst. sourcen, von der Notwendigkeit, mit unserer Umwelt Ich kann dazu nur sagen: Haben Sie den Mut, unab- und den fossilen Energien sorgfältig umzugehen und hängige Leute, und zwar unabhängig auch von Par- die Umwelt zu schonen, keine Schwäche ist, sondern teipolitik, in diesen Rat zu berufen und Wissenschaft- eine Stärke, die dieses Land hat. ler nicht nach einem Schnittmuster — ausgewählt von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Koalition — zu bestimmen! Der Rat muß so DIE GRÜNEN) unabhängig sein wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung. Deswegen müssen wir uns umorientieren: weniger (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Der ist nicht Hochenergiephysik, weniger bemannte Weltraum- so unabhängig!) fahrt, mehr Informationstechnik, eine Orientierung unserer Forschungspolitik auf eine Kreislaufwirt- — „Mindestens so unabhängig" , füge ich hinzu, Frau schaft auf gutem Wohlstandsniveau. Diese Umorien- Kollegin Matthäus-Maier, wenn Sie erlauben. tierung kommt in keinem Ihrer Papiere vor. Dies ist ein Eine solche Institution kann man dann auch, wenn großer Fehler. man will, Akademie der Wissenschaften nennen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sollten Sie aber nur eine Konkurrenzorganisation zu DIE GRÜNEN) den Länderakademien beabsichtigen, werden Sie nur Geld zum Fenster herauswerfen, das Sie an anderer Damit komme ich zur dritten und letzten Bemer- Stelle dringend brauchen werden. kung zur Forschungspolitik. Was Sie und Herr Ger- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: hardt gesagt haben, nämlich Innovation, ist absolut Das ist richtig!) richtig. Aber unser Land wird von alten Industrieun- ternehmen bestimmt, die in der ersten Gründerzeit ab Klären Sie die Frage genau mit Ministerpräsident 1870 gegründet worden sind. Weltweit operierende Stoiber und seinen Kollegen ab! Denn was Sie aus den Unternehmen wie Apple, SLI Logic, Sun Micro Wissenschaftsorganisationen hören, ist etwas anderes Systems und Microsoft, die in den letzten 20 Jahren als das, was ich höre. Ich höre derzeit — wenn es das entstanden sind, gibt es in Deutschland leider nicht. geben sollte — bohrendes Schweigen zu Ihrem Vor- schlag mit der Akademie der Wissenschaften. Ich kann jetzt nicht 20 Punkte aufzählen, die man aufgreifen müßte. Es geht um eine neue Finanzie- (Zuruf von der F.D.P.: Wie hören Sie denn rungskultur, um Risikokapital, um Investmentbanken Schweigen?) mit technischem Know-how und um die steuerliche — Ich höre bohrendes Schweigen. Ich weiß, daß das Begünstigung von Investitionen in technologieorien- eine absurde Formulierung ist. Es soll auch eine tierte neue Unternehmen. Es ist doch absurd, daß m an sein. sich in unserem Land dumm und dämlich verdienen kann, indem man in Immobilien in Ostdeutschland Ich kann Ihnen nur raten: Erfinden Sie keine reinen investiert, daß man aber nicht vergleichbar verdienen Organisationen für Olympier gegen die Betroffenen! kann, wenn man in technologieorientierte Unterneh- Sie scheitern sonst mit dieser Akademie genauso, wie men investiert. Das ist falsch. die Berliner Akademie gescheitert ist. Den Fehler sollten wir nicht wiederholen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: Der Zukunftsminister und die Koalition werden also Das sind aber andere Gründe!) daran gemessen werden, ob wir dieses Zukunftspro- Zweitens weise ich darauf hin, daß die Bundesre- blem erkennen und entsprechende Lösungsvor- gierung in keinem der Dokumente, über die wir in schläge machen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 275

Dr. Peter Glotz Zum Abschluß der Bemerkungen zur Forschungs- Ja, werten Sie die berufliche Bildung auf, aber bitte politik warne ich nur davor, den Begriff des Anwen- packen Sie das nicht nur bei Randproblemen an, wie dungsbezugs zu ideologisieren. beispielsweise der absolut sinnvollen Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Bewerber ohne Abitur, (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!) die die Frau Kollegin Doris Odendahl und viele andere Die Anwendung ist notwendig und sinnvoll, aber in diesem Hause über viele Jahre gefordert haben, spielen wir nicht Anwendung und Grundlagenfor- sondern widmen Sie sich den wirklichen Problemen, schung gegeneinander aus! Ich stimme Herrn Rütt- z. B. der katastrophalen Misere der Berufsschulen in gers darin zu, daß wir ein vernünftiges Gesamtsystem Ostdeutschland! der Förderung von Forschung haben. Das müssen wir beibehalten. Aber auch die Grundlagenforschung Ich, Herr Kollege Rüttgers, war - da gibt es ja darf nicht vernachlässigt werden. Bitte sorgen Sie Vorbilder — in den Jahren 1974 bis 1977 Parlamenta- dafür, daß die Versprechungen, die der Max-Planck- rischer Staatssekretär im Bildungsministerium. Wir Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemein- haben 1975 auf Anregung des damaligen Ministers schaft für die Aufstockung Ihrer Haushalte gegeben , und zwar ohne verfassungsrechtliche worden sind, auch eingehalten werden! Wenn wir Probleme mit den Ländern, zwei Programme mit diese erwürgen und ihnen keine Stellen mehr geben, 650 Millionen DM zur Förderung der Berufsschulen in wird die Grundlagenforschung darunter leiden. Das der alten Bundesrepublik aufgelegt. Machen Sie das darf nicht passieren. gleiche jetzt für Ostdeutschland, Herr Rüttgers! Das ist das, was eigentlich notwendig wäre. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) In der Bildungspolitik bekennt sich die Bundesre- gierung zu einer Aufwertung der beruflichen Bildung. Das gleiche gilt für die systematische Förderung Ich sage ausdrücklich: Das ist eine richtige Zielbestim- überbetrieblicher Berufsbildungsstätten. Ostdeutsch- mung. Wir unterstützen sie. Aber auch hier gilt land braucht ein tragfähiges Netz solcher überbetrieb- natürlich: Sie müssen Butter bei die Fische tun. Es ist licher Einrichtungen, gerade weil es kein volles Netz höchst fragwürdig, die berufliche Aufstiegsfortbil- von Betrieben gibt. dung und die Meisterfortbildung jetzt in das BAföG zu Das heißt, ich bin durchaus bereit, die Änderungen, verschieben, nachdem Sie sie vorher im Arbeitsförde- die Sie zum Hochschulrahmengesetz zur Debatte rungsgesetz kaputtgeschlagen haben. stellen, zu überlegen und auch an vielen Punkten zu (Beifall bei der SPD) unterstützen, obwohl die Länder manches von dem Wenn Sie jetzt die Fortbildung von 60 000 Meistern auch selber machen könnten und vielleicht auch über das BAföG finanzieren wollen, müssen Sie das selber machen wollen. Ich sage nur: Jede überbetrieb- BAföG aufstocken, Herr Kollege Rüttgers. Sonst liche Berufsbildungsstätte in den neuen Bundeslän- machen Sie dem Handwerk Versprechungen zu dern, die Sie bauen, schafft wirklich Zukunftschan- Lasten der Studierenden aus sozial schwachen Fami- cen, geht über Schnittmusterdebatten hinaus. Das lien. Das würde die soziale Gerechtigkeit nicht stär- heißt, verdoppeln Sie den Ansatz von 100 Millionen ken, sondern würde sie schwächen. DM und nehmen Sie die zusätzlichen Mittel für die neuen Länder! Begreifen Sie die Aufwertung der (Beifall bei der SPD) beruflichen Bildung nicht als eine ideologische, son- Weil ich gerade bei der Ausbildungsförderung bin, dern als eine praktische und als eine soziale Auf- unterstreiche ich das, was hier bereits zweimal gesagt gabe! worden ist. Sie wollen im nächsten Jahr darüber (Beifall bei der SPD) entscheiden. Die einzig gerechte Lösung ist, die Uns ist klar, daß das alles Geld kostet. Sie wollen ja Bedarfssätze rückwirkend zum Herbst 1994 um 4 % ein überproportionales Wachstum des Bundeshaus- und die Freibeträge rückwirkend zum Herbst 1994 halts für Forschung und Technologie. Wie abgesun- bzw. für 1995 um jeweils 2 % anzupassen. Dies ist eine ken — von 2,8 % auf 2 % — der Forschungshaushalt notwendige Entscheidung. ist, hat Herr Thierse dargestellt. Ich will nur illustrativ (Beifall bei der SPD) sagen: Wären wir noch bei einem Anteil von 2,8 %, Ich begrüße ausdrücklich, daß der Bundeskanzler in hätten wir im Forschungshaushalt einen zusätzlichen seiner Regierungserklärung seine Standardpolemik Spielraum von 4 Milliarden DM. Das ist eine gewal- gegen unser angeblich überakademisiertes Bildungs- tige Summe. wesen unterdrückt hat. Bei uns gehen auch nicht mehr Sie haben einige Prioritäten, und ich stimme Herrn Leute auf Hochschulen als in Japan oder anderen Gerhardt ausdrücklich zu — ich nehme an, auch der großen Industrieländern. Vor allem aber hat sich bayerische Ministerpräsident wird gleich darauf ein- etwas geändert: Früher waren 6,5 % der Belegschaft gehen —: Sie müssen mindestens 400 Millionen DM z. B. in der Metall- und Elektroindustrie Auszubil- mehr für den Hochschulbau ausgeben, damit neue dende. Heute ist es im Durchschnitt die Hälfte, und in Einrichtungen überhaupt gebaut werden können und vielen Betrieben sind wir bei Null. Gerade die Groß- damit alte Einrichtungen nicht verrotten. Das gibt es industrie nimmt lieber Fachhochschulabsolventen, nämlich auch. statt 150 000 DM für einen Auszubildenden zu inve- stieren. Wenn das so ist, ist jede Polemik gegenüber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Akademisierung und Hochschulen der pure Zynis- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mus, meine Damen und Herren. Wir haben damals in unserem Regierungspro- (Beifall bei der SPD) gramm gesagt, daß wir im Bildungs- und Forschungs- 276 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Peter Glotz haushalt knapp 2 Milliarden DM zulegen würden. Sie, werden, die wir heute in bestimmter Weise nicht mehr Herr Bundesminister Rüttgers, werden daran gemes- erreichen. Das ist eigentlich der entscheidende Punkt. sen werden, ob Sie diesen sorgfältig berechneten Wir müssen dann manche Eigenheiten, die wir in den Minimalbedarf für ihr Ministerium bekommen oder ob letzten zehn oder zwanzig Jahren diskutiert und Sie ähnlich abgespeist werden wie ihre ebenso sym- gepflegt haben — Sie auch —, außerordentlich in pathischen wie bedauernswerten Vorgänger. Frage stellen. Einem Aufsatz des deutschen Botschafters in Rom, Konrad Seitz, entnehme ich ein Zitat des amerikani- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schen Vizefinanzministers Roger Altman, mit dem ich ordneten der F.D.P.) schließen will. Auf einem Treffen des United States Im internationalen Wettbewerb müssen wir erken- Business Council im Oktober 1993 in Williamsburg hat nen, daß im Bereich der Spitzentechnologien die USA Mr. Altman gesagt: und Japan vorn liegen. Ich denke an die Unterneh- Amerika hat sich der Globalisierung des Wettbe- mungen und die Vorstandsvorsitzenden der ganz werbs angepaßt. Europa wird zu dieser Anpas- großen Be triebe — Sie haben Heinrich von Pierer sung voraussichtlich nicht fähig sein; es hat seine genannt, Siemens, den größten bayerischen Arbeitge- Zukunft hinter sich. Amerika muß sich endlich ber mit über 250 000 Arbeitsplätzen; Sie haben BMW dahin orientieren, wo die Zukunft ist: Asien. genannt und Herrn Pischetsrieder, der gerade nach Herr Altman darf nicht recht bekommen, meine einer erfolgreichen, für uns zum Teil sehr schmerzli- Damen und Herren. Er könnte aber recht bekommen, chen Investition aus den Vereinigten Staaten zurück- wenn wir unsere Bildungs- und Wissenschaftspolitik kommt — und stelle natürlich auch fest, daß die nicht radikal reformieren. Unser Land braucht Refor- Bedingungen in diesen Ländern für bestimmte Unter- men, nicht Taktik, unkonventionelle Beweglichkeit, nehmungen, die als global player auftreten, unver- nicht Mainstream-Denken. Und es hat nicht mehr arg gleichlich besser sind und daß sie immer mehr Inve- viel Zeit. Es wäre ein katastrophaler Irrtum, zu glau- stitionen in einem Land tätigen, wo sie es eigentlich ben, wir könnten die nächsten vier Jahre einfach nicht gerne täten. Sie würden es ja zum Teil auch übertauchen. Wir müssen in diesen vier Jahren han- lieber hier tun. Wenn sie aber in den Vereinigten deln. Staaten von Amerika bestimmte Dinge nicht nutzen, Zukunftsministerium ist ein wunderbarer Name. dann können sie mangels Mischkalkulation auch die Aber es geht nicht um den Namen — das hat Herr Arbeitsplätze in München nicht erhalten. Deswegen Rüttgers auch gesagt —, es geht um die Politik. Herr müssen wir uns über diese Dinge unterhalten. Rüttgers, Sie müssen in diesem Fachbereich einen neuen Anfang machen, weil die alte Politik falsch war. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dann, aber nur dann stehen wir bereit zu einem ordneten der F.D.P.) Bündnis für Innovation über Parteigrenzen hinweg. Sie haben die finanziellen Fragen angesprochen. Herzlichen Dank. Ich werde darauf kurz eingehen. Es sind aber nicht nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die finanziellen Mittel, auf die es ankommt. Entschei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dend ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Wissen- PDS) schaft, Forschung und technologischer Entwicklung. Wenn sich heute an der Technischen Universität in München Leute, die Atomphysik studieren, in ihrem Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Umfeld im Grunde genommen gesellschaftlich dafür Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Edmund rechtfertigen müssen, warum sie dies tun — unterhal- Stoiber. ten Sie sich einmal mit diesen Leuten darüber, wie sie in unserer Gesellschaft häufig angefeindet werden, Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) weil sie eine solche Disziplin studieren —, dann (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsi- müssen wir uns fragen, woher es eigentlich kommt, dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die daß Leute, die diese Disziplinen studieren, überhaupt Regierungserklärung steht unter dem Thema „Auf- angefeindet werden. Ich halte das für bedenklich. bruch in die Zukunft — Deutschland gemeinsam erneuern". Wissenschaft und Technik, das habe ich (Beifall bei der CDU/CSU) heute intensiv gehört, werden dabei ein Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sein. Wir beide gemeinsam billigen wohl Roland Berger ein hohes Maß an Informiertheit über die wirtschaftli- Aus der Sicht eines Landes, das seit jeher einen chen Zusammenhänge der Welt zu. Nach den Ergeb- Schwerpunkt auf Wissenschaft und Forschung gelegt nissen der Umfragen, die ihm vorliegen, haben vor hat, möchte ich im Deutschen Bundestag deutlich 30 Jahren 25 % der deutschen Bevölkerung techni- machen, wie wichtig Forschung, Technologietransfer schen und technologischen Entwicklungen skeptisch und Innovation für unsere Zukunft sind. gegenübergestanden, aber 75 % generell positiv. Im Ich habe das auch aus Ihren Worten, Herr Kollege Jahre 1993 ist das gerade umgedreht. Das heißt, wir Glotz, sehr nachhaltig erfahren. Ich habe auch den haben heute 25 % der Bevölkerung, die primär tech- internationalen Bezug, den Sie hergestellt haben, sehr nologischen Entwicklungen gegenüber positiv einge- nachhaltig empfunden. Darüber freue ich mich. Aber stellt sind, wir müssen uns auch über die Bedingungen unterhal- ten, unter denen gerade in England, Frankreich und (Dr. [CDU/CSU]: Rot-grüne Amerika solche wissenschaftlichen Leistungen erzielt Verweigerung!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 277

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) und 75 % sind pessimistisch, negativ etc. eingestellt schaft zu diesem Konzept mit hochangereichertem und setzen die Bedenken im Grunde genommen zu Uran, und daß das Bedenken, daß die Amerikaner das hoch an. nicht liefern werden, dazu führt, daß man den Uran- Wenn ich heute wieder das Stichwort Neutronen- handel mit Rußland und mit anderen Quellen fördern quelle München-Garching höre, so freue ich mich, muß und daß auf diese Weise große Schwierigkeiten daß das Thema in die Koalitionsvereinbarung aufge- hinsichtlich des Uranhandels entstehen könnten, den nommen worden ist. Sie genauso bekämpfen wie wir auch? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Glotz, Sie wissen genau: Unsere Zukunftsfähig- keit hängt von zwei wichtigen Disziplinen, nämlich Ministerpräsident (Bayern): Materialwissenschaft und Informationstechnik ab, Dr. Edmund Stoiber Das ist völlig richtig. Es tut mir leid, aber wenn die wenn Sie den Sprung von der Industriegesellschaft in Frage hier schon eine Rolle spielt — sie spielt nicht nur die Informationsgesellschaft schaffen wollen. Im für Bayern eine Rolle, sondern auch für Deutschland Bereich der Informationstechnik sind wir nicht abso- insgesamt —, dann muß ich Ihnen natürlich sagen: Wir lute Spitze, wenn ich Amerika und Japan betrachte; haben für zehn Jahre hochangereichertes Uran und Stichwort Privatisierung. Aber wenn ich mir die Mate- brauchen also überhaupt niemanden dazu. Darüber rialwissenschaft ansehe und die Neutronenquelle hinaus liegen weitreichende Angebote der Franzosen ansehe, glaube ich, daß im Moment nur Bayern in der innerhalb von Euratom, also innerhalb der Europäi- Lage ist, das überhaupt durchzuführen, weil der schen Union vor. Das heißt, wir brauchen weder die bayerische Ministerpräsident bereit ist, dafür 450 Mil- Russen noch die Amerikaner dazu, dies überhaupt lionen DM aus bayerischen Landesmitteln zur Vorfi- betreiben zu können. Wir wollen das Ganze nur nicht nanzierung mit unsicherer Rückzahlung zur Verfü- gegen den absoluten Widerstand der Amerikaner gung zu stellen. betreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Die Amerikaner schieben hier — das sage ich ganz ordneten der F.D.P.) offen, und das habe ich auch dem damaligen Botschaf- ter, Herrn Holbrooke, gesagt — bestimmte Interessen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Ministerpräsi- vor. Dahinter stehen natürlich wirtschaftliche Interes- dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage? sen. Ich verstehe nicht, daß Leute in Deutschland die Wissenschaftler nach Grenoble verweisen und sagen: Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Geht nach Frankreich; dann brauchen wir hier in Selbstverständlich. Ich will nur den Gedankengang zu München keine Neutronenquelle. Wenn ich mit den Ende führen, Herr Kollege Glotz. Leuten rede, dann heißt es: Schaut mal, wie lange Wenn ich jetzt höre, man solle die Spallationsquelle deutsche Wissenschaftler brauchen, falls sie über- an die Stelle der Neutronenquelle setzen, dann, muß haupt in Grenoble angenommen werden. Da kommen ich sagen, geht man einfach an dem Verfahren vorbei. zunächst einmal die Franzosen, und dann kommen Denn das ist jahrelang von denen, die diese Dinge noch einmal die Franzosen. So ist die Realität. machen wollen, geprüft worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Schauen Sie sich einmal an, welche Probleme die [Wiesloch] [SPD]: Tech- Wiener haben, bei denen das projektiert wird und die nonationalismus ist das!) nicht an die Neutronenquellen der Vereinigten Staa- Wir wollen die Wissenschaftler doch nicht hinaustrei- ten von Amerika herankommen. Ich halte es einfach ben. - für ein Unding, daß Deutsche und Kollegen aus Ihrer Partei amerikanische Quellen benutzen, um gegen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Ministerpräsi- das hochangereicherte Uran — Stichwort: Neutronen- dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- quelle — Stimmung zu machen, neten Lippelt? ( [CDU/CSU]: Unglaublicher Vorgang!) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): während die Amerikaner sieben Neutronenquellen Wird das auf die Redezeit angerechnet? mit hochangereichertem Uran betreiben und jetzt eine der größten in Oak Ridge errichten werden, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, das wird nicht dreimal so groß sein soll wie die Neutronenquelle in angerechnet. München. Ich vertrete hier nicht in erster Linie ame- rikanische Wirtschaftsinteressen, sondern deutsche Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Interessen. Wir müssen in diesem Bereich vorne Bitte. bleiben. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Ministerpräsident, ist Ihnen nicht bekannt, daß Bitte. das Weggehen von dem hochangereicherten Uran auf die Uran-Fuel-Konferenz zurückgeht, die seinerzeit Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Ministerpräsident, der amerikanische Präsident Carter ohne jede Rück- wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein sicht auf amerikanische Wirtschaftsinteressen inau- großer Teil des Protestes gegen den Forschungsreak- guriert hat und deren Ergebnis genau die Empfehlun- tor München II nicht aus der Gegnerschaft zu Materi- gen zum Abgehen von Forschungsreaktoren mit alwissenschaften herrührt, sondern aus der Gegner hochangereichertem Uran waren? 278 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Sie sachkundiger Befürworter neuer Techniken. Da liegt begeben sich da auf ein unsicheres Feld. Ich sage der Hund begraben. Ihnen eines: Die Amerikaner überprüfen gegenwär- tig, was sie vom hochangereicherten zum schwach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — angereicherten Uran umstrukturieren können. Selbst- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ verständlich kann man auch mit schwach angerei- DIE GRÜNEN]: Wie ist das nach zwölf Jahren chertem Uran ähnliche Ergebnisse erzielen. Das ist Kohl möglich? Das soll mir einer erklären! nur eine andere Konzeption, die wesentlich teurer ist. Das verstehe ich nicht!) Man muß hier ein Mischprodukt haben. — Schreien Sie doch nicht so. — Der Nutzen der Ich sage noch einmal: Wenn die Amerikaner ihre Gentechnik z. B. in der Medizin bleibt diffus im neueste und größte Neutronenquelle in Oak Ridge mit Hintergrund. hochangereichertem Uran errichten, dann halte ich die Kritiker nicht für berechtigt, auf uns mit Fingern zu (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ zeigen und zu sagen, wir würden hier etwas Unsinni- DIE GRÜNEN]: Nach zwölf Jahren Kohl ges machen. Das sage ich Ihnen ganz offen. genießt jeder Bedenkenträger mehr Auf- (Beifall bei der CDU/CSU) merksamkeit als Experten?) — Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. Aber erlauben Herr Ministerpräsi- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Sie mir, den Gedankengang zu Ende zu führen. dent, auch der Kollege Kubatschka möchte eine Zwischenfrage stellen. Das führt dann zu dem absonderlichen Ergebnis, daß wir in Deutschland zwar mehr gentechnisch Horst Kubatschka (SPD): Herr Ministerpräsident, hergestellte Arzneimittel zulassen als in jedem ande- Sie haben gerade behauptet, daß die deutschen Wis- ren Land — bei uns sind es 24 Stoffe, in Japan 21, in senschaftler in Grenoble Schlange stehen. Halten Sie Frankreich 18 und in den USA 15 —, durch die es dann nicht für verantwortungslos, daß im deutschen restriktiven Gesetze aber Forschung und Produktion Forschungsministerium die Möglichkeit, für 1,1 Mil- aus dem Lande treiben. Daß das so ist, daran haben lionen DM und Betriebskosten in Höhe von ungefähr Sie, Herr Fischer, einen erklecklichen Anteil. 600 000 DM im Jahr zusätzliche Meßplätze einzurich- ten, nicht genutzt wird, um die angebliche Schlange (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der deutschen Wissenschaftler in Grenoble abzu- bauen? Aber gleichzeitig beklagen Sie sich dann darüber, daß in den anderen Ländern Zehntausende von (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der Arbeitsplätzen in Betrieben der chemischen Industrie SPD: Jetzt wird es interessant!) entstehen. Sie brauchen ja nur die Hauptversamm- lung von Hoechst zu verfolgen, um festzustellen, daß Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Ich diese Länder schon jetzt ein interessanter Partner sind, sehe hier überhaupt keinen Zusammenhang, Herr weil die Vorstandsvorsitzenden wissen, daß sie das Kollege. woanders alles billiger machen können. Ich halte es (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei für ein Unding, daß es große deutsche Konzerne der der SPD) chemischen Industrie gibt, deren Forschungsaktivitä- Ich habe das in einem anderen Zusammenhang dar- ten zu 80 % außerhalb Deutschlands betrieben wer- gestellt. Ich habe doch überhaupt nichts dagegen den und die noch einmal 6 bis 7 % zusätzlich in andere — ganz im Gegenteil —, daß unsere Leute, wenn sie Länder verlagern wollen. Das ist eine falsche Poli- denn die Möglichkeit haben, an allen internationalen tik. Plätzen forschen können. Nur, der Punkt ist: Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht so einfach. Wenn ich von denen, die an diesen 1989 wurden 82 % der biotechnologischen Patente Lehrstühlen tätig sind, höre, daß sie außerordentliche in den USA erteilt. Der europäische Anteil betrug 5 %. Schwierigkeiten haben, überhaupt einen Teil ihres Ähnlich bedrückend sieht es bei der Produktion aus. Prozesses in Grenoble durchzuführen, muß ich ganz In den Vereinigten Staaten gibt es 450 Produktions- offen sagen: Wir machen zwar europäische Politik, anlagen, in Japan 120, in Dänemark 20 und in aber wir machen auch deutsche Politik. Wir müssen Deutschland nur sechs Anlagen. versuchen, für unsere eigenen Leute die notwendigen Einrichtungen zu schaffen, damit sie sich entwickeln (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ können. DIE GRÜNEN]: Zwölf Jahre Kohl!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Das liegt doch daran, daß wir auch notwendige Aber lassen Sie mich meinen Gedankengang fort- Gesetze zur Reform der Gentechnik im Bundesrat führen. Noch immer — das kam auch in Ihren Ausfüh- überhaupt nicht durchgebracht haben. rungen, Herr Glotz, zum Ausdruck — wird in der Öffentlichkeit über die Technologiefelder der Zukunft (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — wie Bio- und Gentechnik in erster Linie negativ Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ geredet. Die möglichen Risiken dieser Zukunftstech- DIE GRÜNEN]: Ich kann es nicht ändern: niken stehen mir zu einseitig im Vordergrund. Jeder Zwölf Jahre Kohl! Es ist so!) Bedenkenträger — das ist für mich das Problem —, der, zu Recht oder zu Unrecht, vor den Risiken warnt, Es ist in diesem Zusammenhang geradezu unglaub- genießt größere Aufmerksamkeit als ein noch so lich, was der Kollege Fischer tut. Er soll sich seine Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 279

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) eigene Rede im Bundesrat, die ich selbst gehört habe, Ich sage noch einmal: Wir brauchen ein geistiges noch einmal vor Augen führen. Klima, das jungen Forschern Mut gibt und ihre Lei- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ stungen anerkennt. Das wird nicht eintreten, solange DIE GRÜNEN]: Vor Ohren!) Bürgerinitiativen gegen alles und jedes, was neu ist, mobil machen und eine so große Aufmerksamkeit Er hat gegen Erleichterungen im gentechnischen erreichen, daß sie letzten Endes in der Bevölkerung Produktionsverfahren polemisiert. Das ist Wider- einen völlig falschen Eindruck erwecken. Es ist eine sprüchlichkeit. enorme politische Aufgabe, Herr Kollege Rüttgers, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie sich in Zusammenarbeit mit vielen anderen gesell- schaftlichen Kräften gestellt haben. Dabei sind die Marktchancen der Biotechnologie riesig. Ich bedaure, daß sich die vielbeschworene geistige Elite unseres Volkes, die Intelligenz, wie man so schön (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sagt, über diese Fragen viel zu wenig ausläßt. Ich lese DIE GRÜNEN]: Aha!) in den Feuilletons zu selten, welche Auswirkungen Fachleute rechnen mit zweistelligen jährlichen diese oder jene Entwicklung hätte. Da wird über jedes Zuwachsraten der biotechnischen Produktion. Nach Detailproblem geschrieben, aber mit diesen entschei- Expertenschätzungen werden sich schon 1995 40 % denden Zukunftsfragen, auch der Frage, ob wir nicht des gesamten Pharmamarktes auf gentechnische Pro- eine zu umfassende Risikoabschätzung machen, dukte stützen. befaßt sich niemand. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Herr Ministerpräsi- DIE GRÜNEN]: Dann hat es sich aber mit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: dent, der Abgeordnete Tauss hat noch den Wunsch, dem bayerischen Reinheitsgebot!) eine Zwischenfrage zu stellen. Sind Sie einverstan- Bis zum Jahre 2000 wird ein Arbeitsplatzpotential von den? 2 Millionen Arbeitsplätzen in Europa geschätzt. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Bitte. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Fischer, wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Jörg Tauss (SPD): Herr Ministerpräsident, ist Ihnen bekannt, daß einer der größten Zuwachsmärkte in den nächsten Jahren beispielsweise die Mikrosystemtech- nik in Deutschland sein wird, und denken Sie nicht, Ministerpräsident (Bayern): Dr. Edmund Stoiber daß es etwas kurz greift, wenn man die Forschungs- Nein. landschaft nicht in ihrer Gesamtheit betrachtet, son- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dern immer nur nach den paar Stöckchen beißt, die können es uns nicht leisten, auf der einen Seite gerade das persönliche Hobby sind? bestimmte Verpflichtungen einzuhalten — Herr Glotz, Sie haben Werften, Kohle und andere Bereiche Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): genannt; Sie wissen ganz genau, daß wir in diesen Herr Kollege, so kann man es natürlich auch machen. Bereichen ungeheure Subventionen geben müssen —, Wenn man hier auf Einzelfragen, die in der Debatte wenn wir auf der anderen Seite nicht in der Lage sind, aufgeworfen worden sind und die ich hier jetzt spon- das mit den Mitteln der Industriezweige zu erwirt- tan vertiefe — sei es die Neutronenquelle in München, schaften, bei denen wir echte Vorsprünge haben oder sei es die Gentechnik —, aufmerksam macht, dann haben könnten. Das ist dann Gen- und Biotechnolo- kommen Sie mit der Frage, ob das nicht in einem gie. größeren Zusammenhang gesehen werden muß. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich muß das in einem größeren Zusammenhang Herr Kollege Rüttgers, ein Satz ist mir aufgefallen. gesehen werden. Aber das darf uns natürlich nicht Wenn Sie sich den zum Leitbild erheben, dann würde daran hindern, in diesen Einzelfragen einmal Fraktur ich mich außerordentlich freuen. Sie haben gefragt, ob zu reden und die Spreu vom Weizen zu trennen. wir alles können, was wir können müssen. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) leider richtig. Hier müssen wir bei aller Risikoabschät- (V o r s i tz : Vizepräsident Hans Klein) zung, die natürlich intensiv durchgeführt werden muß, ansetzen. Ich begrüße die Deutsche Akademie der Wissen- schaften. Ich habe auch in den Koalitionsverhandlun- Es gibt kein Land in der westlichen Hemisphäre, wo gen alle föderalistischen Bedenken, die man dagegen die Risikoabschätzung in so vielen Verfahren einge- einwenden könnte, zurückgestellt, weil ich glaube, normt ist wie in Deutschland. Deswegen werden Sie, daß wir insgesamt ein solches Forum brauchen. Es ist wenn man auf der einen Seite den schlanken Staat jetzt die Aufgabe von Bund und Ländern, dieses — ich höre das alles sehr gerne — anstrebt und sich auf Forum gemeinsam als etwas wirklich Neues zu ent- der anderen Seite zur Aufgabe macht, zu prüfen, ob wickeln. Ich hoffe, daß das, was wir hier alle beklagen, wir alles können, was wir können müssen, auch um die entsprechenden Unterlagen und die entsprechen- bestimmte Reduzierungen von komplizierten Verfah- den Diskussionen vorantreiben wird, damit wir dann rensbestimmungen nicht herumkommen, weil es die ein Stückchen weiterkommen. Leute sonst woanders machen werden. Dann werden Meine Damen, meine Herren, Bildung und Wissen- Sie die Leute nicht hierbehalten. schaft sind der Treibsatz für unsere wirtschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU) und gesellschaftliche Zukunft. Wir können in For- 280 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) schung und Wissenschaft sowie bei der Entwicklung das Geld nicht bekomme —, daß ich für diese Ange- neuer Produkte und Verfahren nur erfolgreich sein, legenheiten und alles, was damit zusammenhängt, wenn wir die Menschen, die diese Leistung erbringen sozusagen noch den Wissenschaftsrat fragen muß und sollen, dafür entsprechend ausbilden und motivieren. im Prinzip in der Eigeninitiative gehemmt werde, die Wir brauchen in Deutschland eine verstärkte Lei- die Menschen im Grunde genommen erwarten. stungsorientierung. Gehen Sie heute einmal in die Deswegen bitte ich sehr, daß wir unvoreingenom- größeren Betriebe! Ich kann in besonderem Maße aus men, Herr Kollege Rüttgers — jetzt nicht in der Frage, bayerischer Sicht sagen: Wenn bei BMW bereits über wer die Kompetenzen hat: Bund oder Land —, wenn 10 % des technischen Managements aus dem engli- Sie es aus der objektiven Situation heraus nicht schen und aus dem französischen Schulbereich stam- schaffen, weit über 2 Milliarden DM erreichen zu men, dann ist das eine außerordentlich bedrückende können, dann in der Tat die Frage angehen: Sollen wir Feststellung für uns, weil wir viele Leute haben, die nicht die Kompetenzen im Grundgesetz ändern, um in diese Arbeitsplätze nicht bekommen. Dann müssen die Hochschullandschaft in Deutschl and vielleicht wir wirklich hinterfragen, warum das Ganze so lange wieder etwas mehr Variabilität hineinzubekommen? braucht. Sie belohnen dann die Länder, die ein entsprechendes Wenn Sie an die Effizienz der Hochschulen heran Schwergewicht auf die Hochschulausbildung und auf wollen — Sie haben ja leider die Verfassungsände- die Qualität der Hochschulausbildung legen. Ich sage rung nicht akzeptiert, um den Ländern eine höhere Ihnen: Wenn Sie uns den Freiraum geben würden, Autonomie in diesen Fragen einzuräumen; okay, das würden wir ihn jedenfalls in intensiver Weise nut- ist nun entschieden —, dann erwarte ich aber auch, zen. Herr Kollege Rüttgers, daß von Ihnen eine Vorlage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- kommt — ich bin sicher, daß sie kommen wird —, die ordneten der F.D.P.) entsprechende Effizienzsteigerungen bringen wird. Nur bitte eines nicht: Bei der Frage 13 Gymnasialjahre Eine letzte Bemerkung: Stichwort Gleichwertigkeit oder Oberschuljahre ja oder nein liegt nicht das beruflicher Bildung und akademischer oder allge- Problem. Das Problem liegt in der Differenz zwischen meiner Bildung. Dies ist ein Thema, bei dem wir alle dem Abitur, das durchschnittlich nach 19,7 Jahren ein Stück Verantwortung haben, warum die Dinge so abgelegt wird, und dem Studienbeginn, der bei auseinandergeklafft sind, warum wir fast zehnmal so 22,5 Jahren liegt. Wenn wir dann noch sehen, wie viel für einen Studenten, wenn ich alles zusammen- lange das Studium dauert, dann meine ich, daß man zähle, ausgeben gegenüber demjenigen, der eine hier ansetzen muß, bevor man an die Qualität der Metzgerlehre oder eine Schreinerlehre macht. Wir gymnasialen Ausbildung geht. Ich kann nur sagen: müssen hier insgesamt zu einer größeren gesellschaft- Wir in Bayern werden an der Qualität des bayerischen lichen, aber auch einer politischen Gleichwertigkeit Abiturs mit Sicherheit keine Abstriche hinnehmen, kommen. auch wenn das alle anderen Länder machen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese Abstriche müßten Sie hinnehmen, wenn Sie die Gymnasialjahre auf acht Jahre reduzieren. Es sind nicht unsere Hochschulen, Herr Rüttgers, was andere Länder anlockt und was sie nachmachen (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer wollen. Das war einmal. Das ist heute nicht mehr der [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fall. Heute wollen Europäer oder Außereuropäer von Sehr gut!) unseren Hochschulen nicht sehr viel übernehmen. Aber was in besonderem Maße in der Welt attraktiv Eine letzte Bemerkung, die ich hier einfügen ist, ist das duale Ausbildungssystem. - möchte: Ich halte es für sinnvoll, die gemeinsame

Bund - Länder - Hochschulfinanzierung den veränder- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten Rahmenbedingungen anzupassen. Aber ich muß Das fängt in China an und geht bis England und auch sagen: Das Verfahren — Stichwort Wissen- Frankreich. Die Misere in England z. B. ist gerade, daß schaftsrat —, bis wir etwas machen können, ist von sie nicht eine derartige Ausbildung im beruflichen einer Kompliziertheit, die im Grunde genommen jede Bereich haben, die sie nachziehen wollen. Dieses muß Initiative und jede Flexibilität erstickt. Deswegen sage mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Wenn ich ich auch: Wenn sich der Bund nicht in der Lage sieht hier höre, man wolle an die Anforderungen der — das ist jetzt eine Frage der Haushaltsgesamtbe- Handwerksprüfung herangehen, dann kann ich trachtung —, die entsprechenden Forderungen der davor nur warnen. Länder zu erfüllen, dann muß man an die Frage herangehen, ob man diese Gemeinschaftsaufgabe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aufgibt und die Verantwortung der Hochschulen in Das ist eines der größten Elemente in diesem Bereich. dieser Frage wieder an die Länder zurückgibt. Allerdings müssen wir darüber hinaus unterschiedli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge che Zertifikate — das habe ich hier in der Debatte ordneten der F.D.P.) gehört — geben. Wir müssen auch denen, die unter- halb dieser Anforderungen liegen, Zertifikate geben. Diese feine Mühle, die wir haben, läuft leer, wenn die Dies ist ein großes Problem, weil die Ausbildungsan- entsprechenden Mittel vom Bund nicht bereitgestellt forderungen in der Zwischenzeit so schwierig gewor- werden können. Es ist doch ein Wahnsinn — ich darf den sind, daß wir in der Praxis von der dreijährigen sagen, ich finanziere in Regensburg den dritten Bau- Berufsausbildung langsam zu einer dreieinhalbjähri- abschnitt vor, ich finanziere sieben neue Fachhoch- gen, ja auch schon zu einer vierjährigen Berufsausbil- schulen in Bayern mit 400 Millionen DM vor, weil ich dung kommen, weil die theoretischen Anforderungen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 281

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) sehr, sehr schwer sind. Wenn wir ein oder zwei stehen? Darauf müßten doch die politisch Verantwort- Bildungsabschnitte in diesen Bereich einbeziehen, lichen eingehen. dann bekommen wir gerade die Flexibilität auch gegenüber anderen europäischen Ländern, die die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anforderungen der Handwerksprüfung in diesem Ich rede aus eigener Betroffenheit als Mutter eines Sinne nicht haben. 28jährigen Sohnes mit gutem Abitur und gutem (Beifall bei der CDU/CSU) Mathematikdiplom — Herr Stoiber, Qualitätsabitur in Bayern —, der trotz 80 Bewerbungen bisher keine In dem Sinne und mit den kurzen Anmerkungen Stelle gefunden hat. Ebenso erwerbslos sind die wünsche ich dem neuen Zukunftsminister alles Gute. meisten seiner ehemaligen Mitstudenten und -stu- Ich darf Ihnen jedenfalls für mein Land, aber ich dentinnen in Bayern, Herr Stoiber. glaube, ich spreche auch im Namen vieler anderer, eine faire Zusammenarbeit anbieten. Ich glaube, daß (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) wir gerade in diesem schwierigen Feld, wo Bund und Hier besteht Handlungsbedarf, dem wir uns stellen Länder zusammenarbeiten müssen, wenn sie die müssen, weil wir die Geschicke des L andes mit zu Herausforderungen bewältigen wollen, ein gutes verantworten haben. Stück Weges in intensiver Zusammenarbeit gemein- sam gehen sollen. Ich frage also noch einmal: Welche Zukunft erwartet Danke schön, meine Damen und Herren. die jungen Menschen, vor allem auch im Osten? Ist das nicht ein verantwortungsloser Umgang mit menschli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen Hoffnungen und Kompetenzen und mit inve- stiertem Geld? Es kommt mir schon dreist vor, wenn Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Elisa- ich in den Koalitionsvereinbarungen lese, daß beim beth Altmann, Sie haben das Wort. Personalaustausch in der Wirtschaft neue Wege beschritten werden sollen. Über diese Wege muß schnellstens nachgedacht und die Ergebnisse müssen Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) (BÜNDNIS 90/ dann ganz konkret umgesetzt werden. Dringliches DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr dürfen Sie doch nicht auf eine solche Leerformel geehrte Damen und Herren! Zukunft ist das verbin- reduzieren. dende Thema dieser Diskussion. Zukunft für Bildung und Wissenschaft ist eng mit den Chancen junger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben zukunftswei- Menschen verbunden. Seit 25 Jahren arbeite ich nun sende arbeitsmarktpolitische Konzepte entwickelt. im Bildungsbereich und erlebe dabei hautnah die Wir fordern neue innovative Arbeitsplätze im sozialen Sorgen und Probleme der Lehrenden und Lernenden. und ökologischen Bereich. Nicht Atomkraft und der Deshalb brennt es mir unter den Nägeln, dringend Reaktor in Garching, Herr Stoiber, nicht die Gentech- notwendige Reformen anzumahnen. In der Regie- nologie, sondern erneuerbare Energien und die Rein- rungserklärung wurde dem Bildungsbereich lediglich haltung von Boden, Wasser und Luft, unseren natürli- ein Absatz gewidmet; das ist zu wenig. chen Lebensgrundlagen, sind unsere Zukunft! Im übrigen möchte ich ein Zitat zu der von Ihnen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Stoiber, angesprochenen Leistungs- und Eliten- bildung anführen. Der Bundesverband der Katholi- Zweiter Punkt: die überfüllten Hörsäle. An der in schen Arbeitnehmer-Bewegung sagt: „Leistungsstre- meinem Wahlkreis liegenden Universität Erlangen- ben hat in dieser Gesellschaft einen hohen Stellen- Nürnberg sind zur Zeit ca. 27 000 Studenten und wert, aber es geht auch zu Lasten anderer, und jene, Studentinnen eingeschrieben. Die Kapazität ist aber die nicht mithalten können, werden kalt ausge- nur für 15 000 berechnet. Das ist eine Unterversor- grenzt. " — Das ist Realität, auch für den Bereich gung von 80 %. Dies ist kein Einzelfall. Wenn m an im Bildung und Wissenschaft. Hörsaal auf dem Boden sitzt oder in den Gängen und Fluren versucht, den Worten der Professoren und Ich möchte mich in meiner Rede auf drei wesentli- Professorinnen zu lauschen, so kommt man sich zwar che Punkte im Hochschulbereich beschränken: menschlich näher, aber dem Studienziel wohl kaum. erstens auf die Berufsaussichten, zweitens auf über- Ich frage Sie: Wo bleibt die Qualität des Studiums? Der füllte Hörsäle und drittens auf das BAföG. Verschiebebahnhof in Richtung Länder, Herr Rütt- Zum ersten. In den Plänen der Koalition findet sich gers, paßt ins Konzept dieser Regierung. als Dauerbrenner seit 1982 die Forderung nach kür- zeren Studienzeiten. Wir müssen uns jedoch die Frage Nun lese ich, die Mittel für die Gemeinschaftsauf- stellen, weshalb wir so lange Studienzeiten haben. gabe Hochschulbauförderung sollen „konzentriert Lange Studienzeiten sind doch auch ein Ergebnis der und an die veränderten Rahmenbedingungen" ange- schlechten Berufsaussichten vieler Hochschulabgän- paßt werden. Wenn ich das richtig interpretiere, heißt ger und -abgängerinnen. es wohl: Die Mittel werden nicht um das notwendige Maß erhöht. Folgt nun auf lean production lean Was heißt hier, Herr Stoiber und Herr Rüttgers, education? Die derzeitigen Mittel reichen nach Mei- „Bedenkenträger"? In den letzten Jahren, unter der nung von Wissenschaftsrat und Hochschulrektoren- Regierung Kohl, ist die Arbeitslosigkeit insbesondere konferenz gerade, um den Bestand zu wahren. Wir von Natur- und Ingenieurwissenschaftlern stark warnen vor geistiger Engstirnigkeit und räumlicher gestiegen. Warum sollen z. B. Soziologen und Sozio- Enge gerade in Anbetracht unserer jüngsten loginnen möglichst schnell die Hochschulzeit durch- Geschichte. laufen, wenn, wie Mitte 1993, nicht einmal für jeden 70. eine Stelle offensteht, d. h. 69 auf der Straße (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 282 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) So kann man kein innovatives Klima erzeugen. Wir falschen Prioritäten setzt, das wäre falsch, und das Bündnisgrünen setzen dagegen: Kooperation, inter wäre Unsinn. kulturelles Lernen, Kreativität und Teamgeist, d. h. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wesentliche Fähigkeiten für die Welt von morgen. Zweite Bemerkung: Drittens: BAföG. Nicht nur die mangelnde Ausstat- Forschungsreaktor Mün- Sie haben nicht eingeräumt, nicht zugegeben, tung der Hochschulen belastet die Studierenden, chen II. daß es in der Wissenschaftsszene selbst, unter denen, sondern auch das fehlende Geld. Wer z. B. an zwei die selber Neutronenforschung betreiben, erhebliche Tagen oder oftmals auch Nächten in der Woche Einwände gegen das Konzept mit hochangereicher- jobben muß, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, tem Uran gibt. der kann nicht ordnungsgemäß studieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann DIE GRÜNEN]: So ist es!) [PDS]) Es sind nicht die bösen GRÜNEN oder die bösen Dies verlängert die Studienzeit. Kurieren wir nicht Sozialdemokraten, die gegen moderne Forschung an den Symptomen, sondern gehen wir an die Wur- oder Materialforschung sind, sondern es gibt eine zeln! Wir fordern deshalb eine sofortige Erhöhung der interne wissenschaftliche Diskussion um das Konzept. BAföG-Sätze auf mindestens 1 000 DM, wie es übri- Das muß man klar sehen. gens auch das Deutsche Studentenwerk für notwen- Zweitens. Wenn der Kollege Fischer oder irgendein dig hält. anderer Kollege solche Töne zum Thema Amerika (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gefunden hätte, wie Sie sie gefunden haben, wäre der Kollege Glos ans Pult gekommen und hätte gesagt: Gerade als Frau möchte ich zum Schluß noch auf ein Antiamerikanismus. Thema aufmerksam machen. Mädchen und Frauen werden in dieser Gesellschaft immer noch massiv (Beifall bei Abgeordneten der SPD) benachteiligt. Die Frauen im Osten betrifft es beson- Also, ich sehe durchaus Ihren Punkt. Es gibt selbst- ders. Im wissenschaftlichen Bereich ist dies eklatant: verständlich Eigeninteressen der Amerikaner. Aber nahezu 50 % Abiturientinnen, 40 % Studentinnen, ich war bei Martha Krebs, der zuständigen Staatsse- 18 % wissenschaftliche Assistentinnen und an der kretärin im Energieministerium in Amerika. Oak Spitze lediglich 4 % Professorinnen. Das ist ein Miß- Ridge ist nicht entschieden. verhältnis sondergleichen. Man kann gegen die Amerikaner argumentieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber wie Sie hier mit lautem Technonationalismus Wo bleibt da die Gleichberechtigung? Ich sehe nach: argumentiert haben, war mir ein bißchen zu laut und Was bietet das Koalitionspapier? Meine Herren, die außenpolitisch nicht genügend reflektiert. Antwort ist: Es ist dürftig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich fasse zusammen. Im Interesse der Zukunftsper- DIE GRÜNEN) spektiven des Landes müssen wir alles daransetzen, Die letzte Bemerkung bezieht sich auf das duale Bildung und Wissenschaft einen höheren Stellenwert System. Da sind wir inhaltlich völlig einer Meinung: zu geben. Ich fordere Sie, Herr Rüttgers, auf, um der Dies ist einer der ganz großen Standortvorteile unse- jungen Menschen willen gemeinsam mit uns über res Landes. konkrete Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und diese baldmöglichst umzusetzen. Nur, die Mahnungen müssen wir zuerst einmal an die großen Dienstleistungsunternehmen und die gro-- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ßen Industrieunternehmen richten, die derzeit bei der Ausbildung genauso brutal „lean production" oder Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Peter was auch immer herunterfahren wie in anderen Berei- Glotz, Sie haben das Wort. chen. — Das ist der erste Punkt. ( [CDU/CSU]: Schon wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der?) DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt ist sehr interessant. Sie haben hier den Kollegen Haungs sitzen. Er ist der Vorsitzende der Dr. Peter Glotz (SPD): Bundestagsdebatten sollen ASU, der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unter- Dialoge sein. Deswegen fordert mich die Rede des nehmen. Was Sie zum Thema Meisterausbildung leidenschaftlichen Bildungspolitikers Stoiber zu drei gesagt haben, wird genau von diesem Verein gefor- knappen Bemerkungen heraus. dert. Also, auch da müssen Sie sich bitte mit Ihren Erstens. Herr Ministerpräsident, Sie waren sicher eigenen Leuten auseinandersetzen, Herr Stoiber, bei den Koalitionsverhandlungen dabei. Da hätten Sie nicht so sehr mit uns. Gelegenheit gehabt, die Koalition auf die zusätzlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 400 Millionen DM Hochschulbaumittel zu bringen, DIE GRÜNEN) die Herr Gerhardt zu Recht gefordert hat. Das dritte ist: Unser Problem beim dualen Ausbil- (Beifall bei der SPD) dungssystem ist, daß wir es im Osten derzeit nicht Es handelt sich ja nicht um Gegner. Eines muß ich durchhalten können, weil das Netz der Bet riebe nicht schon sagen: Deswegen eine Verfassungsänderung dicht genug ist. Aus diesem Grund müssen wir etwa durchzuführen, weil die Koalition finanzpolitisch die besondere Anstrengungen bei überbetrieblichen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 283

Dr. Peter Glotz Ausbildungsstätten, besondere Anstrengungen in Ich bin es leid, immer zu hören — das ist vielleicht Ostdeutschland bei Berufsschulen leisten, weil dort nicht das ganz richtige Beispiel wegen der Risiken die Situation nicht wie in Westdeutschland normal insgesamt im Bereich der Atomwissenschaften —, wie ist. jeder immer dieselben Themen in den Mund nimmt: (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) schlanker Staat, Deregulierung, Abbau von Gesetzen, Wenn Sie das bitte akzeptieren könnten, dann würden Abbau von Verfahrenshemmnissen. Wenn es aber wir eine sehr viel sachlichere Debatte miteinander konkret wird, wollen wir im Grunde genommen die führen können, die wir heute über weite Strecken Verfahren beliebig verlängern, nur um die eigene auch geführt haben. Meinung durchzusetzen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das wollte ich in diesem Zusammenhang sagen, um vielleicht auch zu einem vernünftigen Dialog über die Neutronenquelle in München zu kommen. Vizepräsident Hans Klein: Der bayerische Minister- Der andere Punkt, den Sie ansprachen, ist so zu präsident geht auf das Dialogangebot ein und hat sich einfach dargestellt, Herr Glotz. Sie wissen ganz noch einmal zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort, genau, wir haben natürlich unterschiedliche Länder Herr Ministerpräsident. von unterschiedlicher Finanzkraft und von unter- schiedlicher Substanz — um mich vorsichtig auszu- drücken. Die größeren Länder fühlen sich natürlich Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Ich will nur noch eine Bemerkung machen, weil Sie das so enorm in ihrer Entscheidungsmöglichkeit eingeengt, in den Mittelpunkt rücken: Gerade in München gehö- entsprechend eigener Konzeption Hochschulen zu errichten. ren Sie ja mit zu denen, die ganz erhebliche Einwen- dungen gegen diese Neutronenquelle erheben Aus der Sicht Bayerns, eines Landes mit 25 Hoch- schulen, darunter auch die größeren Hochschulen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ — in München beispielsweise gibt es über 100 000 DIE GRÜNEN]: Was für ein Sprudel ist denn Studentinnen und Studenten — , bräuchten wir bezüg- diese Neutronenquelle?) lich des Ausbaus, der Erneuerung usw. ein höheres und damit natürlich auch eine ganze Reihe von Maß an Eigenständigkeit. Es sollte nicht so sein, daß Menschen beeinflussen. wir durch die Enge des Wissenschaftsrats und aller Wenn Sie jetzt die Bemerkung, die ich zu Amerika Gremien, die damit verbunden sind, müssen, um eine gemacht habe, so qualifizieren, dann muß ich ganz vernünftige Regelung zu erreichen. offen sagen, Herr Glotz: Sie gehen an der Sache Man muß auch sehen: Es nützt gar nichts, wenn Sie vorbei. hier sagen, man hätte in den Koalitionsverhandlungen Ihr Parteifreund, der Oberbürgermeister von Mün- 400 oder 500 Millionen DM mehr durchsetzen kön- chen, rennt mit einem Papier der Amerikaner herum, nen. Koalitionsverhandlungen sind nun einmal keine ist plötzlich auf der Seite der Amerikaner und über- Haushaltsverhandlungen. Ich muß natürlich auch die nimmt die amerikanische Position, die zu einem Gesamtsicht akzeptieren, muß berücksichtigen, was hohen Maß wirtschaftspolitisch bedingt ist. Das der Bund insgesamt an Verantwortung trägt. Da muß bestreitet auch niemand von den Amerikanern, wenn man die Frage stellen — ich tue das hier —, ob der man mit ihnen unter vier oder sechs Augen spricht. Bund überhaupt, obwohl er andere Prioritäten setzen Ich muß ganz offen sagen: Wenn m an die Frage muß, in dieser Art weiterhin an der Hochschulfinan- diskutiert und die amerikanischen Argumente in die zierung beteiligt sein muß. Es muß erlaubt sein, das in deutsche Diskussion mit einführt, dann muß man auch Frage zu stellen. Ich stelle das nicht deshalb in Frage, sagen, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika weil der Bund jetzt nicht zahlen kann, sondern ich Neutronenquellen auch in Zukunft mit hochangerei- stelle das in Frage, weil das Wiederherstellen des chertem Uran betrieben werden und daß aller Voraus- Zustands vor der großen Verfassungsreform von 1969 sicht nach — so meine Informationen — Oak Ridge vielleicht zu besseren Ergebnissen führt. Darüber muß finanziell nur verwirklicht werden kann, wenn es mit man unvoreingenommen diskutieren. hochangereichertem Uran gemacht wird. Danke schön. Unsere Crux heute ist doch, Herr Glotz, daß wir so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lange Verfahren haben, daß wir im Grunde genom- ordneten der F.D.P.) men nach sechs, sieben oder acht Jahren der Diskus- sion am Ende sind und plötzlich ein völlig neues Vizepräsident Hans Klein: Zu diesem Themenbe- technisches Moment hier hereinbringen. reich liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. München ist eben auf hochangereichertes Uran Dann kommen wir zu den Bereichen Wohnung, Bau, ausgerichtet. Wenn Sie die Konzeption ändern, dann Verkehr und Post. Ich erteile als erstem dem Kollegen sagen Ihnen alle Verantwortlichen, daß dann der Achim Großmann das Wort. zeitliche Vorsprung, den wir haben, und damit auch ein enormer Standortvorteil im Grunde genommen zu Achim Großmann (SPD): Herr Präsident! Meine Bruch gehen, weil wir nicht wissen, wann die neue Damen und Herren! Es ist nicht einfach, den Über- Konzeption mit schwachangereichertem Uran gang von den Themen Bildung, Forschung und — sollte sie überhaupt in dieser Weise umgesetzt Zukunft zum Wohnungsbau zu finden. Vielleicht werden können — eingeführt wird. kann man es so formulieren: Es gibt eine menschen- 284 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Achim Großmann würdige Zukunft für viele nur dann, wenn sie eine vier Jahre waren völlig vertane Zeit für den Woh- bezahlbare Wohnung finden. nungsbau. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: der PDS und der Abg. Hannelore Rönsch Leider wahr!) [Wiesbaden] [CDU/CSU]) Keines der drängenden Reformprojekte wurde ange- Die christlich-liberale Koalition hat in den letzten packt, die Zusammenarbeit der Bauministerin mit den Jahren einen erheblichen Reformstau verursacht. Ländern war katastrophal, und viele Organisationen Jeder kennt die Auswirkungen: Es fehlen 2 Millionen — ich denke nur an den Mieterbund — sind von dieser bezahlbare Wohnungen, die Mieten sind explodiert, Bauministerin systematisch vor den Kopf gestoßen die Baulandspekulation blüht, es gibt Obdachlosig- worden. keit, verheerende Obdachlosigkeit, sogar unter Kin Herr Kansy ist ja nicht unklug und hat schon die dern. ersten Signale ausgesendet, um das zu ändern, was in (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) den letzten vier Jahren abgelaufen ist. Herr Kansy, es Viele können die Miete nicht mehr bezahlen, weil ist klar: Sie wollen uns in Ihr Boot ziehen. Das können wir eine besonders schlimme paradoxe Situation Sie aber nur um den Preis einer wirklich guten und haben: Je geringer das Einkommen ist, desto größer ist deutlich besseren Wohnungspolitik zugunsten der der Anteil der Miete am Gesamteinkommen. vielen Menschen, die keine Wohnung haben. Im selbstgenutzten Wohneigentum hat die Bundes- (Beifall bei der SPD) republik die rote Laterne in Europa: Es gibt nirgendwo In Deutschland wurde das Ziel einer sozialorien- weniger selbstgenutztes Wohneigentum als bei uns in tierten Wohnungspolitik in den letzten Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Die Instrumente der weitgehend verfehlt. Zwar werden erfreulicher- Wohnungsbauförderung sind sozial ungerecht, woh- weise inzwischen wieder mehr neue Wohnungen nungspolitisch ineffizient und ökologisch blind. Die gebaut. Nach wie vor haben wir aber akuten zentralen wohnungspolitischen Fragen sind von der Wohnungsmangel und drückende Wohnungsnot. Koalition in den letzten Jahren entweder verpennt, Die Miet- und Wohnkostenbelastungen überfor- vertagt, zerredet oder in Kommissionen abgedrängt dern vielfach die finanziellen Möglichkeiten von worden. Haushalten, selbst bis in die mittleren Einkom- (Beifall bei der SPD) mensgruppen hinein. Die bestehende Woh- nungsnot und tendenzielle Unbezahlbarkeit des Anfang 1991, also vor rund vier Jahren, habe ich Wohnens führt zu sozialer Ausgrenzung und stellt Ihnen zu Beginn der vorigen Legislaturperiode in eines der größten Armutrisiken dar. einer ähnlichen Debatte folgendes gesagt; ich zitiere mich einmal selber, das ist ja ein schönes Ereignis. Das könnte sozialdemokratischer Originalton sein; es ist aber ein wörtliches Zitat aus dem Kirchenpapier, (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das das in dieser Woche veröffentlicht worden ist. Ich war schon damals nicht gut!) denke, es ist in bezug auf den Wohnungsmarkt eine — Hören Sie zu, Herr Kansy. Sie werden feststellen, verdammt zutreffende Analyse. daß ich fast prophetische Gaben gehabt habe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe damals gesagt: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS — Zuruf von der SPD: Leider wahr!) Dieses Fördersystem weist enorme Fehlentwick Sie haben den sozialen Wohnungsbau in den letz-- lungen in bezug auf Wirksamkeit, Stetigkeit, ten zwölf Jahren schwer vernachlässigt. Es gibt kaum Neubauorientierung, Übersichtlichkeit, soziale noch mietpreis- und belegungsgebundene Wohnun- Gerechtigkeit und ökologische Komponenten gen; es sind weniger als 10 % in Westdeutschland; es auf. Es bedarf in der kommenden Legislaturpe- werden jeden Tag weniger. Jedes Jahr nimmt das riode einer grundlegenden Überarbeitung und Defizit an Sozialwohnungen zu. Deshalb sage ich: Umorientierung. Steigende Wohnungsnot und Gehen Sie vorsichtig mit den wenigen Sozialwohnun- zunehmende Knappheit an öffentlichen Mitteln gen um! Versuchen Sie keine Reform im Bestand, die erzeugen einen Handlungsdruck, dem die Woh- sich im Neubau noch gar nicht bewährt hat! Der nungspolitik nicht wird ausweichen können. Der klassische soziale Wohnungsbau mit langen Bindun- Umbau des wohnungspolitischen Instrumentari- gen ist in einer bestimmten Größenordnung nach wie ums erfordert einen breiten Konsens zwischen vor völlig unverzichtbar. den Parteien, zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden und auch mit der Bau- und (Beifall bei der SPD) Wohnungswirtschaft und ihren Organisationen. Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau. Wir brau- Das war vor vier Jahren. Ich wiederhole dies, weil chen mehr bezahlbaren Wohnraum, nicht weniger. ich glaube, daß Sie, Herr Bauminister Töpfer, diese Wir brauchen einen sozialen Wohnungsbau, der die- Sätze besser verstehen als Ihre Vorgängerin sen Namen verdient, und keine Mogelpackungen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eines will ich in diesem Zusammenhang deutlich sagen: Der Bund darf sich in dieser Frage nicht länger Ich sage dies aber auch, um es auf den Punkt zu für nicht verantwortlich und nicht zuständig erklären bringen. In den letzten vier Jahren haben wir kaum oder sich gar zurücklehnen, wenn es um die Fragen ein wohnungspolitisches Problem gelöst; die letzten der Obdachlosigkeit und der zunehmenden Woh- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 285

Achim Großmann nungsnotfälle geht. Lassen Sie uns endlich ein Pro- völlig ineffizient ist und daß die Kinderkomponente gramm auflegen, das diese verheerende und zuneh- „Baukindergeld" diesen Namen gar nicht verdient. abbaut! mende Obdachlosigkeit und Wohnungsnot (Zuruf von der SPD: Das sagen alle Exper- Sonst werden wir große Schwierigkeiten bekommen, ten!) auch hinsichtlich des gesamten demokratischen Gefü- ges unseres Staates. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erklären. Zwei Familien, — nehmen wir an, beide haben zwei (Beifall bei der SPD) Kinder — bauen nebeneinander das gleiche Haus. Es Meine Damen und Herren, schauen wir uns die kostet das gleiche Geld. Der eine ist vielleicht Gebiets- wohlfeilen, wolkigen, teilweise schwammigen For- direktor einer Sparkasse und hat ein Einkommen von mulierungen der Koalitionsvereinbarung einmal 200 000 DM pro Jahr. Er bekommt mit dem § 10e, mit näher an. dem Baukindergeld und mit dem Schuldzinsenabzug, Vier Ziele sind dort formuliert. Zunächst, heißt es, der ja noch läuft, zur Zeit 115 000 DM Förderung vom sollen Rahmenbedingungen für eine Verstetigung Staat in acht Jahren. des Wohnungsbaus geschaffen werden. Die Worte (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieviel war hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. In den das?) letzten zwölf Jahren haben wir es geradezu mit einer Berg- und Talfahrt in der Wohnungspolitik zu tun — Im Moment 115 000 DM für acht Jahre. gehabt, von Stetigkeit keine Spur. Ständig wurde an (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Großverdie- den finanziellen Ressourcen für den Wohnungsbau ner!) herummanipuliert. In den 80er Jahren wurde sehr viel Geld aus dem sozialen Wohnungsbau herausgezogen. — Der Großverdiener in acht Jahren. Es wurden an den Instrumenten Manipulationen vor- Sein Nachbar, der das gleiche Haus mit den glei- genommen, ohne großen Hintersinn; es wurde keine chen Kosten baut, auch mit zwei Kindern, hat es leider durchgehende Reform durchgeführt. Sie haben jetzt nicht so weit gebracht. Er ist kleiner Angestellter, und wiederum beschlossen, daß die Mittel im sozialen seine Frau arbeitet noch mit, damit sie sich überhaupt Wohnungsbau in den nächsten Jahren um 30 das Häuschen leisten können. Sie verdienen 70 000 gekürzt werden sollen. Da sprechen Sie von Stetig- DM im Jahr. Sie bekommen für das gleiche Haus unter keit. Fast 5 Milliarden DM, so allein die Beschlüsse der diesen steuerlichen Voraussetzungen, die wir jetzt letzten Monate, wollen Sie dem Wohnungsbau in den haben, 60 000 DM Förderung, also nur etwa die nächsten Jahren entziehen. 700 Millionen DM weni- Hälfte. So ist das derzeitige System. ger stehen für den sozialen Wohnungsbau in den Ballungsgebieten zur Verfügung. Rund 1,5 Milliarden (Dr. Uwe Küster [SPD]: So kümmert sich die DM sind in den Kassen von Herrn Waigel gelandet, Regierung um die kleinen Leute! — Ing rid weil die Mittel für die Bestandsförderung beim Eigen- Matthäus-Maier [SPD]: Der Großverdiener tum halbiert wurden. Sie sind also nicht in den erhält fast das Doppelte!) Wohnungsbau zurückgeflossen, sondern zur Dek — Fast das Doppelte. kung von Löchern im Etat verwendet worden. 650 Mil- lionen DM hat Herr Waigel einkassiert, weil es eine Schauen wir uns einmal das Baukindergeld an. Eine steuerliche Begrenzung bei der Förderung von Familie mit fünf Kindern muß 95 000 DM im Jahr Modernisierung und Instandsetzung gibt. Das Förder- verdienen, um das Baukindergeld überhaupt in gebietsgesetz für Ostdeutschland läuft aus. Das macht Anspruch nehmen zu können. Das ist die derzeitige ungefähr 1 Milliarde DM. Die Regelungen zum Kinderkomponente. Das müssen wir ändern. - Schuldzinsenabzug beim selbstgenutzten Wohnei- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unglaublich! Das gentum laufen ebenfalls aus; das macht auch ungefähr kann doch wohl nicht wahr sein! — Weitere 1 Milliarde DM. Zurufe von der SPD) (Zuruf von der SPD: Alles sehr familien Die Ungerechtigkeiten gehen noch weiter. In Ost- freundlich!) deutschland ist es so, daß viele Menschen, weil der Das heißt, Sie nehmen dem Wohnungsbau, obwohl § 10 e, der Häuslebauer-Paragraph über die Steuer- Sie für Stetigkeit sorgen wollen, in den nächsten progression läuft, diese steuerliche Förderung gar Jahren Jahr für Jahr 5 Milliarden DM weg. Wie wollen nicht in Anspruch nehmen können, weil ihr Einkom- Sie da den Leuten draußen erklären, daß Sie für men nicht reicht. Bei der erzwungenen, teilweise Stetigkeit stehen? unter Druck aufgezwungenen Privatisierung sieht das so aus, daß der eine, der noch Arbeit hat, der noch im (Beifall bei der SPD und der PDS — Zuruf von Berufsleben steht, den § 10 e bei der Privatisierung in der SPD: Das muß der neue Minister Anspruch nehmen kann, sein Nachbar, der vielleicht ändern!) mit 55 Jahren frühverrentet worden ist, von dieser Zweites Ziel: Sie wollen die Wohneigentumsf örde- steuerlichen Förderung aber überhaupt nichts hat. rung insbesondere für Familien mit Kindern verstär- Das heißt, die Instrumente sind völlig unzulänglich, ken. Meine Damen und Herren, da muß man wirklich sie sind sozial völlig ungerecht. Deshalb müssen sie dreimal schlucken. Seit acht Jahren haben wir hier nicht nur auf den Prüfstand, sondern dringend, sofort ständig Gesetze und Anträge eingebracht, um dieses geändert werden. Das Signal ist da. Lassen Sie uns an Ziel zu erreichen. Sie haben sie alle abgeschmettert. die Arbeit gehen! Sie wissen sehr genau, daß die derzeitige Wohneigen- tumsförderung sozial ungerecht, wohnungspolitisch (Beifall bei der SPD und der PDS) 286 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Achim Großmann Das dritte Ziel, das Sie formulieren, heißt, kosten- Aber die Ergebnisse dieser Gutachten zeigen, daß sparendes Bauen zu fördern. wir auf diese Expertenkommission nicht hätten zu warten brauchen: zwei Experten, drei Meinungen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Frau Rönsch sagt: Die Expertenkommission Wohnungsbau schlägt vor, Sie haben recht!) man solle es doch bitte beim Schuldzinsenabzug für — Es ist ja schön, daß Sie zugeben, daß wir recht das selbstgenutzte Wohneigentum belassen. Die haben. Aber dann kommen Sie doch endlich mal über, Bareis-Kommission beim Finanzminister sieht das und machen Sie mit uns die notwendigen Gesetze anders. Herr Bareis sagt dazu in einem „Spiegel"- dazu! Interview: (Beifall bei der SPD) Wenn der Staat den Wohnungsbau fördern will, Das dritte Ziel, das Sie formulieren, heißt, kosten- soll er es offen, z. B. über Zulagen, machen, aber sparendes Bauen zu fördern. Auch da laufen Sie, nicht über Einkommensteuernachlässe. Das meine Damen und Herren, der Entwicklung hinterher. Teuflische an solchen staatlichen Lenkungsmaß- Genausogut könnten Sie beschließen, das Rad neu zu nahmen im Einkommensteuerrecht ist nämlich, erfinden. Es gibt landauf, landab Pilotprojekte und daß derjenige, der am wenigsten förderungsfähig gute Beispiele für kostensparendes Bauen. Und was ist, das meiste bekommt. Je höher das zu versteu- schreiben Sie in Ihre Koalitionsvereinbarungen? Man ernde Einkommen, desto größer der Effekt des wolle Pilotprojekte und eine offensive Öffentlichkeits- steuerlichen Abzugs. arbeit durchführen. Ärmlicher haben Sie es wohl Klar, das wissen wir. Das ist nicht neu. Das haben wir nicht? seit acht Jahren gesagt. Jetzt wird es endlich Zeit, daß wir an die Arbeit gehen. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Weiter lesen!) (Beifall bei der SPD) Schaffen Sie doch endlich einmal die Instrumente, die Auch Expertenkommissionen ersetzen also nicht wir brauchen, um das durchzusetzen! das politische Handeln. Das jahrelange Verschieben der Reform der Wohnungsbauförderinstrumente ist (Beifall bei der SPD) jedenfalls zum Schaden unseres Staats. Sie tragen dafür Verantwortung. Sie haben finanzielle Ressour- Wir wollen nicht länger darüber reden, daß es gut cen in großem Ausmaß verschwendet. wäre, kostengünstig zu bauen; wir wollen es umset- zen. Dazu brauchen wir Obergrenzen bei der Förde- Ich will das an einem Beispiel erklären, nämlich am rung im sozialen Wohnungsbau. Beispiel des frei-finanzierten Mietwohnungsbaus. Das heutige System ist völlig absurd und falsch. Was (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das passiert? Dieses System führt dazu, daß permanent zu steht aber drin!) teurer Wohnraum produziert wird. Das liegt an ver- schiedenen Faktoren. — Ja, das haben Sie alles bei uns abgeschrieben. Dazu brauchen wir steuerliche Förderungsmöglich- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Luxusfinanzierung!) keiten zur Durchsetzung von Typenhäusern auch Die Architekten bauen natürlich gerne teuer, weil beim Eigenheimbau. Es muß deutlich ein Marktseg- das zu höheren Gebühren über die HOAI führt. Sie ment für Häuser geschaffen werden, die sich ein sollen auch teuer bauen, weil der Investor sagt: Baut Normalverbraucher leisten kann. Dazu brauchen wir mal schön teuer, denn ich will das Haus ja verkaufen. auch veränderte Baulandstrategien, um die planlose Dann kriege ich eine höhere Provision. Zerfaserung von Mittelstädten und die damit verbun- - dene Zunahme des Individualverkehrs zu verhin- Sie können das auch verkaufen, weil der Käufer dern. natürlich daran interessiert ist, möglichst teuer zu kaufen, weil er dann möglichst viel beim Finanzamt Das vierte Ziel schließlich ist, so die Koalitionsver- abschreiben kann. Das Ganze ist ökologisch völlig einbarungen, die Effizienz und soziale Treffsicher- blind, denn ob jemand für eine Million DM drei heit der wohnungspolitischen Instrumente zu verbes- Mietwohnungen baut oder ein Penthouse — er kriegt sern. Auch da, meine Damen und Herren, hören wir dasselbe Geld vom Staat. Er hat dieselben steuerli- die Worte, allein uns fehlt der Glaube. Ich habe es chen Abschreibungsmöglichkeiten. Der Staat schaut eben schon angesprochen. Seit Jahren versuchen wir, nicht nach dem Flächenverbrauch. Er schaut nicht diese wohnungspolitischen Instrumente zu ändern, nach den ökologischen Rahmenbedingungen. Das sind aber immer an Ihrem Widerstand gescheitert. Sie System muß dringend geändert werden. haben die alleinige Verantwortung dafür, daß wir wiederum mehrere Jahre dadurch verloren haben, (Beifall bei der SPD — Anke Fuchs [Köln] daß die Bauministerin gleich mehrere Expertenkom- [SPD]: Das kann doch nicht sein! — Weiterer missionen beauftragt hat, das zu prüfen — übrigens Zuruf von der SPD: Staatlich finanzierter nicht nur sie alleine, auch der Finanzminister. Sicher- Luxus!) lich werden wir uns die Gutachten genau angucken. Meine Damen und Herren, es gibt etwas, das mir Einiges wird bedenkenswert sein. Anderes gehört wirklich sehr weh tut, wenn ich die Koalitionsverein- sicherlich wegen Wirklichkeitsfremdheit in den barung lese. Sie finden kaum Worte zu Ostdeutsch- Papierkorb. Schlimmer noch: Unser Auftrag, die öko- land. Völlig enttäuschend für uns — besonders aber nomischen Wirkungen der Wohnungsbauinstrumente für die Menschen in den neuen Bundesländern — ist — das ist das, was wir wirklich wissen wollten — zu Ihre völlige Sprachlosigkeit zum Altschuldenhilfe analysieren, ist nicht erfüllt worden. Gesetz. Kein Wort steht dazu in den Koalitionsverein- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 287

Achim Großmann barungen. Es gibt kein Wort zu dem dringenden menhang mit Ostdeutschland nur von einer Ministe- Korrekturbedarf dieses Gesetzes. rin, wenn doch der sogenannte Magdeburger Kom- Die SPD wird diese Sprachlosigkeit beenden. Wir promiß von allen ostdeutschen Ministerpräsidenten haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht, der quergeschrieben worden ist? Sie kennen dieses — kurz zusammengefaßt — erreichen will, daß die Papier, auf dem sechs Unterschriften stehen, nämlich progressive Erlösabführung, die auch ökonomisch die der ehemaligen Bundesbauministerin sowie die keinen Sinn macht, weil sie nur in die Preise geht, aller ostdeutschen Ministerpräsidenten. abgeschafft wird, daß die Wohnungsgenossenschaf- (Zurufe von der SPD: Fragen!) ten in Zukunft nur noch an ihre Genossenschaftsmit- Beschränken Sie sich deshalb bei dem, was glieder veräußern sollen, daß die Ausgründung von Ostdeutschland und die neuen Bundesländer betrifft, Genossenschaften aus kommunalen Wohnungsge- nicht auf Schuldzuweisungen, sondern versuchen Sie, sellschaften und aus großen Genossenschaften mög- einen neuen Anfang in der Verantwortung für beide lich ist und als Privatisierung anerkannt wird und daß Teile Deutschlands zu machen! man Härtefälle berücksichtigt, d. h., daß es bei bestimmten Härtefällen möglich sein muß, daß die 15- %-Hürde im Zusammenhang mit Zwangsprivati- sierung unterschritten werden darf. Das werden wir Achim Großmann (SPD): Ich akzeptiere dies als — da bin ich ziemlich sicher — durchsetzen, weil das Frage. Ich habe angedeutet, daß es in der Vergangen- nämlich in allen Koalitionsvereinbarungen — auch heit handwerkliche Mängel gab. Das wissen Sie auch. der Regierungen, die sich nach den Landtagswahlen Teilweise haben wir schwierige gesetzgeberische in den neuen Bundesländern gebildet haben — Vorhaben im Hauruckverfahren durchführen müssen. steht. Dies ging bis hin zum Wohngeldsondergesetz Ost (Beifall bei der SPD) kurz vor der Bundestagswahl. Völlig unzureichend ist auch der lapidare Hinweis (Zuruf von der SPD) auf den Übergang in das Vergleichsmietensystem im Dies waren Nacht-und-Nebel-Aktionen, obwohl wir Laufe des Jahres 1995. Es ist unverantwortlich, ohne frühzeitig Anträge eingebracht haben und dies hätten einen entsprechenden zeitlichen Vorlauf und ohne die früher regeln können. Ich gebe nur den Hinweis — ich dringend notwendige Einbeziehung der Mieterver- hoffe, er kommt an —, dies in Zukunft nicht mehr zu bände, der Wohnungswirtschaft und der betroffenen tun. Länder, Städte und Gemeinden sicherzustellen, also quasi im Hauruckverfahren über Nacht den Mieterin- Gerade beim Übergang zum Vergleichsmietensy- nen und Mietern ein System über den Kopf zu stülpen, stem ist es besonders schwierig und notwendig, die- sen Prozeß mit den betroffenen Bürgerinnen und das zu gravierenden Konsequenzen führen kann. Bürgern gemeinsam durchzuführen, sie zu informie- Seit Monaten fordern wir die Bundesregierung auf, ren und eine soziale Begrenzung zu erreichen, so daß endlich ein konkretes Konzept auf den Tisch zu legen, es zu keiner Mietenexplosion kommt. Darum geht es damit wir in aller Öffentlichkeit und auch in aller Ruhe mir. über diesen wichtigen Schritt reden können. Hier geht (Beifall bei der SPD) es darum, daß wir im Dialog Ängste abbauen und Vertrauen aufbauen. Auch bei der Förderung des selbstgenutzten Wohn- eigentums und des frei finanzierten Mietwohnungs- Meine Damen und Herren, wir dürfen uns die baus in den neuen Bundesländern müssen wir neue handwerklichen Fehler, die in der Vergangenheit kreative Lösungen finden. Das Fördergebietsgesetz unter der Federführung einer Bauministerin passiert läuft aus, aber die Anstrengungen bei der Instandset- sind, nicht länger leisten. Wir müssen diese schwer- zung und Modernisierung sind noch nicht abgeschlos- wiegenden Eingriffe in das Leben vieler Mieterinnen sen. und Mieter in Ostdeutschland besser vorbereiten. Wir müssen mit ihnen darüber diskutieren. Wir müssen Meine Damen und Herren, zu drei aus meiner Sicht Vertrauen dafür schaffen, daß diese Maßnahme sozial sehr wichtigen Teilen fehlt in der Koalitionsvereinba- und gerecht abgefedert durchgeführt werden kann. rung jedes Wort. Es gibt keinen Satz zum Baugesetz- buch. Wir müssen das Baugesetzbuch aber novellie- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ren. Es gibt keinen Satz zur Städtebauförderung West Der Mieterbund hält dagegen!) und schließlich keinen Hinweis auf die Notwendigkeit Das versäumen Sie, wenn Sie nach wie vor mit einer stärkeren ökologischen Ausrichtung der Woh- konkreten Vorschlägen hinterm Berg halten. nungsbauförderung. (Beifall bei der SPD) Sie wissen, daß wir neben dem Baugesetzbuch ein Maßnahmengesetz haben. Es gibt befristete Maßnah- men, die 1997 auslaufen. Auch das Baugesetzbuch Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Großmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kansy? selbst enthält befristete Maßnahmen. Wir müssen also — Bitte, Herr Kollege Kansy. das Baugesetzbuch novellieren. Dies ist eine ganz wichtige Aufgabe. Wir müssen dies übersichtlich gestalten. Es geht nicht nur darum, sich zu überlegen,

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Herr Kollege wie es mit dem städtebaulichen Vertrag oder mit dem Großmann, bei den entsprechenden politischen Kon- Vorhaben- und Erschließungsplan weitergeht. Es stellationen in diesem Land zwingt uns die gemein- geht auch um eine Regelung betreffend Schichten- same Verantwortung von Bund und Ländern zur baupläne. Es geht vor allen Dingen darum — das Zusammenarbeit. Warum sprechen Sie im Zusam- werden wir als SPD auch in das Gesetz einbringen —, 288 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Achim Großmann den Städten endlich wirkungsvolle Instrumente zur Die Städtebauförderung in Westdeutschland muß Baulandmobilisierung an die Hand zu geben. finanziell deutlich besser ausgestattet werden. Die Kriterien für die Bewilligung der Städtebaumittel Der gesamte Bereich der flankierenden steuerli- müssen überarbeitet werden. chen Maßnahmen zur Baulandmobilisierung ist nicht geregelt, weil Sie in den letzten vier Jahren gekniffen Bei der Baulandausweisung müssen wir den haben, als es um diese Fragen ging. Die Städte und Städten und Gemeinden bessere Instrumente an die Gemeinden brauchen das zonierte gemeindliche Sat- Hand geben. zungsrecht für baureife Grundstücke. Die Gemeinden Schließlich müssen wir den neuen ökologischen brauchen ein preislimitiertes Vorkaufsrecht; sonst Rahmenbedingungen, die beim Wohnungs- und können sie die Baulandfrage nicht klären. Dazu gibt Städtebau notwendig sind, einen deutlich größeren es kein Wort. Stellenwert geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ob die bisher in der Wohnungspolitik so zerstrittene Koalition mit ihren äußerst schmalen Mehrheiten zu Es gibt auch kein Wort zur Städtebauförderung einer derartigen Gewaltanstrengung in der Lage ist, West. Sie wissen alle, daß sich viele Städte und bleibt abzuwarten. Wir Sozialdemokraten jedenfalls Gemeinden im strukturellen Wandel befinden. Die kämpfen darum, daß die Menschen in unserem Land Städtebauförderung Ost ist geregelt. Die Städtebau- wieder bezahlbaren Wohnraum finden, daß sie sagen förderung West ist nicht geregelt. Es gibt dafür lapi- können: Wir können uns eine Wohnung leisten, die dare 80 Millionen DM. Dies reicht bei weitem nicht unseren Einkommensverhältnissen entspricht. aus, aber das wissen Sie. Wenn in einer Stadt die im Vielen Dank. Zentrum liegende Zeche geschlossen wird oder wir militärische Konversion betreiben müssen, d. h. in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Städten Kasernen- und Übungsgelände umwidmen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der städtebaulich erschließen wollen, brauchen wir PDS) Städtebaufördermittel für Westdeutschland. Dazu gibt es kein Wort in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Ich Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Hannelore halte dies für verheerend, denn dabei geht es auch um Rönsch, Sie haben das Wort. sehr viele Arbeitsplätze. 1 DM staatlicher Fördermittel zieht bis zu 7 DM privates Kapital nach sich. Zudem gibt es neue Arbeitsplätze. Ich würde mich daher Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr freuen, von Ihnen etwas dazu zu hören. Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Familienministerin hat gestern eine bemer- Bemerkenswert ist, daß Sie einige Vorschläge der kenswerte Rede zu einer zukunftsorientierten Famili- SPD aufgegriffen haben: Reform des § 10e EStG, enpolitik gehalten. Verbesserung der Förderung des genossenschaftli- chen Wohneigentums. Endlich ist auch die Novellie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rung des Wohngeldgesetzes angekündigt. ordneten der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Vorgelesen!) Ich kann Ihnen nur sagen: Mit den mageren Wort- Ich bin sehr dankbar, daß auch die Wohnungspolitik in hülsen aus der Koalitionsvereinbarung allein werden Ihrer Rede, Frau Nolte, einen zentralen Punkt einge- Sie die vielfältigen Probleme nicht lösen können. nommen hat. Familie muß lebbar sein, und wir brau- Mein Vorschlag: Legen Sie dieses Papier schnell zur chen bezahlbaren, kindgerechten Wohnraum und Seite, und machen Sie sich mit uns gemeinsam an die auch ein entsprechendes Wohnumfeld. Dies haben Arbeit! Die SPD wird im Bundestag und im Bundesrat wir in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich für ihre Positionen kämpfen, weil wir die besseren gemacht und auch die Politik entsprechend eingerich- Lösungen haben. Wir stehen für gute Lösungen, wir tet. stehen für gute Kompromisse. Wir stehen nicht für faule Kompromisse und nicht für Mogelpackungen. (Zuruf von der SPD: Aber herausgekommen ist nichts!) (Beifall bei der SPD) Ich freue mich, lieber Herr Großmann, daß wir auch in Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Der Zukunft wieder in der Wohnungspolitik die Klingen soziale Wohnungsbau — über Reformen lassen wir mit kreuzen können. Gleichzeitig denke ich, daß wir aber uns reden — ist kein Auslaufmodell; im Gegenteil: Er trotzdem das eine oder andere gemeinsam in aller ist weiterhin eine der tragenden Säulen des Woh- Vernunft regeln werden. nungsbaus. Es erstaunt mich dann allerdings doch, wenn Sie Wir brauchen eine sozial gerechte, wohnungspoli- jetzt sagen, daß der soziale Wohnungsbau in den tisch effiziente und kinderfreundliche Regelung zur letzten zwölf Jahren vernachlässigt wurde. Wenn ich Schaffung von mehr Wohneigentum. Wir brauchen mich richtig erinnere, waren wir mindestens vier eine Änderung der steuerlichen Förderung beim frei Jahre gemeinsam im Ausschuß für Raumordnung, finanzierten Mietwohnungsbau. Wir brauchen dort Bauwesen und Städtebau. In der Zeit davor dürfte mehr Effizienz und Treffsicherheit. Ihnen auch nicht verborgen geblieben sein, daß es Ihre Fraktion war, die immer wieder gefordert hat, Wir brauchen eine intensive Beschäftigung mit den man möge doch das Bauministerium und den Baumi- Problemen der neuen Bundesländer. Dazu gehört der nister abschaffen. Das war etwa 1985/1986. Wille, nachzuarbeiten und Gesetze zu novellieren. (Otto Reschke [SPD]: Ablösen, nicht abschaf- Wir brauchen ein neues Wohngeldrecht. fen!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 289

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) — Herr Reschke, Sie waren doch unter denen, die das Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, es gibt ein gefordert haben. weiteres Fragebegehren. (Otto Reschke [SPD]: Wir hatten die „Schwaetzerei" satt!) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Aber gern. — Nein, Sie haben „abschaffen" gefordert. Dann kam der Skandal um die „Neue Heimat", und Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE da hatte die Wohnungspolitik eine neue große und GRÜNEN): Frau Rönsch, wissen Sie, wie viele von schlimme Aktualität für die Mieter in unserem diesen neu fertiggestellten Wohnungen leer stehen, Lande. weil sie unbezahlbare Mieten haben? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir mußten die Mieter vor einem gewerkschaftseige- bei der SPD und der PDS) nen Unternehmen schützen. Wissen Sie, wie hoch die Mieten dieser neu fertigge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — stellten Wohnungen sind und wie viele Menschen in Zuruf von der SPD: Fällt Ihnen nichts Neues diesem Land diese Wohnungen überhaupt anmieten mehr ein?) können? Diesen Mieterschutz werden wir auch in der Zukunft Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Sie weiter ausbauen. kennen sicher das Wohngeldgesetz, das Instrument (Zurufe von der SPD) des Wohngeldes, das für Mieter greift. — Herr Reschke, Sie waren doch dabei. (Lachen bei der SPD und der PDS — Zuruf (Abg. Otto Reschke [SPD] meldet sich zu von der SPD: Das ist begrenzt, das wissen Sie einer Zwischenfrage) doch!) Ich komme aus dem Rhein-Main-Ballungszentrum und muß erleben, daß Wohnungen leer stehen, daß sie Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten von Mietern im sozialen Wohnungsbau nicht ange- Sie? nommen werden, weil z. B. eine Straße vorbeiführt, (Zuruf von der SPD: Das ist doch Blödsinn!) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Aber Wohnungen, in denen bis vor einem Jahr z. B. Ame- gern. rikaner gewohnt haben. Ich denke, daß man sich bei Knappheit auf dem Wohnungsmarkt auch hier einmal umschauen muß. Otto Reschke (SPD): Frau Rönsch, welcher Schutz der Mieterinnen und Mieter war es denn, als zum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 1. Januar 1990 die Gemeinnützigkeit aufgehoben Wir werden weiterhin die Fertigstellungszahlen worden ist? erhöhen und damit die Angebote für die Mieter auf dem Wohnungsmarkt ausweiten. Denn das Beste für eine Familie ist, daß sie zwischen mehreren Angebo- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Wir ten auswählen kann. haben Mieter immer geschützt, und wir werden es Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß es in Ballungs- auch in Zukunft tun. zentren absolute Probleme gibt. Aber wo liegen die? (Lachen bei der SPD — Dr. Uwe Küster (SPD): Hier weisen Kommunen, meistens sozialdemokratisch - Das ist doch nicht wahr! Abbau der Mieter geführt, große Gewerbeflächen aus. Aber wenn es um rechte gerade in den letzten vier Jahren!) das Wohnbauland geht, versagen die Städte und Wir haben von 1991 bis heute 1,7 Millionen Wohnun- Gemeinden. Das Bauland wird nicht entsprechend gen fertiggestellt. ausgewiesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der beste Schutz für Mieter ist ein entsprechendes Hier müssen wir nacharbeiten und die Kommunen in Angebot auf dem Wohnungsmarkt. Dies werden wir die Pflicht nehmen. auch in der Zukunft tun. Momentan wird jede Minute eine Wohnung fertiggestellt. Ende 1994 werden wir Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Rönsch, die 550 000 Wohnungen fertiggestellt haben. Kollegin möchte eine weitere Frage stellen. (Zuruf von der SPD: Da kann doch keiner Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Wir einziehen!) haben vier Jahre Zeit, Frau Kollegin. Ich nehme an, Wir werden im nächsten Jahr mit Sicherheit ein noch Sie kommen in den Raumordnungsausschuß. Wir größeres Angebot der neuen Wohnungen erreichen, können uns dort gerne über diese Thematik unterhal- weil in den neuen Bundesländern die Zahl der Fertig- ten. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie in der stellungen noch einmal deutlich zunimmt. Wohnungspolitik zugunsten der Familien konstruktiv (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Die stehen mitarbeiten würden. leer!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß wir die Woh- nungsbaufördermittel 1994 und auch 1995 reduzie- Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Dr. Weng ren. wollte auch eine Frage stellen. 290 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Kol- In meinem Bundesland, Hessen, meistens Spitzen- legin Rönsch, Sie hatten sie fast schon beantwortet. Ich reiter, wenn es um Negatives in der Politik geht, hier wollte Sie fragen, ob Sie mir in der Auffassung nur an zweiter Stelle, werden die Mittel um 38 % zustimmen, daß die beklagten hohen Mietpreise ganz gekürzt. Ich muß Ihnen sagen, daß ich es deshalb wesentlich von den hohen Grundstückspreisen schon ein bißchen merkwürdig gefunden habe, als Sie abhängen und diese hohen Grundstückspreise in heute morgen hier mit relativ viel Radau den Woh- vielen Bereichen der Kommunen daran hängen, daß nungsbau fördern wollten. Tun Sie dort etwas, wo Sie wegen grüner Blockade nicht in notwendigem die Möglichkeiten haben! Umfang Bauland ausgewiesen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der F.D.P. — Zurufe von der Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nordrhein- CDU/CSU: So ist es! — Widerspruch von der Westfalen gibt mehr aus als der ganze SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bund!) — Nordrhein-Westfalen ist natürlich ein größeres Flächenland. Aber, Frau Matthäus-Maier, wir werden uns dann doch einmal darüber unterhalten — — Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Dr. Weng, ich kann Ihnen nur voll beipflichten. Auch (Anhaltende Zurufe von der SPD) hier müssen wir in der Gesetzgebung Änderungen vornehmen, damit endlich diese Blockadepolitik auf- Einen Moment, Frau hört, die auf dem Rücken der Mieter ausgetragen Vizepräsident Hans Klein: Kollegin! — Es gibt Situationen, in denen ich mir wird. wirklich wünsche, daß es nicht nur eine Bonner Wie ist denn die Wohnungspolitik in den Ballungs- Redner-, sondern auch eine Bonner Zuhörerschule zentren? Dort gibt es immer mehr junge Singles, die in gäbe. zukunftsorientierten Berufen arbeiten, z. B. im Rhein- (Heiterkeit) Main-Zentrum, und die natürlich die hohen Woh- Es muß doch möglich sein, daß die Rednerin zumin- nungsmieten bezahlen können. Sie nehmen eine dest verstanden wird. Zurufe sind in Ordnung, aber Altbauwohnung, eine traditionelle Wohnung für eine Chöre von Zurufen sind nicht in Ordnung. Familie, sanieren diese und haben 100 m 2 oder 120m2 Wohnfläche. Dadurch wird eine Familie verdrängt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Otto Reschke [SPD]: Wer bezahlt denn die Modernisierungskosten?) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Präsident, ich bin Ihnen für diese Unterstützung Deshalb müssen wir mit den Gewerbeflächen auch herzlich dankbar. Ich verstehe es schon, daß es die das entsprechende Wohnbauland ausweisen. Sozialdemokraten tief im Innern trifft, (Otto Reschke [SPD]: Sie haben ja so recht, (Lachen bei der SPD) aber Ihre Schlußfolgerungen sind falsch!) wenn sie Sozialpolitik einfordern und nachgewiesen Denn das Problem ist, daß sich die Kommunen aus der bekommen, daß ihre eigenen Ministerpräsidenten Verpflichtung herausgenommen haben. Kommunen diese von uns, vom Bund, eingeforderte Sozialpolitik sind für die Baulandausweisung zuständig. Aber, nicht erbringen. meine Damen und Herren von der SPD, Sie tun so, als wäre nur der Bund für die finanzielle Förderung des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sozialen Wohnungsbaus verantwortlich. Das sind aber Machen Sie Ihre Hausaufgaben, dann dürfen Sie auch in erster Linie die Bundesländer. Was passiert denn hier wieder laut sein. da? Wir wollen den Wunsch von Familien, besonders (Zuruf von der SPD: Das tun sie auch!) mit kleinen Kindern, auf Eigentum unterstützen. Daß - „Das tun sie auch". Na, das ist ja fantastisch. Da dieser Wunsch sehr zentral vorhanden ist, merkt man, hätten Sie gestern einmal Ihren Ministerpräsidenten weil die Zahl der Bausparverträge jährlich ansteigt. aus Niedersachsen fragen sollen. Er hat die Mittel für Das Ziel der Familien ist ein eigenes Heim, und sie die Wohnungsbauförderung in seinem Bundesland sollen ihren Bausparvertrag auch umsetzen können. um 50 % reduziert. Es ist ein Skandal, was hier Ich denke, daß wir eine besondere Verpflichtung passiert. haben, den Eigentumsgedanken dieser Familien (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — finanziell umzusetzen. Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört! Das ist (Otto Reschke [SPD]: Den Gedanken oder soziale Politik!) das Geld?) Deshalb möchte ich Sie an dieser Stelle doch wirklich Wir müssen ihnen frühzeitig helfen. Wir werden sie bitten, daß Sie diejenigen in die Verantwortung neh- auch finanziell, steuerlich unterstützen müssen. Wir men und daß Sie diejenigen heranziehen, die tatsäch- haben hierzu einige Grundsätze in der Wohnungspo- lich einen Stau im sozialen Wohnungsbau verursa- litik formuliert, Herr Reschke, die ich Ihnen vortragen chen. werde. Wenn Sie die Koalitionsvereinbarung gelesen haben, wird Ihnen jetzt auch vieles bekannt vorkom- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr! — men. Ich muß sagen: In dem, was Herr Großmann hier Dieter Heistermann [SPD] meldet sich zu vorgetragen hat, findet sich vieles, was auch in der Wort) Koalitionsvereinbarung steht. Ich denke, wenn wir — Keine weiteren Zwischenfragen mehr! Familien tatsächlich zu mehr Eigentum und zu mehr Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 291

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) Wohnraum verhelfen wollen, dann sollten wir in der Das, so meine ich, müssen auch wir in Zukunft Zukunft an dieser Stelle versuchen, noch mehr wesentlich stärker betreiben. Gemeinsamkeit zu entwickeln. Wir müssen viertens das Mietrecht durchsichtiger Der erste unserer Grundsätze in der sozialen Woh- gestalten. Bezüglich der Rahmenbedingungen für den nungspolitik für die nächsten Jahre ist das Festhalten Wohnungsbau wünsche ich mir ein verständlicheres, am sozialen Wohnungsbau. Es ist mit Sicherheit eine klareres Mietrecht als bisher. Eine Vereinfachung grundlegende Reform zwingend erforderlich. Aber sollte den Mietern und Vermietern auch mehr Gewiß- die bisher auf den Weg gebrachten Maßnahmen der heit hinsichtlich ihrer eigenen rechtlichen Position individuellen Förderung müssen auch auf den sozia- verschaffen. Eine weitere Belastung der Rechtstellung len Wohnungsbestand übertragen werden. der Vermieter werden wir in der Koalition mit Sicher- Ich denke, daß es insbesondere auch eines Aus- heit nicht zulassen, denn mittlerweile haben wir alle rechtlichen Möglichkeiten des stiegs aus dem ersten Förderweg der Kostenmietbin- Mieterrechtsschutzes dung bedarf. Wir, Bund und Länder, werden in ausgeschöpft. Zukunft relativ wenig Spielraum bei der weiteren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Förderung des sozialen Wohnungsbaus haben. Sie Gleichzeitig, meine Damen und Herren von der sind herzlich eingeladen, mit uns eine einvernehmli- F.D.P., werden wir uns aber auch allen Versuchen che Lösung zu finden. widersetzen, den Mieterrechtsschutz an irgendeiner Ein zweiter Grundsatz ist die Reform der Stelle abzubauen. Wohnungseigentumsförderung. Der geltende Zu- (Zustimmung bei der CDU/CSU) stand der Wohnungseigentumsförderung ist mit Sicherheit — das geht uns allen so — nur noch für In den neuen Bundesländern soll bis spätestens Steuerexperten durchschaubar. Im Rahmen dieser Ende 1995 der Übergang ins Vergleichsmietensystem Reform sollten wir eine Vereinfachung des Steuer- erreicht werden. Dies haben Bund und Länder einver- rechts und eine Konzentration auf Familien mit Kin nehmlich 1992 beschlossen. Eine Übernahme des Mietenniveaus aus den alten Bundesländern wird -dern vornehmen. dadurch ausgeschlossen, daß wir in diesem Rahmen Zur Frage der steuerlichen Neuregelung sind schon zugleich die dringend erforderliche Reform des Vorschläge gemacht worden. Aber auch hier müssen Wohngeldrechts durchsetzen. Ich hoffe, daß wir an wir in der Zukunft noch intensiv erörtern. Es muß dieser Stelle ohne eine Übergangsregelung auskom- erreicht werden, daß auch einkommensschwache men werden. Die Einführung der Subjektförderung Familien mit größerer Kinderzahl steuerliche Woh- erfordert dann aber auch die regelmäßige Anpassung nungsbauförderung nutzen können. Ich lege ganz des Wohngeldes an die Miet- und Einkommensent- besonderen Wert auf den Selbsthilfegedanken: wicklung. Dazu ist unbedingt eine weitere Wohngeld- Gerade auch Familienväter und Familienmütter mit novelle erforderlich. Kindern müssen eine Eigentumsmaßnahme in Selbst- hilfe ausbauen können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Post und Telekommunikation ist ein weiteres Gebiet, auf dem (Dieter Heistermann [SPD]: Das geht doch zukunftsorientiert gearbeitet werden muß und wo heute schon, Frau Kollegin! Das ist doch bereits zukunftsorientierte Politik geleistet wurde. nichts Neues!) Gerade die Liberalisierung auf dem Kommunikations- Wir müssen drittens günstiges Bauen ermöglichen. markt ist dabei von vorrangiger Bedeutung. Wir Wir wollen dazu beitragen, daß die Wohnungsbauko- unterstützen alle Maßnahmen, die einen schrittwei- sten nicht weiter steigen. Ich habe diesen Gedanken, sen Abbau der Monopole und damit ein Stück mehr Herr Großmann, auch bei Ihnen gehört. Nun ist dieser Marktwirtschaft verwirklichen. Gedanke ja nicht neu. Wir haben schon in der Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gangenheit über kosten- und flächensparendes Bauen gesprochen. Ich glaube nur, wir müssen hier noch Die privaten Kommunikationsunternehmen im Aus- konkreter werden. Mit einer Kostensenkungs- und land stehen bereits vor der Tür. Sie wollen unseren Wohnungsbaulandinitiative wollen wir die Baukosten Monopolisten natürlich Marktanteile abnehmen, und weiter reduzieren. sie bieten ihre eigenen Dienstleistungen an. (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Sehr gut!) Wenn es nach Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, ginge, dann würde diese Darüber hinaus soll bei allen am Bau Beteiligten ein Liberalisierung sehr, sehr langsam voranschreiten. größeres Kostenbewußtsein geweckt werden. Das hätte natürlich den großen Nachteil, daß bei uns Angesichts der Situation in den Nachbarstaaten Arbeitsplätze abgebaut und diese Arbeitsplätze dann kann ich nicht einsehen, warum in der Bundesrepu- unmittelbar in den europäischen Nachbarländern blik Deutschland am teuersten gebaut werden muß. angesiedelt würden. Ich denke, wir müssen unsere Man braucht nur über die Grenze nach Holland zu Wirtschaft und damit unsere Arbeitsplätze sichern. gehen. Schon nach fünf Metern sieht man, wie, zum Wir müssen hier unterstützend tätig werden. Unsere Teil auch in Selbsthilfe, hervorragende Einfamilien- Wirtschaft ist gerade in diesem Bereich bereit, Milli- häuser gebaut werden, und zwar ökologisch verträg- ardenbeträge in die Telekommunikation zu investie- lich, kosten- und flächensparend. Familien haben dort ren. Wir sollten ihr dazu eine Chance geben. hervorragenden Wohnraum. Wichtigstes Ziel ist, die Postreform II konsequent (Beifall der Abg. Dr. Renate Hellwig [CDU/ umzusetzen und die Privatisierung politisch zu beglei- CSU]) ten. Ich glaube, daß wir eine sehr große politische 292 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) Verantwortung für die Unternehmen, aber vor allem Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Rede- auch für die Beschäftigten und deren Familien tragen, zeit ist abgelaufen. da der Bund auch nach der Umwandlung der Postun- (Zuruf von der SPD: Die Vorlesestunde!) ternehmen in Aktiengesellschaften zunächst alleini- ger Eigentümer der Unternehmen ist. Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Die gesetzgeberisch wichtigste Aufgabe wird es Präsident! Ich habe es gerade gesehen. sein, so schnell wie möglich den Rahmen für eine Ich hätte diesen Arbeitsbereich noch gerne ange- berechenbare und faire Liberalisierung und Deregu- sprochen. Aber unser Kollege Wissmann wird sich lierung zu schaffen. Das heißt konkret, daß mittels sehr umfassend diesem Thema am Rednerpult und Regulierung ein schrittweiser Übergang in einen noch umfassender in der praktischen Arbeit widmen. wettbewerbsorientierten Markt gesichert wird. Ich bin ganz sicher, er wird auch in der Zukunft eine Eine der hierfür wichtigsten Voraussetzungen menschen- und ökologiegerechte Verkehrspolitik konnte auf EU-Ebene dank des Engagements unseres gestalten. Postministers, Wolfgang Bötsch, bereits erzielt wer- Auch an dieser Stelle sind Sie herzlich eingeladen, den. mitzumachen, sich an der Zukunftsgestaltung zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beteiligen und sich nicht wie in der Vergangenheit in der Opposition zu verweigern. Erfolge müssen auch namentlich genannt werden dürfen, lieber Herr Kollege Bötsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: 1998!) Unter seinem Vorsitz einigten sich die zuständigen Minister in der vergangenen Woche darauf, zum 1. Januar 1998 die Telekommunikationsnetze in der Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- Europäischen Union dem Wettbewerb zu öffnen. ordnete Franziska Eichstädt - Bohlig. Damit fällt neben dem Sprachendienstmonopol zeit- gleich auch das Netzmonopol. Franziska Eichstädt - Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- Arbeitsplätze müssen vor allem in zukunftsorien- ren! Herr Töpfer, ich hätte gern erst einmal ein wenig tierten Wirtschaftssektoren geschaffen werden. von Ihnen, unserem neuen Bauminister, gehört, ob Sie Hierzu zählen der Telekommunkationsbereich und dem dürftigen Koalitionsprogramm überhaupt irgend Multimedia ganz eindeutig. Das erfordert Mut zu etwas hinzufügen können oder ob Sie mit dem zufrie- Entscheidungen, durch die sich auch die Strukturen den sind, was da ausgehandelt worden ist. verändern werden. Ich muß mich vielen Sätzen der SPD anschließen, Wir werden den Mut wie in der Vergangenheit auch auch wenn ich es nur mit kurzen Worten mache. Ich in der Zukunft beweisen. Ich danke dem Herrn glaube, das Schlimmste ist wirklich, daß die Woh- Postminister dafür, daß er diesen Mut tatsächlich nungspolitik in den vergangenen zwölf Jahren zum bewiesen hat. Abfallprodukt der Vermögenspolitik geworden ist. Eine weitere zentrale Aufgabe, meine sehr geehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Damen und Herren, wird in Zukunft die Verkehrs- sowie bei Abgeordneten der SPD und der politik sein; denn wir brauchen in den nächsten PDS) Jahren eine bedarfs- und umweltgerechte Verkehrs- Das zweite Problem ist, daß das offenbar so weiter- politik, um den Verkehrszuwächsen insbesondere im gehen soll, jedenfalls in weiten Teilen, obwohl die Transitverkehr in Deutschland gerecht zu werden. Mahnungen in Sachen indirekter Förderung gar nicht Denn im Transitverkehr durch Deutschland wird sich mehr zu überhören sind. der Güterverkehr in den nächsten Jahren voraussicht- Als erstes möchte ich jedoch auf einen anderen lich verdoppeln, beim Personenverkehr sogar verdrei- Punkt zu sprechen kommen, der mir am wichtigsten fachen. ist: die Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Ich halte es Wir wissen, daß die derzeitige Verkehrsinfrastruk- für einen absoluten Skandal, daß wir uns als Parla- tur vor allem in den neuen Bundesländern den heuti- mentarier hier in solch einem Prachtgebäude treffen, gen und auch den künftigen Anforderungen nicht daß wir einen Fahrdienst und Parlamentarischen gewachsen ist. Der ökologische Aus- und Neubau der Dienst und sonstige Annehmlichkeiten zur Verfügung Straßen, der Schienenwege und der Binnenwasser- haben, daß ich aber, wenn ich morgens am Bonner straßen ist daher konsequent fortzusetzen. Um auch Bahnhof in die U-Bahn steige, erst einmal über zehn künftigen Generationen die Mobilität zu sichern, sind Obdachlose steigen muß. Ich halte das für einen umweltgerechte Verkehrsträger und eine zukunftsge- unzumutbaren Zustand in dieser Stadt und in diesem rechte Verkehrsinfrastruktur für den Schutz der Land. Das darf so nicht weitergehen. Umwelt und der Menschen von besonderer Bedeu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Im Vordergrund steht dabei eine deutliche Senkung PDS) des durchschnittlichen Benzinverbrauchs Darum wird unsere Fraktion als allererstes einen Antrag zu einer Gemeinschaftsinitiative einbringen, (Zuruf von der SPD: Sie sind eine Runde in die der Bund 350 Millionen DM einbringt, damit weiter!) Bund, Länder und Kommunen gemeinsam in diesem der in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge um mehr Winter etwas gegen Obdachlosigkeit unternehmen als ein Drittel bis zum Jahre 2005. sowie Kältehilfe und menschenwürdige Unterbrin- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 293

Franziska Eichstädt-Bohlig gung organisieren, um diesen Zustand zu beenden. rückgewiesen. Diese Reform ist mehr als überfällig. Erst dann können wir über Wohnungspolitik reden. Aber das, was Sie in der Koalitionsvereinbarung als kleines Reförmchen ankündigen, ist von nicht zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überbietender Ziel- und Kraftlosigkeit. und bei der PDS) Mein zweiter Punkt: Mieteninflation. Die Regie- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- rung will die Vorschläge der millionenschweren SES 90/DIE GRÜNEN) Expertenkommission Wohnungspolitik prüfen. Das Jede Aussage über die Zahl, wieviel eigentlich kann eigentlich nichts anderes heißen, als daß wir mit gefördert werden soll, fehlt. Jede Aussage über die einem weiteren Marktfanatismus im Wohnungssektor Zielgruppe der Wohnungsbauförderung fehlt. Meine rechnen müssen. Sorge ist: Sie werden wieder nur auf vereinbarte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Förderung für besserverdienende Schichten schielen, sowie bei Abgeordneten der SPD) statt auf die Förderung für die Schichten, die es wirklich nötig haben: die Haushalte mit niedrigen und Die Mieteninflation und die Erpressung der Woh- mittleren Einkommen. nungssuchenden werden weitergehen. Auch die Absurdität, daß der, der in eine kleine Wohnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziehen will, mehr Miete zahlen muß, als er für die sowie bei Abgeordneten der SPD und der große bezahlt, in der er jetzt wohnt, wird weitergehen. PDS) All das ist widersinnig in einer Zeit, wo Sie jeden Ruf Was soll denn überhaupt die Einführung einer ein- nach Lohnerhöhungen für fast unanständig betrach- kommensabhängigen Miete für Sozialwohnungen, ten. Darum sagen wir: Folgen Sie unserem Rat! die es praktisch gar nicht mehr gibt? Führen Sie ein inflationshemmendes Mietrecht ein Ihre Forderung nach Kostensenkung ist ein uralter mit stabilem Mietspiegel, mit Kappungsgrenzen von Hut; denn das wird seit fast 40 Jahren vom Zweiten höchstens 5 % Mieterhöhung — ich sage Ihnen: in Wohnungsbaugesetz gefordert. Es ist beschämend, Berlin ist das heute noch immer möglich, leider nur daß die bisherige Wohnungsbauförderung diese noch bis heute — und endlich auch mit Bindung der Regel nicht einhält. Machen Sie also daraus keine Neuvermietung an den Mietspiegel. All das ist mach- neue Politik, sondern halten Sie wenigstens die bar. Sie müßten nur endlich den Mut dazu haben. Kein Regeln ein, die es gibt! Eigentümer ist bisher daran kaputtgegangen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Besonders schlimm aber ist — ich bin der Meinung, Zum dritten Punkt — der hier schon mehrfach daß auch die SPD darüber endlich neu nachdenken angesprochen worden ist —: Vergleichsmiete Ost. sollte —: Diese Regierung hat vor, dem Osten über- Weil die Mieteninflation im Westen so erfolgreich haupt keine Sozialwohnungen zu geben; denn dort läuft, sollen nun endlich auch die Mieter im Osten sollen auch die knapp drei Millionen städtischen und dieses Glück für sich bekommen. Meiner Meinung genossenschaftlichen Wohnungen in die Vergleichs- nach ist das ein ganz großes Problem, weil sie schon miete überführt werden — und das, wie ich eben jetzt satte Mieterhöhungen durch Modernisierung gesagt habe, obwohl die Hälfte der Haushalte sozial- bekommen. Sie sind gang und gäbe. Sie wissen ja, wie wohnungsberechtigt ist. Wir halten das für einen hoch die Inflationsrate ist. Ich möchte die Regierung Skandal und meinen, die Reform des sozialen Woh- sehr eindringlich davor warnen, die Zahlungsfähig- nungsbaus — und das sage ich jetzt einmal deutlich in keit und auch die Leidensfähigkeit der Menschen im Richtung SPD, weil ich da von der CDU sowieso nichts Osten zu überschätzen. Machen Sie sich bewußt: Passables erwarte; über die F.D.P. brauchen wir gar Nach dem Wohngeld- und Mietenbericht 1993 sind nicht zu reden — 21 % der Haushalte im Osten heute wohngeldabhän- gig und 50 % haben ein Einkommen, das innerhalb (Zuruf von der SPD: Das ehrt uns!) der Sozialwohnungsberechtigung liegt. Was möchten muß mit der Einführung einer neuen Wohnungsge- Sie denn da eigentlich noch für Mietsteigerungen meinnützigkeit verbunden werden, und zwar für alle durchsetzen? 7 Millionen städtische und genossenschaftliche Woh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nungen in Ost und West, sonst ist eine Reform des sowie bei Abgeordneten der PDS) sozialen Wohnungsbaus nicht machbar. Diese Woh- nungen müssen in dauerhafte Sozialbindung über- Wir sagen darum ganz deutlich: Der Übergang in führt werden. Dann können wir auch über eine das gegebene Vergleichsmietensystem ist für die Mieter im Osten sozial derzeit nicht machbar. Es ist einkommensabhängige Miete reden, sonst ist das absolut unverträglich. Haben Sie den Mut, die Men- alles lächerlich und hat keinen Boden unter den schen in 1995 vor Mietendruck zu bewahren und Füßen. versuchen Sie es in 1996 mit einer bescheidenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundmietenerhöhung! Dann sind die Mieten der und bei der PDS) sozialen Situation entsprechend angemessen. Ich fordere Sie auf, mit uns zusammenzuarbeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dies und eine deutliche Umverlagerung der indi- Der vierte Punkt: Reform des sozialen Wohnungs- rekten Subventionen in direkte Subventionen baus. Hier haben Sie ja glücklicherweise die Wünsche — darin sind wir uns zumindest einig — sind die der Expertenkommission zunächst erst einmal zu- Voraussetzung für eine sozialvernünftige Wohnver- 294 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Franziska Eichstädt-Bohlig sorgung. Alles andere ist Augenwischerei. Nur so ist Was dabei herauskommt, sieht man jederzeit an den es möglich, das Potential an gebundenen Wohnungen Ergebnissen der verfehlten Wohnungspolitik im letz- im Bestand auf der einen Seite und durch Neubau auf ten Jahrzehnt. Deshalb halten wir folgende Maßnah- der anderen Seite kontinuierlich wieder auszuwei- men für erforderlich. ten. Erstens lehnen wir die Einführung der Vergleichs- miete in Ostdeutschland im Jahr 1995 strikt ab. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- zeit ist ein gutes Stück überschritten. (Beifall bei der PDS)

Franziska Eichstädt - Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Denn obwohl der Wohnungsbestand im Osten als GRÜNEN): Ja, ich sage nur noch kurz etwas zum grundsätzlich marode dargestellt wird, hat die Miet- Allheilmittel Wohngeld. Sie setzen auf Wohngeld. höhe in Ostdeutschland fast das Niveau der durch- schnittlichen Miethöhe Westdeutschlands erreicht. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, das geht Die durchschnittlichen Einkommen in Ostdeutsch- leider nicht. Wenn die Redezeit zu Ende ist, haben Sie land werden dagegen auch in den nächsten Jahren noch einen Schlußsatz. hinter denen in Westdeutschland zurückbleiben. Es ist übrigens nicht nur ein ostdeutsches Problem, soll doch zeitgleich der Sozialwohnungsbestand in West- Franziska Eichstädt - Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, ich sage nur noch einen Schlußsatz. deutschland ebenfalls in das Vergleichsmietensystem überführt werden. Wir werden das Wohngeld mit unterstützen. Wir warnen aber eindringlich vor einer Politik, bei der mit Angesichts der Tatsache, daß das seit Jahrzehnten dem Wohngeld uferlosen Mietsteigerungen und der in Westdeutschland praktizierte Vergleichsmietensy- Vermarktung ehemaliger Sozialwohnungen hinter- stem Mietexplosionen, Wohnungsnot und Obdachlo- her subventioniert wird. Das ist uns sehr wichtig. An sigkeit nicht verhindert hat, steht die Forderung nach der Stelle setzen wir auf eine Mischung aus Unterstüt- einem sozialverträglichen Mietenkonzept für ganz zung und Kritik. Deutschland auf der Tagesordnung. Ein Mietenmora- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, torium für Ostdeutschland bis Ende 1996 sollte allen der SPD und der PDS) politischen und gesellschaftlichen Kräften die Zeit geben, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Klaus-Jürgen Warnick. (Beifall bei der PDS — Horst Fried rich [F.D.P.]: Die Fortsetzung der Planwirt- schaft!) Klaus - Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie nicht anders zu Zweitens fordern die Abgeordneten der PDS die erwarten, hat die Regierungserklärung der Koalition sofortige Aufhebung der Privatisierungspflicht im in punkto Wohnungspolitik nichts grundlegend Altschuldenhilfegesetz, weiterhin die Überführung Neues ergeben. Lediglich eine geschönte Bestands- des jetzt noch bestehenden Bestandes an Wohnungen aufnahme der jetzigen wohnungspolitischen Pro- in den Status von Sozialwohnungen, verbunden mit bleme vorzunehmen und lauwarme Versprechungen einer Mietpreis- und Belegungsbindung unter Über- zur Schaffung von Wohneigentum durch Familien mit nahme der Zinsen für die sogenannten Restschulden Kindern vorzuschlagen hilft den betroffenen Bürgern durch Bund und Länder. Auf diese Art und Weise in Deutschland nur herzlich wenig weiter. Mir scheint, würde man in Ostdeutschland zu einem wenigstens- die Bundesregierung hat noch immer nicht begriffen, geringen Grundbestand an Sozialwohnungen kom- daß das Thema Wohnen neben innerer Sicherheit und men. Bisher gibt es im Osten nur einige wenige Arbeitslosigkeit das Thema in Deutschland überhaupt Tausend neuerbauter Wohnungen mit einem Sozial- ist. status, im Westen Deutschlands dagegen ca. 2,5 Mil- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Des lionen, die aber trotzdem nicht ausreichen. halb haben Sie Millionen Ruinen hinterlas sen!) Die PDS wird sich vehement für die nochmalige Verlängerung des erweiterten Kündigungsschutzes — Ich bestimmt nicht. in Ostdeutschland unter Einschluß der Einliegerwoh- Die Bundesregierung hat nicht verhindert, daß in nungen über das Jahr 1995 hinaus einsetzen, da den letzten zehn Jahren die Mieten schneller als abzusehen ist, daß die Bedingungen, die schon ein- Einkommen und allgemeine Lebenshaltungskosten mal, im Dezember 1992, zur Verlängerung dieses angestiegen sind. Bezahlbares Wohnen, dieses besonderen Kündigungsschutzes geführt haben, wei- Grundbedürfnis eines jeden Menschen rückt für terhin fortbestehen. immer mehr Bürger in eine unerreichbare Ferne. Viertens. Dank der dogmatischen Politik der Bun- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Sie haben ein desregierung ist das falsche Prinzip Rückgabe vor unheimliches Geschick, zu verleugnen, wer Entschädigung nun in seiner Gesamtheit nicht mehr zuständig ist!) umkehrbar und hat die Gräben zwischen Millionen Der Staat kann sich nicht aus seiner Verantwortung Menschen in Ost und West so tief werden lassen, daß herausmogeln und die Lösung der Wohnungspro- die verheerenden Folgen noch in Jahrzehnten spürbar bleme dem Markt, dem freien Spiel der Kräfte über- sein werden. lassen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 295

Klaus-Jürgen Warnick Als langjähriger Geschäftsführer des Mieterbundes am Rednerpult noch eine Minute Redezeit zur Verfü- im Land weiß ich sehr wohl, wovon ich gung steht. Und wenn das rote Licht aufleuchtet, ist hier rede. die Redezeit abgelaufen. Dann ist noch maximal ein Die Bundesregierung trägt hierfür die volle Verant- Schlußsatz zulässig. wortung vor der Geschichte. Sie ist sich der Folgen für Ich erteile dem Bundesminister für Bauwesen, das Zusammenwachsen der Deutschen — da bin ich Raumordnung und Städtebau, Dr. Klaus Töpfer, das mir sicher — aber auch heute noch nicht bewußt. Der Wort. beste Beweis dafür: Kein Wort zu diesem Problem in der Regierungserklärung! (Beifall bei der PDS) Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- Wenn auch nicht mehr vollständig umkehrbar, so nung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wie- können und müssen die Folgen dieses Prinzips für deraufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war im Millionen Ostdeutsche weiter abgemildert werden. Westen unseres Vaterlandes in besonderer Weise Die bisher verabschiedeten Gesetze haben dies nur durch den Aufbau unserer Städte und Dörfer geprägt teilweise vermocht. Weitergehende Veränderungen und getragen. Der Bau von Wohnungen hatte zwin- im Sachenrechtsänderungs- und Vermögensgesetz gende Priorität, begründet durch die gewaltigen Zer- sowie in der Nutzungsentgeltverordnung sind zwin- störungen, aber auch mit Blick auf die breiten und gend erforderlich, um den Ostdeutschen nicht weiter- großen Flüchtlingsströme der damaligen Zeit. Als hin das Gefühl der Besiegten, die sich den Siegern jemand, der in Waldenburg, in Schlesien, geboren ist, bedingungslos unterzuordnen haben, zu geben. weiß ich aus eigener Erfahrung Gutes und Schlechtes (Beifall bei der PDS — Dr.-Ing. Dietmar darüber zu berichten. Kansy [CDU/CSU]: Ach, du meine Güte!) (Zuruf von der SPD: Jetzt kommen Sie mal In diesem Zusammenhang unterstützen wir Initiati- zur Sache!) ven im Bundesrat zur sofortigen Novellierung des Entschädigungs- und Lastenausgleichsgesetzes mit Persönlichkeiten wie Paul Lücke haben damals dem Ziel, die Sicherstellung der Verwaltung von diesen Zwang der Fakten mit klaren ordnungs- und restitutionsbelasteten Häusern in Ostdeutschland gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen in eine auch weiterhin zu gewährleisten. erkennbare Strategie umgesetzt: Eigenverantwor- tung des einzelnen in der Gesellschaft einfordern, Die PDS wird sich für eine Verstärkung des genos- Erarbeitung, Ermöglichung von Eigentum, vor allem senschaftlichen und sozialen Wohnungsbaus, für von Wohneigentum, von Eigentum an Grund und einen generellen Umbau der steuerlichen Präferen- Boden, und Hilfe des Staates gezielt dort, wo dies für zen in der Wohnungsbauförderung zugunsten von den einzelnen alleine nicht möglich war, insbeson- Familien mit Kindern und geringerem Einkommen dere mit Blick auf Familien. Paul Lücke hat damals sowie für eine ökologisch orientierte, behindertenge- gemeinsam mit meinem ehemaligen Lehrer und sei- rechte und kinderfreundliche Stadtentwicklung ein- nem exzellenten Staatssekretär Werner Ernst ein setzen. modernes Raumordnungs- und Städtebaurecht ent- wickelt, in das ausreichend familiengerechte Woh- Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Sie nungen und Wohneigentum konsequent eingebun- sind weit über Ihre Redezeit. Bitte nur noch einen den wurden. Schlußsatz! Meine Damen und Herren, nach den historischen Entwicklungen, nach dem Zusammenbruch des Kom-- Klaus - Jürgen Wamick (PDS): Ich bin noch neu munismus und nach der großartigen Entwicklung der hier. deutschen Einheit, stehen wir vor vergleichbaren (Peter Conradi [SPD]: Aber die Uhr kann er Herausforderungen. lesen!) (Otto Reschke [SPD]: Wer hat Ihnen denn Alle genannten Maßnahmen stehen bei uns unter diese Rede geschrieben?) der Prämisse „Wohnen ist ein Menschenrecht". Für Große Wanderungsbewegungen innerhalb Deutsch- die Aufnahme dieses Menschenrechts in das Grund- lands haben besonders in den alten Bundesländern gesetz der Bundesrepublik Deutschland werden wir eine geradezu sprunghafte Veränderung der Wohn- auch weiterhin eintreten. nachfrage bewirkt. — Dem Zwischenrufer kann ich Ich danke Ihnen. nur sagen: Auch nach siebeneinhalb Jahren als Mini- (Beifall bei der PDS) ster pflege ich meine Reden selbst zu schreiben. Stellen sie sich das vor!

Vizepräsident Hans Klein: Damit ich nicht so oft auf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — die Redezeit hinweisen muß, wäre es vielleicht gut, Zustimmung bei der SPD — Dr. Peter Struck wenn die Parlamentarischen Geschäftsführer [SPD]: Donnerwetter!) (Dr. Peter Struck [SPD]: Herr Präsident, Wenn Sie es anders machen, dann kann ich mich mit meine Kollegen halten sich immer an die Ihnen gern auch noch über das Redenschreiben unter- Redezeit! — Heiterkeit) halten. — du sollst kein falsches Zeugnis geben, Herr Parla (Otto Reschke [SPD]: Ich frage mich, warum mentarischer Geschäftsführer — den neuen Kollegen sie so fehlerhaft ist! — Weiterer Zuruf von der sagen würden, daß bei Aufleuchten des gelben Lichts SPD: Laßt ihn doch erst einmal!) 296 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Ich finde es aber ganz nett, daß Sie mir die Gelegen- ist: Es ist angewandte Familienpolitik. Das muß in den heit gegeben haben, das zu erwähnen. Mittelpunkt gestellt werden. Die Grundbedingungen haben sich wieder ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gleichbar geändert. Es gab große Wanderungsbewe- ordneten der F.D.P.) gungen in Richtung alte Bundesländer. Es gibt drama- Zweitens. Wohnungsbau- und Städtebaupolitik ist tische, stein- und betonplattengewordene inhumane angewandte Sozialpolitik. Auch das ist ein zentrales Wohnungsbau- und Städtebaustrukturen in den Kriterium. neuen Bundesländern. Das ist eine Herausforderung. Deswegen habe ich hier die Verbindung zum Ende (Zuruf von der SPD: Haben Sie das mit der des Zweiten Weltkriegs gezogen. Es ist eine entspre- F.D.P. abgesprochen?) chende Herausforderung, die wir aufgreifen müs- Es muß klar sein, daß die Reform des sozialen Woh- sen. nungsbaus fortgesetzt wird und die Grundprinzipien Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einmal der einkommensabhängigen Förderung auf den Woh- in meiner eigenen Entwicklung zurückgreifen. Meine nungsbestand übertragen werden. Wir werden ein erste Arbeit, die ich als Assistent am Institut für Drittes Wohnungsbaugesetz vorlegen. Sie alle sind Siedlungs- und Wohnungswesen an der Universität herzlich eingeladen, daran mitzuwirken. Das sage ich mit aller Ernsthaftigkeit und sehr egoistisch. Münster geschrieben habe, war über den Wohnungs- bedarf im Jahre 2000. (Zuruf von der SPD: Sie brauchen uns!) (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der — Ich brauche nicht Sie, ich brauche die Länder. Das, SPD: Und die haben Sie jetzt wieder hervor was mir hier vorgetragen wird, macht den Eindruck, geholt?) als gäbe es in Deutschland nur einen wohnungs- und städtebaupolitischen Akteur: den Bund. Man könnte — Ich sehe schon, wir kriegen in diesem Bereich meinen, es gäbe keinen anderen. Ich soll in der genausoviel Freude, wie wir sie vorher im Umweltbe- nächsten Woche zur ARGEBAU nach Berlin fahren. reich gehabt haben. Das ist absehbar. Dort sagt man mir: Es gibt eigentlich überhaupt nur Diese Prognose war, vergleichsweise kurz nachdem einen städtebaulichen Akteur, das sind die Länder; ich sie gemacht hatte, falsch. Sie war zwischenzeitlich (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist wieder richtig. Sie ist gegenwärtig wieder falsch. die Wahrheit!) Denn in der Tat hat niemand im Jahre 1964 unterstellt, daß es im Jahre 1989 keine Mauer und keinen und der Bund darf bitte ordentlich zahlen. So kann es Stacheldraht in Deutschland mehr gibt. Dadurch hat doch nicht zusammenpassen. sich etwas geändert. Herr Kollege Großmann, fragen ( Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Sie Ihre Kollegen von der damaligen Neuen Heimat. ordneten der F.D.P.) Was haben Sie damals in Bremen-Vahr gehabt? Deswegen biete ich Ihnen an, das Gesetz zusammen Haben Sie zu wenige oder zu viele Wohnungen zu entwickeln. gehabt? Das Dritte: Wohnungsbaupolitik ist angewandte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eigentumspolitik für die breiten Schichten unserer Also haben sich die Rahmenbedingungen geändert. Bevölkerung. Das muß in der Zukunft wieder ver- Diese Rahmenbedingungen müssen wir jetzt aufgrei- stärkt werden, so wie es auch einmal bei Paul Lücke fen. der Fall gewesen ist. - Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinba- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rung zeigt sehr klar: Wohnungsbau- und Städtebau Ich beziehe mich bewußt noch einmal auf ihn. politik bleibt in dieser Legislaturperiode ein wichti- (Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD] meldet ger, ein zentraler Schwerpunkt, ein Schwerpunkt, der sich zu einer Zwischenfrage) noch klarer, noch konsequenter auf den gesellschafts- politischen Kern hin profiliert werden soll. Dieser hohe — Jemand, der in Münster so ausgebildet worden ist, Stellenwert rechtfertigt sich umfassend aus der ist mir immer ein ganz besonders dankbarer Zwi- Bedeutung der Wohnungs- und Städtebaupolitik für schenfrager. die Verwirklichung wichtiger Grundwerte in unserer Gesellschaft. Die Maßstäbe sind für mich folgende. Wohnungsbaupolitik und Städtebaupolitik sind Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, das angewandte Familienpolitik und müssen es noch ist die Zulassung der Zwischenfrage. Bitte sehr, Frau stärker werden. Das ist eine zentrale Notwendigkeit. Kollegin. Ich freue mich, daß Frau Kollegin Nolte und Frau Kollegin Rönsch genau das gesagt haben. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Bundesminister, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nach diesem freundlichen Kompliment möchte ich Das ist ein Kriterium, an dem ich alle Maßnahmen doch wissen, ob Sie sich in der sehr ärgerlichen Frage messe, Herr Kollege Großmann. Ich will mir heute des § 10e endgültig eine Meinung gebildet haben, nicht in zehn Minuten jede Einzelheit abverlangen nachdem Sie gerade gesagt haben, die Eigentumsbil- lassen. Aber Sie können von mir verlangen, daß ich dung — aus unserer Sicht gerade für Bezieher mittle- kundtue, welche Maßstäbe ich zur Entwicklung mei- rer Einkommen, denen bisher das Startkapital fehlt — ner Gesamtpolitik auf diesem Gebiet anlege. Der erste müsse verbessert werden. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 297

Ingrid Matthäus-Maier Der Herr Kansy ist der Ansicht: Der § 10 e — mit der wie keine Entlastung bekommt, ungefähr 3 000 DM, unangenehmen Wirkung, je mehr ich verdiene, um so und daß die Familie, die 70 000 DM Einkommen hat, mehr Entlastung bekomme ich — ist falsch. Das durch die Kinderkomponente eine Entlastung von Kirchenpapier sagt, er ist falsch. Alle möglichen 30 000 DM hat. Verbände sagen, er ist falsch. Wir fordern seit Jahren Halten Sie es angesichts der soeben von Ihnen eine Korrektur. aufgestellten These, man solle versuchen, die mittle- Können wir endlich damit rechnen, daß Sie den ren Einkommensschichten mit einer vernünftigen Eigenheimparagraphen so umbauen, daß er nicht Kinderkomponente zu fördern, wirklich für nötig, über mehr denjenigen so viel mehr entlastet, der mehr dieses Modell im Bauministerium nachzudenken? verdient als andere, sondern gerade den Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen eine echte Chance gibt? Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nung, Bauwesen und Städtebau: Herr Kollege Groß- Bundesminister für Raumord- Dr. Klaus Töpfer, mann, ich beziehe das auf diese Aussage und auf viele nung, Bauwesen und Städtebau: Erst einmal bedanke andere, die ich in der letzten Zeit etwa auch zu dem ich mich für die umfassende Fragestellung, die immer Expertengutachten gelesen habe, auch schon zu einer auch unterstellt, daß ich vielleicht das, wonach Sie Zeit, als ich für diesen Aufgabenbereich noch nicht gefragt haben, in dem einen oder anderen Punkt noch zuständig war. nicht ganz verstanden habe. Insofern kann ich Sie beruhigen und kann Ihnen das Mein Verständnis von Gutachten, die Experten auch ganz konkret beantworten: Ja, ich will eine erstellt haben, besteht nicht darin, daß ich dann, wenn Förderung, die nicht eine solche progressive Ausge- sie vorgelegt werden und mir ein Satz darin nicht staltung hat, wie sie sich jetzt darstellt. gefällt, das ganze Gutachten wegschmeiße. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Mat- ordneten der SPD) thäus-Maier [SPD]: Das macht nur der Herr Ich sage Ihnen aber genauso dazu — dies ist Waigel!) nebenbei Grundlage dessen, was wir in der Koali- Vielmehr bestehen meine Vorstellungen darin, daß tionsvereinbarung stehen haben; bei klügerem Nach- ich mir die Zeit nehme, auch mit den Experten genau denken wäre man sicherlich darauf gekommen; das ist durchzugehen, was darin steht. kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung —: Ich Mich hat es eben gewundert, daß Herr Kollege lege mich im Augenblick noch nicht fest, ob das im Conradi an der Stelle geklatscht hat. Schon durch die Bundesbauministerium entwickelte Modell eines Ab- Tatsache, daß man sich über ein Gutachten unterhält, zugs von der Bemessungsgrundlage besser sein wird einem unterstellt, man würde das, was darin könnte als ein Abzug von der Steuerschuld. Darüber steht, zu seiner eigenen Politik machen. Dies ist kein muß man reden. Da muß man sich fragen: Ist die sauberer Umgang miteinander! Möglichkeit des Anrechnens von 20 % des Einkom- mens richtig oder nicht richtig? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Laßt uns doch nicht am Anfang einer Legislaturpe- riode alles schon so festlegen, als wären wir am Ende Es wäre doch geradezu eine Unglaublichkeit, wenn und hätten das Gesetz schon verabschiedet! Ich bin da ein neuer Minister in ein Ministerium kommt und zu offen und sage Ihnen meine Prinzipien, mit denen ich dem, was im Ministerium neu erarbeitet worden ist, darangehe. Ich glaube, diesen Anspruch hat dieses sagt: Das gucke ich mir erst gar nicht an. Natürlich- Hohe Haus, daß es vom Minister erfährt, mit welchen gucke ich mir das an; das erörtern wir intensiv, und ich Grundlagen er darangeht, aber nicht, mit welcher diskutiere mit meinen Mitarbeitern auch dieses einzelnen Regelung. Bemessungsgrundlagenmodell, nach dem Sie gefragt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge haben. ordneten der F.D.P.) (Otto Reschke [SPD]: Das war ja auch teuer Darüber werden wir uns einigen. genug! Über 6 Millionen Mark!) Lassen Sie mich auch folgendes noch dazu sagen: In Vizepräsident Hans Klein: Auch der Kollege Groß- den letzten vier Jahren ist von dieser Bundesregie- mann würde gerne eine Zwischenfrage stellen, Herr rung eine wirklich gute Wohnungsbau- und Städte- Minister. baupolitik be trieben worden. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nung, Bauwesen und Städtebau: Der aus Würselen! SPD: Na, na? — Dr. Dagmar Enkelmann Gerne. [PDS]: Wer hat Ihnen das erzählt?) Meine Damen und Herren, ich halte überhaupt nichts Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege Groß- vom Nachtreten; mann. (Zuruf von der SPD: Das war Schwaetzeris- mus, kein Wohnungsbau!) Achim Großmann (SPD): Wenn Sie sagen, daß Sie auch über das im Bauministerium entwickelte Modell ich halte etwas davon, daß ich mit Respekt das, was nachdenken, führt das bei mir zu schierem Entsetzen. Frau Kollegin Schwaetzer gemacht hat, weiterentwik- Denn dieses Modell bewirkt, daß eine Familie, die kele. zwei Kinder und 40 000 DM Einkommen hat, so gut (Zuruf von der SPD: Vorsicht!) 298 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Wo ich glaube, daß es weiterentwickelt werden muß, Wir brauchen eine Verstetigung der Bauleistungen. werde ich es tun. Dort, wo das nicht der Fall ist, werden Das ist mir wichtiger, als in einem Jahr 20 000 Woh- wir es so belassen. Respekt vor Frau Schwaetzer! nungen mehr zu bauen. Ich bleibe lieber bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verstetigung. Das ist nämlich auch billiger; denn solche Kapazitätssprünge kann kein Wirtschaftszweig Ich bin sehr daran interessiert, im Bauministerium ohne entsprechende Kostenreaktion verkraften. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erst fragen: Was denkt denn der Minister? und dann ein dementsprechendes Papier vorlegen, sondern die Es geht mir nicht um eine Tonnenideologie, sondern mir das vorlegen, was sie denken, und mir zugeste- ich frage: Welche Wohnungen werden gebaut? Wie hen, daß ich mir dazu meine eigene Meinung bilde. So können wir das verstetigen? Darum geht es und nicht verstehe ich die Leistung eines Ministeriums. allein um die Zahl, so wichtig sie ist. Wir müssen aber selbstverständlich die Teilmärkte berücksichtigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und zusehen, daß diese Wohnungen dann auch Ich kann schon nach einer Woche sagen: Das ist eine bezahlt werden können. prima Truppe, die da arbeitet. Die haben viel Ahnung. Natürlich sind Wohnungsbaupolitik und Städtebau Die werden wir sehr, sehr gut mit einbinden. politik auch angewandte Umweltpolitik. Das ist über- haupt keine Frage. Ich freue mich darüber, daß man Es ist richtig — Frau Kollegin Rönsch hat das jetzt im Bereich des Städtebaus die Frage aufgreifen aufgegriffen, und es steht auch in der Koalitionsver- kann, welche Inanspruchnahme von Umwelt eigent- einbarung —: Die Tatsache, daß man schon lange über lich dadurch entsteht, daß wir über Jahre und Jahr- kostensparendes Bauen nachdenkt, es gegenwärtig zehnte Architekten nach der Charta von Athen aus- aber noch nicht praktiziert, kann doch nicht dazu gebildet haben: Sie haben die Funktionen im Raum führen, daß man erklärt, deswegen denke man auseinandergezogen und mit diesem Auseinander zukünftig darüber gar nicht mehr weiter nach. ziehen von Funktionen Verkehr generiert. (Achim Großmann [SPD]: Nein, man muß es (Zuruf von der SPD: Leider wahr!) machen!) Das ist doch ganz klar. Das kann man nicht einfach Man kann sagen: Geht endlich an diese Sache heran, unberücksichtigt lassen. Hier gibt es eine ganz enge tut etwas, das steht schon lange als Forderung im Verzahnung zwischen Wohnungsbaupolitik und Um- Raum! weltpolitik. Das Ministerium hat ein Gutachten zu der Frage Ich freue mich, daß man dieser Problematik gemein- vorgelegt, wie man mit einer bestimmten Summe sam mit Frau Merkel weiterhin hervorragend nachge- mehr Wohnungen bauen kann. Das wird in der hen kann, um bei der Städtebauförderung unter nächsten Woche in Ber lin bei der ARGEBAU erörtert. diesem Gesichtspunkt weiterzukommen. In diesem Gutachten stehen die verschiedenen Ein- Es geht auch um die Förderung und Entwicklung flußfaktoren. Wir sollten das gemeinsam mit den umweltverträglicher Baumaterialien. Es müssen Bundesländern durchgehen. Die Länder müssen es Konzepte zur Energieeinsparung entwickelt werden. auch mit umsetzen. Wirken Sie bitte auf Ihre Minister Das sind Dinge, von denen ich glaube, daß wir sie in den Bundesländern so ein, wie auch wir das tun! wirklich voranbringen können. Wir müssen von der Tatsache herunterkommen, daß wir den geringsten Anteil an Wohnungseigentum, Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ich aber die höchsten Kosten für Wohnungen haben. Das bin wieder in der Situation, daß — — - hat doch irgend etwas miteinander zu tun. Wenn es etwas miteinander zu tun hat, muß man es aufgreifen, (Zuruf von der SPD: Er ist ja neu! — Heiter- selbst wenn es bereits vor zehn Jahren angesprochen keit bei der SPD) wurde. Ich jedenfalls werde dies mit großer Nach- drücklichkeit tun. Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- In dem Gutachten stehen auch die ganzen eigen- nung, Bauwesen und Städtebau: Ich konnte Ihnen tumsfördernden Instrumente. Wir müssen die Bau- heute natürlich nur diese Grundsätze darstellen. Mir sparförderung voranbringen. ging es mehr darum, Ihnen zu sagen, wie wir Woh- nungs- und Städtebaupolitik sowie Raumordnungs- (Zustimmung der Abg. Ingrid Matthäus politik betreiben werden. Ich lade Sie herzlich gern Maier [SPD]) dazu ein, daß wir uns zusammensetzen, bevor wir uns Die Bausparförderung ist eine deutsche Erfindung in der Öffentlichkeit die Köpfe heißreden und uns erster Qualität. Wir sollten das gemeinsam weiter manchmal vielleicht auch in die Knie treten. Das voranbringen. Bauministerium hat dafür eine außerordentlich schöne Baugestaltung. Ich lade also immer wieder Viertens ist Wohnungsbau für mich angewandte gern zum Kaffeetrinken ein, Wirtschaftspolitik. Es ist gar keine Frage: Selbst wenn wir eine noch so gute Förderung betreiben: wenn uns (Zuruf von der SPD: Hervorragend!) die Zinspolitik in den Rücken fällt, werden wir nicht damit wir zu falschen Kompromissen, sondern Schwierigkeiten haben. Wir müssen also die Woh- damit wir zu einer Politik kommen, die der Familie die nungsbaupolitik unmittelbar in die Wirtschaftspolitik erforderlichen Chancen gibt, die uns im sozialen einbinden. Wohnungsbaupolitik ist angewandte Wirt- Bereich und im Eigentumsbereich voranbringt. Dann schaftspolitik. werden wir uns auch über solche Fragen wie den Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 299

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich bis hin zum Ich kann mit gutem Gewissen, Herr Kollege Conradi Schürmann-Bau bestens unterhalten können. und die anderen Kollegen, die in einer unendlich Ich danke Ihnen sehr herzlich. schwierigen und langwierigen Arbeit im Auftrag des ganzen Parlaments die Vorbereitungen getroffen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben, sagen: Es läuft auf Hochtouren auf den ver- schiedensten Ebenen des Parlaments, zunächst in Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Dr. Dietmar etwas grundsätzlicher Art und dann detaillierter. Wir Kansy hat das Wort. setzen die Beschlüsse um! Ich möchte auf die Rede des Bundeskanzlers von Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Herr Präsident! vorgestern eingehen. Auch der Deutsche Bundestag Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Minister steht voll zu seiner Feststellung und zu seinen hat die Wohnungsbaudebatte beendet. Er hat in Beschlüssen, daß der Umzugsbeschluß zwei Teile hat. bezug auf ein Aufgabenfeld vom Bundeskanzler eine Wir bereiten uns nicht nur darauf vor, möglichst früh in erweiterte Verantwortung übertragen bekommen, der 14. Legislaturperiode nach Berlin zu gehen, son- nämlich die zentrale Verantwortung der Bundesregie- dern wir stehen auch in der Verpflichtung gegenüber rung für den Umzug nach Berlin. der Bundesstadt Bonn. Wir werden in Kürze, so hoffe ich, im Ältestenrat darüber reden, wie wir die Beglei- (Otto Reschke [SPD]: Sagen Sie doch mal was tung des Berlin- und des Bonn-Teils dieses Gesetzes zum Schürmann-Bau!) ausgestalten können. — Herr Kollege Reschke, ich möchte gern über etwas anderes sprechen. (Peter Conradi [SPD]: Wann wird es denn hier einen Ältestenrat geben?) (Otto Reschke [SPD]: Das akzeptiere ich!) — Okay. — Verehrter Herr Kollege Conradi, das ist eine nicht erlaubte Zwischenfrage, deren Beantwortung zu mei- Auch der Bundeskanzler hat das Thema in seiner nen Lasten ginge. Wenn Sie sie offiziell stellen, rede Regierungserklärung angesprochen. Ich möchte als ich gern noch etwas detaillierter dazu. Vertreter des Parlaments einige wenige Worte sagen, sicherlich über die Fraktionsgrenzen hinweg, wenn Wir werden also in Kürze darüber reden, wie wir das ich das als Vorsitzender der Baukommission sagen organisatorisch fassen, nämlich den Berlin-Teil des darf. Beschlusses und den Bonn-Teil des Beschlusses zu Der Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit begleiten. am 10. März 1994 nach langer, schwieriger, teils Herr Minister Töpfer, Sie können versichert sein, emotionaler Diskussion das Berlin/Bonn-Gesetz und daß wir nach Bildung unserer Gremien auch Sie in Verbindung damit den sogenannten dritten Zwi- bezüglich dieses Bereiches zu einem Meinungsaus- schenbericht der Konzeptkommission — das sage ich tausch einladen werden. Jedenfalls, glaube ich, für unsere neuen Kollegen — beschlossen. Damit begrüßen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg, daß haben wir, Herr Bundeskanzler, als Parlament unser es jetzt eine zentrale Verantwortung in einem Bundes- Programm und unseren Fahrplan für den Umzug nach ministerium und nicht für uns als Parlament mehrere Berlin festgelegt. Wir haben — ich möchte das nicht Ansprechpartner gibt. alles auflisten — aufgebaut auf dem Grundsatzbe- schluß vom 20. Juni 1991, auf verschiedenen Kommis- Zum Schluß: Der Bundeskanzler hat noch ein zwei- sionsberichten, auch auf zwei überparteilichen Spit- tes Thema angesprochen. Es gehe nicht nur, sagte er, zentreffen beim Bundeskanzler am 12. Oktober 1993 um Fragen der Organisation und der Architektur, und 14. Januar 1994, auf denen die Eckwerte festge- sondern auch darum, wie wir uns in den Lebensrhyth- schrieben wurden. mus , in die Kultur dieser Stadt und in das Das ist unser Programm: Berlin als Sitz des Deut- städtebauliche Gesamtkonzept einbringen. Ich schen Bundestages und der Bundesregierung, Festle- glaube, wir sollten die Anregung des Bundeskanzlers gung einer fairen Arbeitsteilung zwischen der Bun- ernst nehmen. deshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn Natürlich ist Organisation wichtig. Natürlich sind durch Ansiedlung von Ministerien in Berlin und Bonn, personelle Fragen zu klären. Natürlich ist Architektur Unterstützung der Städte Berlin und Bonn bei der wichtig. Aber was unsere Rolle als politischer Bauherr Sicherstellung der Funktionsfähigkeit als Bundes- angeht, die wir in Berlin bewußt wahrnehmen, glaube hauptstadt einerseits und als Bundesstadt anderer- ich, daß der Bundeskanzler mit seinem Hinweis auf seits, Schaffung eines Ausgleichs für die Region Bonn Kultur ein wenig mehr meinte. Wenn der Bundes- und die Festlegung von dienstrechtlichen und sonsti- hauptstadt Berlin für die kulturelle Ausstrahlung gen Regelungen für den Ausgleich von verlagerungs- Deutschlands eine besondere Rolle zukommt — das bedingten Belastungen. hat der Bundeskanzler hier am Mittwoch ausge- Meine Damen und Herren, in diesem Beschluß führt —, meine ich, sollten wir als Deutscher Bundes- bekräftigten wir unsere Absicht, in der nächsten, der tag in der nächsten Zeit auch darüber einmal nach- 14. Legislaturperiode, möglichst früh, spätestens im denken und uns über diesen Bereich des Umzugs Sommer 2000, unsere Arbeit in Berlin aufzunehmen. unterhalten, der über das Materielle, Organisatori- Wir haben die Beschlüsse der Bundesregierung sche und Personelle hinausgeht. Vielleicht laden wir begrüßt, im gleichen Zeitrahmen ihre Präsenz in sogar den Bundeskanzler dazu ein, wie wir das damals Berlin sicherzustellen, um ihrer Verantwortung bei unseren ersten Umzugsvorbereitungen gemacht gegenüber uns als Parlament nachzukommen. haben. 300 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr.-Ing. Dietmar Kansy Jedenfalls, Herr Minister, Sie haben im deutschen wenn man nicht wie Sie mit Vollgas ins Stauende Parlament auch einen Ansprechpartner, der Ihnen bei rasen will. dieser Aufgabe zur Seite stehen wird. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. Eine Verbesserung kann wirklich nur gelingen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn Ihre gescheiterte Flickschusterei der Vergan- genheit endlich durch ein integriertes Gesamtver- kehrskonzept abgelöst wird. Das fordern wir wirklich Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Elke Fer- schon seit Jahren von Ihnen. ner, Sie haben das Wort. (Dr. Dionys Jobst [CDU/CSU]: Das haben wir gemeinsam beschlossen!) Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Das der Verkehr als vorletzter — Lieber Herr Kollege Jobst, sicherlich haben wir Bereich der Regierungserklärung an dieser Stelle vieles gemeinsam beschlossen — dazu komme ich steht, kommt mit Sicherheit nicht von ungefähr. Denn nachher noch —, aber Sie wissen, daß wir uns hin- so dürftig, wie die Koalitionsvereinbarungen an der sichtlich der Gesamtlinie nicht einig waren. Stelle sind, kann man dieses Thema wahrlich nicht (Zuruf von der SPD: Genauso ist es!) besser plazieren. Um so gespannter waren wir natürlich: Was steht Die ist Verkehrslawine auf Deutschlands Straßen denn jetzt in den Koalitionsvereinbarungen für die kein abstraktes Problem der Wirtschafts-, Finanz- 13. Wahlperiode? oder Umweltpolitik, sondern erlebter und zunehmend leider auch erlittener Alltag der Menschen. In diesem (Zuruf von der SPD: Na, nicht viel!) Sommer waren heftige öffentliche Debatten über Das Ding flatterte uns auf den Tisch. Ich sage bewußt„ Ozon und Sommersmog, über Staus und Lärmbela- flatterte", weil die knappe Seite Papier, auf der man stung, über mangelhafte öffentliche Verkehrssy- die Verkehrspolitik niedergeschrieben hat, nicht nur steme, über Gefährdung von Kindern und alten Men- im Umfang, sondern auch im Inhalt wirklich das schen im Straßenverkehr an der Tagesordnung. Dies Gewicht einer Eintagsfliege aufweist. belegt die Bedeutung, die das Thema im Alltag und auch im Bewußtsein der Menschen hat. (Beifall bei der SPD) So unzweifelhaft wir alle auf Mobilität angewiesen Wie es dann dem Bundeskanzler am Mittwoch sind, so unbestreitbar ist die Tatsache, daß die bisher gelang, selbst dies noch auf zwei völlig inhaltsleere praktizierte Form von Mobilität in Deutschland und Sätze einzudampfen, das nötigt einem wirklich schon auch in Europa an ihre ökologischen, sozialen und fast wieder Respekt ab. Diese sogenannte Leitlinie für auch ökonomischen Grenzen gestoßen ist. Die die künftige Verkehrspolitik ist an Dürftigkeit wahr- Zuwachsprognosen für die nächsten 15 Jahre sind lich nicht mehr zu unterbieten. Der Inhalt läßt sich in horrend: mehr als eine Verdoppelung des Straßengü- dem Satz zusammenfassen: Wir wursteln uns weiter so terverkehrs. Dies bedeutet insgesamt ein weiteres durch wie bisher: Weiter so mit Infrastrukturausbau Wachstum von Staus, von Lärm, von Schadstoffemis- nach dem Gießkannenprinzip ohne wirkliche Prioritä- sionen, die weder von den Menschen noch von der tensetzung. Weiter so mit unausgegorenen Privatfi- Umwelt länger verkraftet werden können. nanzierungsabenteuern zu Lasten unserer Kinder und (Beifall bei der SPD) Enkel. Weiter so mit Transrapid-Träumereien zum Das ist leider kein Horrorszenario, sondern an vielen Schaden der Bahn und des Steuerzahlers. Weiter so - Stellen in Deutschland schon bittere Realität. mit dem Hinterherhecheln der Wettbewerbsharmoni- sierung in Europa als Folge eigener, blinder Deregu- Auch die Haushalte von Bund, Ländern und lierungseuphorie auf dem Rücken des deutschen Gemeinden können Ihren untauglichen Versuch, Verkehrsgewerbes. liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, nicht länger verkraften, dem Straßenverkehrswachs Es lohnt sich, glaube ich, nicht, über dieses Doku- tum durch immer neuen Straßenbau hinterherzuhe- ment der Konzeptionslosigkeit und der Unfähigkeit cheln, ohne daß Sie das Problem jemals lösen könn- zur dringend nötigen Reform der Verkehrspolitik ten. auch nur ein weiteres Wort zu verlieren; denn wirklich interessant ist ja nicht das, was drinsteht, sondern das, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) was nicht drinsteht. Außer einem mageren Halbsatz Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist, daß, zur Fortsetzung der Privatisierungspolitik — was wie es auch in der Verkehrswissenschaft längst unbe- immer dies dann auch heißen mag — ist z. B. nichts stritten ist, die Notwendigkeit gegeben ist, endlich das gesagt zum weiteren Schicksal der Bahn. Die Bahnre- Verkehrswachstum vom Wirtschaftswachstum zu ent- form hat zwar die Voraussetzungen für eine marktge- koppeln, wie das im Energiebereich seit Jahren vor- rechte Organisationsstruktur geschaffen; allerdings: exerziert wird. Die Politik ist damit nicht von der Aufgabe entbunden, (Zuruf von der CDU/CSU: Dann machen Sie nunmehr endlich die Rahmenbedingungen auch so zu mal Vorschläge!) gestalten, daß die Bahn auch eine faire Chance auf Die Vermeidung weiterer Verkehrszuwächse und die dem Verkehrsmarkt erhält. weitestmögliche Verlagerung von Straßenverkehrs- Hierbei geht es vorrangig um den Abbau vieler anteilen auf Güterzug, Kombiverkehr, Binnen- und noch vorhandener Wettbewerbsverzerrungen zu La- Küstenschiff sowie auf S-Bahn, Bus und Straßenbahn sten der Bahn, insbesondere im Verhältnis zum Stra- muß deshalb oberstes Ziel der Verkehrspolitik sein, ßengüterverkehr. Wenn dies nicht gelingt, liebe Kol- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 301

Elke Ferner legen und Kolleginnen, dann wird die privatisierte zugute kommen sollen. Wenn das wirklich Ihre Bahn wohl das gleiche Schicksal erleiden wie die Absicht ist, Herr Minister, dann, so muß ich Ihnen hier Staatsbahn in den vergangenen 40 Jahren. sagen, ist das erneuter Wortbruch. Das ändert die (Beifall bei der SPD) Geschäftsgrundlage für die Länder wie auch für den Bund und die Fraktionen im Bundestag ganz entschei- Für Sie war das offenbar kein Thema, denn sonst dend. hätten Sie dies ja auch in der Koalitionsvereinbarung (Beifall bei der SPD) niedergeschrieben. Sie wissen doch genau, daß der Umfang und der Wenn Sie Ihre Politik für den Straßenbau weiter so Zustand der jeweiligen Infrastruktur einer der wesent- fortsetzen, dann werden wir nie faire Wettbewerbsbe- lichen Erfolgsfaktoren für die Verkehrsträger ist. Sie dingungen für die Bahn und für die öffentlichen wissen doch auch, daß die einseitig auf den Ausbau Personennahverkehrssysteme bekommen. Nach Ih- des Straßennetzes ausgerichtete Verkehrspolitik der rer Vorstellung soll es offensichtlich auch so bleiben; letzten 40 Jahre das System Schiene chancenlos und wir finden nichts über eine Vorrangpolitik für umwelt- das System Straße konkurrenzlos gemacht hat. Was verträgliche Verkehrsträger. Beim Aus- und Neubau tun Sie denn nun dagegen? wird immer noch die Straße an erster Stelle genannt. Kein Ton zur Vernetzung der Verkehrsträger, zum (Dr. Dionys Jobst [CDU/CSU]: Da war aber Ausbau der Schnittstellen, zu Güterverkehrszentren, auch die SPD beteiligt!) zu Terminals des kombinierten Verkehrs oder zu — Sie sind aber die letzten zwölf Jahre in der anderen kapazitätssteigernden Maßnahmen, die Regierung gewesen, Herr Kollege Jobst. Die Altla- zwingende Voraussetzung dafür sind, integrierte stendiskussion können Sie nun wirklich in den Papier- Transportketten aufzubauen. Alles läuft wie gehabt korb werfen. nebeneinander her, und auf die traurigen Ergebnisse (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred muß man nicht einmal mehr gespannt sein, weil wir sie Müller [Berlin] [PDS]) heute schon kennen. Werfen wir doch einmal einen Blick in die Haus- Ein weiterer entscheidender Wettbewerbsnachteil halte der letzten Jahre. Nach wie vor übersteigen dort der Bahn sind die Kostenvorteile des Straßenver- die Ausgaben für den Neubau von Bundesfernstraßen kehrs. Auch dazu findet sich selbstverständlich kein die Ausgaben für den Neubau von Schienenstrek- Wort in der Koalitionsvereinbarung. Während die ken. Betriebsbereiche der Bahn bereits seit diesem Jahr nach dem Trassenpreissystem ihre vollen Wegekosten erbringen müssen und daneben noch bei Dieseltrak- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jobst? tion Mineralölsteuer entrichten müssen, trägt der Straßengüterverkehr, insbesondere der grenzüber- schreitende Verkehr und der Transitverkehr, nach Elke Ferner (SPD): Ja, wenn Sie die Uhr anhalten, wie vor nicht einmal seine vollen Wegekosten. Herr Präsident, gerne. Zum 1. April 1994 wurde die Kfz-Steuer für Lkws in Deutschland um mindestens die Hälfte gesenkt. Dr. Dionys Jobst (CDU/CSU): Frau Kollegin Ferner, Dagegen wird erst zum 1. Januar 1995 die sogenannte darf ich Sie daran erinnern, daß die meisten Autobah- Euro-Vignette, die für einen 40-Tonner-Lkw im Jahr nen in Deutschland in der Zeit der Regierungsverant- maximal 2 500 DM kostet, eingeführt. Die Nieder- wortung der SPD von 1969 bis 1982 gebaut wur- lande, Dänemark und Belgien haben schon durch eine den? entsprechende nationale Absenkung ihrer eigenen- (Zurufe von der SPD) Kfz-Steuer reagiert. Als Ergebnis dieser mißglückten „Fiskalharmonisierung" muß man deshalb festhalten, Elke Ferner (SPD): Ja, das ist leider wahr, Herr daß Straßengütertransporte in Europa nicht teurer, Kollege Jobst. Das kann ich Ihnen bestätigen. Aller- sondern billiger geworden sind. dings ist auch wahr, daß wir im Gegensatz zu Ihnen Hinzu kommt, daß die Euro-Vignette nur für Auto- lernfähig waren und jetzt wirklich auf eine ökologi- bahnen gilt, während das Trassenpreissystem der setzen, während Sie weiter sche Verkehrspolitik Bahn für das komplette Netz gilt. Die logische Folge Betonpolitik in Form von Straßenbau, und zwar unge- sind massive Umsatzrückgänge des Bahngüterver- zügelt, machen. kehrs schon in diesem Jahr. Ich sage Ihnen, liebe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wenn der PDS — Zuruf von der SPD: Außerdem nichts geschieht, wird sich diese Entwicklung weiter haben wir gerade deshalb heute genug Auto verstärken und zu einem erkennbaren katastrophalen bahnen!) Ergebnis für den Güterverkehr der Bahn führen. Im Haushalt 1995 ist auch dies wieder belegt. Da Was sagt denn nun die Koalitionsvereinbarung zu stehen nämlich 8,4 Milliarden DM für die Straße nur diesem für das Verkehrsgewerbe und auch für die 7,6 Milliarden DM für Schieneninfrastrukturinvesti- Bahn wichtigen Bereich? — Man höre und staune tionen gegenüber. Nun, Herr Minister — wie man jetzt — ich zitiere —: von der Verkehrsministerkonferenz in München hört —, brechen Sie auch noch einen Streit mit den Neue Verkehrsinfrastrukturen sollen stärker als Ländern vom Zaun, weil Sie sich um die Erfüllung der bisher privat finanziert und bet rieben werden. Gesetzesregelung drücken wollen, daß 20 % der Deshalb werden wir Möglichkeiten prüfen, Schieneninfrastrukturinvestitionen dem Nahverkehr Wegekosten gerecht anzulasten und ausländi- 302 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Elke Ferner sehe Verkehrsteilnehmer zur Finanzierung der Kollegen, die drängenden Verkehrsprobleme dieses Verkehrswege heranzuziehen. Landes nicht lösen können. Das heißt also, daß die volle Wegekostenanlastung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht etwa angestrebt wird, um endlich das Verursa- DIE GRÜNEN — Dr. Dionys Jobst [CDU/ cherprinzip im Verkehr durchzusetzen, um den CSU]: Wir werden sie lösen, Frau Kolle umweltverträglicheren Verkehrsträgern eine faire gin!) Wettbewerbschance zu geben, sondern nur, um priva- Die Bürger und Bürgerinnen wissen längst, welche ten Investoren ihre Rendite zu sichern. Mogelpackung dieser Bundesverkehrswegeplan ist. Lassen Sie uns weiter nach Aussagen zum Abbau Hier müssen Sie nicht noch mit solchen Aussagen von Wettbewerbsverzerrungen suchen. Im letzten Augenwischerei betreiben. Absatz ist die Rede von der weiteren Harmonisierung Wo wir schon bei eingeschränkten Spielräumen der Wettbewerbsbedingungen in der EU und in Mit- sind: Mit den zwei Investitionsmaßnahmegesetzen tel- und Westeuropa. Zum Ziel wird gesagt: „Auf haben Sie Ihre Aussagen zur schnellen Umsetzung diesem Weg wollen wir die Marktposition der deut- der Verkehrsprojekte deutsche Einheit selbst wider- schen Verkehrsunternehmen, insbesondere des Stra- legt. Mehr als zwei haben Sie nicht eingebracht, und ßengüterverkehrs und der Binnenschiffahrt, im inter- das erste ist noch beim Verfassungsgericht anhängig. nationalen Wettbewerb weiter stärken." Ich kann Sie haben es aufgegeben, parallel weiterzuplanen. Da dazu nur sagen: Die Betroffenen sehen dies ganz kann man doch wahrlich nicht von Beschleunigung anders. Frau Blank kann aus ihren Gesprächen mit reden! den deutschen Binnenschiffern sicher genau das Gegenteil berichten. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch kein Problem!) Die interessiert Sie Wettbewerbssituation der Bahn Wenn nun auch noch das Finanzierungsabenteuer in diesem Zusammenhang wohl überhaupt nicht Transrapid dazukommt, das vollständig aus dem Bun- mehr. Sie sind froh, daß Sie mit unserer Hilfe — nur so deshaushalt finanziert werden soll, frage ich mich, wie ging es; Ihren ursprünglichen Entwurf konnte man nur es gelingen soll, in den nächsten zehn Jahren zu einer in den Papierkorb werfen — die Bahnreform hinter auch nur ansatzweisen Verlagerung der Ost-West- sich gebracht haben. Nun soll die Bahn sehen, wo sie Transitverkehre von der Straße auf die Schiene zu bleibt. Wenn Sie dies als Schaffung fairer Wettbe- kommen. Was die Menschen wirklich interessiert, ist werbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern doch nicht die Frage, ob sie zehn Minuten schneller verstehen, haben Sie sich endgültig aus einer seriösen von Hamburg nach Berlin kommen, sondern ob sie Verkehrspolitik verabschiedet. schon in wenigen Jahren zwischen Zehntausenden Wo wir gerade beim Stichwort Seriosität sind: Kom- von niederländischen und polnischen Lkw auf der men wir doch einmal zum vielbeschworenen Ausbau Autobahn nach Berlin eingekeilt sind. der Verkehrsinfrastruktur. Der staunende Leser fin- (Beifall bei der SPD) det im Regierungsprogramm der CDU/CSU mit dem anspruchsvollen Titel „ Wir sichern Deutschlands Sie bleiben die Antwort auf diese Frage schuldig. Zukunft" folgenden Satz: Ebenso offengelassen werden die Fragen nach der Reduzierung der Luftschadstoffe und des Benzinver- Bis zum Jahr 2012 werden über 450 Milliarden brauchs. Im Entwurf der Koalitionsvereinbarungen D-Mark in die Verkehrsinfrastruktur investiert. war immerhin noch von einem „Pakt der Zukunft" mit Irgendein Schlaumeier hat also den gesamten Kosten- der Automobilindustrie und von einem Fünfliterauto- rahmen des völlig überzogenen Bundesverkehrswe- die Rede. Das war wenig genug. Jetzt geht es nur noch geplans hergenommen und die Gesamtkostenschät- um die Senkung des Durchschnittsverbrauchs um ein zung mit den Mitteln gleichgesetzt, die investiert Drittel bis zum Jahre 2005, ohne daß gesagt wird, wie werden können. man dieses Ziel erreichen will. Reden Sie doch einmal Klartext! (Zuruf von der CDU/CSU) Der heutige Durchschnittsverbrauch — und das — Sie wissen ganz genau, daß der vordringliche wissen auch Sie — liegt bei 9,8 Litern auf 100 Kilome- Bedarf nur die Hälfte dessen ausmacht. — Entweder ter. Das heißt, die Reduzierung um ein Drittel führt im war dies wieder eine bewußt. Täuschung der Wähle- Endergebnis in den nächsten zehn Jahren gerade rinnen und Wähler, oder es macht Ihre Inkompetenz in einmal zum 6,5-Liter-Auto, nicht zum Fünfliterauto der Verkehrs- und Finanzpolitik endgültig offenkun- und nicht zum Dreiliterauto. Wenn man dann noch dig. eine steigende Fahrleistung zugrunde legt, kann man (Beifall bei der SPD und der PDS) das Ziel einer Schadstoffausstoßreduzierung um ein Wenn man den Fünf-Jahre-Plan der Bundesregie- Drittel auch vergessen. Die Folge ist: Die deutsche rung bis zum Jahr 2000 kennt und weiß, welcher Automobilindustrie kann weiter in ihrem Dornrös- Bruchteil des Bundesverkehrswegeplans überhaupt chenschlaf verharren und somit auch die wichtigen eine reale Chance auf Umsetzung hat, stockt einem Märkte der Zukunft verschlafen. bei einer solchen Aussage im Regierungsprogramm Völlig ausgespart haben Sie — man möchte fast schon der Atem. Weder dort noch in der Koalitionsver- sagen: natürlich — auch die Verkehrssicherheit. Rund einbarung findet sich der Mut zu der dringend not- 10 000 Tote und eine halbe Million Verletzte im Jahr wendigen Prioritätensetzung. Mit „Allen wohl und werden offensichtlich nur noch achselzuckend zur niemandem wehe" werden Sie, liebe Kolleginnen und Kenntnis genommen. Wenn man weiß — und das tun Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 303

Elke Ferner Sie, meine Damen und Herren von der Koalition —, letzten Jahre selbstkritisch überdacht, geschweige daß jeder fünfte Verkehrstote sein tragisches Ende denn Lösungsansätze für die anstehenden Probleme dem Alkohol zu verdanken hat, ist das taktische benannt. Sie haben keine Antworten auf die zuneh- Verzögerungsspiel, das Sie in der letzten Wahlperiode menden Umweltbelastungen durch den Verkehrssek- betrieben haben, um nicht über die von SPD und vom tor. Sie machen der Industrie nicht die notwendigen Bundesrat geforderte Senkung der Promillegrenze Vorgaben, und Sie wollen weder die Diskussion noch entscheiden zu müssen, wirklich zynisch. Maßnahmen zur Anlastung der externen Kosten vor- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das löst natürlich anbringen — weder auf der nationalen noch auf der alle Verkehrsprobleme!) europäischen Ebene. Ökologische Verkehrspolitik, Verkehrsvermei- Es ist um so zynischer, als die Mehrheit im Bundestag dungsstrategien, Aufbau integrierter Transportket- für eine Absenkung der Promillegrenze vorhanden ten, Auf- und Ausbau der Schnittstellen und Schaf- war. Das wissen Sie genausogut wie ich. Zu diesem fung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen den Punkt werden wir Ihnen demnächst wieder einen einzelnen Verkehrsträgern — das hätten die Stich- Antrag servieren, und dann werden wir sehen, daß in worte in Ihrer Koalitionsvereinbarung sein müssen. diesem Haus die Mehrheit für eine Senkung der Promillegrenze vorhanden ist. Sie dagegen gefährden durch Ihre Untätigkeit bei der Schaffung fairer Rahmenbedingungen die Wett- (Beifall bei der SPD) bewerbsfähigkeit der Bahn, der deutschen Binnen- Es paßt ebenso ins Bild, daß Sie sich aus ideologi- schiffer und auch des deutschen Speditionsgewerbes. scher Verbohrtheit nicht zu einem Tempolimit durch- Sie setzen keine Prioritäten bei den Infrastrukturin- ringen können und daß Sie sogar die Zuständigkeit vestitionen zugunsten der Schiene oder des ÖPNV. der Europäischen Union für die Verkehrssicherheit, Sie wollen Ihr maßloses Straßenbauprogramm zu die Sie mit Ihrer Zustimmung zum Unionsvertrag Lasten künftiger Generationen durch den ungedeck- befürwortet haben, jetzt wieder verneinen. ten Wechsel weiterer sogenannter Privatfinanzierun- gen durchsetzen, und Sie tun nichts für die Verkehrs- Da paßt es ins Bild, daß eine seit langem vorliegende sicherheit. Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen zur Ver- besserung der Bus-Sicherheit monatelang in den Die Bevölkerung unseres Landes und die deutsche Schubladen des Ministeriums verschwand und nicht Verkehrswirtschaft sind nicht länger bereit, das so veröffentlicht wurde, weil man vor der Wahl offen- hinzunehmen und Ihr Herumgewurstele weiter zu sichtlich jede Auseinandersetzung — und sei sie noch akzeptieren. Der öffentliche Unmut über das Fehlen so notwendig — scheute. eines überzeugenden Gesamtkonzepts ist schon heute unüberhörbar. Wir werden unsere Vorschläge kommen natürlich in der Luftverkehr und Schiffahrt dazu machen. Koalitionsvereinbarung auch nicht vor. Offensichtlich ist die Koalition der Meinung, daß auf diesen Gebieten (Zuruf von der CDU/CSU: Da sind wir aber auch nichts zu tun ist: nichts zu tun hinsichtlich der gespannt!) künftigen Luftverkehrsbeziehungen der Staaten der Sie sind bei den Wahlen noch einmal knapp davon- EU zu den USA, die dort heute schon heftig diskutiert gekommen. Ob das eine vernünftige, solide Ge- werden; nichts zu tun beim Umweltschutz im Flugver- schäftsgrundlage für die kommenden vier Jahre ist, kehr und zur Vermeidung weiterer Schäden der werden wir sehen. Ihre Regierungserklärung und die Ozonschicht. dürftige Koalitionsvereinbarung jedenfalls sind für (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wollen wir da auch uns keine gemeinsame Geschäftsgrundlage für wei- ein Tempolimit aufnehmen?) tere Fortschritte in der Verkehrspolitik. — Lieber Kollege F riedrich, Sie wissen ganz genau, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten daß die Nichtbesteuerung des Flugbenzins natürlich der PDS) auch etwas mit den Preisen zu tun hat, die für Flugtickets bezahlt werden müssen. — Sie wollen nichts tun, um das ständig weitere Ausflaggen, das Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- Lohn- und Sicherheitsdumping in der deutschen ordnete Gisela Altmann — Verzeihung, Irrtum mei- Schiffahrt zu verhindern. Sie tun auch nichts, um die nerseits. ruinöse Wettbewerbssituation der deutschen Binnen- Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Ver- schiffahrt zu verbessern. kehr, Matthias Wissmann. Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Die Liste der offenen Fragen ließe sich weiter fortfüh- ren. Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte Ihre EU-Ratspräsidentschaft haben Sie sehr zur natürlich der Frau Kollegin gern den Vortritt gelassen, Verärgerung Ihrer europäischen Kollegen für Wahl- aber wahrscheinlich zieht sie es vor, nach mir zu kampfzwecke mißbraucht. Die längst überfällige Ver- sprechen. kehrswende in Europa haben Sie jedenfalls nicht eingeleitet, Herr Minister. Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem, was Frau Ferner gesagt hat, fällt (Beifall bei der SPD) mir das Wort des Abgeordneten in Sie haben mit Ihren Koalitionsvereinbarungen seinem Debattenbeitrag ein, wonach man eines nicht noch nicht einmal Ihre dürftige Verkehrspolitik der machen wolle: eine Oppositionspolitik, die alles das, 304 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Bundesminister Matthias Wissmann was die Regierung mache, für falsch erklärt. Eine den Menschen eine Perspektive zu geben, die sie in solche Oppositionspolitik halte er für „dämlich". einer Welt, in der die Belastung der Umwelt ohnehin groß genug ist, nicht ersticken läßt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn man die Politik der Regierung so undifferen- Wir setzen einen klaren Schwerpunkt bei der Ent- ziert beurteilt, wie Frau Ferner das soeben getan hat, wicklung moderner Verkehrstechnologien, bei ei- dann kann mit der sachlichen Einstellung zum Thema nem intelligenteren Management im Personen- und irgend etwas nicht stimmen. Herr Daubertshäuser, der Güterverkehr. 30 % des Güterverkehrs sind Leerver- frühere SPD-Sprecher für Verkehrspolitik, hat am kehr. 40 % des Verkehrs in vielen Städten ist park- Ende der letzten Wahlperiode erklärt, man könne in platzsuchender Verkehr. Wer das Wort von der Ver- der Verkehrspolitik sicher das eine oder andere an der kehrsreduzierung und Verkehrsvermeidung nicht zu Regierung aussetzen, aber eines könne man nicht einer Leerformel werden lassen will, der muß dafür bestreiten: Es sei nie so viel in der Verkehrspolitik sorgen, daß wir mit elektronischen Leitsystemen und positiv entschieden worden wie in den beiden letzten mit moderner Logistik solch unnötigen Verkehr ver- Jahren. — Meine Damen und Herren, das kann doch ringern können. Die City-Logistik in Kassel hat mittels nicht bestritten werden. Das kann sich doch nicht in Einsatz moderner Verkehrsleitsysteme den Stadtgü- wenigen Wochen geändert haben. terverkehr bestimmter Speditionen und Fuhrunter- (Beifall bei der CDU/CSU) nehmen von 17 auf 4 verringern können. Darin liegt Zukunft. Technische Lösungen sind die Bedingung Die Bahnreform, die Lufthansa-Privatisierung, die dafür, daß wir unserer Verkehrsprobleme Herr wer- erstmalige Prioritätensetzung für die Schiene, das den, Planungsvereinfachungsgesetz, die Transrapid-Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) scheidung — diesen Weg werden wir natürlich wei- tergehen, und das tun wir ja mit unseren Konzepten nicht leere Programmrituale, wie sie soeben ange- auch in der Koalitionsvereinbarung. sprochen worden sind. Eines will ich klar sagen: Wer an der Länge von Wir müssen natürlich die Umsetzung der von allen Texten in Koalitionsvereinbarungen die Qualität von Parteien dieses Hauses getragenen Bahnreform vor- Politik mißt, der hat noch etwas mit dieser Seminar- anbringen. Deswegen kommt am 1. Januar 1996 die verliebtheit sozialdemokratischer Dogmatik zu tun, Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs die an der Länge der Exegese von Texten die mit riesigen Folgeinvestitionen in den gesamten Zukunftsfähigkeit von Politik mißt. Schienenpersonenverkehr. Deswegen stärken wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Schnittstellen, Güterverkehrszentren und Umschlag- bahnhöfe; denn wir wissen, daß an den schwachen Natürlich ist die Verkehrspolitik ein wichtiger Mit- Schnittstellen zwischen Straße und Schiene eines der telpunkt unserer gesamten Wirtschafts- und Umwelt- Probleme bei der Entwicklung des Verkehrs der politik: 27 Milliarden DM Investitionen auch im Haus- Zukunft und bei der Verlagerung des Verkehrs halt 1995, erstmals mit dem neuen Bundesverkehrs- besteht. Fast 4 Milliarden DM werden wir in diesen wegeplan, den wir jetzt Jahr für Jahr abarbeiten, Bereich investieren. Deswegen werden wir so bald (Elke Ferner [SPD]: Aber die Straße arbeiten wie möglich drei eigenständige Unternehmen unter Sie zuerst ab!) dem Dach der Bahn AG für Personen-, Güter- und Schienenwege schaffen und Schritt für Schritt Aktien mehr Investitionen in die Schiene als in die Straße, — teilweise auch in private Hände — ausgeben.- ohne die Straße zu vernachlässigen. Deswegen haben wir die Lufthansa-Privatisierung Eines ist ganz wichtig: Wir werden auch in Zukunft eingeleitet, weil wir an Privatisierung und Deregulie- Engpässe auf Autobahnen und Bundesstraßen besei- rung als Mittel moderner Verkehrspolitik glauben. tigen, im notwendigen Umfang Ortsumgehungen Wir werden alles daransetzen, daß noch im Jahre 1995 bauen und vor allem das deutsche Schienennetz der Anteil des Bundes an der Lufthansa auf Null konkurrenzfähig gegenüber der Straße machen müs- heruntergeht. sen. Daß dabei der Nahverkehr eine große Rolle spielt, weiß jeder, der nicht Pauschalreden hält, sondern sich Wir haben aber keine blinde Privatisierungspolitik mit der Sache beschäftigt. verfolgt. Nehmen Sie das Beispiel Lufthansa. Sie ist immer von günstigen staatlichen Rahmenbedingun- Gestern sind sich die Länderverkehrsminister, das gen begleitet worden: durch die Schaffung des Bundesverkehrsministerium und die Bahn AG bei deutsch-amerikanischen Luftverkehrsabkommens, folgenden Fragen nähergekommen: Wie können wir durch die Lösung der Altersversorgungsproblematik eigentlich den Nahverkehr stärken? Wie können wir bei der Lufthansa. Denn wir wissen genau: Wir brau- die Trassenpreise der Bahn so gestalten, daß der chen als große Industrienation in Zukunft einen Glo- Schienenpersonenverkehr Zukunft hat? Wir alle wis- bal Player, der in der Lage ist, die Exportposition sen doch: 1996, 1997, 1998, 1999 und 2000 werden wir Deutschlands, aber natürlich auch die Schnittstellen- mehr Geld für die Entwicklung des Schienenperso- funktion Deutschlands auf den europäischen Märkten nenverkehrs und des öffentlichen Nahverkehrs ein- zu behaupten. Die Lufthansa ist heute besser denn je setzen als irgendwann zuvor in der Geschichte unse- in der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. res Landes, weil wir wissen, daß wir hier zukünftig Auch das ist ein Erfolg unserer Politik. mehr investieren müssen, um Verkehr von der Straße wegzuholen und um gerade in den Ballungsräumen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 305

Bundesminister Matthias Wissmann Meinen Damen und Herren, Sie sprechen von Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Gila Schiffsbau und der Tendenz, das Ausflaggen zu Altmann, Sie haben das Wort. stoppen. Wir haben im Haushalt 1995 rund i00 Mil- lionen DM eingestellt, um die Schiffahrtsposition Deutschlands zu stärken. Wir tun dies auch auf Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- europäischer Ebene. Wir haben bei der letzten Sit- NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und zung der europäischen Verkehrsminister erstmals Herren! Herr Wissmann, Sie haben Joschka Fischer große Fortschritte erreicht: nicht nur bei der Entwick- zwar richtig zitiert, aber die Verkehrspolitik hat er lung von Wettbewerbsregeln für den Seeverkehr, damit bestimmt nicht gemeint. sondern auch bei der Schiffssicherheit. Wenn wir jetzt ( [CDU/CSU]: Davon versteht endlich bei der Hafenstaatskontrolle eine gemein- er auch nichts!) same europäische Position haben, wenn wir bei der — Ich denke, er ist omnipotent, er kann auch das. — Fährschiffsicherheit und bei der Ausbildung von See- leuten eine gemeinsame europäische Position entwik- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das sieht m an ihm keln, um die Qualitätsstandards zu steigern, dann sei an!) dies, so sagt der französische Verkehrsminister, auch Die Verkehrspolitik der Bundesregierung läßt sich ein großer Erfolg der deutschen Präsidentschaft. wie folgt charakterisieren: Sie wissen nicht, wo es Wenn wir gemeinsam in Europa vorankommen, darf langgeht, aber das mit aller Macht. Da werden vom man das, so finde ich, auch hier im Deutschen Bun- Kanzler höchstpersönlich Legenden gesponnen, um destag sagen. mit dem Monstrum Planungsbeschleunigungsgesetz mit den 17 sogenannten Maßnahmegesetzen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wie kommen Sie denn auf 17 Maßnahmegesetze? Es gibt zwei Meine Damen und Herren, zu Recht wurde die Investitionsmaßnahmegesetze! Die habe ich Notwendigkeit angesprochen, den Autoverkehr um- zufälligerweise mit beschlossen!) weltverträglicher zu machen. Auch hier haben wir als — ich kann zählen —, die nichts weiter sind als eine Bundesregierung ein engagiertes Programm vorge- gigantische Entdemokratisierungsmaßnahme, Ein- legt. Wir wollen einen Zukunftspakt mit der Automo- spruchsrechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie bilindustrie entwickeln, der aus drei Bestandteilen Verbänden zu verhindern. besteht: zum ersten aus der Verbesserung der euro- päischen Abgasgrenzwerte — nach Euro I 1993 und (Horst Friedrich [F.D.P.]: Zwei Maßnahme Euro II 1996 folgt für 1999 jetzt Euro III —, zum zweiten gesetze! — Weitere Zurufe von der F.D.P. aus der emissionsorientierten Umgestaltung der Kfz- und der SPD) Steuer für den Pkw — in der letzten Legislaturperiode — Sie können ja untereinander diskutieren, aber mich haben wir bereits die Lkw-Steuer emissionsorientiert bringt das ein bißchen aus der Fassung. umgestaltet, als erstes Land in Europa; auch hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben wir die Vorreiterrolle wahrgenommen —, und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der schließlich aus einer Verpflichtung der Industrie, den SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Dann haben Kraftstoffverbrauch Schritt für Schritt zu senken. Bei Sie sich etwas Falsches aufgeschrieben, Frau den in Deutschland hergestellten Autos erreichen wir Kollegin!) gegenwärtig einen durchschnittlichen Kraftstoffver- brauch von etwas mehr als sieben Liter. Unser Ziel Ausgerechnet die Planungsfrist bei Schienenstrek- muß ein Kraftstoffverbrauch von etwas mehr als fünf ken muß als Beleg dafür herhalten, daß jeder Rest von- Liter im Jahr 2005 bei den in Deutschland hergestell- Transparenz vernebelt werden soll, um der vereinig- ten Pkw sein. ten Bleifußlobby die Betonpisten zu ermöglichen. Ausgerechnet der Aufbau Ost wird vorgeschoben, um Meine Damen und Herren, Umweltpolitik heißt bei die Massenmotorisierung noch ein paar Jahre über die uns nicht leere Reden. Wir machen Umweltpolitik in Runden zu retten, indem mühsam erkämpfte Umwelt- konkreten Schritten, die wir dann auch durchsetzen und Klagerechte zurückgenommen werden. und nicht nur als Programmformeln vor uns hertra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber die Menschen haben gelernt, sich gegen solche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gigantischen Projekte zu wehren, die im Schweinsga- lopp durchgepeitscht werden sollen, z. B. das Milliar- Insofern wird die Verkehrspolitik der Zukunft auch dengrab Transrapid oder der Donauausbau zwischen den Diskurs im Parlament verlangen. Dazu sind wir Straubing und Vilshofen. gerne bereit, auch über die klassischen Grenzen von Regierung und Opposition hinweg. Meine Bitte ist Wenn es zu Planungszeiträumen von mehr als nur: Halten Sie keine pauschalen Reden, sondern 20 Jahren kommt, dann handelt es sich um 20 Jahre fördern Sie diesen Diskurs durch intelligente Anre- verfehlte Straßenbaupolitik. Maßnahmen wie die A 49 gungen! Es würde der gemeinsamen Verkehrspolitik Kassel-Gießen oder die A 4 Olpe-Hattenbach sind dienen. Beispiele dafür. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Ist sehr notwendig! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Deswegen habt ihr in Hessen auch bei der Lothar Ibrügger [SPD]: Sehr überheblich, Kommunalwahl verloren! — Gegenruf von Herr Minister!) der SPD: Ihr habt es nötig!) 306 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Gila Altmann (Aurich) — Ich weiß, Sie hören das nicht gern. Aber es ist nun Manfred Grund (CDU/CSU): Frau Kollegin, sollte es einmal so. — Große Schnellbahnstrecken dagegen tatsächlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, wie Hannover-Würzburg konnten von der Planung daß das erste Verkehrsprojekt deutsche Einheit, das bis zur Inbetriebnahme in weniger als zwölf Jahren fertiggestellt worden ist, der zweigleisige und realisiert werden — trotz Bürgerbeteiligung und Ver- elektrifizierte Ausbau der Bundesbahnstrecke Halle bandsklage. Diese Instrumente haben sich mitnichten Kassel gewesen ist, und zwar für 400 Millionen DM, als Hemmnis, sondern — im Gegenteil — als Pla- bevor zum Bau der A 82 überhaupt ein Spatenstich nungsverbesserung und ökologische Optimierung der getätigt worden ist? Trasse erwiesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Heute zieht die Bahn bereits von sich aus diesen NEN): Das ist richtig, nur von Dekorationsobjekten Sachverstand heran, so beispielsweise im Bereich Köln allein haben wir leider nichts. Es muß ein Gesamtkon- Frankfurt und beim Ausbau Dortmund-Kassel. Bürokra- zept her! Da sieht die Gesamtbilanz leider ganz anders tisches, nicht ökologisches Denken hat bisher die Pla- aus. — nungszeiträume zum Teil bis zu 30 % verlängert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Das ist leider wahr!) sowie bei Abgeordneten der SPD und der Jetzt muß ich ein paar kritische Worte zur SPD — PDS) Die Bahn ist von Ihnen 40 Jahre lang vernachlässigt (Renate Blank [CDU/CSU]: Jetzt kriegt ihr worden. Das läßt sich auch mit einer einmaligen euer Fett ab!) Investition von schlappen 200 Milliarden DM nicht bei der CDU weiß man ja ohnehin, was man hat — beheben. sagen: Das, was Sie von der SPD gesagt haben, kann (Heiterkeit und Zurufe) man nur unterstützen, nur leider sieht die Situation vor —200 Milliarden DM kann ich nicht einmal auf einmal Ort anders aus. Auf kommunaler und Länderebene ist zählen, aber man muß ja sehen, was sonst noch die SPD die Betonlobby per se. ausgegeben wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Durch die Privatisierung der Bahn droht dem regio- Das muß ich einfach einmal sagen. nalen Schienenverkehr das finanzielle Aus — und das, Aber ich hoffe, daß bei der nächsten Abstimmung wo gerade der Nahverkehr dringend eine Sanierung über einen gemeinsamen Antrag von SPD und Grü- braucht, die mit den Mitteln der Bahnreform allein nen Ihre Fraktion vollzählig anwesend ist. nicht zu leisten ist. Das Bahnnetz muß wieder geschlossen werden. Das heißt aber nicht in erster (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Linie Schnellverkehrsstrecken, sondern viele Lücken- Um noch einmal auf den Bundesverkehrswegeplan schlüsse in der Fläche, besonders im Grenzbereich zur zurückzukommen: Das ist das gigantischste Flächen- ehemaligen DDR. versiegelungsprogramm, das diese Republik je gese- hen hat. Das wollen Sie jetzt mit Ihrem Beschleuni- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gungsgesetz umsetzen, allerdings so, daß es keiner sowie bei Abgeordneten der SPD und der merkt. PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 90 % aller Verkehre sind Nahverkehre. Der Ausbau des ÖPNV heißt Mobilität schaffen für alle und nicht Dabei soll mit der Angabe — ich zitiere Herrn Wissmann - nur für eine exklusive Minderheit. Denn wenn Sie von sinngemäß —, es werde erstmals auch 50 % Schienen- Mobilität reden, meine Herren von der CDU, dann ausbau gefördert, der staunenden Bevölkerung vorge- meinen Sie Mobilität für diejenigen, die es sich leisten macht werden, es handele sich um ein Gleichziehen der können, und zwar auf Kosten derjenigen, die abge- Investitionen in Straße und Bahn. Sie vergessen aller- hängt sind: Kinder, alte Menschen, Alleinerziehende dings, zu erwähnen, daß Sie die Bahn 40 Jahre lang und Frauen. Männer besitzen das Auto, Frauen erle- vernachlässigt, ja verkommen ließen. digen die Familienarbeit zu Fuß oder mit dem Fahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rad. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wissen Sie, wie viele Millionen Autos es in Deutschland gibt?) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Ja, aber ich weiß auch, wie hoch der Verteilungs- anteil prozentual ist. 70 % der Autos gehören den Männern. — Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Geht das von meiner Redezeit ab? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Vizepräsident Hans Klein: Nein. PDS) Als Ausgleich dürfen die Menschen ohne Auto unter Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Folgen des ungebremsten und subventionierten NEN): Dann bin ich mal gespannt. Autowahns leiden. (Heiterkeit) (Große Unruhe im Hause) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 307

Gila Altmann (Aurich) — Hört mir hier überhaupt noch jemand zu? kann. Es wäre besser gewesen, Sie hätten mehr (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gemacht. der SPD und der PDS) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ohne uns hät ten Sie gar nichts hingekriegt!) 8 000 Unfallopfer pro Jahr, Stickoxide, Benzol und Lärm machen besonders Kinder krank. Hier gilt es — Es ist ja ein Skandal, daß Ihre drei Verhandlungs- — das ist an die Adresse von Frau Nolte gerichtet —, führer in der Halbzeit zurückgezogen worden sind, das geborene Leben zu schützen, Lebensräume und weil sie Angst hatten, wieder aufgestellt werden zu die Gesundheit der Kinder zu erhalten, anstatt die müssen. Kinder im Sommer wegen Ozonalarms wegschließen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Jetzt werden zu müssen, damit sich ihre Väter in ihren bunten Sie auch noch frech!) Blechkisten weiterhin selbstverwirklichen können. Denken Sie doch erst einmal nach. (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Elke Ferner [SPD]: Die Bahnreform ist an der der SPD und der PDS) F.D.P. gescheitert!) Es geht hier nicht darum, mit Rezepten von vorge- Die Postreform, die Bahnreform und auch das Woh- stern zu reagieren, sondern um neue Mobilitätskon- nungsbauförderungsgesetz 1994 sind nur drei Beispiele zepte, neue Verkehrsträger und Verkehrsvermei- dafür, daß wir in der letzten Wahlperiode konsequent dung. Ihre Versprechungen von Rio, bis 2005 die gearbeitet haben. Es ist auch schlicht und ergreifend CO2-Emissionen um 25 % zu senken, haben sich nicht notwendig, einen Bundesverkehrswegeplan als bereits als Versprecher entpuppt. Wenn der Bundes- Bestandteil in eine Koalitionsvereinbarung hineinzu- verkehrswegeplan mit seinen 11 500 km Fernstraßen schreiben, wenn er schon beschlossen ist. tatsächlich bis 2010 realisiert wird, bedeutet das laut (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!) Bundesumweltamt einen CO2-Anstieg um 15 %. Ich kann es nur wiederholen: Es kommt nicht darauf an, wie lang oder wie kurz die Vereinbarung ist, sondern darauf, daß sie umgesetzt wird. Wir haben in Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, Ihre der letzten Periode bewiesen, daß wir tatkräftig sind. Redezeit ist schon ein Stück überschritten. Bitte nur Wir werden das in dieser Periode fortsetzen, liebe noch einen Schlußsatz. Kollegin Elke Ferner. (Renate Blank [CDU/CSU]: Das reicht Gerade in der Verkehrspolitik hat die Koalition ihre auch!) Hausaufgaben hervorragend gemacht. Die Jahrhun- dertwerke Bahnreform, Bundesverkehrswegeplan, Reform des Planungsrechtes und auch das Tarifaufhe- Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bungsgesetz sind verabschiedet. Wir hätten uns m an NEN): Wir wissen, daß in der Bevölkerung die Bereit- -chen Schritt deutlich mutiger vorstellen können. Aber schaft für einen Strukturwandel in der Verkehrspoli- es ist eben so: Man muß in der Koalition ein bißchen tik vorhanden ist, wie der letzte Ozonalarm im Som- aufpassen. Man muß auch mit der Opposition im mer 1994 gezeigt hat. Verschließen Sie nicht länger Bundesrat ein bißchen schäkern. die Augen und die Ohren, sondern schaffen Sie (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dornrös endlich die gesetzlichen Rahmenbedingungen! Wir chen!) vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden Ihnen in Zukunft permanent und ungebremst im Nacken sit- zen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Friedrich,- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Danke schön. Schily? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) Horst Friedrich (F.D.P.): Nein. In der neuen Wahlperiode wird es darum gehen, diese Erfolge zu sichern und auszubauen. Wir denken Herr Kollege Horst Fried- Vizepräsident Hans Klein: daran, dies im Sinne einer leistungsfähigen und rich, Sie haben das Wort. umweltschonenden Verkehrsinfrastruktur zu tun. Lassen Sie auch mich mit einem Zitat fortfahren, Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr allerdings von . verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ein guter Kollegin Altmann, ich freue mich auf die Zusammen- Mann!) arbeit im Verkehrsausschuß mit Ihnen. Vielleicht Er hat im Zusammenhang mit dem Transrapid an den können wir uns am Ende der Periode etwas mehr an Betriebsratsvorsitzenden der Thyssen Henschel Sachargumenten orientieren als an reinen Phrasen. GmbH geschrieben: (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der Transrapid ist für mich unter technologischen Buh!) Aspekten eine sehr interessante und anspruchs- Die Bonner Koalition hat in der letzten Wahlperiode volle Entwicklung. Ein Vorhaben also, das inso- große Erfolge erzielt, auch wenn es die Opposition weit durchaus einer zukunftsorientierten Tech- nicht wahrhaben will. Ich nenne hier die Postreform, nologiepolitik entspricht, wie sie von der SPD auf die leider am Widerstand der SPD so weit gescheitert Bundesebene früher praktiziert wurde ist, daß man nur noch von einem Reförmchen reden — man bedenke „früher" — 308 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Horst Friedrich und heute Wir haben allerdings auch bewiesen, daß die Ver- — wahrscheinlich nicht mehr — kehrsprojekte Deutsche Einheit beispielhaft auch dafür stehen können, daß mit privatem Planungskapi- gefordert wird. Und Du tal schneller, zügiger und deutlich effizienter als — sagt Rudolf Scharping zu Herrn Vetter — bisher umgesetzt und geplant werden kann. Das muß man auch einmal sagen. Das, was die DEGES und die hast mit Deiner Feststellung recht, daß man Planungsgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit hier einem derartigen technologischen Sprung nicht geleistet haben, ist beispielhaft. mit den Maßstäben oder gar Ideologien von vorgestern gerecht werden kann. (Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/ CSU) Wunderbar, recht hat der Mann. Nur, setzen Sie das dann bitte auch um. Jetzt muß es darum gehen, die Finanzierung sicher- zustellen. Da unterstütze ich den Verkehrsminister bei (Siegfried Scheffler [SPD]: Zitieren Sie wei seinem Ziel, über neue Betreibermodelle und Finan- ter!) zierungsmöglichkeiten nachzudenken. Nachdenken Wir versuchen, den Verkehr von morgen nicht mit ist nicht verboten. Man muß dann die Ergebnisse den Rezepten von gestern zu bewältigen. Wir sind entsprechend bewerten und umsetzen. z. B. dafür, daß die Verkehrsströme auf der Autobahn (Elke Ferner [SPD]: Sie haben noch nicht nicht mit einem starren Tempolimit geregelt werden, einmal die Pilotprojekte abgewartet, um sie sondern mit intelligenten Verkehrsleitsystemen. Sie zu bewerten!) sind nämlich wesentlich effizienter. Der zweite große Schwerpunkt der jetzigen Legis- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne laturperiode aus verkehrspolitischer Sicht, meine ten der CDU/CSU) Damen und Herren, ist die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im liberalisierten Europa. Gerade wir als Liberale, die dafür eingetreten sind, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Friedrich, (Elke Ferner [SPD]: Deregulierung über die Kollegin Matthäus-Maier möchte eine Zwischen- alles!) frage stellen. daß Marktbeschränkungen fallen, haben aus meiner Sicht das Recht, aber auch die Pflicht, ebenso konse- quent von den anderen Ländern in Europa zu verlan- gen, daß die zugesagten Harmonisierungsbedingun- Horst Friedrich (F.D.P.): Nein, ich möchte, da ich gen auch eintreten und die gemeinsam beschlossenen drei Themenkomplexe habe, im Zusammenhang refe- Richtlinien umgesetzt werden. Das ist nicht nur im rieren. Ich bitte um Verständnis. Fiskalbereich wichtig. Die größeren Probleme liegen (Siegfried Scheffler [SPD]: Er soll bei der im sozialpolitischen Bereich. Es macht den Kostenfak- Wahrheit bleiben!) tor aus, wenn ein holländischer LKW-Unternehmer mit seinem Fahrer 180 000 km im Jahr fahren kann, — Ich bleibe bei der Wahrheit. Ich kann alles belegen, während ein deutscher nur 120 000 km mit einem Herr Kollege Scheffler. Fahrer zustande bringen kann. Da sind die eigentli- Wer das Auto allerdings verteufelt, wer z. B. Mittel für chen Knackpunkte. Das müssen wir aufnehmen. den Fernstraßenbau kappen will und sich dann hinter- her beschwert, daß im Osten keine Ortsumgehungen (Beifall bei der F.D.P.) - gebaut werden, macht keine Politik, der macht Verhin- Ich bin darauf gespannt — das wird ein weiterer derungspolitik. Er darf sich dann allerdings auch nicht wichtiger Punkt sein —, wie der Bundesfinanzminister wundern, wenn in der deutschen Automobilindustrie einen vernünftigen Vorschlag zur Senkung der Kfz- Arbeitsplätze fehlen und dann wieder die Klage kommt, Steuer für LKW zwischen 12 und 16 t vorlegt. Das muß daß wir für die Arbeitsplätze nichts tun. Jede Konse- zügig umgesetzt werden. quenz aus einer Handlung heraus hat auch eine Gegen- Das gleiche gilt natürlich auch für eine konsequente reaktion. Das muß man endlich akzeptieren. Da nützt es Umsetzung der Bahnreform. Ich habe heute gelesen, dann auch nicht, eine „Abwrackprämie" zu finanzieren daß die Bahn daran denkt, 20 IC-Züge im Güterbe- oder zu fordern, die kurzfristig die Konjunktur erhöht reich einzusetzen, die Schnellgüter befördern müs- und, wenn sie ausgelaufen ist, eine neue Subvention sen. Hervorragend. Nur frage ich mich: Warum denn braucht, um die abschwingende Konjunktur auszuglei- erst jetzt? Warum ging das denn nicht eher? Ich hätte chen. So geht es nicht. dazu keine anderen gesetzlichen Rahmenbedingun- Der Verkehrsbereich hat — und das wird sich noch gen gebraucht. Das ist eine rein organisatorische steigern — bei der Angleichung der Lebensverhält- wirtschaftliche Aufgabe. nisse in Ost und West eine wichtige Funktion. Wir (Elke Ferner [SPD]: Richtig!) haben deshalb immer wieder betont — und dabei bleiben wir; das gilt auch für die neue Wahlperiode —, Dazu brauche ich keinerlei gesetzliche Rückendek- daß die Verwirklichung der Verkehrsprojekte Deut- kung. sche Einheit absolute Priorität hat. Das muß zügig (Beifall bei der F.D.P. sowie bei der CDU/ umgesetzt werden. CSU) (Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/ Das gilt im übrigen auch bei der Umsetzung der CSU) Nahverkehrskonzepte. Was hier mit dem Nichtver- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 309

Horst Friedrich kauf der Bahn-Busgesellschaften betrieben wird, ist wollen; das sind Tatsachen, die nicht zu leugnen schlicht und ergreifend ein Skandal. Die einzige sind. Bahn-Busgesellschaft, die tatsächlich verkauft wurde, (Beifall bei der F.D.P. — Beifall des Abg. die Regionalbusgesellschaft in Augsburg, hat es Clemens Schwalbe [CDU/CSU]) innerhalb von zwei Jahren fertiggebracht, von 2,3 Mil- lionen DM Defizit im Jahresergebnis auf ein Plus von Darüber hinaus ist selbstverständlich auch bei Mie- 1,4 Millionen DM zu kommen, ohne daß eine einzige ten in den Spitzenlagen, zumindest bei Neuvermie- Linie stillgelegt wurde. Sie hat allerdings erreicht, daß tungen, eine Trendwende zu erkennen. Das ist ein 35 % mehr Beförderung zu verzeichnen ist, insbeson- erster Schritt zu einer Verbesserung des sozialen dere im Schülerverkehr und im Bereich der Personen, Friedens. die zur Arbeit fahren. Das ist die richtige Antwort: eine Wir werden alle Initiativen ergreifen, die dazu Umstellung der Angebote, weg vom reinen Fahrplan- führen, mehr Menschen zu Wohneigentum zu verhel- angebot, hin zur Nachfrage und zum Bedarf, und dann fen. Das heißt für uns auch, die Vorspar-, die Bauspar- das Angebot eines zweckgerechten Nahverkehrs. Der förderung deutlich zu verstärken. Es war die F.D.P., kostet nicht mehr Geld; er bringt mehr ein. Das ist die die Arbeitnehmersparzulage, die gestrichen wer- genau die Situation, zu der wir gelangen müssen. Da den sollte, erhalten hat. Wir haben sie gerettet, auch werden wir den Herrn Dürr lange genug triezen, wenn uns das keiner damit er da weitermacht. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]:... glaubt!) (Beifall bei der F.D.P.) zugetraut hat. Dann sind wir bei dem zweiten Punkt. Es macht Meine Damen und Herren, ich freue mich auf die überhaupt keinen Sinn, in der Fläche ausschließlich neue Periode. Wir werden sehr intensive und leben- auf den Verkehrsträger Schiene zu setzen. Das wird dige Gespräche führen. eine Nullnummer. Es kann nicht sein, daß jeder kleine Ich danke für die Aufmerksamkeit. Ort an eine Schiene angebunden ist. Der umwelt- freundlichste Verkehrsträger das gibt selbst die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Bahn zu in der Fläche ist nicht die Schiene, sondern ten der CDU/CSU) der Bus. (Elke Ferner [SPD]: Hat jemand etwas ande Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin res behauptet?) Dagmar Enkelmann. — Doch, hier wurde gerade eine andere Aussage gemacht. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Herr Präsident! Es bringt überhaupt nichts, dies so hochzustilisieren Meine Damen und Herren! Es muß verkehrspolitisch und zu ideologisieren. Der Bus muß eine entspre- sofort gehandelt werden. Im Hinblick auf die Klima- chende Einbindung erhalten. Allerdings bedeutet problematik ist vor allem der mit dem Verkehrswachs- das, daß man sich mit Privatisierung befassen muß. tum verbundene steigende Ausstoß an Kohlendioxyd, Hauptverursacher des anthropogenen Treibhausef- Auch über die Umweltproblematik des Treibstoffs fektes, von entscheidender Bedeutung. Zentrale wird neu nachzudenken sein. Es nützt überhaupt Größe einer klimaverträglichen Verkehrspolitik ist nichts, eine Absenkung des Schwefelgehaltes im die Verkehrsvermeidung. Diesel zu fordern, die zur Folge hätte, daß 1 t NOX, die Sehen Sie mich nicht so ängstlich an, Herr Kollege reduziert wird, eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes um Wissmann! Gerade das haben Sie nicht in Ihre Koali- 10 t einbrächte. Für uns würde das bedeuten, daß wir - tionsvereinbarung geschrieben. Die Quelle ist aber im Jahr 38 000 t NO X einsparen, aber einen Mehraus- trotzdem ganz interessant; es handelt sich um Worte stoß von CO2 in Höhe von 380 000 t haben. Das kann des Kollegen Lippold (CDU), seines Zeichens Vorsit- eigentlich keine logische Umweltpolitik sein. Auch zender der letzten Enquete-Kommission „Schutz der darüber müssen wir neu nachdenken, und zwar mit Erdatmosphäre", den wir gestern in vollem Einsatz der Mineralölindustrie und der Autoindustrie. Das erleben konnten. Man wünscht sich fast, Sie hätten wird von uns Liberalen, der wir der Forschung ver- den Kollegen Lippold in die Verhandlungskommis- pflichtet sind, deutlich gemacht. sion genommen, aber natürlich mit dem eben zitierten (Zuruf von der F.D.P.: Nachwachsende Roh Ansatz. Daß Sie es nicht getan haben, spricht stoffe sind die Alternative! Biodiesel in den Bände. Tank!) (Beifall bei der PDS) — Auch über die nachwachsenden Rohstoffe wird Statt dessen finden wir in den ersten Äußerungen nachzudenken sein. der Bundesregierung hohle Sprechblasen, die ein Ich muß, meine Damen und Herren, zum Abschluß Hohn für die mühevolle Arbeit der Sachverständigen noch zwei Worte zur Bauministerin sagen. Herr Bau- und Abgeordneten der Enquete-Kommission sind. So minister Töpfer, ich wünsche Ihnen in Ihrem neuen kann man nur zu dem Schluß kommen: Außer Spesen Amt viel Glück. Die Vorgängerin hat in ihrer Amtszeit nichts gewesen! bestimmte Rahmendaten gesetzt. Unter Irmgard Unter der schillernden Überschrift „Schaffung einer Schwaetzer sind die Fertigstellungszahlen bei Woh- zukunftsgerechten Verkehrsinfrastruktur" findet sich nungen so weit gestiegen, daß heute das Schlagwort in der Koalitionsvereinbarung ein Sammelsurium von gelten kann: In jeder Minute, die in Deutschland Phrasen, die alles und gar nichts aussagen, wie z. B. abläuft, wird eine Wohnung fertiggestellt. Das hat es die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutsch- noch nie gegeben. Sie können erzählen, was Sie land durch den Aufbau moderner Verkehrswege. Das 310 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994

Dr. Dagmar Enkelmann heißt doch nichts anderes als die Übertragung des Gutachten zeigt, daß vorgezogene Bürgerbeteiligung Dauerstaus westdeutscher Straßen auf den Osten. Die eher zu einer Beförderung und einer Beschleunigung Chance einer grundsätzlich neuen, ökologisch orien- von Verfahren geführt hat. tierten Verkehrspolitik aber, die durchaus beispiel- Was diese Bundesregierung will — sie setzt damit haft für den Westen sein könnte, wird nicht begriffen wahrlich ihre sogenannte „erfolgreiche" Politik der und schon gar nicht genutzt. letzten vier Jahre fort , Ein anderes Beispiel: „Die umweltfreundlichen Ver- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wieso „soge kehrsträger Bahn und Schiff werden gestärkt." Das hört nannte"? Sie war erfolgreich!) sich doch ganz gut an. Sieht man aber einmal dahinter, ist nicht die Beseitigung der wirklichen Ursachen für dann kommt folgendes heraus: Durch den ökologisch Planungsverzögerung, sondern die Demontage von und verkehrspolitisch unsinnigen Ausbau z. B. der demokratischen Bausteinen dieses Staates. Wasserstraßen und Kanäle im Osten wird in erster Linie für den Profit der großen Reedereien gesorgt, der kleine (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Binnenschiffer bleibt auf der Strecke. Im Osten hatten Sie relativ wenig Gegenwehr. Ich garantiere Ihnen aber: Das wird im Westen anders (Beifall bei Abgeordneten der PDS) sein. Erneut wird in der Koalitionsvereinbarung die Zweitens sollen offenkundig jetzt im großen Maßstab Legende vom Transrapid als neuem, umweltfreundli- und nicht mehr nur bei einzelnen Prestigeobjekten chem Verkehrsträger strapaziert. Hier gleicht im übri- Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen privat finanziert gen nicht nur das Finanzierungskonzept einem löchri- werden. Damit lügen Sie sich in die eigene Tasche. Sie gen Schweizer Käse. Von Koalitionsseite wurde sogar verfahren nach dem Grundsatz: Nach uns die Sintflut. eingestanden, u. a. auf der Anhörung zum Transrapid, daß das Projekt verkehrspolitisch nicht notwendig sei. (Elke Ferner [SPD]: Die wissen, daß sie nicht Alternative Varianten liegen ausreichend vor und wur- mehr lange dran sind!) den hier bis zum Erbrechen diskutiert, u. a. die Frage Das macht die Kurzsichtigkeit einer Politik deutlich, der ICE-Anbindung oder des Einsatzes von Neigetech- die einzig auf Legislaturzeiträume abhebt. Sie entla- nik auf dieser Strecke. Warum also das Ganze? Weil es sten jetzt den Haushalt und schieben dann die Kosten, einzig um die Steigerung der Exportchancen für Thys- Zinsen und Risiken auf folgende Haushalte und damit sen, Siemens und Konsorten geht und damit um deren auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Profite, um nichts anderes. (Elke Ferner [SPD]: Auf künftige Regierun (Beifall bei der PDS — Zuruf von der F.D.P.: gen!) Um Arbeitsplätze!) Es spricht nicht gerade für die vom Kanzler ange- Einer Meldung von gestern war zu entnehmen, daß mahnte „finanzielle Verantwortung für kommende Generationen". Thyssen im vergangenen Geschäftsjahr einen Kon- zernüberschuß von 90 Millionen DM erzielt hat. Da Mit ihrer Regierungserklärung und der Koalitions- muß dieses Unternehmen nicht noch von dieser Bun- vereinbarung wird die neue Regierung ihrer Verant- desregierung protegiert werden. wortung für diese und für folgende Generationen nicht gerecht. Die Bundesregierung hat die gewalti- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten gen Herausforderungen der Zeit nicht begriffen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da ich eine der letzten Rednerinnen in dieser Debatte Insgesamt aus verkehrspolitischer Sicht gibt es also zur Regierungserklärung bin, möchte ich das Fazit nichts Neues, obwohl gerade hier für ein Umdenken ziehen — ich denke, das ist in dieser Debatte ziemlich- — siehe oben die Worte des Kollegen Lippold — deutlich geworden —: Die Bundesregierung sollte das allerhöchste Eisenbahn wäre. Von Verkehrsvermei- Handtuch werfen und aus dem Ring steigen. dung nicht ein Wort! (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ Sieht man sich dennoch die wenigen Sätze in der DIE GRÜNEN) Koalitionsvereinbarung zur Verkehrspolitik etwas genauer an, dann fällt zweierlei auf: Erstens zieht sich wie ein roter Faden die Forderung nach Verkürzung Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- von Genehmigungsverfahren durch die Vereinba- ren, der Bundesminister für Post und Telekommuni- rung. Da fordert der Kanzler einerseits die Mitverant- kation, Dr. Wolfgang Bötsch, bittet, sein Manuskript wortung der Bürgerinnen und Bürger für das Gemein- zu Protokoll geben zu dürfen.*) Ich muß die Zustim- wohl. Andererseits behauptet er, daß die langen mung des Hauses einholen. — Es erhebt sich kein Genehmigungsverfahren vor allem auf Einwände und Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Widersprüche der betroffenen Bürgerinnen und Bür- Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich ger, der Kommunen und der Verbände zurückzufüh- liegen nicht vor. ren seien. Das spricht natürlich für das Demokratie- Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tages- verständnis des Kanzlers, zeigt aber auch, daß ihm ordnung. Erhebungen seiner eigenen Regierung unbekannt Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- sind. In einer Untersuchung des Umweltministeriums tages auf Mittwoch, 14. Dezember 1994, 14 Uhr ein. z. B. wurden als Hauptursachen für Planungsverzöge- rungen genannt: ein Zuviel an Bürokratie, fehlende Die Sitzung ist geschlossen. Entscheidungsbereitschaft der Verwaltungen, unzu- (Schluß der Sitzung: 13.48 Uhr) reichende Ausstattung mit moderner Kommunikation, insbesondere fehlende Software usw. Gerade dieses *) Vergleiche Anlage 2 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 311'

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Volmer, Ludger BÜNDNIS 25. 11. 94 entschuldigt bis 90/DIE Abgeordnete(r) einschließlich GRÜNEN Austermann, Dietrich CDU/CSU 25. 11. 94 Wallow, Hans SPD 25. 11. 94 Bachmaier, Hermann SPD 25. 11. 94 Welt, Jochen SPD 25. 11. 94 Beucher, Friedhelm SPD 25. 11. 94 Wester, Hildegard SPD 25. 11. 94 Julius Dr. Wieczorek, Norbert SPD 25. 11. 94 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 94 Wieczorek (Duisburg), SPD 25. 11. 94 Burchardt, Ulla SPD 25. 11. 94 Helmut Buwitt, Dankward CDU/CSU 25. 11. 94 Dr. Zöpel, Christoph SPD 25. 11. 94 Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 25. 11. 94 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- 90/DIE lung des Europarates GRÜNEN Gleicke, Iris SPD 25. 11. 94 Graf (Friesoythe), Günter SPD 25. 11. 94 Anlage 2 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 25. 11. 94 Carl-Detlev Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung Hasenfratz, Klaus SPD 25. 11. 94 des Bundeskanzlers (Fortsetzung der Aussprache) Heym, Stefan PDS 25. 11. 94 Dr. Hö11, Barbara PDS 25. 11. 94 Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 25. 11. 94 Telekommunikation: Bereits in der Vergangenheit ist Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 25. 11. 94 der Telekommunikationsmarkt im Vergleich zur übri- Iwersen, Gabriele SPD 25. 11. 94 gen Wirtschaft überdurchschnittlich gewachsen. Im Janssen, Jann-Peter SPD 25. 11. 94 Jahr 2000 wird er vermutlich allein in Deutschland die Junghanns, Ulrich CDU/CSU 25. 11. 94 200-Milliarden-Mark-Schwelle überschreiten. Welt- Kanther, Manfred CDU/CSU 25. 11. 94 weit wird dieser Markt dann ein Volumen von schät- Kastning, Ernst SPD 25. 11. 94 zungsweise 1,5 Billiarden DM umfassen. Die Mikro- Kirschner, Klaus SPD 25. 11. 94 elektronik macht es möglich, daß Telekommunikation Labsch, Werner SPD 25. 11. 94 und Datenverarbeitung miteinander verschmelzen Leidinger, Robert SPD 25. 11. 94 und daß auch zunehmend die sich vervielfältigenden Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 25. 11. 94 Formen des Fernsehens - ich nenne hier nur das Erich Stichwort Multimedia in diese Entwicklung einzu- Mante, Winfried SPD 25. 11. 94 beziehen sind. Matschie, Christoph SPD 25. 11. 94 Als ein Land, das davon lebt, daß es Technologie Meckel, Markus SPD 25. 11. 94 entwickelt, herstellt und verkauft, muß Deutschland Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 25. 11. 94 sich in diesem Markt geschickt und erfolgreich posi- Neumann (Berlin), Kurt SPD 25. 11. 94 tionieren. Dazu gehört, daß von staatlicher Seite die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, die es Neumann (Gotha), SPD 25. 11. 94 den Unternehmen erlauben, sich national und inter- Gerhard national nicht nur zu behaupten, sondern ihre Stel- Nickels, Christa BÜNDNIS 25. 11. 94 lung weiter auszubauen oder neue Marktsegmente zu 90/DIE schließen. GRÜNEN Peters, Lisa F.D.P. 25. 11. 94 Nach den Beschlüssen zur Postreform II werden wir mit dem Verkauf von Telekom-Aktien für dieses Dr. Pfaff, Martin SPD 25. 11. 94 Unternehmen als erstes den Schritt in die neue, Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 25. 11. 94 privatisierte Welt einleiten. Die Entscheidung über Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 25. 11. 94 das Bankenkonsortium, das diese Emission durchfüh- Hermann ren wird, hat die Bundesregierung bereits getroffen Saibold, Hannelore BÜNDNIS 25. 11. 94 und heute morgen bekannt gegeben. Diese Emission 90/DIE wird den Finanzplatz Deutschland stärken und auch GRÜNEN die Börsenfähigkeit anderer deutscher Unternehmen Schaich-Walch, Gudrun SPD 25. 11. 94 an der US-Börse erleichtern. Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 94 * Es ist die Absicht der Bundesregierung, diese Priva- Schindler, Norbert CDU/CSU 25. 11. 94 tisierung durch die Fortführung der Liberalisierung zu Schumann, Ilse SPD 25. 11. 94 ergänzen. Denn nur der Wettbewerb wird schließlich Dr. Solms, Hermann Otto F.D.P. 25. 11. 94 die nötigen Kräfte und Ressourcen entfalten helfen, Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25. 11. 94 um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu behaup- Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 25. 11. 94 ten und zum globalen Mitspieler im weltweit schärfer Vergin, Siegfried SPD 25. 11. 94 werdenden Wettbewerb im Telekommunikations- 312* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 markt zu werden. Unsere Devise lautet deshalb: Mit der Postreform II haben wir auch hier die kontrolliert offensiv liberalisieren. Voraussetzungen geschaffen, damit sich die gute alte Post an die neuen Zeiten und Verhältnisse anpassen Ich freue mich, daß es uns beim Telekommunika- kann. Wir stehen damit zumindest in Europa an der tionsrat am 17. November 1994 in Brüssel gelungen Spitze der Entwicklung. ist, den Beschluß zu fassen, das Netzmonopol parallel zum Telefondienstmonopol zum 1. Januar 1998 aufzu- Ich denke, daß die Voraussetzungen gut sind, damit heben. Den Mitgliedstaaten mit weniger entwickelten die Deutsche Post AG im Lauf der nächsten Jahre Netzen (Spanien, Irland, Griechenland und Portugal) sowohl in Umfang und Qualität ihrer Dienstleistungen und alle Mitgliedstaaten, denen bei der Aufhebung als auch mit ihrem betriebswirtschaftlichen Ergebnis des Telefondienstmonopols eine Übergangsfrist ein- einen Quantensprung nach vorne tun wird. geräumt worden ist, wird ebenfalls im Bereich des Netzmonopls eine Übergangsfrist von wenigen Jah- Die Postbank arbeitet völlig im Wettbewerbsbe- ren eingeräumt. Wir haben damit Klarheit auch über reich und wird sich mehr und mehr zu einer Bank die Zukunft des Netzmonopols geschaffen. Der normalen Stils entwickeln und künftig auch mit Part- Charme dieser Lösung liegt darin, daß sich alle nern aus ihrer Branche kooperieren. Im Vertrieb wird Migliedstaaten der EU zu diesem Beschluß bereitge- sie mit der Deutschen Post AG verflochten bleiben, so funden haben und wir damit keine Parzellierung der daß Postbankdienstleistungen auch weiterhin an den Entwicklung innerhalb der Europäischen Union ertra- Schaltern der Post angeboten werden, ein wichtiges gen müssen. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat mit Kriterium zur Infrastruktursicherung. diesem Beschluß einen großen Erfolg errungen, Herr Meine Damen und Herren, die Umbruchsituation Bangemann sprach sogar von einem historischen im Post- und Telekommunikationsbereich, in dem Tag. heute in Deutschland über 800 000 Menschen Damit sind in den vergangenen beiden Jahren die beschäftigt sind und auf dessen Funktionieren Wirt- wichtigsten Pflöcke für eine planvolle Weiterentwick- schaft und Gesellschaft angewiesen sind, fordert lung der Telekommunikation in Deutschland einge- unser aller Anstrengung. Die Bundesregierung beab- schlagen worden: Privatisierung der Telekom, Festle- sichtigt, auch zukünftig diese Herausforderung in gen der Termine für das Ende des Telefondienst- und einem breiten Konsens zu meistern, der das Wohl des des Netzmonopols. Bürgers im Auge hat. Ich lade alle ein, die den bestehenden Handlungsbedarf im Grundsatz aner- Nun beginnt die weitere Arbeit, d. h. innerhalb der kennen, an dieser Aufgabe mitzuwirken. Pflöcke muß nun gebaut werden. Denn wir wollen den Übergang von einem monopolistisch geprägten Markt zu einem wettbewerblichen mit Umsicht und zum Nutzen des Ganzen in Angriff nehmen. Es wird Leute geben, die mit dem einzuschlagenden Weg nicht Amtliche Mitteilung zufrieden sind, manche werden mehr, manche weni- ger fordern — wie das eben in solchen Übergangs- Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat und Umbruchzeiten ist. Seien Sie, meine Damen und mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäfts- Herren jedoch versichert, daß ich am vorgezeichneten ordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Weg konsequent festhalten werde und bei allen absieht: unterschiedlichen Interessen, deren Vertreter Einfluß Drucksache 12/1841 fordern werden, das politisch Vertretbare und wirt- schaftlich Sinnvolle als Maß meiner Arbeit ansehen Drucksache 12/1845 werden. Drucksache 12/2050 Der Markt der Postdienstleistungen ist in den letz- Drucksache 12/3111 ten Jahren ebenfalls in Bewegung geraten. Die Ent- Drucksache 12/3147 wicklung ist zwar nicht vergleichbar stürmisch wie bei der Schwester Telekommunikation, doch zeigt bei- Drucksache 12/4033 spielsweise das Aufkommen p rivater Kuriere, daß im Drucksache 12/4179 Postbereich zumindest in bestimmten Bereichen und Nischen durchaus ein Kundenbedarf besteht für ver- Drucksache 12/5178 besserte oder auch neuartige Dienstleistungen. Drucksache 12/5458