Plenarprotokoll 13/125

Deutscher -

Stenographischer Bericht

125. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Inhalt:

Nachträgliche Glückwünsche zum Ge- regelungen - Wohngeldüberleitungs burtstag des Abgeordneten Peter Zum- gesetz - (Drucksache 13/5512) . . . . 11186 A kley 11185 A c) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Eintritt der Abgeordneten Marlene Rupp Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- recht in den Deutschen Bundestag . . . 11185 B rung des Gesetzes über Altschulden- hilfen für Kommunale Wohnungs- Wahl des Abgeordneten Erwin Mar- unternehmen, Wohnungsgenossen- schewski in den Verwaltungsrat der Deut- schaften und private Vermieter in schen Welle 11185 B dem in Artikel 3 des Einigungsver- -trages genannten Gebiet (AHG Bestellung des Abgeordneten Rudolf Bin- Änderungs-Gesetz) (Drucksache 13/ dig zum ordentlichen und des Abgeordne- 5417) 11186 B ten zum stellvertretenden Mitglied in der Parlamentarischen Ver- - Zweite und dritte Beratung des von sammlung des Europarates 11185 B den Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Werner Dörflinger, weiteren Erweiterung der Tagesordnung 11185 B Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Absetzung der Punkte 14 a und b sowie Hildebrecht Braun (Augsburg), Dr. 19f von der Tagesordnung 11185 D Klaus Röhl und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Nachträgliche Ausschußüberweisung . 11185 D Gesetzes zur Änderung des Alt- schuldenhilfe-Gesetzes (Drucksa- Tagesordnungspunkt 4: chen 13/4949, 13/5605) 11186 B Wohnungsbaudebatte - Beschlußempfehlung und Be richt des Ausschusses für Raumordnung, a) Erste Beratung des von den Fraktionen Bauwesen und Städtebau der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur An- - zu der Unterrichtung durch die passung der wohngeldrechtlichen Bundesregierung Überleitungsregelungen für das in - zu dem Entschließungsantrag der Artikel 3 des Einigungsvertrages ge- Fraktion der SPD zu der Unter- nannte Gebiet (Wohngeldüberlei- richtung durch die Bundesregie- tungsgesetz) (Drucksache 13/5587) . 11186 A rung: Bericht der Bundesregie- b) Erste Beratung des von dem Abgeord- rung über die Umsetzung des Alt- neten Klaus-Jürgen Warnick und der schuldenhilfe-Gesetzes und den Gruppe der PDS eingebrachten Ent- Fortgang der Wohnungsprivati- wurfs eines Gesetzes zur Anpassung sierung in den neuen Bundes- der wohngeldrechtlichen Überleitungs ländern

II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

- zu dem Antrag der Abgeordneten b) Erste Beratung des von den Abgeord- Franziska Eichstädt-Bohlig, Steffi neten , Erwin Marschew- Lemke und der Fraktion BÜND- ski und der Fraktion der CDU/CSU so- NIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung wie den Abgeordneten Detlef Kleinert der Wohnungsprivatisierung an (Hannover), Jörg van Essen und der - Mieter, Genossenschaften und Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent- Mietergemeinschaften wurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption (Drucksache 13/5584) 11208 C - zu dem Antrag des Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der c) Antrag der Abgeordneten Frank Hof- Gruppe der PDS: Beendigung der mann (Volkach), Alfred Hartenbach, Zwangsprivatisierung von kom- weiterer Abgeordneter und der Frak- munalen und genossenschaft- tion der SPD: Maßnahmen zur Be- lichen Wohnungen in den ost- kämpfung der nationalen und inter- deutschen Bundesländern durch nationalen Korruption (Drucksache Änderung des Altschuldenhilfe- 13/4118) 11208 D Gesetzes Norbert Geis CDU/CSU 11208 D (Drucksachen 13/2501, 13/4081, 13/4077, Frank Hofmann (Volkach) SPD 11211 B 13/4837, 13/5605) 11186 B Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11214 B in Verbindung mit Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 11216 D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 11218 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmi Antrag der Abgeordneten Franziska nister BMJ 11220 A Eichstädt-Bohlig, (Ber- Alfred Hartenbach SPD 11221 C lin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Das Wohngeld bedarfsgerecht refor- NEN 11222 D mieren - die Abhängigkeit vom Wohn- CDU/CSU 11223 D geld senken (Drucksache 13/5578) . . 11186 D Norbert Gansel SPD 11224 B Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . 11187 A Hermann Leeb, Staatsminister (Bayern) 11225 C SPD 11188 D Dr. Ingomar Hauchler SPD 11226 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Erwin Marschewski CDU/CSU . . . 11228 B DIE GRÜNEN 11191 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 11229 A Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 11193 C Norbert Geis CDU/CSU 11229 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ 90/DIE GRÜNEN 11195 B, 11206 B CSU 11230 D Klaus-Jürgen Warnick PDS 11196 B Dr. F D P. 11232 A Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatsse Norbert Otto (Erfurt) CDU/CSU . . . 11197 D kretär 11233 B Iris Gleicke SPD 11199 A Tagesordnungspunkt 19: Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 11200 C Überweisungen im vereinfachten Ver- Achim Großmann SPD 11202 D fahren Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 11205 B a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Wolfgang Thierse SPD 11205 D Gesetzes zu dem Protokoll vom (Köln) SPD 11207 A 11. Dezember 1995 zur Änderung des Abkommens vom 31. Oktober 1975 zwischen der Regierung der Bundes- Tagesordnungspunkt 5: republik Deutschland und der Regie- a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- rung der Volksrepublik China über gebrachten Entwurfs eines Gesetzes den Zivilen Luftverkehr (Drucksache zur Änderung des Strafgesetzbuches, 13/5291) 11234 B des Gesetzes gegen den unlauteren b) Erste Beratung des von der Bundes- Wettbewerb, der Strafprozeßordnung regierung eingebrachten Entwurfs und anderer Gesetze - Korruptions- eines Vierten Gesetzes zur Änderung bekämpfungsgesetz - (Drucksache 13/ des Bundesfernstraßengesetzes (Druck- 3353) 11208 C sache 13/5292) 11234 C Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 III c) Erste Beratung des von der Gruppe der n) Antrags des Bundesministeriums der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ge- Finanzen: Entlastung der Bundesre- setzes zur Änderung des Bundesso- gierung für das Haushaltsjahr 1995 - zialhilfegesetzes (Drucksache 13/5426) 11234 C Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes - d) Erste Beratung des von der Bundesre- (Jahresrechnung 1995) (Drucksache gierung eingebrachten Entwurfs eines 13/5141) 11235 B Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 13. November 1991 zwischen den o) Antrag des Bundesministeriums der Mitgliedstaaten der Europäischen Ge- Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 meinschaften über die Vollstreckung Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in ausländischer strafrechtlicher Verur- die Veräußerung einer Teilfläche der teilungen (Drucksache 13/5468) . . . 11234 C ehemaligen Wildermuth-Kaserne in Böblingen an das Land Baden-Würt- e) Erste Beratung des von den Fraktionen temberg (Drucksache 13/5340) . . . 11235 C der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- p) Antrag des Bundesministeriums der rung des Gesetzes zur Entlastung des Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Bundesfinanzhofs (Drucksache 13/5585) 11234 C Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen Bis- g) Erste Beratung des von den Fraktionen marck- und Bose-Bergmann-Kaserne der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- in Wentorf bei Hamburg (Drucksache ten Entwurfs eines Eigentumsfristenge- 13/5452) 11235 C setzes (Drucksache 13/5586) . . . . 11234 D q) Antrag des Bundesministeriums der h) Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Enkelmann und der Gruppe der PDS: Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung Ausbau statt Neubau der Schleuse -in die Veräußerung bundeseigener Charlottenburg im Projekt 17 der Grundstücke in Frankfu rt am Main, Verkehrsprojekte Deutsche Einheit ehemals US-genutztes IG Farben (Drucksache 13/2283) 11234 D Hochhausgelände (Teilfläche) (Druck- sache 13/5470) 11235 C i) Antrag der Abgeordneten Dr. , Dr. Winfried Wolf und der Tagesordnungspunkt 20: Gruppe der PDS: Revision des Dreijah- resplans für den Ausbau des Schienen- Abschließende Beratungen ohne Aus- wegenetzes des Bundes in den Jahren sprache 1995 bis 1997 (Drucksache 13/2284) . 11234 D a) Zweite Beratung und Schlußabstim- j) Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar mung des von der Bundesregierung Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Gruppe der PDS: Einführung einer zu dem Abkommen vom 16. Novem- Schwerverkehrsabgabe (Drucksache ber 1995 zwischen der Bundesrepublik 13/2360) 11235 A Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam zur Vermeidung k) Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, der Doppelbesteuerung auf dem Ge- Marianne Klappert, weiterer Abgeord- biet der Steuern vom Einkommen und neter und der Fraktion der SPD: Erhal- vom Vermögen (Drucksachen 13/4791, tung und Nutzung der biologischen 13/5603) 11235 D Vielfalt landwirtschaftlicher Nutz- pflanzen (Drucksache 13/4985) . . . 11235 A b) Zweite Beratung und Schlußabstim- mung des von der Bundesregierung 1) Antrag der Abgeordneten Franziska eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Eichstädt-Bohlig, (Ber- zu dem Abkommen vom 22. November lin), weiterer Abgeordneter und der 1995 zwischen der Bundesrepublik Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutschland und dem Königreich Dä- Fördergebietsdarlehen für die Erneue- nemark zur Vermeidung der Doppelbe- rung des Wohnungsbestandes ostdeut- steuerung bei den Steuern vom Ein- scher Eigentümer und für Bauinvesti- kommen und vom Vermögen sowie bei tionen ostdeutscher Gewerbetreiben- den Nachlaß-, Erbschaft- und Schen- der (Drucksache 13/5000) 11235 B kungsteuern und zur Beistandsleistung in Steuersachen (Deutsch-dänisches m) Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Steuerabkommen) (Drucksachen 13/ Marianne Klappert, weiterer Abgeord- 4903, 13/5609) 11236 A neter und der Fraktion der SPD: Ab- schaffung der Käfigbatteriehaltung c) Beschlußempfehlung und Be richt des von Legehennen in der Europäischen Ausschusses für Post und Telekommu- Union (Drucksache 13/5210) . . . . 11235 B nikation zu dem Antrag des Abgeord-

IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

neten Dr. Manuel Kiper und der Frak- Dr. PDS 11246 A tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11247 C ökologischer, sozialer und demokrati- scher Weg in die Informationsgesell- Erika Lotz SPD 11249 B schaft I (Grundsätze für die Postre- Karl-Josef Laumann CDU/CSU 11250 B- (Drucksachen 13/1931, 13/ form III) Hans-Eberhard Urbaniak SPD 11251 B 4463) 11236 B Heinz Schemken CDU/CSU 11252 A d) Beschlußempfehlung und Bericht des Vizepräsident Hans-Ulrich Klose . . . 11247 Finanzausschusses zu dem Antrag der C Abgeordneten Otto Reschke, Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeord- Tagesordnungspunkt 6: neter und der Fraktion der SPD: Ände- a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, rung der Übergangsregelung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Eigenheimzulagengesetz (Drucksachen F.D.P.: Verbesserung des Jugendaus- 13/4408, 13/5323) 11236 B tausches zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen e) Beschlußempfehlung und Be richt des Republik (Drucksache 13/5542) . . . 11253 A Ausschusses für Wirtschaft zu der Un- terrichtung durch die Bundesregie- b) Antrag der Gruppe der PDS: För- rung: Der Binnenmarkt 1995 — Bericht derung des deutsch-tschechischen Ju- der Kommission an den Rat und das gendaustausches (Drucksache 13/5579) 11253 B Europäische Parlament (Drucksachen Maria Eichhorn CDU/CSU 11253 B 13/4514 Nr. 2.11, 13/5171 [neu]) . . . 11236 C SPD 11254 B f) Beschlußempfehlung des Petitionsaus- Maria Eichhorn CDU/CSU 11255 B schusses: Sammelübersicht 137 zu Pe- Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS titionen (Drucksache 13/5522) . . . . 11236 C 90/DIE GRÜNEN 11256 A g) Beschlußempfehlung des Petitionsaus- BÜNDNIS 90/DIE schusses: Sammelübersicht 138 zu Pe- GRÜNEN 11256 C titionen (Drucksache 13/5523) . . . . 11236 C Birgit Homburger F D P. 11257 B Zusatztagesordnungspunkt 3: PDS 11258 B Claudia Nolte, Bundesministerin Weitere abschließende Beratung ohne BMFSFJ 11258 D, 11260 B Aussprache Christel Hanewinckel SPD 11260 A Beschlußempfehlung und Be richt des Ausschusses für Post und Telekommu- Tagesordnungspunkt 7: nikation zu der Verordnung der Bun- Erste Beratung des von der Bundesre- desregierung: Zustimmungsbedürftige gierung eingebrachten Entwurfs eines Verordnung zur Telekommunikations Zweiten Gesetzes zur Änderung des Universaldienstleistungsverordnung Jugendarbeitsschutzgesetzes (Druck- (Drucksachen 13/5495, 13/5550 Nr. 2.4, sache 13/5494) 11260 C 13/5604) 11236 D Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 11260 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Konrad Gilges SPD 11261 D Dr. Gisela Babel F.D.P 11262 C Aktuelle Stunde be tr. Haltung der Bundesregierung zur tarifvertraglich Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE geregelten Lohnfortzahlung angesichts GRÜNEN 11263 C jüngster Reaktionen von der Arbeit- Dr. Gisela Babel F.D.P 11264 C geberseite Konrad Gilges SPD 11265 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS 11237 C Rosel Neuhäuser PDS 11266 A Julius Louven CDU/CSU 11238 D Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . 11266 C Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 11239 C Tagesordnungspunkt 8: Dr. Gisela Babel F.D.P 11240 C Beschlußempfehlung und Bericht des Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE Innenausschusses zu der Unterrich- GRÜNEN 11241 C tung durch die Bundesregierung: Be- richt der Bundesregierung über die , Bundesminister BK . . 11242 B Lage der Medien in der Bundesrepu- Peter Dreßen SPD 11243 C blik Deutschland 1994 — Medien- bericht 1994 — (Drucksachen 12/8587, Dr. CDU/CSU 11244 C 13/265 Nr. 1.6, 13/4288) 11267 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 V

Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staats Erika Reinhardt CDU/CSU 11299 A sekretär 11268 A Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Thomas Krüger SPD 11269 A NEN 11300 B CDU/CSU 11301 A Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 11269 C - Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜ , Bundesministerin BMFSFJ 11301 C NEN 11271 A Dr. Edith Niehuis SPD 11302 A Dr. Max Stadler F D P. 11272 A Jörg Tauss SPD 11302 B Wolfgang Bierstedt PDS 11273 C Tagesordnungspunkt 11: Hans-Otto Wilhelm (Mainz) CDU/CSU 11275 A Antrag des Abgeordneten Manfred Wolfgang Bierstedt PDS 11276 C Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Wolf-Michael Catenhusen SPD . . . 11277 A DIE GRÜNEN: Mehr Effektivität und demokratische Transparenz bei der Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . 11277 C Gewinnung und Analyse außenpoli- Dr. Max Stadler F D P. 11278 A tischer Erkenntnisse durch Auflö- sung des Bundesnachrichtendienstes Krüger SPD 11279 D Thomas (Drucksache 13/4374) 11303 B Tagesordnungspunkt 9: Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11303 C Antrag der Abgeordneten Margot von 11304 C Renesse, Christel Hanewinckel, weite- Dr. Rolf Olderog CDU/CSU rer Abgeordneter und der Fraktion der Hans-Peter Kemper SPD 11306 B SPD: Bedarfsdeckende Unterhaltssätze Dr. F D P. 11308 B für Kinder (Drucksache 13/5211) . 11282 B PDS 11309 B Margot von Renesse SPD 11282 B , Staatsminister BK 11309 D CDU/CSU 11284 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 12: DIE GRÜNEN 11285 B Erste Beratung des von den Abgeord- Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . 11286 A neten , Klaus Lohmann (Witten), weiteren Abgeordneten und Margot von Renesse SPD . . 11286 B, 11288 A der Fraktion der SPD eingebrachten Heidemarie Lüth PDS 11287 A Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- fung des Doping und zur Umsetzung Dr. CDU/CSU . . 11287 C des Übereinkommens des Europarates , Parl. Staatssekretär BMJ . 11288 D gegen Doping (Drucksache 13/5215) . 11311 C

Tagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Gerald Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke Häfner, Halo Saibold, weiterer Abge- und der Gruppe der PDS: Änderung ordneter und der Fraktion BÜNDNIS des Strafvollzugsgesetzes (Drucksache 90/DIE GRÜNEN: Maßnahmen zur 13/1443) 11311 D wirksameren Verfolgung der sexuel- Ulla Jelpke PDS 11312 A len Ausbeutung von Kindern durch Basten CDU/CSU 11312 D Deutsche im Ausland (Drucksache Franz Peter 13/5139) 11289 D (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11313 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11290 A Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . . 11314 B CDU/CSU 11291 A Ulla Jelpke PDS 11314 C Dorle Marx SPD 11292 A Erika Simm SPD 11314 D Jörg van Essen F.D.P. 11294 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11316 B Rosel Neuhäuser PDS 11295 B Jörg van Essen F.D.P. 11317 B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmi Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ . 11318 A nister BMJ 11295 D Ulla Jelpke PDS 11296 C Nächste Sitzung 11318 D Hanna Wolf (München) SPD 11297 A CDU/CSU 11297 B Anlage 1 Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 11298 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . 1131* A VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Anlage 2 Dr. PDS 11323* A Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 11323* D ordnungspunkt 12 (Entwurf eines Geset- zes zur Bekämpfung des Doping und zur Umsetzung des Übereinkommens des Anlage 3 - Europarates gegen Doping) Dagmar Freitag SPD 11319* C Arbeit der Stiftung „Haus der Behinder- ten" in Bonn CDU/CSU 11321* A Dr. Dieter Thomae F.D.P 11321* D MdlAnfr 3, - Drs 13/5565 - Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11322* B SchrAntw PStSekr Horst Günther BMA . 11324* C Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11185

125. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eich- städt-Bohlig, Andrea Fischer (Berlin), , weiterer liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- net. NEN: Das Wohngeld bedarfsgerecht reformieren - die Ab- hängigkeit vom Wohngeld senken - Drucksache 13/5578 - Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte nachträglich zu sei- 3. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergän- ich dem Kollegen Peter Zumkley zung zu TOP 20): Beratung der Beschlußempfehlung und nem 60. Geburtstag gratulieren, den er am des Berichts des Ausschusses für Post und Telekommunika- 17. September feierte. Im Namen des Hauses die tion (17. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregie- herzlichsten Glückwünsche. rung: Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Telekom- munikations-Universaldienstleistungsverordnung - Druck- (Beifall) sachen 13/5495, 13/5550 Nr. 2.4, 13/5604 - 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS: Hal- Der Kollege Dr. hat am 24. September tung der Bundesregierung zur tarifvertraglich geregelten 1996 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- Lohnfortzahlung angesichts jüngster Reaktionen von der tag verzichtet. Seine Nachfolgerin, die Abgeordnete Arbeitgeberseite Marlene Rupprecht, hat am 25. September 1996 die 5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuß) zu dem Antrag Ich begrüße die neue Kollegin und wünsche gute Zu- der Gruppe der PDS: Einsetzung einer Enquete-Kommis- sion Armut und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik sammenarbeit. Herzlich willkommen, Frau Rup- Deutschland" - Drucksachen 13/583, 13/5617 - precht! (Beifall) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Der ehemalige Kollege Johannes Gerster hat auf Weiterhin ist interfraktionell vereinbart, die für seine Mitgliedschaft im Verwaltungsrat der Deut- schen Welle verzichtet. Die Fraktion der CDU/CSU Freitag vorgesehene Beratung zu - den Tagesord- nungspunkten 14 a und b - es handelt sich hierbei schlägt als neues Mitglied nunmehr den Kollegen Er- um Vorlagen zur Kraftfahrzeugsteuer - sowie den win Marschewski vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist der Abgeordnete Erwin ohne Aussprache vorgesehenen Tagesordnungs- Marschewski für den Rest der Amtszeit des Verwal- punkt 19f abzusetzen. tungsrates in den Verwaltungsrat der Deutschen Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus- Welle gewählt. schußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Die Fraktion der SPD möchte bei zwei ihrer Mit- glieder in der Parlamentarischen Versammlung des Der in der 121. Sitzung des Deutschen Bundestages am 11. September 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzent- Europarates einen Tausch vornehmen. Der Kollege wurf soll nachträglich dem Finanzausschuß zur Mitbera- , der bisher stellvertretendes Mitglied tung überwiesen werden: ist, soll ordentliches Mitglied werden, und der Kol- Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Vertrag vom lege Gernot Erler, bisher ordentliches Mitglied, soll 13. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Zusammen- nunmehr stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie schluß der deutschen Autobahn A 6 und der tschechischen damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Autobahn D 5 an der gemeinsamen Staatsgrenze durch Damit sind der Kollege Rudolf Bindig als ordentliches Errichtung einer Grenzbrücke - Drucksache 13/5049 - Mitglied und der Kollege Gernot Erler als stellvertre- Überweisungsvorschlag: tendes Mitglied der Parlamentarischen Versamm- Ausschuß für Verkehr (federführend) lung des Europarates gewählt. Finanzausschuß Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einver- dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in standen? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos- der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: sen. 11186 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a-c und Zu- Berichterstattung: satzpunkt 2 auf: Abgeordnete Rolf Rau Hildebrecht Braun (Augsburg) 4. Wohnungsbaudebatte Iris Gleicke a) Erste Beratung des von den Fraktionen der - Beratung der Beschlußempfehlung und CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- des Berichts des Ausschusses für Raum- wurfs eines Gesetzes zur Anpassung der ordnung, Bauwesen und Städtebau wohngeldrechtlichen Überleitungsregelun- (18. Ausschuß) gen für das in Artikel 3 des Einigungsver- - zu der Unterrichtung durch die Bundes- trages genannte Gebiet (Wohngeldüberlei- regierung tungsgesetz - WoGÜG) - zu dem Entschließungsantrag der Frak- - Drucksache 13/5587 — tion der SPD zu der Unterrichtung Überweisungsvorschlag: durch die Bundesregierung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Bericht der Bundesregierung über die (federführend) Umsetzung des Altschuldenhilfe-Ge- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend setzes und den Fortgang der Woh- Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO nungsprivatisierung in den neuen Bun- b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten desländern Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der - zu dem Antrag der Abgeordneten Fran- PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset- ziska Eichstädt-Bohlig, Steffi Lemke, zes zur Anpassung der wohngeldrechtli- Werner Schulz (Berlin), Helmut Wil- chen Überleitungsregelungen - Wohngeld- helm (Amberg) und der Fraktion überleitungsgesetz (WoGÜG) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Förderung der Wohnungsprivatisie- - Drucksache 13/5512 — rung an Mieter, Genossenschaften und Überweisungsvorschlag: Mietergemeinschaften Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - zu dem Antrag des Abgeordneten (federführend) Rechtsausschuß Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der PDS Ausschuß für Gesundheit Beendigung der Zwangsprivatisierung Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO von kommunalen und genossenschaft- lichen Wohnungen in den ostdeut- c) - Zweite und dritte Beratung des von der schen Bundesländern durch Änderung Bundesregierung eingebrachten Ent- des Altschuldenhilfe-Gesetzes wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Altschuldenhilfen für Kom- - Drucksachen 13/2501, 13/4081, 13/4077, munale Wohnungsunternehmen, Woh- 13/4837, 13/5605 - nungsgenossenschaften und p rivate Ver- Berichterstattung: mieter in dem in Artikel 3 des Einigungs- Abgeordnete Rolf Rau vertrages genannten Gebiet (AHG-Ände- Hildebrecht Braun (Augsburg) rungs-Gesetz) Iris Gleicke - Drucksache 13/5417 - ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fran- ziska Eichstädt-Bohlig, Andrea Fischer (Ber- (Erste Beratung 121. Sitzung) lin), Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und - Zweite und dritte Beratung des von den der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Das Wohngeld bedarfsgerecht reformieren - Werner Dörflinger, Herbe rt Frankenhau- die Abhängigkeit vom Wohngeld senken ser, weiteren Abgeordneten und der - Drucksache 13/5578 - Fraktion der CDU/CSU sowie den Abge- Überweisungsvorschlag: ordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- Dr. Klaus Röhl, Lisa Peters, Horst F ried- derführend) rich und der Fraktion der F.D.P. einge- Rechtsausschuß brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes Haushaltsausschuß Zum Altschuldenhilfe-Gesetz liegt ein Änderungs- - Drucksache 13/4949 - antrag der Fraktion der SPD vor. (Erste Beratung 113. Sitzung) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Beschlußempfehlung und Be richt des - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist Ausschusses für Raumordnung, Bauwe- so beschlossen. sen und Städtebau (18. Ausschuß) Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Kollege - Drucksache 13/5605 - Dr. Dietmar Kansy. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11187

Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU) (von Abgeord- oder nicht, immer wieder an die Ergebnisse ihrer neten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Guten Mor- Politik erinnern: gen, Frau Präsidentin! Guten Morgen, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stimmung scheint in diesem Hause ja gut zu sein. verfallene Städte, Wohnungen mit unterdurch- schnittlichem Komfort, unnötige Umweltverschmut- Unter der Überschrift „Unzufriedenheit wird von zung durch veraltete Systeme - außen in die Plattenbausiedlung hereingetragen" veröffentlichte die Berliner Zeitung „Der Tagesspie- (Zuruf von der PDS: Keine Ahnung!) gel" am Wochenende das Ergebnis einer Mieterbe- nicht jeder hat ja in Wandlitz gelebt - fragung der Wohnungsbaugesellschaft Hohenschön- hausen. Die große Mehrheit der Mieter in einem (Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!) nicht unproblematischen Gebiet ist gemäß dieser Umfrage nicht nur zufrieden, sondern sagt auch, daß und jahrelanges Warten vor den Schreibtischen der sich ihre Lebensqualität in den letzten fünf Jahren Wohnungsbaubürokratie. Das war Ihre Bilanz am verbessert hat, in denen ein schwieriger Wandel von Tag der deutschen Einheit. der Wohnungszwangswirtschaft der DDR in eine so- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Kommen ziale Wohnungsmarktwirtschaft zu bewältigen war. Sie mal zu Ihrer Bilanz!) Ich möchte deswegen zu Beginn dieser Wohnungs- - Die kommt jetzt gerade. Hören Sie mal zu! baudebatte, die sich auf Grund verschiedener Ge- setzentwürfe, Anträge usw. der Koalition, der SPD, Seit 1990 ist jährlich rund eine Milliarde DM für von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS mit The- den sozialen Wohnungsbau in die neuen Länder ge- men aus den neuen Bundesländern befaßt und in der flossen, pro Kopf dreimal so viel wie in die alten. Mit mein Kollege Otto im Detail auf unsere Vorstellun- einem Wohnraummodernisierungsprogramm, des- gen zum Wohngeld und zur Altschuldenhilfe einge- sen Kreditrahmen zwischenzeitlich mehr als hen wird, zunächst einmal Bilanz über die Jahre seit 60 Milliarden DM beträgt, wurden zwei Millionen der deutschen Einheit ziehen: Was wurde nach der Wohnungen modernisiert oder instandgesetzt. Die deutschen Einheit im Bereich des Wohnungs- und Städtebauförderungsmittel wurden zu über Städtebaus in den neuen Ländern erreicht? 80 Prozent in den neuen Bundesländern eingesetzt. Im letzten Jahr wurden allein in den neuen Ländern (Dr. Peter Struck [SPD]: Gar nichts!) 105 000 Wohnungen neu gebaut; dieses Jahr werden es 140 000 bis 150 000 sein, davon über 50 000 Sozial- Wie können wir angesichts einer dramatisch verän- wohnungen. Nur Blinde oder Politikblinde sehen derten Finanzsituation bei Bund, Ländern und Ge- nicht, was zwischen Ostsee und Erzgebirge in diesen meinden künftig noch Wohnungspolitik machen? Jahren alles an Positivem passiert ist. Meine Damen und Herren, ich möchte zunächst (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einmal, weil es einfach an den Anfang gehört, fra- gen: Was war die SED-Abschlußbilanz im Woh- Mit steigendem Einkommen wurden schrittweise nungsbau am Tag der deutschen Einheit? Von den auch die Mieten angepaßt. Bei den Mietern der er- 7,1 Millionen Wohnungen waren 1,2 Millionen in der wähnten Hohenschönhauser Wohnungsbaugesell- sogenannten Bauzustandsklasse III und IV, das heißt: schaft liegen das durchschnittliche Haushaltsein- weiterer Erhalt nicht möglich oder stark gefährdet. kommen heute bei 3 139 DM und die Warmmiete bei 23 von 100 Wohnungen verfügten nicht über ein Bad 650 DM, was 20 Prozent des Einkommens entspricht. oder eine Duschgelegenheit, 30 von 100 sogar nicht Um die Menschen nicht zu überfordern, haben wir über eine Innentoilette. Das Durchschnittsalter des damals das Wohngeldsondergesetz geschaffen, das Bestandes betrug 58 Jahre; der europäische Durch- über die Wohngeldvorschriften der alten Bundeslän- schnitt liegt bei unter 40 Jahren. 42 Prozent aller der hinaus eine besondere Schutzfunktion vor Über- Wohnungen stammten aus der Zeit vor dem Ersten forderung übernahm. Dadurch liegt die Mietbela- Weltkrieg. Es lagen 750 000 Anträge auf Wohnraum- stung in den neuen Ländern mit im Durchschnitt zuweisung vor, obwohl Alleinstehende ohne Kind 20 Prozent 5 Prozent unter der Mietbelastung in den nicht als selbständiger Haushalt anerkannt wurden alten Bundesländern. Dieses Wohngeldsondergesetz und keinen Anspruch auf eine eigene Wohnung hat- läuft am 31. Dezember dieses Jahres aus. Danach ten. Die Innenstädte verfielen. „Trümmer schaffen wird das normale Wohngeld eingeführt. Damit es ohne Waffen" nannte man das mit DDR-Galgenhu- nicht zu unzumutbaren Härten für bestimmte Pro- mor. Das war der Ausgangspunkt, wenn wir heute blemgruppen kommt, haben wir das Wohngeldüber- Rückschau halten. leitungsgesetz vorgelegt. (Christina Schenk [PDS]: Nennen Sie doch Aber es ist kein Geheimnis - ich spreche es hier mal die Obdachlosenzahlen, die wir damals an Eigentlich wollten wir neben dem, was wir er- hatten!) neut für die ostdeutschen Mieter tun, eine Gesamt- wohngeldnovelle vorlegen, die neben Strukturver- Meine Damen und Herren, ich wundere mich im- besserungen auch ein erhöhtes Tabellenwohngeld mer wieder, wenn sich die PDS, die nur mäßig ge- vorsieht, und zwar für ganz Deutschland. Dies ist uns wendete SED, mit allen möglichen Anträgen zum angesichts der Finanzsituation bisher nicht gelun- Wohltäter in den neuen Bundesländern aufspielen gen. Es gibt nur einen Auftrag an den Bundesbau- will. Wir müssen sie wohl, ob Sie es hören wollen minister, gemeinsam mit dem Bundesfinanzminister 11188 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr.-Ing. Dietmar Kansy mit den Ländern zu verhandeln, um einen akzepta- ministers ernsthaft diskutieren, im wesentlichen, blen Rahmen zu finden. aber nicht nur - ich sage bewußt: aber nicht nur - durch Strukturverbesserungen mehr Gerechtigkeit Meine Damen und Herren, damit komme ich zu beim Wohngeld herbeizuführen. unseren Oppositionsfraktionen. In Bonn, wo SPD und natürlich auch Grüne in der Opposition sind, stellen (Achim Großmann [SPD]: Dann legen Sie - sie lautstarke Forderungen, die jeden Finanzrahmen das Konzept doch mal vor!) sprengen, den wir zur Verfügung haben. Denn wenn zumindest in den alten Ländern zwi- (Achim Großmann [SPD]: Völliger Unfug!) schenzeitlich zwei Drittel des Wohngeldes in das so- In den Ländern, Herr Kollege Großmann - die Län- genannte pauschale Wohngeld gehen, das Sozialhil- der zahlen 50 Prozent des Wohngeldes und bestim- feempfängern zusteht, die mittlerweile vielfach bes- men mit -, in denen die SPD regiert, teilweise sogar sergestellt sind als Erwerbstätige in niedrigen Lohn- mit den Grünen, wird aus der großen Wohngeldra- gruppen, ist das nicht in Ordnung und führt zu haar- kete, die Sie hier in Bonn jede Woche zünden, ein sträubenden Einzelsituationen, die die Menschen in Heißluftballon. diesem Lande nicht mehr verstehen. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ In meinem Wahlkreis wurde vor wenigen Tagen, DIE GRÜNEN]: Wir haben Finanzierungs am 13. September, in der „Hannoverschen Allgemei- vorschläge vorgelegt!) nen Zeitung" über eine Sozialhilfeempfängerfamilie berichtet, die monatlich neben der Sozialhilfe 1 000 Mit 16 : 0 Stimmen beschloß der Ausschuß für Städ- DM Miete bezahlt bekommt, vom Vermieter vor Ge- tebau, Wohnungswesen und Raumordnung des Bun- richt wegen überhöhter Miete 4 300 DM zurücker- desrates am 11. September 1996: stritten hat und das Geld jetzt behalten wi ll. Sie sagt, Die Novelle zur Vereinfachung des Wohngeld- nicht die Stadt habe sich darum gekümmert, sondern rechts und zielsicheren Ausgestaltung der Wohn- sie selber. Das ist ein Stückchen der Wahrheit, wenn geldleistungen im Rahmen der haushaltsrechtli- Verantwortung und Bezahlung in dieser Gesellschaft chen Möglichkeiten von Bund und Ländern nicht in einer Hand liegen. Das müssen wir einfach bleibt unverzichtbar. ändern. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Welch kühner Wohngeldbeschluß: „im Rahmen der Ich sage noch einmal: Lassen Sie uns realistisch an haushaltsrechtlichen Möglichkeiten" ! das Thema Wohngeld herangehen! Eine milliarden- schwere Wohngeldnovelle ist angesichts der Haus- Meine Damen und Herren, was machen wir denn haltssituation von Bund und Ländern nicht möglich. anders, unter diesen schwierigen Verhältnissen hier Versuchen wir, Wohngeldausgaben, die ohne gesetz- in Bonn? Wo sind denn die Alternativen? liche Änderungen in Bund und Ländern anfallen (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ würden, in Verbindung mit einer Strukturreform so DIE GRÜNEN]: Wir machen Ihnen Vor zielgerichtet und sozial treffsicher einzusetzen, daß schläge! - Achim Großmann [SPD]: Legen wir auch in schwierigen Zeiten mit begrenzten Mit- Sie doch mal Ihre Wohngeldnovelle vor!) teln eine möglichst vernünftige Wohnungspolitik ma- chen. Der Beschluß, Frau Eichstädt-Bohlig, ist nicht nur mit den Stimmen der SPD- und Unions-Wohnungsbau- Vielen Dank. minister gefaßt worden, sondern auch mit denen von zwei grünen Wohnungsbauministern, mit Herrn Ves- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) per, dem Superminister aus NRW, an der Spitze. (Joachim Hörster [CDU/CSU]: 16 : 0! Haben Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort nimmt Sie das nicht verstanden?) jetzt unser Kollege Wolfgang Thierse. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf. Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hat es eigentlich noch Zweck, in (Dr. Peter Struck [SPD]: Dann ist es ja gut! - diesem Hohen Hause nach Gemeinsamkeiten zwi- Achim Großmann [SPD]: Sie wolllen ja nur schen Regierung und Opposition zu suchen? davon ablenken, daß Sie selber keine Novelle haben!) (Zurufe von der PDS: Nein! - Joachim Hör- ster [CDU/CSU]: Immer!) Als ich am Wochenende bei einer Podiumsdiskussion in Berlin mit dem sachsen-anhaltinischen Baumi- Diese Debatte muß von den gescheiterten Versuchen nister Heyer und der schleswig-holsteinischen Bau- handeln, tragfähige Verabredungen für die Woh- ministerin Böhrk sprach, sagten sie in großer Offen- nungspolitik zu treffen. heit, mehr habe sich im Bundesrat nicht durchsetzen lassen. Ebenfalls eine beachtliche Erkenntnis! Herr Kollege Töpfer, es ist noch nicht lange her, daß wir über das Mietenüberleitungsgesetz gespro- Wenn das so ist, Herr Großmann, liebe Kolleginnen chen haben. Die SPD hatte einen gewissen Anteil und Kollegen von der SPD und den Grünen, dann daran, daß in Ostdeutschland akzeptiert worden ist: lassen Sie uns doch den Vorschlag des Bundesbau Ohne ausreichende Mieten kann es keine Pflege Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11189

Wolfgang Thierse oder Verbesserung des Bestandes an Wohnungen ge- die Schulden aber schon 64 000 DM. Das macht na- ben. türlich nur die Größenordnungen deutlich; die Ver- teilung ist in höchstem Maße ungleich, wie jeder Ihr persönlicher guter Wille, bei der Überleitung des weiß. Dies macht es noch unwahrscheinlicher, daß westdeutschen Mietrechts auf das ganz und gar nicht Ostdeutsche in großer Zahl Wohnungen kaufen kön- westliche Niveau der Haushaltseinkommen in den nen. östlichen Bundesländern Rücksicht zu nehmen, hat sich mir in den Gesprächen über das Gesetz durch- Wir können auch die sonstigen Unterschiede zwi- aus vermittelt. Ich will dies zu Beginn dieser Debatte schen den Haushaltseinkommen überprüfen. Damit ausdrücklich festhalten und würdigen. Aber wie der es nicht zu kompliziert wird, frage ich nur: Wie viele Kollege Geißler in anderen Zusammenhängen gerne Haushalte haben ein Einkommen unter 2 500 DM? verlauten läßt: Gut gemeint ist das Gegenteil von Im Westen sind es 35 Prozent aller Haushalte; im gut. Osten ist es mit 47 Prozent fast die Hälfte. Über 5 000 DM haben im Westen etwa 18 Prozent aller Haus- Die Ihnen unterstellten guten Absichten kommen halte, im Osten nur 8 Prozent. bei den heute zu beratenden Gesetzentwürfen nicht zum Zuge. Beide Gesetzentwürfe werden das Ge- Damit wir uns nicht mißverstehen: Mir geht es genteil von den Zielen bewirken, in denen wir doch nicht um Schuldzuweisungen. Nach so kurzer Zeit übereinstimmen. Ich kann das auch schärfer aus- wäre eine schnellere Entwicklung, insbesondere bei drücken: Es geht wieder einmal um regierungsamt- den Vermögen im Osten, verwunderlich. Ich ver- lichen Wortbruch gegenüber Ostdeutschland. lange aber, daß die Mieten- und Wohngeldpolitik darauf Rücksicht nimmt. Das ist doch wohl nicht zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ viel verlangt. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bestandteil des sogenannten Solidarpakts, einer DIE GRÜNEN) früheren Gemeinsamkeit in diesem Hause, war das Altschuldenhilfe-Gesetz. Es verfolgte einen guten Herr Kansy, gewiß ist in Ostdeutschland viel er- Zweck, nämlich die ostdeutschen Wohnungsunter- reicht worden; ich werde das nicht bestreiten. Aber nehmen zumindest teilweise von Schulden zu be- wir müssen genauer hinsehen. Noch immer ist ein freien, die zwar nicht fair, aber durch die A rt und Großteil der Wohnungen und Häuser in ziemlich be- Weise der Währungsunion unglaublich teuer gewor- jammernswertem Zustand. Ich nenne nur eine ein- den waren. Wenn Sie auf der Begleichung dieser zige Zahl - sie stammt von 1994 -: Etwa ein Drittel Schulden bestehen, treiben Sie die betroffenen Woh- der ostdeutschen Wohnungen hat keine Innentoi- nungsunternehmen entweder in die Pleite oder zu lette; im Westen sind es nur 2 Prozent. Bilder vom Zu- Mietsteigerungen, die sozialer Sprengstoff sein wer- stand der Häuser, von zerschundenen Häusern in den. Wir Ostdeutschen haben Geduld zur Genüge den Städten Ostdeutschlands, gingen ja um die Welt. gelernt übrigens nicht erst in den letzten sechs Jah- Einiges ist besser geworden, aber vieles noch nicht. ren. Aber überfordern dürfen Sie die ostdeutschen Auch das muß man wissen, wenn man über Altschul- Haushalte nicht. den und ihre Tilgung redet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich frage Sie: Wer also soll die zu privatisierenden DIE GRÜNEN) Wohnungen kaufen? Außer Veimögenden und Spe- kulanten aus dem Westen finden sich doch nur sehr Wir wollen die Altschulden streichen. Die Woh- wenige dazu bereit. nungsunternehmen sollen investieren, nicht aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Schulden gegenüber Banken begleichen, die sie sel- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ber nicht zu verantworten haben. Für die Hälfte die- und der PDS) ser Schulden ist dies vorerst gelungen. In ihrer herr- schenden Privatisierungsideologie versah die Bun- Sollten die Wohnungen, über die ein termingebunde- desregierung die Einigung allerdings mit einem Ha- ner Privatisierungszwang verhängt wurde, nicht vor- ken: Die Schuldenübernahme ist nämlich erst gesi- rangig an die darin wohnenden Mieter veräußert chert, wenn 15 Prozent des jewei ligen Wohnungsbe- werden? Das muß doch unser Ziel bleiben. standes privatisiert worden sind; anderenfalls wer- den sie fällig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die damals wie auch heute richtige Einrede dage- und der PDS - Zuruf von der SPD: So sah es gen lautet: Die Ostdeutschen haben aus historischen das Gesetz vor!) Gründen kaum Vermögen. Sollten Sie das nicht wis- Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen sen, fragen Sie Ihre ostdeutschen Kollegen. Es ist ja Verbesserungen gehen zwar in die Richtung unserer nicht so, als sei das in der Union unbekannt. Forderungen, nämlich lineare Gestaltung der derzeit Vorsichtshalber nenne ich Ihnen die Zahlen, die progressiven Erlösabfuhr und bevorzugte Veräuße- das Statistische Bundesamt dazu ausweist: Im Durch- rung an Mieter. Aber die Verbesserungen reichen schnitt hat jeder westdeutsche Haushalt etwa eben nicht aus, um diesen Effekt auszulösen. 290 000 DM Vermögenswerte und zirka 130 000 DM In Ostberlin gibt es einige gelungene Genossen- Schulden, Hypotheken inbegriffen. Im Osten sind schaftslösungen die Verhältnisse völlig anders: Das durchschnittliche Vermögen pro Haushalt beträgt nur zirka 83 000 DM, (Zuruf von der CDU/CSU) 11190 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Wolfgang Thierse - ich wohne da; ich kann mir erlauben, das zu sagen -, Lassen Sie mich noch einmal auf Ostdeutschland aber die Übernahme von Wohnungen durch Genos- zu sprechen kommen. Das Mietenniveau ist dort senschaften, die in Berlin von den Bewohnern gebil- ohne Zweifel noch niedriger als im Westen. Im Juni det worden waren, gefällt Ihnen auch nicht. Unser bezifferte das DIW die durchschnittliche Miete auf Antrag, diese Herauskäufe als Privatisierung im vol- 10,20 DM im Westen und auf 7,75 DM im Osten. Dort- len Sinne des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu akzeptie- ist das Ausstattungsniveau allerdings ebenfalls deut- ren, fand nicht Ihre Zustimmung. Das Problem hätte lich niedriger als im Westen; die Einkommen sind es, dann zwar leichter gelöst werden können; aber wie gesagt, ebenfalls. Das Mietenüberleitungsgesetz schon hierbei erwies sich: Worte und Taten der Re- nimmt darauf auch Rücksicht. gierung sind nicht in Übereinstimmung zu bringen. Vielleicht ist noch der Umstand interessant, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne den Ostdeutschen pro Kopf 27 Quadratmeter Wohn- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) raum zur Verfügung stehen; im Westen sind es 37 Quadratmeter. Es war uns allen klar - das wi ll ich Nun zum zweiten Gesetzentwurf: Bei der Mieten- sagen -, daß das Sonderwohngeld Ost nicht dauer- überleitung hat das Wohngeld eine wesentliche haft bleiben kann. Aber unbestreitbar hat der Staat Rolle gespielt. Es handelt sich um ein bewährtes die Verantwortung dafür, daß es genügend Wohn- Instrument, um die Rentabilität von Mieten für die raum gibt, und dafür, daß er bezahlbar bleibt. Wohnungsbesitzer zu verbessern und zugleich die Mieter nicht zu überfordern. Die Ost-West-Unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- schiede fangen schon damit an, daß die Haushalte ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und ihre Einnahmen- und Ausgabensituation stati- stisch kaum vergleichbar sind, es sei denn, die Haus- Sie sind gerade mit den heute zur Beratung anste- halte leben wesentlich von Transfereinkommen wie henden Gesetzentwürfen dabei, beide Ziele zu ver- Rente, Wohngeld und dergleichen. Genau diese aber fehlen. werden von Ihrer Wohngeldanpassung betroffen. Berechnungen des Deutschen Mieterbundes ent- Was aber war der tiefere Sinn der Verabredung, nehme ich, daß Ihre Wohngeldanpassung vierköp- eine, strukturelle Wohngeldnovelle vorzulegen? Der fige Familien mit einem durchschnittlichen niedrigen Sinn war, in ganz Deutschland zu vermeiden, was Einkommen vor erheblichen Verlusten bewahrt; ich jetzt in Ostdeutschland geschehen wird. Diese Zu- stelle das ausdrücklich fest. Wenigstens insoweit sind sage, Herr Minister, haben Sie nicht nur mir und dem Härten Ihres Gesetzentwurfes gemildert. Die übrigen Kollegen Großmann im Zusammenhang mit dem aber, vor allem also die besonders Betroffenen, Rent- Mietenüberleitungsgesetz gegeben. Diese Zusage ner, Alleinstehende, werden auf eine Weise zur haben Sie wiederholt auch vor dem Deutschen Bun- Kasse gebeten, die einfach nicht akzeptabel ist. destag gemacht und bekräftigt, und zwar unter Nen- nung von Terminen. Zum Beispiel haben Sie im No- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vember 1995 ausweislich des Protokolls gesagt, die Das wird zu einer erheblichen Zahl von Fällen füh- Novelle sollte 1996 in Kraft treten. Dafür müßten wir ren, bei denen die Kürzung des Wohngeldes aber heute genau über eine solche strukturelle 100 Prozent beträgt. Das ist, sozial gesehen, uner- Wohngeldnovelle beraten. träglich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die in Ostdeutschland ausbezahlte Lohnsumme beträgt, ungeachtet anderslautender Tarifverträge, Nun aber besteht überhaupt keine Chance mehr, etwa 72 Prozent des Westniveaus. Das Preisgefüge ist das Wohngeld noch in diesem Jahr den aktuellen Ge- inzwischen angeglichen, liegt also bei 100 Prozent. gebenheiten anzupassen. Die Vokabel „Wortbruch" Die Mieten sind der einzige Ausgabeposten, der mit ist also keinesfalls übertrieben. Dieser Wortbruch ist immerhin zirka 77 Prozent wenigstens noch annä- im übrigen mit Bedacht erfolgt; das Kabinett hat hernd diesem Einkommensniveau entspricht. Die er- nämlich entdeckt, daß das Wohngeld eine wunder- hebliche Verringerung des Wohngeldes wird dazu bare Sparbüchse ist. Dank veralteter Einkommens- führen, daß trotz deutlich geringerer Vermögen in grenzen und veralteter Miethöchstbeträge wachsen Ostdeutschland die Lebenshaltungskosten auf immer mehr Haushalte aus der Berechtigung hinaus. 100 Prozent des Westniveaus steigen. Das ist eine fal- Diesen Effekt will man sich offensichtlich nicht ent- sche Form der Angleichung. Das ist nicht fair gegen- gehen lassen. Insoweit reden wir hier keineswegs über 15 Millionen Menschen, denen doch ganz an- nur über Ostdeutschland. dere Aussichten vorgegaukelt worden waren. Oder hat der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministe- (Beifall bei der SPD) rium, als er vor einer Woche von weiteren 15 Jahren ungleicher Verhältnisse in Deutschland sprach, nur Auch im Westen werden durch diese ständige Ver- die Einkommen gemeint? zögerung die geringverdienenden Mieter geschä- digt. Im Klartext: Die Bundesregierung hat Sie, Herr Meine Damen und Herren, der damalige Umwelt- Töpfer, desavouiert, hat Sie mit Ihren Plänen und Zu- minister hatte am Ende seiner Amtszeit das Etikett sagen einfach im Regen stehenlassen. Daß Sie sich eines Ankündigungsministers hinzunehmen. das bieten lassen, ist Ihre eigene Sache, Herr Mi- nister. Daß es überhaupt geschieht, zeigt, wie sehr (Zuruf von der SPD: Das hat er auch noch diese Regierung mit dem Rücken zur Wand steht. weiter!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11191

Wolfgang Thierse Seine Nachfolgerin ist dem dadurch entgangen, daß Sie weisen darauf hin, daß die Baufertigstellungszah- sie nicht einmal etwas angekündigt hat. Der Woh- len gestiegen sind: 1991 331 000 Wohnungen, 1993 nungsbauminister Töpfer muß nun dieses Etikett 455 000 Wohnungen, 1995 603 000 Wohnungen. wieder tragen; er hat es sich redlich verdient. ( [CDU/CSU]: Hervorragende (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ergebnisse!) - DIE GRÜNEN) - Ja, hervorragende Ergebnisse. Dennoch: Wir haben keine andere Wahl, als uns trotz gebrochener Versprechen, trotz dieses eklatan- Frau Rönsch weist darauf hin, wie toll die Mieten ten Mangels an Verläßlichkeit weiterhin mit Ihnen an gesunken sind. Ich habe mir die letzten Zahlen der einen Tisch zu setzen. Die Wohnungsbauunterneh- Neuvertragsmieten herausgesucht: In westdeutschen men zu Investitionen zu befähigen und zugleich Altbauten kostet der Quadratmeter netto kalt durch- auch mit Hilfe des Wohngeldes den Mieterinnen und schnittlich 11 DM, heißt brutto 13,50 DM. In Nach- Mietern noch Gestaltungsspielräume zu lassen, müs- kriegsbauten kostet der Quadratmeter netto kalt sen die beiden wohnungspolitischen Ziele sein, die 12 DM, heißt brutto mindestens 14,50 DM. In Neu- wir weiter verfolgen wollen. Ich setze einmal voraus, bauten in Mittelstädten kostet der Quadratmeter daß wir wenigstens insoweit weiterhin übereinstim- netto 14,50 DM men. Es gilt, die Wege dahin gemeinsam zu definie- ren; denn nur in Übereinstimmung von Bund und (Zuruf von der SPD: Warm?) von westdeutschen und ostdeutschen Ländern ist das möglich. Es geht dabei im übrigen auch um Wi rt - nein, nicht warm, netto kalt, ich rede nur von Kalt- -schaftspolitik, darum, wieviel Kaufkraft in Ost- mieten, heizen müssen die Leute zusätzlich -, brutto deutschland übrigbleiben wird, darum, ob die Bau- 17 DM. In Neubauten in Großstädten - das sind die wirtschaft wieder eine Funktion für die Konjunktur in Zahlen, die Sie neulich nicht deutlich ausgesprochen Ostdeutschland wahrnehmen kann. Es geht um die haben - ist der Quadratmeterpreis netto kalt 17 bis wirkliche Angleichung der Lebensverhältnisse. Man 20 DM, das sind 19,50 DM bis 23 DM Bruttokaltmie- kann Menschen nicht gleiche Kosten zumuten, de- ten. - In Ostdeutschland sieht es etwas günstiger aus. nen man gleiche Einkommen und gleiche Leistun- gen verweigert. Ich habe diese Zahlen nicht genannt, damit wir uns gegenseitig belehren. Aber: Ich habe sie mit den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wohngeldtabellen verglichen und festgestellt, daß DIE GRÜNEN) nicht ein Wohnungssuchender, der wohngeldberech- tigt, sozialwohnungsberechtigt ist, solche Mieten Beide Gesetzentwürfe aus dem Hause Töpfer ver- überhaupt bezuschußt bekäme und bezahlen fehlen diese Ziele. Wir können ihnen deshalb in der könnte. jetzigen Fassung nicht zustimmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir müssen uns mit dem Problem befassen, daß DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wir zwei Wohnungsmärkte haben. Sie sind immer PDS) um den Wohnungsmarkt der Schichten besorgt, die Mieten in der genannten Größenordnung bezahlen können. Mein Anliegen ist die Wohnungsversorgung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt für die Schichten, die diese Mieten nicht bezahlen die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig. können.

Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, GRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- bei der SPD und der PDS) nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Töp- Ich bitte Sie darum, sich klarzumachen, daß das rund fer! Herr Thierse hat es ausgesprochen, und wir ha- 50 Prozent der Bevölkerung sind. Ich sage Ihnen eine ben es ja auch in der letzten Haushaltsdebatte schon Zahl, die neulich Frau Thoben auf eine Anfrage der sehr deutlich gesagt: Wir haben es hier wirklich mit Kollegin Wöhrl genannt hat: 40 Prozent aller Haus- einem sehr eklatanten Wortbruch zu tun. halte in der Bundesrepublik sind sozialwohnungsbe- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ rechtigt, sprich: wohngeldberechtigt. Wir haben es CSU) also wirklich mit rund der Hälfte der Bevölkerung zu tun; denn so hoch sind die Sozialeinkommensgren- Das Wort „Ankündigungsminister" an dieser Stelle zen nun auch nicht. zu verwenden heißt, die Dinge zu schönen. Mir geht es aber um mehr, und ich möchte versu- Hier umzusteuern ist wichtig, weil die Politik der chen, das darzustellen. Ich glaube schon, daß in die- Angebotsausweitung gescheitert ist, also Ihre Politik, sem Sommer mit dem Zuschnappen der Wohngeld die Sie bisher betrieben haben. Die sozialen Folge- falle die letzten 25 Jahre Wohnungspolitik eine A rt probleme der Angebotsausweitung lassen sich nicht Bankrotterklärung erfahren haben. Ich möchte versu- mehr finanzieren, jedenfalls nicht in der jetzigen chen, das zu erläutern. Form. Wir können das nur finanzieren, Herr Kansy - ich bitte Sie zuzuhören, denn dazu haben sowohl Sie, sowohl der Herr Minister als auch die Kollegin- Herr Großmann als auch ich einen Vorschlag ge- nen und Kollegen, führen immer wieder an, daß Sie macht -, wenn wir an die indirekten Subventionen die Probleme über eine Angebotsausweitung lösen. herangehen, sprich: ins Steuerrecht eingreifen; denn 11192 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Franziska Eichstädt-Bohlig dort sind die Gelder, die wir jetzt dringend für die Ich muß Ihnen noch ein paar Zahlen nennen - es Wohngeldsubvention brauchen. ist tatsächlich so, wie Herr Thierse gesagt hat -: Das normale Wohngeld ist für viele Haushalte inzwischen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS sehr bescheiden. Nach Zahlung ihrer Miete verfügen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) sie nicht einmal mehr über den Betrag, der dem Exi-- Es geht also insofern nicht darum, daß wir kein stenzminimum eines Sozialhilfeempfängers ent- Geld und nur leere Hosentaschen haben, sondern es spricht. Das heißt, daß das normale Wohngeld so geht darum, daß insbesondere im wohnungspoliti- niedrig ist, daß es die Menschen - unabhängig von schen Bereich die Prioritäten nach wie vor falsch ge- anderen Faktoren - in die Sozialhilfe treibt. setzt werden. Ich denke, darüber sollte man offen re- Dazu zwei Beispiele: Eine Rentnerin mit 1 000 DM den. Rente und 550 DM Kaltmiete bekommt bei der Mie- Da Sie immer um die Angebotsausweitung für die tenstufe 4 ein Wohngeld von 114 DM. Sie hat nach Schichten, die es sich leisten können, besorgt sind, Zahlung ihrer Miete 564 DM zum Leben. Ihr sozial- möchte ich darauf hinweisen, welch eklatante Folgen hilferechtliches Existenzminimum läge - ohne die das hat. Wir bekommen zunehmende Wohnungsar- Miete - bei 665 DM. Wollen wir die Frau in die mut in zunehmendem Wohnungsreichtum. Ich sage Sozialhilfe treiben? nicht, daß Ihre Politik nicht das Wohnungsangebot Zweites Beispiel: Eine Alleinerziehende mit zwei vermehrt, sie tut es jedoch nur für die Schichten, die Kindern und einem Bruttoeinkommen von 2 500 DM sich mehr Flächenverbrauch leisten können. Ent- mit einer Miete von 1 000 DM bekommt Wohngeld in sprechend sinkt die Wohnraumversorgung für die Höhe von 135 DM. Nach Abzug der Miete verbleiben Schichten, die das nicht können, so daß wir wach- dieser Familie, also drei Personen, netto 1 417 DM. sende Wohnungsarmut im Bereich der unteren Würde sie von Sozialhilfe leben, würde sie 1 519 DM Hälfte haben. bekommen. Das zeigt doch ganz deutlich, daß Sie (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Wo mit Ihrer Politik der Wohngeldverknappung die sinkt sie denn tatsächlich?) Menschen unter das Existenzminimum, in die Sozial- hilfe treiben. - Das möchte ich Ihnen darstellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Von den 2,7 Millionen Menschen, die zur Zeit und bei der SPD) Wohngeld bekommen - es sind viele aus der Wohn- geldförderung herausgefallen; Herr Thierse hat ge- Das ist mit der Würde der betroffenen Menschen, die rade darauf hingewiesen -, sind 1 Mil lion vom pau- ein Recht darauf haben, ihr Leben selbständig zu schalierten Wohngeld abhängig, sie sind also Sozial- organisieren, nicht in Einklang zu bringen. hilfeempfänger. In Westdeutschland sind das 50 Prozent der Wohngeldempfänger. Sie wissen ganz Ich habe das letzte Mal deutlich darauf hingewie- genau, daß die Sozialhilfeprobleme mit beängstigen- sen, daß wir zweierlei brauchen: Wir brauchen auf der Geschwindigkeit zunehmen. In Berlin - West und der einen Seite ein effizientes Wohngeld, das ein an- Ost - ist die Zahl der Sozialhilfeemfänger von 1991 gemessenes Existenzminimum sichert. Wir brauchen bis 1996 von 38 800 auf 110 300 gestiegen, also auf auf der anderen Seite - das ist mir genauso wichtig, fast das Dreifache in fünf Jahren gewachsen. auch wenn ich es heute nicht ausführe - eine Politik, die die Abhängigkeit vom Wohngeld nicht erhöht, (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Der sondern deutlich senkt. größere Teil durch Zuzug!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Nein, Herr Kansy, Sie sollten sich die Zahlen anse- hen. Wir reden in den nächsten Wochen über Ich sage noch einmal die Stichworte: Bestandspolitik Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenhilfe wird abge- und Mietrechtspolitik. Wir werden noch genug Gele- baut, entsprechend wird die Sozialhilfe steigen, die genheit haben, darüber zu reden. Kommunen werden weiter belastet. Es sollen Be- Unsere Forderung ist ganz einfach: Lassen Sie das schäftigungsmaßnahmen gestrichen werden. Die Wohngeldsondergesetz in der jetzt geltenden Form Folge: Die Anzahl der Arbeitslosen und Sozialhilfe- bis zum nächsten Sommer weiterbestehen, lassen Sie empfänger wird weitersteigen. Das ist weniger ein es also nicht schon im Dezember dieses Jahres aus- Zuzugsproblem. Es ist überwiegend ein Problem der laufen! Legen Sie dann nach Ablauf dieses halben sozialen Destabilisierung im ökonomischen Bereich, Jahres ein reformiertes Wohngeldrecht vor, wie Sie sprich: auf dem Arbeitsmarkt. Das sollten wir ehrlich es versprochen haben! ansprechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich finde, das ist fair, und das haben die Menschen auch verdient. Sowohl Herr Großmann als auch ich und bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben vorgeschlagen, wie es finanzierbar ist. Wir der PDS) sollten den Mut haben, das umzusetzen; denn wir Um so wichtiger ist es, daß wir den Menschen im müssen wirklich in die „unteren Etagen" gehen und Wohnbereich helfen, damit sie nicht beides verlieren: dürfen nicht ständig die Angebotsausweitung bei Arbeit und Wohnung. den Besserverdienenden finanzieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11193 Franziska Eichstädt-Bohlig Ich sage ganz deutlich: Nehmen Sie die Finger lungsfähig sind, aber toll finden wir das wirklich weg vom pauschalierten Wohngeld! Eine weitere Be- nicht, was Sie hier zustande gebracht haben. lastung der Kommunen mit Sozialhilfe ist nicht zu- mutbar. Monat für Monat werden hier Entscheidun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) gen gefällt, die die Kommunen weiter belasten. Die - Kommunen sind an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Eine Wohngeldreform zu Lasten der Kommunen ist Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort nimmt wirklich unverantwortlich. jetzt der Kollege Hildebrecht Braun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Frau Präsi- der PDS) dentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte fin- Ich fordere Sie also auf, nicht ins pauschalierte det heute in der Kernzeit statt; sie könnte also eigent- Wohngeld einzugreifen und die Kommunen nicht lich auch im Fernsehen übertragen werden. Dann al- weiter zu belasten. Das ist nicht nur eine Finanz- lerdings müßte ich als Mitglied der Kinderkommis- frage. Inzwischen sind wir an der Schwelle, an der sion Einspruch einlegen; denn Horrorsendungen die Kommunen nicht einmal mehr die elementarsten wollen wir der Bevölkerung nicht bereits früh um Formen der kommunalen Demokratie aufrechterhal- 9 Uhr zumuten. Es kann doch wohl nicht angehen: ten können, weil sie praktisch nicht mehr handlungs- Wir haben hier eine Geisterstunde. fähig sind. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Zuruf des Abg. Gert Willner [CDU/CSU]) ten der CDU/CSU - Joseph Fischer [Frank- furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt - Nein, hier haben wir alle gemeinsam eine Verant- setzen Sie sich doch wieder hin! Wohnungs- wortung, gerade auch der Bund. An diese Finanzie- politischer Frankenstein, King-Kong in der rung müssen wir wirklich heran, Herr Willner. Bütt! - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und von der SPD) Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zur Altschul- denhilfe und zu der Privatisierungsfalle sagen - das Da stellen sich Herr Thierse und Frau Eichstädt-Boh- meiste hat Herr Thierse schon genannt -: Wir werden lig hin und erzählen von den Schrecken der Woh- uns bei Ihrem kleinen Gesetzchen enthalten und nungspolitik und ihren Ergebnissen, obwohl sie ganz nicht dagegenstimmen, weil wir dankbar sind, daß genau wissen, daß sich die Dinge gerade in Deutsch- Sie sich nach den langen Jahren der Diskussion lands Osten in den letzten Jahren außerordentlich überhaupt ein kleines bißchen bewegt haben. Aber verbessert haben. Sie sollten ehrlich gestehen, daß die Altschuldenhilfe und die Privatisierung gescheitert sind. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Herr Braun, gerade Sie haben vorhin so geklatscht. DIE GRÜNEN]: Für wen denn?) Daher muß ich Ihnen doch noch einmal die Zahlen sagen: Bis 1994 sind insgesamt 69 000 Wohnungen Jetzt noch von Wohnungsnot zu sprechen ist unver- privatisiert worden, davon 24 000 an Mieter und antwortlich. 45 000 an Dritte, sprich: an Kapitalanleger, überwie- (Beifall bei der F.D.P.) gend westdeutsche Kapitalanleger. In 1995 sieht das Es gibt auf Grund einer angebotsorientierten Poli- Bild genauso aus: 52 000 Wohnungen privatisiert, tik zirka 15 000 an Mieter, davon 3 000 Wohnungen an der Bundesregierung und der sie seit 1990 tragen- den Koalition genügend Wohnungen im Land. Die Genossenschaften, 34 000 Wohnungen an Zwischen- erwerber, sprich: westdeutsche Kapitalanleger; Stich- Folge dieser angebotsorientierten Politik ist, daß die worte: Steuersubventionen, Fördergebietsgesetz. Neuvermietungsmieten und die Wiedervermietungs- mieten flächendeckend bundesweit - in Ost und Also seien wir doch einmal ganz ehrlich: Das Alt- West, in Nord und Süd - sinken, und zwar im Schnitt schuldenhilfe-Gesetz in seiner jetzigen Form dient um 20 Prozent. nichts anderem als dem Kapitaltransfer aus ostdeut- schen Städten. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wann waren Sie das letzte Mal in den neuen Bundesländern?) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Das nehmen diese Herrschaften von der Opposition nicht zur Kenntnis, sondern stellen sich hier hin wie Hier fließt also ostdeutsches öffentliches und genos- an die Klagemauer und versuchen, sich nach dem senschaftliches Vermögen an westdeutsche Kapital- Motto durchzuschlängeln: Lerne zu klagen, ohne zu anleger. Ich finde es peinlich, daß das hier weiter leiden. - Das kann nicht richtig sein. hochgehalten werden soll und daß die Kommunen dafür Geld abführen müssen. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, nur scheinbar handelt und bei der SPD sowie bei Abgeordneten es sich bei den beiden Themen, die wir heute in der der PDS) wohnungspolitischen Debatte erörtern, um Fragen, die nur Deutschlands Osten betreffen. Gerade das Wir werden uns bei der Abstimmung enthalten, Wohngeld ist ein Thema, das für unser ganzes Land damit die Wohnungsgesellschaften überhaupt hand- von Bedeutung ist. 11194 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hildebrecht Braun (Augsburg) Für die F.D.P. will ich mit aller Deutlichkeit und tum des verfügbaren Einkommens gegenüberstand, Klarheit betonen: Wir stehen hinter dem System des sind Zehntausende von Westhaushalten aus der Wohngelds; denn das Wohngeld ist die effektivste Wohngeldberechtigung herausgefallen. Hilfe für Menschen, die die Miete nicht oder nur un- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ ter kaum erträglicher persönlicher Belastung bezah- DIE GRÜNEN]: Haben Sie es auch len können. Wohngeld - zumindest das Tabellen- gemerkt?) wohngeld - fördert nur den, der es wirklich braucht. Das Problem der Fehlsubventionierung, das den so- Nur, diese Reform, die wir alle gern gehabt hätten, zialen Wohnungsbau alter Prägung unverantwortbar (Iris Gleicke [SPD]: Wer regiert denn hier gemacht hat, gibt es beim Wohngeld nicht. eigentlich?) (Beifall bei der F.D.P.) hätte Milliarden gekostet, und keiner - jedenfalls Öffentliche Mittel gehen genau do rt hin, wo sie auch keiner unter den Koalitionsabgeordneten - konnte hingehen sollen. Menschen und nicht Gebäude wer- sagen, woher wir diese Milliarden nehmen sollten. den gefördert. Das ist das Fördersystem auch der Zu- (Achim Großmann [SPD]: Aber Luxussub- kunft. ventionen für Luxusbauten!) Sechs Jahre nach dem Zusammenschluß der deut- Vielleicht liegt die Misere aber auch nur darin, daß schen Staaten läuft zum Jahresende das Sonder- wir den Haushaltspolitiker mit der besonderen Phan- wohngeld Ost aus, das den Bürgern im Osten - Herr tasie nicht in unseren Reihen haben, der vor wenigen Thierse, hören Sie einmal genau zu -, wohlgemerkt: Wochen allein zur Finanzierung zusätzlicher Lehr- bei gleicher individueller Belastung wie bei ver- stellen im Haushalt 2 Milliarden DM finden wollte. gleichbaren Bürgern im Westen, einen deutlich hö- heren Wohngeldanspruch gegeben hat. Diese Wohl- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ tat des Gesetzgebers war nur deshalb vertretbar, weil DIE GRÜNEN]: Wer will denn den Solidari- die Bürger in Deutschlands Osten gewaltige Miet- tätszuschlag abbauen, wer ist denn das, sprünge hinnehmen mußten, als die staatlich verord- mein Lieber? - Hallo Schatzi, was ist mit neten Mieten in mehreren Schritten - zuletzt durch dem Solidaritätszuschlag?) das Mietenüberleitungsgesetz des Jahres 1995 - in Dieser bundesweit bekannte Zahlenakrobat, Rudolf etwa an die Marktmiete herangeführt wurden. Scharping, steht uns als Haushaltsberater nicht zur (Siegfried Scheffler [SPD]: Lesen Sie doch Verfügung. Er würde uns allenfalls mitteilen, daß die einmal den Einigungsvertrag!) mexikanischen Familien auch ohne jedes Wohngeld doch viel glücklicher seien als die deutschen, womit Das Ergebnis dieser Mietenpolitik ist unter ande- er übrigens vielleicht sogar recht hat. rem, daß die Bürger in den neuen Bundesländern im Nachdem somit die Lösung der Anhebung des Schnitt noch immer eine deutlich geringere Miete als Wohngelds West auf das Niveau des Wohngelds Ost im Westen bezahlen und daß sie auch - relativ zu ih- ausschied, blieb eigentlich nur die Absenkung des rem Einkommen, das in der Tat im Schnitt deutlich Wohngelds Ost auf das Niveau des Wohngelds niedriger liegt - etwa 20 Prozent weniger für die Deutschland West, wenn wir wirklich die Anglei- Miete aufwenden, als dies die Menschen im Westen chung erreichen wollten. Da aber staatliche Wohlta- tun müssen. Allerdings - da gebe ich Herrn Thierse ten nun einmal die Eigenschaft haben, als gottgege- recht - liegt die Qualität der Wohnungen im Osten im ben und selbstverständlich angesehen zu werden, Durchschnitt immer noch deutlich unter der im We- haben es viele, die sich hierfür eingesetzt haben, ver- sten. Bloß, Herr Thierse, sich hier hinzustellen und zu mocht - mit massiver Unterstützung auch der Mi- beklagen, es sei nicht genügend modernisiert wor- nisterpräsidenten aus dem Osten -, zu intervenieren, den, aber zugleich gegen die Modernisierung im und sie haben Erfolg gehabt. Osten zu polemisieren und beim Mietenüberlei- tungsgesetz eine Modernisierungssperre einzuzie- Die Koalition legt Ihnen heute einen Gesetzent- hen, nämlich mit der Kappungsgrenze von 3 DM, das wurf vor, nach dem pro Jahr 160 Millionen DM - zu- paßt alles nicht zusammen. Ich wünschte mir, daß Sie sätzlich zum gesamtdeutschen Wohngeld - aus- hier eine klare Linie hätten. Es ist Ihre Aufgabe als schließlich Bürgern in den neuen Bundesländern zu- Opposition, zu kritisieren, aber tun Sie es bitte do rt, fließen werden, 160 Millionen DM, die den Über- wo Sie wirklich Anlaß dazu haben. In diesem Bereich gang vom staatlich reglementierten Mietniveau des haben Sie den allergeringsten Grund, der Regierung Mietenüberleitungsgesetzes zur Marktmiete erleich- oder der Koalition Kritik entgegenzubringen. tern sollen. Zu diesem Gesetzentwurf stehen wir, ob- wohl er vor den Mietern in Deutschlands Westen Es ist an der Zeit, daß Sonderregelungen für nicht leicht vertreten werden kann. Deutschlands Osten wegfallen. Die Frage war nur, auf welcher Basis die Rechtsangleichung auch beim Herr Thierse, ich möchte Sie bei Ihrem Telefonat Wohngeld erfolgen sollte. Natürlich wäre es uns am nicht unterbrechen: Aber für jemanden, der in liebsten gewesen, wir hätten das Wohngeld West auf Deutschland West 2 000 DM netto hat, zwei Kinder das Niveau des Wohngelds Ost anheben können. hat und 700 DM Miete bezahlen muß, ist die Situa- Das wäre auch naheliegend, denn das Wohngeld ist tion nicht besser als für den, der in Deutschland Ost in Deutschlands Westen in den letzten 6 Jahren nicht 2 000 DM netto hat, zwei Kinder hat und 700 DM für angepaßt worden. Angesichts der gestiegenen Brut- die Miete bezahlt; aber er kriegt in Deutschland West togehälter, denen oft nur ein sehr geringes Wachs- weniger Wohngeld. Das ist der Punkt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11195

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Braun, gestat- Ich wiederhole - vielleicht erinnern Sie sich daran -: ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Franziska Dadurch, daß wir jetzt ein System haben, das prak- Eichstädt-Bohlig? tisch exakt die gleiche Miete für Altbauten in bester Lage in Dresden wie für Wohnungen an der polni- schen Grenze vorsieht, zahlen viele Mieter schon - Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Ich möchte jetzt eine viel zu hohe Miete. Die Marktmiete würde gern erst noch den Gedanken zu Ende bringen. In darunter liegen, und Sie werden sehen, daß meine einer Minute gern. Prognose zutrifft. Ich möchte auch deutlich machen, daß dieser (Beifall bei der F.D.P.) Übergang zur Marktmiete nach Ablauf des Mieten- überleitungsgesetzes keineswegs zu Mietsteigerun- Ich fahre fort : Trotz dieser guten Aussichten wer- gen in großer Zahl führen wird. Ganz im Gegenteil: den Millionen wegen Arbeitslosigkeit, vieler Kinder Angesichts Zehntausender, ja Hunderttausender oder geringer Renten einen Mietzuschuß brauchen. leerstehender Wohnungen im Osten werden sehr Sie werden Wohngeld erhalten, und zwar auch in Zu- viele Mieten sinken, besonders die Mieten von Woh- kunft mehr Wohngeld, als die Bürger im Westen bei nungen in schlechter oder jedenfalls nicht besonders gleich hoher Miete und gleich hohem Einkommen guter Lage und von Wohnungen, die nicht besonders erhalten. Dieser Umstand scheint vielen im Osten - gut ausgestattet sind. Aber auch bei den moderni- auch bei Mietervereinen, die nicht von der PDS ge- sierten Wohnungen, die mittlerweile in großer Zahl führt werden - unbekannt zu sein; denn anders wäre auf dem Markt sind und zum Teil auch leerstehen, es kaum verständlich, daß im Osten von Protest- und auch bei neugebauten Wohnungen werden die aktionen berichtet wird, nicht aber im Westen. Mieten in weiten Bereichen sinken. Angstmacherei Alle Protestierenden sollten wissen, daß das Wohn- ist nicht angesagt. Ganz im Gegenteil: Die Bürger in geld aus Steuermitteln bezahlt wird, die von Mietern Deutschlands Osten können mit Zuversicht dem in Deutschland Ost und in Deutschland West aufge- Übergang vom Mietenüberleitungsgesetz zur Markt- bracht werden. Richtiger wäre es, die Opposition miete entgegensehen. würde sich heute gemeinsam mit uns darüber freuen, (Beifall bei der F.D.P.) daß es noch einmal gelungen ist, für die Mieter in Deutschlands Osten für die kommenden Jahre eine Bitte sehr. Sonderförderung zu erhalten. Dies war angesichts der finanziellen Zwänge dieses Haushalts alles an- dere als selbstverständlich. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Braun, können Sie mir zu- Wer mehr Wohngeld in Deutschland Ost und in geben, daß hinter Ihrem Ziel, die Freigabe der Mie- Deutschland West will, der möge bitte auch den Mie- ten im Rahmen der Mietrechtsreform zu erreichen, tern sagen, daß dies nur über eine höhere Nettoneu- im wesentlichen die Absicht steht, Mieterhöhungen verschuldung finanziert werden könnte, durchzusetzen, womit aber der Bedarf an Wohngeld wieder weiter erhöht würde, was völlig im Wider- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ spruch zu dem steht, was Sie gerade bedauern, näm- DIE GRÜNEN]: Ist doch nicht wahr!) lich daß es nicht ausreichende Mittel für das Wohn- also durch Kredite, die unsere Kinder zurückzahlen geld gibt? Wie wollen Sie eigentlich diese Widersprü- müssen. Damit würden wir deren Zukunftschancen che in Ihren politischen Zielen auflösen? wieder verschlechtern. Das kann wohl nicht richtig sein! Deswegen schlagen wir Ihnen dies auch nicht vor. Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Frau Eich- (Beifall bei der F.D.P.) städt-Bohlig, ich kann Ihnen das nicht zugestehen, weil es überhaupt nicht das Ziel derer ist, die die Wir werden nachhaltig für eine Strukturnovelle Mieten freigeben wollen, daß die Mieten steigen. Wir des Wohngeldes für Mitte 1997 kämpfen; denn es ist wollen, daß die richtige Miete, nämlich die Markt- Reformbedarf angesagt. Ein Teil dessen wurde auch miete, bezahlt wird. Wie ich Ihnen gerade schon von Ihnen bereits angesprochen. Ich möchte mich sagte, werden die Mieten in weiten Bereichen sin- dazu hier im Moment nicht verbreiten, darf aber an- ken. Ich habe schon vor einem Jahr von diesem kündigen, daß die F.D.P. bald sehr konkrete Vor- Podium aus bei der Debatte über das Mietenüberlei- schläge vorlegen wird. tungsgesetz gesagt, daß in weiten Bereichen in Lassen Sie mich noch einige Worte zum Altschul- Deutschlands Osten nach dem Mietenüberleitungs- denhilfe-Gesetz sagen, auch wenn mir die Zeit da- gesetz zu hohe Mieten gezahlt werden. vonläuft. Aber einiges scheint mir doch wichtig zu (Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜND sein. Man muß wissen, daß wir die Privatisierung - NIS 90/DIE GRÜNEN] macht Anstalten, wohlgemerkt an die Mieter - nachhaltig fördern wol- sich wieder zu setzen) len. Wir halten an diesem Konzept fest; denn der ge- sellschaftspolitische Ansatz, daß wir auch im Osten - Nein, lassen Sie das Mikrofon ruhig oben. Ich mehr Eigentümer haben wollen, bleibt und hat sich möchte die Antwort nicht auf meine Redezeit ange- in den letzten 6 Jahren nicht geändert. Wir haben rechnet bekommen. hier immer noch einen gewaltigen Bedarf. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch deswegen erleichtern wir den Wohnungsge- DIE GRÜNEN: Setz dich! - Heiterkeit) sellschaften durch das Gesetz, das wir heute verab- 11196 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hildebrecht Braun (Augsburg) schieden wollen, die Privatisierung ganz erheblich, weiteren Abbau sozialer Leistungen durch das soge- indem wir nämlich die Abführungsquote an den Erb- nannte Sparpaket unter dem heuchlerischen Begriff lastentilgungsfonds drastisch zurückfahren. Wir er- „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" leichtern es aber nicht nur den Wohnungsgesell- geht es nun mit dem Sozialabbau in der Wohnungs- schaften. Wir haben auch - daran möchte ich bei die- politik munter weiter. Obwohl die Tabe llen des Wohn-- ser Gelegenheit doch erinnern - alles getan, um den geldes West seit 6 Jahren nicht angepaßt wurden - Mietern die Möglichkeit, ihre Wohnung zu erwer- selbst Herr Braun hat das ja richtig erkannt - und uns ben, über die Wohneigentumsförderung des letzten eine gesamtdeutsche Wohngeldnovelle versprochen Jahres in einem Maße zu erleichtern, die eigentlich wurde, gleicht man das Wohngeld West nicht an das kaum mehr überboten werden kann. Wenn jemand, höhere Niveau des Ostens an, sondern macht genau der verheiratet ist und zwei Kinder hat, seine eigene das Umgekehrte: Das Wohngeld Ost wird auf das Wohnung beispielsweise für 150 000 DM erwerben niedrige Westniveau heruntergefahren. Wie weit man kann - das ist in vielen Fällen ein ganz realistischer bzw. frau dem Wo rt eines deutschen Ministers noch Preis -, dann bekommt er 8 Jahre lang einen Zu- Glauben schenken kann, dazu will ich mich jetzt hier schuß von je 5 500 DM - das sind zusammen gar nicht mehr äußern. Das haben meine Vorredner 44 000 DM - bar auf die Hand, und zwar unabhängig schon zur Genüge getan. Ich hatte da auch keine Illu- von seinem Einkommen. sion; das muß ich Ihnen ehrlich sagen. Darüber hinaus erhält jeder Antragsteller in den Wir treten für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit in neuen Bundesländern - auch eine Initiative der Ost und West ein. Genauso können wir nicht verste- F.D.P. - für die letzten 20 Prozent des zu finanzieren- hen, warum eine Mieterin oder ein Mieter, der die den Kaufpreises eine Staatsbürgschaft, quasi als gleiche Rente erhält, der den gleichen Wohnraum Eigenkapitalersatz. Dies macht es den Erwerbern ih- hat, die gleiche Miete zahlt, ein unterschiedliches rer eigenen Wohnungen deutlich leichter, den benö- Wohngeld erhalten soll. Dies ist mit uns nicht mehr tigten Kredit von der Bank zu bekommen. Hinzu zu machen. Wir bleiben bei der Forderung nach ei- kommen noch Steuervorteile, die natürlich nicht nem gesamtdeutschen neuen Wohngeld. quantifiziert werden können, weil sie davon ab- hängen, in welcher Höhe jemand Steuern bezahlt. (Beifall bei der PDS) Es sind sogar erhebliche Steuervorteile in dem Fall, Wenn dieser Weg nicht jetzt und sofort möglich ist daß Renovierungsbedarf vorliegt. - nach unser Meinung ist er es -, dann müßte man (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ wenigstens, wie vorgeschlagen, eine Überleitung DIE GRÜNEN]: Das ist das Geld, was wir nach unseren Vorstellungen vornehmen. Herr Braun gern in das Wohngeld stecken würden, hatte ja schon gute Erkenntnisse, aber er sagte, das Herr Braun!) Geld sei leider dafür nicht vorhanden. Ich kann viel- leicht ein paar Überlegungen dazu beisteuern, wie Angesichts der außerordentlich günstigen Zinsen, man zu Geld kommen könnte. die der Markt gegenwärtig ermöglicht, kann und will ich nur jedem raten, ganz schnell darüber nachzu- (Dr. [F.D.P.]: Das ist ja denken, ob er nicht langfristig viel Geld spart, indem hochinteressant!) er seine Wohnung kauft, statt auf Jahrzehnte hinaus Ein Stichwort ist die Eigenheimzulage. Miete zu bezahlen. 17,5 Milliarden DM haben wir da zur Verfügung. Für das Wohngeld haben wir 3 Milliarden DM. Mir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Braun, Ihre konnte bis jetzt keiner schlüssig und vernünftig be- Redezeit ist vorbei. gründen, warum eine Familie mit einem zu versteu- ernden Einkommen von jährlich 240 000 DM - das sind also brutto zwischen 26 000 und 28 000 DM im Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Ich darf Monat - eine Förderung vom Staat für die Errichtung zum Schluß kommen. - Es müßte doch mit dem Teu- eines Eigenheims benötigt. Es gäbe Einsparmöglich- fel zugehen, wenn die von den staatstragenden Par- keiten in der Größenordnung von mehreren Milliar- teien übereinstimmend gewollte Privatisierung, das den DM, wenn man dies herunterschraubt. heißt die Veräußerung von Wohnungen speziell an die Mieter, nicht endlich zügig vorankommen sollte, (Geit Willner [CDU/CSU]: Erzählen Sie nachdem wir als Gesetzgeber nun wirklich alles ge- doch etwas über den Zustand der Wohnun- tan haben, um den Verkäufern entgegenzukommen gen bei der Wende!) und den Käufern den Kauf zu erleichtern. Das kann man, wenn man will, sofort machen. Ich Vielen Dank. weiß, Herr Kansy kann das nicht mehr hören, aber wir werden es so lange immer wieder erwähnen - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne weil es die Wahrheit ist und man es sofort machen ten der CDU/CSU) kann -, bis Sie sich dazu durchringen werden - viel- leicht erleben wir es ja noch -, hier eine Änderung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der einzuführen. Kollege Klaus-Jürgen Warnick. (Beifall bei der PDS) Ein zweites Stichwort ist das Fördergebietsgesetz Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Sehr geehrte Frau Ost. Das möchte ich nur erwähnen, ich habe leider Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem nicht die Zeit, um hier ausführlich darauf einzuge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11197

Klaus-Jürgen Warnick hen. Sie hämmern den Bürgern draußen immer ein: dernisierung aufgewandt haben, zum Schluß ein Mi- Es ist kein Geld da. Das stimmt definitiv nicht. Sie nus feststellen. Für niemanden ist also etwas dabei machen nur eine Politik der falschen Verteilung des herausgekommen, höchstens für einige Zwischener- Geldes. werber und einige Kapitalanleger aus den alten Bun- desländern. Zum Altschuldenhilfe-Gesetz: Herr Kansy sprach gestern im Bauausschuß davon, daß nur noch Restan- Wir wissen natürlich, wessen Lobby Sie sind, je- ten des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu erledigen wä- denfalls nicht die Lobby der kleinen Leute; sonst hät- ren. Das ist entweder zynisch oder unwissend, denn ten Sie eine andere Politik betrieben. bis jetzt sind wirklich nur die einfach zu privatisie- renden Wohnungen an Mieter oder Unternehmen Wir wollen noch einmal festhalten, daß wir nicht verkauft worden. Die Schwierigkeiten beim Privati- gegen eine Privatisierung ganz allgemein sind. Wo sieren von Wohnungen liegen doch noch vor den Un- sich Vermieter und Mieter einig sind, wo diese Priva- ternehmen. tisierung sozial vertretbar und wirtschaft lich sinnvoll ist, haben wir überhaupt nichts dagegen, daß Woh- Für viele Wohnungsunternehmen stellt das auch in nungen privatisiert werden. Aber wir bleiben dabei, Zukunft das größte Problem dar. Statt daß sich die daß es eine endgültige Streichung der Zwangspriva- Wohnungsunternehmen mit aller Kraft darauf kon- tisierung geben muß. zentrieren können, Modernisierung und Instandset- zung durchzuführen, müssen sie versuchen, Woh- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) nungen an den Mann zu bringen, die niemand ha- Der Vorschlag der Bundesregierung geht in Teilen ben will. Wie das in Regionen wie Eisenhüttenstadt, in die richtige Richtung, aber das Falsche wird nur Schwedt, Guben, Forst passieren soll, wo zum Teil etwas weniger falsch, das Schlechte wird etwas ver- schon 1 000 Wohnungen leer stehen, das bleibt wohl bessert. für immer das Geheimnis der Bundesregierung. Die Politik der Zwangsprivatisierung von Woh- Ich bin ja schon froh, daß bei der Bundesregierung nungen ist jedenfalls eindeutig gescheitert. Das be- der Groschen wenigstens pfennigweise fällt. Aber weisen die Zahlen. Von rund 360 000 zu privatisie- das ist natürlich auch keine eigene Erkenntnis der renden Wohnungen sind bis Ende 1995 lediglich Bundesregierung, sondern einfach der Zwang des 116 000 privatisiert worden, davon nur 35 000 an Faktischen, des Realen, der sie dazu geführt hat, hier Mieter. Das sind 29,9 Prozent. Gemessen an der Ge- Änderungen herbeizuführen. Nur unter Druck ist die samtzahl, sind gerade 10 Prozent der Wohnungen an Bundesregierung anscheinend bereit zu lernen. Mieter veräußert worden, und das unter finanziell Da auf der einen Seite der Unsinn der Zwangspri- wesentlich günstigeren Bedingungen, als sie in Zu- vatisierung damit nicht beendet wird, auf der ande- kunft auf die Wohnungsgesellschaften zukommen. ren Seite die von der Koalition vorgeschlagenen Ge- Man muß dabei beachten, daß von diesen setzesänderungen im Prinzip nur Verbesserungen, 35 000 Wohnungen ein ganzer Teil auch ohne wenn auch nur ganz geringfügige, mit sich bringen Zwangsprivatisierung zu verkaufen gewesen wäre. und unser Grundsatz darin besteht, daß an uns Ver- besserungen nicht scheitern sollen, werden wir uns Was war das angebliche Ziel dieser Zwangspriva- hier der Stimme enthalten. Dem Antrag der SPD hin- tisierung? gegen werden wir zustimmen. Erstens. Die Wohnungsunternehmen sollten zu Ich danke Ihnen. mehr Kapital kommen, damit sie damit Modernisie- rung und Instandhaltung ihrer Wohnungsbestände (Beifall bei der PDS) durchführen können. Zweitens. Der Erblastentilgungsfonds sollte Geld Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der aus dieser Privatisierung erhalten. Kollege Norbert Otto. Drittens. Die Mieter sollten durch eine Privatisie- rung ihrer Wohnungen beglückt werden. Norbert Otto (Erfurt) (CDU/CSU): Frau Präsiden- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen Was ist erreicht worden? und Herren! Mit Genugtuung haben wir festgestellt, Erstens. Die Mieter sind zutiefst verunsichert und daß die Wohnungspolitik in der Kernzeit unserer wollen zum großen Teil die Wohnungen nicht kau- parlamentarischen Beratung behandelt wird. Damit fen. bringt das Parlament auch die besondere Bedeutung der Wohnungspolitik in unserem Land zum Aus- Zweitens. In den Erblastentilgungsfonds ist so gut druck. wie überhaupt kein Geld hineingekommen. Der Auf- wand des Staates für die großen Werbekampagnen Es steht doch außer Frage, daß Wohnungen einen und für Zuschüsse bei der Privatisierung ist größer hohen sozialen Stellenwert haben. Sie gehören ein- als die Einnahmen - also Minus. fach zur sozialen Grundausstattung der Menschen. Die Wohnungsunternehmen haben unter dem Nach der Wende wurde in den neuen Bundeslän- Strich Minus gemacht. Die Geschäftsführer der gro- dern sehr viel für die Verbesserung des Wohnungs- ßen Unternehmen sagen uns, daß sie, wenn sie die bestandes getan. Die Modernisierungen in den Plat- Rechnung darüber aufmachen, was sie für die Mo- tenbausiedlungen und die Restaurierungen in den 11198 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Norbert Otto (Erfurt) Wohnbereichen der oft entvölkerten Altstädte sind punktes für die Erlösabführung beim Verkauf von unübersehbar. Wohnungen vorgesehen. Bisher galt eine Wohnung im Sinne des Gesetzes als verkauft, wenn im Grund- Wir haben in den vergangenen vier Jahren die buch eine entsprechende Eintragung vorgenommen hierfür notwendigen Gesetzesgrundlagen geschaffen wurde. Zwischen Antragstellung und tatsächlicher und alte Zöpfe abgeschnitten. - Eintragung im Grundbuch verstrich oft ein Jahr und Ich erinnere nur an die Eigenheimförderung nach mehr, so daß sich bei der Erlösabführung trotz klarer § 10e EStG. Auf der einen Seite haben wir mit dem Verkaufsabsichten und Verträge Nachteile für die Altschuldenhilfe-Gesetz die Wohnungsunternehmen Wohnungsgesellschaften ergeben konnten. wieder finanziell handlungsfähig gemacht, auf der Das wollen wir ändern. Für die Erlösabführung ist anderen Seite wurde mit dem Mietenüberleitungsge- jetzt der Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertra- setz und dem Sonderwohngeld Ost eine wichtige ges und der Antragstellung zur Grundbucheintra- Grundlage für bezahlbare Wohnungen geschaffen. gung maßgebend. Mit der Gleichstellung von Veräu- Die dringend notwendigen Voraussetzungen für die ßerung und Erbbaurecht wird darüber hinaus eine Finanzierung von Instandsetzungs- und Modernisie- weitere Möglichkeit zur Wohnungsprivatisierung ge- rungsmaßnahmen wurden dadurch ebenfalls ge- schaffen. schaffen. Die Wohnungspolitik der Regierung und der Koalition war und ist auf einem erfolgreichen Die schönste Wohnung und das beste Angebot nüt- Kurs. zen natürlich nichts, wenn sie nicht bezahlbar sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dafür, daß das Sozialgut Wohnung bezahlbar bleibt, haben wir mit beiden Gesetzen, dem Mietenüberlei- Trotz aller Unkenrufe von linksaußen hat es nicht tungsgesetz und dem Wohngeldsondergesetz, ge- massenweise Kündigungen gegeben. Es gab auch sorgt. Im Mittelpunkt stand und steht dabei immer keine profitsüchtigen Wohnungsgesellschaften, die ein vernünftiges Verhältnis von Einkommen und ihre Mieter im Rahmen der Privatisierung einfach auf Mietbelastungen. die Straße gesetzt haben. Mieter und Vermieter ha- ben sich - zugegebenermaßen bis auf einige Mit dem Wohngeldsondergesetz haben wir in den schwarze Schafe in der Branche - schnell als Pa rtner neuen Bundesländern soziale Härten abgefedert. Bei verstanden - besser, als es sich so mancher Partei- der Beschlußfassung dieses Gesetzes im Jahre 1991 stratege vorstellen konnte. sind wir davon ausgegangen, daß sich die Einkom- men und die Mietbelastung in den alten und neuen Damit dieser so wichtige soziale Konsens erhalten Bundesländern weitestgehend angleichen würden. bleibt, reagieren wir heute mit zwei Gesetzesvorla- Das Wohngeldsondergesetz hätte somit in ein bun- gen auf die aktuelle Situation in den neuen Ländern. deseinheitliches Wohngeldgesetz münden können. Mit der Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz wollen Aus diesem Grund war die Laufzeit mit Verlänge- wir den Wohnungsgesellschaften und -genossen rung bis zum 31. Dezember festgelegt. Heute müssen schaften helfen, Privatisierung und Modernisierung wir feststellen, daß es diese gleichen Verhältnisse noch mieterfreundlicher zu regeln. Sowohl der Ge- nach sechs Jahren deutscher Einheit noch nicht gibt. samtverband der Wohnungswirtschaft als auch die Daher muß die besondere Unterstützung der Mieter Wohnungsunternehmen haben vor zwei Jahren das in den neuen Ländern fortgeführt werden. Altschuldenhilfe-Gesetz mit großer Erleichterung aufgenommen. Einige meinten sogar, es sei ein Se- Natürlich gab es auch im Vorfeld dieses Gesetzge- gen für die Wohnungswirtschaft gewesen. bungsverfahrens vielfältige Reaktionen und Ergän- zungswünsche. So sehen wir beispielsweise bei den In der praktischen Umsetzung des Gesetzes muß- Besonderheiten von modernisierten Altbauwohnun- ten wir aber feststellen, daß die Privatisierung von gen noch Änderungsbedarf. Wohnraum nicht so schnell wie ursprünglich ange- nommen verlief. Insbesondere auf Initiative der Ab- Weiterhin wird darüber zu beraten sein, ob die Ta- geordneten aus den neuen Ländern wurde deshalb belle der wohngeldfähigen Höchstmieten ergänzt die Herabsetzung der steilen Progression der Abfüh- werden muß. Auch bei der Höhe der Freibeträge von rung von Verkaufserlösen mit dem heute zu be- Transferleistungsempfängern und Empfängern von schließenden Gesetzentwurf in Angriff genommen. niedrigen Renten besteht aus unserer Sicht noch Än- Anstatt der angepeilten Abführung von 90 Prozent derungsbedarf. des Verkaufserlöses im Jahre 2001 sind jetzt jeweils Abführungen in Höhe von 45 Prozent, 50 Prozent Alle diese Punkte werden Gegenstand in den Aus- bzw. 55 Prozent - steigend in Zweijahresschritten - schußberatungen sein. Ich sehe - obwohl Herr Thierse gesagt hat, wir hätten kaum noch Gemein- an den Erblastentilgungsfonds vorgesehen. samkeiten - in den Beratungen des Bauausschusses Die Wohnungsunternehmen werden dadurch we- gerade in diesen Punkten eine ganze Reihe Gemein- sentlich entlastet. Der Bundeshaushalt wird zwar er- samkeiten. heblich belastet, doch unter dem Strich bleiben für die Wohnungsunternehmen mehr Mittelfür die Mo- Trotzdem muß die Zielstellung sein, daß die seit dernisierungsmaßnahmen übrig. Ich glaube, das ist längerer Zeit angekündigte Neufassung des Wohn- im Interesse aller. geldgesetzes mit in die Diskussion aufgenommen wird. Ich weiß, daß die Mieter in den alten Bundes- Eine weitere Verbesserung im Interesse der Woh- ländern auf eine Reform des Wohngeldgesetzes war- nungsunternehmen und ihrer Mieter haben wir mit ten. Das uns jetzt entgegengebrachte Verständnis für einer veränderten Definition des maßgeblichen Zeit- die Fortschreibung einer gewissen Sonderregelung Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11199

Norbert Otto (Erfurt) in den neuen Ländern wissen wir daher um so mehr Als ich das nachgeschlagen hatte, wurde mir auch zu schätzen. Ich bin ausdrücklich dankbar, daß es klar, warum Sie hinter einem Fremdwort verstecken, dazu kommen wird. was Sie eigentlich meinen: Ihnen paßt es nicht, daß die Leute abwarten. Ihnen paßt nicht, daß es sich die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Menschen in Ostdeutschland genau und gut überle- Trotz der angespannten Lage des Bundeshaushal- gen, ob sie eine Wohnung kaufen oder nicht. Deswe- tes werden wir die Mieter in den neuen Bundeslän- gen haben Sie den Wohnungsunternehmen damals dern mit ihren besonderen Problemen und Belastun- mit der progressiven Erlösabführung ja auch die gen wie bisher nicht im Regen stehenlassen. Daumenschrauben angesetzt. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Auf die Gefahr hin, daß ich das eine oder andere DIE GRÜNEN]: Ach!) Mitglied des Hohen Hauses damit langweile, will ich noch einmal kurz erklären, was das eigentlich be- Wir werden auch in Zukunft dafür Sorge tragen, daß deutet. Die Unternehmen sind nach dem Altschul- das Sozialgut Wohnung verfügbar und bezahlbar denhilfe-Gesetz verpflichtet, 15 Prozent ihres Bestan- bleibt. des zu privatisieren, um in den Genuß der Altschul- denhilfe zu kommen. Einen Teil des Verkaufserlöses Schönen Dank. haben sie an den Bund abzuführen. Dieser Anteil (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sollte nach derzeit noch geltendem Recht auf schließ- lich 90 Prozent steigen. Damit wollten Sie die Woh- nungsunternehmen unter Druck setzen, die Woh- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Kollegin Iris nungen so schnell wie möglich zu verkaufen. Gleicke setzt die Debatte fo rt. Staatssekretär Günther hat das im vergangenen März ganz offen ausgesprochen. Er hat nämlich ge- Iris Gleicke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr sagt, ökonomischer Zwang sei manchmal notwendig, verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen wenn etwas bewegt werden solle. Nun ja, Sie haben und Herren! Ich möchte Ihnen hier zunächst etwas es ganz zweifellos geschafft, die Wohnungswirtschaft vorlesen: unter Druck zu setzen. Sie haben die Unternehmen derart unter zeitlichen Druck gesetzt, daß sie häufig Die Diskussion der vergangenen Monate über ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr nachkom- die Privatisierungsverpflichtung aus dem Alt- men konnten. Ein Wohnungsunternehmen ist eben schuldenhilfe-Gesetz mit dem Ergebnis einer Er- kein Maklerbüro. weiterung der Privatisierungspalette hat gezeigt, daß es keiner Änderung des Altschuldenhilfe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord- Gesetzes bedarf. Eine Novellierung würde ledig- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN lich neuen Attentismus schaffen, die Erwerbs- und der PDS) chancen der kaufinteressierten Mieter weiter ver- Das hat dazu geführt, daß vielerorts von den Unter- zögern und neue Unsicherheiten in die Privatisie- nehmen nicht genug getan werden konnte, um ihre rungskonzepte der Wohnungsunternehmen hin- Wohnungen und das Wohnumfeld schöner zu gestal- eintragen, die ihre Privatisierungsaufgaben mit ten. Jeder Obsthändler weiß, daß kein Mensch Bana- zunehmendem Engagement angehen. Das Alt- nen kauft, die vergammelt aussehen. Aber Sie auf schuldenhilfe-Gesetz bietet in seiner bestehen- der Regierungsbank haben offenbar geglaubt, daß den Form genügend Spielräume, die es ent- wir im Osten nach jeder Banane greifen, die man uns schlossen zu nutzen gilt, um in der Praxis gegebe- hinhält. nenfalls auftretende Probleme zu lösen. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei (Achim Großmann [SPD]: Heiße Luft!) Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Das behauptete die Bundesregierung in ihrem Be- GRÜNEN) richt vor knapp einem Jahr und verteidigte diese Er- Sie haben geglaubt, daß sich die Leute um vergam- kenntnis noch in diesem März. Das muß man sich melte Wohnungen in einem vergammelten Wohnum- wirklich auf der Zunge zergehen lassen. feld reißen und sich dafür noch bis über beide Ohren Wenn Sie das ernst nehmen - aber man weiß bei verschulden. Wenn die Menschen in Ostdeutschland Ihnen manchmal nicht mehr, welche Ihrer eigenen das dann nicht tun, weil sie eben nicht so dumm sind, Aussagen Sie noch ernst nehmen und welche nicht -, wie das hier mancher von Ihnen vielleicht glaubt, dann faseln Sie von Attentismus und biegen sich ihre (Beifall bei der SPD) Wirklichkeitsbanane so zurecht, wie Sie es gerade brauchen. dann tragen Sie mit Ihrem vorliegenden Gesetzent- wurf neue Unsicherheiten in die Privatisierungskon- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei zepte der Wohnungsunternehmen hinein und schaf- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE fen neuen „Attentismus". Das Wo rt „Attentismus" GRÜNEN) bedeutet übrigens eine abwartende Haltung. Ich habe das im Wörterbuch nachgeschlagen. Als Sie dann endlich begriffen hatten, daß das mit der Privatisierung nicht so klappt, wie Sie sich das (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr vorgestellt haben, haben Sie sich dann eben gesagt: gut!) Was soll der ganze Quatsch mit der Mieterprivatisie- 11200 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Iris Gleicke rung? Es gibt ja noch Immobilienfirmen aus dem We- sorgen Sie aber doch dafür, daß es sich für die Woh- sten, die sich im Osten noch lange nicht sattgefres- nungsunternehmen auszahlt, ihre Wohnungen vor- sen haben. - Deshalb haben Sie so lange am Zwi- rangig an Mieter zu verkaufen! schenerwerbermodell herumgefummelt, bis Sie den Spekulanten den roten Teppich ausrollen konnten. Unser Änderungsantrag sieht vor, daß beim Verkauf an Dritte, also an die Zwischenerwerber,- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei 10 Prozent mehr an den Bund gezahlt werden müssen Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE als beim Verkauf an Mieter oder Genossenschaften. GRÜNEN) Unter der Voraussetzung, daß Sie unserem Antrag Von den 69 000 verkauften Wohnungen, von de- zustimmen, würden wir Ihren Gesetzentwurf unter- nen in Ihrem Bericht die Rede ist, sind nur 24 000 - stützen. Überraschen Sie uns und tun Sie endlich ein- etwa ein Drittel - an Mieter verkauft worden. Der mal etwas Vernünftiges! Wenn Sie in Wahrheit etwas Rest ging überwiegend an Steuersparer und Immobi- liengesellschaften. anderes wollen, dann lassen Sie bitte schön Ihre Heuchelei und Doppelzüngigkeit sein, mit der Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Aber die Woh scheinheilig die Mieterprivatisierung wie eine nungen werden wenigstens modernisiert!) Monstranz vor sich hertragen. Sagen Sie den Leuten, daß Sie das Geld brauchen, um Ihre Schuldenlöcher Unsere Vorschläge und Warnungen haben Sie in zu stopfen und daß Sie deshalb eine Privatisierungs- den Wind geschlagen. Wir Sozialdemokraten wollten politik auf Teufel komm raus betreiben. die Wohnungsgenossenschaften von der Privatisie- rungspflicht befreien. Aber genossenschaftliches Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Eigentum paßt nicht in Ihr ideologisches Weltbild. Na- türlich sind wir froh darüber, daß Genossenschafts- (Beifall bei der SPD) gründungen überhaupt als Privatisierungsvorgang anerkannt und gefördert werden. Wir bleiben aber bei unserer Kritik, daß dies auf sogenannte eigentums- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt orientierte Genossenschaften beschränkt bleibt. der Bundesminister Dr. Klaus Töpfer. Damit aber nicht genug! Sie haben auch unsere Forderung abgelehnt, beim Bestand nach Mieter- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- struktur und regionalen Besonderheiten zu unter- nung, Bauwesen und Städtebau: Frau Präsidentin! scheiden. Noch immer leugnen Sie die Tatsache, daß Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am kom- es einen Unterschied macht, ob Wohnungen in Bit- menden Donnerstag ist wieder der 3. Oktober, Tag terfeld oder auf Rügen liegen. Ihre sogenannte Mie- der Deutschen Einheit, zum sechsten Mal. Herr Kol- terprivatisierung berücksichtigt in keiner Weise, ob lege Thierse, es ist sicherlich die Aufgabe, die Pflicht die Mieterstruktur mehr durch Rentner und Arbeits- der Opposition, das, was geleistet worden ist, kritisch lose geprägt ist oder nicht. Es ist doch aber ganz ein- unter die Lupe zu nehmen. Es ist dann ganz schnell fach lächerlich, davon auszugehen, daß 15 Prozent der Fall, daß man hier mit ha rten und härtesten Vo- eines Bestandes privatisiert werden können, in dem kabeln aufwartet. Frau Kollegin Gleicke hat gerade 30 Prozent der Mieter arbeitslos sind. wieder von „scheinheilig" und „Heuchelei" gespro- Eigentlich gibt es nur zwei mögliche Erklärungen chen. Alles dies ist von einer Opposition erwartbar. für die Sturheit und Arroganz, mit der Sie unsere (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Von Vorschläge vom Tisch gewischt haben. Es gibt die dieser!) Möglichkeit, daß Sie keine Ahnung davon haben, wie es im Osten aussieht. Wenn das nur Ahnungslo- Nur, meine Damen und Herren, lieber Herr Kol- sigkeit wäre, dann könnte man sagen: Na gut, das ist lege Thierse, wenn sich die Kritik so weit von der dann eben die Welt als Wi lle und Vorstellung. Es Realität entfernt, wie das bei Ihnen der Fall ist, gehen drängt sich aber ein ganz anderer Verdacht auf: Sie Sie das Risiko ein, daß Sie entweder nicht mehr ernst haben eine echte Mieterprivatisierung nie gewollt. genommen werden oder daß Sie die Menschen ent- Das würde dann auch erklären, warum Ihr Gesetz- mutigen, die in den letzten Jahren ha rt dafür gear- entwurf so spät kommt. Oder soll ich das ernst neh- beitet haben, daß deutsche Einheit ein Stück besser men, was die Kollegen Rau und Kansy im Juni ange- möglich geworden ist. Das ist das Risiko, das Sie ein- sichts der Verabschiedung des Entwurfs im Kabinett gehen. gesagt haben? Sie haben nämlich gesagt, mit dieser Gesetzesänderung erhalte die Wohnungsprivatisie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rung Ost eine faire Chance. Da wird von Ankündigung und Wortbruch gespro- Meine lieben Kollegen, das heißt ja wohl im Um- chen. Meine Damen und Herren, ich habe ab und zu kehrschluß nichts anderes, als daß sie bisher keine Gelegenheit, auch meine Kolleginnen und Kollegen faire Chance hatte. Nichts anderes haben wir hier im- aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu be- mer wieder gesagt. grüßen. Denen erzähle ich dann folgendes: (Beifall bei der SPD) Da sind in diesen sechs Jahren in den neuen Bun- Zum Gesetzentwurf selbst ist anzumerken, daß die desländern bis zum heutigen Tag 2,7 Mil lionen dort vorgesehenen Regelungen den Wohnungsunter- Wohneinheiten mit einem Kreditvolumen von nehmen das Leben natürlich leichter machen. Dann 48 Milliarden Mark modernisiert worden. Ist das An- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11201

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer kündigung und Wortbruch, oder ist das eine Realität denten des GdW, Herrn Steinert, über die Konse- im wiedervereinten Deutschland? quenzen, die das von Ihrer Seite vorgelegte Vermö- gensteuergesetz für den Wohnungsbau hätte! Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Steinert sagt uns jedesmal: Wenn die Umstellung der Da weisen wir darauf hin, Herr Kollege Thierse, Vermögensteuer durchkäme, würde das der deut- daß wir - das können Sie in den Haushalten nachle- schen Wohnungswirtschaft Milliardenbeträge entzie- sen - in dieser Zeit 5,39 Milliarden DM für die Städte- hen und in dem Maße könne nicht investiert werden. bauförderung und für den Denkmalschutz in diesen - Das ist keine Meinung, die ich vertrete, sondern Städten ausgegeben haben. Ist das Ankündigung Herr Steinert. oder Wortbruch, oder ist es ein Beitrag zur Erhaltung (Beifall bei der CDU/CSU) einer so lange vernachlässigten großartigen Bausub- stanz in den neuen Bundesländern? Herrn Steinert - das wiederhole ich an dieser Stelle (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - - schätze ich sehr. Wenn man aber, Herr Thierse, sol- Widerspruch bei der SPD) che Vokabeln wirklich gebraucht, muß man sich hin- terher fragen lassen, ob die Fakten sie tragen. In die- Da werden in diesen Jahren, meine Damen und sem Zusammenhang komme ich dann unweigerlich Herren, rund 30 Milliarden DM Altschulden in einen auch auf das Wohngeld zu sprechen. Sie behaupten, Erblastentilgungsfonds übernommen, der vom Bund die Bundesregierung hätte das Wohngeld als Spar- bedient wird. Ist das Ankündigung und Wortbruch, kasse entdeckt. Auf Anfrage des Kollegen Großmann oder ist das eine Entlastung der Wohnungswirtschaft, haben wir die Zahlen mitgeteilt: In diesem Jahr steigt damit auf dieser Basis wirklich eine soziale Woh- das Wohngeld in Deutschland um über 5 Prozent. nungsmarktwirtschaft aufgebaut werden kann? Wie ein Anstieg des Volumens um über 5 Prozent als Sparkasse definiert werden kann, müssen Sie mir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - wirklich einmal erläutern. Widerspruch bei der SPD) Meine Damen und Herren, da stellen wir gemein- (Zuruf von der SPD) sam - gemeinsam, Herr Kollege Thierse - die Wohn- - Sie sind mir immer nur eine Sekunde voraus. Ich eigentumsförderung um, gerade mit Blick auf die komme gerne auf Sie zurück. Tatsache, daß die alte 10-e-Förderung, die eine pro- gressionsorientierte Förderung gewesen ist, in den Kollege Kansy hat zu Recht aus dem Entschlie- neuen Bundesländern nicht wirken konnte. Wir stel- ßungsantrag zitiert, den die Bundesländer mit 16 : 0 len sie auf eine Zulage um. Wir setzen - jawohl, Herr im Bundesrat eingebracht haben. Natürlich verwei- Kollege Warnick - 17,2 Milliarden Mark pro Baujahr- sen sie dabei auf die haushaltsrechtlichen Möglich- gang dafür ein, daß Menschen Wohneigentum er- keiten. Das ist doch nicht zu beklagen. Werfen Sie werben können. Ist das Ankündigung und Wort- mir dann aber bitte nicht vor, daß ich angesichts ver- bruch, oder ist das eine vernünftige gesellschaftspoli- änderter Rahmendaten des Haushalts sagen muß: tische Perspektive im wiedervereinten Deutschland? Das, was wir noch vor ein, zwei Jahren alle wollten, können wir gegenwärtig in diesem Rahmen leider (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch nicht realisieren. An dieser Stelle bin ich ehrlich ge- bei der SPD - Achim Großmann [SPD]: Das nug. Das hat doch nichts mit Wortbruch zu tun, son- haben Sie doch zehn Jahre verzögert!) dern damit, daß wir unter geänderten Rahmenbedin- - Sehen Sie, das habe ich jetzt erwartet, Herr Kollege gungen sagen müssen, was augenblicklich machbar Großmann. Ich bin Ihnen herzlich dankbar für den ist und was nicht. Darum geht es doch. Zwischenruf. Entweder, Herr Großmann - das hat (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Thierse ja auch gesagt -, ist es so, daß wir im- mer wieder versuchen, gemeinsam etwas zu machen, Ihre Bundesländer sagen dasselbe. Herr Kollege dann müssen wir uns hinterher nicht permanent vor- Thierse, ich habe doch abgewartet. Als wir das Mie- werfen lassen, daß wir auch von Ihnen eine Position tenüberleitungsgesetz in einer wirklich vernünftigen mit übernommen haben. Entweder machen wir et- Atmosphäre beraten haben, die ich fortführen was gemeinsam und sagen, das ist in Ordnung, jeder möchte, weil wir dieses Gesetz benötigen, hat Nord- hat etwas dazu eingebracht, dann ist das doch eine rhein-Westfalen - damals noch vertreten durch die vernünftige Politik, das ist doch in Ordnung! Natür- Kollegin Brusis - eine Vorschaltnovelle zum Wohn- lich könnte man sehr leicht auch etwas anderes ma- geld eingebracht. Ich hatte geglaubt, der Bundesrat chen, Herr Kollege Großmann. Sie sagen, wir sollten würde diese Vorschaltnovelle erneut aufleben lassen. im steuerlichen Bereich sparen oder umstrukturieren. Das hat er aber nicht getan. Denn die Novelle, die Nebenbei, alle Parteien, die hier im Hause vertreten noch Frau Kollegin Brusis vorgelegt hatte, hätte noch sind, sagen: Wir machen eine große Steuerreform; gut über eine Milliarde DM gekostet. Diesen Betrag wir senken die Steuersätze und verbreitern die Be- können im Augenblick jedoch weder die Länder messungsgrundlage. - Es ist doch nichts anderes als noch der Bund aufbringen. Lassen wir uns doch nicht das, was Sie dauernd einfordern! Sollen wir jetzt im wechselseitig etwas vorwerfen, wenn es um ein ge- Vorgriff darauf, obwohl das noch in dieser Legislatur- meinsames Ziel gehen muß, das wir aber in der ge- periode bearbeitet wird, einen Teilbereich davon her- genwärtigen finanziellen Situation nicht erreichen ausnehmen? können. Aber vielleicht sprechen Sie einmal mit Ihrem Par- Deshalb kann ich das, was der Kollege Braun ge- teifreund, dem von mir sehr hoch geschätzten Präsi- sagt hat, nur noch einmal aufgreifen und deutlich un- 11202 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer terstreichen: Es geht wirklich nicht darum, daß wir in nen. Ich sage nur, daß es eine solche Entwicklung - den neuen Bundesländern auf das Niveau des glücklicherweise - gegeben hat. Wohngelds in den alten Bundesländern zurückfallen. Nein, wir schaffen vielmehr im Vergleich zum westli- Jetzt gehen wir hin und sagen: Wir wollen den chen Deutschland eine verbesserte Regelung. Das ist Druck herausnehmen. Da könnten Sie sagen: Das ist - doch unstrittig. prima, das wollen wir auch, da machen wir mit. Ich halte fest: Die Progression ist massiv vermindert wor- (Zuruf der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig den. Ich nenne eine konkrete Zahl: Für eine Woh- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nung mit 60 Quadratmetern, die in den Jahren 1997 und 1998 zu einem Verkaufspreis von 700 DM pro - Man kann sich darüber unterhalten, ob sie nicht Quadratmeter privatisiert wird, hat das Wohnungs- größer ausfallen sollte, Frau Kollegin Eichstädt-Boh- unternehmen nach der Novelle nur durch die Verän- lig. Der Bundesrat hat uns signalisiert - auch der Kol- derung von bisher 60 auf 45 Prozent knapp 5 000 DM lege Otto hat auf diese Dinge hingewiesen -, was weniger an den Erblastentilgungsfonds abzuführen. möglicherweise dringlich sein sollte. Man muß sich das immer wieder klarmachen. Eines steht aber fest: Die Zahl der Wohngeldemp- fänger in den neuen Bundesländern ist bei Geltung Wie der Kollege Braun gesagt hat, sollte man auch des Wohngeldsondergesetzes deutlich zurückgegan- konkret benennen, wie wir die Privatisierung unter- gen, Frau Kollegin. Die Zahl ist nicht wegen einer zu- stützen: Eine Familie mit zwei Kindern, die eine sätzlichen Mietsteigerung zurückgegangen, sondern Wohnung aus den Beständen kauft, bekommt nach wegen der Veränderung der Einkommen. Nur das unserer gemeinsam entwickelten Wohneigentums- haben wir gesagt. förderung pro Monat 458 DM, acht Jahre lang. Soll- ten wir nicht gemeinsam immer wieder in die neuen Herr Kollege Thierse, schlußendlich müssen wir Bundesländer gehen und die Menschen darüber in- dieses Sonderwohngeld Ost im Bundesrat wieder ge- formieren, daß sie das bekommen? Bisweilen habe meinsam verabschieden. Das, was Frau Eichstädt ich die Besorgnis, daß deswegen nicht mehr Privati- Bohlig hier forde rt, fordern nicht einmal die neuen sierung erfolgt, weil - bewußt oder unbewußt - diese Bundesländer; sie sagen, sie wollen eine partielle Er- Förderung überhaupt nicht mehr an die Menschen gänzung, aber im Rahmen des Wohngeldrechtes, wie herangebracht wird: pro Monat 458 DM! wir es vorgelegt haben. Also ist es doch ein vernünf- tiger Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn man das Wortgeklingel, Herr Kollege Wir sollten das gemeinsam tun. Denn wir haben es Thierse und Frau Gleicke, das offenbar notwendiger- gemeinsam hier verabschiedet. Dann sollten wir die weise zur Opposition gehört, etwas zurücknimmt, Sache auch gemeinsam zu einem Erfolg machen. können wir uns wieder mit den neuen Bundeslän- Wir haben die Kappung vorgenommen und die dern und mit der Opposition bemühen, eine vernünf- Progression zurückgeführt. Wir haben die Erbbau- tige Lösung für das Wohngeld in Deutschland zu rechtsmöglichkeit geschaffen. Wir haben zuletzt - schaffen, im Osten durch eine zusätzliche Zahlungs- das muß erwähnt werden - den sogenannten No- möglichkeit und im Westen, indem wir die Struktu- tariatstermin durchgesetzt, um auch auf diese Weise ren verändern. Lesen Sie sich den Antrag der Bun- Ärger und Ungleichheit zu beseitigen. Ich meine, desländer durch! Sie fordern genau das gleiche. dieses Gesetz, wie es jetzt vorliegt, ist eine gute Wenn Sie dann sagen: Leg du es doch vor!, dann Grundlage dafür, die Ziele der Privatisierung, die sage ich: Könnten wir uns einmal darauf einigen, daß eine Chance für die Menschen und keine Zwangspri- man das mit denen, die es auch bezahlen müssen, vatisierung ist, wirklich zu erreichen. machen? Das entspricht dem Beschluß der Bundesre- Zusammengefaßt, meine Damen und Herren: Bei gierung. aller Härte der Auseinandersetzung müssen wir dar- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf achten, daß unsere Kritik berücksichtigt, was tat- sächlich geschieht. Sechs Jahre nach der deutschen Dann kommen wir zum Altschuldenhilfe-Gesetz. Einheit ist im Wohnungsbereich sehr vieles auf den Da gilt dasselbe, was ich eben im Zusammenhang Weg gebracht worden, sind die Gräben beseitigt mit der Eigentumsförderung gesagt habe. Natürlich worden. Es bleibt noch genug zu tun. Aber das wer- können Sie zitieren, daß wir die Position vertreten den wir in gleicher Weise in der Zukunft anpacken. haben: So, wie das Gesetz vorliegt, muß es umge- setzt werden. Wenn wir das nicht machen, Frau Glei- Ich danke sehr herzlich. cke, gibt es wirklich kaum jemand, der sagt: Ich pri- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vatisiere jetzt. Die Leute werden sagen: Ich warte ab; ich halte mich zurück, es kann ja vielleicht besser werden. Also haben wir uns deutlich geäußert. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Kollege Achim Großmann. Nebenbei: Wenn Sie schon die Privatisierungszah- len zitieren, dann sagen Sie bitte dazu: Die 69 000 Wohnungen sind diejenigen, die bis 1994 pri- Achim Großmann (SPD): Frau Präsidentin! Meine vatisiert worden sind. Nach den Zahlen des GdW, Damen und Herren! Herr Minister Töpfer, es ist un- also des wichtigsten betroffenen Verbandes, sollen es fair, wenn Sie in einer Debatte zu zwei Tagesord- im Jahre 1995 noch einmal etwa 52 000 gewesen nungspunkten - zum einen über das Altschulden- sein. Die Planzahlen für 1996 will ich gar nicht nen- hilfe-Gesetz, zum anderen über das Wohngeldüber- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11203

Achim Großmann leitungsgesetz - auf unseren Vorwurf hin, Ankündi- Wiederum sind drei Jahre verschlafen worden. Das gungen gemacht zu haben, die Sie nicht eingelöst ist Ihr Problem. haben, oder das Wort gebrochen zu haben, Wunder- kerzen in anderen Bereichen zünden. Sie können dieses Gesetz nicht als Ihren Erfolg fei- ern, sondern müßten im Grunde genommen im Bü- Es ist klar und deutlich - ich wiederhole das -: Der ßergewand an dieses Pult treten und sagen: Beim - Vorwurf des Wortbruchs bezieht sich eindeutig und Altschuldenhilfe-Gesetz haben wir erst mal drei ganz allein auf das Versprechen, das Sie dem Parla- Jahre verpennt, haben es nicht geschafft; danach ha- ment, uns allen, auch den Ländern gegeben haben, ben wir wieder drei Jahre verpennt, weil die Privati- noch in diesem Jahr eine gesamtdeutsche Wohngeld- sierungsansätze in den neuen Bundesländern nicht novelle in den Deutschen Bundestag einzubringen. wirkungsvoll genutzt werden konnten. Sie haben Das Versprechen haben Sie nicht gehalten. sechs Jahre verpennt; das ist die Realität. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Fran- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Fran ziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE ziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]) Der Lenkungsausschuß hat klammheimlich fast in Damit es nicht zu einer Legendenbildung und zu Serie Vorschläge der SPD übernommen und hat Gott einer Geschichtsklitterung kommt, ist es wichtig, et- sei Dank einiges, was außerhalb des Gesetzes zu re- was zur Entstehungsgeschichte dieser beiden Ge- geln war, geregelt - aber meistens nur unter Druck; setze zu sagen. Es ist klar, das tut Ihnen weh. Das das ist schon gesagt worden. Die Länder haben ge- Altschuldenhilfe-Gesetz ist eine Abfolge von Fehl- sagt: So geht das nicht. Die Wohnungswirtschaft hat entscheidungen. gesagt: So geht das nicht. Dann hat der Lenkungs- ausschuß Stück für Stück einige Steine aus dem (Iris Gleicke [SPD]: Ja, sehr richtig!) Wege geräumt. Aber die Novellierung des Gesetzes steht trotzdem auf der heutigen Tagesordnung. Sie haben vom Zinsmoratorium gesprochen, Herr Minister, und haben gesagt: Das war doch eine groß- Ich darf Sie noch einmal auffordern, die Vor- artige Sache. Das Zinsmoratorium war in Wirklich- schläge, die die SPD zusätzlich eingebracht hat, keit ein Morato rium der Entscheidungsunfähigkeit. heute mitzutragen. Lassen Sie uns das Altschulden- hilfe-Gesetz so novellieren, daß eine Mieterprivati- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sierung bevorzugt möglich ist! Denn in diesen drei Jahren, in denen die Regierung (Beifall bei der SPD) nicht in der Lage war, Entscheidungen über die Alt- schulden auf dem Wohnungsbestand in den neuen Noch vor wenigen Monaten haben Sie - im Bundesländern zu fällen, sind die Schulden von Grunde genommen war es eine vollkommene Bla- 38 Milliarden auf 60 Milliarden DM gestiegen, mit mage - gesagt, daß die Novellierung nicht möglich dem Ergebnis, daß der Bund anschließend gesagt ist. Frau Gleicke hat das erwähnt; ich brauche das hat: 31 Milliarden DM davon übernehmen wir. Hätte nicht zu wiederholen. Das war eine durchgängige Li- er das mal drei Jahre früher gemacht! nie: vom Abteilungsleiter im Bundesbauministerium über den Staatssekretär bis zum Minister. Ich glaube, (Beifall bei der SPD) es ist durch die Zitate, die Frau Gleicke gebracht hat, sehr deutlich geworden. Mit einer vernünftigen Aufteilung der Schulden- Es wird darauf ankommen, mit einer guten Novel- last in Höhe von 38 Milliarden DM hätten Sie dem lierung die Zeichen für eine mieterfreundliche Priva- deutschen Steuerzahler 12 bis 15 Milliarden DM al- tisierung zu setzen. Wenn Sie heute gegen unsere lein aus dem Steuersäckel des Bundes weniger auf- Änderungsanträge stimmen, werden wir in eine er- gebürdet. So aasen Sie mit Steuergeldern. neute Runde gehen; das heißt, wir werden nach ein (Beifall bei der SPD) paar Jahren wieder feststellen, daß das Gesetz so nicht umgesetzt wird. Das Altschuldenhilfe-Gesetz war in Wirklichkeit Man muß diesen Zeitplan und diese Abfolge er- zunächst einmal ein Gesetz zur Verhinderung der wähnen, man muß diese Zusammenhänge klarstel- Privatisierung, nicht ein Privatisierungsgesetz. Un- len, damit der Legendenbildung vorgebeugt wird. mittelbar nach seiner Verabschiedung ist klargewor- den, wo die Probleme liegen. Nicht umsonst hat die Das gleiche Desaster - so muß man es wohl nen- SPD mehrere Gesetzentwürfe und einige Anträge in nen - den Deutschen Bundestag eingebracht, um die Mak- (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) ken aus diesem Gesetz herauszuholen. Sie haben drei Jahre lang alle unsere Anträge abgeschmettert richten Sie beim Wohngeld an. Das Wohngeld sei und gesagt: Das Altschuldenhilfe-Gesetz muß nicht keine Sparkasse, hat Minister Töpfer gerade gesagt novelliert werden. Heute, nach drei Jahren, treten und darauf hingewiesen, daß ja im laufenden Jahr Sie hierhin und novellieren es mit genau den Ansprü- die Wohngeldzahlungen steigen. Sie steigen, weil chen, die wir damals gestellt haben. die Armut und die Arbeitslosigkeit in Deutschland zunehmen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) 11204 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Achim Großmann Sie werden im nächsten Jahr steigen, weil in den ein geschicktes Ablenkungsmanöver. Wenn man sel- neuen Bundesländern weitere ABM-Stellen gestri- ber kein Konzept hat, haut man ein bißchen auf die chen werden sollen, weil die Arbeitslosigkeit um bis Bundesländer ein und sagt: Wenn sie jetzt mit ihrem zu 300 000 Personen zunehmen wird. Dazu ist ferner Antrag kommen würden, dann könnte ich, Minister zu sagen, daß der Anstieg auch durch einen erhebli- Töpfer, vielleicht meinen Kollegen, Finanzminister - chen Zuwachs in den westlichen Bundesländern be- Waigel, davon überzeugen, daß wir die Novelle brau- dingt ist, auch dadurch, daß die Zahl der Sozialhilfe- chen. empfänger zunimmt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Herr Die Sparkasse, Herr Minister, besteht darin, daß Minister Töpfer hat natürlich nicht nur verschwiegen, Sie den Beziehern des Wohngeldes im Westen die daß die Bundesländer, und zwar die A-geführten siebente Nullrunde zumuten. Das ist die Realität. Bundesländer, die Härtefallregelung in das Gesetz- gebungsverfahren des Bundesrates eingeführt ha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ben. Vielmehr hat er auch verschwiegen, daß sie im Das sollten Sie reparieren. Die Zahlen haben Sie ja letzten Jahr, zum Haushalt 1995, für die Erhöhung dankenswerterweise selber genannt, allerdings zu- des Wohngeldes im zweiten Halbjahr bereits letzt vor 12 Monaten; Sie sind ja danach immer ruhi- 600 Millionen DM beantragt hatten. Das heißt, sie ger geworden. Wenn Sie das reparieren wollten und waren bereit, dieses Geld zur Verfügung zu stellen. das Wohngeld, das jetzt auf dem Stand von 1990 ein- Nur, die Bundesregierung war nicht bereit, eine No- gefroren ist, 1997 auf ein entsprechendes Niveau an- velle vorzulegen. heben wollten, dann bräuchten Sie dazu 3,6 Mil liarden DM. Da Sie das ja nicht tun, ist das Wort Das Ergebnis ist: Die Chance ist vertan, und jetzt Sparkasse schon richtig. müssen wir gemeinsam dafür kämpfen, daß wir diese Chance erneut bekommen. Man sollte das aber nicht Das heißt, eine Novelle mit dem Ziel der Anpas- als Erfolg feiern, wenn man im Kabinett gesagt be- sung des Wohngeldes auf den Stand des Jahres 1997 kommt: Lieber Bauminister, du hast kein Konzept; würde fast 4 Milliarden DM kosten. Wenn dieser Be- setz dich einmal mit den Finanzministern zusammen trag für einen solchen Zweck nicht eingesetzt wird, und schaue, ob du Geld bekommst. dann verwendet ihn der Finanzminister für andere Zwecke. Also Sparkasse Wohngeld. Von daher kann Wenn der Bauminister doch nur wenigstens ein man, glaube ich, diesen Beg riff durchaus dick unter- Konzept vorlegen würde. streichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich habe schon gesagt, daß es eine gesamtdeut- sche Wohngeldnovelle nicht gibt. Was uns heute auf Er und auch die Koalitionsfraktionen reden ja davon, den Tisch gelegt wird, ist eine Ost-West-Flickschu- daß es angeblich eine Strukturnovelle geben soll. Ich sterei. Das Wohngeldsondergesetz läuft aus. Weil gehe Wetten ein, daß wir in den nächsten Monaten nicht als Anschluß eine gesamtdeutsche Wohngeld- keine Strukturnovelle auf den Tisch bekommen wer- novelle vorgesehen ist, gibt es jetzt ein Sondergesetz den. Wir werden erleben, daß zum 1. Juli auch keine des Sondergesetzes, ein Überleitungsgesetz. Dieses Änderung bei der Wohngeldregelung West eintritt. Überleitungsgesetz - das haben Herr Thierse und Wenn man schon Flickschusterei betreibt, dann brau- Frau Gleicke schon angekündigt - werden wir so chen wir auf der einen Seite eine erträgliche Wohn- nicht mittragen. Wir werden Korrekturen vorschla- geldregelung für die Menschen in den neuen Bun- gen, und wir sind guter Dinge, daß auch der Bundes- desländern und auf der anderen Seite einen ersten rat diesen Weg mit uns gehen wird. Schritt in Richtung auf eine Neuregelung für die Menschen in den westdeutschen Bundesländern. Wir glauben, daß die Vorschläge, die aus den neuen Ländern kommen, das heißt eine bessere Frei- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) betragsregelung für die Rentnerinnen und Rentner und für die Arbeitslosenhaushalte, angemessen und Es hilft uns überhaupt nicht weiter, Herr Braun, notwendig sind. Wir glauben auch, daß wir über die wenn Sie hier den Osten gegen den Westen auszu- Modernisierungstatbestände, die in der Tabe lle ge- spielen versuchen, nach dem Motto: Da gibt es Mie- nannt werden, reden müssen. Das heißt, wir müssen ter, die das gleiche Einkommen und die gleiche aufpassen, daß nicht einige, die in teuer modernisier- Miete haben und die unterschiedliches Wohngeld ten Wohnungen leben - denn die Kappungsgrenze bekommen. Das hilft uns nicht weiter. Was wir brau- wird es ja auch nicht mehr lange geben -, auf Grund chen, ist, daß sich das Niveau des Wohngeldes Ost der dann eintretenden Veränderung der Mieten aus und das Niveau des Wohngeldes West aufeinander dem Wohngeldbezug herausfallen, was geschieht, zubewegen. Das werden wir aus finanziellen Grün- wenn die Miete gekappt wird, für die es Wohngeld den nicht in einem Schritt schaffen. Deshalb benöti- gibt. Dasselbe Phänomen kennen wir ja aus West- gen wir zwei oder drei Schritte. Aber das bedeutet, deutschland zur Genüge. Das muß vorher bereinigt daß dann, wenn im Osten das Wohngeld etwas her- werden. untergefahren wird, es im Westen etwas heraufge- fahren werden muß. Sonst kann man den Menschen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) natürlich nicht klarmachen, wohin die Reise gehen Uns wird ständig vorgehalten: Wie wollt Ihr das soll. denn finanzieren? Das war ja auch heute so; das ist (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11205

Achim Großmann Ein letztes Wort zum pauschalierten Wohngeld: darauf hingewiesen hat, daß mit einer weiteren Zu- Herr Minister, Sie tun immer so, als sei der Stein des nahme des Wohnungsbaus zu rechnen ist. Dr. Kansy Weisen die Kürzung des pauschalierten Wohngelds. hat die Zahl von 180 000 Wohnungen, die im Jahre Auf meine Fragen - Sie haben gerade darauf hinge- 1996 fertiggestellt werden, genannt. Wir werden im wiesen - erhielt ich folgende Antwort der Bundesre- Jahre 1996 mit 200 000 Genehmigungen rechnen - gierung: „Es ist zutreffend, daß im Durchschnitt der können. Warum nennen Sie solche Zahlen nicht? Kreis der Empfänger pauschalierten Wohngelds eine niedrigere Miete hat als die Empfänger des Tabellen- (Iris Gleicke [SPD]: Thema verfehlt! - wohngelds. Diese Beobachtung entspricht der allge- Achim Großmann [SPD]: Weil wir über das meinen Lebenserfahrung. Haushalte mit niedrigerem Altschuldenhilfe-Gesetz sprechen!) Einkommen wählen in der Regel Wohnungen, die - Nein, ich denke, die Situation heute gebietet es, kleiner und schlechter ausgestattet sind als Durch- über die Lage am Wohnungsmarkt in den neuen schnittswohnungen." Bundesländern zu reden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Großmann, Ihre Redezeit ist zu Ende. Kollege Thierse hat sein eigenes Schicksal deutlich gemacht. Im August dieses Jahres wurde Ihnen eine Achim Großmann (SPD): Ich komme sofort zum Mietsteigerung um 600 Prozent für Ihre Wohnung am Ende. Prenzlauer Berg mitgeteilt. Ich konnte das in einer großen Tageszeitung nachlesen. Haben Sie, Herr Es ist also falsch, den Kommunen vorzuwerfen, sie Thierse, auch einmal darüber geredet, von welchem würden Mieten zulassen, die weit überzogen sind, Wohnniveau man am Prenzlauer Berg ursprünglich und damit die Wohngeldregelung ausnutzen. Des- ausgegangen ist? Haben Sie einmal darüber geredet, halb hilft eine lineare Kürzung des pauschalierten was diese Niedrigmietenpolitik der DDR ange richtet Wohngelds überhaupt nicht weiter. Das heißt, der hat, was sie mit dem Wohnungsbestand gemacht große Wurf, mit dem Sie Ihre Strukturnovelle ankün- hat? digen, kann gar nicht gelingen; er geht zu Lasten der Städte und Gemeinden in die falsche Richtung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Achim Großmann [SPD]: Billige Ablen- Vielen Dank. kung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Ich würde mir wünschen, Herr Kollege Thierse, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN daß Sie auch das einmal deutlich sagen. Ich glaube, und der PDS) daß niedrige Mieten noch nie ein gutes Steuerinstru- ment in der Mietenpolitik gewesen sind. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Abschließend in dieser Aussprache erteile ich der Kollegin Hannelore Rönsch das Wort. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Kollegin Rönsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Thierse? Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Ko llegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): SPD, Sie konnten auch heute nicht widerstehen, sich Gern. als Opposition zu gebärden. (Lachen bei der SPD) Wolfgang Thierse (SPD): Frau Kollegin Rönsch, können Sie sich daran erinnern, daß ich auch in mei- Wenn die Lage so ernst wäre, wie Sie sie darstellen, ner heutigen Rede ausdrücklich gesagt habe, daß dann hätte ich gern die von Herrn Thierse eingef or- Mieterhöhungen natürlich notwendig waren, um derten Gemeinsamkeiten erlebt. Von Gemeinsam- eine Verbesserung der Zustände der Wohnungen zu keiten war heute wieder nichts zu spüren. Sie haben erreichen, und daß es auch unsere Aufgabe ist, dies erneut versucht, Mieter zu ängstigen. Ich würde mir der ostdeutschen Bevölkerung verständlich zu ma- wünschen, daß Sie diese Rolle allein der PDS überlie- chen? Das ist nicht der strittige Punkt. Wir reden ßen. heute über zwei andere, sehr konkrete Gesetzent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) würfe, die wir kritisieren. Ich denke, Sie haben es als Opposition nicht nötig, (Iris Gleicke [SPD]: Kommen Sie mal zum immer wieder in solche Strukturen zu verfallen. Thema, Frau Rönsch!) Auch Sie müßten positive Entwicklungen am Woh- nungsmarkt in den neuen Bundesländern zur Kennt- nis nehmen. Ihnen liegen dieselben Zahlen vor wie Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Es ist uns. Ich frage mich, warum allein unsere Kollegen schon erstaunlich, daß Sie, wenn es um die Woh- aus den Koalitionsfraktionen diese Zahlen in der Öf- nungspolitik geht, nie das Positive, das in den ver- fentlichkeit nennen mußten. gangenen fünf Jahren geleistet worden ist, zur Kenntnis nehmen und der Öffentlichkeit darstellen Sie können doch nicht darüber hinwegsehen, daß wollen. Warum sind Sie nicht bereit, gerade bei der das Ifo-Institut in seinem letzten Gutachten deutlich Eigentumsbildung in den neuen Bundesländern ein- 11206 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) mal darüber zu reden, was sich insbesondere junge Ich denke, daß dies eine Zahl ist, die sich sehen las- Familien an Eigentum geschaffen haben? sen kann, und daß wir genau bei den Familien anset- zen, die bereit sind, Eigentum zu bilden. Wir müssen heute, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, auch diese Zahlen nennen; denn Sie waren es, die in (Iris Gleicke [SPD]: Tagesordnung!) Ihrer letzten Rede zum Haushalt gefordert hat, man - möge die Eigenheimzulage abschaffen. Die Eigentumsbildung führt dazu, daß dann wieder Wohnungen frei werden, so daß wir einen breiteren (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Markt auch für die Mieter haben. DIE GRÜNEN]: Einschränken für die höheren Einkommensgruppen!) (Beifall bei der CDU/CSU) - Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, ich habe mir foto- Wir wollen, daß junge Familien Eigentum bilden. kopiert, was Sie in Ihrer letzten Haushaltsrede ge- Es ist vorhin gerade davon gesprochen worden, daß sagt haben. Sie wollten das Geld der Eigenheimzu- eine zu niedrige Kapitalvorbildung vorhanden ist. lage nehmen und in andere Bereiche des sozialen Das trifft zu. In den neuen Bundesländern haben wir Wohnungsbaus geben. Ich wi ll Ihnen nur einmal sa- nur eine Eigentumsquote von 26 Prozent. Das ist na- gen, wie gerade junge Familien in den neuen Bun- türlich im Vergleich zu den alten Bundesländern mit desländern über 40 Prozent erheblich zu niedrig. Ich würde mir wünschen, daß sich viel mehr Familien gerade mit (Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜND Kindern - mit den 1 500 DM Zulage für Kinder haben NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer wir speziell gerade für diesen Personenkreis etwas Zwischenfrage) Besonderes geschaffen - dazu bereit finden, Eigen- tum zu bilden. Hier sind wir auf einem ausgespro- - lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende füh- chen guten Weg. ren, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig - auf die Eigen- heimzulage reagieren. Wir haben eine ganz beson- (Achim Großmann [SPD]: So, jetzt kommt dere Zunahme bei dem Bau von Ein- und Zweifami- das Altschuldenhilfe-Gesetz!) lienhäusern zu verzeichnen. Es werden 1996 in den neuen Ländern insgesamt 60 000 Ein- und Zweifami- - Ich habe nicht die Absicht, heute über das Altschul- lienhäuser gebaut. Das zeigt noch einmal, daß diese denhilfe-Gesetz zu sprechen; denn mein Kollege Eigenheimzulage gerade den Eigentumserwerb Otto aus den neuen Bundesländern hat das sehr um- durch junge Haushalte fördert. fänglich getan. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Rönsch, ge- wahr!) statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eich- Ich verstehe, Herr Kollege Großmann, daß Sie hier städt-Bohlig? nicht die Gelegenheit nutzen wollen, etwas Positives zu sagen. Aber es kann doch nicht immer Aufgabe Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ja. der Regierungsparteien sein, darauf hinzuweisen, was in den neuen Bundesländern schon geschehen ist. Wenn Sie nicht immer nur verunsichern wollen, Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE müßte es auch Ihre Aufgabe sein, einmal deutlich zu GRÜNEN): Frau Kollegin Rönsch, ist es Ihnen mög- machen, was gerade auf dem Wohnungsmarkt in den lich, sowohl meine Reden als auch unseren Antrag neuen Bundesländern in den vergangenen fünf Jah- zum Wohngeld so korrekt wahrzunehmen, daß Sie ren passiert ist. dann merken, was ich wirklich gefordert habe, näm- lich die Eigenheimzulage für Haushalte mit einem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einkommmen von 240 000 DM auf 160 000 DM abzu- Wenn ich ernst nehme, was Herr Kollege Thierse senken, den Vorkostenabzug zu streichen und da- vorhin gesagt hat, nämlich daß wir mehr Gemein- durch bei der Eigenheimzulage Geld einzusparen? samkeiten brauchen, dann frage ich mich, warum al- Wir haben an keiner Stelle gefordert, daß die Eigen- leine wir Daten und Fakten nennen müssen und heimzulage ganz gestrichen wird. Ich möchte Sie bit- ten, daß Sie das auch zur Kenntnis nehmen. warum Sie immer nur den Part übernehmen, Mieter zu ängstigen und zu verunsichern. (Beifall bei der CDU/CSU) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Dies trifft zu, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig. Sie haben Ich sagte vorhin schon: Das können Sie der PDS gesagt, daß Sie Schwierigkeiten - wie es hier wört- überlassen, vielleicht auch noch ein bißchen dem lich im Protokoll steht - mit der Eigenheimzulage ha- Mieterbund; denn der braucht Mitglieder. Der Mie- ben. Diese Schwierigkeiten haben wir nicht; denn in terbund - das war heute morgen im Fernsehen zu se- den neuen Ländern ist die Zahl der neu abgeschlos- hen - hat natürlich auch keine positiven Zahlen ge- senen Verträge bei den Bausparkassen im ersten nannt. Man braucht Mitglieder, Frau Fuchs. Halbjahr 1996 um 32 Prozent auf fast 250 000 Ver- träge gestiegen. (Widerspruch bei der SPD) (Siegfried Scheffler [SPD]: Die redet doch - Selbstverständlich. Ich werbe für Eigentum. Ich einen Quatsch!) werbe dafür, daß diejenigen, die in der Lage sind, Ei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11207

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) gentum zu bilden, dies auch tun, damit sie den sozia- Berücksichtigt man nun die unterschiedlichen Ein- len Wohnungsmarkt endlich entlasten. kommen, so bringt der Mieter in den neuen Bundes- ländern 18 Prozent seines Bruttoeinkommens für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Miete auf, der Mieter in den alten Bundesländern al- Wenn jemand Eigentum gebildet hat, hat er natür- lerdings 24 Prozent. - lich eine ganz andere innere Freiheit. Vielleicht liegt Ich möchte an der Stelle nicht mißverstanden wer- Ihnen daran, diese innere Freiheit der Menschen den; denn es trägt gerade hier immer sehr leicht dazu nicht so zu stärken, wie wir das wollen. bei, daß Mißdeutungen auftreten. Aber ich denke, daß der Mieter in den neuen Bundesländern bereit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Rönsch, ge- sein muß, einen entsprechenden Anteil seines Ein- statten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin kommens für die Miete aufzubringen. Es kann nicht Anke Fuchs? sein, daß eine so große Diskrepanz zwischen den neuen und alten Bundesländern herrscht, wenn es um die Mietenbelastung geht. Ich habe das Ganze Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Aber extra am durchschnittlichen Bruttoeinkommen fest- selbstverständlich. gemacht, so daß es keine Mißinterpretationen geben kann. Anke Fuchs (Köln) (SPD): Frau Kollegin Rönsch, Meine sehr geehrten Damen und Herren, man muß stimmen Sie mit mir darin überein, daß es keinen noch einmal darauf hinweisen dürfen, daß das durch- Sinn macht, Menschen, die in Eigentumswohnungen schnittliche Bruttoeinkommen in den vergangenen leben, gegen Menschen auszuspielen, die in Miet- Jahren in den neuen Bundesländern ganz erheblich wohnungen leben? Wir brauchen beides. Wir brau- gestiegen ist. Es stieg in den Jahren 1991 bis 1995 im chen für die Mehrheit der Menschen insbesondere Durchschnitt um etwa 80 Prozent. Auch dies gilt es bezahlbare Wohnungen, und das sind Mietwohnun- zu berücksichtigen, wenn es um Mietzahlungen gen. geht. Sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Wir sind auf einem Weg zu einer einheitlichen daß es viele Untersuchungen gibt, die das Gegenteil Wohnungspolitik in der Bundesrepublik Deutsch- von dem sagen, was Sie behaupten, nämlich, daß Ei- land, nicht zuletzt durch das Mietenüberleitungsge- gentumsbildung nicht automatisch dazu führt, daß setz, das wir im vergangenen Jahr beschlossen ha- Wohnungen frei werden? ben. Mit dem Wohngeldüberleitungsgesetz sind wir Sind Sie schließlich bereit zuzugeben, daß es heute ebenfalls auf einem guten Weg. Inflexibilität und mangelnde Mobilität der Mieterin- Der Bundesfinanzminister wird, wenn es um nen und Mieter gibt, weil sie woanders kein ausrei- Wohngeld geht, Herr Kollege Großmann, demnächst chendes Angebot für eine entsprechend bezahlbare mit den Länderfinanzministern zusammensitzen. Wohnung finden? Warten wir doch einmal ab, welche Ergebnisse diese Gespräche ergeben und welche Forderungen die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Länderfinanzminister, wenn es um eine Wohngeld- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN novelle geht, an den Bundesfinanzminister stellen. und der PDS) Sie wissen, die Länder müssen die Hälfte dessen zahlen, was die Wohngeldnovelle vorsieht. Sie kön- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kollegin Fuchs, ich stimme mit Ihnen nen Ihre Vorschläge, die Sie vorgetragen haben, ja voll und ganz darin überein, daß wir für Mieter, die auch einmal den Länderfinanzministern der SPD mit- auf dem sozialen Wohnungsmarkt nachfragen, ein teilen. Sie sollten es nur nicht so machen, wie Sie es entsprechendes Angebot an Wohnungen haben müs- beim Wohngeldüberleitungsgesetz gemacht haben, sen. Aber ich stimme Ihnen nicht darin zu, daß wir nämlich hier vollkommen anders votieren als Ihre so- bei der Eigentumsförderung zurückgehen sollten. zialdemokratischen Minister im Bundesrat. Ich denke, wir brauchen beides. Wir wollen insbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - sondere diejenigen, die im sozialen Wohnungsbau Achim Großmann [SPD]: Das stimmt nicht! Fehlbeleger sind, ermutigen, aus dem sozialen Woh- Die sind ja erst morgen dran, Frau Rönsch!) nungsbau auszuziehen, Wohnungen frei zu machen und damit den Mietermarkt zu erweitern. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die Ich möchte noch einige Zahlen vom Mietermarkt in Aussprache. den neuen Bundesländern nennen; denn ich meine, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen durchaus ein- daß man über die Durchschnittsmieten auf den Drucksachen 13/5587, 13/5512 und 13/5578 mal reden sollte. Die Haushalte in den neuen Bun- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse desländern zahlen heute durchschnittlich 7,50 DM vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das pro Quadratmeter. Bei 60 Quadratmetern Wohnflä- ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- che zahlt der Haushalt eine durchschnittliche Brutto- schlossen. kaltmiete von 437 DM. Damit unterscheiden sich die Mieten in den neuen und in den alten Ländern um Wir kommen zur Abstimmung über die von den ein Drittel. Das müssen wir auch ganz deutlich se- Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Bun- hen. desregierung eingebrachten Entwürfe zur Änderung 11208 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth des Altschuldenhilfe-Gesetzes auf den Drucksachen Grünen und einigen Enthaltungen der SPD ange- 13/4949 und 13/5417. nommen. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: Städtebau empfiehlt auf Drucksache 13/5605 unter Nr. 1, die Gesetzentwürfe zusammengefaßt in der a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Ausschußfassung anzunehmen. Dazu liegt ein Ände- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache rung des Strafgesetzbuches, des Gesetzes ge- 13/5610 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer gen den unlauteren Wettbewerb, der Strafpro- stimmt für den Änderungsantrag der SPD? - Wer zeßordnung und anderer Gesetze stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungs- - Korruptionsbekämpfungsgesetz - antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/ - Drucksache 13/3353 — Die Grünen und der PDS abgelehnt. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Aus- Innenausschuß schußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- Finanzausschuß gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau tung mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- bei Enthaltung der SPD, des Bündnisseslung 90/Die Grü- nen und der PDS angenommen. b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dritte Beratung Norbert Geis, Erwin Marschewski, Dr. Rupe rt Scholz, Wolfgang Zeitlmann und der Fraktion und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Detlef dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- Kleinert (Hannover), Jörg van Essen, Dr. Max ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Stadler und der Fraktion der F.D.P. einge- Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- und der F.D.P. bei Enthaltung von SPD, Bündnis 90/ kämpfung der Korruption Die Grünen und PDS angenommen. - Drucksache 13/5584 — Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raum- Überweisungsvorschlag: ordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Ent- Rechtsausschuß (federführend) schließungsantrag der Fraktion der SPD zum Be richt Innenausschuß der Bundesregierung über die Umsetzung des Alt- Ausschuß für Wirtschaft schuldenhilfe-Gesetzes, Drucksache 13/5605 Nr. 2. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung auf Drucksache 13/4081 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten tungen? - Die BeschlußempfehlungFrank Hofmann ist (Volkach),mit den Alfred Stim-Hartenbach, men der CDU/CSU und der F.D.P. bei Ablehnung , weiterer Abgeordneter und der durch die SPD und Enthaltung von Bündnis 90/Die Fraktion der SPD Grünen und der PDS angenommen. Maßnahmen zur Bekämpfung der nationalen Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raum- und internationalen Korruption ordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag - Drucksache 13/4118 — der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur För- derung der Wohnungsprivatisierung, Drucksache 13/ Überweisungsvorschlag: 5605 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß Drucksache 13/4077 abzulehnen. Wer stimmt für Finanzausschuß diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- Ausschuß für Wirtschaft tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau men der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD bei Ge- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- lung tung der PDS angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raum- höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. ordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Beendigung der Zwangspri- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner vatisierung von kommunalen und genossenschaftli- spricht unser Kollege Norbert Geis. chen Wohnungen in den ostdeutschen Bundeslän- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- dern, Drucksache 13/5605 Nr. 4. Der Ausschuß emp- mer) fiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4837 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und sehr verehrten Damen und Herren! Die Korruption F.D.P. und großen Teilen der SPD bei Gegenstimmen beschränkt sich nicht nur auf spektakuläre Einzel- der PDS und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die fälle; sie ist längst in die öffentliche Verwaltung, in Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11209

Norbert Geis die freie Wirtschaft und in unsere Gesellschaft einge- in einer Bananenrepublik, und ich möchte diesem drungen. Wort, das ein böses Wo rt ist, ganz entschieden ent- gegentreten. Dennoch besteht kein Zweifel: Wir (Unruhe - Glocke der Präsidentin) müssen uns um diese Bedrohung kümmern und Es gibt keine gesicherten Daten darüber, wie weit sie Maßnahmen entwickeln, wie wir dieser Bedrohung sich ausgebreitet hat. Es gibt eigentlich nur Täter, es begegnen können. gibt keine Opfer, die solche Machenschaften ans Da geht es einmal um Prävention. Es geht darum, Licht bringen könnten. Aber eben diese spektakulä- das Bewußtsein zu schärfen. Korruptes Verhalten ren Einzelfälle deuten doch darauf hin, daß wir mehr muß in allen Bereichen geächtet werden. Es geht und mehr mit diesem Phänomen zu tun haben. aber auch darum, das Beamtenrecht zu reformieren. (Anhaltende Unruhe) Es geht darum, daß Nebentätigkeiten stärker kon- trolliert werden können, daß die Annahme von Ge- schenken stärker transparent gemacht werden kann. Herr Kollege Vizepräsidentin Dr. : Es geht auch um die Änderung des Disziplinarrech- Geis, einen Augenblick! Ich möchte erst einmal für tes. Vor allem aber - damit will ich mich hier beschäf- Ruhe sorgen, damit man Sie besser verstehen kann. - tigen - geht es um den Beitrag des Strafrechtes zur Jetzt geht es. Bekämpfung der Korruption.

Norbert Geis (CDU/CSU): Es ist auch schwer, den Das Strafrecht hat einen bedeutenden Beitrag zu Schaden zu schätzen, den die Korruption verursacht. leisten. Robert Spaemann hat einmal in einem ande- Das hängt damit zusammen, daß viele Bereiche im ren Zusammenhang gesagt, daß das Strafrecht in Dunkeln bleiben; das Dunkelfeld ist groß. Dennoch einer säkularisierten Gesellschaft eine entschei- wird in einem Gutachten, das dem Karlsruher Juri- dende bewußtseinsbildende Kraft habe. Das stimmt stentag vorgelegt worden ist, der Schaden, der allein vor allen Dingen auch im vorliegenden Fall. Wenn es im Bauwesen bei der Vergabe öffentlicher Bauauf- darum geht, Korruption zu ächten, dann muß der träge entsteht, jährlich auf über 10 Milliarden DM Staat mit dem stärksten Mittel, das er hat, mit dem geschätzt. Daraus kann man ungefähr errechnen, Mittel des Strafrechtes, das Unwerturteil verstärken. wie groß der Gesamtschaden ist, den die Korruption Wir beschäftigen uns in dem Gesetzgebungsvor- in Staat und Gesellschaft anrichtet. schlag der Regierung, den die Koalition übernom- Aber es geht nicht nur um den materiellen, son- men hat und der in den Koalitionsparteien erarbeitet dern auch um den immateriellen Schaden. Wenn sich worden ist, zunächst einmal mit dem Begriff der das staatliche Handeln, das Handeln von Behörden, Amtsträgerschaft. Für den Tatbestand der Beste- nicht mehr nach Gesetz und Recht oder nach den chung und der Vorteilsannahme in der öffentlichen Grundsätzen des Gemeinwohls richtet, sondern da- Verwaltung ist ja Amtsträgerschaft notwendig; es nach, welchen Vorteil der einzelne Amtsträger hat, muß ein Amtsträger im Spiel sein. Dazu hat der Bun- wenn in der freien Wirtschaft nicht mehr das günsti- desgerichtshof in einer Entscheidung vom 29. Januar gere Angebot, die bessere Leistung, sondern die 1992 erklärt, daß dann, wenn die Verwaltung öffent- Höhe des Schmiergeldes entscheidend ist, dann ist liche Aufgaben in einer p rivaten Organisationsform, auf der einen Seite das Vertrauen des Bürgers in die beispielsweise mit einer GmbH, erledigt, der Ge- Lauterkeit der Verwaltung geschädigt und die Ak- schäftsführer der GmbH wie ein P rivater anzusehen zeptanz von staatlichen Entscheidungen in Gefahr. sei und nicht als Amtsträger fungiere, obgleich er eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt. Deswegen (Zustimmung bei der SPD) kann nach der jetzigen Rechtslage ein solcher Würde dies fortgesetzt, könnte es zu einer erhebli- „Amtsträger", also ein Geschäftsführer einer GmbH, chen Gefährdung unseres gesamten politischen Sy- nicht strafrechtlich verfolgt werden. Das ist unbefrie- stems führen. Wenn auf der anderen Seite nicht mehr digend. Deswegen sehen wir in unserem Gesetzes- der freie Wettbewerb - die freie Konkurrenz ist ja das vorschlag vor, daß beispielsweise auch dann, wenn Zeichen der freien Marktwirtschaft -, sondern die die öffentliche Verwaltung mit Hilfe einer p rivaten Höhe des Schmiergeldes entscheidend ist, dann ist Organisation öffentliche Aufgaben erledigt, der Ge- auch die Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft in schäftsführer einer GmbH Amtsträger im Sinne der Gefahr. Deswegen ist die Korruption sehr ernst zu §§ 331 ff. des Strafgesetzbuches ist und strafrechtlich nehmen. verfolgt werden kann, wenn er korruptes Verhalten an den Tag legt. (Norbert Gansel [SPD]: Gilt das auch für Geschäfte im Ausland?) Ein nächster Punkt, dem wir uns gewidmet haben, ist die Hereinnahme eines eigenen Abschnittes über Meine sehr verehrten Damen und Herren, um es Straftaten gegen den Wettbewerb in das Kernstraf- gleich vorwegzunehmen: Wir leben nicht in einem recht. Hierin unterscheiden wir uns von dem Vor- korrupten Staat und auch nicht in einer korrupten schlag des Bundesrates. Wir sehen dabei als erste Gesellschaft. Der allergrößte Teil unserer Beamten Strafnorm den sogenannten Ausschreibungsbetrug und Amtsträger verhält sich korrekt. vor. Darin stimmen wir wiederum mit dem Vorschlag (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des Bundesrates überein, der diese Norm ebenfalls hat. Der Ausschreibungsbetrug befaßt sich mit An- Auch der allergrößte Teil der Angestellten in der bietern, die gewissermaßen ein Ka rtell bilden, sich freien Wirtschaft verhält sich korrekt. Wir leben nicht also untereinander absprechen, wenn sie der öffentli- 11210 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Norbert Geis chen Hand ein Angebot machen. Diese Absprache Wir unterscheiden uns von dem Entwurf des Bun- ist strafrechtlich nicht zu verfolgen, wenn nicht ein desrates, den wir gleichzeitig hier beraten, in vier Schaden entstanden ist. Wenn ein Schaden entsteht, wichtigen Punkten. fällt so etwas unter die normale Betrugsnorm des § 263 des Strafgesetzbuches. Wenn aber kein Scha- Einmal ist es die sogenannte Unrechtsvereinba- den entsteht - das ist oft der Fall, weil beispielsweise rung. Im Augenblick ist die Gesetzeslage so, daß miteinander abgesprochen wird: ich biete nach dann keine strafbare Handlung vorliegt, wenn kein marktüblichen Preisen an, und du hältst dich mit dei- enger Zusammenhang zwischen Vorteilshingabe nem Angebot zurück -, dann kann ein solches Ver- und Vorteilsannahme besteht. Es gibt also einen, der halten strafrechtlich nicht verfolgt werden, obgleich dem Beamten einen Scheck in die Hand drückt, und der Wettbewerb in einem starken Maße beeinträch- der Beamte trifft eine bestimmte Maßnahme. Ein sol- tigt wird. Es gibt in der Wissenschaft und in der ches Geben und Nehmen - klar umgrenzbar und be- Rechtsprechung schon lange die Forderung, daß ein weisbar - ist im Augenblick Voraussetzung für die solches Verhalten ebenfalls als kriminell zu beurtei- Strafbarkeit. len ist. Deswegen haben wir nun diese neue Vor- Das ist aber eben nicht immer so leicht nachweis- schrift eingeführt. bar. Trotzdem gibt es Verhaltensweisen, bei denen wir sagen müssen: Hier wird in einer ganz erhebli- Wir nehmen auch die sogenannte Angestelltenbe- chen Weise korrupt gehandelt, beispielsweise dann, stechung - das ist die Bestechung von Angestellten wenn ein Bauunternehmer einen dicken Scheck auf in der freien Wirtschaft -, die im Augenblick nach den Tisch legt und sich zwar im Augenblick keinen § 12 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb Vorteil davon verspricht, aber doch zu einem späte- auf Antrag strafbar ist, nun aus diesem Gesetz her- ren Zeitpunkt. aus und bringen sie ins Kernstrafrecht des Strafge- setzbuches ein, um auf diese Weise dieses Verhalten Vor allen Dingen für die organisierte Kriminalität stärker als kriminell zu markieren. Ich glaube im Ge- ist dies der geeignete Nährboden. Wenn sie gewis- gensatz zum Bundesrat, der einer solchen Maß- sermaßen - wie man das im Fachjargon nennt - an- nahme skeptisch gegenübersteht, daß dieses richtig füttert oder wenn sie mit Hingabe von Geschenken, ist. Er sagt, man könne Zusammengehörendes nicht von Geldern versucht, Abhängigkeiten zu schaffen, auseinanderreißen. Für die Bewußtseinsbildung ist eine gewisse Nähe zu den Entscheidungsträgern zu es aber besser. Deswegen haben wir uns dazu ent- finden, dann hat sie leichtes Spiel. schlossen, diese Straftat in das Kernstrafrecht hinein- Deswegen ist die Überlegung des Bundesrates zunehmen. schon angezeigt, daß ein solches Verhalten eigent- lich strafbar sein müßte. Wir haben uns im Augen- Wir bleiben aber dabei, daß eine solche Strafmaß- blick deshalb noch nicht dazu entschließen können, nahme grundsätzlich nur dann verfolgt werden weil dann der Unterschied zwischen Gefälligkeit und kann, wenn ein Antrag gestellt wird. Dieses Antrags- tatsächlich kriminellem Verhalten schwer abgrenz- recht schränken wir allerdings wiederum dadurch bar ist und weil auch die genaue Definition, was nun ein, daß wir sagen: Wenn öffentliches Interesse vor- strafbar ist - die ja verfassungsrechtlich notwendig liegt, dann kann auch ohne Antrag verfolgt werden. ist -, schwierig ist. Wir warten aber insoweit die An- Wir meinen, daß dies eine wichtige Neuerung im hörung ab und sind durchaus offen für die Vorstel- Interesse einer besseren Bekämpfung der Korruption lungen, die uns der Bundesrat vorgelegt hat. ist. Ein weiterer Punkt, in dem wir uns unterscheiden, Beide Gesetzentwürfe sehen mehr oder weniger ist die sogenannte Kronzeugenregelung, die der eine Erhöhung des Strafrahmens vor. Bundesrat für die Erforschung von korruptem Ver- halten vorsieht. Es ist ja nicht ganz einfach, solches Verhalten ans Tageslicht zu bringen, wie wir wissen. Wir haben uns sehr mit der Frage geplagt: Was ist, Wir haben uns nicht dazu entschlossen, diese Kron- wenn einem Amtsträger beispielsweise nicht selbst zeugenregelung aufzunehmen, weil wir meinen, daß der Vorteil zugute kommt, sondern er einen Dritten sie für ganz schwere Straftaten vorbehalten sein soll. begünstigt? Im Moment kann dies strafrechtlich Dennoch sind wir für Argumente offen, und wir soll- nicht verfolgt werden, obwohl eigentlich auch in die- ten den Blick auch ein wenig darauf richten, was an- sem Fall ein kriminelles Verhalten vorliegt. Deswe- dere Länder machen. Italien sieht im übrigen die gen meinen wir, daß auch eine kriminelle Handlung Kronzeugenregelung für einen solchen Fa ll nicht vor; vorliegt, wenn nicht der Amtsträger selbst, sondern aber andere Länder, beispielsweise die USA oder ein Dritter, mit dem er gar nichts zu tun hat, diesen Frankreich, tun das. Deswegen sollten wir auf Vorteil erhält, weil Sinn und Zweck der Strafnorm andere Länder schauen. Wir sollten die Anhörung nicht der Vorteil ist, der verhindert werden soll, son- abwarten und uns dann entscheiden. dern die Einhaltung der Lauterkeit der öffentlichen Verwaltung und der Korrektheit im wi rtschaftlichen Ein weiterer Punkt, in dem wir uns unterscheiden, Leben. ist die Aufnahme der Vermögensstrafe und des er- weiterten Verfalls durch den Bundesrat - so aber Der Wettbewerb soll also sichergestellt werden; nicht bei uns. Wir meinen, daß wir durch Maßnah- Straftaten gegen unsere Wirtschaftsordnung insge- men der Prävention auch erreichen können, daß Ge- samt sollen in den Blick kommen und auf diese winn erst gar nicht entsteht oder, wenn er entsteht, Weise verfolgt werden können. mit den üblichen Mitteln abgeschöpft werden kann. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11211

Norbert Geis Aber auch hier sind wir für Überlegungen offen, die Überall sagen Sie: Wir schwimmen hier ein bißchen vom Bundesrat kommen, die in der Anhörung vor- mit, wir schwimmen dort ein bißchen mit. gebracht werden und auch auf dem Juristentag ge- äußert worden sind. Wenn ich mir anschaue, wie Sie es, dadurch, daß Sie zu spät kommen, mit dem öffentlichen Dienst hal- Der letzte Punkt, in dem wir uns von dem Vor- ten, muß ich feststellen, daß das Ansehen des öffent- schlag des Bundesrates unterscheiden, ist die Auf- lichen Dienstes enorm gelitten hat. Wir müssen kon- nahme der Korruption in den Katalog des § 100a der statieren: Der Bevölkerung reichen einige wenige Strafprozeßordnung, dort also, wo es um Telefon- Negativbeispiele zu einem Gesamturteil aus. Auch überwachung geht. Dies ist ja mit einem erheblichen Sie wissen das. Mittlerweile ist das Vertrauen der Eingriff in die Privatsphäre verbunden. Wir haben Bürger in die Unbestechlichkeit der Staatsverwal- dies diskutiert, haben uns aber nicht dazu entschlos- tung leider enorm gesunken. Dafür tragen Sie, dafür sen, es in unseren Gesetzentwurf aufzunehmen. trägt die Bundesregierung eine Mitverantwortung. Aber auch hier, meine ich, sollten wir in aller Ruhe die Anhörung abwarten. Wir sollten die Argumente (Beifall bei der SPD) des Bundesrates bedenken. Wir sollten auch schauen, wie es in anderen Ländern gemacht wird. Die Bundesregierung hat nicht gegengesteuert. Dann sollten wir uns zusammen mit den anderen Der öffentliche Dienst hat es nicht verdient, daß er Fraktionen entscheiden. so nachlässig behandelt wird. Ganz überwiegend ist Aber der wichtigste Punkt ist doch - das möchte er unbestechlich. ich am Schluß nicht unerwähnt lassen -, daß es zu in- ternationalen Regelungen kommen muß. Wir haben (Beifall des Abg. Otto Schily [SPD]) eine sehr starke Verflechtung unserer Wirtschaft mit Für uns ist er ein wichtiger Partner bei der Korrupti- der internationalen Wirtschaft. Auch unsere Verwal- onsbekämpfung. Nur mit dem öffentlichen Dienst zu- tungen begrenzen sich in ihrer Tätigkeit längst nicht sammen können wir ein Bollwerk gegen die Korrup- nur auf unseren Bereich, sondern reichen weit: auch tion schaffen. über die Grenzen hinweg. Deshalb meine ich, daß in- ternationale Regelungen gefunden werden müssen, (Beifall bei der SPD) um die Korruption auch inte rnational bekämpfen zu Zudem kommen die Gesetzentwürfe zu spät, um können. die Moralvorstellungen in unserer Gesellschaft zu Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. stabilisieren. Wenn Sie sich das Korruptionslagebild des Bundeskriminalamtes anschauen, dann stellen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie fest, daß 70 Prozent der Geldgeber kein Un- rechtsbewußtsein hatten. Mehr als zwei Drittel dieser Geldgeber waren Führungskräfte in Firmen. Damit rt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo hat steht fest: Korruption gilt in Teilen der Wirtschaft jetzt der Kollege Frank Hofmann. nicht mehr als Unrecht. Zu dieser geistig-morali- schen Wende haben Sie beigetragen, zum Beispiel Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Frau Präsidentin! durch die steuerliche Abzugsfähigkeit von Schmier- Meine Damen und Herren! Heute diskutieren wir geldern, auf die ich später noch zu sprechen kom- zum erstenmal in dieser Legislaturperiode nicht nur men werde. über Forderungen der Opposition zur Korruptionsbe- kämpfung. Zum erstenmal haben wir jetzt auch die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man- Vorstellungen von Bundesregierung und Koalitions- fred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) fraktionen auf dem Papier. Der öffentliche Dienst ist nur die eine Seite der Die Begründung von Herrn Geis war für mich Korruptionsmedaille. Die andere Seite, die Unterneh- hochinteressant. Ich habe sie auch hier stehen, nur men, sind bisher noch viel zuwenig in die Verantwor- mit dem Ergebnis: Sie kommen zu spät. Wenn Kor- tung genommen worden. Wenn die Privatunterneh- ruption in Deutschland teilweise bereits systematisch men nicht konsequent ihrer öffentlichen Verantwor- betrieben wird, dann kommen Sie mit Ihren Vor- tung gerecht werden, ist die Korruption nicht zu schlägen zu spät. überwinden. Insbesondere der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie - nicht der der bayerischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bauindustrie - und der Bundesverband der Deut- schen Industrie haben positiv reagiert. Genau diese Und: Sie sind offen; Sie haben kein Profil. Empfehlung des BDI unterstützen wir als SPD-Bun- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Was hat destagsfraktion nachdrücklich. er nicht?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie sind offen; Sie haben kein Profil zur Korruptions- bekämpfung. Wir schlagen vor, bei der Auftragsvergabe nur noch solche Unternehmen zu berücksichtigen, die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich habe doch diese BDI-Empfehlung umgesetzt haben und die mit einen Entwurf vorgelegt! - Detlef Kleine rt ihren Partnern selber Antikorruptionsklauseln und [Hannover] [F.D.P.]: Dann halten Sie doch entsprechende Vertragsstrafen vereinbaren. Unser mal Ihr Profil ins Licht!) Grundsatz lautet: Der Staat handelt nur mit dem ehr- 11212 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Frank Hofmann (Volkach) baren Kaufmann. Sie sollten sich diesem Grundsatz leicht noch einmal Ihr Geldwäschegesetz überprü- anschließen. fen. (Beifall bei der SPD - Erwin Marschewski (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das liegt [CDU/CSU]: Wir sind doch sehr ehrbar!) schon im Bundesrat, und die Jungs da machen nichts!) - Es dürfte wohl jedem klar sein: Wir wären in der Korruptionsbekämpfung schon heute - national wie - Sie sollten das vielleicht noch einmal überprüfen. international - wesentlich weiter, wenn unsere Initia- Wenn, wie in Frankfurt geschehen, eigene Firmen tiven rechtzeitig aufgegriffen worden wären. Erst zur Geldwäsche gegründet und unterhalten werden, jetzt kommen Sie und sagen: Wir brauchen noch An- dann gehen Ihre Vorschläge ins Leere. Schauen Sie hörungen. Schauen Sie sich doch einmal die Bundes- bitte noch einmal in Ihren Entwurf. länder an. Vergleichen Sie doch einmal die Aktivitä- ten der Bundesländer mit denen des Bundes. Wäh- Natürlich fehlt bei Ihnen die Möglichkeit der Ab- rend die Länder in ICE-Tempo handeln, bewegt sich schöpfung der Gewinne. Der Gutachter des Deut- der Bund im Schneckentempo. schen Juristentages führt dazu aus: „Sie" - die Mög- lichkeit der Abschöpfung der Gewinne - „ist auch (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie sind ein Gebot der Gerechtigkeit." Recht hat Professor lange nicht mehr mit der Eisenbahn gefah Dölling; deshalb steht das auch im Gesetzentwurf ren! Die kommt dauernd zu spät!) des Bundesrates und im Antrag der SPD-Bundes- Auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung vor tagsfraktion. Sie dagegen schonen die Täter und die drei Wochen wurde das besonders deutlich. illegalen Gewinne. In den Bundesländern gibt es bereits Vorschriften (Beifall bei der SPD - Erwin Marschewski über die Annahme von Belohnungen und Geschen- [CDU/CSU]: Was?) ken. Es werden bereits Fortbildungsseminare durch- - Sie sollten sich vielleicht besser konzentrieren und geführt; es sind bereits Richtlinien zur Korruptions- genauer zuhören. prävention erarbeitet; es sind bereits zentrale Anti- korrtiptionsstellen aufgebaut; ich könnte noch mehr Was brauchen wir noch? Notwendig wären Lage- Beispiele nennen. Aber wo bleiben die Aktivitäten bilder, die die sichtbaren Erscheinungsformen und der Bundesregierung in ihren eigenen Bereichen, in den tatsächlichen Stand der Korruptionsbekämpfung den eigenen Ministerien und nachgeordneten Behör- wiedergeben würden. Für einen Innenminister, der den? Es zeigt sich ganz deutlich: Die Chronik der das Problem der Korruption möglichst auf kleiner Korruptionsbekämpfung durch die Bundesregierung Flamme kochen will, mag es genügen, wenn die Be- ist eine Chronik von Versäumnissen. stechungsdelikte in der „Polizeilichen Kriminalstati- stik" nun getrennt ausgewiesen werden. Der Fach- (Beifall bei der SPD) mann jedoch weiß, daß die Zahlen aus der „Polizei- Die Gesetzentwürfe kommen aber nicht nur zu lichen Kriminalstatistik" in erster Linie ein polizeili- spät, sondern sind auch unvollständig. Schauen Sie cher Tätigkeitsnachweis sind und deshalb gerade die sich doch einmal den Bereich Korruption im Zusam- registrierten Zahlen in keiner Weise die bekanntge- menhang mit organisierter Kriminalität an. Herr wordene Korruption in Deutschland widerspiegeln. Geis, auch Sie haben durchaus einen Zusammen- Wenn zum Beispiel in Frankfu rt die Korruptions- hang zwischen OK und Korruption gesehen. Kampf staatsanwaltschaften alle Korruptionsfälle abschlie- gegen die systematische Korruption ist auch Kampf ßend bearbeiten, dann gibt es in der „Polizeilichen gegen die organisierte Kriminalität. Aber ob das im Kriminalstatistik" Frankfurts keine Korruptionsfälle. Bereich des Bundesinnenministeriums und von Ih- Das ist doch beruhigend, oder? Was ich damit sagen nen schon so wahrgenommen worden ist, daran habe will: Der Innenminister liefert im Rahmen der „Poli- ich meine Zweifel. zeilichen Kriminalstatistik" nur ein unsystematisches Während sonst der große Lauschangriff immer und zufälliges Zahlenmaterial, aber kein zuverlässi- obenan steht und damit die F.D.P. in große Verlegen- ges Lagebild der entdeckten Korruption in Deutsch- heit gebracht wird, land. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wie stehen Sie Nun möchte ich zu einem anderen Bereich kom- denn dazu?) men, zu dem Bereich des Finanzministers, den Sie völlig ausgespart haben. Bei den Beratungen zum halten Sie in diesem Bereich nicht einmal die Tele- Jahressteuergesetz 1996 hat die SPD es über den fonüberwachung für notwendig. Jeder weiß, daß die Vermittlungsausschuß erreicht, daß die steuerliche organisierte Kriminalität ein internationales, teil- Absetzbarkeit von Bestechungs- und Schmiergel- weise weltweit gesponnenes Netz ist. Aber die Bun- dern im Inland abgeschafft wird, wenn sich der Emp- desregierung begrenzt die Korruptionsbekämpfung fänger strafbar gemacht hat. Mit diesem Ergebnis ist auf die Grenzen Deutschlands. der SPD ein ganz wichtiger Einstieg gelungen. Wenn Sie sich den Skandal am Frankfu rter Flugha- (Beifall bei der SPD) fen anschauen, dann stellen Sie fest, daß do rt die Pro- fessionalisierung der Korruptionsmethoden auf der Noch entscheidender für diesen Kompromiß im „nach oben offenen Korruptionsskala" besonders Vermittlungsausschuß war, daß die SPD eine Durch- sichtbar geworden ist. Hier gingen Korruption und brechung des Steuergeheimnisses in Fällen der Kor- Geldwäsche Hand in Hand. Sie sollten dabei viel- ruption erreicht hat. Es ist noch viel zuwenig be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11213

Frank Hofmann (Volkach) kannt, daß nunmehr die Finanzbehörden die Pflicht ster nehmen. Deutschland ist nicht Vorreiter oder haben, bei Verdacht der Korruption die Strafverfol- Mitläufer, sondern Bremser und Schlußlicht. gungsbehörden zu informieren. Das ist ein wesentli- ches Instrument, um das Dunkelfeld der Korruption (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) aufzuhellen. - Wir brauchen eine verstärkte Zusammenarbeit al- - Herr Geis, Sie können abwinken. Ich kann es Ihnen ler Behörden. Wenn Sie in unserem Antrag nach- aber beweisen. schauen, dann sehen Sie: Wir fordern im Bereich der Diese Wahrheit will man gerne unter den Tisch fal- Korruption eine Anzeigepflicht für alle Behörden. Im len lassen, indem man alles für vertraulich erklärt Gegensatz zum Deutschen Juristentag haben es die und die OECD-Gesamtumfrage nicht öffentlich zu- Regierung und die Koalitionsfraktionen noch nicht gänglich macht. Verantwortlich dafür sind Frank- begriffen: Für den, der die Korruption wirklich auf- reich und Deutschland. Über 20 OECD-Staaten wä- decken will, ist die Anzeigepflicht der Behörden ein ren mit einer Veröffentlichung einverstanden gewe- unverzichtbares Instrument. sen. (Beifall bei der SPD) Wenn hier bei uns die Umfrageergebnisse als ge- Wir wollen deshalb in der Finanzpolitik nicht nur heim eingestuft werden und darüber nicht öffentlich diesen ersten Schritt tun; weitere müssen folgen. diskutiert werden kann, dann macht man die OECD Folgt man dem Regierungsentwurf, dann ist es wei- ganz bewußt zum Papiertiger. Teilergebnisse dieser terhin nicht strafbar, ausländische Amtsträger zu „vertraulichen" Umfrage sind trotzdem nachzulesen, schmieren. Lediglich im Bereich der Europäischen und durch das Verhalten der Bundesregierung, diese Union sind hier Änderungen absehbar. Natürlich Ergebnisse zu unterdrücken, wird es noch wichtiger, können die Gelder dafür weiterhin von der Steuer sie in der Öffentlichkeit darzustellen. abgesetzt werden. Mit diesem Unsinn muß ein Ende Nach diesen Umfrageergebnissen ist die steuerli- sein. che Abzugsfähigkeit generell in folgenden Ländern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nicht zulässig: in den USA, Kanada, Japan, Finnland, ten der PDS und des Abg. Manfred Such Norwegen, Schweden, Dänemark, Italien, Po rtugal [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und Großbritannien. In der zweiten Gruppe - hier ist eine steuerliche Abzugsmöglichkeit nur möglich, Wie will denn die Bundesregierung eine Änderung wenn der Empfänger bekannt ist - befinden sich der Moral in den Vorstandsetagen erreichen - wie Österreich, Australien, Frankreich, Irland, Schweiz auch Herr Geis gefordert hat -, wenn sie die steuerli- und die Niederlande. Wo bleibt Deutschland? In der che Korruptionsbekämpfung lediglich auf inländi- letzten Gruppe zusammen mit Belgien, Griechenland sche Schmier- und Bestechungsgelder beschränkt? und Luxemburg, in der der Empfänger nicht angege- ben werden muß. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Dann gibt es international keinen Auftrag mehr!) Mit Ihrer Geheimniskrämerei versucht die Bundes- regierung ihr gebetsmühlenartig vorgetragenes Ar- - Herr Marschewski, Sie haben nachher noch die Ge- gument, daß in den westlichen Industrienationen be- legenheit zu reden; tun Sie das bitte nachher. - Des- trieblich veranlaßte Schmiergeldzahlen grundsätz- halb muß dieser Teil aus dem Jahressteuergesetz ver- lich als Betriebsausgaben anerkannt werden, zu ret- bessert werden. Es darf nicht das elfte Gebot gelten: ten. Die Umfrage, die Sie verschweigen wollen, zeigt Laß dich nicht erwischen. jedoch: Nicht die SPD-Bundestagsfraktion forde rt et- was Exotisches, sondern Sie sind die Exoten unter (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) den G-7-Staaten. Was ist das für ein Gesamtkonzept, wenn deutsche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Unternehmen Ehrenregeln gegen Korruption einfüh- ten der PDS) ren sollen, der Staat aber weiterhin anbietet, die in- ternationalen Schmiergeldzahlungen zu Lasten des Auf internationalem Parkett versucht sich Bundes- deutschen Steuerhaushaltes abzusetzen? kanzler Kohl geschmeidig zu verhalten. Auf dem Wirtschaftsgipfel von Lyon zum Beispiel - einem gro- Herr Justizminister Schmidt-Jortzig, Sie haben im ßen Medienspektakel - erklärten die Staats- und Re- März zusammen mit Ihrem Kollegen Herrn Kanther gierungschefs Ende Juni 1996 zur Korruption: der Öffentlichkeit einen Maßnahmenkatalog vorge- stellt und dabei unter anderem die Wirtschaftsver- Ferner sind wir entschlossen, die Korruption in in- bände aufgefordert, für ihre Branchen verbindliche ternationalen Wirtschaftstransaktionen zu be- Ehrenregeln gegen Korruption einzuführen. kämpfen, die der Transparenz und Fairneß scha- det und hohe wirtschaftliche und politische Ko- Ich frage Sie: Welche Ehrenregeln sollen sich die Un- sten verursacht. ternehmen geben, wenn Sie selbst keine haben? Das hat der deutsche Regierungschef mit unterzeich- Die Bundesregierung muß sich zudem vorhalten net. Der Bundeskanzler muß wohl sein Papier auf lassen, daß viele westliche Industrienationen die in- dem Rückflug liegengelassen haben. Von dieser in ternationale Korruptionsbekämpfung wesentlich ern- Lyon geäußerten Entschlossenheit, die internationale 11214 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Frank Hofmann (Volkach) Korruption zu bekämpfen, schlägt sich im Gesetzent- übernommen, aber damals in den Ausschüssen kur- wurf der Regierungskoalition nichts nieder. zerhand abgelehnt haben.

(Beifall bei der SPD) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben es nur noch nicht gemerkt, daß wir schon im ver- - Im Rahmen einer internationalen Antikorruptions- gangenen Jahr dazu Stellung genommen politik läßt sich die Bundesregierung lediglich auf haben!) kleine Schritte gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten der EU ein. Hier geht es vor allem um die Verpflich- Kollege Hofmann - als ehemaliger Polizeibeamter tung zur Schaffung von Strafvorschriften für die ak- in doppelter Hinsicht Kollege -, ich warne davor, zu glauben, daß man mit den Mitteln des Strafrechts tive und passive Bestechung von Amtsträgern der EU. Über diesen Bereich hinaus sucht man jedoch und des Strafprozeßrechtes, wie es teilweise in Ihren vergeblich nach Signalen, die von Deutschland aus- Vorlagen zum Ausdruck kommt, Korruption besser gehen. Und das, obwohl die Bundesregierung durch bekämpfen kann. Da müssen sich die Sozialdemo- die OECD-Umfrage weiß, daß nicht nur in den USA kraten immer wieder die Frage gefallen lassen, ob sie die Bestechung ausländischer Beamter bereits jetzt denn glauben, wo sie doch angeblich nicht mit Geld unter Strafe steht, sondern auch in Kanada, Neusee- bzw. mit öffentlicher Sicherheit umgehen können, sie land, Norwegen, Schweden, Schweiz, Türkei und in könnten die CDU rechts überholen. Das sollten Sie dem Vereinigten Königreich. Do rt reichen bereits bei Ihrer Vorlage doch einmal überdenken. jetzt die allgemeinen Bestechungsvorschriften aus. (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]) Die Forderung der SPD-Bundestagsfraktion, auch die Korruption durch Deutsche gegenüber ausländi- In der Rede von Herrn Geis ist auch deutlich ge- schen Amtsträgern unter Strafe zu stellen, erhält worden: Es herrscht eine verbreitete Unsicherheit durch die Umfrageergebnisse noch mehr Gewicht. über den Beg riff der Korruption und über die Legali- tät bzw. moralische Legitimität gewisser Austausch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beziehungen.

Meine Damen und Herren, wir sind auf dem richti- Viele Amtsträger, Wirtschaftsbeteiligte sowie Bür- gen Weg, während die Regierung noch versucht, zu gerinnen und Bürger müssen prüfen und aktuell be- retten, was bereits verloren ist. Es ist an der Zeit, sich stimmen, wo die Grenzen des zulässigen Verhaltens nachdrücklich an allen internationalen Bestrebungen untereinander verlaufen. zur weltweiten Eindämmung der Korruption zu be- teiligen, wie dies auch der Gutachter des Deutschen Außerdem besteht offenbar immer noch die Nei- Juristentages forde rt. gung, das Ausmaß von Korruption zu unterschätzen. Selbst in diesem Hause - Herr Geis hat das angespro- Nicht immer gilt: Was lange währt, wird endlich chen - scheint es schwer vorstellbar zu sein, daß es gut. Der verspätete Sta rt in das Gesetzgebungsver- korruptive Beziehungen zum Beispiel auch innerhalb fahren ist der Koalition jedenfalls nicht geglückt. des BMI geben könnte, also in der Behörde, der sozu- sagen ein Wächteramt für den öffentlichen Dienst Danke. und eine Federführung bei der Bekämpfung der Kor- ruption zukommt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) In der vergangenen Woche zum Beispiel habe ich namens meiner Fraktion eine kleine Anfrage zum Verdacht von Unregelmäßigkeiten von Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern des Bundesgrenzschutzes und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat dessen Personalreferats im Bundesinnenministerium jetzt der Abgeordnete Manfred Such. eingereicht. In der Sache geht es - jetzt mal flapsig formuliert - etwa um den Verdacht folgender Aus- tauschbeziehungen: Läßt du dich auf ein intimes Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Verhältnis ein, bearbeite ich die Disziplinarverfahren Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Geis, es gegen dich wohlwollend. Übernimmst du den heimli- waren sehr milde Töne, die ich von Ihnen gehört chen Transfer hoher Geldspenden, sorge ich für habe. Eigentlich hatte man von Ihnen etwas ganz an- deine gute dienstliche Beurteilung. Leihst du mir deres erwartet, nämlich Forde rungen in Richtung dienstliche Ausstattungen für einen Bet riebsausflug großer Lauschangriff und Telefonüberwachung. Es oder für private Zwecke, setze ich mich für deine Be- ist schon erstaunlich, daß Sie das in diesem Bereich förderung ein. nicht fordern. In der Tat, der Kollege Hofmann hat recht, daß Sie mit Ihren Vorschlägen sehr spät kom- Ich habe diese, wohlgemerkt, mutmaßlichen Vor- men. gänge in der Überschrift meiner kleinen Anfrage als „Korruptionsverdacht im BMI" bezeichnet. Die Bun- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Die liegen schon destagsverwaltung wendete dagegen mit Verweis ein Jahr auf dem Tisch!) auf gängige Medienberichte zunächst ein, unter Kor- ruption sei doch nur Vorteilsannahme bzw. -vergabe Denn wir haben bereits im letzten Jahr dazu einen bei Beteiligung von Privatpersonen zu verstehen, entsprechenden Antrag gestellt, den Sie weitgehend nicht jedoch bei Amtsträgern untereinander. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11215

Manfred Such Dieses Mißverständnis ließ sich dann leicht aufklä- F.D.P. den Ansatz unserer Vorschläge offenbar über- ren. Ein Blick ins Gesetz bzw. in den Kommentar des nommen und dies in ihrem Gesetzentwurf herausge- Strafgesetzbuches ergab, daß es sich auch hierbei stellt haben. um Korruptionsfälle handeln könnte. (Zurufe von der SPD: Zu spät!) Dieser Vorgang, meine Damen und Herren, belegt Was davon übrigbleibt, werden wir nach der Aus- die eingangs festgestellte Verunsicherung, was denn schußberatung sehen. nun eigentlich Korruption in unserer Gesellschaft ist. Der Schwerpunkt erfolgversprechender Schritte Bedrohen nun diese Unsicherheit und die bekannt- gegen Korruption muß im präventiven, organisatori- gewordenen korruptiven Praktiken die moralischen schen sowie personalwirtschaftlichen Bereich liegen. Grundlagen unserer Gesellschaft? Sind letztere Vor- Dienst- und strafrechtlichen Regelungen kommt da- aussetzungen oder nur Ausdruck des vielzitierten neben nur eine ergänzende Funktion zu. Sie, Herr Wertewandels? Ich meine, diese Betrachtungen ha- Geis, legen den Schwerpunkt auf das Strafrecht. ben jeweils ihre Berechtigung und ergänzen einan- der. Auf dem Gebiet präventiver Maßnahmen halten wir es für erforderlich, zunächst in Bet rieben und Zur anhaltenden Auflösung traditioneller Pflicht- Verwaltungen organisationsbedingte Barrieren ge- und Akzeptanzwerte tragen korruptive Handlungen gen Korruptionsbekämpfung zu beseitigen. Ferner sicherlich bei, wenn auch nicht entscheidend. Es be- ist die Vorbildfunktion von Führungskräften und die ruht auf mancherlei weiteren Gründen, daß heute berufsethische Sensibilität des Personals zu stärken. viele Menschen - obgleich nicht alle - statt diesen Diese Ziele legen zum Beispiel folgende Schritte Werten zunehmend der persönlichen und wirtschaft- nahe: lichen Selbstverwirklichung Bedeutung beimessen. Befehlshierarchien müssen verflacht werden, da Andererseits ist einzuräumen, daß gewisse korrup- sie erschweren, daß Mitarbeiter korruptive Hand- tive Praktiken gerade im Wirtschaftsleben nicht der lungsweisen von Vorgesetzten zur Sprache bringen Grund, sondern nur eine Folge dieses sogenannten können. moralischen Verfalls zu sein scheinen. Den hierzu- lande grundsätzlich anerkannten Verhaltensprinzi- Die gängige Informationspolitik, etwaige Korrupti- pien ökonomische Vernunft und Effektivität entspre- onsfälle nicht einmal intern bekanntzumachen, ist chen solche Verhaltensweisen vordergründig durch- kontraproduktiv - siehe BMI - und muß zugunsten aus. von mehr Transparenz und aktiver Öffentlichkeitsar- beit aufgegeben werden. Ich kann diese grundsätzlichen Fragen als Hinter- grund der heutigen Debatte, welche Maßnahmen ge- Behörden, Wirtschafts- und Berufsverbände sollten gen Korruption ergriffen werden sollten, an dieser institutionell abgesicherte Ethikrichtlinien zur Sensi- Stelle leider nur skizzieren. Ich bin mit Blick auf bilisierung und Handlungsregulierung erlassen. diese Fragen aber von folgendem fest überzeugt, Auch die Mitarbeiter korruptionsanfälliger Arbeits- und die Debatte hat es heute morgen auch schon ge- bereiche bzw. Organisationseinheiten sind aufgefor- zeigt: Das Thema Korruption eignet sich nicht für die dert, ihr Berufsbild sowie entsprechende Selbstver- Art kontroverser Debatten, wie sie in diesem Hause pflichtungen verbindlich festzulegen und Vertrau- gerade auch im Bereich der Kriminalpolitik vielfach ensleute bzw. Korruptionsbeauftragte zu bestellen. mit etwas schrillem Ton letztverbindlicher Überzeu- (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das gung, Herr Marschewski, zwischen Koalition und wäre mal was Neues!) Opposition geführt werden. Ich will mich da gar nicht ausnehmen. Zu den nötigen Präventivmaßnahmen gegen Kor- ruption gehören ferner eine Ausweitung von Dienst- Vielmehr sollten wir uns im Bewußtsein der ge- aufsicht, Jobrotation und Teamarbeit, um mit dem so- samtgesellschaftlichen Ursachen und Rahmenbedin- genannten Vier- oder Sechs-Augen-Prinzip Mecha- gungen für Korruption möglichst gemeinsam um Lö- nismen der gegenseitigen Kontrolle bei der Abwick- sungsansätze bemühen, die diesen Umständen Rech- lung öffentlicher Aufträge und Verwaltungsverfah- nung tragen und vor allem auch in der Bevölkerung ren zu nutzen, also das Ganze in mehrere Hände zu nachvollziehbar sind. legen. Deshalb bitte ich, die schon im März vergangenen Eine Schlüsselrolle bei der Korruptionsbekämp- Jahres - ich habe das eingangs erwähnt - unterbrei- fung spielt unseres Erachtens die Erhöhung der Kon- teten Vorschläge meiner Fraktion zu diesem Thema trolldichte. Dazu gehört unter anderem eine Stär- sowie meine folgenden Bemerkungen zu den heute kung der Rechnungshöfe und Rechnungsprüfungs- beratenen Vorlagen als Beiträge zu einer gemeinsa- ämter sowie die Einrichtung spezifischer Innenrevisi- men Diskussion in dem genannten Sinne zu verste- onsgruppen in den Behörden. hen. In den Ausschüssen können wir das dann ver- tiefen. Über solche Schritte, die ich hier nur beispielhaft nennen kann, dürfte in den Beratungen relativ rasch Daß die Koalitionsmehrheit den umfangreichen Konsens erzielt werden. Heikler scheint demgegen- Antrag meiner Fraktion gegen Korruption bereits über zu sein, die von uns grundsätzlich begrüßte For- Ende letzten Jahres in den Ausschüssen kurzerhand derung der Finanzministerkonferenz umzusetzen, in abgelehnt hat, bedaure ich. Ich stelle aber mit einer ein bundesweit geführtes Antikorruptionsregister gewissen Befriedigung fest, daß auch Union und auffällig gewordene Unternehmen aufzunehmen 11216 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Manfred Such und diese bei der Vergabe öffentlicher Aufträge aus- finition absehbare, erhebliche Beweisschwierigkei- zuschließen. Ich denke, daß das wirksam wäre. Auch ten zu bedenken. der Juristentag in der letzten Woche hat befürwortet, das zumindest für einen gewissen Zeitraum einzu- Bedenken sind schließlich gegen die vor allem vom führen und zu praktizieren. Bundesrat, aber auch von der Koalition und der SPD geforderte Erweiterung der Telefon- und sonstigen Unter den unseres Erachtens notwendigen flankie- technischen Überwachungsbefugnisse anzumelden, renden Maßnahmen fällt besonders auf, wie hinhal- der Kronzeugenregelung sowie der Vermögensstrafe tend sich Regierung und Koalition der Forderung wi- und des erweiterten Verfalls. Das sind alles Dinge dersetzen, die steuerliche Absetzbarkeit von aus der Rumpelkammer des Strafprozeßrechtes. Schmiergeldern komplett zu streichen. Nicht ausrei- chend ist nämlich der mit dem Jahressteuergesetz Ich habe keinen Anlaß zu der Hoffnung, daß alle 1996 eingeführte Ausschluß der steuerlichen Absetz- diese Vorschriften - anders als in den bisherigen An- barkeit nur für den Fall, in dem die Behörden zufällig wendungsbereichen - nun auf einmal im Einsatz ge- von Schmiergeldzahlungen erfahren haben und ein gen Korruption durchgreifende Erfolge bringen. Straf- und Ermittlungsverfahren eingeleitet haben. Abschließend möchte ich für meine Fraktion fol- Kein Verständnis kann ich dafür aufbringen, daß gendes betonen: Ungeachtet der skizzierten Beden- im Ausland gezahlte Schmiergelder entgegen den ken gegenüber Einzelmaßnahmen sind wir gewillt, Empfehlungen der OECD in Deutschland immer im konstruktiven Dialog die notwendigen Schritte noch steuerlich abgesetzt werden können. gegen Korruption in allen ihren Schattierungen rasch voranzutreiben. Ebenso wie unsere Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kollegen in den Landtagen haben Bündnis 90/Die bei der SPD und der PDS) Grünen mit ihren Initiativen im Bundestag die De- Diese Schmiergelder schädigen eindeutig die Volks- batte über Korruption überhaupt erst angestoßen. Das muß man einmal deutlich sagen. wirtschaften in der Dritten Welt. An den Kollegen Hofmann: Was die strafrecht- (Lachen bei der CDU/CSU - Erwin Mar- lichen Vorschläge betrifft, möchte ich daran erinnern, schewski [CDU/CSU]: Weder Adam noch daß nach allen uns vorliegenden Erfahrungen von Eva waren Grüne!) einer Ausweitung von Straftatbeständen ebensowe- Sie kommen auch in diesem Zusammenhang wieder nig wie von einer Anhebung von Strafrahmen eine zu spät. Dafür mag es Gründe geben, Kollegen Geis, generalpräventive Wirkung zu erwarten ist, wie das Zeitlmann und Marschewski. Daher werden wir die- in den heute beratenen Vorlagen vielfach erhofft ses Thema in Zukunft mit a ller Entschiedenheit wei- wird. Auch Herr Geis hat das angesprochen. terverfolgen. Wir müssen die Konturen von Straftatbeständen Ich hatte gestern ein Gespräch mit einem leitenden nach dem grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebot Beamten des Bundesrechnungshofs, der sich darüber klar erkennbar lassen, primär, damit die Bürgerinnen beklagte, daß man aus diesem Bereich immer mehr und Bürger die Grenzen zulässigen Handelns nach- Personal abzieht. Das wäre meiner Meinung nach vollziehen können, und sekundär, damit der Justiz ein Bereich, in dem wir das Personal aufstocken soll- Möglichkeiten zur Ermittlung an die Hand gegeben ten, weil man dort - wenn es um Fehlentwicklungen, werden, wir ihnen also nicht Steine statt Brot geben. Wirtschaftsfragen und Korruption geht - Gegenmaß- In diesem Zusammenhang ergeben sich Bedenken nahmen ergreifen könnte. Es widerspräche auch zum Beispiel angesichts des Vorschlags, die Gewäh- nicht dem Ziel des schlanken Staates, wenn man do rt rung von Vorteilen ohne konkrete Unrechtsvereinba- rt zu sparen. mehr Personal einsetzte, statt do rung der Beteiligten straffrei zu stellen, sei es in Ge- Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. stalt zweckfreier Zuwendungen - gemeint ist das so- genannte Anfüttern - oder nach bereits vorgenom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - menen, rechtmäßigen Diensthandlungen. Ich glaube Zuruf von der CDU/CSU: Wo nimmst du nicht, daß wir das Problem damit juristisch sauber in denn das Personal her?) den Griff bekommen. Auch der vorgeschlagene Sondertatbestand des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der Ausschreibungsbetruges erscheint uns weder not- Kollege Detlef Kleinert das Wort. wendig noch angemessen und praktikabel zu sein. Preisabsprachen dürften vielfach bereits über den Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Frau Präsiden- Betrugsparagraphen erfaßt werden können. tin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich frage mich, ob wir hier gemeinsame Überlegungen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist und Anstrengungen zur Bekämpfung eines seit sehr leider nicht der Fall!) langer Zeit zu beobachtenden und in letzter Zeit be- Die Rechtsprechung geht weiter, als etwa der Bun- dauerlicherweise besonders grassierenden Problems desratsentwurf nahelegen will. besprechen oder ob hier Patentstreitigkeiten über Erstanmeldungen geführt werden. Das müßte man Wenn der Bundesrat die Strafbarkeit außerdem be- einmal auseinanderhalten. reits auf eine Beteiligung an Absprachen erstrecken will, ohne daß überhaupt ein Angebot abgegeben zu Ich habe hier einen Beitrag von seiten der SPD ge- werden braucht, sind neben Fragen der Schadensde- hört, der sich im wesentlichen mit der interessanten Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11217

Detlef Kleinert (Hannover) Frage befaßt, wer wann was zuerst gesagt hat - als Hier liegen Fehler vor im System der Auftragsver- ob hier abgeschottete Abteilungen existierten, der gabe, schon im System der Ausschreibung. Hier lie- Deutsche Juristentag ist nun wahrlich genügend be- gen Fehler vor in der Beschreibung dessen, was je- müht worden, es sprechen viele miteinander, vorher mand, der Aufträge vergibt, eigentlich wi ll. Hier lie- werden Drucksachen verschickt, die jeder lesen gen Fehler vor in der Definition der Straftaten, die- kann, manche tun das auch; dann ergeben sich allge- schon jetzt - und das gar nicht zu knapp - mit durch- meine Wissensstände, bei einiger Intelligenz kom- aus erheblichen Strafen bedroht sind. Hier liegen men einige Leute auch auf ähnliche Vorschläge. Sich Fehler vor zunächst in der Personalauswahl und angesichts dessen zu irgendeinem gegriffenen Zeit- dann in der Personalführung. punkt X vorzuhalten, man wäre der erste gewesen, kann in der Sache doch nicht weiterführen. Alle diese Fragen sind weder von gestern noch von vorgestern, sondern sie begleiten uns seit Jahrzehn- Deshalb versuche ich, nochmal auf einiges Grund- ten. Es ist herzlich wenig unternommen worden, ob- sätzliche zu kommen. Bei allem sehr Beklagens- und wohl ich niemanden sehe, dessen politische Freunde auch Bekämpfenswertem im Bereich der Wirtschaft - wenn nicht gar er selbst - nicht Gelegenheit gehabt stört es uns doch alle ganz besonders - so nehme ich hätten, auch schon in früherer Zeit in erheblichem an -, daß im öffentlichen Dienst immer mehr Fälle be- Umfange nützlich tätig zu werden. Deshalb ist es kannt geworden sind, in denen früher selbstver- nicht gut, zuerst nach dem groben Geschütz straf- ständliche Tugenden von Beamten und auch Ange- rechtlicher Verschärfungen zu rufen. stellten des öffentlichen Dienstes einfach nicht mehr zu existieren scheinen. Viel wichtiger sind uns einige Klarstellungen in den Straftatbeständen. Ich unterstreiche nachdrück- Wir haben nicht nur die Tradition des preußischen lich die Umgruppierung dieser einschlägigen Delikte Beamtentums gehabt. Eine Reihe von Bundesländern - einschließlich eines neuen, über das noch gründ- - manchmal nennen sie sich sogar Staaten - haben lich nachgedacht werden muß - vom UWG in das eine größere Kontinuität, als man das von Preußen StGB. Das UWG handelt nun einmal im wesentlichen heute noch sagen kann. Allen war aber gemeinsam, von anderen Dingen als von Straftaten, die sich letz- daß die besonderen Regelungen für die Beamten ten Endes gegen Eigentum, gegen wirtschaftliche dazu geführt haben, daß sich auch ein besonderes und auch persönliche Interessen von Treugebern Bewußtsein herausgebildet hat - ich sage das ganz richten. Das gehört ins Strafgesetzbuch und nicht in bewußt so einfach - für das, was man tut oder was Wettbewerbsregeln unter Wettbewerbern. Deshalb man nicht tut. Daß dieses Bewußtsein weitgehend halte ich das in systematischer Hinsicht schon für abhanden gekommen ist - jedenfalls in gewissen sehr wesentlich. Teilen abhanden gekommen ist -, ist der Grund, sich mit den Dingen zu beschäftigen. Wenn dann dabei auch das, was man dem Straf- recht so oft zutraut, was aber leider selten erreicht Wenn aber, wie auf einem anderen Strafrechtsge- wird, nämlich eine gewisse Bewußtseinsbildung, her- biet, in diesen Tagen hohe Wetten darauf gewonnen auskommen sollte, dann wollen wir es loben. werden können, daß bei jedem in der Öffentlichkeit bekanntgewordenen Fa ll eine Reihe von Landesmi- Kronzeugen sind eine sehr bedenkliche Sache. Ich nistern, die man sogar namhaft machen kann, und will mich nicht auf den Juristentag berufen. Denn ob von Bundestagsabgeordneten, die man ebenfalls ein Gremium von mehr als hundert Menschen mit namhaft machen kann, am nächsten Morgen im einer Stimme Mehrheit in der einen oder der ande- Deutschlandfunk erzählen, das Strafmaß müsse er- ren Richtung abstimmt, weist uns noch nicht den höht werden, dann ist das ein Hinweis darauf, daß richtigen Weg. Wir müssen uns wohl weiterhin hier zu einfache Lösungen gesucht werden. eigene Gedanken machen. Ich glaube aber, daß das Instrument ganz schweren Delikten vorbehalten sein (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sollte. NEN]: Sehr richtig!) Ich möchte zum Schluß sagen: Das Wichtigste ist, Insofern muß ich sagen, Herr Such: Es war ausge- daß wir bei allem, was wir jetzt tun - und zwar sprochen erfreulich, von Ihnen Lob für Herrn Geis zu „multidisziplinär", um das schöne Wort noch einmal vernehmen - das hat man in dieser Form selten. Es zu gebrauchen -, versuchen, ein wenig in die Rich- war auch erfreulich, Ihr Angebot zu vernehmen, daß tung zu kommen, daß die Beteiligten wissen, was wir uns gemeinsam über die unglaublich kompli- man tut und was man nicht tut. Wir sollten nicht dem zierte Materie unterhalten müssen. Aberglauben anhängen, das wäre allein durch Stra- fen, durch Strafverschärfungen oder durch drakoni-

Die europäische Justizministerkonferenz - das ist sche Mittel der Strafverfolgung hinzubekommen. Ich ja kein geheimes Kränzchen, da sind alle politischen kann ja verstehen, wenn Polizisten dieser Meinung Strömungen auf irgendeine Weise vertreten - hat ein sind; dafür habe ich menschlich großes Verständnis. schönes französisches Wo rt gefunden, das ich mir Aber letztendlich bringt es das nicht. Vielmehr darf und auch Ihnen nicht zumuten wi ll. Danach handele man neben all diesen Maßnahmen nicht aus dem es sich bei der Korruption um ein multidisziplinäres Auge verlieren, daß eine Bewußtseinsbildung mit Delikt; deshalb müsse auch die Bekämpfung multi- einigen Seminaren, mit Ethikrichtlinien oder gar mit disziplinär sein. Ich habe das übersetzt. Das ist ein einem Korruptionsbeauftragten - das ist das Schreck- wichtiger Hinweis auf das, womit wir es zu tun ha- lichste, was ich heute morgen an Hilflosigkeit gehört ben. habe - nicht zu leisten ist. 11218 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Detlef Kleinert (Hannover) Darum werden wir gemeinsam daran arbeiten, auf Linie von der Konsequenz der Strafverfolgung ab allen Gebieten, einschließlich des Strafrechts - ich und nicht von einer mindestens teilweise fragwürdi- hatte es gesagt, Herr Kollege, das Nötige zu tun - wir gen Verschärfung der Strafrechtstatbestände. Dar- wollen aber nicht über das Ziel hinausschießen -, um über werden wir noch im einzelnen im Ausschuß re- hier zu einer grundlegenden Verbesserung der Situa- den. tion zu kommen. Wenn aber zum Beispiel der ermittelnde Staatsan- Herzlichen Dank. walt in Korruptionssachen in Frankfu rt am Main bei 1 600 Korruptionsfällen seit 1987 mit lediglich zwei (Beifall bei der F.D.P und der CDU/CSU) weiteren Ermittlern auskommen muß, (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: NEN]: Hört! Hört!) jetzt der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer. dann sieht es hinsichtlich der Rahmenbedingungen Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Frau Präsidentin! jedoch schlecht aus. Auch der Umstand, daß Mitte Meine Damen und Herren! Frau Rönsch sagte in der 1993 etwa 200 Treuhandmitarbeiter der Bestechung Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt, beziehungsweise der Bestechlichkeit verdächtigt Frauen mit Kindern sollten mehr Wohnungseigentum wurden und dann nur gegen zehn ermittelt wurde, kaufen. Das erinnert mich an die französische Köni- unterstreicht dies. gin Marie Antoinette, die den französischen Bürgern, Wir sollten auch auf diesem Gebiet von der völlig als sie sagten, sie hätten kein Brot, erklärte, sie soll- untauglichen, wenn auch immer wieder medienwirk- ten doch Kuchen kaufen. Ich wünsche ihr natürlich samen Methode Abschied nehmen, mit dem Ruf nicht das Schicksal dieser Dame. nach Verschärfung des Strafrechts der Bevölkerung (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist eine Handlungsbereitschaft und Aktivität vorzutäu- doch dummes Zeug!) schen, während tatsächlich weder die Bedeutung des Problems erfaßt wird noch taugliche Lösungen ange- Herr Kleinert hat in seinem Beitrag eben erklärt, boten werden. man sollte nicht über die Erstanmeldung streiten. Ich möchte aber darauf hinzuweisen, daß Bündnis 90/ In der US-amerikanischen Korruptionsforschung Die Grünen am 17. Februar vorigen Jahres den An- wird Korruption immer wieder als „Krebsgeschwür" stoß gaben, daß ihnen dann am 9. März 1995 die SPD charakterisiert. Das legt den Gedanken nahe, sie gefolgt ist. Acht Monate später erklärte die ehema- auch wie eine Krankheit zu diagnostizieren, um sie lige Justizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenber- dann als solche behandeln zu können. ger, der Schwerpunkt der Korruptionsbekämpfung Wenn wir die Möglichkeiten der Korruptionsbe- müsse im Bereich der Prävention liegen und das gel- kämpfung wie auch die Grenzen der Tauglichkeit tende Strafrecht sei generell tauglich. Am 18. De- von Antikorruptionsgesetzen bestimmen wollen, zember 1995 legte dann der Bundesrat als erster den dann geht es erstens um die Analyse der gesell- Entwurf eines Korruptionsbekämpfungsgesetzes vor. schaftlichen Verhältnisse, zweitens um die reale Ana- Dieser Entwurf war dann nahezu klassenkämpfe- lyse der Gefahrenlage und drittens um die Überprü- risch, wenn er vom von „verwerflichem Gewinn- fung der politischen und staatlichen Strukturen unse- streben bestimmten Zusammenwirken von Amts- rer Demokratie hinsichtlich ihrer Tauglichkeit zur trägern und Personen in der Wirtschaft" spricht. Selbstreinigung von diesem „Krebsgeschwür". Der Regierungsentwurf bleibt hinter dieser Sicht Unsere Gesellschaft ist auf besondere Weise eine zurück. Es bleibt letztlich dabei, daß neben allgemei- Money-Society, eine Geldgesellschaft, und das hat nen dienstrechtlichen Festlegungen vor allem über weitreichende Konsequenzen für die gesellschaftli- die Veränderung von Strafrechtsnormen und über che Moral. Geld ist, so schrieb Karl Marx im flankierende Lösungen die Korruption eingedämmt 19. Jahrhundert in „Grundrisse der Kritik der politi- werden soll. schen Ökonomie ", der eigentliche „Herrscher und Gott in der Welt der Waren". Abraham Lincoln, der Nach meiner Auffassung ist dieser Ansatz falsch. Ihnen sicher nähersteht, merkte in einem ähnlichen Ein Problem vorwiegend gesellschaftlicher und poli- Sinne an: „Das moralische Prinzip ist ein lockereres tischer Art wie das der Korruption kann man nicht Band als der pekuniäre Vorteil." primär bei Abstrahierung von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch härtere Strafrechtsnor- „Fundamentale menschliche Werte ... sind weni- men in den Griff bekommen. ger wichtig als Geld. Geldgier ist mit uns - wie im- mer - und nicht länger eine Sünde", schreibt der US- Natürlich muß auch das Strafrecht eine wichtige amerikanische Korruptionsforscher Phil Norman. Rolle bei der Kriminalitätsbekämpfung spielen, was die Überprüfung seiner Normen, zum Beispiel hin- Das private Kapital durchdringt als eigenständige sichtlich der Strafbarkeit von Bestechung im Aus- Macht neben dem Staat die Gesellschaft. Geld ist land, einschließt. Dabei muß auch unterschieden Macht, aber staatliche Macht kann auch zur Geldge- werden zwischen einem Beamten, der einen Blumen- winnung genutzt werden. Die Grenzen zwischen le- strauß von einem Bürger erhält, und einem Beamten, gitimem und kriminellem Profit sind fließend. Seit der von einem Großinvestor für die Erteilung eines mehr als 100 Jahren entwickelt sich der Staat zu ei- Bauauftrages Geld entgegennimmt. Die Rolle des ner riesigen Zentrifuge zur Umverteilung enormer fi- Strafrechts hängt aber praktisch nun einmal in erster nanzieller Mittel für die p rivate Wirtschaft. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11219

Dr. Uwe-Jens Heuer Im profitmotivierten Einfluß des p rivaten Geldes Man muß auch die Frage stellen, ob es noch trag- auf den Staatsdienst liegt wohl die entscheidende bar ist, wenn zum Beispiel jemand einerseits über die Quelle für den Sumpf der Korruption. Welches Aus- Sozialfragen diskutiert und andererseits völlig legal maß dies auch auf Bundesebene annehmen kann, sowohl sein Ministergehalt als auch 50 Prozent der hat seinerzeit die Flick-Affäre deutlich gemacht. Abgeordnetendiäten kassiert. Ich möchte einige Fakten für das Erfassen der Di- Eine neue Qualität der Korruptionsbekämpfung mension nennen: Experten schätzen die volkswirt- wird in meinen Augen nur erreicht werden, wenn es schaftlichen Verluste durch illegale Provisionen und zu einer Demokratisierung der Verwaltung und da- überhöhte öffentliche Ausgaben auf über 10 Mil- mit zu strukturellen Barrieren kommt, die korrupte liarden DM pro Jahr. Allein der Schaden im Zusam- Praktiken der Auftragsvergabe erschweren. menhang mit der Herzklappenaffäre betrug Dazu gehören - ich kann mich mit den Vorschlä- 200 Millionen DM. gen, die Bündnis 90/Die Grünen bereits vor andert- halb Jahren gemacht haben, sehr einverstanden er- Nach einer Hochrechnung eines Staatsanwaltes klären -: aus Frankfurt am Main stammen 90 Prozent der Bau- aufträge aus Bestechungen. Die Quelle ist die Erstens. Jede Ausschreibung eines öffentlichen „Frankfurter Rundschau" vom 19. Juli 1995. Auftrages muß öffentlich geschehen. Die Liste der Beschuldigten in Korruptionsverfah- Zweitens. Jedes Unternehmen, das sich für einen ren enthält die Namen aller großen Unternehmen öffentlichen Auftrag bewirbt, muß Verhaltensrichtli- von Daimler und Hoechst über Mannesmann und nien für seine Angestellten erstellen, die jede Form Siemens bis zu VW. korrupter Handlungen verbieten. In den jeweiligen Arbeitsverträgen müssen die Anti-Korruptionsrichtli- Wenn wir den Sumpf der Korruption tatsächlich nien enthalten sein. Ein p rivates Unternehmen, wel- eingrenzen oder gar austrocknen wollen, dann müs- ches diese Anforderungen nicht erfüllt, muß von der sen wir vor allem die Selbstreinigungsmechanismen Auftragsvergabe ausgeschlossen werden. des demokratischen Systems stärken und ausbauen. Dabei sollten wir konsequent und illusionslos sein; Ebenfalls müssen selbständige Auslandstöchter denn wir haben dabei eine recht komplizierte, letzt- von deutschen Unternehmen in das Korruptionsver- lich nicht vollständig zu bewältigende Aufgabe vor bot mit einbezogen werden. Unternehmen, denen uns: nämlich politisch gegen ein Laster zu steuern, Preisabsprachen, Manipulationen, Bestechungen das die kapitalistische Gesellschaft immer wieder oder Abrechnungsbetrug nachgewiesen wurden, selbst erzeugt. sollten generell zwei Jahre von der Vergabe öffentli- cher Aufträge ausgeschlossen werden. Geschichtliche Erfahrungen aus den USA, Italien Drittens. Bei internationalen Geschäften, die usw. zeigen, daß dies sehr schwierig ist, aber durch- durch öffentliche Bürgschaften und Garantien abge- aus auch erfolgreich sein kann. Das Problem liegt sichert sind, welche im Rahmen von Hermes-Bürg- darin, daß wir uns hier - in der Sprache der Krimino- schaften stattfinden, muß die Verpflichtungserklä- logie - an der Grenze zur Makrokriminalität bewe- rung der deutschen Unternehmen um eine eindeu- gen. tige Anti-Korruptionsklausel erweitert werden. Es liegt im Wesen der Korruption, daß sie die Ge- Viertens. Von allen Ausschreibungsunterlagen der heimhaltung, das Verborgene der Transparenz vor- Verwaltung müssen Kopien angefertigt werden, da- zieht. Wir brauchen deshalb zunächst vor allem eine mit nachträgliche Manipulationen nachweisbar und völlig neue Qualität der Öffentlichkeit der Verwal- überprüfbar bleiben. tung. Ohne die Gewährleistung eines generellen Rechts auf Akteneinsicht und effektive Kontrollmög- Fünftens. Auf Bundesebene sollte eine Arbeits- lichkeiten der Bürgerinnen und Bürger werden wir gruppe aus Bundesanwaltschaft und Bundesrech- nicht weiterkommen. nungshof eingerichtet werden, die zu jeder Zeit das Recht hat, ohne Vorankündigung alle Ausschrei- Wenn wir jedoch die Bürgerinnen und Bürger mo- bungsakten in allen Bundesbehörden und Bundesmi- bilisieren wollen, dann bedarf es zugleich einer Dis- nisterien einzusehen. kussion über die herrschende Moral wie auch über die bestehenden politischen Strukturen, die die Kor- Sechstens. In allen Verwaltungseinheiten, die als ruptionsmentalität mehr oder weniger erleichtern. korruptionsgefährdet gelten, ist das Rotationsprinzip hinsichtlich des Arbeitsplatzes einzuführen. Es ist bereits darüber gesprochen worden, daß Siebtens. Behördenleitern in der Verwaltung Schmiergelder zum Teil immer noch als Betriebs- müßte eine Anzeigepflicht hinsichtlich korrupter steuerabzugsfähig sind. Regierungsparteien, kosten Handlungen auferlegt werden. die Sozialmißbrauch anprangern und in diesem Zu- sammenhang nach staatlicher Überwachung rufen, Achtens. In jeder Behörde soll eine zentrale An- müssen sich schon fragen lassen, weshalb sie die laufstelle für Bürgerinnen und Bürger eingerichtet Steuerschlupflöcher für das p rivate Kapital immer werden. mehr ausweiten, statt sie zu schließen. In erster Linie geht es also nicht um die Einführung (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ neuer Straftatbestände oder den Ausbau polizeili- DIE GRÜNEN) cher Überwachungsmethoden. Einen Durchbruch 11220 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Dr. Uwe-Jens Heuer bei der Korruptionsbekämpfung können wir nur wegen tauchen sie hier nicht auf. Sie sind im übrigen durch Transparenz, Demokratisierung der Verwal- ein Appell an die anderen Verwaltungsträger und tung und Mobilisierung der Öffentlichkeit erzielen. die dort Führungsverantwortlichen. Manche der prä- ventiven Maßnahmen, die in diesem Katalog vorge- (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ sehen sind, wie der Vorschlag, Unternehmen wegen DIE GRÜNEN) - Korruptionsstraftaten von öffentlichen Aufträgen auszuschließen, bedürfen im übrigen noch umfassen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Prüfung nach EU-rechtlichen Gesichtspunkten. jetzt für die Bundesregierung der Herr Bundesmini- ster der Justiz, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig. Im Grunde ist es kein Geheimnis, daß die Koalition dafür aufgeschlossen ist, so etwas zu tun. Wir werden es allerdings noch ernsthafter zu prüfen haben. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Das zeigt ja, Die Bekämpfung der Korruption ist mit Sicherheit ei- was los ist, wenn Sie erst jetzt zu prüfen nes der wichtigsten Vorhaben, das wir in dieser Le- anfangen!) gislaturperiode im Parlament beraten und nachher Deshalb ist der Koalitionsentwurf jetzt nur ein Aus- hoffentlich gut beschließen. schnitt aus dem Maßnahmenkatalog der Bundesre- Korruption ist - so hat es der hessische General- gierung. Die vorgeschlagenen Änderungen im Straf- staatsanwalt auf dem Deutschen Juristentag pla- recht können die notwendigen präventiven Maßnah- stisch zusammengefaßt - der Brückenkopf des orga- men nur ergänzen. Es ist wichtig, das zu unterstrei- nisierten Verbrechens. Erst durch Korruption erhält chen. das organisierte Verbrechen die Informationen, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Möglichkeiten zur Geldwäsche und die Rückendek- kung, die es zu seiner Entfaltung braucht. Unsere Debatte steht - darauf ist heute schon mehrfach hingewiesen worden - in nahem zeitlichen So angängig Korruption für das organisierte Ver- Zusammenhang mit den Beratungen des brechen ist, so sehr ist sie in Deutschland aber noch 61. Deutschen Juristentages, der sich in der vergan- Ausnahme. Ich trete jedenfalls an dieser Stelle mit genen Woche in einer seiner Abteilungen mit dem Entschiedenheit dem Eindruck entgegen, unser Thema Korruption befaßt hat. Die Empfehlungen des Staat, unsere Gesellschaft oder unsere Wi rtschaft Deutschen Juristentages geben wichtige Anregun- seien durch und durch korrupt. Das stimmt nicht. gen für die Behandlung der Vorschläge zum Straf- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) recht, also zu dem, wo dieses Haus gesetzgeberisch tätig wird. Drei dieser Vorschläge möchte ich heraus- Es geht um einzelne, freilich ernste Fälle, deren greifen. Zahl leider steigt. Erstens. Den vom Bundesrat vorgeschlagenen voll- (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Immer ständigen Verzicht auf das Kernstück der Beste- noch die Schwarze-Schafe-Theo rie?) chungsdelikte, die Unrechtsvereinbarung, halte ich für problematisch. Wenn das Strafrecht bereits bei Es gilt, den Anfängen einer womöglich schlimmen Zuwendungen eingreift, die nur im Zusammenhang Entwicklung zu wehren. Die uns heute vorliegenden mit dem Amt stehen, erfaßt man eine Vielzahl von Gesetzentwürfe sollen eine unmißverständliche Un- Sachverhalten, die - bei Lichte besehen - gesell- terbindung dieser Ansätze bewirken. Es sind der schaftlich nicht strafwürdig sind. Der Beschluß des Entwurf der Koalitionsfraktionen, der dem vom Bun- Deutschen Juristentages, in dem diese Formulierung deskabinett beschlossenen Regierungsentwurf ent- aus dem Gesetzentwurf des Bundesrates mit über- spricht, und der Entwurf des Bundesrates sowie ein wältigender Mehrheit abgelehnt wurde, bestätigt Maßnahmenkonzept der SPD. mich in dieser Auffassung. Allerdings hat der Deut- Es besteht - wenn ich das richtig sehe, und das sche Juristentag auch empfohlen, die §§ 331 ff. StGB konnte man bisher durchaus durchhören - allseits bereits dann eingreifen zu lassen, wenn ein Vorteil Einvernehmen, daß einschneidende Maßnahmen zur für dienstliche Tätigkeit gewährt wird, ohne daß Eindämmung der Korruption ergriffen werden müs- eine bestimmte Diensthandlung vereinbart wird. Die- sen und jetzt gehandelt werden muß. Wir sollten in ser Vorschlag scheint mir ausgesprochen beherzi- diesem Sinne verbesserungsoffen in die Beratungen genswert. gehen, um im Endeffekt an dieser wichtigen Front et- Zweitens. Auch die Haltung von Bundesregierung was wirklich Gediegenes, etwas wirklich Gutes zu- und Koalitionsfraktionen zur Erhöhung der Strafrah- stande zu bringen. men bei Bestechlichkeit und Bestechung wird durch (Beifall des Abg. Manfred Such [BÜND die Empfehlungen des Deutschen Juristentages be- NIS 90/DIE GRÜNEN]) stätigt. Das in Vorbereitung befindliche Gesamtpro- jekt der Strafrahmenharmonisierung würde zerstört, Für die Bundesregierung haben wir am 20. März wenn - wie der Bundesrat vorschlägt - bereits für die 1996 einen Maßnahmenkatalog vorgestellt, der im Grundtatbestände bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen setzt. verhängt werden könnten. Statt dessen sieht unser Viele dieser präventiven Maßnahmen, auf die nach- Entwurf genauso wie bei Diebstahl, Betrug oder Un- her sicherlich Herr Kollege Waffenschmidt eingehen treue eine Strafschärfung für besonders schwere wird, bedürfen keiner gesetzlichen Regelung. Des- Fälle vor. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11221

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Drittens. Ein weiteres wichtiges Anliegen des von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt der Bundesregierung erarbeiteten Entwurfs ist der der Kollege Alfred Hartenbach. Schutz des freien Wettbewerbs. Auch darauf ist hier schon mehrfach hingewiesen worden. Bei wettbe- (SPD): Frau Präsidentin! Meine werbswidrigen Absprachen in Vergabeverfahren Alfred Hartenbach sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin- wird die bisherige Einordnung als Ordnungswidrig- nen und Kollegen! Als das Bild des preußischen Be- keit dem Unrechtsgehalt nicht gerecht. Deshalb sol- amten im demokratischen Rechtsstaat eine neue Be- len solche Absprachen in Zukunft mit Strafe bedroht, wertung erfuhr, galt ganz überwiegend der Satz: Ein also als Straftatbestände ausgestaltet werden. Beamter darf nichts annehmen außer Vernunft. An- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr gesichts der sich überstürzenden Meldungen von nötig!) Schmiergeldaffären, von Durchstechereien, von Kun- gelgeschäften in deutschen Amtsstuben stellt man Meine Damen und Herren, immer wieder, so auch besorgt die Frage: Gilt dieser Satz so noch, oder gilt in dem heute mitberatenen Antrag der Fraktion der schon der Umkehrschluß? SPD, wird die Forderung erhoben, auch die Beste- chung ausländischer Amtsträger unter Strafe zu stel- Es ist besorgniserregend, daß immer mehr Amts- len. Über dieses Ziel sind wir uns völlig einig, nur träger ihre Entscheidungen von einer Gegenleistung über den Weg nicht. Ich fühle mich durch die Be- abhängig machen. Es ist erschreckend, daß Unter- schlüsse des Deutschen Juristentages nachdrücklich nehmungen in ihre Preise die Bestechungsgelder in in der Auffassung bestätigt, daß dieses Problem nur immer größerem Maße einkalkulieren und zynisch auf internationaler Ebene in Angriff genommen wer- von „Motivations- " oder „Beschleunigungsgebüh- den kann. Nur eine internationale Konvention ge- ren" reden. währleistet, daß die Bestechung ausländischer Amts- Es ist erschreckend, daß auch im freien Wettbe- träger überall effektiv und ohne Wettbewerbsnach- werb der Wirtschaft untereinander Vorteile im Wege teile für einzelne Staaten bekämpft wird. der Bestechung erzielt werden und dadurch der Sinn Auf diesem Weg sind die ersten Erfolge sichtbar, einer sozialen Marktwirtschaft, daß Preis und Lei- auch wenn man konstatieren muß, daß alles, was auf stung stimmen und ein fairer Wettbewerb herrscht, internationaler Ebene an Normen zustandegebracht ad absurdum geführt wird. wird, ein einigermaßen langwieriger Prozeß ist. (Beifall bei der SPD) (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Was ist mit Die Situation ist wirklich dramatisch: Die Korrup- den USA, Herr Minister?) tion stellt nicht nur eine ernsthafte Bedrohung der Morgen werde ich in Dublin beim Justizrat das er- moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft dar, ste Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz sondern auch der Wettbewerbsfähigkeit und zuneh- der finanziellen Interessen der Europäischen Ge- mend auch der öffentlichen Haushalte. Es muß etwas meinschaft zeichnen. In diesem Protokoll werden geschehen, es muß gegengesteuert werden. Das ha- sich die Mitgliedstaaten der EU verpflichten, ihre ben nach SPD und Bundesrat nun auch die Bundes- strafrechtlichen Regelungen auf die gemeinschafts- regierung und die Koalitionsfraktionen eingesehen schädlichen Bestechungen der Amtsträger der Euro- und übereinstimmende Anträge erarbeitet. päischen Gemeinschaft und der anderen EU-Mit- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Die SPD hat gar gliedstaaten zu erstrecken. nichts gemacht!) Weitere Maßnahmen werden zur Zeit bei der EU, - Herr Geis, das ist besser als das, was Sie gemacht beim Europarat, bei der OECD und demnächst wohl haben. Sie haben ja nur abgeschrieben, Herr Geis. sogar bei den Vereinten Nationen erörtert. Ich wi ll gern auch von mir aus sagen: Daß es dort immer so Es fragt sich allerdings, wie ernsthaft die Regie- lange dauert, ist natürlich ein bißchen störend. rungsparteien das Problem wirklich angehen wollen. So haben Sie lange nicht auf unsere Vorschläge rea- (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Das liegt auch giert und noch im Frühjahr dieses Jahres zwei von an der Bundesrepublik!) unseren Anträgen und einen Antrag von Bündnis 90/ - Daß es an der Bundesrepublik liegt, daß die Verein- Die Grünen zur Bekämpfung der nationalen und in- ten Nationen nicht schneller arbeiten, möchte ich ternationalen Korruption verworfen. Ich frage mich: heftig bestreiten. Was muß noch geschehen? Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf, Wer Korruption wirklich ernsthaft bekämpfen wi ll, die begleitenden präventiven Maßnahmen und das muß zu den Ursprüngen des Übels vordringen, muß erste internationale Abkommen zeigen, daß Bundes- die Quelle verschließen, muß den Sumpf trockenle- regierung und Bundestag handeln. Lassen Sie uns gen, muß Schlupflöcher dicht machen und klare gemeinsam in den Ausschußberatungen nach Opti- Wege bauen, die überschaubar sind und kontrolliert mierung suchen. Lassen Sie uns durch Geschlossen- werden können. heit das Signal setzen, daß Korruption kein Kava- Es genügt nicht, nur mit dem Dienstrecht der Be- liersdelikt ist. amten oder mit strafrechtlichen Sanktionen zu dro- Danke. hen. Es bedarf auch anderer Instrumente, die in in- ternational greifende Maßnahmen eingebunden (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sind. Das Strafrecht kann nur einen Teil eines Ge- 11222 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Alfred Hartenbach samtpakets darstellen. Es ist aber als Instrument der Wir wollen die umfassende Bestrafung von Beste- Korruptionsbekämpfung auch unverzichtbar, Herr chung und Bestechlichkeit im privaten Geschäfts- Such. verkehr, weil wir damit auch die Wettbewerbsbedin- gungen des Marktes schützen wollen. Da finden sich Wir haben in unserem Antrag einen umfassenden wieder Übereinstimmungen in allen Vorlagen. Dabei- Maßnahmenkatalog vorgelegt, der den Ansprüchen ist es nicht von Bedeutung, ob dies nun im UWG oder an eine effektive Bekämpfung der Korruption mit ih- im Strafgesetzbuch normiert ist. Wichtig ist für uns, ren Strukturen des organisierten Verbrechens ge- daß der Strafrahmen angehoben wird, und vor allen recht wird. Der Entwurf des Bundesrates und der Dingen, daß die Strafverfolgung nur dem Staat ob- Doppelpack aus dem Regierungslager erreichen die- liegt. Es geht hier nicht um Peanuts, sondern oft um ses Ziel nicht in allen Punkten oder schießen zum erhebliche Summen. Wir können diese Sanktionen Teil am Ziel vorbei. nicht einfach dem freien Markt überlassen und nur Wir sind uns einig, daß die unerlaubte Preisabspra- auf Strafantrag reagieren oder gar den oft unbefriedi- che, der Ausschreibungsbetrug, bestraft und vor der genden Weg der Privatklage eröffnen, wie Sie aus Wirtschaftsstrafkammer verhandelt werden muß. Wir dem Regierungslager es wollen. sind uns einig, daß auch Bestecher und Bestochener (Beifall bei der SPD) dort ihren harten Platz einzunehmen haben. Ich habe zuverlässige Informationen, die besagen, Wir sind uns einig, daß die Zuwendung an Dritte daß geschädigte Firmen bisher nur deshalb von An- nicht ungeahndet bleiben darf. Was war das für ein zeigen abgesehen haben, weil sie ihrerseits die Schä- schönes Schlupfloch, als der Perserteppich der diger zu enormen Ersatzleistungen erpreßt haben. Schwiegermutter und die Luxuslimousine dem Wir haben heute von der bedrohten Moral geredet. Schwiegervater übereignet wurden, tatsächlicher Wir dürfen deshalb nicht durch unsere Gesetze wei- Nutznießer aber ungestraft der ungetreue Beamte teres Bedrohungspotential schaffen. war! Oft sind die Auswirkungen dera rt gravierend, daß Da ist zwischen uns allen eine Menge an Überein- eine große Anzahl von Arbeitsplätzen in Gefahr ist, stimmung, aber wir wollen und brauchen mehr. Der ja, durch kriminelles Handeln der Täter sogar wegge- Begriff des Amtsträgers muß weiter gefaßt werden. fallen ist. Der Rechtsfrieden ist weit über den Kreis Es ist gut, daß sich hier im Lager der Koalition etwas der unmittelbar Betroffenen empfindlich gestört, und bewegt. Aber es muß auch möglich sein, daß wir de- das erfordert ein Handeln des Staates. nen auf die Finger klopfen dürfen, die Mil liarden für die Europäische Union bewegen. Da ist bis jetzt Herr Kollege noch ein Loch, und es ist nicht einzusehen, daß Euro- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Hartenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des kraten bessergestellt sind als inländische Amtsträger. Kollegen Such? (Beifall bei der SPD) Es muß unser Ziel sein, in internationalen Verhand- Alfred Hartenbach (SPD): Ja, bitte. lungen hier eine weltweite Gleichstellung zu errei- chen. Dazu gehört auch die Strafbarkeit von Deut- Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr schen, die ausländische Amtsträger bestechen. Kollege Hartenbach, Sie haben eben in Ihrer Rede gesagt, daß bei der Telefonüberwachung auch Unbe- Wir wollen, daß auch Schmiergelder und die auf teiligte abgehört werden könnten. Sind Sie der Auf- Grund der Zuwendung von Schmiergeldern erzielten fassung, daß dieser doch schwerwiegende Grund- Gewinne dem erweiterten Verfall des § 74 d des rechtseingriff dadurch geheilt wird, daß die Unterla- Strafgesetzbuches unterliegen, wenn es sich um gra- gen über das, was da abgehört worden ist, anschlie- vierende Vorgänge handelt. Wir wollen, daß in be- ßend vernichtet werden? sonders schweren Fällen der Post- und Telefonver- kehr überwacht werden darf und Aufzeichnungen möglich sein dürfen. Alfred Hartenbach (SPD): Herr Kollege Such, ich habe gesagt, daß bei einer Telefonüberwachung (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ auch Gespräche von Unbeteiligten mit aufgezeichnet NEN]: So ein Quatsch!) werden. Das liegt in der Natur der Sache: Wenn ich eine Telefonüberwachung vornehme, weiß ich ja vor- Wir erwarten hiervon eine bessere und schnellere her nicht, ob der Täter oder irgend jemand anders an- Aufklärung, ein Eindringen in und ein Aufbrechen ruft. Dies ist bis jetzt durch die Strafprozeßordnung von kriminellen Strukturen. Natürlich wissen auch gedeckt. wir, daß dadurch Telefongespräche unbetei ligter Bürger aufgezeichnet werden. Aber diese Aufzeich- (Widerspruch des Abg. Manfred Such nungen werden vernichtet, wie es im Gesetz steht, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und dem Bürger wird daraus kein Nachteil erwach- sen. Wir ersparen uns damit jedenfalls andere, be- - Natürlich ist durch die Strafprozeßordnung ge- denkliche Methoden der Ermittlungen; ich komme deckt, daß Sie Gespräche, die auf dem Apparat des darauf noch zurück. dringend Verdächtigen ankommen, aufzeichnen dür- fen. Allerdings müssen die Unterlagen über ein Ge- (Zuruf des Abg. Manfred Such [BÜNDNIS 90/ spräch, das mit der Tat nichts zu tun hat, nachher ver- DIE GRÜNEN]) nichtet werden; das gilt sowohl für die Tonbandauf- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11223

Alfred Hartenbach zeichnung als auch für etwa geschriebene Protokolle. sen Bestechen verdankt. Beide haben der Gesell- Das halte ich für mit dem Grundgesetz vereinbar und schaft enormen Schaden zugefügt. Da gibt es keine für ausreichend zum Schutze der Persönlichkeits- Randfiguren, da gibt es nur Haupttäter. Nun sollen rechte derjenigen, die mit der Straftat nichts zu tun sie, da ihnen der Boden zu heiß wird, die Chance des haben. möglicherweise mit Straffreiheit verbundenen Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stiegs haben? Das kann man einem anständigen Bür- ger nicht vermitteln. Wir wollen das auch gar nicht Wir können gern darüber reden, wie weit der Straf- vermitteln. rahmen für Bestechung und Bestechlichkeit im ge- schäftlichen wie im öffentlichen Bereich reichen so ll. Die Strafprozeßordnung bietet Staatsanwaltschaft Der Deutsche Juristentag in Karlsruhe hat zu diesem und Gerichten eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Problem gute und vernünftige Beschlüsse gefaßt. Wir Schwere der Schuld und das Interesse an einer Auf- sind sicher gut beraten, unsere Entscheidungen klärung mit dem Persönlichkeitsbild des Täters abzu- daran auszurichten. Wir werden auch gerne mit Ih- wägen und danach zu entscheiden, wie einem sol- nen prüfen, ob das „Anfüttern", also die Zuwendung chen Menschen mit den Mitteln des Strafrechts be- von „Motivationsgebühren" vor der erwarteten gegnet werden kann. Das reicht aus. Diensthandlung, unter Strafe gestellt werden muß. Allerdings meinen auch wir, daß eine solche Hand- Für uns gilt jedenfalls: Bestecher und Bestochene lung beweisbar sein muß. Eine Vorschrift, die nicht handeln nicht aus Not, sie handeln nicht unter zu beweisbaren Ergebnissen führt, sollten wir erst Zwang, und sie gehören auch nicht zu den Verzwei- gar nicht erlassen. felten im Lande. Sie handeln aus purem Eigennutz, aus Habgier, aus Eitelkeit, und sie handeln unverant- Wir wollen umfassende finanzpolitische Maßnah- wortlich. men durchsetzen. Ich muß dieses Thema noch ein wenig vertiefen, obwohl Frank Hofmann schon dar- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man- auf eingegangen ist, weil die steuerliche Behand- fred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und der Umgang mit dem lung von Schmiergeldern Deshalb brauchen wir konsequente Gesetze auch Steuergeheimnis ganz entscheidend dazu beitragen und besonders zum Schutze der vielen anständigen können, ob der Sumpf der Korruption ausgetrocknet und ehrlichen Amtsträger und Unternehmer. werden kann oder ob kriminelle Banden im Schutz des Staates weiter operieren können. Der Doppelpack von Regierung und Union gibt Die Regierung hat sich da bisher kaum bewegt. nur die Richtung an, zeigt nicht das Ziel. Dieser Meine Schritt, die steuerliche Absetzbarkeit (Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) zu versagen, wenn der Bestochene verurteilt wurde, ist eine Lachnummer. Bis es zu einer rechtskräftigen Nun lassen Sie uns einen vernünftigen Weg fin- Verurteilung kommt, ist der Steuerbescheid des Be- den, wie wir ihn vorgeschlagen haben. Ich lade Sie - stechers schon lange unanfechtbar bestandskräftig. wie immer - herzlich zu guten Beratungen ein. Hier muß mehr Spielraum gegeben werden. Wenn der Betrag voll versteuert werden muß, ist die Beste- Danke schön. chung schon nicht mehr so interessant. Wenn man (Beifall bei der SPD) Schmiergelder oder „Motivationsgebühren" ange- ben muß und das Finanzamt diesen Steuertatbestand der Ermittlungsbehörde mitteilen darf, dann ist Be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt stechung nicht mehr so ganz lohnend. der Kollege Erwin Marschewski. Lassen Sie mich zum Schluß noch zu einem Thema kommen, das besonderer Beachtung bedarf. Herr Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Staatsminister, ich spreche Sie besonders an, weil Sie Meine verehrten Damen und Herren! Herr Kollege den Entwurf der Länder heute vertreten. Der Ent- Hartenbach, das letzte hörte sich ja doch ganz ver- wurf des Bundesrates sieht für die Bestechung im öf- söhnlich an. Ich glaube, es ist ganz allgemein so: Wir fentlichen wie im privatwirtschaftlichen Bereich eine teilen doch die Besorgnis, die auch die Bevölkerung Milderung der Strafe oder gar das Absehen von hat. Bestechung und Korruption sind doch zu einem Strafe vor, wenn sich einer der Täter offenbart und Krebsgeschwür in dieser Gesellschaft geworden. Da dadurch die Tat umfassend aufgeklärt wird. muß dieses Parlament gemeinsam handeln. Es kann doch nicht sein, daß wir uns Vorwürfe machen. Wir halten nichts von dieser „kleinen Kronzeugen- regelung". Die Vorschrift und der Gedanke sind Wir sind selbstverständlich bereit, alles das, was nicht vergleichbar mit den ohnehin umstrittenen Sie vorgeschlagen haben, aufzunehmen und gemein- Kronzeugenregelungen, die wir bereits jetzt im Ge- sam darüber zu sprechen. setz haben und mit mehr oder weniger geringem Er- folg anwenden. Während sich bei der organisierten (Beifall bei der SPD) Kriminalität und beim Betäubungsmittelmißbrauch Das ist doch selbstverständlich, weil es sich um eine oft nur Randfiguren offenbaren, verhält es sich bei gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, meine Da- der Korruption doch ganz anders. Da gibt es eine Per- men und Herren. son, die jahrelang die Hand aufhält und wie die Made im Speck lebt, und eine andere Person, die ge- (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Aber schäftliche Erfolge nur ihrem jahrelangen skrupello- nicht erst seit heute!) 11224 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Erwin Marschewski Wir haben leider festgestellt, daß sich Korruption schen Juristentages. Unterstützt die Union diese In- nicht nur in der Wirtschaft, sondern insbesondere in itiative von SPD und Grünen im Bundestag? den letzten Jahren auch in der öffentlichen Verwal- tung zeigt. Sie findet sich ja fast von A bis Z, vom (CDU/CSU): Herr Kollege Gan- Ausländeramt bis zur Zulassungsstelle. Wenn man Erwin Marschewski sel, ich bin ja mit vielem einverstanden, ich verstehe die letzten Presseberichte auch aus meiner Heimat, aber jetzt nicht die Verbindung mit der Korruption. dem Ruhrgebiet, einmal liest, stellt man fest, daß ge- gen Bares Marktstände vergeben werden. Da liest Ich bin selbstverständlich der Meinung, daß wir man, daß Visa für chinesische Staatsbürger erteilt dem deutschen Volk ein Vorbild geben müssen. Übri- werden. Da liest man, daß gegen Höchstgebote Kon- gens können wir beide über diesen Problembereich zessionen für Gaststätten und Spielsalons weggehen. selbstverständlich reden. Das ist keine Frage. Dies ist, meine Damen und Herren, eine traurige Realität in unserem Land. Meine Damen und Herren, ich will einen weiteren Gedanken anfügen. Ich denke an den Widerspruch, (Zuruf von der SPD: Darüber muß man der sich in der Betrachtung des Beamtentums durch reden!) die veröffentlichte Meinung oftmals ergibt. Ich - Ja, ja, darüber können wir reden. meine: In einen Widerspruch begibt sich auch, wer - lassen Sie mich das ruhig sagen - das preußische Ich habe aber leider festzustellen, daß der öffentli- Vorbild eines Beamten - voll von Pflichterfüllung und che Dienst auch in unserem Land, Herr Kollege, zum Loyalität - verhöhnt, anstatt es zum Vorbild zu ma- Spiegelbild unserer Gesellschaft geworden ist. Der chen. Es geht nicht an, den öffentlichen Dienst und beklagte Sittenverfall ist leider in die bundesdeut- die Beamten ständig als Relikt einer vergangenen schen Amtsstuben eingekehrt. Die letzte Vergangen- Zeit zu diskriminieren und zugleich ein Amtsethos heit zeigt mir, daß das Unrechtsbewußtsein mancher einzufordern, das insbesondere aus den historischen Amtsträger erschreckend schwach ausgeprägt ist. Wurzeln des Beamtentums zu erklären und lebendig zu erhalten ist. Wir müssen darauf reagieren. Wir können uns aber nicht nur darauf beschränken, Symptome zu kurie- Die Folgen der Korruption in Wirtschaft und Ver- ren. Wir müssen Ursachen angeben, auch das haben waltung haben wir alle zu tragen. Wo der Staat käuf- die Vorredner zum Teil gesagt. lich ist, steht das Gemeinwohl insgesamt zur Disposi- tion. Die finanziellen Schäden sind beträchtlich. Die Ein Problembereich ist natürlich der von uns be- Kollegen haben von 10 Mil liarden DM allein im Be- klagte die schwindende Bindungskraft Werteverfall, reich der Bauindustrie gesprochen. rechtlicher und moralischer Normen oder der Ab- stieg von Loyalität und Pflichtbewußtsein zu oftmals Auch das Unternehmertum ist tangiert. Lassen Sie sogar belächelten Sekundärtugenden. Ich habe mich das einmal so formulieren: Wo geschmiert an- manchmal den Eindruck - das gilt auch für das Straf- statt kalkuliert wird, da ist der seriöse Unternehmer recht -, als stünde man ziemlich allein da, wenn man genauso wenig überlebensfähig wie eine Forelle im diese Dinge immer wieder anmahnt. schmutzigen Abwasserkanal. Das ist die Realität. Deshalb müssen wir dafür sorgen, daß korruptem Verhalten der Boden entzogen wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Meine Damen und Herren von der SPD, wir setzen Kollegen Gansel? natürlich auf das Strafrecht, aber auch auf präven- tive Regelungen. Herr Kollege Hofmann, ich wi ll Erwin Marschewski (CDU/CSU): Selbstverständ- nicht aufrechnen, aber wir haben bereits einen Ge- lich. setzentwurf vorgelegt. Wenn Sie noch aktiver hätten werden wollen, hätten Sie gleiches machen können. Ich erinnere an die Aussagen des Kollegen Kleine rt . Norbert Gansel (SPD): Herr Kollege Marschewski, Alle Punkte, die in den Gesetzentwürfen stehen und kann ich Ihre Äußerung über den Werteverfall so ver- die Gegenstand dieser Diskussion sind, sind in der stehen, daß Sie die Ausführungen des hessischen Lehre und in der Wissenschaft doch längst diskutiert. Generalstaatsanwalts Schäfer vor dem Deutschen Ju- Keiner hat vom anderen abgeschrieben. ristentag unterstützen, der gefordert hat, daß beim Kampf, auch beim vorbeugenden Kampf gegen Kor- Deswegen meinen wir folgendes: Erstens; öffentli- ruption die Politik mit gutem Beispiel vorangehen che Aufträge sind konsequent öffentlich auszuschrei- müsse? ben. Die konsequente öffentliche Ausschreibung ist ein Appell an die Städte und Gemeinden. Zweitens; Unterstützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion des- das Mehr-Augen-Prinzip ist durchzuführen. Drittens; halb den Beschluß des Juristentages, der hier schon ich halte es für richtig, daß gerade in korruptionsan- mehrfach positiv erwähnt worden ist - nur in dem fälligen Bereichen das Personal rotiert. Ich weiß, das Punkt nicht, den ich jetzt erwähne -, den Beschluß bringt Schwierigkeiten in der praktischen Verwal- nämlich, der Deutsche Bundestag möge seinen Bei- tungsarbeit mit sich. Aber ich denke, es ist notwen- trag zur Vorbildfunktion der Politik und zum vorbeu- dig, um Abhängigkeiten gar nicht erst entstehen zu genden Kampf gegen Korruption leisten, indem die lassen. Bundestagsabgeordneten mehr Transparenz in ihren Einkommensverhältnissen schaffen und ihre Neben- Nötig - da sind wir wieder einer Meinung, weil tätigkeiten offenlegen? So ein Beschluß des Deut- auch das längst ausgepaukt ist - sind Antikorrupti- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11225

Erwin Marschewski onsklauseln und entsprechende Vertragsstrafen. Ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für den Bundes- anderer wichtiger Punkt, der auch nicht befolgt wird, rat erhält nun Herr Leeb, Staatsminister des Landes ist: Ich halte es für dringend notwendig, daß korrum- Bayern, das Wo rt . pierende Unternehmer konsequent von öffentlichen Leistungsvergaben auszuschließen sind. Staatsminister Hermann Leeb (Bayern): Frau Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! SPD und der PDS) „Die Bekämpfung der Korruption ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe der Gegenwart." Mit die- Ich meine, daß der Weg eines Korruptionsregisters sen Worten beginnt der Entwurf des Bundesrates zu sicherlich geeignet ist, das sicherzustellen. einem Korruptionsbekämpfungsgesetz aus dem No- vember letzten Jahres. Wir haben versucht, ergänzende Maßnahmen ins Beamtenrecht einzufügen. Sie wissen, daß wir das Dieser Aussage werden Sie sicher alle zustimmen. Nebentätigkeitsrecht so gestalten wollen, daß die In dieser Aussage ist angelegt, daß die Bekämpfung Nebentätigkeit keinesfalls zu einer Kollision mit der Korruption eine Aufgabe ist, die jeden angeht. dienstlichen Interessen führen darf. Zur Korruptionsbekämpfung gehört eine breite Pa- lette von Maßnahmen. Sie reicht - das ist heute (Zuruf des Abg. Norbe rt Gansel [SPD]) schon zum Ausdruck gekommen - von präventiven - Ja, Herr Kollege Gansel, wir verschärfen das. - Ich und anderen außerstrafrechtlichen Vorkehrungen bis halte es für dringend erforderlich, daß wir jede An- hin zur Schaffung eines korruptionsfeindlichen nahme von Belohnungen und Geschenken im öffent- mas in der Rechtsgemeinschaft. lichen Dienst konsequent untersagen. So steht es Vieles ist in den letzten Jahren in diesem Zusam- auch im Gesetzentwurf. menhang geschehen. In einigen Ländern, darunter Bayern, sind Maßnahmenpakete geschnürt worden, Ein Wort zur Kronzeugenregelung. Sie wissen, wir andere unternehmen derzeit entsprechende Anstren- haben eine Art „kleine Kronzeugenregelung" vorge- rtschaft, unter anderem der BDI, aber legt. Danach kann kooperatives Verhalten des Beam- gungen. Die Wi auch der DIHT sowie die Bauwirtschaft haben gleich- ten, der sein Wissen über eine Korruptionsstraftat of- falls Konzepte entwickelt, mit denen schon der Ent- fenbart, im Disziplinarverfahren zu seinen Gunsten stehung korruptiver Praktiken entgegengewirkt wer- berücksichtigt werden. Die Kronzeugenregelung, die den soll. Übrigens, Herr Hofmann, hat jüngst auch uns der Bundesrat empfohlen hat, einzuführen, ist die bayerische Bauwirtschaft ein sogenanntes Ethik- hingegen problematisch. Ich kann nicht einsehen, management erarbeitet, das den gleichen Zielen die- daß ein Beamter, der korrupt ist und anschließend nen möchte. Insgesamt gesehen ist das Anliegen, sein Wissen offenbart - auch über seine Kollegen -, Korruption in all ihren Formen verstärkt entgegenzu- weiter Mitarbeiter im öffentlichen Dienst bleibt. Das treten, aus meiner Sicht auf einem guten Weg. verträgt sich nicht mit unserem Bild vom Berufsbe- amtentum. Deswegen haben wir versucht, daß sein Es besteht breiter Konsens darin, daß Korruption Wissen dann, wenn er es offenbart, im Disziplinarver- nicht allein, auch nicht in erster Linie mit strafrechtli- fahren zu seinen Gunsten berücksichtigt werden chen Mitteln bekämpft werden kann. kann. (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Um unser Gemeinwesen willen darf Horst-Eber- NEN]: Sehr richtig!) hard Richter nicht recht behalten. Er hat m Ableh- nung an Machiavelli folgende provokative These Das ist auch bei den Verhandlungen des Deutschen aufgestellt: Korruption sei ein unentbehrliches Herr- Juristentages in der letzten Woche deutlich gewor- schaftsmittel der Führungsschicht. Ohne Verfilzung den. Es sollte jedoch kein Zweifel bestehen, daß das von Geld, ohne betrügerische Manipulation der Mas- Strafrecht aufgerufen ist, wenn sozialschädliche und sen sei keine moderne Gesellschaft mehr regierbar. gefährliche Handlungen begangen werden. Nicht Wie gesagt, eine provokative These. Folgten wir die- zuletzt die Ermittlungserfolge der Staatsanwaltschaf- ser Auffassung, so wäre das Ende jeder Demokratie ten waren es, die die Korruptionsproblematik einer vorprogrammiert. breiten Öffentlichkeit ins Bewußtsein gerückt haben. Ich gehe nach der bisherigen Debatte davon aus, Der Bundesratsentwurf, der auf Gesetzesanträge daß alle Mitglieder des Deutschen Bundestages - Berlins und des Freistaates Bayern zurückgeht, hat auch der Kollege Gansel - und alle Verantwortlichen sich zum Ziel gesetzt, Schwachstellen des geltenden in Bund, Ländern und Gemeinden mithelfen, den Rechts zu beseitigen, die bei laufenden oder durch- Korruptionssumpf trockenzulegen. Das ist eine wich- geführten Ermittlungen deutlich geworden sind. Das tige Aufgabe des Parlamentes, und - da hat der Bun- gleiche gilt auch für den Entwurf der Koalitionsfrak- desjustizminister völlig recht - wahrscheinlich die tionen, der nun nahezu zeitgleich im Bundesrat be- wichtigste Aufgabe des Deutschen Bundestages in handelt wird. dieser Periode. Die Entwürfe stimmen in der Tendenz vielfach Herzlichen Dank. überein. Jedoch bleibt der Koalitionsentwurf in eini- gen Punkten hinter dem Bundesratsentwurf und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - auch hinter den Vorstellungen der bayerischen Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war eine Staatsregierung zurück. Ob man ihn deshalb als gute Rede!) „zahnlosen Tiger" bezeichnen darf, wie das meine 11226 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Staatsminister Herm ann Leeb (Bayern) Berliner Kollegin Peschel-Gutzeit getan hat, wird und die Ermöglichung der Telefonüberwachung bei man vielleicht doch bezweifeln dürfen. schweren Bestechungsdelikten vor. All diese Maß- nahmen entsprechen dringenden Forderungen der Inhaltlich muß ich mich auf wenige Fragen be- gerichtlichen Praxis. schränken. Ich bitte um Verständnis, wenn dabei nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Abweichun- Die beiden letztgenannten hat auch der Juristen-- gen im Vordergrund stehen. tag befürwortet. Lediglich zur Kronzeugenregelung hat es ein Stimmenpatt gegeben. Ich nehme an, daß Ein wichtiger Punkt des Vorhabens ist der Fragen dieses Zufallergebnis den Gesetzgeber nicht davon kreis der sogenannten Unrechtsvereinbarung bei abhalten wird, dieses wichtige Anliegen aufzugrei- den Bestechungsdelikten. Nach geltendem Recht fen, zumal die Rechtsvergleichung ergibt, daß die muß im Strafverfahren bekanntlich festgestellt wer- Kronzeugenregelung in etlichen Staaten, die sich zu den, daß der Vorteil Gegenleistung für eine bestimm- Recht Rechtsstaat nennen, mit Erfolg angewandt bare Diensthandlung ist. Diese Feststellung bereitet wird. Im übrigen: Kronzeuge kann natürlich nicht erfahrungsgemäß auch in solchen Fällen beträchtli- nur der bestochene Beamte sein, sondern auch sein che Schwierigkeiten, in denen gewichtige Vorteile Gegenüber. Das sollte man nicht ganz vergessen. zugewandt werden. Lassen Sie mich noch ein Wo rt zur Telefonüberwa- Der Bundesrat schlägt deshalb eine sogenannte chung sagen. Ich vermag die zuweilen festgestellten Zusammenhangsklausel vor. Wir hatten - da verrate Vorbehalte gegen diese besondere Ermittlungsme- ich kein Geheimnis; das ist auch in den Beratungen thode nicht nachzuvollziehen. Die Staatsanwalt- des Bundesrates geltend gemacht worden - hierge- schaften und Ge richte machen von ihr insgesamt ver- gen von Anfang an ganz erhebliche Bedenken. Diese antwortungsbewußt und streng nach rechtsstaatli- Klausel führt unseres Erachtens zu einer völlig unver- chen Grundsätzen Gebrauch. Für eine ausufernde tretbaren Ausweitung der Strafbarkeit. In dieser Auf- oder gar mißbräuchliche Handhabung gibt es keiner- fassung wurden wir im übrigen durch die Experten lei Anhaltspunkte. des Juristentages bestätigt. Für den Vorschlag des Bundesrates konnten sich lediglich 7 Teilnehmer er- Lassen Sie mich zum Schluß noch auf folgendes wärmen, 108 Teilnehmer haben ihn abgelehnt. hinweisen. Die Vorschläge des Bundesrates sind un- geachtet fachlicher Differenzen in Detailfragen in (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die großem Einvernehmen über alle Parteigrenzen hin- haben keine praktische Erfahrung!) weg erarbeitet worden. Bei dem hohen Stellenwert Mittlerweile liegen zwei Vorschläge auf dem Tisch, der Thematik bin ich überzeugt, daß dies auch im mit denen das Problem angegangen werden kann. Bundestag so sein wird. Der eine ist ein Diskussionsvorschlag meines Hauses. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Er geht dahin, statt auf eine Unrechtsvereinbarung ordneten der F.D.P.) auf die Eignung der Zuwendung abzustellen, den Amtsträger bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu korrumpieren. Der andere Vorschlag - er ent- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich bin auf fol- spricht übrigens dem Gutachten des Juristentages - gendes hingewiesen worden: Selbstverständlich ist will für die Unrechtsvereinbarung statt auf eine kon- der Herr Staatsminister Leeb Minister des Freistaates kretisierbare Diensthandlung auf die Amtsführung Bayern. abstellen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine gute Ich gehe davon aus, daß in den Ausschüssen ein- Korrektur!) gehend über diese Problematik diskutiert werden Als nächstes hat der Abgeordnete Ingomar Hauch- wird. Dabei werden sicherlich auch die Erkenntnisse ler das Wort. aus dem von Bayern in Auftrag gegebenen rechtsver- gleichenden Gutachten des Max-Planck-Institutes in Freiburg verwertet werden. Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich einige Ausfüh- Bei mir ist heute der Eindruck entstanden, daß sich rungen zu dem Thema mache, möchte ich auf Ver- in der Frage der Unrechtsvereinbarung nunmehr schiedenes eingehen, was in dieser Debatte von sei- auch der Bundesminister der Justiz bewegt. Man ten der Regierungsfraktionen gesagt wurde. Erwin darf gespannt sein, wozu die Beratungen in den Aus- Marschewski hat mit großen Worten das Krebsge- schüssen in diesem Punkte führen. schwür der Korruption beschworen. Kollege Kleine rt (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Aber hat gesagt: Die Dimension ist groß, und das Problem abweichendes Bundesrecht würde in ist immer größer geworden. Der Justizminister hat Bayern auch angewandt werden!) gesagt: Das ist eines der wichtigsten Vorhaben in dieser Legislaturperiode. - Ich glaube, Herr Professor Meyer, das Thema steht heute nicht zur Diskussion. Herr Justizminister, ich frage mich dann allerdings, warum die Regierungsbank so gering besetzt ist, Meine Damen und Herren, weiterhin schlägt der warum diejenigen, die in erster Linie mit dem größ- Entwurf des Bundesrates unter anderem die Schaf- ten Problem der Legislaturperiode zu tun haben - der fung von Kronzeugenregelungen, die sich zum Bei- Finanzminister, der die ganzen Jahre über die steuer- spiel im Betäubungsmittelrecht bewährt haben, die liche Absetzbarkeit befürwortet hat, und der Wi rt Sicherstellung einer effektiven Gewinnabschöpfung -schaftsminister, der international versteckt oder auch Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11227

Dr. Ingomar Hauchler nicht versteckt immer wieder den Aspekt der Wett- Rahmenbedingungen zu setzen, damit solche Dinge bewerbsfähigkeit vor diesen Gesichtspunkt gesetzt nicht aufkommen. Das haben Sie versäumt. hat -, nicht anwesend sind. Warum ist ebenfalls der Entwicklungsminister nicht da, aus dessen Amt Mit- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Stellen tel in Milliardenhöhe abfließen, die durch Korruption Sie doch Gesetzesanträge! Sie haben doch tangiert sein können? Ein deutsches Institut hat ge- bisher nichts gemacht!) schätzt, daß 30 Prozent der Verschuldung der Dritten Korruption ist kein Schicksal, sondern logische Welt mit der Korruption und mit Projekten, die un- Folge eines neuen, diesmal globalen neuen Manche- produktiv und überdimensioniert sind, zusammen- sterkapitalismus, der überall um sich greift, und Kor- hängt. Das sind Fakten, über die Sie schweigen. Sie ruption ist letztlich nur ein Symptom eines Klimas der beschwören mit allgemeinen Worten das Problem, Rücksichtslosigkeit, der Selbstbedienung und der zeigen aber durch Ihre Äußerungen, daß Sie das Pro- Steuerhinterziehung, das diese Regierung mitge- blem nicht wirklich ernst nehmen. schaffen, mit zu verantworten hat. Von Ihrer Seite ist sehr wenig zu den eigentlichen (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Meinen Ursachen der Korruption gesagt worden, ehr viel Sie Ihre Personalpolitik oder was?) aber im Detail zu Fragen der Strafprozeßordnung und darüber, was immer man tun kann, um Sym- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in aller ptome zu bekämpfen. Ruhe doch noch einmal ein paar Punkte sagen, wel- che verheerenden Wirkungen Korruption tatsächlich Korruption ist eine schlimme Erscheinung unserer hat. Das ist heute in dieser Debatte zwar pauschal Zeit. Sie hängt auch mit dem Zeitgeist zusammen. angesprochen worden, aber ich denke, dies muß ver- Sie auf der rechten Seite des Hauses haben aber die- tieft werden, damit uns die Dimension der Korruption sen Zeitgeist in der Bundesrepublik entscheidend wirklich bewußt wird. mitgeprägt, von oben her: Rücksichtslosigkeit im Wirtschaftsverkehr, Ellbogengesellschaft und so wei- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Tiefe ter. wäre gut, vor allem in der Rede!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Erstens, es ist dramatisch, wenn man mit deut- schen Managern von Großkonzernen spricht, in wel- Sie haben ein gerüttelt Maß Schuld an dieser Situa- cher Weise die über Korruption reden. Das hat für sie tion, in der wir sind. Wenn Kollege Geis - er ist nicht nichts mehr mit Kavaliersdelikt zu tun, das hat für sie mehr da - sagt, überhaupt nichts mehr mit Delikt zu tun. Mir wird von vielen Managern in Konzernen, die ich kenne (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Doch, er und die im Auslandsgeschäft tätig sind, gesagt: Das ist da, Herr Kollege!) ist Realität, der muß man in die Augen sehen, jeder - verzeihen Sie bitte - wir seien keine „Bananenre- ist naiv, der glaubt, dagegen vorgehen oder nicht publik", bei uns sei das alles nicht so schlimm, da mitmachen zu können. gebe es Fehler, wenn Justizminister Jortzig sagt, ja, Der Vorstandsvorsitzende von Siemens sagte, es es gibt einzelne Fehler hinsichtlich Korruption, aber würde ja gar nicht bestochen, sondern es könne doch allgemein kann man davon nicht sprechen, und mal vorkommen, daß hohe Summen an Berater ge- wenn Kollege Geis sagt, gut, in unserer Nichtbana- zahlt werden, als Honorar. nenrepublik Deutschland ändern wir die Dinge, viel- leicht auch in der Nichtbananenregion Europa, da Wenn man die Dinge so verharmlost und an der sorgen wir für mehr Sauberkeit, aber man schafft Spitze eines deutschen Konzerns die Dinge in der Öf- nicht die Voraussetzungen, daß Bestechung, massiv- fentlichkeit so benennt, dann wissen das auch seine ste Bestechung im Ausland, in der Dritten Welt nicht Mitarbeiter, und dann wissen die auch, wie sie zu passiert, dann ist das unglaubwürdig. Dann sind das handeln haben. also die Bananenländer, wo man weiter bestechen kann, bei uns aber werden wir die Dinge in Ordnung Es ist wirklich gravierend, wie die Einschätzung bringen. So kann das wirklich nicht gehen. solcher Delikte in den Chefetagen der Großkonzerne um sich gegriffen hat. Meine Damen und Herren, die Korruption ist wirk- lich zu einer globalen Krankheit geworden, die Der zweite Punkt ist: Praktisch alle Länder dieser Markt, Moral und Demokratie zu zersetzen droht. Welt beteiligen sich an der Korruption. Wenn wir die Die deutsche Regierung und die sie tragenden Entwicklungsländer ansehen: Die indische Regie- Rechtsparteien verschweigen dies bisher, verharmlo- rung Rao ist darüber gefallen, ein japanischer Mi- sen es zumindest. nisterpräsident ist darüber gefallen, in China breitet sich die Korruption wie ein Feuer aus, in Malaysia (Beifall bei der SPD. - Norbe rt Geis [CDU/ muß bald auch ein Ministerpräsident zurücktreten, CSU]: Das ist doch nicht wahr!) Herr Mobuto in Zaire verfügt über Mil liarden, die Sie haben sich mitschuldig gemacht, daß diese Infek- nicht aus Zaire kommen, tion immer mehr um sich greift, indem Sie es ver- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Der ist säumt haben, Rahmenbedingungen zu setzen für die nicht in der CDU!) Wirtschaft und für den öffentlichen Dienst, die ver- hindert hätten, daß die Korruption dieses Ausmaß an- die aus dem Westen kommen und natürlich stark in nimmt. Der Staat ist schließlich dafür verantwortlich, Korruption begründet sind. 11228 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Ingomar Hauchler Aber auch in und durch Industrieländer grassiert Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Natürlich stimme ich Korruption. Wir wissen, daß gegen Lockheed, gegen dem zu. ABM, gegen amerikanische Firmen Verfahren gelau- fen und in Amerika Strafen in Zigmillionenhöhe ver- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was hängt worden sind. Wir kennen die italienische Si- reden Sie dann?) tuation. Wir wissen aber auch, daß Singapur Siemens Aber ich wundere mich - Herr Marschewski, wir auf fünf Jahre von öffentlichen Aufträgen ausge- kennen uns schon sehr lange -, schlossen hat. Wir wissen, daß praktisch alle deut- schen Konzerne, die im Auslandsgeschäft tätig sind, (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Ja!) sich dieser Praktiken bedienen. daß Sie so lange geschlafen haben Wir müssen immer wissen: Es ist nicht nur der, der (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Ach!) nimmt, zu bestrafen, sondern auch der, der gibt, der und das so lange nicht begriffen haben. Sie gehören massivste Anreize schafft. Korruption ist eine Münze doch zu den Regierungsparteien. Sie haben das Pro- mit zwei Seiten: auf der einen Seite der Bestecher, blem wachsen sehen und bisher nichts getan. auf der anderen Seite der Bestochene. Man darf nicht immer nur auf den Bestochenen sehen. Hier wurde (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben wir von Ihnen meistens der öffentliche Dienst geprügelt. doch im letzten Jahr schon vorgelegt! - Was in den Großkonzernen der Wi rtschaft gedacht Abg. Erwin Marschewski [CDU/CSU] mel- und getan wird, wird in diesem Hause kaum themati- det sich zu einer weiteren Zwischenfrage) siert. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine weitere (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt doch Frage? gar nicht!)

- Sie haben es nicht getan; ich habe es von Ihnen Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Im übrigen genügt das, nicht gehört. was Sie sagen, nicht, um wieder eine Situation der gu- ten Sitten auch bei Großkonzernen zu erreichen. Was (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben nicht Sie tun wollen, genügt nicht; das ist ein kleiner, zu zugehört!) kleiner Schritt. Ich verschließe mich aber auch kleinen einzelnen Maßnahmen überhaupt nicht. Sie reden vom öffentlichen Dienst, von Amtsträgern, von preußischem Verhalten. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wissen Sie, daß das hauptsächlich Aufgabe der Länder ist?) Aber wie ist es mit den ehrbaren Kaufleuten in die- sem Lande? Es gibt noch ehrbare Kaufleute. Ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie denke an den Handwerker, an das mittlere Unter- eine weitere Frage, Herr Kollege Hauchler? nehmen, an Unternehmer, die noch selbst mit ihr Geld verdienen, die die Verantwortung und das Ri- (SPD): Bitte schön. siko tragen. Dr. Ingomar Hauchler

Aber was passiert oft in den Chefetagen der Kon- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Lieber Kollege In- zerne? Da sitzen Manager-Millionäre, die überhaupt gomar Hauchler, ich will nicht aufrechnen; ich kein Risiko mehr tragen und die über die Aktionäre möchte mehr Gemeinsamkeit gerade bei diesem hinweg und über den Staat hinweg ihre Politik be- wichtigen Vorhaben. Ich frage Sie dennoch: Warum treiben. Das ist die Realität in diesem Lande. hat Ihre Fraktion es bis zum heutigen Tag nicht fer- tiggebracht, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen, der in diese Richtung geht? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege (Zuruf der Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]) Hauchler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- legen Marschewski? Warum nicht, Frau Kollegin Matthäus-Maier?

Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Marschewski, wir Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Bitte, Herr Kollege. haben seit 1993 - das war auch zu spät - auf dieses Thema hingewiesen. Ich habe in einem ersten Antrag Ihre Seite des Hauses aufgefordert, einen Gesetzent- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Lieber Kollege In- wurf vorzulegen. Die Opposition ist nicht dazu da, die gomar Hauchler, haben Sie nicht gehört, daß ich ge- Fleißarbeit für die Regierung zu machen. sagt habe, daß im Gesetzentwurf steht, daß korrupte (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man- Unternehmer von öffentlichen Aufträgen ausge- fred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schlossen werden sollen, und daß dies die härteste Strafe ist, mit der ich die Unternehmer belangen Vielmehr haben wir Sie aufzufordern zu handeln. kann? Haben Sie nicht gehört, daß wir deswegen ein (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist Korruptionsregister schaffen wollen? Ich meine, dies aber billig!) ist wirklich eine adäquate, eine vernünftige Maß- nahme. Sie stimmen dem doch sicherlich zu. Das haben Sie versäumt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11229

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Hauchler, würden eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier? Sie die Freundlichkeit besitzen, einfach einmal in un- serem Gesetzestext nachzulesen, den wir Ihnen vor- gelegt haben? Dort steht nämlich etwas über die Ver- Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Ja. Bitte schön. letzung des freien Wettbewerbs. Dann brauchten wir - uns nicht gegenseitig solche Vorwürfe anzuhören. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Hauch- ler, können Sie bestätigen, daß von der rechten Seite Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Ich werde das tun, des Hauses über Jahre hinweg unsere Forderung, Herr Geis. Schmiergelder nicht mehr steuerlich absetzbar zu machen, heftigst bekämpft wurde, daß wir lange ge- Das alles kann aber nicht vergessen lassen, daß Sie braucht haben, um eine Minilösung in bezug auf 13 Jahre lang geschlafen haben, daß Sie in den letz- Schmiergeldzahlungen im Inland, die nicht aus- ten Jahren Vorhaben von uns hier immer wieder nie- reicht, die aber ein Fortschritt war, im Jahressteuer- dergestimmt haben. Wenn Sie jetzt nachbessern, gesetz zu erreichen, und daß diese Bundesregierung freut uns das. sich bis heute weige rt, Schmiergeldzahlungen im Ausland nicht mehr von der Steuer absetzbar zu ma- (Zuruf von der CDU/CSU: Ich kann es nicht chen? Das wäre ein wichtiges Instrument. Können mehr hören!) Sie das bestätigen, angesichts der Heuchelei, die wir Lassen Sie mich nun fortfahren: Ich habe von ver- heute morgen hier feststellen? heerenden Auswirkungen gesprochen, zu der er- stens die Einschätzung der Korruption in den Chef- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man fred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) etagen von Großkonzernen gehört sowie die Ein- schätzung von Wirtschaftspolitikern Ihrer Fraktion, unter anderem des Wirtschaftsministers, der öffent- Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Liebe Frau Kollegin, lich erklärt, er halte Bestechung für notwendig, um der Beifall bestätigt es bereits. Ich stimme Ihnen voll Geschäfte für deutsche Firmen zu sichern, nicht be- zu. rücksichtigend, daß beispielsweise die USA als ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sehr starker Wirtschaftsfaktor, mit dem wir eng ver- bunden sind, von sich aus eine Vorreiterrolle gespielt haben. Es wäre ein leichtes gewesen, mit den USA, Noch jemand Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mit Japan und anderen großen Handelspa rtnern in- möchte zwischenfragen, und zwar der Kollege Geis. nerhalb der G 7 Vereinbarungen zu treffen, um die- sen Sumpf auszutrocknen. Aber Sie haben in dieser Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Kollege Geis. Richtung nichts unternommen; Sie haben sich immer wieder der amerikanischen Position verweigert. Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege Hauchler, Zweitens. Alle Länder sind beteiligt, auch wir, und haben Sie bei der Rede des Herrn Justizminister, zwar nicht nur der öffentliche Dienst, sondern auch aber auch bei meiner Rede nicht gehört, daß wir so- die Wirtschaft. gar einen eigenen Abschnitt „Straftaten gegen den Wettbewerb" in den Ke rn des Strafrechts einfügen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) Drittens. Die direkten Kosten der Korruption sind enorm. Ein Betrag von 10 Milliarden DM ist genannt und daß gerade dieser Abschnitt sich ganz aus- worden. Die Dunkelziffer - so haben Sie gesagt - ist schließlich mit Straftaten aus der freien Wi rtschaft hoch; sie liegt bei über 10 Milliarden DM. Weltweit beschäftigt, die Sie eben aufgezeichnet haben? gehen mindestens 100 Milliarden DM über den Tisch. Das ist mehr als das, was alle Entwicklungs- länder an Entwicklungshilfe bekommen. Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Kollege Geis, bis jetzt liegt mir kein konkreter Text vor, der es mir er- Viertens. Durch unproduktive Projekte und durch lauben würde, das zu beurteilen, was Sie hier publi- überdimensionierte Projekte entstehen riesige Fehl- kumswirksam vortragen. investitionen. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Darf ich (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Auch das Ihnen das überreichen?) stimmt!) Es wird sich erweisen, ob Sie wirklich die Kraft ha- In vielen Fällen gewinnt nicht das volkswirtschaftlich ben, das zu tun. Dann würde ich Ihnen gratulieren, beste Projekt mehr am Markt - dabei nehme ich die weil wir dann eine wirklich echte Gemeinsamkeit Meinen und mittleren Betriebe ausdrücklich aus -, hätten. sondern das Projekt, das die höchste Bestechungs- rendite abwirft. (Zuruf von der CDU/CSU: Darauf kommen wir zurück!) Fünftens. Dadurch ist die Verschuldung der Ent- wicklungsländer angeheizt worden. Ich habe das schon erwähnt. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Hauchler, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Sechstens. Die Korruption hat zu einer Hemmung - Bitte. des Wettbewerbs geführt. Das ist das Schlimmste, 11230 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Ingomar Hauchler und das ist mit den höchsten indirekten Kosten ver- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie haben noch bunden. Die Grundlage des Freihandels und der 13 Sekunden. Marktwirtschaft, nämlich die komparativen Kosten- vorteile, wird dadurch praktisch ausgehebelt. Damit Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Ich habe noch entfällt die Berechtigung, immer weiter zu deregulie- 13 Sekunden, sagt der Präsident. Meine Redezeit ist- ren und zu liberalisieren, ohne daß auf diesen Fel- also fast abgelaufen. dern neue Rahmenbedingungen gesetzt werden. Ich wollte einfach noch einmal belegen - das ha- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Da sind ben aber auch meine Kollegen schon gemacht -, in wir vollkommen einer Meinung! Auch das welcher Weise die Bundesrepublik im internationa- ist richtig!) len Bereich letzten Endes als Hemmschuh aufgetre- - Herr Marschewski, Sie haben es aber nicht er- ten ist. Bei der Bekämpfung der Korruption sind wir wähnt. Einer muß das hier einmal erwähnen und auf- Schlußlicht unter den Industrieländern. Wir haben zählen, damit die Öffentlichkeit weiß, wie die Zusam- bei der OECD keine Initiative unternommen, einige menhänge liegen. haben bei der EU mitgearbeitet für eine Verschär- fung von Maßnahmen gegen die Korruption, die sol- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wenn Sie len aber nur für Ihre „Nicht-Bananenrepubliken" noch mehr CDU-Politik machen, nehme ich gelten nicht aber für unseren Verkehr in Entwick- Sie in die Partei auf!) lungs- und Schwellenländer. Ansonsten gibt es keine deutsche Initiative. Siebtens. Das ist nicht zu unterschätzen: Korrup- tion strahlt auf die gesamte Gesellschaft aus und auf Wir haben die US-Initiative im ECOSOC der UNO ihr Verhalten - das ist hier schon angeklungen -, auf nicht unterstützt. Ich glaube auch nicht - ich hoffe das Empfinden von Rechtssicherheit, „good Gover- aber noch darauf -, daß der Bundeswirtschaftsmi- nance", auf die Frage, ob Marktwirtschaft noch funk- nister dies bei der WTO-Tagung in Singapur zum tioniert, ob in einer Marktwirtschaft noch Moral und Thema machen und dort deutsche Vorschläge vorle- Rechtsstaatlichkeit und faires Verhalten möglich ist gen wird. Denn das ist nicht nur ein deutsches Pro- oder ob die Geschäfte nur - wie geschmiert - zu lau- blem; es ist angesichts der Globalisierung ein allge- fen haben. meines Problem. Abgesehen von den direkten Kosten sind die beiden letzten Aspekte, also die Einschränkung des Wettbe- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das ist der letzte werbs und die Handelshemmnisse, die entstehen, so- Satz, Herr Kollege Hauchler. wie die Ausstrahlung dieser Situation auf die gesamte Gesellschaft die wichtigsten Gesichtspunkte. Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Die 13 Sekunden sind beendet. Durch die Korruption kommt es also insgesamt zu einer Verschwendung knapper Ressourcen, und das Danke schön. in einer Zeit stagnierenden Wirtschaftswachstums, (Beifall bei der SPD) einer Zeit der Finanzkrise. Die direkten finanziellen Schäden, die entstehen, werden von den Schuldigen über Steuerermäßigungen auf den Staat abgewälzt, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie sind deutlich und sie werden in vielen Entwicklungsländern abge- beendet. wälzt auf die Menschen; denn irgendwer zahlt diese Jetzt hat das Wort der Kollege von Stetten, CDU/ Provisionen und diese Bestechungsgelder. CSU-Fraktion. Man weiß, daß zum Beispiel in Indonesien ein Ministerpräsident 10 Millionen DM, ein Minister Dr. Wolfgang Freiherr von Ste tten (CDU/CSU): 1 Million DM und ein Abteilungsleiter 100 000 DM Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie spra- kostet. Das sind große Summen. Wo werden sie ver- chen davon, wir hätten 13 Jahre geschlafen. Irgend- bucht? Sie werden natürlich auf die Auftragssumme wann waren doch auch Sie mal an der Regierung aufgeschlagen; das ist doch ganz klar. Wer bezahlt und hätten die Gesetze verschärfen statt liberalisie- das letzten Endes? Nicht die Eliten in diesen Län- ren können; Herr Hauchler, Sie sollten daran den- dern, sondern die Menschen: mit Kürzungen ihrer ken. Wir sind jetzt dabei, notwendige Dinge zu än- Sozialhaushalte, ihrer Bildungshaushalte und erhöh- dern. ten Preisen. Das ist ein Skandal sondergleichen. Wenn wir die Zeitungen aufschlagen und immer (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist ja wieder lesen und auch hören, daß die Staatsdiener, richtig! Das sehen wir doch auch so!) die früher höchste Tugenden wie Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit an den Tag legten, diese mit Fü- - Dann tun Sie endlich mehr, als Sie angekündigt haben. ßen treten und Straftaten begehen, sich bestechen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lassen oder Aufträge nur gegen Bares annehmen, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN könnten wir uns natürlich fragen, wohin Deutsch- und der PDS - Norbe rt Geis [CDU/CSU]: land geht. Dabei ist keine Berufsgruppe ausgenom- Wir tun ja einiges! Das sollten Sie anerken men, was sich beispielsweise daran zeigt, daß ein nen!) Vorsitzender Richter in Köln Kopf einer Falschgeld- bande ist oder im Rathaus von Crailsheim der Beauf- Ist meine Redezeit zu Ende? tragte für Sicherheit Geld druckt oder im Rathaus in Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11231

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Heilbronn ein Abteilungsleiter 5 Millionen DM un- wurden, sozusagen mit dem Anreiz einer teilweisen terschlägt oder ein Bürgermeister in Neckarwest- Versorgung, aus dem immer tiefer werdenden Sumpf heim mit 40 Millionen DM auf und davon geht. Es ist der Korruption herauszuholen. Wir brauchen eine nicht nur der Süden - wir haben es gehört -: In Gel- kleine Kronzeugenregelung. senkirchen, in Frankfurt, in Hamburg, überall gibt es Wir sollten uns auch, meine Damen und Herren -- diese Dinge. Herrn Gansel sehe ich nicht mehr -, kritisch fragen, Dennoch sollten wir nicht nur die Bestochenen, ob die Bestimmungen des § 108e StGB über die Be- sondern auch die Bestecher bestrafen; auch das stechlichkeit von Abgeordneten ausreichend sind, wurde gesagt. Denn wer besticht, wird das nicht aus um gegen diejenigen Abgeordneten vorzugehen, die Freundlichkeit tun, sondern ein Vielfaches an Ge- zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar durch Geldzu- winn daraus ziehen wollen. Dieses Vorgehen sollte wendungen an sie selber oder an Dritte zu unlaute- bestraft werden. rem Verhalten veranlaßt werden. Wir sollten nicht bei anderen höhere Maßstäbe anlegen als bei uns Ich möchte keine allgemeine Schelte des Beamten- selbst. Darüber sollte nachgedacht werden. tums hören; das wäre das Falscheste, was wir ma- chen könnten; denn ein ganz, ganz hoher Prozent- (Zuruf von der SPD: Nichts dagegen!) satz der Beamten tut seine Pflicht, und zwar ohne - Zur Bekämpfung der Korruption, die in vielfältiger außer seinem Gehalt - einen Pfennig dafür zu be- Weise auch als Bandenkorruption in Erscheinung kommen. tritt, gehört auch die elektronische Raumüberwa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - chung. Darüber, in welchem Umfang das geschehen Norbert Geis [CDU/CSU]: Und die Ange soll, werden wir beraten, ohne daß ich die F.D.P. da- stellten in der Wirtschaft!) bei in Verlegenheit bringen will. Aber es kann ja nicht sein, daß die Intimsphäre von Leuten, die ihre - Die Angestellten in der Wirtschaft auch. Aber wir Würde verwirkt haben, höher geschätzt wird als die achten natürlich mehr darauf, wenn ein Beamter ent- Intimsphäre derjenigen, die durch kriminelles Tun sprechend handelt, weil in der Wirtschaft die Dinge beeinträchtigt werden. Beim Abhören werden, wie sehr häufig unter den Tisch gekehrt werden. Das ist gesagt, entsprechende Sicherungen eingeführt, und leider so. Wir brauchen auch die Ärzte und die Steu- es werden nur dringend Tatverdächtige elektronisch erberater nicht auszunehmen. Auch sie sind leider überwacht. beteiligt. (Dr. Max Stadler [F.D.P.]: „Dringend Tatver- Unser Gesetzentwurf soll nur ein erster Teil sein, dächtige" , das ist sehr gut! Das kommt ins dem Ergänzungen folgen müssen. Es wurde schon Protokoll! - Beifall bei der F.D.P.) angedeutet, daß wir darüber nachdenken, inwieweit Firmen bei Vergaben ausgeschlossen werden kön- - Wir können Diskussionen über die verschiedenen nen oder ob ein Korruptionsregister, wie wir es be- Sicherungen führen; aber wir sollten eine vernünf- schlossen haben, aufgelegt werden soll. Hierzu sind tige Lösung finden. aber noch verfassungsrechtliche Fragen zu klären. Klarmachen müssen wir - das ist, glaube ich, das Wir müssen sehen, wie wir das hinbekommen. Entscheidende - den international operierenden Kri- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Länder müs minellen und den Korruptionsbanden, daß in sen das machen, die SPD-regierten Länder!) Deutschland keine paradiesischen Zustände mehr herrschen und daß sie sich andere Länder aussuchen Das Entscheidende ist, das Vertrauen der Bürger in müssen, wenn sie ihren Geschäften nachgehen wol- die Integrität des Staates zurückzugewinnen. Deswe- len. Das gilt übrigens auch für die Geldwäsche. gen wird das eine oder andere noch zu verbessern, zu verschärfen sein, auch damit nicht Beamte diese (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das liegt Strafgesetze durch Nebentätigkeiten umschiffen an der SPD, daß keine paradiesischen können. Unsere Beamten sind, wie gesagt, gut do- Zustände hier mehr herrschen!) tiert; Ausnahme sind die jungen Beamten und die in Am wirksamsten und empfindlichsten neben der den niedrigen Besoldungsgruppen. Ich will sie nicht Freiheitsstrafe trifft man aber die Verbrecher in ih- auffordern, bestechlich zu sein; da sollten wir eher et- rem Vermögen, in ihrem Geldbeutel. Deswegen soll- was anderes tun. Aber hier sollten wir aufpassen. ten wir kurzfristig eine Lösung finden, daß Vermö- Wir müssen auch darauf achten, daß nicht Gefällig- gen bei Vorliegen eines Tatverdachts - ob das ein keitsgutachten von vereidigten Sachverständigen dringender oder ein sonstiger ist - eingezogen wer- entsprechend genutzt werden. Auch der hochdo- den können. Dabei werden wir aus verfassungsrecht- tierte Vortrag oder das hochdotierte Gutachten sind lichen Gründen nicht einfach eine Beweislastumkehr zwar vielleicht als wissenschaftlich anzusehen; sie einführen können. Aber bei einem dringenden Ver- stellen aber, wenn die Leistung und das dafür ge- dacht muß es leichter möglich sein, das Vermögen zu zahlte Entgelt in der Relation auseinanderfallen, beschlagnahmen, damit es nicht in der Zeit, in der keine genehmigungsfreie Nebentätigkeit mehr dar. noch Beweise gesucht werden, in undurchsichtige Von einer solchen bis zu einem Vortrag in New York Kanäle verschoben werden kann. Deswegen muß mit hoher Dotation ist es dann nicht weit. auch über neue Verfallsbestimmungen nachgedacht werden. Richtig ist es auch - das wurde hier bemängelt; ich halte es trotzdem für richtig -, daß wir versuchen, Be- Wir sollten - das wurde hier ebenfalls schon häufig amte oder Angestellte des Staates, die „angefüttert" gesagt - zwar miteinander um den richtigen Weg rin- 11232 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten gen; aber wir sollten nicht streiten. Herr Kollege Dr. Max Stadler (F.D.P.): Ich habe so wenig Rede- Hauchler hat eigentlich als erster einen etwas schar- zeit, daß ich im Zusammenhang vortragen möchte. fen Ton hineingebracht. Wir sollten gemeinsam das Ich bitte um Verständnis. Verbrechen auf allen Ebenen bekämpfen, damit sich die Bürger in Deutschland sicher fühlen. Ich wollte gerade den Kollegen Hofmann um seine Zustimmung dafür bitten, daß wir uns gemeinsam,- Alle haben zum Schluß gesagt - auch ich wieder- wenn wir uns um das Ansehen des öffentlichen Dien- hole es -: Nutzen wir die Beratungen in den Aus- stes sorgen, in unseren Parteien dafür einsetzen, daß schüssen und mit den Ländern, Herr Justizminister, sein Ansehen nicht durch beleidigende Äußerungen damit wir hier so schnell wie möglich zu einem Er- in den Schmutz gezogen wird, wie das der Minister- gebnis kommen. Dann wird auch das dumme Gerede präsident Gerhard Schröder mit seinem bekannten - einige sprachen von „Bananenrepublik" - verstum- Ausspruch, Lehrer seien faule Säcke, getan hat. Wir men. Das ist nicht wahr; das wird auch nicht eintre- sollten gemeinsam dafür sorgen, daß so etwas nicht ten. Vielmehr sollten wir dafür sorgen, daß wir ein vorkommt. Rechtsstaat bleiben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Danke schön. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Professor Schmidt-Jortzig hat, was die Not- wendigkeit der Maßnahmen betrifft, das richtige Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Maß angelegt, indem er sagte: Es ist bei weitem nicht Kollege Dr. Stadler, F.D.P. so, daß in unserer Beamtenschaft Korruption an der Tagesordnung wäre. Deswegen sind unsere Vor- schläge auch nicht auf ein generelles Mißtrauen ge- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch gegen Ende ei- gen die deutsche Beamtenschaft gegründet; aber die ner solchen Debatte lernt man doch immer wieder Korruptionsfreiheit der Beamtenschaft ist eine maß- Neues hinzu. Ich darf Herrn von Stetten bestätigen, gebliche Voraussetzung dafür, daß das Berufsbeam- daß wir von der F.D.P. über seinen Vorschlag, nur tentum, das bei einigen Kräften hier im Haus durch- noch bei dringendem Tatverdacht eine Raumüberwa- aus in der Diskussion ist und dessen Berechtigung in chung zuzulassen, sehr intensiv nachdenken wer- Zweifel gezogen wird, so, wie wir es wollen, in seiner den. heutigen Form erhalten bleibt. Sein Sinn liegt ja ge- rade darin, (Beifall bei der F.D.P.) Wir waren uns in dieser Debatte einig, daß es eines (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Bündels von organisatorischen, strafrechtlichen und CDU/CSU) dienstrechtlichen Maßnahmen bedarf, um Korrup- über eine Instanz zu verfügen, die objektiv und un- tion wirksam zu bekämpfen. Mit freundlicher Geneh- parteiisch den Willen des Gesetzgebers im Verwal- migung des Kollegen Hauchler möchte ich mich in tungsvollzug umsetzt. Das Vertrauen der Bevölke- der kurzen Redezeit, die mir zur Verfügung steht, auf rung in diese Unparteilichkeit muß erhalten werden. einige Anmerkungen zum dienstrechtlichen Teil des Deswegen sehen wir dienstrechtliche Maßnahmen vorliegenden Gesetzentwurfs beschränken, nach dem klassischen Lenin-Zitat „Vertrauen ist gut, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir können Kontrolle ist besser", das man auch als Liberaler ge- nicht immer alles machen, Herr Kollege!) brauchen darf, vor. Ich möchte hinzufügen: In diesem Bereich ist Vorbeugung vermutlich am allerbesten. vor allem auch deswegen, weil ich unterstelle, daß mit Ausnahme des Kollegen Hauchler alle anderen (Beifall bei der F.D.P.) Zuhörer die Vorschriften in den §§ 298 ff. StGB sehr Wir sehen im Dienstrecht zwei Ansatzpunkte vor: wohl bereits zur Kenntnis genommen haben, mit de- maßvolle Änderungen im Bereich der Nebentätigkeit nen wir Bestechung innerhalb der Wi rtschaft stärker mit Melde- und Informationspflichten. Wir sehen sie als bisher unter Strafe stellen wollen und entspre- vor, obwohl wir genau wissen, daß im Bereich der chende Ordnungswidrigkeitstatbestände in Straftat- Nebentätigkeit im Normalfall alles glatt läuft. Aber in bestände umwandeln. seltenen Fällen könnte hier ein Einfallstor für jeman- (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Das reicht den bestehen, der einen Beamten korrumpieren überhaupt nicht aus!) möchte. Dem wollen wir vorbeugen. Ich brauche daher nicht ein weiteres Mal darauf ein Wichtiger noch ist der zweite Ansatz, das st rikte zugehen. Alle anderen haben das sicherlich bemerkt. Verbot der Annahme von Belohnungen und Ge- schenken. Das ist schon eine recht ha rte Maßnahme. Bezüglich des Dienstrechts hat sich der Kollege Herr Minister Leeb, ich wurde ein wenig an eine Äu- Hofmann eingangs besorgt gezeigt, daß das Anse- ßerung des heutigen Ministerpräsidenten Stoiber er- hen des öffentlichen Dienstes gelitten haben könnte, innert, die er machte, als man begann, die Amigo-Af- weil womöglich zu spät mit entsprechenden Maß- färe aufzuarbeiten. Stoiber hat damals gesagt, man nahmen begonnen worden sei. dürfe nicht denselben Maßstab für die politische Ebene und die Beamtenebene anlegen, was diese Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Dr. Dinge betreffe. Ich konnte schon damals diese Mei- Stadler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- nung nicht teilen; aber immerhin hat Stoiber in Bay- gen Hauchler? ern - das muß man zugeben - dafür gesorgt, daß ge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11233

Dr. Max Stadler wisse Sitten, die auf der politischen Ebene eingeris- Anwürfen schützen. Das ist in diesem Zusammen- sen waren, beseitigt wurden. Um so mehr Berechti- hang unsere Aufgabe. gung besteht jetzt dafür, das Verbot der Annahme (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das gilt von Geschenken absolut st rikt zu gestalten, damit insbesondere für Herrn Däke vom Bund der auch der böse Anschein, daß damit Korruption ver- Steuerzahler!) - bunden sein könnte, vermieden wird. Es gibt schwere Verfehlungen. Jede ist eine zuviel. (Beifall bei der F.D.P.) Darüber sind wir uns einig, auch nach der Debatte, Meine Damen und Herren, im Disziplinarrecht set- die heute hier geführt wurde. Darum ist eine noch in- zen wir auf einen Anreiz, der schon dargestellt wor- tensivere Bekämpfung der Korruption notwendig, den ist. Es geht darum, bei der Altersversorgung und darum sollten die sachgerechten Vorschläge, die Gnade vor Recht für diejenigen walten zu lassen, die sich in den verschiedenen Initiativen niederschlagen, wegen Korruption aus dem öffentlichen Dienst ent- in den Ausschüssen jetzt intensiv beraten werden. fernt werden mußten. Der Justizminister hat gesagt, Sie sollten möglichst bald Gesetz werden. die Korruption sei der Brückenkopf des organisierten Lassen Sie mich noch einmal zu einem Punkt kom- Verbrechens in die öffentliche Verwaltung hinein. men, den die Opposition vorgetragen hat. Die einsei- Dies ist gewissermaßen die goldene Brücke, um je- tigen und unsachlichen Angriffe der Opposition, mandem, der in die Korruption verstrickt ist, den etwa gegen die Bundesregierung und gegen die Ko- Weg zurück zu erleichtern. alition, sind mit Nachdruck zurückzuweisen, und zwar aus folgenden Gründen: Alle Bereiche des Sie müssen zum staatlichen Handelns sind bei der Bekämpfung der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Korruption gefordert. Das betrifft nicht nur den Bund, Schluß kommen, Herr Kollege Stadler. sondern auch Länder und Gemeinden. Im Grunde ist jeder Landesminister, jeder Bürgermeister und jeder Dr. Max Stadler (F.D.P.): Es ist keine echte Kronzeu- Landrat gefordert, gegen die Korruption zu kämpfen. genregelung. Daß gegen eine solche Bedenken be- Darin sollten wir uns alle einig sein. stehen würden, hat Herr Kollege Kleine rt schon dar- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - gelegt. Aber es hat Elemente einer solchen Rege- Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung. Mir erscheint das, was wir vorschlagen, prakti- NEN]: Sie müssen Vorgaben geben! - kabel. Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Die arbei- Insgesamt ist der dienstrechtliche Teil des vorge- ten bereits!) legten Gesetzentwurfes sicherlich nicht alleine die - Auch Sie geht das etwas an. Sie tragen in vielen tragende Säule dessen, was zur Korruptionsbekämp- dieser Bereiche Verantwortung. Diese Schwarzweiß- fung insgesamt notwendig ist, aber doch ein wichti- malerei, nur der Bund habe versagt, und wir sähen ger Mosaikstein. gar nicht in die anderen Bereiche, bringt doch gar (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nichts. Wir sollten unsere gemeinsame Verantwor- tung erkennen. Sie alle wissen doch, was in den ver- schiedensten Bereichen ansteht. Das Wort hat der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich stimme jedem zu, der gesagt hat, das gelte Parlamentarische Staatssekretär Waffenschmidt. auch für die Wirtschaft; denn es gehören zu diesen Vorgängen meistens mehrere. Dabei ist also auch die Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Wirtschaft gefordert. Es geht nicht nur darum, eine Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine Ethikkommission oder ein Ethikmanagement zu bil- sehr verehrten Damen und Herren! Mit Recht ist in den; vielmehr ist jeder einzelne in seinem Verant- der bisherigen Debatte gesagt worden: Die Korrup- wortungsbereich hier gefordert. tion ist ein Krebsgeschwür, und sie muß mit aller In- Lassen Sie mich am Schluß dieser Debatte nur tensität bekämpft werden. Aber mir liegt daran, noch noch wenige Schwerpunkte nennen, von denen ich einmal das aufzunehmen, was schon mehrfach aus- meine, wir sollten uns einig sein, nämlich daß bei gesprochen wurde - gerade für das Bundesinnenmi- Bund, Ländern und Gemeinden nicht nur durch Ge- nisterium möchte ich das noch einmal sehr deutlich setze, sondern auch durch die Tätigkeit der Dienst- sagen -: Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als vorgesetzten folgendes erreicht wird: erstens die sei die Korruption heute schon in jeder Amtsstube zu Sensibilisierung aller Beschäftigten im öffentlichen Hause. Das ist nicht der Fall. Dienst und ihrer Vorgesetzten für die Gefahren der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Korruption für die gesamte Gesellschaft, zweitens die ordneten der F.D.P.) strikte Einhaltung der Vergaberegelungen im öffent- lichen Beschaffungswesen - auch das geht alle Ebe- Darüber sollten wir uns im Interesse der Beamten nen staatlichen Handelns an -, drittens - darauf legt und Angestellten, der Mitarbeiter und Mitarbeiterin- Bundesinnenminister Kanther mit seinen Initiativen nen auch in der Wirtschaft, die treu und gesetzestreu besonderen Wert - die Rotation auf besonders ge- ihre Pflichten erfüllen, einig sein. Gerade wir im fährdeten Dienstposten, wo immer sich das durch- Deutschen Bundestag müssen uns für die gesetzes- führen läßt, viertens ein ganz transparenter Verwal- treuen Beamten und Angestellten im öffentlichen tungsvollzug sowie eine angemessene Kontrolle aller Dienst einsetzen und sie auch vor ungerechtfertigten Genehmigungen und Erlaubnisse und Kontrolltätig- 11234 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt keiten. Der öffentliche Dienst kann hier eine Modell- b) Erste Beratung des von der Bundesregie- funktion ausüben. rung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesfern- Nun wird es in den kommenden Monaten in erster straßengesetzes (4. FStrÄndG) Linie darauf ankommen, alles das, was als geeignet und notwendig angesehen wird, auch umzusetzen. - Drucksache 13/5292 - Ich will hier ein Beispiel für unser Ministerium und Überweisungsvorschlag: seinen Geschäftsbereich nennen: Die Planung und Ausschuß für Verkehr (federführend) Vorbereitung einer Beschaffungsmaßnahme muß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit beispielsweise streng von der Vergabe des Auftrags getrennt sein, und zwar überall. Darüber hinaus er- c) Erste Beratung des von der Gruppe der PDS folgt derzeit die Bestimmung von Ansprechpartnern eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur für Fragen der Korruptionsprävention in allen Be- Änderung des Bundesozialhilfegesetzes hörden des Geschäftsbereichs des BMI, aber auch in - Drucksache 13/5426 — anderen Bundesressorts. Überweisungsvorschlag: Mit Recht wurde hier noch ein Bereich angespro- Ausschuß für Gesundheit (federführend) chen, dem ich besonderen Nachdruck verleihen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung möchte. Die konsequente Anwendung und Fortent- Ausschuß für Fami lie, Senioren, Frauen und Jugend wicklung des Nebentätigkeitsrechts der Mitarbeite- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, insbe- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- sondere der Beamten, ist zu gewährleisten. Jeder zes zu dem Übereinkommen vom Verantwortliche und Dienstvorgesetzte muß darauf 13. November 1991 zwischen den Mitglied- achten, daß Nebentätigkeiten nicht zu einer Kollision staaten der Europäischen Gemeinschaften mit den dienstlichen Interessen und Pflichten führen über die Vollstreckung ausländischer straf- dürfen. rechtlicher Verurteilungen

Ich denke, meine Damen und Herren, wir können - Drucksache 13/5468 — am Schluß dieser Debatte sagen: Wenn alle Verant- Überweisungsvorschlag: wortlichen wirklich intensiv zusammenarbeiten - bei Rechtsausschuß der heutigen Debatte ist bereits ein beachtliches Maß an Gemeinsamkeiten zum Ausdruck gekommen -, e) Erste Beratung des von den Fraktionen der dann können wir in diesem wichtigen Aufgabenbe- CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- reich etwas Bedeutsames erreichen. Wir sind alle ge- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- fordert. Wir sollten die Zusammenarbeit suchen. setzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs Dann können wir bei den Herausforderungen als Deutscher Bundestag in Zukunft sicherlich bestehen. - Drucksache 13/5585 — Überweisungsvorschlag: Herzlichen Dank. Rechtsausschuß (federführend) Finanzausschuß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) g) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die wurfs eines Eigentumsfristengesetzes Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung (EFG) der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3353, 13/5584 und 13/4118 an die in der Tagesordnung aufgeführ- - Drucksache 13/5586 — ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Überweisungsvorschlag: verstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann sind Rechtsausschuß (federführend) die Überweisungen so beschlossen. Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 19a bis 19e und 19g bis 19q auf: h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe 19. Überweisungen im vereinfachten Verfahren der PDS a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ausbau statt Neubau der Schleuse Charlot- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- tenburg im Projekt 17 der Verkehrsprojek- zes zu dem Protokoll vom 11. Dezember te Deutsche Einheit 1995 zur Änderung des Abkommens vom 31. Oktober 1975 zwischen der Regierung - Drucksache 13/2283 — der Bundesrepublik Deutschland und der Überweisungsvorschlag: Regierung der Volksrepublik China über Ausschuß für Verkehr (federführend) den Zivilen Luftverkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß - Drucksache 13/5291 — i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf Ausschuß für Verkehr und der Gruppe der PDS Revision des Drei- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11235

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose jahresplans für den Ausbau des Schienen- n) Beratung des Antrags des Bundesministe- wegenetzes des Bundes in den Jahren 1995 riums der Finanzen bis 1997 Entlastung der Bundesregierung für das - Drucksache 13/2284 — Haushaltsjahr 1995 - Vorlage der Haus- Überweisungsvorschlag: haltsrechnung und Vermögensrechnung Ausschuß für Verkehr (federführend) des Bundes (Jahresrechnung 1995) - Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksache 13/5141 — Haushaltsausschuß Überweisungsvorschlag: j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Haushaltsausschuß Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf, o) Beratung des Antrags des Bundesministe- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS riums der Finanzen Einführung einer Schwerverkehrsabgabe Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- deshaushaltsordnung in die Veräußerung - Drucksache 13/2360 — einer Teilfläche der ehemaligen Wilder- Überweisungsvorschlag: muth-Kaserne in Böblingen an das Land Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß Baden-Württemberg Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksache 13/5340 — Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Ma rianne Klappert, Ernst p) Beratung des Antrags des Bundesministe- Bahr, weiterer Abgeordneter und der Frak- riums der Finanzen tion der SPD Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- Erhaltung und Nutzung der biologischen deshaushaltsordnung in die Veräußerung Vielfalt landwirtschaftlicher Nutzpflanzen der ehemaligen Bismarck- und Bose-Berg- mann-Kaserne in Wentorf bei Hamburg - Drucksache 13/4985 — Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/5452 — Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Überweisungsvorschlag: (federführend) Haushaltsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit q) Beratung des Antrags des Bundesministe- und Entwicklung riums der Finanzen l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- Franziska Eichstädt-Bohlig, Werner Schulz deshaushaltsordnung in die Veräußerung (Berlin), Christine Scheel, weiterer Abge- bundeseigener Grundstücke in Frankfurt ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ am Main, ehemals US-genutztes IG Far- DIE GRÜNEN ben-Hochhausgelände (Teilfläche) Fördergebietsdarlehen für die Erneuerung - Drucksache 13/5470 — des Wohnungsbestandes ostdeutscher Ei- gentümer und für Bauinvestitionen ost- Überweisungsvorschlag: deutscher Gewerbetreibender Haushaltsausschuß

- Drucksache 13/5000 — Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Reaktorsicherheit Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Haushaltsausschuß schlossen. m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Ma rianne Klappert, E rnst Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 20a bis Bahr, weiterer Abgeordneter und der Frak- 20g sowie den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf: tion der SPD 20. Abschließende Beratungen ohne Aussprache Abschaffung der Käfigbatteriehaltung von a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Legehennen in der Europäischen Union des von der Bundesregierung eingebrach- - Drucksache 13/5210 — ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 16. November 1995 zwischen Überweisungsvorschlag: der Bundesrepublik Deutschland und der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend) Sozialistischen Republik Vietnam zur Ver- Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union meidung der Doppelbesteuerung auf dem 11236 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Gebiet der Steuern vom Einkommen und Norbert Formanski, weiterer Abgeordneter vom Vermögen und der Fraktion der SPD - Drucksache 13/4791 - Änderung der Übergangsregelung beim (Erste Beratung 113. Sitzung) Eigenheimzulagengesetz - Drucksachen 13/4408, 13/5323 - - Beschlußempfehlung und Be richt des Fi- nanzausschusses Berichterstattung: (7. Ausschuß) Abgeordnete Wolfgang Ilte Gerhard Schulz (Leipzig) - Drucksache 13/5603 - e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichterstattung: Berichts des Ausschusses für Wirtschaft Abgeordnete Elke Wülfing (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung die Bundesregierung des von der Bundesregierung eingebrach- Der Binnenmarkt 1995 - Bericht der Kom- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- mission an den Rat und das Europäische kommen vom 22. November 1995 zwischen Parlament der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark zur Vermeidung der - Drucksachen 13/4514 Nr. 2.11, 13/5171 (neu) - Doppelbesteuerung bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie bei Berichterstattung: den Nachlaß-, Erbschaft- und Schenkung- Abgeordneter Ernst Hinsken steuern und zur Beistandsleistung in Steuer- f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- sachen (Deutsch-dänisches Steuerabkom- tionsausschusses (2. Ausschuß) men) Sammelübersicht 137 zu Petitionen - Drucksache 13/4903 - - Drucksache 13/5522 - (Erste Beratung 116. Sitzung) g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- aa) Beschlußempfehlung und Be richt des tionsausschusses (2. Ausschuß) Finanzausschusses (7. Ausschuß) Sammelübersicht 138 zu Petitionen - Drucksache 13/5598 - - Drucksache 13/5523 - Berichterstattung: ZP3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele sprache Norbert Schindler (Ergänzung zu TOP 20) bb) Bericht des Haushaltsausschusses Beratung der Beschlußempfehlung und des (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Ge- Berichts des Ausschusses für Post und Tele- schäftsordnung kommunikation (17. Ausschuß) zu der Verord- - Drucksache 13/5609 - nung der Bundesregierung Berichterstattung: Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Te Abgeordnete lekommunikations-Universaldienstleistungs Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) verordnung (TUDLV) - Drucksachen 13/5495, 13/5550 Nr. 2.4, 13/ Oswald Metzger 5604 - c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichterstattung: Berichts des Ausschusses für Post und Tele- Abgeordnete Elmar Müller (Kirchheim) kommunikation (17. Ausschuß) zu dem An- Hans Martin Bury trag des Abgeordneten Dr. Manuel Kiper Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. NEN Tagesordnungspunkt 20 a - Doppelbesteuerungs- Ein ökologischer, sozialer und demokrati- abkommen mit Vietnam -: Der Finanzausschuß emp- scher Weg in die Informationsgesellschaft I fiehlt auf Drucksache 13/5603, den Gesetzentwurf (Grundsätze für die Postreform III) unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die - Drucksachen 13/1931, 13/4463 - dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Berichterstattung: Gesetzentwurf ist, wenn ich es richtig sehe, einstim- Abgeordnete Elmar Müller (Kirchheim) mig angenommen. Hans Martin Bury Tagesordnungspunkt 20 b - Deutsch-dänisches d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Steuerabkommen -: Der Finanzausschuß empfiehlt Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- auf Drucksache 13/5598, den Gesetzentwurf unver- schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Otto Reschke, Hans Büttner (Ingolstadt), Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11237

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe PDS - Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. -bei - mir nicht völlig klarem Stimmverhalten

Tagesordnungspunkt 20c - Grundsätze für die (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mit Zustimmung der Postreform III -: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag SPD!) auf Drucksache 13/1931 abzulehnen. Wer stimmt für - Ich nehme das so auf und darf hinzufügen: Die Be- diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- schlußempfehlung ist mit etwas verspäteter Zustim- tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- mung der SPD angenommen. men der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS bei Gegenstimmen vom (Heiterkeit - Zuruf von der F.D.P.: Das ist Bündnis 90/Die Grünen angenommen. typisch!)

Tagesordnungspunkt 20 d - Der Binnenmarkt Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf: 1995 -: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Aktuelle Stunde Drucksache 13/4408 abzulehnen. Wer stimmt für auf Verlangen der Gruppe der PDS diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- Haltung der Bundesregierung zur tarifver- men der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/ traglich geregelten Lohnfortzahlung ange- Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Gegenstim- sichts jüngster Reaktionen von der Arbeitge- men der SPD-Fraktion angenommen. berseite Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat die Kolle- Tagesordnungspunkt 20 e: Beschlußempfehlung gin Dr. Knake-Werner, PDS. des Ausschusses für Wirtschaft zum Be richt der Euro- päischen Union zum Binnenmarkt 1995, Drucksache 13/5171 - neu -. Wer stimmt für diese Beschlußemp- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident! fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS hat diese schlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Aktuelle Stunde beantragt, weil wir schon wissen wollen, wie die Bundesregierung den Flächenbrand Tagesordnungspunkt 20f und 20g: Beschluß- löschen will, für den sie mit der Kürzung der Lohn- empfehlung des Petitionsausschusses auf Druck- fortzahlung die Zündhölzer geliefert hat. Mit Daimler sache 13/5522. Das ist die Sammelübersicht 137. Wer und Siemens haben inzwischen zwei der größten stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- Konzerne in der Bundesrepublik angekündigt, das probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung Gesetz zum 1. Oktober umzusetzen, und zwar trotz ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen entgegenstehender Tarifverträge. Vom kommenden und PDS mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Dienstag an werden Zehntausende Beschäftigte und der SPD-Fraktion angenommen. ohne tarifvertraglichen Schutz sein. Anderen nutzt er nichts, weil sich der Tarifvertrag auf das von Ihnen Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf verstümmelte Gesetz bezieht, und wieder andere Drucksache 13/5523. Das ist die Sammelübersicht 138. werden Opfer der unternehmerischen Auslegungs- Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- freudigkeit bestehender Tarifverträge. probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung (Zuruf von der CDU/CSU: Und die Welt ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die wird untergehen!) Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Gruppe der PDS ange- - Das noch nicht, aber Sie schaffen es auch noch, daß nommen. die Welt untergeht, wenn Sie Ihre Politik so fortset- zen. Zusatzpunkt 3: Beschlußempfehlung des Aus- (Beifall bei der PDS - Lachen und Wider- schusses für Post und Telekommunikation zu der zu- spruch bei der CDU/CSU) stimmungsbedürftigen Verordnung zur Telekommu- nikations-Universaldienstleistungsverordnung. - Das Das alles schafft nicht nur drastische Einkommens- muß ich noch einmal wiederholen, wegen der Schön- einbußen, sondern eine Fülle von Rechtsunsicher- heit: Telekommunikations-Universaldienstleistungs- heit, die Sie von der Koalition zu verantworten ha- verordnung! ben. Wenn es nicht so zynisch wäre, dann könnte man Ihnen bescheinigen: Das von Ihnen beschlos- (Heiterkeit und Beifall - Zuruf von der sene Programm für mehr Beschäftigung wird schon CDU/CSU: Das ist eine Nummer!) bald Wirkung zeigen, und zwar vor den Arbeitsge- richten. Alle Oppositionsparteien haben Sie vor die- - Das muß man sich merken, wenn man mal beim ser Entscheidung zur Lohnfortzahlung gewarnt, und Scrabble lange Worte bilden will. wider besseres Wissen haben Sie uns hier und der Öffentlichkeit weismachen wollen, daß Sie mit der Das sind - um nun wieder zur Geschäftsmäßigkeit Beschränkung der Lohnfortzahlung nicht in geltende zurückzukehren - die Drucksachen 13/5495 und 13/ Tarifverträge eingreifen wollen. Wenn Sie es denn 5604. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - nicht wollten, was ja der Bundesarbeitsminister nicht Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- müde wird zu beteuern, dann haben Sie sich eben fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- von der F.D.P. und den Arbeitgebern über den Tisch nen - soweit ich gesehen habe, gegen die Stimmen ziehen lassen. 11238 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Heidi Knake-Werner Es ist ja kein Zufall - das zeigt im übrigen die Eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist ganze Verlogenheit der vorausgegangenen Debatte gewiß: Das Unternehmerlager kann mit Ihnen zufrie- zur Lohnfortzahlung -, daß gestern der Fraktionsvor- den sein. Das können Sie schon allein an den aktuel- sitzende der F.D.P., Herr Kollege Solms, die Kündi- len Börsennachrichten ablesen. Gestern meldete die gung der Tarifverträge im öffentlichen Dienst gefor- Frankfurter Börse, daß die BASF-Aktien rasant ange-- dert hat. Sie wollen sich den Konflikt ins eigene Haus zogen haben, und die Begründung dazu heißt wört- holen. Ich hoffe, die Gewerkschaften sind darauf gut lich: vorbereitet. Sie profitieren von der Ankündigung, die Lohn- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne fortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen. ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist das Ergebnis Ihrer unsäglichen Klientel- und Gefälligkeitspolitik und demonstriert augenfällig Nein, meine Damen und Herren von der Koalition, wie in fast keinem anderen Fall, wie Ihre Politik un- Sie haben dieses Gesetz durchgepeitscht, wohlwis- mittelbar dazu führt, Geld aus den Taschen der Be- send, daß daraus ein Flächenbrand entsteht, und das schäftigten in die Taschen der großen Unternehmen Schlimmste ist: Sie zündeln weiter. und der Vermögenden zu transferieren. Welch ein Zynismus, wenn der Bundeskanzler am Anfang dieser Woche die Tarifpartner auffordert, Au- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie müssen zum genmaß zu bewahren und keine Vorgehensweise zu Schluß kommen. wählen, die zu einer Eskalation der Situation bei- trägt! Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Ich komme zu mei- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sagen Sie doch nem letzten Satz. - Das ist zutiefst unsozial, und die mal, wie das früher in der DDR war! Gipfel PDS wird all diejenigen unterstützen, die sich gegen der Unverschämtheit! - Gegenrufe von der diese Politik zur Wehr setzen. SPD: Erzählen Sie doch nicht so einen Quatsch! - Kümmere dich um das eigene (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- Haus! Da hast du genug zu tun!) ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zynismus ist es deshalb, weil die Regierung erst den Unternehmern den Mund wäßrig macht, indem sie ihnen einen Freibrief zum Einsparen von etwa 9 Mil- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der liarden DM Lohnkosten ausstellt, und sich dann öf- Kollege Julius Louven, CDU/CSU-Fraktion. fentlich beklagt - und dazu gehören Sie ja auch -, daß sie die Geister, die sie rief, nicht mehr los wird. Julius Louven (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Hoffentlich wundern Sie sich nun nicht, wenn die sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich die Gewerkschaften ihrerseits so handeln, wie sie han- markigen Worte von Frau Knake-Werner höre, dann deln müssen, wenn sie nicht tatenlos zusehen wollen, kann ich daraus nur den Schluß ziehen, daß Sie mit daß nach dem Abbruchbescheid für den Sozialstaat der Beantragung dieser Aktuellen Stunde ihre Hetze nun auch noch das System der Tarifverträge unter gegen das Lohnfortzahlungsgesetz fortsetzen wollen. den Hammer gerät. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Übrigens hat niemand anderes die Heuchelei Ihrer Peter Dreßen [SPD]: Das ist keine Hetze, Politik besser entlarvt als der Hauptgeschäftsführer das sind Tatsachen! - Weitere Zurufe von des Hessischen Unternehmerverbandes. In einer der SPD) ddp-Meldung von gestern heißt es: Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, greift Fasbender nannte es widersprüchlich, nicht in tarifvertragliche Regelungen ein. - das ist ja noch sehr harmlos ausgedrückt - (Lachen und Widerspruch bei der SPD und wenn Bonner Regierungsmitglieder nun vor einer der PDS) konfliktträchtigen Umsetzung ihres eigenen Ge- setzes warnen. Die gesetzlichen Änderungen haben somit keine Auswirkungen auf Tarifvertragsregelungen. Lassen wir einmal offen, ob Sie bei der Beschnei- dung der Lohnfortzahlung ein Unternehmerge- (Widerspruch bei der SPD und der PDS) schenk im Auge hatten oder selbst dem Aberglauben Ob die tariflichen Normen deklaratorischer oder kon- verfallen sind, daß eine Beschränkung der Kaufkraft stitutiver Natur sind, ist in jedem Einzelfall eine Arbeitsplätze schaffen kann. Aber an einem Ihrer Frage der Auslegung und somit eine Rechtsfrage, Motive läßt sich wirklich nicht zweifeln: Sie wollten womit sich unter Umständen die Richter auseinan- den Gewerkschaften eine Niederlage bereiten, und dersetzen müssen. dabei haben Sie bewußt einkalkuliert, daß Sie mit dem Angriff auf die Lohnfortzahlung die Gewerk- (Peter Dreßen [SPD]: Das müssen Sie mal schaften und die Beschäftigten um eine äußerst sym- Herrn Schrempp von Daimler-Benz sagen!) bolträchtige soziale Errungenschaft bringen. Ich Nun will ich noch einmal zu einer politischen Be- hoffe, dafür bekommen Sie noch die Quittung. wertung dieses Gesetzes kommen. Ich will hier ganz (Beifall bei der PDS) klar sagen: Sinn des Gesetzes, Frau Knake-Werner, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11239

Julius Louven ist, Betriebe von Kosten zu entlasten, um Beschäfti- Er hat betont, da sei nichts zu machen, die jetzt be- gung zu sichern. schnittene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall etwa sei ein solcher Besitzstand. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen. Wir halten Dabei folgen wir der Philosophie, daß bei Lohner- dieses Gesetz für richtig. Wir greifen nicht in Tarif- satzleistungen weniger gezahlt werden muß als bei verträge ein, vertrauen aber darauf, daß den Tarif- Arbeit. Genauso klar sage ich, auch an die Adresse vertragsparteien vernünftige Regelungen einfallen der Gewerkschaften, daß es auf Dauer nicht geht, werden. daß wir in Deutschland in dieser Frage ein Zwei- Klassen-Recht haben, daß es also diejenigen gibt, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) durch Tarifverträge einen Schutz haben, und diejeni- gen, die den Abzug von 20 Prozent, so wie im Gesetz Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege beschlossen, hinnehmen müssen. Louven, es ist kein Ordnungsruf, sondern nur ein (Peter Dreßen [SPD]: Aha! Jetzt kommt es! Hinweis, weil es im grauen Bereich liegt. Aber das Eingriff in die Tarifautonomie!) Wort „Hetze" sollten wir hier im Parlament ver- meiden. Wir vertrauen dabei auf die Tarifvertragspartner. (Julius Louven [CDU/CSU]: Dann hätten (Peter Dreßen [SPD]: Heuchelei!) Sie aber die Kollegin auch ermahnen müs- sen! Sie hat von Heuchelei gesprochen!) Deutschland ist das einzige Land der Welt, in dem es noch eine Lohnfortzahlung von 100 Prozent gibt. - Es ist ein Hinweis. Ich bitte Sie, ihn einfach anzu- In der letzten Woche war eine Delegation des Aus- nehmen. Nehmen Sie ihn an, diskutieren wir nicht schusses für Arbeit und Sozialordnung in Schweden; darüber. verschiedene Kolleginnen und Kollegen der Sozial- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Büttner. demokratischen Partei waren dabei. Die Schweden haben die Lohnfortzahlung geändert. Sie haben ei- nen Karenztag eingeführt und ab dem nächsten Tag Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Präsident! die Lohnfortzahlung von 100 Prozent auf 75 Prozent Meine Damen und Herren! Nationale und internatio- gesenkt. Dies geschah bereits vor zweieinhalb Jah- nale Beobachter des deutschen Wirtschafts- und So- ren. zialrechts haben die Stabilität unseres Systems im- mer mit einem magischen Dreieck begründet. Es be- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Die sind auch ruht auf der Tarifhoheit, die verfassungsrechtlich ge- nicht untergegangen!) schützt ist, dem Arbeitsrecht, das zuverlässig und stabil ist, und einem Kartellrecht, das den Wettbe- Die Auswirkungen - Frau Kollegin Lotz kann dies werb in der Marktwirtschaft sicherstellen soll. Alle bestätigen - sind: Der Krankenstand in Schweden ist wesentlichen Punkte dieses Dreiecks haben Sie in um über die Hälfte gesunken. den letzten Jahren deutlich zurückgefahren. Sie ha- (Zuruf von der SPD: Von 9 auf 5! Wir haben ben das Kartellrecht aufgeweicht, das Arbeitsrecht schon 4!) verstümmelt und massiv in die verfassungsrechtliche Tarifhoheit eingegriffen. Nun reden Sie davon, wirklich Kranke würden be- straft. Auch dazu will ich etwas sagen. Denken Sie (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE bei diesem Vorwurf einmal daran, wie es in der Bun- GRÜNEN und der PDS) desrepublik Arbeitslosen ergeht. Sie bekommen im Begonnen hat das alles mit der Änderung des § 116 Durchschnitt eine Lohnersatzleistung von 63 Prozent AFG. Jetzt findet es seine Fortsetzung in der Ände- und können finanzielle Einbußen nicht durch die An- rung des Lohnfortzahlungsgesetzes. rechnung von Urlaubstagen wettmachen. Jeder von Ihnen, der dieses Gesetz mitbeschlossen (Zuruf von der SPD) hat, konnte, ja mußte wissen, daß auf Grund der nor- - Ach, was Sie mitgemacht haben, Herr Ko llege. - mativen Gesetzesinterpretation in unserem Land in Die Arbeitslosen haben die finanziellen Nachteile so- Tarifverträge und damit in die Tarifhoheit eingegrif- fort hinzunehmen. fen wird. Tarifverträge regeln bei uns den mate riel- len Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeit- Ich will Ihnen, Frau Knake-Werner, noch etwas sa- nehmern, und zwar auf der Basis des gesetzlichen gen: Ich habe den Eindruck, daß Sie die Bevölkerung Rahmens, der bei Abschluß der Tarifverträge gilt. weiter verunsichern wollen. Aber es gelingt Ihnen of- All das, was über Urlaub, über Lohnfortzahlung in fensichtlich nicht. Wenn ich mir heute die Stellung- diesen Tarifverträgen geregelt war, haben die Arbeit- nahme der katholischen Kirche anschaue - sie wird nehmer mit Heller und Pfennig durch Lohnverzicht ja auch schon mal von Ihnen in Anspruch genom- bezahlt. men -, dann wird ganz deutlich, daß auch hier inzwi- schen ein Umdenken erfolgt. Bischof Homeyer hat (Beifall bei der SPD und der PDS) auf der Bischofskonferenz erklärt: „Wir müssen un- sere Besitzstände auf den Prüfstand stellen lassen." Deshalb ist eine Änderung des gesetzlichen Rah- mens während laufender Tarifverträge ohne klare (Georg Pfannenstein [SPD]: Haben Sie jetzt Richtlinie des Gesetzgebers, daß dies nur für künf- endlich einen gefunden?) tige Tarifverträge gelten kann, ein eklatanter Eingriff 11240 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hans Büttner (Ingolstadt) in die Tarifhoheit und in die bestehenden Tarifver- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel, träge. F.D.P. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- GRÜNEN) men und Herren! Unter anderen Vorzeichen setzen- wir jetzt die Debatte über die Senkung der Lohnfort- Herr Bundesarbeitsminister, die Krokodilstränen, zahlung im Krankheitsfall fo rt . Es geht diesmal nicht die Sie und der Kanzler in den letzten Tagen vergos- um das Gesetz - das haben wir beschlossen und sen haben, sind pure Heuchelei durchgesetzt -, sondern um die Reaktion der Tarif- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der partner, um die Durchsetzung der Forderung, die F.D.P.) Lohnfortzahlung zu senken. oder aber das Eingeständnis einer schlampigen Ge- Die Koalition hat bewußt darauf verzichtet, den Ta- setzesarbeit, was angesichts des Schweinsgalopps rifpartnern durch Gesetz unmittelbar Schranken zu bei der Beratung kein Wunder wäre. errichten. Ich habe soeben mit Interesse von Ihnen gehört, Herr Büttner, daß Sie es für zulässig und rich- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist ja eine Spra tig gehalten hätten, wir hätten für künftige Tarifver- che: ein heuchlerischer Schweinsgalopp!) träge eine solche Schranke errichtet. - Das habe ich nicht gesagt. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Nein!) Wer es mit dem Rechtsstaat und unserer Verfas- Wir wollen es in die Verantwortung der Tarifpart- sung ernst nimmt, der muß die Konsequenzen zie- ner legen, sich auf diese Absenkung zu verständi- hen. Beschließen Sie also die Rücknahme dieses Ge- gen. Das Gesetz wirkt auf die bestehenden Arbeits- setzes bzw. des Inkrafttretens dieses Gesetzes zu verträge unterschiedlich ein. Wo kein Tarifvertrag diesem Zeitpunkt! Oder beschließen Sie wenigstens besteht, gilt das Gesetz unmittelbar ab 1. Oktober. eine glasklare Ergänzung dieses Gesetzes, die den Wo ein Tarifvertrag die Lohnfortzahlung regelt, muß Rahmen dafür geben muß, daß dieses Gesetz nur für die Laufzeit abgewartet und neu verhandelt werden. neu abzuschließende Tarifverträge gelten kann, aber Wo sich der Tarifvertrag auf das Gesetz bezieht, ist es nicht für bestehende! Warten Sie nicht damit, bis das strittig, ob die jeweilige Gesetzesformulierung oder Bundesverfassungsgericht dies in vier Jahren tun die damals bei Vertragsabschluß bestehende gilt. wird, bis in der Zwischenzeit Unruhe in den Betrie- Wenn nun die Tarifpartner meinen, diese strittige ben eintritt und unser Rechtsstaat Schaden erleidet! Frage nicht klären zu können - sie könnten sich ja verständigen -, müssen die Ge richte entscheiden. Die Kollegen der CDU/CSU, die gestern mit tiefer Das ist nicht Aufgabe des Parlaments. Dies zur juri- Betroffenheit ihren Unmut und ihre Verärgerung in stischen Bewertung. die Fernsehmikrofone gehaucht haben, fordere ich auf: Lassen Sie sich doch nicht länger von Ihrer Jetzt komme ich zur politischen Bewe rtung: Klar Regierung und Ihrer Fraktionsführung als Abstim- ist, daß die Koalition die Lohnfortzahlung nicht auf mungsmaschine mißbrauchen, die im Akkord ohne 80 Prozent abgesenkt haben wollte, damit sie tarif- sorgfältige Beratung schlampige, verfassungswidrige vertraglich auf 100 Prozent festgezurrt bleibt. Der und das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung zerstö- Wirtschaftsstando rt Deutschland braucht eine rende Gesetze beschließt, schnelle Kostenentlastung. Dieses Ziel wollen wir er- reichen; wir erreichen es aber nur, wenn die Tarifver- (Beifall bei der SPD und der PDS) tragsparteien ihren Gestaltungsspielraum bei der die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft er- Lohnfortzahlung nutzen. Genau das erwarten wir schweren und den demokratischen und sozialen von den Tarifvertragsparteien - von Arbeitgebern Konsens in unserer Gesellschaft zerstören. und Gewerkschaften. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der PDS) Die Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes ist ein Veränderungsimpuls für die Bundesrepublik Deutschland. Daß er von Mercedes und anderen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Verehrte Kolle- übernommen wurde, vermerke ich anerkennend. ginnen und Kollegen, ich will einmal versuchen, es zu erläutern. Wenn hier jemand einen anderen Kolle- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unglaub- gen als Hetzer oder Heuchler bezeichnet, hat das un- lich!) mittelbar einen Ordnungsruf zur Folge. Wenn von Wir wollen verändern und nicht den Status quo fest- Hetze und Heuchelei die Rede ist, liegt das nach all- schreiben. gemeiner Interpretation unserer Geschäftsordnung (Beifall bei der F.D.P.) im Graubereich. Das gilt auch für den öffentlichen Dienst. Der Man- Ich will aber nicht verhehlen, daß mir diese A rt von teltarifvertrag muß schnell gekündigt werden, um von Vokabular nicht gefällt, Debatte und diese A rt die gesetzlichen Neuerungen durchzusetzen. von wem immer es gebraucht wird. Ich glaube auch nicht, daß das Parlament sich einen großen Gefallen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Hans tut, wenn es fortfährt, mit diesen Vokabeln zu debat- Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist gegen die tieren. Verfassung!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11241 Dr. Gisela Babel Gerade in diesem Jahr macht die Entwicklung Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die deutlich, daß die Tarifautonomie an einem Scheide- Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grü- weg steht. nen. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie stehen - nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- demokratischen Grundordnung!) NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her- ren! Der Kanzler und der Bundesarbeitsminister ha- Offensichtlich sind in den neuen Bundesländern die ben sich vor die Presse gestellt und so getan, als Tarifverträge für den Baubereich so abgeschlossen käme der harte Kampf um die Lohnfortzahlung völlig worden, daß es zu einer breiten Verbandsflucht ge- überraschend; keiner habe das ahnen können. - Das kommen ist. Im Grunde können wir alle das nicht für meinen Sie doch wohl nicht ernst! richtig halten. Auch das ist eine Art Bruch des Tarif- vertrages. Mit der Gesetzesänderung, die in diesem Hause (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ich am 13. September endgültig verabschiedet worden möchte mal wissen, wie ernst Sie die Ver ist, haben Sie, meine Damen und Herren von den Re- fassung noch nehmen!) gierungsfraktionen, doch genau diese Situation - Sie wissen das auch - erst geschaffen, und zwar sehen- Für mich ist das aber nur ein Indiz dafür, daß sich die den Auges. Daß die Arbeitgeber so schnell wie mög- Tarifautonomie jenseits der Realität bewegt und lich versuchen würden, dieses Gesetz mit allen Mit- nicht einhaltbare Abschlüsse hervorbringt. Insofern teln in die betriebliche Praxis umzusetzen, war klar. untergräbt sie sich selbst. Daß die Kolleginnen und Kollegen das nicht hinneh- men, war ebenfalls klar. Denn schließlich ist der Kern (Widerspruch bei der SPD und der PDS) dieses Gesetzes, daß Krankheit, die oft genug ihren Bei der Lohnfortzahlung wird es ähnlich sein. Vor- Grund in krankmachenden Arbeitsbedingungen hat, dergründig mag es ein Erfolg der Arbeitnehmerver- bestraft wird, tretung im Einzelhandel sein, die volle Lohnfortzah- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Oh mein Gott!) lung tarifvertraglich durchgesetzt zu haben. Ich sage aber: Das ist ein Sieg mit kurzem Verfallsdatum. Die daß gerade längerfristige Kranke sich auch noch Sor- Arbeitgeber befürchten - zu Recht - auch im Einzel- gen machen müssen, weil das Familieneinkommen handel das Einsetzen der massiven Verbandsflucht. drastisch absinkt, und daß alle kranken Kolleginnen Daran kann doch auch die Gewerkschaft kein Inter- und Kollegen unter Mißbrauchsverdacht gestellt esse haben. werden. Es ist allerhöchste Zeit, zu einer Tarifpolitik mit Sie wußten genau, daß die volle Lohnfortzahlung Blick für wirtschaftliche Zusammenhänge zurückzu- im Krankheitsfall ein Kernpunkt gewerkschaftlicher kehren, wenn das System an sich Bestand haben so ll. Identität ist - eine zentrale Errungenschaft, die in Die Tarifpolitik muß mit Blick auf wirtschaftliche Zu- einem der schwersten Arbeitskämpfe der Geschichte sammenhänge handeln und Verantwortung für Ko- der Bundesrepublik erkämpft worden ist. Sie haben stensenkungen übernehmen. Ich sage es noch ein- doch nicht im E rnst geglaubt, daß die Kollegen und mal: Es geht um Arbeitsplätze - um die Sicherung Kolleginnen auf dieses wichtige Stück soziale Ge- von Arbeitsplätzen in Deutschland und um die Rück- rechtigkeit kampflos verzichten. Sie hätten den Hun- kehr von Arbeitslosen an neue Arbeitsplätze. derttausenden von Menschen, die dagegen auf der (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Es geht Straße protestiert haben, zuhören sollen und sie ernst Ihnen um eine Änderung der freiheitlich nehmen sollen, anstatt sich mit der Arroganz der demokratischen Grundordnung!) Macht darüber hinwegzusetzen. Bei einem solchen - in hohem Maße auch sozialen - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ziel dürfen sich die Gewerkschaften nicht hinter der bei der SPD und der PDS) Festung der Tarifautonomie einmauern. Auch hier an dieser Stelle ist immer wieder klar ge- Ich appelliere eindringlich: Kommen Sie an den sagt worden, wie scharf die sozialen Konflikte sein Verhandlungstisch! Nehmen Sie Ihre Verantwortung werden. Sie, meine Damen und Herren von den Re- ernst und schließen Sie entsprechende Vereinbarun- gierungsfraktionen, behaupten immer, Sie täten das gen! Die Koalition müßte anderenfalls neu über die alles nur für den Standort: die Entlastung der Besser- Schranken der Tarifautonomie nachdenken verdienenden, die Belastung des unteren Drittels, die Einschnitte ins Arbeitsrecht, die Durchlöcherung so- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - zialer Sicherungen. Alles soll billiger, flexibler und Widerspruch bei der SPD und der PDS) reibungsloser werden. und zwingende Vorschriften erlassen. Aber Sie gehen den grundfalschen Weg, und Sie Vielen Dank. haben die Rechnung ohne den Wi rt gemacht. Die Auseinandersetzung, die jetzt kommt und die Sie (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne provoziert haben, wird in jeder Beziehung ungemein ten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Na, teuer: für die Volkswirtschaft insgesamt, für den so- Herr Laumann, und so etwas ist Ihr Koali zialen Frieden, für die einzelnen Bet riebe und für die tionspartner!) Kolleginnen und Kollegen und ihre gewerkschaft- 11242 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Annelie Buntenbach liche Vertretung. Sie produzieren ein völliges Stand- haben, ist vereinbart worden, daß die Sozialpartner ortchaos. in gemeinsamen Gesprächen Möglichkeiten zur Ver- ringerung von Fehlzeiten in den Betrieben suchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) (Jörg Tauss [SPD]: Das habt ihr nicht abge- wartet! - Weiterer Zuruf von der SPD: Ihr - Denn Sie haben doch den Arbeitgebern mit Ihrem habt doch vorher zugeschlagen!) Gesetz überhaupt erst die Möglichkeit gegeben und sie ermutigt, jetzt in die Offensive zu gehen und zu Von Wirtschaft und Gewerkschaften ist also im Hin- versuchen, die Kürzung der Lohnfortzahlung durch- blick auf die Fehlzeiten in den Betrieben Handlungs- zusetzen. Mit allen legalen und illegalen Mitteln - bedarf anerkannt worden. bis hin zum offenen Tarifbruch - wird das versucht. (Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch gar nicht Natürlich - das geht an Ihre Adresse, Herr Louven - wahr! Verdrehung der Tatsachen!) greifen Sie in die Tarifautonomie ein, wenn Sie die Rahmenbedingungen so verändern, wie Sie sie ver- Zweitens. Als man am 23. April wieder zusammen- ändert haben. Sie haben ein echtes Tarifchaos produ- kam, war das Ergebnis Null. Warum auch immer - ziert. ich habe die Ursachen hier nicht zu bewe rten -, die (Julius Louven [CDU/CSU]: Nein!) Sozialpartner waren nicht in der Lage, auf diesem wichtigen Feld innerhalb von drei Monaten einen - Doch! - Alle Tarifverträge haben sich auf das Ge- vorzeigbaren Fortschritt zu bewirken. setz zur Lohnfortzahlung gestützt; in den einen sind die 100 Prozent festgeschrieben, und in den anderen (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist wird auf das Gesetz verwiesen. Denn zu dem Zeit- doch nicht wahr, Herr Bohl! Das ist doch punkt, als diese Tarifverträge ausgehandelt worden eine Verhöhnung der Tarifpartner! Das ist sind, konnte kein Mensch wissen, daß es nötig sein unglaublich! - Weitere Zurufe von der SPD) würde, die 100 Prozent jenseits des Gesetzes explizit Drittens. Deshalb mußte die Bundesregierung han- festzuschreiben. Sie haben damit eine Ungleichbe- deln. Die Lohnfortzahlung stellt immerhin einen Ko- handlung und ein Durcheinander geschaffen, das stenblock von rund 60 Milliarden DM dar. erst nach jahrelangen Arbeitsgerichtsprozessen juri- stisch geklärt werden wird - höchstwahrscheinlich (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie haben zugunsten der betroffenen Kolleginnen und Kolle- nicht in die Betriebe geschaut, sonst wür- gen, denen das Jahre später aber nichts mehr nutzen den Sie nicht so reden!) wird. Dieser darf angesichts der schwierigen wirtschaft- Sie haben dieses Chaos ange richtet, in dem jetzt lichen Lage, in der wir uns befinden, kein Tabu sein. der Tarifbruch blüht. Es ist auch Ihre Verantwortung, Wir waren und sind der Auffassung, daß sich Arbeit das wieder zu unterbinden. Mit diesem Gesetz ha- mehr lohnen muß als Nicht-Arbeit und daß derje- ben Sie dafür gesorgt, daß die Lohnfortzahlung im nige, der nicht handelt, die wi rtschaftliche und so- Krankheitsfall in den nächsten Jahren immer wieder ziale Zukunft unseres Landes untergräbt und damit zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führen letztlich auch Arbeitslosen schadet. wird. Die Menschen werden auf dieses Stück soziale Gerechtigkeit nicht kampflos verzichten, und sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) werden den Tarifbruch nicht hinnehmen. Das ist Viertens. Im Aktionsprogramm für mehr Wachstum auch gut so, und wir werden sie dabei unterstützen. und Beschäftigung wurde daher am 25. April, also (Beifall bei Abgeordneten der PDS) zwei Tage später, die gesetzliche Neuregelung ange- kündigt, die dann am 13. September vom Deutschen Wenn sich die Bundesregierung bei ihren Aufrufen Bundestag mit 341 Stimmen, also allen Stimmen der zum sozialen Frieden und gegen den Bruch der Tari Koalition, endgültig beschlossen wurde. verträge nicht dem Vorwurf der Heuchelei aussetzen will, dann müssen Sie das einzig Sinnvolle tun und Fünftens. Einerseits gab es in der Bundesrepublik dieses Gesetz wieder zurücknehmen. Deutschland schon immer gesetzliche Bestimmun- gen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind jetzt geändert worden. Auf der anderen Seite bei der SPD und der PDS) gibt es seit Jahrzehnten tarifvertragliche Vereinba- rungen, die auf dem Günstigkeitsprinzip beruhen. In Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat Tarifverträge darf nicht eingegriffen werden. Dies Herr Bundesminister Bohl. war und bleibt die Grundlage der gesetzlichen Neu- regelung. Wir sind damals im Ap ril bei unseren Ge- sprächen informiert worden, daß 20 Prozent der Ar- Bundesminister für besondere Auf- Friedrich Bohl, beitnehmer von solchen gesetzlichen Regelungen gaben: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen nicht betroffen seien, daß also für 80 Prozent der Ar- und Herren! Lassen Sie mich zu diesem Thema in der beitnehmer eine tarifvertragliche Regelung bezüg- Aktuellen Stunde für die Bundesregierung zehn lich der vollen Lohnfortzahlung gegeben sei. Auf Feststellungen treffen. Grund dieser Zahlen ist seinerzeit auch die eine oder Erstens. Im „Bündnis für Arbeit und Standortsiche- andere kritische Anmerkung aus dem Arbeitgeber- rung", auf das sich am 23. Januar 1996 die Bundesre- lager an uns, die Koalition, ergangen, daß die vorge- gierung, Wirtschaft und Gewerkschaften verständigt sehene Neuregelung nicht weit genug gehe. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11243

Bundesminister Friedrich Bohl Sechstens. Bestehende Tarifverträge sind einzu- Herzlichen Dank. halten. So wird die Bundesregierung selbstverständ- lich die Entgeltfortzahlungsregelung des Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) angestelltentarifvertrages ungeachtet der gesetzli- chen Neuregelung anwenden, bis sie durch andere Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der- vertragliche Abmachungen ersetzt ist. Kollege Peter Dreßen, SPD. Siebtens. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Die Bundesregierung hält die Absenkung der Lohn- Peter Dreßen (SPD): Herr Präsident! Meine Damen fortzahlung für wirtschaftlich geboten und wird sie und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von in ihrem Zuständigkeitsbereich, nämlich im öffent- der PDS, wir sind in der Kritik an den nun durchge- lichen Dienst, auch realisieren. drückten Änderungen bei der Lohnfortzahlung zu- meist einer Meinung gewesen, und wir haben auch (Beifall bei der F.D.P.) Verständnis für diese aktuelle Debatte. Nachdem ich jetzt gerade die Reden gehört habe, erscheint es mir Sie erwartet allerdings, daß dieses Ziel auf rechtlich dringend notwendig, darüber zu reden; gesichertem Boden vollzogen wird. Wo also Tarifver- träge die Absenkung auf 80 Prozent nicht hergeben, (Beifall bei der PDS) muß, wie im öffentlichen Dienst, der beschwerliche denn wenn man in der Tarifpolitik nur einseitig dar- Weg der Kündigung der Tarifverträge und deren über nachdenkt, wie man die Arbeitnehmer be- Neuverhandlungen gewählt werden. schneiden kann, und auf der anderen Seite über- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haupt nicht nachfragt, dann frage ich mich, was das eigentlich für eine A rt von Verhandlungen ist. Wo es keine klaren tariflichen Bestimmungen gibt, (Beifall bei der SPD) mag die Beschreitung des Rechtswegs unumgäng- lich sein. Dafür trägt dann aber in unserem Rechts- Von der Regierungsseite wird ja a lles kritisiert, was staat nicht die Bundesregierung die Verantwortung. die Tarifparteien in der Vergangenheit gemacht ha- Dies müssen sich die Tarifvertragsparteien zurech- ben: zu kurze Arbeitszeit, zu langer Urlaub, Lohnfort- nen lassen. zahlung im Krankheitsfalle. Das alles soll schlecht sein. Wenn diese Regierung die Lohn- und Tarifver- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie müs handlungen geführt hätte, dann würde es in sen ein eindeutiges Gesetz verabschieden!) Deutschland so aussehen, daß wir wahrscheinlich 60 Stunden Arbeitszeit in der Woche, vielleicht zehn Achtens. Ich wiederhole den Appell des Bundes- Tage Urlaub im Jahr hätten, im Krankheitsfall kanzlers vom Montag dieser Woche an die Tarifver- 50 Prozent Lohnfortzahlung bekämen. Also, auf de n tragsparteien, Augenmaß zu bewahren und keine Staat verzichte ich gern, Frau Babel. Da bin ich heil- Vorgehensweise zu wählen, die die Situation eska- froh, daß Sie in Ihren Reihen nicht die Macht haben, lieren läßt und zu wirtschaftlichen Schäden führen da etwas zu verändern. kann. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Neuntens. Die Neuregelung gibt den Tarifpartnern Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE die Verantwortung für die Entgeltfortzahlung ein GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Bil- Stück weit zurück. Unser Respekt vor der Tarif auto- lige Polemik!) nomie geht mit der Erwartung an die Tarifparteien einher, den erweiterten Regelungsspielraum auch Gerade haben wir den Herrn Minister gehört. durch intelligente und tragfähige Lösungen auszu- Auch da zog sich das wie ein roter Faden durch: Die füllen. Arbeitnehmer sollen überall bluten. Aber fragen Sie doch einmal, was für Möglichkeiten die Bet riebsräte Wo Neuverhandlungen anstehen, sollten die Tarif- haben, unfähige Manager zu entlassen. vertragsparteien zum Konsens fähig sein. So läßt sich denken, Sonderzahlungen in Abhängigkeit von der (Beifall bei der PDS) Anwesenheit zu staffeln. In der chemischen Indust rie Fragen Sie doch mal, welche Möglichkeiten die Be- - wiederum erweisen sich die Sozialpartner dieses triebsräte haben, wenn inländische Tochterfirmen Wirtschaftszweiges als Ideengeber für andere - gibt ausgeraubt werden und sie ihre Arbeitsplätze verlie- es dafür zumindest interessante und diskussionswür- ren. Was haben sie denn da für Möglichkeiten? Den- dige Ansätze. ken Sie doch einmal darüber nach, wie Sie den Be- triebsräten da helfen können, anstatt hier immer wie- Zehntens. Die Welt hat sich nicht nur politisch der neue Dinge aufzumachen und danach zu fragen, grundlegend verändert; die wirtschaftlichen Rah- wie man das eine oder andere lösen kann. menbedingungen für unser Land ändern sich eben- falls dramatisch. Die Sozialpartner müssen dies er- Frau Babel, bei der ganzen Geschichte, die Sie vor- kennen. Der Verantwortung, die ihnen unsere Ge- gebracht haben, frage ich mich, ob Sie überhaupt sellschaftsordnung zuweist, müssen sie gerecht wer- noch auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wir den. Alle Beteiligten müssen ihren Beitrag leisten, sind uns doch, glaube ich, einig, daß die Tarifautono- damit in unserem Land mehr Wachstum, mehr Be- mie im Grundgesetz verankert ist. Wenn ich so höre, schäftigung und weniger Arbeitslose Wirklichkeit wie Sie hier so nonchalant praktisch den Inhalt be- werden. nennen, wie Sie da Veränderungen wollen, dann 11244 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Peter Dreßen frage ich mich wirklich, ob Sie noch auf dem Boden Von Moral keine Spur, weder bei den Standortstrate- des Grundgesetzes stehen, ob Sie nicht überlegen gen noch bei den Erfüllungsgehilfen in der rechten müßten, ob Sie im Parlament noch den richtigen Hälfte des Hauses. Sie wollen diese Republik verän- Platz haben. dern. Notfalls wird auch die Tarifautonomie gekippt, wie wir von Frau Babel gehört haben. Die Krokodils- (Beifall bei der SPD und der PDS) tränen des Kanzlers und seines Arbeitsministers die- nen nach meiner Auffassung einer reinen Verschleie- Wenn man also hört, daß die Tarife jenseits der rungstaktik. Realität sind, dann frage ich mich, wie es aussehen würde, wenn Ihre Realität durchkäme. Sie, Herr Lou- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ven, und die CDU kommen mir nach der Verabschie- GRÜNEN und der PDS) dung dieses Gesetzes und nachdem es jetzt draußen Schwierigkeiten gibt, vor wie jemand, der nach dem Motto lebt: Wasch mir den Pelz, aber mach mich Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der nicht naß! Lassen wir die da draußen mal streiten; sa- Kollege Dr. Ramsauer, CDU/CSU. gen wir auch, wir sind für die Tarifautonomie. - Aber in Wirklichkeit wollen Sie eine ganz andere Repu- blik. Das ist es, was ich Ihnen vorwerfe, daß Sie hier Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! etwas ganz anderes im Schilde führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wirklich der Flächenbrand herrschen Natürlich müssen wir feststellen, daß es Tarifver- würde, von dem hier dauernd die Rede ist, wenn träge gibt, wo die Kürzung der Lohnfortzahlung im wirklich der soziale Kahlschlag im Gange wäre, der Krankheitsfalle durchaus zulässig ist, aber wir wissen dauernd prognostizie rt wird, dann hätte das Thema auf der anderen Seite auch, daß es hieb- und stichfe- Lohnfortzahlung hier wahrlich eine größere Präsenz ste Tarifverträge der Metallindustrie gerade in Ba- der Opposition verdient, zumal die Aktuelle Stunde den-Württemberg gibt, die eben die Lohnfortzahlung von dort beantragt worden ist. festschreiben. Deswegen wundere ich mich, was Daimler-Benz jetzt mit seinen Beschäftigten anstellt. (Beifall bei der CDU/CSU) Da kann ich den Betriebsratsvorsitzenden Karl Es tut mir leid, daß Herr Scharping jetzt gegangen Feuerstein nur unterstützen, wenn er mit allen Mit- ist. Nach seinen Einlassungen neulich hätte mich in- teln dagegen vorgeht, um hier Rechtsbruch zu ver- teressiert, wie die Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer hindern. Was würden Sie eigentlich den Gewerk- in Mexiko geregelt ist. Das wäre einmal etwas, womit schaften sagen, wenn die sich so verhalten würden, er die deutsche Öffentlichkeit überraschen könnte. wie das zur Zeit die Arbeitgeber tun? (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE SPD) GRÜNEN und der PDS) Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal Was würden Sie denen vorwerfen? Rechtsbruch wäre unterstreichen, um was es uns als Gesetzgeber bei wahrscheinlich der kleinste Vorwurf, der kommen dieser Neuregelung gegangen ist. würde. Das wäre der kleinste. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Eingriff in Das Erschreckendste an all diesen Ereignissen ist, die Tarifhoheit!) wie gesagt, dieser offene Vertragsbruch. Ich habe mich gewundert, wie so etwas hier gemacht wird Wir wollten nicht in Tarifverträge eingreifen. Die und wie man in dieser Geschichte verfährt. Neuregelung sollte dort sofort gelten, wo überhaupt keine Tarifverträge bestehen oder es zwar Tarifver- Ich will Ihnen nur sagen: Nach dem unendlichen träge gibt, in denen aber in bezug auf die Lohnfort- Geschrei, wie das Motto hier immer wieder heißt, der zahlung nur deklaratorische Regelungen getroffen Standort sei in Gefahr, deswegen müßten wir diese sind. Dinge machen, frage ich mich immer wieder, wie weit eigentlich Ihre Hemmschwelle nach unten geht, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist ein um das eine oder andere zu machen. Ich frage mich Eingriff in die Tariffreiheit!) eigentlich auch, wer das Land regiert, Wenn jetzt das Arbeitgeberlager reagiert, dann tut (Zuruf von der CDU/CSU: Wir, Gott sei es nichts anderes als die neu gegebenen Spielräume Dank!) im Gesetz auszunutzen. wenn ich sehe, wie die Arbeitgeber Sie beeinflussen (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist ein und wie Sie das alles treu und brav tun. Eingriff in die Tariffreiheit!) Im übrigen ist der Einwurf des Kanzlers zu dieser Das erwarten wir als Gesetzgeber auch. Wir haben Geschichte unredlich. Was hier im Arbeitgeberlager die Kanzlermehrheit eingesetzt, um das durchzuset- zum Ausdruck kommt, ist das Ergebnis einer einseiti- zen. Das haben wir doch nicht aus Jux und Tollerei gen geistig-moralischen Wende. Hier kämpft einer getan. Nein, hier werden jetzt neue Spielräume ge- gegen die Geister, die er selber gerufen hat. nutzt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Kanzler- GRÜNEN und der PDS) mehrheit bricht Verfassung!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11245

Dr. Peter Ramsauer Die Spielräume sind in den Tarifverträgen gegeben. Sie tun immer so, als ob das Kapitalismus pur wäre, Weil es gegebene Spielräume sind, werden zunächst sozialer Kahlschlag, Abbau und Ruin des Sozial- Tarifverträge auch nicht gekündigt. staats.

Wenn solche Spielräume nicht gegeben sind, dann (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es! - gibt es die Möglichkeit, daß die entsprechenden Ta- Genauso ist es!) rifverträge gekündigt werden müssen. - Überhaupt nicht! Sie und Ihre Kollegen in den Ge- (Klaus Hasenfratz [SPD]: Wieso „müssen"?) werkschaften draußen tun immer so, als ob wir damit beseitigen würden, was 1957 erstreikt worden ist. Dann gibt es immer noch § 4 Abs. 5 des Tarifver- tragsgesetzes mit der Nachwirkung der bestehenden (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das haben Regelungen. An dieser Bestimmung im Tarifver- Sie dem Arbeitnehmer geraubt!) tragsgesetz wird nicht gerüttelt. Nein, wir haben jetzt immer noch bessere Lohnfort- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aber an zahlungsbedingungen als damals. die Verfassung habt ihr nicht gedacht?) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Lohnraub Hier sitzt ohnehin das Arbeitnehmerlager am viel ist es, was ihr macht!) längeren Hebel. Sie wollen doch nicht behaupten, daß es 1957 in Jetzt möchte ich etwas anderes aufgreifen. Frau Deutschland keinen Sozialstaat gegeben habe. Knake-Werner hat von einem Flächenbrand geredet. Sie hat davon geredet, daß Arbeitnehmer jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - schutzlos der Willkür der Arbeitgeber ausgeliefert Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist seien, und ähnliche Szenarien dargestellt. Sie tun im- unglaublich, was Sie machen!) mer so, als ob mit dieser gesetzlichen Neuregelung der Lohnfortzahlung das abgeschafft würde, was Meine Damen und Herren, natürlich müssen alle 1957 mit dem 16wöchigen Streik in Schleswig-Hol- Seiten jetzt die gegebenen Spielräume verantwort- stein geschaffen worden ist. lich nutzen und dürfen keinen Amoklauf machen. Ich habe in den letzten Wochen interessiert verfolgt, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das haben wo der DGB wieder überall anpackt. Die Lohnfort- die Arbeitgeber bezahlt bei den Lohnver zahlungskiste reicht nicht. Jetzt wird auch mit De- handlungen!) monstrationen vor Arbeitsämtern gegen das Arbeits- förderungs-Reformgesetz vorgegangen. Ich will Ihnen zur Auffrischung des zeitgeschichtli- chen Wissens einmal vorlesen, was damals, 1957, er (Peter Dreßen [SPD]: Ein Arbeitsförderungs- streikt worden ist: Rückschrittgesetz ist das!)

Im Fall der Arbeitsunfähigkeit erhält ein Arbeiter Was fällt Ihnen denn noch alles ein, wo Sie bremsen vom vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit an, das können? Sie sind die Oberbremser der Nation. heißt nach drei Karenztagen, eine Geldleistung in Höhe von 90 Prozent seines Nettolohns. (Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P.)

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Bis das Wer glaubt, mit einer 100prozentigen Lohnfortzah- ausgedehnt worden ist, haben sie null Pro lung in eine Richtung weiterfahren zu können, in die zent gegeben!) in Europa niemand mehr fährt, wo vielmehr alle in die andere Richtung fahren, ist ein sozialpolitischer Diese setzt sich zusamamen aus einem Kranken- Geisterfahrer. Das paßt nicht mehr in die L andschaft geld, ausgezahlt von den Krankenkassen, in eines globalen Wettbewerbes. Höhe von 50 Prozent und einem Arbeitgeberzu- schuß von 40 Prozent, der tarifvertraglich zugesi- Meine Damen und Herren, deswegen rufe ich alle chert wurde. in diesem Hause auf, mit den Aufgeregtheiten aufzu- hören, zur sachlichen Basis zurückzukehren, die so- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das zialpolitischen und die tarifrechtlichen Gegebenhei- hat man Ihnen aufgeschrieben! Damit ten anzuerkennen und die Leute nicht verrückt zu haben Sie sonst nie zu tun!) machen, damit wir Ruhe an diese Front bekommen.

Das Ganze war je nach Betriebszugehörigkeitsdauer (Lachen bei der SPD und der PDS - Wil- des Arbeitnehmers auf drei bis vier Wochen be- helm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erst das schränkt. Feuer unter dem Hintern anzünden und dann die Feuerwehr anrufen!) Meine Damen und Herren, das ist doch immer noch weniger an Schutz als jetzt nach Neuregelung Die deutschen Arbeitnehmer haben nämlich die Pa- mit der Fortzahlung von 80 Prozent des Lohnes. nikmache satt, die die Opposition hier betreibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Besten Dank. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ihr habt den Arbeitnehmern den Lohn geraubt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 11246 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der gung aufrufen und einen Tag später die großen Kon- Kollege Dr. Gysi, PDS. zerne mitteilen, (Zuruf von der CDU/CSU: Sozialismus muß (Zuruf von der SPD: Schauspieler!) wieder her, das wissen wir! - Gegenruf von der PDS: Natürlich!) daß sie das überhaupt nicht interessiert, sondern völ-- lig unabhängig von dem, was in den Tarifverträgen steht, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab dem Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da- 1. Oktober reduzieren, dann machen die etwas, das men und Herren! Herr Ramsauer, Sie haben eben ge- ich schon ganz spannend finde: Die führen nämlich sagt, die Gewerkschaften in dieser Gesellschaft seien den Bundeskanzler am Nasenring durchs Land und die Oberbremser der Nation. sagen: Ihr habt uns den Freibrief gegeben, jetzt nut- zen wir ihn auch; eure Mahnungen könnt ihr euch (Zurufe von der CDU/CSU: Sie haben wir sonstwohin stecken. gemeint!) (Beifall bei der PDS) - Nein, Sie haben damit die Gewerkschaften ge- meint und deren Demonstrationen vor Arbeitsämtern So sieht im Augenblick die gesellschaftliche Reali- und anderen Gebäuden. Sie haben eindeutig auf die tät aus: Die Arbeitgeber sind völlig außer Rand und Gewerkschaften gezielt. Band und glauben, sie könnten sich jetzt alles erlau- ben. Würden die Gewerkschaften an dieser Stelle (Beifall bei der PDS) nicht die Notbremse ziehen, hätten sie künftig in Ta- Dazu erwidere ich folgendes: Die Arbeitnehmerin- rifverhandlungen und anderen Auseinandersetzun- nen und Arbeitnehmer sind immer noch diejenigen, gen gar keine Chance mehr. die in dieser Gesellschaft den Reichtum produzieren. Sie und ihre Interessenvertretung zu beschimpfen (Beifall bei der PDS) steht Ihnen einfach nicht zu, weil Sie von diesem Eines sei auch ganz deutlich gesagt: Wenn Tarif- Reichtum profitieren. verträge gekündigt oder gebrochen werden, besteht (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne keine Friedenspflicht mehr. Und kommen Sie dann ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - hinterher nicht mit Aufrufen an die Gewerkschaften, Zuruf von der CDU/CSU: Aber Ihnen auch sie sollten zur Deeskalation beitragen. Denn wenn nicht!) die anderen eskalieren, muß auch die Gewerkschaft das Recht haben, sich zu wehren. Anders kann sie - Das mache ich auch nicht. Gegen Ihren Vorschlag, ihre Aufgaben nach dem Grundgesetz und ihrer Stel- den Sozialismus wieder einzuführen, habe ich über- lung in der Gesellschaft überhaupt nicht erfüllen. haupt nichts, sofern wir uns auf einen demokrati- schen Sozialismus verständigen. Ein undemokrati- (Beifall bei der PDS) scher, diktatorischer Sozialismus kommt für mich al- Sie haben darauf hingewiesen, daß es eine hun- lerdings nie wieder in Frage. dertprozentige Lohnfortzahlung nur in Deutschland (Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange haben gebe. Das ist natürlich falsch; es gibt sie auch in Sie freie Gewerkschaften verhindert?) Österreich. Sie haben darauf hingewiesen, daß die Kürzung der Lohnfortzahlung in Schweden den Sie haben davon gesprochen, daß mit dem Gesetz Krankenstand halbiert habe. Es ist interessant, wie zu keinem Zeitpunkt geplant gewesen sei, in Tarif- Sie sich die Zahlen aus der Welt zusammensuchen, verträge einzugreifen. die Sie gerade gebrauchen können. Nur müssen Sie dann folgendes hinzufügen: Der Krankenstand in (Zuruf von der CDU/CSU: FDGB!) Schweden betrug 9 Prozent und ist auf 5 Prozent re- Aber wer hätte Sie denn daran gehindert, trotz die- duziert worden. Bei uns beträgt er schon jetzt nur ses schlechten Gesetzes eine Klausel aufzunehmen, 4 Prozent. Auf welches Niveau wollen Sie ihn denn die klar festlegt, daß diese Regelung - wenn über- noch reduzieren? haupt - ihren Niederschlag nur in neuen Tarifverträ- Wissen Sie, was dahintersteckt? Das ist die Hoff- gen finden darf und in bisherige nicht eingreift? Das nung, daß Kranke immer noch zur Arbeit gehen, weil hätten Sie doch gesetzlich regeln können. Indem Sie sie sich die Reduzierung der Lohnfortzahlung nicht das nicht geregelt haben, haben Sie den Arbeitge- leisten können. Das ist wirklich zutiefst inhuman. bern ausdrücklich den Freibrief ausgestellt, den sie jetzt nutzen. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der PDS) ten der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Blödsinn!) Deshalb ist es einfach nicht ehrlich, daß Sie gleich- zeitig so tun, als hätte gar nicht die Absicht bestan- - Das ist „Blödsinn"? Dann erklären Sie mir doch ein- den, in Tarifverträge einzugreifen. mal bitte, warum Sie nicht wenigstens für Schwan- gere eine Ausnahmeregelung vorgesehen und ge- Noch etwas: Vielleicht haben der Bundeskanzler und sagt haben, daß sie im Krankheitsfalle 100 Prozent auch der Bundesarbeitsminister tatsächlich einen Lohnfortzahlung bekommen. Schreck bekommen über die A rt der Eskalation. Wenn sie aber am Montag die Arbeitgeber zur Mäßi (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11247

Dr. Gregor Gysi Was erwarten Sie von Schwangeren? Daß sie sich Räson zu bringen; sonst bekommen Sie eine andere krank zum Arbeitsplatz schleppen? Was Sie hier ver- Bundesrepublik Deutschland, die nicht mal Sie selbst abschiedet haben, das ist doch einfach indiskutabel. wollen können. (Beifall bei der PDS - Zurufe von der CDU/ (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- CSU) ten der SPD) - Wenn Sie keinen Eingriff in die Tarifautonomie wollen, aber Ihre 80 Prozent beibehalten möchten, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege frage ich Sie: Warum bauen Sie die Klausel, von der Dr. Ramsauer, „Fälschung" hätte ich durchlaufen las- ich eben gesprochen habe, nicht nachträglich ein? sen müssen; „Fälscher" kann ich nicht akzeptieren. Wenn es wirklich nicht in Ihrer Absicht liegt, sich in (Zuruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ laufende Tarifverträge einzumischen, dann hätten CSU]) Sie fast heute noch die Möglichkeit, das sofort wieder einzufügen. Wir können ganz schnell in den Aus- - Sie fragen so dezidiert nach - ich wollte das offen- schüssen beraten und hier eine entsprechende Er- lassen -: Das heißt, daß Sie damit einen Ordnungsruf gänzung verabschieden. bekommen haben. Sie greifen die mangelnde Präsenz auf der Opposi- (Zuruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ tionsseite an. Wir sind auf jeden Fall mehr als Sie. CSU]) Wir können gleich noch mal über das Lohnfortzah- - Es tut mir außerordentlich leid, diskutieren Sie mit lungsgesetz abstimmen - dann ist es weg. mir darüber nicht, Herr Dr. Ramsauer. Das Prinzip ist (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne klar: Wenn eine abwertende Bemerkung auf die Per- ten der SPD) son zielt, ist sie nicht akzeptabel; wenn eine sachli- che Darstellung zum Beispiel mit dem Substantiv Das geht in der Aktuellen Stunde aber leider nicht. „Fälschung" erfolgt, läuft sie nach den Regeln durch. Soweit kenne ich mich in der Geschäftsordnung noch aus. Jetzt hat das Wo rt Herr Bundesminister Blüm. Ich sage aber auch etwas an die Adresse der Grü- nen und der SPD. Ich habe an die Vorstände beider Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Fraktionen geschrieben. Ich halte dieses Gesetzespa- Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und ket in beachtlichen Teilen für grundgesetzwidrig. Ich Herren! Herr Kollege Gysi, Sie haben heute ein Plä- meine, daß ein Drittel der Abgeordneten des Bundes- doyer für Gewerkschaftsrechte gehalten. Lieber Herr tages durchaus in der Lage wäre, ein Normenkon- Gysi, angesichts des Verhältnisses der SED zu freien trollverfahren einzuleiten. Wir könnten sofort eine Gewerkschaften möchte ich sagen: einstweilige Anordnung beantragen, das Gesetzge- (Lachen bei der PDS) bungsverfahren auszusetzen, bis in der Hauptsache entschieden ist. Ich weiß nicht, wie entschieden wird. Das ist so, als würde die Fleischerinnung eine Akti- Ich glaube aber, es wäre für die Gewerkschaften und onswoche für Vegetarier veranstalten wollen. für die Belegschaften eine Hilfe, dagegen nicht ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - fach nur Stellung zu beziehen. Man sollte zwar nicht Zuruf von der SPD: Ach, hör doch auf!) bei jeder gesetzlichen Regelung weitergehende Maßnahmen ergreifen; aber hierbei geht es um eine Doch! Da muß ich einmal an die Unterdrückung der ganz wichtige Regelung, bei der die Rahmenbedin- freien Gewerkschaften in der DDR erinnern. Nicht gungen der Bundesrepublik Deutschland verändert „hör auf" ! Sozialdemokratische Gewerkschafter sind werden. Das sollte man nicht einfach hinnehmen. ins Gefängnis gewandert. (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Peter (Zuruf von der SPD: Das wissen wir!) Dreßen [SPD]: Bei den Ju risten weiß ich Darin unterscheiden wir uns von diesem Staat, Gott schon, was rauskommt!) sei Dank. Ich wollte das nur klarstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie müssen zum Schluß kommen. Ich möchte zu zwei Punkten Stellung nehmen: zur Sache selber und zu den Spielregeln. Dr. Gregor Gysi (PDS): Da sollten Sie nicht auf den (Zuruf von der SPD: Es gibt keine Spielre- langwierigen Gerichtsweg verweisen. Wir könnten geln mehr!) gleich etwas unternehmen. Zur Sache selber. Die Einschränkung der Lohnfort- zahlung halte ich für einen maßvollen Beitrag zum Sie sind am Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Umbau des Sozialstaates. Angesichts der Verände- Schluß Ihrer Redezeit, dürfen aber noch einen Satz rungsnotwendigkeiten, die ins Haus stehen, ist es ein sagen. bescheidener Beitrag. Rund 1,5 Bil lionen DM beträgt die Lohnsumme. Die Lohnfortzahlung macht Dr. Gregor Gysi (PDS): Gut, Herr Präsident. - Ich 60 Milliarden DM aus, und die Kürzungen können hoffe, daß Sie Ihre vielfältigen Beziehungen zu den die Arbeitnehmer darüber hinaus durch Einsetzen Arbeitgeberverbänden nutzen, um sie endlich zur von Urlaub verhindern. 11248 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Herr Dreßen, von wegen „ausbluten" - bleiben Sie Drittens. Dort, wo der Tarifvertrag konstitutiven doch mal ein bißchen in der Nähe der Realität! Das Charakter hat, muß gekündigt werden. Lohnfortzahlungsgesetz ist ein Unikum. Es ist doch im Sinne unseres Sozialstaates, daß es einen Abstand (Zuruf von der SPD: Wieso „muß"?) zwischen Lohn und Lohnersatz geben muß. Das halte ich für ein Gebot unseres Sozialstaates - auch, Lieber Herr Kollege Dreßen, die Kündigung ist ein um ihn vor Mißbrauch zu schützen. Wenn kein An- ordentliches Instrument der Tarifautonomie. Sie kön- reiz zur Arbeit besteht, wenn sich die Arbeit nicht nen doch in bezug auf den Tarifvertrag nicht der mehr rentiert, dann brauchen Sie den Kontroll- und Meinung sein, daß ein einmal beschlossener Tarif- Polizeistaat. Den wollen wir nicht. Deshalb halte ich vertrag für alle Zeiten gilt. es für den Ausdruck einer freiheitlichen, solidari- schen Gesellschaft, einen Abstand zu halten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Das Instrument der Kündigung gibt es seit eh und je. Eine Kündigung, Herr Dreßen, kann ja nicht nur In diesem Pulverdampf der Auseinandersetzung dann erlaubt sein, wenn draufgesattelt werden soll. geht das ganz unter: Die Einkommenseinbußen Wenn ich Ihre Philosophie richtig verstanden habe, durch Einschränkung der Lohnfortzahlung können dann besagt sie, daß man nur dann kündigen darf, durch den Einsatz von Urlaubstagen ausgeglichen wenn man Mehrleistungen anbietet. Das wäre aller- werden. dings ein sehr einseitiges Kündigungsrecht. Das würde auch den Tarifvertrag unbeweglich machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das wäre ein Abschied von jeder Veränderung in un- Selbst wenn man für sechs Wochen Lohnfortzahlung serer Gesellschaft. Damit würde man sozusagen un- sere Gesellschaft in Zement gießen. sechs Urlaubstage einsetzt, hat man noch immer mehr Urlaub als in den meisten anderen Ländern der Denen, die das Wort „ausbluten" und all die ande- Erde, auch mehr als in Mexiko, das stimmt; die ha- ren großen Worte benutzen, sage ich: Es geht um das ben dort nur 12 Tage Urlaub. Dann sind wir hinsicht- Recht. lich der Menge des Urlaubs auf dem Status von 1976 angekommen. Selbst wenn wir sechs Tage einsetzen, (Peter Dreßen [SPD]: Es geht um Rechts- ist die durchschnittliche Länge des dann noch ver- bruch, Herr Minister!) bleibenden Urlaubs auf dem Niveau von 1976. Das können Sie ja nicht zu einer schlechten Zeit erklären; Dort, wo es keinen Tarifvertrag gibt - ich wiederhole das war die sozialliberale Zeit. Damals gab es sechs mich -, gilt das Gesetz unmittelbar. Do rt, wo der Ta- Tage weniger Urlaub. Selbst wenn sechs Tage für rifvertrag nur deklaratorisch ist, sich also auf das Ge- den Ausgleich eingesetzt werden, ist der dann ver- setz bezieht, gilt das Gesetz. Do rt, wo der Tarifver- bleibende Resturlaub auf dem Niveau des Jahres trag eigenständige Regelungen vorsieht, gilt er. Do rt 1976. Also lassen Sie die Kirche im Dorf; lassen Sie ll ich aus- können nur durch Kündigung - das wi uns über einen - ich sage: maßvollen - Umbau reden. drücklich betonen - die neuen Spielräume der Ver- Ich vertrete hier ja nicht die Hausputzabteilung. änderung gewonnen werden.

Zum zweiten Punkt. Die Tarifautonomie ist ein ho- (Zuruf von der SPD: Es wird doch gerade hes Gut. Sie ist verfassungsrechtlich geschützt. Sie gebrochen!) verdanken wir der klugen Erkenntnis, daß der Staat nicht alles regeln kann. Das haben wir klar in unse- - Ja, auch ich bin dagegen, daß die Arbeitgeber do rt rem Gesetz zum Ausdruck gebracht. Was sollen wir etwas machen, wo sie es nicht können, und daß sie denn sonst noch regeln? Sollen wir hinten in das Ge- dort, wo sie etwas machen können, nichts machen. setz hineinschreiben, daß das Gesetz gilt? Oder sol- Das finde ich inkonsequent. len wir in das Gesetz hineinschreiben, welcher Tarif- vertrag deklaratorisch und welcher konstitutiv ist? In der Tat, die Instrumente sind vorhanden. Wir ha- Das ist das einzige, was Sie noch tun könnten. Sollen ben unsere Hausaufgaben gemacht, getreu unserem wir jetzt Hunderte, Tausende von Tarifverträgen im den Sozialpartnern gegebenen Wo rt. Am 23. April Gesetz aufführen und sagen, welche von ihnen de- haben wir in einem Gespräch mit den Sozialpartnern klaratorisch und welche konstitutiv sind? die Einschränkung der Lohnfortzahlung angekün- digt und haben ausdrücklich erklärt, daß es keinen Es ist über jeden Zweifel erhaben - dazu stehen Eingriff in die Tarifautonomie geben soll. wir -, daß mit der Einschränkung der Lohnfortzah- lung kein Eingriff in die Tarifautonomie verbunden Ich bitte beide Seiten, die Spielregeln einzuhalten. ist. Die Spielregeln sind ein hohes Gut, wenn es um Kon- fliktlösung geht. Sie haben eine Es gibt drei Fallgruppen. friedensstiftende Funktion; an sie sind alle gebunden. Ich sage das, Erstens. Wo es keinen Tarifvertrag gibt, gilt das damit das ganz klar ist. Die Spielregeln gelten auch Gesetz unmittelbar. Dann kann zur Kompensation für die Arbeitgeber; sie gelten ebenfalls für die Be- natürlich auch ein Urlaubstag eingesetzt werden. triebsräte. Um das ebenfalls klarzustellen: Betriebs- räte können keine Arbeitskampfmaßnahmen ergrei- Zweitens. Dort, wo der Tarifvertrag deklaratori- fen. Das ist gegen das Bet riebsverfassungsgesetz. schen Charakter hat, gilt das Gesetz ebenfalls. Wer die Flächentarifverträge verteidigt - zu denen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11249 Bundesminister Dr. Norbert Blüm gehöre ich -, der darf nicht den Bet rieb zum Kampf- Herr, die Not ist groß, platz der Tarifpolitik machen. Die ich rief, die Geister, Werd' ich nun nicht los; (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aber die Arbeitgeber dürfen das machen!) Sie von der Regierungskoalition werden die Geister aus dem Unternehmerlager, die Sie sich als Wahlhel- - Deshalb bleibe ich dabei: Die Einschränkung bei fer 1994 gerufen und die damals der Bevölkerung der Lohnfortzahlung ist eine Veränderung mit Au- einen konjunkturellen Aufschwung und mehr Ar- genmaß. Der Einsatz eines Urlaubstages für die Kom- beitsplätze versprochen hatten, nicht mehr los. pensation ist zumutbar; auch dann ist der Anspruch auf Urlaub immer noch hoch und ist tarifvertraglich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- gesichert. In der Tat kann Umbau doch nicht nur so ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) funktionieren, daß immer nur draufgesattelt wird. Die Rechnung hat Ihnen Herr Murmann direkt Die Gesellschaft muß doch veränderungsfähig sein. nach der Wahl präsentiert. Und Sie sind ja mit Ihren Die Tarifpartner hätten sich selber um ihre Legitima- unsozialen Leistungskürzungen eifrig dabei, gegen tion gebracht, wenn sie nur fähig wären, bei gutem den großen Widerstand der Opposition, der Gewerk- Wetter Mehrleistungen zu vereinbaren. schaften, Kirchen und Sozialverbände den Forde- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungskatalog der Unternehmer abzuarbeiten. Dann hätten sie einen Teil ihrer Gestaltungsfunktion (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Lesen Sie verloren. Da ich ein überzeugter Anhänger der Tarif- mal, was die Bischofskonferenz dazu sagt!) autonomie bin Was Mercedes, Siemens und andere Firmen jetzt an (Zuruf von der SPD: Wir auch!) Verstößen gegen geltendes Tarifvertragsrecht prakti- zieren wollen, ist auch nicht der erste Sündenfall. Ich - sie ist ein Stück Subsidiarität -, verteidige ich sie. erinnere an das Entsendegesetz. Nur, dann muß auch die Bereitschaft zur Weiterent- wicklung vorhanden sein. Aber Weiterentwicklung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- kann nicht immer nur heißen: Draufsatteln. Das gilt ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gerade in dieser Zeit. und der PDS) Ich sage: Alle Seiten müssen ihren Beitrag leisten, Wenn die Arbeitgeberverbände der Metallindu- der Gesetzgeber, die Gewerkschaften, auch die Ar- strie, obwohl sie sich der verfassungsrechtlichen beitgeber. Der Sinn der ganzen Übung war - ich wie- Fragwürdigkeit ihrer Position bewußt sein müßten, derhole mich -, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und ihren Mitgliedsorganisationen empfehlen, das geän- durch Kostenentlastung einen Beitrag dazu zu lei- derte Entgeltfortzahlungsgesetz ab 1. Oktober anzu- sten. Ich plädiere dafür, daß diese Chance genutzt wenden, setzen diese bewußt den sozialen Frieden in wird. Im Interesse der Arbeitslosen ist ein Umbau un- unserem Land aufs Spiel. Zur Begründung behaup- umgänglich, aber unter Beachtung der Spielregeln. ten die Arbeitgeberverbände pauschal, sämtliche Regelungen zur Lohnfortzahlung in Tarifverträgen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hätten rein deklaratorischen Charakter. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bedeutet das, ein eigener Gestaltungswille der Tarifparteien Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die habe bei Abschluß der Tarifverträge nicht vorgele- Kollegin Erika Lotz, SPD. gen; insofern sei die gesetzliche, jetzt neugefaßte Re- gelung anzuwenden. Erika Lotz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Eine Mehrheit der betroffenen Tarifverträge nimmt nen, liebe Kollegen! Herr Bundesarbeitsminister, das noch nicht einmal Bezug auf das Gesetz. Hier gibt es Ziel des erkämpften Lohnfortzahlungsgesetzes war, nun gar keinen Spielraum mehr für juristische Deu- die Familien davor zu schützen, daß sie durch Krank- teleien. Die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall heit Not leiden. Das Ziel war, die Arbeiter mit den gilt unverändert weiter, wenn sie im Tarifvertrag aus- Angestellten gleichzustellen. Es wurde letztendlich drücklich erwähnt ist. Dies sieht auch der Präsident durch Verzicht auf Lohnerhöhungen bezahlt. Das des Bundesarbeitsgerichtes Dieterich so. wird hier rückgängig gemacht. Was machen nun die Arbeitgeber? Sie degradieren (Beifall bei der SPD und der PDS) ihre eigenen Tarifverträge zu unverbindlichem Pa- Ich weiß, wovon ich rede; ich habe 30 Jahre lang in pierkram und behaupten, die Hand des Gesetzge- der Metallindustrie gearbeitet. Ich kenne die Pro- bers dürfe jederzeit darin herumpfuschen - natürlich bleme dort alle. nur, wenn es ihren eigenen Interessen dient. Das wäre der Einstieg in den Ausstieg aus dem bewähr- Herr Bundesminister Bohl, es wäre schön gewesen, ten Tarifsystem. Das wäre die Aufgabe der Tarif auto- wenn Sie bei der „schwierigen Lage" auch etwas zur nomie, und - man kann es nicht oft genug wiederho- schwierigen Lage der Fami lien gesagt hätten. len - diese ist grundgesetzlich geschützt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich ein Stück aus Goethes „Zauber- Die Arbeitgeber haben in den letzten Jahren maß- lehrling" zitieren: lose Lobbyerfolge bei der Bundesregierung erzielt. 11250 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Erika Lotz Das scheint sie in ihrer Auffassung, nach eigenem tion seinerzeit - ich war noch nicht im Bundestag - Gusto Politik machen zu können, so bestärkt zu ha- verfassungsgemäß gehandelt hat. ben, daß sie nun glauben, selbst Verträge ungestraft (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) brechen zu dürfen. Sie, Herr Blüm und viele andere, betonen immer wieder, Sie würden nicht in die Tarif- Zweitens. Wir müssen doch sehen, daß sich auf - autonomie eingreifen. Aber die Arbeitnehmerinnen Grund der wirtschaftlichen Entwicklung unseres und Arbeitnehmer, die von diesen Tarifverträgen er- Landes immer wieder Rahmenbedingungen ändern. faßt sind, haben auf diese Aussage vertraut. Warum, In einer Zeit, in der fahrende Lkws die Produktions- so frage ich, sollten nicht auch die Arbeitnehmer von reserve vieler Herste ller sind, sehe selbst ich als je- Daimler und Siemens bei vollen Auftragsbüchern mand, der seit über 20 Jahren der IG Metall ange- und guten Gewinnspannen darauf vertrauen kön- hört, ein, daß es doch nicht angehen kann, mit der nen? Bestreikung einiger Schlüsselpositionen in Deutsch- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) land eine ganze Branche lahmzulegen. Wer Tarif- autonomie will - ich will sie -, muß sich auf beiden Die Arbeitgeber wollen aber offensichtlich um je- Seiten für eine faire Waffengleichheit einsetzen. den Preis - und das heißt: auch außerhalb rechtlicher Auch das ist Bestandteil einer funktionierenden Regelungen - in durch Tarifverträge gesicherte Tarifautonomie. Rechtspositionen von Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmern eingreifen. Sie brechen offen Tarifver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - träge und verbrämen diesen Vertragsbruch nur dürf- Zurufe von der SPD: Oh!) tig mit fadenscheinigen rechtlichen Argumenten. Da- Sie brauchen jetzt gar nicht mit Arbeitnehmern mit richten sie das bewährte Tarifsystem zugrunde. und anderen Schlagworten herumzupolemisieren. (Beifall bei der SPD) (Erika Lotz [SPD]: Chancengleichheit!) Ich will zum Schluß - mit Ihrer Erlaubnis, Herr Prä- Der Unterschied zwischen manch einem Abgeordne- sident - noch einmal etwas aus dem „Zauberlehr- ten von Ihnen und mir ist: Ich bin nicht der Abgeord- ling" zitieren: nete einer Gewerkschaft, sondern ich bin Abgeord- neter der Christlich Demokratischen Union. Ich habe Oh, du Ausgeburt der Hölle, breiteste Bevölkerungsschichten weit über den Ge- Soll das ganze Haus ersaufen? werkschaftsbereich hinaus in diesem Parlamant zu Seh' ich über jede Schwelle vertreten; das ist meine Pflicht. Doch schon Wasserströme laufen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der soziale Frieden in unserem Land sollte dem Bun- deskanzler, sollte Ihnen allen mehr we rt sein als ein Ich glaube, daß wir als vernünftige Menschen den erhobener Zeigefinger gegenüber den tarifvertrags- Klassenkampf der 30er Jahre in diesem Land über- brechenden Arbeitgebern. wunden haben sollten. Herr Louven, lassen Sie mich noch auf Schweden (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie zurückkommen. Sie können nicht nur die Rosinen führen doch den Klassenkampf von der herauspicken, sondern Sie müssen auch sagen, wel- anderen Seite!) che sehr viel positiveren Regelungen dort in mancher Jetzt noch ein Wort an die PDS zur Lohnfortzah- Beziehung vorhanden sind. Wenn Sie von dem Zwei lung. Es ist doch schon etwas merkwürdig, wenn Sie klassenrecht sprechen, dann sorgen Sie dafür, daß sich hier zum Schützer der Lohnfortzahlung aufspie- die hundertprozentige Lohnfortzahlung wieder ein- len. Wenn mir meine ostdeutschen Kollegen erzäh- geführt wird; denn das ist ganz einfach ein Negati- len, daß in der DDR Leuten, die ins Krankenhaus ka- vum, was Sie hier am 13. September 1996 beschlos- men, 50 Prozent des Einkommens gestrichen wurden sen haben. mit der Begründung, sie brauchten zu Hause nicht Danke schön. mehr zu essen, kann ich nur sagen: Jemand, der so ein System zumindest teilweise mitgetragen hat, hat (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE das Recht verloren, hier überhaupt den Mund auf zu- GRÜNEN und der PDS) machen, um zur Lohnfortzahlung Stellung zu neh- men. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Kollege Laumann, CDU/CSU. Zurufe von der PDS) Ich verstehe nicht die Polemik gegen die Tarifver- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Präsident! tragsparteien. Wir wissen doch alle, daß die grund- Meine Damen und Herren! Ich möchte mit zwei Rich- sätzlichen Entscheidungen der Politik nach dem tigstellungen anfangen: Der Kollege Büttner hat ge- Zweiten Weltkrieg in der Regel von der CDU/CSU in sagt, der erste Angriff auf die Tarifautonomie sei die diesem Parlament durchgesetzt wurden. Änderung des § 116 AFG gewesen. Herr Kollege (Zuruf von der SPD: Nur von der CDU/ Büttner, Sie wissen genausogut wie ich, daß wir in CSU?) dieser Frage mittlerweile eine verfassungsrechtliche Prüfung gehabt haben. Das Urteil des Bundesverfas- Auch mit dem Geschick der Tarifvertragsparteien ha- sungsgerichts war eindeutig, nämlich daß die Koali- ben wir uns in den letzten 50 Jahren in Deutschland Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11251

Karl-Josef Laumann einen Wohlstand und ein Erfolgsmodell aufgebaut, funktion erfüllen: wir hier im Parlament oder eine Re- was auf der Welt seinesgleichen sucht. Das ist ohne gierung oder eine Fraktion? Darum soll uns die Tarif- Frage auch ein Verdienst der Tarifvertragsparteien. autonomie - ich sage dieses Wort einmal in diesem Hause - heilig sein. In den letzten Jahren, in denen wir vielleicht nicht mehr die großen Verteilungsspielräume haben, bin (Beifall bei der SPD, sowie bei Abgeordne-- ich allerdings sehr nachdenklich geworden; denn bei ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN den Tarifverhandlungen treffen sich einige Herren und der PDS) und Damen, verteilen alles, was es zu verteilen gibt, Im Januar ist bei den Gesprächen nicht allzuviel und die sozialen Probleme muß die Politik lösen. herausgekommen. Die Gewerkschaften mußten das (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ein selber bestätigen. Minister Bohl ist leider nicht anwe- Unsinn!) send; er wird Termine haben. Aber ich sage Ihnen folgendes: Das Ergebnis hat drei Konsequenzen. Er- Die Tarifvertragspartner haben mich schon ent- stens. Der Konsens mit den Gewerkschaften ist zer- täuscht, zum Beispiel in der Frage, wie wir die Pfle- stört. geversicherung finanzieren sollen. Sie haben über- (Peter Dreßen [SPD]: Worden!) haupt keinen Beitrag dazu geleistet. Wir mußten se- hen, wie das finanziert wird, weil man vorher alles Zweitens. Der Konsens mit der Opposition in den verteilt hatte. großen sozialen Fragen ist zerstört. Drittens. Die Ta- rifautonomie wird von der F.D.P. als ein weiterer ne- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist gativer Punkt angegriffen. doch hochgespielt! Unsinn!) Solch eine Lage hat es in dieser Gesellschaft nach Ich denke, daß es in einer solchen Umverteilungs- 1949 mit dem ersten Bundestag, Kollege Blüm, noch situation, wo sich globale Märkte verändern, verant- nicht gegeben. wortbar ist, zu sagen: Wir machen Veränderungen bei der Lohnfortzahlung. Derjenige, der die finanziel- (Beifall bei der SPD) len Einbußen nicht tragen kann oder will, kann dafür Daher sage ich: Sie treiben die Gewerkschaften in Urlaub hergeben. Angesichts dieser Alternative eine Situation, in der sie den Kampf gegen die Regie- kann man doch nicht von der sozialen Abrißbirne rung permanent führen müssen. sprechen, wie das einige von Ihnen tun. Deswegen war diese Aktuelle Stunde für uns heute einfach (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das tun noch einmal eine Gelegenheit, deutlich zu machen, Sie doch!) warum wir das Ganze so sehen. Es werden Ihrerseits laufend weitere Einschränkun- (Jörg Tauss [SPD]: Nicht lernfähig!) gen angekündigt. Was sollen denn Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaften eigentlich machen, Wir wollen in dieser Situation dem Grundsatz wie- wenn sie jeden Tag aufs neue hören: Jetzt wird hier der zum Erfolg verhelfen, daß derjenige, der arbeitet, gekürzt, jetzt wird da gekürzt? Aber bei den Vermö- immer etwas mehr haben muß als derjenige, der genden gehen die Einkünfte ständig weiter nach nicht arbeitet. oben. Das ist doch nicht in Ordnung, meine Damen (Beifall bei der F.D.P.) und Herren! Ich glaube, das ist durchaus eine ganz solide Einstel- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lung. Ich habe überhaupt keine Angst, mich mit ei- GRÜNEN und der PDS) ner solchen Einstellung den Wählern in unserem Land zu stellen. Sie wissen, daß Herr Henkel gesagt hat: Zur An- heizung der Auseinandersetzung Tarifverträge sofort Danke schön. kündigen, nicht mehr beachten, ab 1. Oktober 1996 (Beifall bei der CDU/CSU und der .F.D.P.) weniger zahlen. Damit wird der Sozialstaat demon- tiert. Die Arbeitnehmer als die treuesten Steuerzah- ler und die treuesten Demokraten werden hierbei ge- Das Wort hat der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: troffen. Kollege Hans-Eberhard Urbaniak, SPD. Ich lasse es nicht zu, Kollege Laumann, daß Sie die Gewerkschaften angreifen, indem Sie sagen, da sit- Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich hat schon sehr er- zen nur drei, fünf oder sechs Leute zusammen. Das schreckt, was die Kollegin der F.D.P. hier gesagt hat: ist auch so in Gesprächen der Regierung mit der Ko- alition. Da haben Sie doch keine Urdemokratie. Sie (Beifall bei der SPD) veranstalten die Meinungsbildung doch nicht in der Dortmunder Westfalenhalle, sondern das wird vorbe- Wenn sich das nicht ändert, muß man wohl an die reitet. Das geht doch gar nicht anders. Tarifautonomie herangehen. Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber im klaren sind, welch eine Dimension Sie wissen genau, daß die Gewerkschaften ein Sie hier aufreißen, wenn gleichzeitig der Bundesar- breites Netz der Legitimation ihrer Entscheidungen beitsminister, der Kollege Blüm, sagt: Dies ist ein haben: durch Urabstimmungen und Schlichter- ganz hohes Gut, stimmen wir überein, und daran spruch. Was wollen wir in dieser Republik eigentlich darf auch nicht gerüttelt werden. Denn wer sollte, noch mehr? Die Franzosen würden sich die Hände wenn in dieser Frage demontiert wird, die Ersatz reiben und sagen: Hätten wir doch Einheitsgewerk- 11252 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hans-Eberhard Urbaniak schaften und damit die Grundlage für den Produkti- möglicherweise mit 90 und nicht mit 100 Prozent. onsfaktor „sozialer Friede"! Der darf nicht in Gefahr Denn die Diskriminierung lag nicht in der Höhe des gebracht werden. Das aber betreiben sie permanent. Lohnes, sondern sie lag darin, daß der eine den Lohn mit Abschlägen holen mußte und der andere sechs (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Monate Gehalt ausgezahlt bekam. Das war die Dis- GRÜNEN und der PDS) kriminierung. Jetzt haben wir die Situation, daß alle betroffen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Heinz Schemken, CDU/CSU. sind, jeder, der in einem Arbeitnehmerverhältnis steht, ob Beamter, Angestellter oder Arbeiter.

Heinz Schemken (CDU/CSU): Herr Präsident! (Peter Dreßen [SPD]: Nur Kranke sind Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist si- betroffen!) cherlich so - das muß ich hier bekennen -, daß man- che Maßnahmen nur im Gesamtzusammenhang zu - Das ist die Frage. Peter, erkundige dich mal bei dei- sehen sind. Sie sind auch nicht gerade angenehm. nen Freunden im DGB. Da gibt es auch andere Mei- Sie tun weh; ich sage das ausdrücklich. Aber ich nungen. Man könnte ja auch einmal von Ausfallta- stelle den Zusammenhang her und darf darauf hin- gen anstatt von Krankheitstagen sprechen. Ich tue weisen, daß die CDU/CSU eine Volkspartei ist, in der das nicht. sich alle Gruppen der Gesellschaft versammeln - dar- (Manfred Müller [Berlin] [PDS]: Was?) auf bin ich stolz; das gleiche gilt im übrigen für die Sozialdemokratie -, in der sich Kräfte bündeln, die in - Es gibt auch Ausfalltage. Ja, die gibt es. dieser Frage unterschiedliche Meinungen vertreten. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Überlas- Minister Bohl hat es soeben ausgeführt: Es ist rich- sen Sie das besser den Tarifvertragspar- tig, daß die Frage der Lohnersatzleistungen - besser teien!) gesagt: der Fehltage - an den Verhandlungstischen der Tarifpartner eine Rolle gespielt hat. Es war nicht - Sie können davon ausgehen, daß ich die Arbeitneh- so, daß die Gewerkschaften, als es um die Regelung mer schützen möchte, die morgens um 7 Uhr an ih- dieser Frage ging, vorab eine negative Meinung hat- rem Arbeitsplatz stehen und oft alleine da stehen, ten. weil die Kollegen fehlen. Auch das passiert; das sage ich Ihnen ganz deutlich. Nun zur Geschichte der Lohnfortzahlung. Schles- wig-Holstein 1957: Flächenstreik. Ich habe damals (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) selber noch auf dem Bau gearbeitet, und ich weiß, wie das war. Ich sage dazu: Das war richtig vor ei- Die Frage der Beitragsbelastung der Arbeitnehmer nem anderen Hintergrund. Es ging nicht um die ist doch bei Ihnen nicht unstrittig, ist doch nirgendwo Höhe der Lohnfortzahlung, sondern es ging um die unstrittig. Es ist auch nicht unstrittig, daß insgesamt Diskriminierung. Da war der Angestellte, da war der 55 Milliarden DM an Kosten durch die Ausfalltage Beamte, da war der in ähnlicher Weise Abgesicherte entstehen. wie der Angestellte. Und auf der anderen Seite war der Arbeitnehmer, der seinen Stundenlohn bekam (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aber die wie ich. Wenn ich überhaupt mal krank war, mußte Hälfte sind Arbeitnehmer, die länger krank ich zur AOK gehen. Da gab es erst einmal einige sind!) Tage Abschlag, und dann gab es 70 Prozent. Das war Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt. die Ausgangslage. Alles das ist mit den Lohnnebenkosten zu begründen (Wolfgang Weiermann [SPD]: Da waren Sie und letztlich im Paket auch mit sachlichen Argumen- glücklich?) ten untermauert. - Nein, da war ich nicht glücklich. Ich weiß nicht, ob Was bleibt, ist das Gut der Tarifautonomie, die Sie die Situation damals schon miterlebt haben. Ich doch niemand anzweifelt. sehe die großen Hände nicht, ich habe sie noch. Aber lassen wir das! (Peter Dreßen [SPD]: Doch, Frau Babel!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) - Ich habe eben schon gesagt, natürlich gibt es in ei- ner Koalition unterschiedliche Meinungen. Aber die Dann ist der Gesetzgeber in der Großen Koalition Tarifautonomie ist doch die Basis des sozialen Frie- tätig geworden. Eben wurde der Zwischenruf ge- dens. Wer will denn daran rütteln? Ich warne Neu- macht: Was hat denn die CDU dazu beigetragen? gierige davor, sich in einen Tarifstreit hineinzuhän- Wegweisende Gesetze sind immer durch die Mehr- gen. Davor warne ich. heit von CDU/CSU zustande gekommen. Es war da- mals Arbeitsminister Katzer, der in der Großen Koali- tion diese Diskriminierung beseitigte. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Schemken, Sie achten auf die Zeit? Jetzt müssen Sie mir doch ehrlicherweise folgen- des abnehmen: Hätte man im Jahr 1969 in einer Lage wie heute beraten, dann hätte man die Lohnersatzlei- Heinz Schemken (CDU/CSU): Deshalb möchte ich stung sehr wahrscheinlich für alle festgelegt, aber nachdrücklich sagen - - Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11253

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, ha- gen, ja Partnerschaften und Ehen sind daraus ent- ben Sie mich verstanden? Sie müssen auf die Zeit standen. achten. Nach der Grenzöffnung im Osten hat die Bundes- regierung auch mit unseren polnischen Nachbarn die Heinz Schemken (CDU/CSU): Ja. Schaffung eines gemeinsamen Jugendwerks verein-- Deshalb sage ich ausdrücklich, daß einseitige bart, um auch hier intensive nachbarschaftliche Be- Maßnahmen ohne Verhandlungen der Tarifpartner ziehungen aufzubauen. Mit Tschechien streben wir nicht tragbar sind. Im übrigen hat der Einzelhandel ebenfalls gutnachbarliche Beziehungen an. Daher in Nordrhein-Westfalen trotz des Gesetzes die Lohn- wurde 1991 ein Jugendaustauschabkommen mit der fortzahlung tariflich durchgesetzt - ein Beweis dafür, damaligen CSFR abgeschlossen und ein sogenannter daß die Tarifautonomie funktioniert. Jugendrat eingerichtet. Schönen Dank. Im Februar dieses Jahres beschlossen der tschechi- sche Jugendminister Pilip und Frau Ministerin Nolte, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge den Jugendaustausch zwischen Deutschland und ordneten der F.D.P. - Hans-Eberhard Urba Tschechien auszubauen und zu intensivieren. Um niak [SPD]: Gott sei Dank, daß es so ist!) diese Idee nachhaltig zu unterstützen, bringen wir dazu heute interfraktionell einen Antrag ein. Es ist Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Aktuelle ein gutes Zeichen, meine ich, daß sich junge Kolle- Stunde ist beendet. gen ganz besonders für diese Initiative eingesetzt ha- ben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a und 6 b auf: Ein wichtiges Signal auf dem Weg zur Verbesse- a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ rung und Konkretisierung des deutsch-tschechischen CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Jugendaustausches ist die gemeinsame Absichtser- F.D.P. klärung über die Errichtung von Koordinierungsstel- len für den deutsch-tschechischen Jugendaustausch, Verbesserung des Jugendaustausches zwi- die Frau Ministerin Nolte und ihr tschechischer schen der Bundesrepublik Deutschland und Amtskollege am Rande des ersten deutsch-tschechi- der Tschechischen Republik schen Jugendtreffens in Poli č ka vor drei Wochen un- - Drucksache 13/5542 - terzeichnet haben. Die jugendpolitischen Spreche- Überweisungsvorschlag: rinnen und Sprecher waren do rt anwesend. Wir konnten uns davon überzeugen, daß es die Jugend Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (feder- führend) mit dem Ausbau gutnachbarschaftlicher Beziehun- Auswärtiger Ausschuß gen ernst meint. Meiner Meinung nach war eine A rt Aufbruchstimmung spürbar. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten An- drea Gysi, Heinrich Graf von Einsiedel, Man- Bundespräsident Herzog und der tschechische Prä- fred Müller (Berlin), weiterer Abgeordneter sident Havel haben mit ihrer Initiative, ein deutsch- und der Gruppe der PDS tschechisches Jugendtreffen zu veranstalten, deut- Förderung des deutsch-tschechischen Ju- lich gemacht, daß dem Ausbau der Beziehungen zwi- gendaustausches schen Deutschland und Tschechien eine besondere Rolle zukommt. Ihnen war bewußt, daß der Weg dort- - Drucksache 13/5579 - hin über die Jugend führt. Durch die Errichtung Überweisungsvorschlag: zweier Koordinierungsstellen in meiner Heimatstadt Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Feder- Regensburg und in deren Partnerstadt Pilsen soll ab führend) Beginn des nächsten Jahres der Jugend- und auch Auswärtiger Ausschuß Fachkräfteaustausch unterstützt und organisiert wer- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für den. die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich In diesem Jahr hat das Bundesjugendministerium höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- für die Begegnung von zirka 6 000 deutschen und sen. tschechischen Jugendlichen über 400 000 DM im Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat die Kolle- Haushalt angesetzt. Im nächsten Jahr werden von gin Maria Eichhorn, CDU/CSU. deutscher Seite 2 Millionen DM im Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eingestellt. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Jugend war schon Ich verspreche mir wichtige Impulse von der Koor- immer Wegbereiter für die Völkerverständigung. Das dinierungsstelle. In den letzten Wochen ist mir be- Deutsch-Französische Jugendwerk, dessen Grün- sonders bewußt geworden, daß schon zahlreiche dung im Jahre 1963 zwischen Bundeskanzler Konrad Verbindungen zwischen Schulen, Verbänden und Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle Jugendinitiativen vor allem in den Grenzregionen vereinbart wurde, ist dafür das beste Beispiel. Seither bestehen. Ich erwarte, daß diese Kontakte intensi- sind sich Millionen junger Menschen in beiden Län- viert und ausgebaut werden. Der Phantasie sollten dern begegnet, haben miteinander diskutiert, haben keine Grenzen gesetzt werden, wenn es darum geht, sich angefreundet. Dauerhafte, intensive Beziehun- die Zusammenarbeit zu vertiefen. 11254 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Maria Eichhorn Sehr viel verspreche ich mir von Praktika und Hos- land und Tschechien gibt es schon tausendfach, noch pitationen in Betrieben. Während auf der Ebene der ist dieser staatlich geförderte Austausch etwas Schulen bereits rege Verbindungen aufgebaut wor- Außergewöhnliches. Dennoch hat dieser an sich nor- den sind, bietet diese A rt der Begegnung für junge male Vorgang in den letzten Monaten für einige Auf- Menschen eine gute Möglichkeit, sich nicht nur ge- regung gesorgt, ebenso wie das deutsch-tschechi-- genseitig kennenzulernen, sondern ihre Ho rizonte sche Jugendtreffen in Poli č ka Anfang September. auch im beruflichen Umfeld zu erweitern. Der Grund dafür liegt im Gezerre um die deutsch- tschechische Erklärung, das die Beziehungen zwi- (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) schen Prag und Bonn belastet. Auf welch großes Interesse die Koordinierungs- Seit über einem Jahr wird an dieser Erklärung ge- stelle stößt, kann ich aus zahlreichen B riefen erse- arbeitet, über sie verhandelt, und eigentlich gibt es hen, die mir in der Zwischenzeit bereits zugegangen seit dem Frühsommer dieses Jahres eine kompromiß- sind. Lehrer, Vorsitzende von Jugendverbänden, fähige Lösung in den bis dahin strittigen Fragen. aber auch interessierte Einzelpersonen, die schon Er- Doch wer erwartet hatte, die Erklärung werde nun fahrungen im deutsch-tschechischen Jugendaus- verabschiedet, sah sich getäuscht. Der Bundeskanz- tausch haben, bieten ihre ehrenamtliche Mitarbeit ler, der eigentlich die Richtlinien der Politik bestim- zum Aufbau der Koordinierungsstelle an. Ich finde, men sollte, ist nicht willens oder nicht in der Lage, das ist ein gutes Zeichen und sehr zu begrüßen. den gefundenen Kompromiß in den eigenen Reihen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) durchzusetzen. Mit Rücksicht auf Forderungen aus den Reihen der CSU und der Sudetendeutschen Meine Damen und Herren, bald nach der Grün- Landsmannschaft liegt die gemeinsame Erklärung dung des deutsch-französischen Jugendwerks hatte bis heute auf Eis - ein Trauerspiel, liebe Kolleginnen ich als damals 18jährige die Möglichkeit, an einer und Kollegen. deutsch-französischen Jugendbegegnung teilzuneh- men. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Das ist aber schon länger her!) Doch damit nicht genug. Mitglieder der Bundesre- gierung haben in den letzten Monaten wiederholt - Ja, das ist schon länger her. Ich glaube aber, daß durch Äußerungen in der Öffentlichkeit dazu beige- diese Begegnung auch für die heutigen Beziehungen tragen, eine weitere Verschlechterung des Klimas beispielhaft ist. Es ist mir nämlich unvergeßlich, wie zwischen Deutschland und Tschechien zu erzeugen. unvoreingenommen wir Jugendliche aufeinander zu- Ich erinnere nur an die Äußerungen von gegangen sind, während sich die Erwachsenen oft zu Pfingsten in Nürnberg oder an Äußerungen des demonstrativ abwandten, wenn wir junge Franzosen Bundesaußenministers. und junge Deutsche gemeinsam durch die Straßen gingen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, darf ich Ich bin davon überzeugt, daß gerade der Kontakt Sie einen Moment unterbrechen? Wir sprechen über zwischen Jugendlichen, das Erlernen der Sprachen den Jugendaustausch. Sie können dies alles natür- und das Arbeiten an gemeinsamen Projekten das ge- lich am Rande erwähnen, aber es nicht zum Haupt- genseitige Verständnis fördern. Der deutsch-tsche- thema Ihrer Rede machen. chische Jugendaustausch ist ein Wegweiser und eine (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: große Chance, Tschechen und Deutsche zueinander Was ist denn nun los?) zuführen.

In diesem Sinne ist es eine gute Initiative, die uns Christoph Matschie (SPD): Dieser Jugendaus- heute vorliegt. Ich bin überzeugt, daß sich das Haus tausch, über den wir heute reden, vollzieht sich in ei- übereinstimmend für diese Initiative ausspricht. nem ganz bestimmten politischen Rahmen, den ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) im Moment zu erläutern versuche. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Christoph GRÜNEN und der PDS) Matschie, Sie haben das Wo rt. Erst gestern kam eine Tickermeldung, die verkün- det: „Erneut Unstimmigkeiten in Koalition zu Tsche- Christoph Matschie (SPD): Herr Präsident! Liebe chien." Hintergrund sind erneute Forderungen der Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich geht es bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die von der im gemeinsamen Antrag vorgesehenen Unterstüt- CSU unterstützt werden. So richtig es ist, die Sude- zung des deutsch-tschechischen Jugendaustausches tendeutsche Landsmannschaft in diese Gespräche um etwas ganz Selbstverständliches: Die Begegnung einzubeziehen, so deutlich muß auf der anderen von jungen Leuten aus benachbarten Ländern soll Seite gesagt werden: Die deutsch-tschechischen Be- staatliche Förderung erfahren. Das hilft, bereits be- ziehungen sind nicht das P rivileg einer Landsmann- stehenden Kontakten von Jugendlichen neue hinzu- schaft. zufügen. Der von den jungen Abgeordneten parteiübergrei- Das ist gut so. Es ist aber weder die Stunde Null, fend initiierte Antrag zum deutsch-tschechischen Ju- denn Kontakte zwischen Jugendlichen aus Deutsch- gendaustausch ist ein Kontrapunkt zur Unfähigkeit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11255

Christoph Matschie der Bundesregierung, die Aussöhnung mit Tsche- Christoph Matschie (SPD): Frau Kollegin, ich chien voranzubringen. nehme das natürlich zur Kenntnis. Aber das, was Sie gerade gesagt haben, unterstützt doch eigentlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meine Argumentation. Bis heute ist die staatliche Un- DIE GRÜNEN) terstützung, also die Unterstützung des Bundes, für Wo die Alten Entwicklung blockieren, wollen die diesen Jugendaustausch auf Sparflamme gelaufen. Jungen mit ganz praktischer Arbeit Grenzen über- Wir reden doch heute über diesen Antrag, um end- winden. Eine neue Zeit braucht neue Antworten und lich die Koordinierungsstellen einzurichten und um nicht den alten Streit. endlich mehr Mittel für diesen Jugendaustausch be- reitzustellen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dabei soll die Last der Vergangenheit nicht ausge- DIE GRÜNEN) blendet oder schöngeredet werden. Aber wir wollen, daß sich die Menschen aus Deutschland und aus Erlauben Sie eine wei- Tschechien die Hand reichen und Gegenwart und Vizepräsident Hans Klein: tere Zwischenfrage? Zukunft unter neuen Vorzeichen gestalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Christoph Matschie (SPD): Ja, gerne. DIE GRÜNEN) Dafür gibt es auch Unterstützung von vielen Älte- Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Kollege, wenn ren. Roman Herzog hat auf dem Treffen der Jugend- Sie das befördern wollen, würden Sie dann auch zu- lichen in Polič ka gesagt - ich zitiere -: gestehen, daß das, was Sie wollen, bereits vor drei Wochen von Frau Nolte und ihrem tschechischen Vergeßt zwar die Geschichte nicht und kehrt sie Amtskollegen im Rahmen einer Erklärung sozusagen um Gottes willen nicht unter den Teppich! Aber beschlossen wurde? vergeßt auch nicht, daß es hier letztlich um die Verantwortlichkeiten und um die Leiden eurer Großelterngeneration geht, an denen diese Christoph Matschie (SPD): Ich nehme zur Kennt- schwer genug getragen hat und immer noch nis, daß eine Absichtserklärung für die Einrichtung trägt, die euch aber nicht den Weg in eine bes- der Koordinierungsstellen unterzeichnet wurde. In sere, in eine menschlichere Zukunft verstellen diesem Zusammenhang möchte ich aber auch sagen, dürfen. daß die Initiative junger Abgeordneter bereits im Juni stattfand, daß wir damals die Hoffnung hatten, Ich denke, Roman Herzog hat mit dieser Aussage möglichst schon beim Jugendtreffen in Poli č ka eine völlig recht, und ich wünschte, die Bundesregierung gemeinsame Stellungnahme aller Fraktionen vorwei- wäre bei der Verbesserung der deutsch-tschechi- sen zu können, und daß wir deshalb versucht haben, schen Beziehungen wenigstens halb so engagiert diesen Antrag voranzubringen. Das ist durch Abge- wie Roman Herzog. ordnete aus den Reihen Ihrer Fraktion verzögert wor- den, so daß erst heute die erste Lesung des Antrages (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stattfindet. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was die Präsidenten Havel und Herzog in dieser DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Frage geleistet haben, verdient unser aller Respekt PDS) und Anerkennung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, die Kolle- DIE GRÜNEN) gin Eichhorn möchte den Dialog mit Ihnen fortset- zen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn? Christoph Matschie (SPD): Bitte.

Christoph Matschie (SPD): Ja, bitte. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Mir geht es darum, festzustellen, daß man das Argument, das Sie ge- bracht haben, Vizepräsident Hans Klein: Bitte. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie müssen schon eine Frage stellen!) Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, was ich vorhin in mei- nämlich daß die Bundesregierung in diesem Zusam- ner Rede gesagt habe, daß nämlich bereits im Jahre menhang nichts getan habe, sehr wohl widerlegen 1991 das Jugendaustauschabkommen zwischen kann. Denn gerade das, was Sie gesagt haben, wi- Deutschland und der damaligen Č SFR gestaltet und derspricht dem tatsächlichen Vorgang. Würden Sie daraufhin der Jugendrat gegründet wurde? Würden mir deswegen bitte zugestehen, daß ich recht habe, Sie zur Kenntnis nehmen, daß das unmittelbar nach wenn ich sage, daß die Initiative zu dem, was Sie dem Fall der Mauer und nach der Öffnung der jetzt fordern und was wir gemeinsam - man muß die Grenze zum Osten war? Tatsachen aber richtig sehen - befördern wollen, be- 11256 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Maria Eichhorn reits im Februar dieses Jahres im Rahmen einer Ver- Ich fordere die Bundesregierung auf: Beenden Sie einbarung zwischen den beiden Jugendministern das unwürdige Gezerre. Unterzeichnen Sie die ge- vorgegeben wurde? meinsame Erklärung, damit die Aussöhnung zwi- schen unseren Völkern vorankommt. Christoph Matschie (SPD): Ich gebe Ihnen insoweit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE - recht, als daß schon seit geraumer Zeit geredet wird. GRÜNEN und der PDS) Gehandelt wurde bisher nicht in ausreichendem Maße. Das wollen wir mit diesem Antrag ein Stück Der Kollege Matthias weiterbringen. Vizepräsident Hans Klein: Berninger hat das Wo rt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich mei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das nem Kollegen Jawurek, der heute als einer der Initia- schon angesprochene Jugendtreffen in Poli č ka, in- toren dieses Antrags ganz offensichtlich nicht reden itiiert von den beiden Präsidenten der Bundesrepu- darf, und auch meinem Kollegen Berninger danken. blik Deutschland und der Tschechischen Republik, Diese beiden haben die Initiative übernommen, daß hat ein Signal gesetzt, und zwar indem man gesagt dieser fraktionsübergreifende Antrag zustande kom- hat: Wenn schon die deutsch-tschechischen Bezie- men konnte. hungen auf Grund der - vom Kollegen Matschie an- gesprochenen - Verzögerungen seitens der Bundes- regierung nicht in Gang kommen, dann sollen we- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Matschie, nigstens die jüngeren Menschen ein Signal setzen, die Kollegin Wolf möchte jetzt gerne eine Zwischen- indem sie sich um die Vergangenheit kümmern. Das frage stellen. hat man auch in Poli č ka gemacht. Man muß die Ver- gangenheit gewichten, aber man darf dabei nicht die Christoph Matschie (SPD): Gerne. Zukunft vergessen. Das ist der Erfolg von Poli č ka. Zum anderen haben die jüngeren Abgeordneten in Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE diesem Parlament mit dieser gemeinsamen Initiative GRÜNEN): Herr Kollege Matschie, ich möchte Sie das Signal setzen können, daß sie Aktivitäten der fragen, wie Sie die Tatsache bewe rten, daß von den Bundesregierung dann unterstützen werden, wenn angesprochenen jungen Abgeordneten der CDU/ sie genau in diese zukunftsweisende Richtung ge- CSU kein einziger anwesend ist und die Fraktion mit hen. nur vier Abgeordneten vertreten ist? Vor diesem Hin- Seit Jahren haben wir vergleichsweise viele Mittel tergrund sollten Sie, denke ich, eine Bewe rtung des für den Austausch mit Polen. Der deutsch-polnische Stellenwertes des Themas bei der CDU/CSU-Frak- Jugendaustausch war sehr gut ausgestattet, während tion vornehmen. der deutsch-tschechische Jugendaustausch eher ein Schattendasein fristete. Das wird sich, so hoffe ich, Christoph Matschie (SPD): Ich stimme Ihnen zu, im nächsten Jahr ändern. Das hängt zum einen damit Frau Kollegin. Ich möchte das nur mit einem Wo rt zusammen, daß es schon sehr früh Initiativen aus den kommentieren: Das, was ich hier in den Reihen der Reihen der Opposition gab. Ich erinnere an die Initia- Union sehe, ist ein Trauerspiel. tive meiner Kollegin Antje Vollmer, die hier schon zu den letzten Haushaltsberatungen aktiv geworden ist, (Beifall bei der SPD und der PDS) was Frau Eichhorn verschwiegen hat. Zum anderen Der fraktionsübergreifende Antrag liegt heute auf liegt das daran, daß auch das Bundesjugendministe- dem Tisch des Hauses. Aber es bleiben Fragen offen. rium sehr schnell und sehr mutig gehandelt hat, in- Im Antrag fordern wir zusätzliche Mittel in ausrei- dem es gesagt hat: Es gibt zwar Schwierigkeiten bei chender Höhe für den deutsch-tschechischen Ju- den deutsch-tschechischen Beziehungen, aber wir gendaustausch. Im Entwurf des Bundeshaushaltes wollen den Jugendaustausch nicht weiter blockieren. für 1997 wurden die Mittel im Titel „Inte rnationale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jugendarbeit" um über 1 Mil lion DM gekürzt. Inner- halb dieses gekürzten Titels sind dann 2 Millionen Ich danke der Bundesregierung an dieser Stelle aus- DM für den deutsch-tschechischen Jugendaustausch drücklich dafür. vorgesehen. Wie sich das mit den Forde rungen nach zusätzlichen Mitteln deckt, bleibt das Geheimnis von Frau Eichhorn, ich glaube trotzdem, daß wir heute nicht hier wären und daß wir nicht diskutieren wür- Frau Nolte. Ich denke, in diesem Bereich muß in den den, wenn nicht die Jüngeren im Parlament mutig Haushaltsberatungen nachgelegt werden. vorangegangen wären. Die Blockaden und die Die Jugend in unseren Ländern ist in ihrer über- Schwierigkeiten, die es in diesem Sommer gegeben großen Mehrheit bereit, der deutsch-tschechischen hat, haben auch mich persönlich sehr gestört. Aber Nachbarschaft eine neue Zukunft zu geben. Die Ein- wichtig ist, an dieser Stelle deutlich zu machen, daß richtung der Koordinierungsstellen für den Jugend- von diesem Parlament ein Signal ausgeht, das be- austausch und die dafür bereitgestellten Mittel sind sagt: Das, was in Poli č ka angefangen wurde, soll sich ein ermutigendes Signal. Gleichwohl aber steht eine nun auf die Beziehungen mit Tschechien erstrecken. Lösung des Streites um die deutsch-tschechische Er- Das, was in Polič ka in Sachen Jugendaustausch ge- klärung weiterhin aus. laufen ist, soll nun endgültig die letzten Blockaden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11257

Matthias Berninger beseitigen, die es im Bereich des Vertrages zwischen austausches wird vielleicht erst in späterer Zeit ange- Deutschland und Tschechien gibt, der, wie ich finde, messen gewürdigt werden können. in unverantwortlicher Weise im Parlament herum- geistert, statt endlich verabschiedet zu werden. Die Jugend ist die Zukunft. Sie wird es in mancher Hinsicht besser machen müssen als unsere Eltern. Ich freue mich auf der einen Seite, daß auch der Den Jugendlichen werden in Zukunft die Beziehun- Bundeskanzler nun endlich sagt: Wir machen das. - gen der Völker anvertraut werden. Hierin liegt die Ich ärgere mich aber auf der anderen Seite über die Bedeutung des ersten offiziellen deutsch-tschechi- Diskussionen, die ständig stattfinden. Warum, frage schen Jugendtreffens in Poli č ka am 4. September ich mich, werden die deutsch-tschechischen Bezie- 1996 und der Vereinbarung von Koordinationsstellen hungen - Beziehungen zwischen zwei Ländern, die für den Jugendaustausch. Diese Stellen werden in Mitteleuropa liegen und die eigentlich eine große staatliche und nichtstaatliche Träger in Deutschland gemeinsame Zukunft hätten - verzögert, wie das zur und in der Tschechischen Republik bei der Durchfüh- Zeit geschieht? Ich bitte vor allem die Abgeordneten rung des Austausches beraten, Projekte anregen, der CSU und alle die, die Bedenken haben, diese Kontakte vermitteln und neue Formen der Zusam- Verzögerung aufzugeben, endlich über ihren Schat- menarbeit finden. ten zu springen und die deutsch-tschechischen Be- ziehungen auf die Grundlage zu stellen, die sich eine Im vorliegenden Antrag ist der gemeinsame Wille ganz breite Mehrheit in diesem Land wünscht. des Bundestages zur Verbesserung des deutsch- tschechischen Jugendaustausches formuliert. Er hat Ich habe von Leuten, die sich bereits um den Ju- meines Erachtens eine historische Bedeutung: Was in gendaustausch kümmern, sehr viele Zuschriften be- Westeuropa begonnen wurde, wird in Mittel- und kommen. Das zeigt, daß das Interesse der Menschen Osteuropa vollendet. da ist und daß letzten Endes die Regierung und das Parlament mit ihren Mitteln das Interesse fördern Angesichts der manchmal sehr unglücklichen Dis- sollten. Das freut mich deshalb, weil ich glaube, daß kussion dieser Tage über die deutsch-tschechischen die Bundesrepublik Deutschland eine Brückenfunk- Beziehungen wird oft verdeckt, daß diese Beziehun- tion zwischen Ost und West hat und daß sie den Dia- gen eigentlich gut sind. Der frühere Außenminister log mit Frankreich in Richtung Westeuropa, der sehr Dienstbier, der zusammen mit seinem Pa rtner Hans- gut geklappt hat, nun in Richtung Mittel- und Osteu- Dietrich Genscher den Grenzzaun zwischen unseren ropa fortsetzen sollte. Hierzu ist der deutsch-tsche- Völkern zerschnitt, sagte einmal, daß 98 Prozent der chische Jugendaustausch ein ganz wichtiger Beitrag. Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen gut und völlig problemlos seien. In der Tat, diese Be- Ich wünschte mir nur eines, nämlich daß man die ziehungen haben sich auf der Grundlage des besondere Bedeutung der Bürgerinnen und Bürger deutsch-tschechischen Vertrages von 1974, der ge- aus den neuen Ländern hier symbolisch hervorgeho- meinsamen Bewältigung des Wandels nach 1989 und ben hätte. Man hätte ohne weiteres den Standort der auch des Nachbarschaftsvertrages von 1992 gut ent- Koordinierungsstelle statt nach Bayern nach Sach- wickelt. Deutschland ist heute der wichtigste Wi rt sen legen können. Das ist das, was die Bürgerinnen -schaftspartner der Tschechischen Republik. Ich und Bürger aus den neuen Ländern in den Dialog denke, es muß der Hinweis erlaubt sein, daß mit der einbringen können: ihre Erfahrung mit Mittel- und Geschichte dieser Beziehungen die Namen der Osteuropa. Außenminister Scheel, Genscher und Kinkel verbun- den sind. Letzten Endes ist es unsere Aufgabe - das ist das, was wir einbringen können -, den Dialog zwischen (Beifall bei der F.D.P.) dem ehemaligen Ostblock auf der einen Seite und Die Präsidenten Havel und Herzog haben beim den ehemaligen Westmächten auf der anderen Seite deutsch-tschechischen Jugendtreffen ihre Zuversicht voranzutreiben. darüber ausgedrückt, daß die von den Regierungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verhandelte Erklärung zur deutsch-tschechischen Verständigung in absehbarer Zeit unterzeichnet Mir geschieht hier zuwenig. Ich hoffe, daß das die er- werde. Ich hoffe, daß das sehr bald sein wird. Ein gu- ste Maßnahme war und weitere folgen können. tes Verhältnis zu unserem wichtigen Nachbarn Tschechien ist von übergeordneter Bedeutung. Des- Vielen Dank. sen sind sich beide Regierungen bewußt. Sie tragen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Verantwortung für diese Verhandlungen. Das in bei der SPD, der F.D.P. und der PDS) diesen Verhandlungen auch von Bundesaußen- minister zwischen Bonn und Prag Erreichte - lieber Kollege Matschie, ich kann mir Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Birgit beim besten Willen nicht vorstellen, inwiefern Herr Homburger, Sie haben das Wort. Kinkel hier kontraproduktive Äußerungen getan haben sollte - darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Damen und Herren! Die Begegnung der Jugend hat ten der CDU/CSU) in der Geschichte Europas und der europäischen Einigung eine besondere Rolle gespielt. Die histo- Die F.D.P. bekennt sich zur europäischen Verant- rische Wirkung zum Beispiel des deutsch-franzö- wortung Deutschlands. Sie hat sich deshalb auch auf sischen, aber auch des deutsch-polnischen Jugend- ihrem Parteitag im Juni dieses Jahres für die Versöh- 11258 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Birgit Homburger nung zwischen Deutschen und Tschechen einge- nelle Antrag nur der kleinste gemeinsame Nenner setzt. Wir setzen dabei insbesondere auf die Jugend. sein kann. Wir wollen mit dem deutsch-tschechischen Jugend- austausch die Möglichkeiten zum gegenseitigen Der PDS-Antrag aber, obwohl weiter gehend als der von einem beschämenden Kleinmut getragene Kennenlernen verbessern. Dahinter steht die Überle- - gung, daß hieraus natürlich auch Verständnis fürein- interfraktionelle Antrag, muß sich zwangsläufig auch ander wachsen wird. Dieses Verständnis wird der noch bescheiden ausnehmen angesichts der fatalen Nährboden für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit Tatsache, daß der verbesserte Jugendaustausch, so zur Sicherung von Frieden und Freiheit in der richtig er ist und so sehr wir ihn unterstützen, den Zukunft sein. Umstand politischen Versagens in der deutsch-tsche- chischen Frage nur noch unterstreicht. Es besteht die Ich bedaure - die Kollegen haben es schon ange- Gefahr, daß dieser Jugendaustausch zu einer Art sprochen -, daß dieser Antrag nicht früher im Deut- Ersatzhandlung herabgewürdigt wird, weil sich die schen Bundestag behandelt und vor diesem Jugend- Älteren als friedensunfähig erweisen und weil die treffen verabschiedet werden konnte. Es mindert Regierungskoalition in diesem Hause unfähig ist, die aber das Gewicht des Antrags nicht, daß er in der gewiß bedauernswerten Folgen des Zweiten Welt- vorliegenden Form nicht mehr ganz aktuell ist, was krieges mit ihren Vertreibungen, Lasten und Grenz- die jüngsten Vereinbarungen mit der tschechischen ziehungen anzuerkennen. Seite angeht. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Wichtig ist, daß der Deutsche Bundestag bei die- sem bedeutenden Thema, dem deutsch-tschechi- Die PDS legt Wert darauf, gerade wenn und weil schen Jugendaustausch, die Regierung geschlossen sie sich nicht abhalten lassen will, dem interfraktio- unterstützt. Ich denke, wir werden im zuständigen nellen Antrag zuzustimmen, diese grundlegende Dif- Ausschuß die Möglichkeit haben, die notwendigen ferenz zu den Antragstellern zu betonen, nämlich Verbesserungen und Aktualisierungen vorzuneh- wer an den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges zu men. seinen Gunsten herumzukorrigieren sucht, der desta- bilisiert den Frieden. Dies ist das allerletzte, das Vielen Dank. Deutsche sich leisten dürfen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der (Beifall bei der PDS) SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt der Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und lege Gerhard Zwerenz. Jugend, unserer Kollegin Claudia Nolte.

(PDS): Herr Präsident! Meine Da- Gerhard Zwerenz Bundesministerin für Familie, Senio- men und Herren! Vom interfraktionellen Antrag zur Claudia Nolte, ren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Liebe Kol- Verbesserung des deutsch-tschechischen Jugend- leginnen und Kollegen! Für mich selber war es sehr austausches wurde leider die PDS-Gruppe im Deut- beeindruckend, als ich am 3. September in Poli ka schen Bundestag ausgeschlossen, und zwar auf Be- č beim deutschtschechischen Jugendtreffen, angeregt treiben der CDU/CSU-Fraktion. Offenbar ist die Bei- durch die Präsidenten der beiden Länder, war. Es war behaltung der Teilung von Abgeordneten in solche schon toll zu erleben, wie Jugendliche aufeinander der ersten und zweiten Klasse wichtiger als das zugehen, wie offen sie sind, wie sie miteinander dis- durchaus wünschenswerte geschlossene Auftreten kutieren und arbeiten. Ich denke, das ging den Ab- des Bundestages in einer existentiell so wichtigen geordneten, die damals mit dabei waren, ebenso; sie Frage, bei der es um Frieden und Völkerverständi- haben den gleichen Eindruck bekommen. Das macht gung geht. Aber so große Worte wie Frieden, Völker- einmal mehr deutlich: Der persönliche Kontakt zwi- verständigung und Jugendaustausch hören wir oft, schen Menschen läßt sich durch nichts ersetzen. Die- und wenn es um Taten geht, dann wird alles mini- ser schafft es eigentlich, daß Bar rieren überwunden mal. werden, daß man etwas gemeinsam tun kann. Obwohl wir uns also dem interfraktionellen Antrag nicht anschließen durften, werden wir ihm zustim- Dieses Treffen war für mich auch ein Beleg dafür, men. Denn wir stellen die Vernunft der Politik über wie fest das Band zwischen jungen Menschen über die Unvernunft mancher Po litiker. die Grenzen hinweg schon ist. Deshalb bin ich natür- lich froh, daß es möglich war, eine Idee, die zur Ver- (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIStiefung und Verbesserung 90/DIE des deutsch-tschechi- GRÜ- NEN]: Das ist gut!) schen Jugendaustausches geboren wurde, so schnell umzusetzen. Obwohl wir wußten, ein eigener Antrag habe in die- sem klassenmäßig abgeteilten Bundestag keine Ich habe im Februar dieses Jahres zusammen mit Chancen, meinem tschechischen Amtskollegen, Herrn Minister Ivan Pilip, dieses Projekt der Koordinierungsstellen (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ des Jugendaustausches zum erstenmal diskutiert NEN]: Übertreiben Sie doch nicht!) und angedacht. Wir haben dann am 3. September die legen wir zugleich einen eigenen Antrag vor, der we Absichtserklärung über die Errichtung von Koordi- nigstens nachzuweisen vermag, daß der interfraktio nierungsstellen in Regensburg und Pilsen unter- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11259

Bundesministerin Claudia Nolte zeichnet. Sie sollen ab Januar 1997 ihre Arbeit auf- Ich halte das für einen sehr engagierten Beitrag die- nehmen. Es ist also wirklich ein sehr zügiger Ablauf. ser jungen Abgeordneten. Ich wünsche mir, daß wir in solchen Bereichen des öfteren gemeinsame Pro- Herr Matschie, ich bitte Sie, nehmen Sie mir wirk- jekte auf den Weg bringen können. lich ab, daß ich in diesem Bereich äußerst engagiert - bin und ganz bewußt den deutsch-tschechischen Ich bin natürlich nicht nur über die rasche Umset- Jugendaustausch weiter voranbringen will. Lassen zung der rechtlichen und organisatorisch notwendi- Sie mich auch das sagen: Die Bundesregierung will gen Voraussetzungen froh; für mich ist entscheidend, diese gemeinsame deutsch-tschechische Erklärung. daß wir mit diesem Jugendaustausch eine neue und Es wird sie geben, und sie wird verabschiedet wer- feste Brücke zu unserem Nachbarland schlagen. Der den. Jugendaustausch ist nicht nur eine Vertiefung der Beziehung zu unseren Nachbarn. Die jungen Men- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. schen beschreiten ihrerseits aktiv den Weg in ein ge- Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ meinsames und friedliches Europa. NEN]) Letztendlich entspricht das dem, was Richard von Die Koordinierungsstellen sollen mit wenig büro- hier im Deutschen Bundestag am 8. Mai kratischem Aufwand - deswegen haben wir uns für Weizsäcker diese Form der institutionellen Unterstützung ent- 1985 sagte: schlossen -, dafür aber mit sehr großem persön- Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was lichem Engagement den deutsch-tschechischen damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für Jugendaustausch unterstützen und intensivieren. das, was in der Geschichte daraus wird. Die Büros sind als ein offenes Haus konzipiert, offen für alle Interessierten und auch für neue Ideen, um Bundespräsident Roman Herzog hat diesen Ge- den Austausch organisatorisch wie inhaltlich zu einer danken in seiner Rede während seines Besuches in Partnerschaft weiterzuentwickeln. Polič ka am 4. September aufgegriffen, als er sich di- rekt an die Jugendlichen wandte und erklärte, daß Die Aufgaben sind in der Absichtserklärung näher der deutsch-tschechische Jugendaustausch „zum spezifiziert. Ich will hier nur ganz wenige Dinge nen- Modell einer Normalität werden kann, die Sie - also nen: Organisation und Unterstützung von Jugend- die Jugendlichen - erreichen können, die Ihre Gene- und Schüleraustausch, Beratung der Träger, die sol- ration erreichen kann, wenn sie es nur will" - eine che Austauschmaßnahmen vorhaben, Qualifizierung Normalität, die wir so dringend brauchen, die auf ge- von Mitarbeitern, Erörterung der Möglichkeit von genseitigem Verständnis für die andere Nation, für Hospitationen in Betrieben und selbstverständlich die andere Kultur beruht, eine Normalität, die ein auch Entwicklung und Veröffentlichung von Infor- wichtiger Beitrag zur Erweiterung des eigenen geisti- mations- und Arbeitsmaterialien. gen Horizontes ist und somit zu einem künftigen Mit- Dabei ist es notwendig - das ist mir sehr wichtig -, einander befähigt. daß die beiden Stellen, Pilsen und Regensburg, eng zusammenarbeiten. Ich war bei der Wahl des Ortes Jahrzehntelang war Europa geteilt. Der Graben von Anfang sehr offen. Mir war wichtig, daß es eine schien unüberwindbar. Die jungen Menschen haben gemeinsame Entscheidung ist, daß Städte gewählt nun die Chance, diesen Graben gänzlich zuzuschüt- werden, die gut zueinander passen. Regensburg und ten und damit die Gestalt Europas neu zu prägen. Pilsen haben eine langjährige Freundschaft. Ich Was paßt besser zusammen als die Begriffe „Europa" denke, das ist eine gute Grundlage für das funktions- und „Jugend"? Für beide gilt: Dynamik statt Still- fähige Arbeiten dieser Koordinierungsstellen. stand, Visionen statt eingerosteter Denkschablonen, Zusammenarbeit statt nationaler Alleingänge. Wir werden im nächsten Jahr 2 Millionen DM für den deutsch-tschechischen Jugendaustausch im Mit dem deutsch-tschechischen Jugendaustausch Haushalt zur Verfügung stellen. Auch das habe ich haben junge Menschen einmal mehr die Möglich- im Februar in die Wege geleitet. Herr Kollege von keit, die politische Forderung nach einem geeinten der SPD, diese Mittel gehen nicht zu Lasten unserer Europa konkret umzusetzen und mit ihrer eigenen anderen Programme für den internationalen Jugend- Person hierfür einzustehen. Ich will dies in meinem austausch. Ich bin sehr gerne bereit, Ihnen im An- Amt mit aller Kraft unterstützen und lade deshalb die schluß näher zu erläutern, wie sich das zusammen- tschechischen Jugendlichen nach Deutschland zu ei- setzt. nem Folgetreffen ein. Ich würde mich freuen, wenn wir es 1997 verwirklichen könnten. Die tschechische Regierung hat ihrerseits ebenfalls zugesagt, die Mittel zu erhöhen, die für diesen Aus- (Beifall im ganzen Hause) tausch zur Verfügung stehen. Ich sage ausdrücklich Dank. Ich denke, das ist eine realistische Vision, eine er- strebenswerte Vision: Europa selbst zu gestalten. Die Mein Dank gilt aber genauso den jungen Abgeord- Chancen dazu sind groß. Unsere Jugendlichen ha- neten dieses Hauses, die sich sehr für dieses Projekt ben diesen Auftrag. eingesetzt haben und es politisch sehr unterstützt ha- ben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und NIS 90/DIE GRÜNEN) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11260 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- nern, daß wir gemeinsam mit den anderen EU-Län- tion gebe ich der Kollegin Hanewinckel das Wo rt . dern ein europäisches Programm „Jugend für Eu- ropa III" aufgelegt haben, das wir mit jährlich Christel Hanewinckel (SPD): Frau Ministerin Nolte, 13 Millionen DM unterstützen und fördern. Dieses ich begrüße es sehr, daß Sie zu einem nächsten Tref- Programm ist explizit für den Jugendaustausch in fen von deutschen und tschechischen Jugendlichen Europa geschaffen und gibt mir die Freiräume in un- für 1997 nach Deutschland einladen. Es ist in der Tat serem Haushalt für andere Maßnahmen, so daß wir mehr als lobenswert, wie die Jugendlichen aus keine Kürzungen in dem Sinne vornehmen müssen. Vielmehr bekommen wir Freiräume, um do rt eindeu- Tschechien und Deutschland in Poli č ka über drei Tage miteinander diskutiert, gestritten, sich aber tig einen Schwerpunkt zu setzen. auch zusammengefunden haben und wirklich nichts Nach einer einvernehmlich gefaßten Vereinbarung unter den Teppich gekehrt haben. An dieser Stelle haben wir zudem 800 000 DM weniger Zuweisungen können die Erwachsenen in Tschechien und an die Länder, so daß man schon davon sprechen Deutschland, auch in den unterschiedlichen Parteien kann, daß diese Mittel für den deutsch-tschechischen und Verbänden von den Jugendlichen lernen. Jugendaustausch in dem Sinne auch als zusätzliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mittel zu verstehen sind. Lobenswert ist die Initiative der jungen Abgeord- (Beifall im ganzen Hause) neten in diesem Hause. Lobenswert ist, daß Sie mit Ihrem Kollegen aus Tschechien die Absichtserklä- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- rung für die Einrichtung der Koordinierungsstellen sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vor- unterzeichnet haben und daß dafür wohl auch die lagen auf den Drucksachen 13/5542 und 13/5579 an notwendigen Mittel zur Verfügung stehen. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Nicht nur nicht lobenswert, sondern nach wie vor vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - sehr peinlich ist, daß die gemeinsame Absichtserklä- Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Über- rung zwischen Deutschland und Tschechien noch im- weisungen so beschlossen. mer nicht verabschiedet werden konnte. Das haben sowohl die beiden Präsidenten als auch die Jugendli- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: chen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Erste Beratung des von der Bundesregierung Es ist peinlich - in diesem Punkt widerspreche ich eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- Ihnen -, daß der Titelansatz „Internationaler Ju- zes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzge- gendaustausch" im Haushaltsplan insgesamt um setzes knapp 1,4 Millionen DM gekürzt worden ist. Natür- - Drucksache 13/5494 — lich haben Sie recht, wenn Sie sagen: Für den deutsch-tschechischen Jugendaustausch sind 2 Mil- Überweisungsvorschlag: lionen DM zur Verfügung gestellt worden. Aber sie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) sind nicht zusätzlich zur Verfügung gestellt worden. Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich bin deshalb äußerst gespannt darauf, wie dieses Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo- Haus über den gemeinsamen Antrag der jungen Ab- gie und Technikfolgenabschätzung geordneten abstimmen wird. Dort befaßt sich näm- lich einer der Punkte damit, über die Fraktionsgren- Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die zen hinweg zu fordern, zusätzliche Mittel in den Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dage- Haushalt an dieser Stelle vorzusehen. Das ist im Ent- gen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so wurf allerdings nicht passiert. Ich wiederhole: Der Ti- beschlossen. telansatz ist gekürzt; von zusätzlichen Mitteln kann Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo rt keine Rede sein. dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundes- Da Sie für 1997 einladen, die entsprechenden Mit- minister für Arbeit und Sozialordnung, Horst Gün- tel dafür aber so nicht zur Verfügung stehen, frage ther. ich Sie: Wie soll das eigentlich finanziert bzw. unter- stützt werden? Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (Beifall bei der SPD) minister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsi- dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- gen! Dieses Thema paßt eigentlich nahtlos an das Vizepräsident Hans Klein: Frau Bundesministerin vorangegangene. Es geht nämlich um eine EU- Nolte, zur Replik. Richtlinie zum Jugendarbeitsschutzgesetz. Auch im Zusammenhang mit dem Jugendaustausch kann Claudia Nolte, Bundesministerin für Fami lie, Senio- man über dieses Thema sehr gut miteinander disku- ren, Frauen und Jugend: Vielen Dank, Herr Präsi- tieren. dent. Meine Damen und Herren, das Jugendarbeits- Zur Erläuterung: Im Vorfeld der Zurverfügungstel- schutzgesetz von 1976, das im Jahre 1984 zum er- lung der Mittel für die deutsch-tschechische Koordi- stenmal geändert wurde, hat sich grundsätzlich be- nierungsstelle haben wir natürlich geprüft, wie wir währt. Es ist sogar in weiten Teilen Grundlage der zu diesen Mitteln gelangen. Ich möchte daran erin- Jugendarbeitsschutz-Richtlinie gewesen, die im Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11261

Parl. Staatssekretär Horst Günther Sommer 1994 vom Rat der Arbeits- und Sozialmi- Zum zweiten beseitigt der Gesetzentwurf die reali- nister der Europäischen Union verabschiedet worden tätsfremde Regelung, nach der eine Beschäftigung ist. mit leichten, für Kinder geeigneten Arbeiten nur in der Landwirtschaft, beim Zeitungsaustragen und mit Es ist daher nicht erstaunlich, daß der deutsche Ju- Handreichungen beim Spo rt zugelassen ist. Dagegen gendarbeitsschutz die Mindestnormen der Jugendar- sind derzeit zum Beispiel das Austragen von Werbe- beitsschutz-Richtlinie bereits weitgehend erfüllt. Der zetteln, die Erteilung von Nachhilfeunterricht, Baby- Ihnen heute vorliegende Entwurf eines Zweiten Ge- sitten, Botengänge, Reinigungsarbeiten und andere setzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgeset- Dienstleistungen verboten. zes enthält einige notwendige Anpassungen an die Richtlinie. Er regelt den Komplex der Kinderarbeit Die unveränderte Beibehaltung dieser Ausnahme- im Rahmen der Jugendarbeitsschutz-Richtlinie neu regelungen würde dazu führen, daß der überwie- und berücksichtigt die bisherigen Erfahrungen mit gende Teil üblicher und gesellschaftlich anerkannter Kinderarbeit in der Bundesrepublik Deutschland. Beschäftigung von jungen Menschen zwischen 13 und 16 Jahren als verbotene Kinderarbeit angesehen Dieses Konzept wird im wesentlichen durch fol- werden müßte. Wir müssen die Praxis also gesetzge- gende Regelungen verwirklicht: Das grundsätzliche bungsmäßig einholen. Verbot der Kinderarbeit wird auf Personen bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres ausgedehnt. Die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Arbeitszeit bei ausnahmsweise zulässiger Kinderar- Das Jugendarbeitsschutzgesetz bleibt seiner Ziel- beit wird auf 2 Stunden täglich und 10 Stunden wö- setzung treu, keine Tätigkeit zuzulassen, die für die chentlich begrenzt. Eine Beschäftigung von Kindern Gesundheit oder Entwicklung des Kindes schädlich ab 13 Jahren wird nur mit leichten und für Kinder ge- sein kann. Entscheidend bleibt aber auch, daß sich eigneten Arbeiten zugelassen. Dazu wird die Bun- Eltern und Arbeitgeber der Verantwortung bewußt desregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung sind, die sie für die junge Generation tragen. mit Zustimmung des Bundesrates die für Kinder ge- eigneten leichten Beschäftigungen zu bestimmen. Vielen Dank.

Das Verbot der Beschäftigung Jugendlicher mit ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fährlichen Arbeiten und mit gefährlichen Stoffen im ordneten der F.D.P.) Sinne des Chemikaliengesetzes wird einheitlich im Jugendarbeitsschutzgesetz geregelt. Das durch die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Konrad Jugendarbeitsschutz-Richtlinie gegebene Verbot, Ju- Gilges, Sie haben das Wort. gendliche mit bestimmten biologischen Arbeitsstof- fen zu beschäftigen, wird umgesetzt. Der Bußgeld- rahmen für Verstöße gegen das Verbot der Kinderar- Konrad Gilges (SPD): Herr Präsident! Meine sehr beit wird von 20 000 auf 30 000 DM angehoben. Es verehrten Damen und Herren! Kinderarbeit ist der darf sich für Arbeitgeber wirklich nicht auszahlen, Geburtsmakel des Kapitalismus. Kinder als billige Arbeitskräfte zu mißbrauchen. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Sozialismus gibt es den nicht?) und der F.D.P.) Man kann es auch anders sagen: Sie ist die Erbsünde Auf zwei Punkte möchte ich noch näher eingehen. der Industriegesellschaft. Weil das so ist, muß man Zum ersten. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung mit dieser Frage außerordentlich sensibel umgehen. wird auch die Streichung des § 9 Abs. 4 des Jugend- Diese Frage kann man nicht so einfach über den arbeitsschutzgesetzes vorgeschlagen. Diese Vor- Tisch regeln, Herr Meckelburg. schrift erstreckt die für Jugendliche geltenden Vor- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist schriften auf volljährige Auszubildende, also auf richtig!) junge Leute, die oft über 20 Jahre alt sind. Dies er- scheint aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht Vielmehr muß man schon genau nachfragen, nach- gerechtfertigt und ist geeignet, die Ausbildungsbe- prüfen, was das Gesetz hergibt und was verändert reitschaft der Bet riebe zu verringern. werden soll.

In den Gesprächen, die der Bundeskanzler mit den Deswegen sind wir Sozialdemokraten, wenn es um Spitzenverbänden der Wirtschaft mit dem Ziel ge- Kinderarbeit geht, immer - ich sage es noch einmal - führt hat, eine Bereitstellung von mehr Ausbildungs- ausgesprochen sensibel. Heute ist Kinderarbeit nach plätzen zu erreichen, ist immer wieder betont wor- wie vor ein großes Übel in unserer Gesellschaft, und den, wie wichtig für die Ausbildung eine möglichst sie nimmt ja zu, wie die Fachleute, die Jugendämter, hohe Präsenz im Betrieb außerhalb der Berufsschul- die Gewerbeaufsichtsämter, immer wieder beklagen. zeit ist. Insofern erlaubt die Streichung des § 9 Abs. 4 Es gibt ein hohes Maß an Ausbeutung von Kindern, eine intensivere Integration volljähriger Auszubil- mit all den Schäden, die damit verbunden sind. Die dender in den Betrieb und ist damit geeignet, die Kinderarbeit ist gesundheitsschädlich. Viele Kinder, Ausbildungsbereitschaft, insbesondere auch der die mit 10, 11, 12, 13, 14 Jahren arbeiten müssen, er- Handwerksbetriebe, zu erhöhen. leiden einen nicht mehr zu reparierenden Gesund- heitsschaden. Ferner bedeutet es ein Stück verlorene (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kindheit, wenn Kinder arbeiten müssen. Deswegen 11262 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Konrad Gilges meine ich, daß man mit dem Phänomen der Kinder- Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Frau Kollegin. arbeit sehr aufmerksam umgehen muß. Herr Günther, Ihr Bundesminister ist ja nicht sehr Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Gilges, Sie glaubwürdig, wissen doch, wie das jetzt geltende Jugendarbeits- schutzgesetz aufgebaut ist. Es gibt ein generelles (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Na, na!) Verbot; daran anschließend wird enumerativ aufge- listet, wo Ausnahmen zulässig sind. So ist das Gesetz wenn er die Kinderarbeit in der Dritten Welt beklagt, gemacht. aber mit der Kinderarbeit in unserem so reichen Land doch sehr lax umgeht und sie in vielen Fällen Nun sind ja manche Ausnahmen nicht aufgeführt, als Kavaliersdelikt - diesen Eindruck haben auch Sie deren Fehlen den Bürger nicht wenig erstaunen hier erweckt - einstuft. wird. Daß zum Beispiel ein 13- oder 14jähriger baby- sittet, ist nach strenger Auslegung des Jugendar- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wieso beitsschutzgesetzes verboten, weil das eben als Aus- das denn, Herr Gilges?) nahme nicht aufgeführt ist. Also kann doch nicht be- Kinderarbeit, ob in der Dritten Welt oder bei uns, ist hauptet werden, daß man den Schutz vor Kinderar- verwerflich und darf deshalb auch als verwerfliche beit unzumutbar einschränkt, wenn man eine Kor- und als unmoralische Inanspruchnahme des Kindes rektur, die der Realität entspricht, vornimmt. Sind Sie bezeichnet werden. mit mir der Meinung, daß das so ist? Deswegen müssen wir darauf achten, Herr Gün- Konrad Gilges (SPD): Nein, ich bin mit Ihnen nicht ther, daß dieses Gesetz kein falsches Signal gibt, dieser Meinung; ich will das vorweg sagen. nämlich ein Signal, daß die Möglichkeiten für Kin- derarbeit, die ja jetzt in der Bundesrepublik streng (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nicht für das geregelt ist, womöglich erweitert werden könnten. Babysitten?) Das wäre ein großes Mißverständnis. - Ich werde Ihnen die Frage gleich beantworten. Ein noch größeres Mißverständnis würde entste- Ich bin für ein generelles Verbot von Kinderarbeit - hen, wenn Sie es hier so darstellen, als ob das damit wir uns überhaupt nicht mißverstehen. Gegen Schutzalter erhöht werden soll. Das ist falsch. Das die Regelungen, wie sie jetzt im Gesetz stehen, habe Schutzalter wird reduziert, Herr Günther. Denn Tat- ich mich damals, vor etwa 15 Jahren - ich weiß das sache ist doch, daß das generelle Verbot nur für Kin- nicht mehr genau -, als wir darüber beraten haben, der bis 13 Jahren gilt und daß es für Kinder im Alter mit allen Mitteln gewehrt. Leider konnte ich mich in von 13 und 14 beziehungsweise 15 Jahren sehr viele meiner eigenen Fraktion nicht immer durchsetzen; Ausnahmemöglichkeiten gibt. das sage ich hier ganz offen. Ich bin generell für das Zum geltenden Recht will ich noch folgendes sa- Verbot von Kinderarbeit. - Das war mein erster gen. In der Drucksache findet sich der Satz: Das gel- Punkt. tende Recht wird insofern der Wirklichkeit nicht Punkt zwei ist: Ich bin dagegen, daß Kinder gegen mehr gerecht. Das bezieht sich auf Kinderarbeit. - Lohn oder Geld Leistungen erbringen. Wenn Baby- Hier geht es nicht um den Straßenverkehr; es geht sitten für ein Kind eine Lohnarbeit ist - vielleicht darf um Kinderarbeit. - Das stellt die Bundesregierung in das Kind das Geld nicht einmal für sich selbst ver- der Drucksache fest. Das heißt: Sie ist nicht in der wenden -, dann ist das nach meiner Überzeugung Lage, das geltende Recht auszuführen, einem Gesetz Ausbeutung von Kindern und hat überhaupt nichts Geltung zu verschaffen, das die Ausbeutung von mit Hilfe im Nachbarschaftsbereich zu tun. Darum Kindern und ihre Diskriminierung verbietet. Das geht es bei der Kinderarbeit. kann das ja doch nur bedeuten. Selbst das Babysitten, Frau Babel, ist in der Kinder- Oder es bedeutet, daß die Bundesregierung über arbeit differenzie rt zu betrachten. Man kann nicht die Verletzung von Kindesrechten hinwegsieht. Das einfach sagen, Babysitten ist keine Kinderarbeit. So heißt: Sie sagt, daß das nicht so wichtig ist. Ich will nicht, nicht mit mir. Ich halte das bereits vom Ansatz das hier jetzt gar nicht abwägen, wie Sie das in be- her generell für falsch. zug auf andere Rechtsbereiche tun, und wo Sie dann, wenn es Gesetzesverletzungen gibt, sich auf alle vier (Beifall bei der SPD und der PDS) Beine stellen - oder wieviel Sie auch haben mögen - Bis jetzt hatten wir - Frau Babel hat bereits darauf und dann hier herumlamentieren. Im Bereich Kinder- hingewiesen - zwei Kategorien. Ich habe bis jetzt arbeit wird das so nonchalant hingenommen, und es von der ersten Kategorie gesprochen, von den Kin wird gesagt: Das ist nun einmal so. -dern unter 14 Jahren, für die es generell ein Arbeits- Ich fordere Sie auf: Wenn das Gesetz zum Nachteil verbot gibt. In die zweite Kategorie gehören die Ju- der Kinder verletzt wird, dann ändern wir es! gendlichen ab 14 Jahre, für die es andere Bestim- mungen gibt. Die lasse ich jetzt außer acht. Sie wollen jetzt zwei Altersstufen einführen: Kin- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage der Kollegin Dr. Babel? der bis 13 Jahre und Kinder zwischen 13 und 15 Jahren. Es besteht in Zukunft eine größere Be- schäftigungsmöglichkeit für Kinder unter 14 Jahren. Konrad Gilges (SPD): Ja. Die Kriterien dafür im Gesetzentwurf sind leichte Be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11263

Konrad Gilges schäftigung bzw. geeignete Arbeiten. Mir gehen im- dem Berufsschulbesuch zur Arbeit gehen muß, wenn mer die Fragen durch den Kopf: Was ist eine leichte die Schule nicht länger als fünf Stunden dauert. Beschäftigung? Was ist eine geeignete Arbeit? Wie Ich sage Ihnen, das bedeutet für einen Bäckerlehr- wird das definiert? Was bedeutet das? ling, daß er von morgens drei bis acht Uhr arbeiten Ist zum Beispiel das Zeitungsaustragen eine leichte und anschließend in die Berufsschule gehen muß. Arbeit? Unter Umständen können es 5 Kilogramm Denn das steht im Gesetz. Das können Sie nun wirk- Zeitungen sein, die der Jugendliche morgens ohne lich so nicht wollen. Ich halte das für total unsinnig. Hilfsmittel durch die Gegend trägt. 5 Kilo sind im- Auch wird das keinen einzigen zusätzlichen Ausbil- merhin viel, als Fliesenleger weiß ich, was es bedeu- dungsplatz bringen. tet, so etwas zu tragen. Ich sage, das ist keine leichte Aber wir müssen einmal darüber nachdenken, Arbeit; und es führt zu dauerhaften gesundheitlichen Herr Meckelburg - da sind wir gemeinsam in der Schäden, wenn ein Kind morgens zwischen 5 und Verantwortung -: Wie kann man garantieren, daß die 7 Uhr, vor Schulbeginn, diese Arbeit verrichten muß. Berufsschultage auch als Berufsschultage genutzt Man kann nicht sagen, das sei vernachlässigenswert. werden? Dort muß der Ansatz der Gesellschaft und Ist es eine leichte Arbeit, Frau Babel, wenn ein der Politik, das heißt aller Politiker, stattfinden. Ich Kind nachmittags die „Hör zu" oder andere Zeit- glaube, wenn uns das gelingt, ist das ein viel größe- schriften herumträgt? Wenn das Kind nur 1 Kilo Zei- rer Beitrag zur Qualifizierung von Jugendlichen - tungen herumträgt, könnte ich das als leichte Arbeit das liegt auch im Interesse der Handwerksmeister - einstufen. als die Regelung, daß vor und nach der Schule noch jemand arbeiten muß. Ich will auf folgendes aufmerksam machen: Der unbestimmte Beg riff in diesem Gesetz muß nach mei- So, wie Sie den Gesetzentwurf jetzt vorgelegt ha- ner Meinung geklärt werden. Es kann nicht sein, daß ben, werden wir ihm mit Sicherheit nicht zustimmen. solch unbestimmte Begriffe im Gesetz stehen. Herzlichen Dank. Der nächste Punkt ist die Kontrolle der Vorschrif- (Beifall bei der SPD und der PDS) ten. Sie wird im Gesetz überhaupt nicht geregelt. Wer kontrolliert, was leichte und was nicht leichte Arbeit ist? Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Annelie Buntenbach, Sie haben das Wo rt. Was uns überhaupt nicht gefällt, Herr Günther, ist - Sie haben das noch einmal bestätigt -, daß es eine Rechtsverordnung geben soll, bei der der Bundesrat Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht mitbestimmen darf. NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her- ren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf w ill die (Parl. Staatssekretär Horst Günther: Doch!) Bundesregierung die EU-Richtlinie zum Verbot der - Okay, dann habe ich das mißverstanden. Kinderarbeit in nationales Recht umsetzen. Im Grundsatz begrüßen wir das. Ich bin der Meinung, es kann nur eine Rechtsver- ordnung geben, der der Bundesrat zustimmen muß, Gravierende Einwände haben wir allerdings an weil der Bundesrat über die Gewerbeaufsicht direkt zwei Punkten, mit denen Sie die Situation der Betrof- fenen gegenüber der heutigen Rechtslage ver- involviert ist und die Kontrolle nur so möglich wird. schlechtern. Neben dem Verbot der Kinderarbeit Ich möchte auch noch folgendes geklärt wissen: wird das Zugangsalter zur Beschäftigung auf Sie reden davon, daß es einen Arbeitsvertrag - Sie 15 Jahren festgelegt. Von diesem Zugangsalter sind sagen das nicht so -, also eine Vereinbarung zwi- laut EU-Richtlinie Ausnahmen nur unter klar defi- schen dem Kind über 13 Jahre mit einem Arbeit- nierten Bedingungen zulässig. geber geben kann, der der Sorgeberechtigte zustim- men muß. Nach unserem Arbeitsrecht, Herr Günther, Ich persönlich sehe keinen Grund, warum Kinder kommt damit ein Arbeitsvertrag zustande; ob schrift- unter 15 Jahre überhaupt schon reguläre Beschäfti- lich oder mündlich, spielt nach unserem Arbeitsrecht gungsverhältnisse aufnehmen sollten. Wenn Sie in keine Rolle. Es kommt eine arbeitsrechtliche Verein- Ihrem Gesetzentwurf vorsehen, daß Kinder schon ab barung über eine Tätigkeit zustande - so würden das 13 Jahren - bislang waren es 14 Jahre - täglich zwei Stunden, in der Landwirtschaft drei Stunden, be- die Juristen wahrscheinlich formulieren. schäftigt werden können, dann geht es nicht nur um Wer kontrolliert das? Wo wird das transparent? Das diejenigen, die sich mit dem Ausführen von Nach- scheint mir ungeklärt zu sein. Ich meine, daß dann, bars Hund das Geld für ihre Markenjeans dazuver- wenn man eine Öffnung im Gesetz vornimmt, zumin- dienen. dest die Fragen der Arbeitsvereinbarungen vom Ge- werbeaufsichtsamt, von den Kammern oder sonsti- Das Problem liegt bei der leider immer größer wer- denden Gruppe von Kindern, die in der Bundesrepu- gen Institutionen, auch den Gewerkschaften - das blik in Armut leben. Gerade sie müssen wir vor dem letzte wird Ihnen am wenigsten behagen, ich be- Druck schützen, zu früh über Erwerbsarbeit zu ihrem trachte es als das Beste - geklärt werden müssen. - eigenen Unterhalt beitragen zu müssen; denn die ge- Das nur am Rande. sundheitlichen Folgen davon sind - wenn auch nicht Ich halte die Regelung, die Sie einführen wollen, aus deutschen Studien, so doch aus Dänemark - be- für unsinnig, daß ein Jugendlicher vor bzw. nach kannt, nämlich zum Beispiel, daß die Hälfte der legal 11264 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Annelie Buntenbach arbeitenden Kinder ständig Rückenschmerzen ha- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- ben. men und Herren! Ich muß zugeben, daß ich den Kol- legen der SPD und der Grünen mit einigem Erstau- Sie binden in dem Gesetz die Beschäftigung von nen zugehört habe. Kindern ab 13 Jahren an die Bedingung, daß die Ar- beit leicht und für Kinder geeignet sein muß. Hier (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das muß ich dieselbe Frage stellen wie eben der Kollege geht uns umgekehrt bei Ihnen auch so!) Gilges: Was ist das genau? Wer definiert das? Das Ich nahm an, als ich die Begründung des Gesetz- kann nicht der Arbeitgeber mit seinen eigenen Inter- entwurfes gelesen habe, daß dieses ein f riedlicher essen sein. Wer kann das kontrollieren? Die Gewer- Nachmittag wird. Denn das, was wir tun, müssen wir beaufsichtsämter sind schon jetzt hoffnungslos über- tun; es ist Umsetzung von EG-Recht. Daß wir uns an lastet. Auf diese Fragen haben sie keine Antwort. die Grenzen, die Schranken und die Vorgaben des Der zweite Kritikpunkt: Sie wollen eine wesentli- EG-Rechts halten, darauf können wir in der Tat beim che Schutzbestimmung für berufsschulpflichtige Ju- BMA immer vertrauen. Meistens tut es sogar ein biß- gendliche, die 18 Jahre alt sind, aufheben. Diese Ju- chen mehr, aber jedenfalls nicht weniger. - So habe gendlichen müssen dann noch vor Berufsschulbe- ich mich also geirrt, wo doch so gravierende Beden- ginn in den Betrieb und während des Blockunter- ken, die auch so tiefgreifend begründet werden, von richts weiterarbeiten. Über 18 Jahre sind inzwischen seiten der Opposition hier vorgetragen werden. mehr als Zweidrittel aller Jugendlichen, die in Aus- Ich will noch einmal klarstellen: Das Vorhaben der bildung sind. Diejenigen knapp vor und knapp nach EG ist natürlich, soziale Standards anzugleichen und dem 18. Geburtstag werden unterschiedlich behan- gewisse Grundanforderungen an den Schutz der Ju- delt, obwohl sie sich im selben Ausbildungsjahr be- gendlichen im Arbeitsrecht zu stellen. Das ist auch finden. richtig so. Aber das könnte manchmal den Eindruck hervorrufen, als hätten wir das in Deutschland nötig. Gerade im letzten Jahr vor den Prüfungen ist es ab- Wir haben ein sehr gut ausgebautes und ein sehr solut nicht zu vertreten, die 18jährigen so zusätzlich striktes Jugendarbeitsschutzgesetz. Insofern ist das zu belasten; denn schließlich besteht Berufsschule für uns nicht ein Erringen von neuen Standards, son- bekanntlich nicht nur aus den Stunden im Unter- dern eine Angleichung an die Standards. Insofern richtsraum, sondern der Unterricht muß vor- und sind die Ansprüche auch nicht so hoch zu stellen. nachbereitet werden. Dabei ist klar, daß die schuli- schen Leistungen zwangsläufig darunter leiden wer- Die wichtigsten Inhalte sind schon genannt wor- den. den: Es ist die Heraufsetzung des Alters für das grundsätzliche Verbot der Kinderarbeit von 14 auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15 Jahren. Die Arbeit, die die Kinder ab 13 Jahren sowie bei Abgeordneten der PDS) ausnahmsweise verrichten dürfen, wird enumerativ festgelegt und ist zeitlich beschränkt, und zwar auf Sie behaupten, daß Sie mit dem Streichen dieser zwei Stunden täglich und zehn Stunden wöchentlich. Schutzvorschrift ein Ausbildungshemmnis beseiti- gen. Ich behaupte, daß eine gerechtere Verteilung Weiterhin ist eine einheitliche Regelung der Be- der Ausbildungslasten zwischen denjenigen Betrie- schäftigung Jugendlicher mit gefährlichen Arbeiten ben, die ausbilden, und denen, die sich verweigern, im Jugendschutzgesetz enthalten. Die einschlägigen eine weit stärkere Motivation zur Ausbildung wäre. Vorschriften über die Gefahrstoffverordnung werden ebenfalls übernommen. Ich behaupte weiterhin, daß Sie langfristig den In- teressen der Bet riebe an qualifizierten Arbeitskräften Frau Buntenbach, wenn Sie darstellen, wie Berufs- zuwiderhandeln. Das duale Ausbildungssystem lebt schüler herangezogen werden, dann können einem von einer sinnvollen Kombination von schulischer immer die Augen übergehen. Überlegen Sie sich ein- und betrieblicher Ausbildung. Auf lange Sicht ist die mal, wieviel Schulstunden man hatte, bevor man je- Qualität der Ausbildung entscheidend, sowohl für mals über die Frage der Überanspruchung oder von den ausbildenden Betrieb als auch für die Chancen Streß geredet hat! Als ich zur Schule ging, hatte ich der betroffenen Jugendlichen. Die zusätzlichen Ar- in der Woche 36 Stunden. Es war nun ein Gymna- beitsstunden werden einen erfolgreichen Verlauf der sium - das gebe ich zu -, aber deswegen ist in den Ausbildung eher gefährden. anderen Schulen nicht weniger Schulunterricht er- teilt worden. Es waren 36 Schulstunden. Ich möchte Sie auffordern, diesen Unsinn zurück- Wie Sie es hier darstellen, sind die Vorschriften un- zunehmen; ansonsten benutzen Sie entgegen den zumutbar, und sie würden die Kinder in unvorstellba- Vereinbarungen in der Europäischen Gemeinschafts- rer Weise stressen. Das ist nicht der Fa . charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer ll die Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Verschlechte- Es ist meiner Ansicht nach eine Illusion, daß wir rung bestehender Standards für Jugendliche. eine Kindheit völlig unbelastet von irgendwelchen Arbeiten haben müssen. Kinder wollen arbeiten. Ju- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gendliche wollen das. Wir müssen sie daran hindern, bei der SPD und der PDS) unvernünftig viel zu tun, aber wir dürfen ihnen nicht die Türen verschließen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle- Wenn Sie also eine jugendliche Partei sein wollen - gin Dr. Gisela Babel. die SPD sowieso - und sich an Jugendliche und Kin- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11265

Dr. Gisela Babel der wenden wollen, dann kann ich Ihre Einwendun- men wir uns hier bewegen. Dazu habe ich nur leichte gen nicht so ganz verstehen. Daß die Kinder auf Ta- Anmerkungen gemacht, daß ich das, was Sie als eine schengeld aus sind, das wissen wir doch. Es ist ja unzumutbare Gefährdung der Gesundheit der Kin- auch nicht falsch. Nehmen Sie als Beispiel den Nach- der bezeichnen - und insoweit haben Sie sich für hilfeunterricht. Warum sollen sie diesen nicht ertei- eine Ausweitung des Gesundheitsschutzes der Kin- len? der ausgesprochen -, nicht ganz nachempfinden kann. Ich glaube vielmehr, der Gesetzgeber hat auch Aber wir müssen uns in der Politik, auch im Sinne die Verpflichtung, sich innerhalb der Grenzen von der Eltern, natürlich wehren, dagegen daß ein Über- verhältnismäßigen Regelungen zu bewegen und maß an Arbeit ermöglicht wird, das eine gesundheit- nicht im Übermaß. Das war der einzige Dissens, den liche Gefährdung mit sich bringen kann. Aber in den ich gesehen habe. Das ist also eher quantitativ und vorgeschlagenen Grenzen scheint mir das durchaus nicht vom Grunde her zu we rten. Natürlich bejahe akzeptabel zu sein. ich den Jugendarbeitsschutz; wir müssen ihn prakti- Ich gehe trotzdem davon aus, daß wir in den Aus- zieren. schüssen harmonisch über diese Punkte reden wer- den - vielleicht auch in den Anhörungen; ich weiß Ich glaube, daß wir diese Details - ich halte das für nicht, ob sie geplant sind - und uns auch einigen. Ich Details; vielleicht halten Sie das für mehr - im Aus- verstehe viele Kontroversen, aber in dem Punkte schuß beraten können. kann ich sie nicht verstehen; denn daß man zum Bei- spiel in Zukunft nicht mehr Babysitten kann, das Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Gilges werden Sie in keiner Versammlung vertreten kön- möchte Ihre Redezeit verlängern und eine weitere nen. Es wird keiner verstehen, daß man das nicht Frage stellen. können soll, und ich kann nicht verstehen, daß man das von Ihrer Seite nicht akzeptiert. Konrad Gilges (SPD): Das ist hier ja eine ernstzu- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Babel, nehmende Debatte. Es geht um die Frage, ob das Kollege Gilges würde gerne eine Zwischenfrage stel- Kind nicht einen Anspruch auf die absolute oder tota- len. litäre Fürsorge der Gesellschaft hat. Das ist doch der entscheidende Punkt. Dazu sage ich Ihnen von mei- ner Grundauffassung her: ja. Konrad Gilges (SPD): Frau Babel, alle Schutzge- setzgebungen, die wir haben - ob es das Arbeitsrecht Wir haben dieses Problem auch in anderen Berei- ist, ob es das Jugendschutzgesetz ist -, werden in vie- chen, zum Beispiel im sexuellen Bereich noch viel len Fällen gegen die Betroffenen gemacht; denn der dramatischer, wo auch Eltern und Betroffene diesen Betroffene überlegt und handelt natürlich aus einer totalitären Schutz, diese Vorsorge tangieren und ganz anderen Perspektive. Der Arbeiter, der auf ei- auch negieren. Ich bin der Meinung, Kinder haben nem gefährlichen Gerüst herumgeht, wie ich das des diesen totalitären Anspruch. öfteren gemacht habe, möchte natürlich schnell seine Fliesen an die Wand bekommen, weil er im Akkord arbeitet. Dann kommt die Bauberufsgenossenschaft Vizepräsident Hans Klein: Ich fürchte, daß der Kol- und sagt: Nein, du mußt jetzt da herunter, Akkord lege Gilges mit dem Wo rt „totalitär" Anlaß zu Miß- hin, Akkord her; dieses Gerüst muß unfallsicher ge- verständnissen gibt. Er meint natürlich: umfassend. macht werden. Das ist die Logik von Schutzgesetzen. Das heißt, Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident, ich hätte wir haben eine Verantwortung gegenüber den Kin- sonst mit dem Satz begonnen, daß Liberale bei dem dern. Wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, Wort „totalitär" natürlich zusammenzucken. - Ein to- daß eben nicht alles das stattfindet, was die gern talitärer Schutz legt auch nahe, daß man ein Über- möchten. Wir müssen dafür sorgen, daß vieles anders maß an Schutz hat, das heißt, daß man eine absolute gemacht wird. Trennwand schafft zwischen der Arbeitswelt und der Kinder- und Jugendwelt. Das halte ich auch in der Und jetzt frage ich Sie: Wollen Sie wirklich diesen Sache nicht für richtig. Richtig ist der Schutzge- Grundgedanken, der dem Gesetzgeber auch von der danke: keine Ausbeutung, keine Gefährdung, kein Verfassung her aufgegeben wird, aufheben und da- Übermaß. Aber jede Möglichkeit eines Jugendli- mit die Verantwortung des Gesetzgebers für das chen, in sinnvoller Betätigung mit der Arbeitswelt zu- Wohl, für den Schutz der Gesamtbevölkerung und sammenzukommen, sollten wir als positiv für die Ent- dann auch des einzelnen? wicklung von Kindern und Jugendlichen ansehen und nicht sozusagen als einen unzulässigen Ein- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Gilges, ich bruch in die Kindheit verdammen. Das war der Un- habe heute vormittag schon einmal das Schicksal er- terschied zwischen beidem. Herr Präsident, ich bin litten, von der SPD gründlich mißverstanden zu wer- damit am Schluß. Ich bedanke mich. den. Jetzt bin ich in der Gefahr, ein zweites Mal miß- verstanden zu werden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Keineswegs habe ich die Verantwortung des Ge- setzgebers in Abrede gestellt. Natürlich haben wir Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Rosel diese Gesetze. Es ist nur die Frage, in welchem Rah- Neuhäuser, Sie haben das Wort. 11266 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Rosel Neuhäuser (PDS): Herr Präsident! Meine Da- stützen, in die Diskussion und in den neuen Gesetz- men und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzent- entwurf einfließen. wurf zum Jugendarbeitsschutz ist es der Bundesre- gierung wieder einmal gelungen, eine Chance unge- Danke. nutzt zu lassen, wenn es darum geht, Gesetze der (Beifall bei der PDS - Bundesrepublik Deutschland an geltenden Richtli- [CDU/CSU]: Wer Süßes ißt, sündigt nicht!) nien der Europäischen Union zu orientieren bzw. sie dementsprechend anzupassen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wolfgang Wir unterstützen natürlich alle Maßnahmen, die Meckelburg. der Verbesserung der Situation von Kindern dienen. Aber ich denke, die Ansätze in diesem Gesetz rei- Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Sehr geehrter chen dazu noch nicht aus. Die Ausführungen der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Kollegin Buntenbach und auch die von Herrn Gilges Herren! Herr Gilges, ich glaube, die Vokabel „Kapi- haben das ganz deutlich gemacht. talismus" hilft uns wirklich nicht weiter. Lassen Sie uns diese Debatte ernst nehmen. Sie haben aus unserer Sicht nicht genug unternom- men, meine Damen und Herren, um Gesetzeslücken Wir sind ja bei der Einbringung dieses Gesetzent- zu schließen. Ich möchte dazu nur noch einmal auf wurfes und haben die Chance, in der Diskussion ei- die Dinge hinweisen, die von den beiden Vorrednern nen gemeinsam zu beschließenden Entwurf zu erar- eben schon genannt wurden. beiten und zu verabschieden, und wir sollten die Zäune deshalb nicht so hoch ziehen. Auf der Grundlage neuer Erkenntnisse auf dem Ich will am Ende dieser Einbringungsdebatte fest- Gebiet der Arbeitsmedizin und der Ergebnisse von halten: Erstens geht es darum, die notwendigen An- Untersuchungen zum Gesundheitszustand von Kin passungen an die entsprechende EG-Richtlinie vor- zunehmen. Es bleibt auch festzuhalten, daß die we--dern und Jugendlichen bestand und besteht die Möglichkeit, das Jugendarbeitsschutzgesetz zu er- sentlichen Mindestnormen der EG-Richtlinie bei uns weitern und in seinen Aussagen noch zu verbessern. im Jugendarbeitsschutzrecht erfüllt sind. Das muß Ich könnte mir vorstellen, das Gesetz in folgenden gesagt werden, damit wir auch wissen, worüber wir Punkten nochmals zu prüfen und zu überarbeiten: sprechen. Erstens. Die Verbesserung der präventiven Maß- Zweitens will ich festhalten, daß in dem neuen Ent- nahmen mit besonderer Sicht auf die medizinische wurf Verbesserungen enthalten sind, die ich wirklich Vorsorge. als solche benennen würde, denn wenn das Verbot der Kinderarbeit vom 14. auf das 15. Lebensjahr aus- Zweitens. Eine strengere Untersuchung von Bela- gedehnt wird, dann ist das einfach eine Verlänge- stungsfaktoren in einzelnen Arbeitsbereichen. rung der derzeitigen Schutzfrist um ein Jahr. Drittens. Die Einforderung von Untersuchungen zu (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ja, richtig!) Langzeitwirkungen bezüglich der Beeinträchtigung Mathematik hilft da; es ist ein um ein Lebensjahr ver- des Gesundheitszustandes von Jugendlichen. längertes generelles Verbot von Kinderarbeit. Viertens. Völlig außen vor bleibt eine geschlechts- Auch die tägliche und die wöchentliche Arbeits- spezifische Analyse des Einflusses von Belastungs- zeit wird stärker begrenzt als bisher, so die Wochen- faktoren auf den Gesundheitszustand von jungen arbeitszeit, die zum Teil 18 bis 21 Stunden betrug, Mädchen und Frauen. auf zehn Stunden. Das ist auch eine Verbesserung. Ich glaube, wir brauchen nicht lange darüber zu re- den, daß die Zahlen eine Eingrenzung dessen sind, Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich was erlaubt ist. Sie einen Moment unterbrechen? - Ich will nur einen besonders sympathischen Kollegen bitten, in seiner Die Ausnahme bleibt wie bisher bestehen, zum Weihnachtsmanntätigkeit ein bißchen unauffälliger Beispiel eine mögliche Arbeitszeit von drei Stunden vorzugehen. täglich in landwirtschaftlichen Familienbetrieben. Man kann darüber streiten, ob diese Begrenzung auf (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber nett zwei Stunden festgelegt werden muß, aber mögli- ist es!) cherweise ist das auch ein Anpassen an Realitäten, bei denen man sich vielleicht mit gesundem Men- Bitte, fahren Sie fort. schenverstand darauf einigen könnte, daß die Ver- kürzung der täglichen Arbeitszeit auf dem Felde nicht unbedingt den Jugendschutz ausmacht. Rosel Neuhäuser (PDS): Nett ist es, ja. Ich weiß es nicht, ich habe das nie gemacht, aber Kollegen, die das getan haben, wissen es vielleicht. Ich hoffe, daß die weiteren Auseinandersetzungen Ich habe als Kind Zettel ausgetragen; das wäre ille- um den vorliegenden Antrag mit dem entsprechen- gal gewesen. den Problembewußtsein geführt werden und daß zum Beispiel die Forderungen aus der Stellung- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das hat Ihnen nahme des Bundesrates, die wir voll und ganz unter- nicht geschadet!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11267

Wolfgang Meckelburg Ich habe nicht darunter gelitten und fühle mich ei- chend streng ist, weil wir eine klare Trennungslinie gentlich ganz normal. gezogen haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist jetzt ver Wir müssen auch deutlicher an die Verantwortung jährt! - Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waf der Arbeitgeber appellieren. Wir können auch nicht fenschmidt: Ich habe Kühe gehütet!) so tun, als ob wir alles regeln könnten. Wenn ein- 14jähriger - aus einem Pressebericht willkürlich ent- Die Frage, die Sie, Herr Gilges, hier sehr deutlich nommen - jeden Abend von 20 Uhr bis morgens früh gestellt haben, inwiefern wirklich etwas korrigiert um 5 Uhr in einer Bar als Barkeeper arbeitet, dann Ich wird, betrifft die Anpassung an die Realität. frage ich als erstes ernsthaft: Wo sind eigentlich die glaube, das sollten wir nicht so einfach mit dem Hin- Eltern? Bekommen die das nicht mit? Hier müssen weis vom Tisch wischen, da werde ein Tor geöffnet. wir an die Verantwortung der Eltern appellieren. Wir Ich glaube schon, daß es notwendig ist, bestimmte können das alles um so glaubwürdiger, je besser uns Dinge zu korrigieren, um dem Jugendarbeitsschutz eine Trennung gelingt. den Stellenwert zu geben, den er verdient. Das sage ich ganz deutlich; darüber müssen wir reden. Im Hinblick auf die Verordnungen ist der Bundes- rat beteiligt. Die Fachleute bringen do rt ihre Erfah- Wenn wir zugestehen, daß das Austragen von Zei- rungen ein. Insgesamt sollten wir so eine glaubwür- tungen nach jetzigem Recht erlaubt ist, aber das Aus- dige Regelung finden können. Ich hoffe schon, daß tragen von Werbezetteln nicht, dann machen wir uns wir nicht am Ende mit der Kanzlermehrheit das Ju- an dieser Stelle unglaubwürdig, weil jeder fragt, was gendarbeitsschutzgesetz verabschieden müssen. Ich diese Unterscheidung bezwecken soll. Wenn wir die lade Sie von der Opposition herzlich ein, dieses Ge- Arbeit bei der Ernte erlauben, nicht aber Reinigungs- setz parlamentarisch auf den Weg zu bringen und arbeiten, das Babysitten, Bewachungstätigkeiten mit uns gemeinsam klar zu formulieren. Ich glaube, oder Botengänge, die Jugendliche vornehmen, dann dann können wir den Anspruch nach außen vertre- sind wir so fern von der Jugend, daß wir auch keine ten, wirklich zwischen verbotener und erlaubter Kin- Chance haben, über das Thema Jugendarbeitsschutz derarbeit getrennt zu haben und eine stärkere ernsthaft zu reden. Durchsetzung als heute zu fordern. Kinder sollen vor Überforderung und Gefährdung ihrer Gesundheit geschützt werden. Ich sehe keine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Stelle, an der dieses bei den Beispielen außer Kraft gesetzt wird. Es geht bei der Novellierung des Ju- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- gendarbeitsschutzgesetzes nicht darum, illegale Kin- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung des derarbeit, die es sicherlich auch bei uns gibt, zu lega- Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/5494 an die in lisieren oder Schutzzäune abzubauen. Es geht in der der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Tat in diesem Bereich auch um Anpassung an die schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? - Realität. Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Mit der Anpassung der Schutzvorschriften an die übliche und gesellschaftlich anerkannte Beschäfti- gung von jungen Menschen zwischen 13 und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: 16 Jahren werden manche Beschäftigungen aus dem Beratung der Beschlußempfehlung und des jetzigen Zustand der Illegalität herausgeholt. Ich Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) halte das für vernünftig, weil es uns in der Tat eine zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- klarere Trennung jener Formen der Kinderarbeit, die rung verboten bleiben müssen, die Kinder überfordern und in ihrer Gesundheit beeinträchtigen, von sol- Bericht der Bundesregierung über die Lage chen Tätigkeiten ermöglicht, die von der Gesellschaft der Medien in der Bundesrepublik Deutsch- akzeptiert werden und die man nicht unter Schutz land 1994 stellen muß. Dies macht aus meiner Sicht das grund- sätzliche Verbot von Kinderarbeit glaubwürdiger, - Medienbericht 1994 - weil wir Kategorien einführen, die nachvollziehbar - Drucksachen 12/8587, 13/265 Nr. 1.6, 13/ sind. 4288 - Es gibt sicherlich auch hier in Deutschland - man- Berichterstattung: che denken ja, wenn wir darüber reden, nur an In- Abgeordnete Hans-Otto Wilhelm (Mainz) dien oder Mexiko - zahllose Beispiele für Kinderar- Thomas Krüger beit, die ich aber nicht erwähnen will. Das kann man Rezzo Schlauch in der Presse nachlesen. Hier muß gesetzgeberisch Dr. Max Stadler gehandelt werden, indem wir, wie es im Entwurf vor- Ulla Jelpke gesehen ist, nachlegen. Der Bußgeldrahmen wird er- weitert; die Höchstsumme wird von 20 000 auf 30 000 Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DM erhöht. Bündnis 90/Die Grünen vor. Wenn wir diese Diskussion ernsthaft führen, kön- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für nen wir auch erwarten, daß die zuständigen Stellen die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen schärfer gegen illegale Kinderarbeit vorgehen und erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so be- daß die entsprechende Bestrafung dann entspre- schlossen. 11268 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Vizepräsident Hans Klein Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo rt Lassen Sie mich kurz zum rechtlichen Rahmen für dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundes- die neuen Dienste Stellung nehmen - Stichwort Mul- minister des Innern, Horst Waffenschmidt. timedia. Bund und Länder bereiten hier bekanntlich jeweils für ihren Zuständigkeitsbereich Regelungen vor. Sie sollen voraussichtlich bis Mitte nächsten Jah- Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim res verabschiedet werden. - Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Medienbe- Der Bund wird ein Informations- und Kommunika- richt 1994 stellt entsprechend dem zugrundeliegen- tionsdienstegesetz vorlegen. Die Länder beabsichti- den Antrag des Deutschen Bundestages die Fakten gen den Abschluß eines Mediendienstestaatsver- dar, die sich für uns heute ergeben. Wie die von uns trags. Es gibt zwar noch einige offene Fragen, vor al- heute mitzuberatende Entschließung des Innenaus- lem zum Geltungsbereich der jewei ligen Regelun- schusses zeigt, ist dieser Be richt eine gute Grundlage gen. Aber erfreulicherweise besteht Übereinstim- für die Formulierung weiterer medienpolitischer Ziel- mung darüber, daß der Zugang zu den neuen Dien- setzungen. sten frei sein muß. Lassen Sie mich bei aller Kürze meines Beitrages Alle Fachleute sind sich einig, daß jetzt vor allem auf einige an die Bundesregierung gerichtete Forde- Schnelligkeit gefragt ist. Alle Verantwortlichen, ins- rungen eingehen. Ich möchte zunächst etwas zum besondere auch alle, die sich auf diesem Gebiet in Jugendschutz sagen, weil mir das sehr wichtig zu Wirtschaft und Gesellschaft betätigen, haben An- sein scheint. spruch darauf, daß in diesem innovationsträchtigen Bereich verläßliche Rahmenbedingungen vorzufin- Mit großer Aufmerksamkeit begleitet die Bundes- den sind. Die Bundesregierung drängt daher nach- regierung die vielfältigen Maßnahmen zur Verbesse- drücklich darauf, daß die zwischen Bund und Län- rung des Jugendschutzes in den Medien. Trotz der dern noch offenen Fragen jetzt sehr schnell geklärt vom Innenausschuß angesprochenen positiven Rege- werden. lungen der Länder und der freiwilligen Selbstkon- trolleinrichtungen des Fernsehens ist festzustellen, Ich meine, wir sollten uns hier im deutschen Parla- daß vor allem international wirksame Regelungen ment darüber einig sein, daß über eine Kompe- notwendig sind. Dies zeigt die anhaltende Kritik an tenzdiskussion zentrale Fragen ungelöst bleiben, das manchen Inhalten etwa im Inte rnet. darf nicht sein! Das können wir nicht hinnehmen. Dafür ist dieser Fragenkomplex viel zu wichtig. Die Gremien der EU und auch des Europarates sind mit entsprechenden Initiativen bereits befaßt. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bundesregierung begleitet diese Vorhaben in- tensiv. Ich meine, meine Damen und Herren, quer Wir können es uns einfach nicht leisten - auch das durch alle Fraktionen sollten wir eine wichtige Auf- gehört ein Stück weit zur Standortdiskussion, die wir gabe darin sehen, im Interesse des Jugendschutzes heute schon geführt haben -, auf diesem wirklich zu- auch die Medien entsprechend kritisch zu begleiten. kunftsgerichteten Feld ein rechtliches Vakuum auf- rechtzuerhalten. Nur andere wären dabei die Nutz- (Beifall bei der CDU/CSU) nießer. Wir sollten für klare rechtliche Rahmenbedin- gungen Sorge tragen. Da sind Länder und Bund ge- Ein zweiter Bereich. Erfreulich ist die Entwicklung meinsam angesprochen. im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Hier neigt ja, wie wir alle inzwischen festgestellt ha- In einer nächsten Bemerkung möchte ich kurz et- ben, die neuere Rechtsprechung dazu, auch bemer- was zur Filmförderung sagen. Der Film ist ja auch kenswert hohe Beträge bei Verletzung der Privat- ein wichtiges Medium. sphäre zuzuerkennen. Dabei haben die Ge richte klargestellt, daß dem Präventionsgedanken bei der (Thomas Krüger [SPD]: Jetzt sind wir aber Bemessung einer Geldentschädigung besondere Be- gespannt!) deutung zukommt. - Es ist immer gut, Herr Kollege Krüger, wenn Sie ge- Die Bundesregierung sieht daher gegenwärtig kei- spannt sind auf das, was die Bundesregierung sagt, nen unmittelbaren Bedarf an gesetzlichen Änderun- weil sie ja immer gute Orientierungspunkte für die gen in diesem Bereich. Sie vertraut darauf, daß die Entwicklung in unserer Gesellschaft beizutragen hat. Rechtsprechung den Persönlichkeitsschutz auch wei- (Beifall bei der CDU/CSU) terhin gewährleistet. Ich darf Sie also richtig fröhlich auffordern, jetzt (Thomas Krüger [SPD]: Das sieht unser Ent einmal gut zuzuhören, was sich da Positives tut; Sie schließungsantrag nicht vor! Wir wollen, haben ja heute so oft Kritisches gesagt, nicht Sie per- daß das geprüft wird!) sönlich, aber Kollegen aus Ihrer Fraktion. - Das können wir gern aufnehmen. Ich bin der Auf- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nicht fassung, wir sollten zunächst schon einmal gemein- nur heute!) sam feststellen, daß die Rechtsprechung, die sich ent- wickelt hat, Herr Kollege Krüger, uns für a lles wei- Da ich mich in meinem Leben aus guten Gründen oft tere gute Orientierungspunkte gibt. Ich glaube, so der Filmförderung zugewandt habe, bin ich über das, weit darf man gehen. was ich Ihnen jetzt sagen darf, sehr erfreut. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11269

Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt Der Trend, der sich in den ersten Monaten dieses schaft bietet, anschauen und so begleiten, daß sie - Jahres abzeichnete, hat sich bestätigt. Der Marktan- auch das will ich am Schluß meines kurzen Beitrages teil des deutschen Films ist im Verhältnis zum ersten sagen - für die Menschen zuträglich bleiben. Denn Halbjahr 1995 erfreulicherweise deutlich gestiegen. die Medien müssen im Dienste der Menschen ste- Das zeigt sich schon an einer einzigen Zahl, die ich hen. Darauf sollten wir angesichts unserer gemeinsa- einmal nennen möchte. Die Gesamtbesucherzahl men Verantwortung Wert legen. deutscher Filme betrug im ersten Halbjahr 1996 11,2 Millionen gegenüber nur 11 Millionen im gan- Herzlichen Dank. zen letzten Jahr. Deutsche Filmproduktionen haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) also zusätzliche Aufmerksamkeit gewonnen. Ich meine, das ist eine gute Sache; und wir alle sollten denen danken, die interessante und gute Filme in Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Deutschland gestalten und herstellen. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Sie haben das Wo rt. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- dent! Meine Damen und Herren! Angesichts der schenfrage des Kollegen Krüger, Herr Parlamentari- stürmischen Entwicklungen bei den neuen Medien, scher Staatssekretär? angesichts des starken Konkurrenzkampfes und an- gesichts der Diskussionen um Wettbewerbsvorteile und Wachstumsimpulse finde ich es sehr schön, daß Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim wir heute die seltene Gelegenheit haben, Medien- Bundesminister des Innern: Ja. politik einmal etwas anders zu betrachten. Jedenfalls schlage ich das vor. Meine Empfehlungen wären, die Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege. Auswirkungen von Medien auf Gesellschaft und Demokratie zu besprechen und damit eine A rt Kon- Thomas Krüger (SPD): Herr Staatssekretär, die trapunkt zur gängigen Diskussion zu setzen. Freude über die Entwicklung auf dem deutschen Ich fände es schön, wenn wir gemeinsam in dieser Filmmarkt teilen wir ja. Aber es gibt ein konkretes kleinen Runde ein paar Pflöcke einschlagen könn- Problem. Die p rivaten TV-Anbieter haben ihren Bei- ten. Herr Waffenschmidt, Sie haben so sehr auf ge- trag für die Filmförderungsanstalt zurückgestellt. meinsame Bekundungen abgehoben. Ich hoffe, wir Auch der Videoverband zahlt nicht und hat geklagt; erzielen Einigkeit darüber, daß es eine Bestands - und in der ersten Instanz war er unterlegen. Was unter- Entwicklungsgarantie für den öffentlich - rechtlichen nimmt die Bundesregierung denn, damit sich diese Rundfunk geben muß. beiden wieder an das Filmförderungsgesetz halten und ihren Beitrag einzahlen? Vor allen Dingen: Zu (Beifall bei der SPD und der PDS - Dr. Max welchen Konditionen erfolgt das? Stadler [F.D.P.]: Das ist Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts!) Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Ich hoffe ebenso eindringlich, Herr Stadler, daß wir Bundesminister des Innern: Herr Kollege Krüger, das Konsens darüber erzielen, daß die großen Tageser- war praktisch Gedankenübertragung. Ich wollte in eignisse des Spo rts und der Unterhaltung auch in Zu- meinem Beitrag gerade dazu übergehen. kunft für alle Bügerinnen und Bürger ohne zusätzli- Das Filmförderungsgesetz gilt in seiner derzeiti- che Geldzahlungen auf dem Bildschirm zu empfan- gen Fassung noch bis Ende 1998. Wir wollen intensiv gen sein müssen. prüfen, ob nicht entsprechend dem Votum des Innen- (Beifall bei der SPD und der PDS) ausschusses eine Anpassung stattfinden muß, sofern die Verhandlungen mit den p rivaten und mit den Wir reden so gern von diskriminierungsfreiem Zu- öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht zu be- gang zu allen möglichen neuen Diensten. Im Zuge friedigenden Ergebnissen für die Filmförderung füh- der Förderung der Chancengleichheit fände ich es ren. Wir müssen alle Beteiligten in die Pflicht neh- gut, die Chancengleichheit für ganz normale, gän- men. Wenn man eine Verpflichtung ausspricht und gige, aber auch für spektakuläre Fernsehübertragun- eine Erwartung hat und diese nicht erfüllt werden, gen abzusichern. Denn es darf ja wohl nicht gesche- dann muß man sich damit befassen, das Gesetz im hen, daß der Vormarsch von Pay - TV mit der Entwick- Sinne dessen zu ändern, was der Innenausschuß an- lung einer Zwei- oder Dreiklassengesellschaft am gesprochen hat. Bildschirm einhergeht. (Thomas Krüger [SPD]: Hört! Hört!) Schließlich gibt es einen weiteren wichtigen Meine Damen und Herren, wir haben im gesamten Punkt: Ich halte es für unerläßlich, das Zeugnisver- Medienbereich eine so wichtige Aufgabe vor uns, weigerungsrecht für Journalisten auszubauen. Ich daß wir uns darin einig sein sollten, diesen Bereich komme noch darauf zurück. auch künftig verstärkt durch alle Verantwortlichen in Der Medienbericht, den wir heute diskutieren, um- Politik und Gesellschaft zu begleiten. Wir sollten die faßt die Jahre 1985 bis 1994, also die Phase aufrüt- gesamten Entwicklungen offen, kritisch, aber auch telnder Veränderungen in Europa. mit Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten, die die- ser Bereich für die Menschen und für die Gesell- (Thomas Krüger [SPD]: Viel zu lange!) 11270 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast In der ehemaligen DDR hat es nach der Wende keine möchte: Man sollte sich vor allzu lautstarkem La- derartige medienpolitische Aufbruchstimmung ge- mento über diese Entwicklungen hüten; denn wer geben wie etwa in der Epoche nach der Nazi-Dikta- vor zehn oder 15 Jahren massiv den raschen Sieges- tur. Es gab nicht das brennende Streben nach einem zug der Privaten durchgepeitscht hat, der sollte nicht Rundfunk, der nicht mehr dem Profit eines einzelnen über die Früchte seiner Taten Krokodilstränen ver-- oder der Einflußnahme der Propagandamaschinerie gießen. des Staates ausgeliefert sein sollte. Das erinnert mich ein bißchen an einen Bundes- Aber es hat sich etwas entwickelt. Immerhin bleibt kanzler, der erst die Lohnfortzahlung im Krankheits- positiv anzumerken, daß nach der ersten Eupho rie fall gesetzlich wegkürzt und sich anschließend dar- inzwischen auch die Medienskepsis ehemaliger über beschwert, daß allzu eilfertige Arbeitgeber die DDR-Bürger zugenommen hat. Ich finde das durch- tariflichen Vereinbarungen nun nicht mehr einhalten aus positiv, weil ich die kritische Distanz zu allen Me- - frei nach dem Kinderlied „Fuchs, ich hab' die Gans dienangeboten für eine heilsame Fähigkeit halte, die gestohlen, gib sie mal wieder her". So geht es nicht. ich jedem Nutzer - wir Politiker natürlich einbegrif- (Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Der Fuchs heißt fen - wünsche. Clement!) Allen Unkenrufen zum Trotz behauptet sich das Die Vielzahl der elektronischen Medienangebote gedruckte Wort recht stabil. Der Zeitungsmarkt ver- hat zweifellos zugenommen; die Vielfalt ist deswe- läuft ziemlich gleichmäßig, überregionale Tageszei- gen keineswegs gewährleistet. Ich finde sogar, die tungen vermelden sogar eher steigende Auflagen. wachsende Tendenz zu Sparten- und Zielgruppen Der Kulturkanal Arte unter Beteiligung von ARD programmen zerklüftet unsere Gesellschaft eher, als und ZDF hat sich - entgegen den ersten pessimisti- daß sie zusammenführt. Qualität, Informationsfülle, schen Prognosen - seit 1992 fest etabliert und liefert vertiefte Hintergrundberichterstattung und Analyse ungemein anregende und informative Beiträge. weichen unter dem Druck des Konkurrenzkampfes in späte Abendstunden und in die kleinen, feinen Im Reigen der zahlreicher gewordenen lokalen Minderheitenprogramme aus. Radiostationen haben auch offene Kanäle ihren Platz gefunden. Egal, ob sich die Kanäle an Durchschnitts- Man mag das unterschiedlich beurteilen; man hörer und -hörerinnen richten oder von einer Min- kann auch sagen: Jeder soll das Recht haben, doof zu derheit wahrgenommen werden: Im Ansatz ist etwas bleiben. Aber ich finde es nicht nur bedauerlich, son- entstanden, was wir unter „Bürgerfunk" zusammen- dern bedenklich, wenn die Medien eine breite Mehr- fassen. heit der Bevölkerung im Seichten und im 1:30-Jour- nalismus zurücklassen und sich allein die bildungs- Gleichwohl, solche positiven Zeichen können na- und informationsinteressierte Elite der anspruchsvol- türlich nicht die bedenklichen Signale überlagern. len Programme und Druckerzeugnisse bedient. Herr Kollege Waffenschmidt, ich hörte von Ihnen Schönes über die Entwicklung des deutschen Films, Ich plädiere für eine Offensive zum Ausbau der die sich aber offenbar erst 1995 gebessert hat; denn Rechte von Journalisten. Die innere Pressefreiheit ist im Medienbericht von 1994 ist noch die Rede von ei- in den ganzen zurückliegenden Jahren kaum voran- ner Krise, die auch durch die staatliche Filmförde- gekommen. Die Zahl der Redaktionsstatute stagniert. rung nicht habe aufgehalten werden können. Daraus Ich finde, hier sind freilich die Jou rnalisten selbst ge- hat die Bundesregierung gefolgert, man müsse künf- fordert. Helfen kann und muß ihnen der Gesetzgeber tig stärker als bisher das Publikumsinteresse als aber bei der Stärkung des Zeugnisverweigerungs- Maßstab heranziehen. rechts. Die Ausweitung auf selbstrecherchiertes Ma- terial verlangt meine Fraktion seit Jahren. Aus gege- Nun räume ich durchaus ein: Der ambitionierte benem Anlaß erneuern wir unsere Forderung. Sie Film kann nicht völlig an der Kundschaft und deren wissen, wovon ich spreche, nämlich von der Durch- Bedürfnissen vorbei produziert werden. Aber mit ei- suchungsaktion der Staatsanwaltschaft in Bremer nem Kniefall vor dem, was man als „breiten Publi- Redaktionsräumen. Ich finde, der Deutsche Bundes- kumsgeschmack" auffaßt, macht es sich die Bundes- tag sollte dies eindeutig verurteilen. regierung einfach zu leicht. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Weiter vermerkt der Bericht: GRÜNEN und der PDS) Reichweite und Nutzungsdauer der Medien a ll Am Schluß noch zu einem Aspekt. Wenn unsere -gemein und speziell des Fernsehens haben bei medienbestimmte Demokratie sattelfest bleiben soll, Kindern und Jugendlichen im Berichtszeitraum dann brauchen wir alle gemeinsam eine gehörige deutlich zugenommen. Das Fernsehen ist für Kin- Portion Selbstkritik - sowohl die Journalisten, die der und Jugendliche zum Leitmedium geworden. Repräsentanten der sogenannten vie rten Gewalt in diesem Staat, als auch wir, die Parlamentarier. Es ist (Thomas Krüger [SPD]: Leidmedium!) zu fragen: Was richten Medien mit der repräsentati- Nun sind wir darüber nicht sonderlich erstaunt; ven Demokratie an, wenn Politik und deren Reso- das wissen wir aus persönlicher Erfahrung. Aber wie nanz in den Medien schleichend, aber stetig unter gehen wir denn damit um? Die gesamte Gesellschaft das Gebot der Unterhaltung gestellt werden oder diskutiert mit Sorgenfalten auf der Stirn über Gewalt wenn ohnehin im Publikum bestehende Vorurteile und Grausamkeit auf der Mattscheibe, wobei ich ge- und Halbwahrheiten über das Wesen von Parlament rade den Konservativen hier im Raum etwas sagen und Parteien derart genüßlich ausgebreitet werden, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11271

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast daß daraus Parlamentsfeindlichkeit entstehen kann? ermittlung und damit zur Konzentrationsbekämp- Wie bewahren wir umgekehrt uns Politiker selbst da- fung auch unbedingt aufrechterhalten werden. vor, daß wir unseren Debattenstil und unsere Argu- mentation vorwiegend daran orientieren, zu wel- Eine längst überfällige Aufgabe, die der Medien- bericht völlig unzureichend abhandelt - darauf ist chem Zeitpunkt wer am Bildschirm sitzt oder mit wel- - chen Thesen wir vor die Kameras treten, in die Mi- hingewiesen worden; ich kann das nur unterstrei- krophone beißen oder Schlagzeilen machen können? chen -, ist, daß die Gesetzeslücke beim Zeugnisver- weigerungsrecht geschlossen wird. Die Bündnis- Ich meine, wir sollten die Diskussion sehr bald und grünen haben vor der Sommerpause einen Gesetz- intensiv führen - nicht nur innerhalb der Medien entwurf eingereicht, der das Zeugnisverweigerungs- Enquete, so gern ich dort auch mitarbeite, sondern recht endlich auf selbstrecherchiertes Mate rial ohne am besten wir alle zusammen mit den Medienvertre- Einschränkung ausweitet. Daß dies dringend not- tern. wendig ist, belegen wildgewordene Staatsanwälte in Bremen und überall in der Republik fast täglich. So- Ich danke Ihnen. weit die Aufarbeitung der Vergangenheit. (Beifall bei der SPD und der PDS) In einem, meine Damen und Herren, sollten wir je- doch heute an einem Strang ziehen. Wenn ich es Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rezzo recht gelesen habe, haben sich Politiker aus allen Schlauch, Sie haben das Wo rt . Parteien aus Bund und Ländern in den letzten Wo- chen in dieser Richtung geäußert. Ich hoffe, Herr Kol- lege, auch wenn Sie jetzt schon grinsen, wir können Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie heute beim Wort nehmen und erhalten Ihre Zu- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der stimmung zu unserem Antrag unter der Überschrift fünfte Medienbericht, über den wir heute abschlie- „Übertragungsfreiheit bei Großereignissen sicher- ßend beraten, beschäftigt sich mit der Entwicklung stellen". der Medienlandschaft im Zeitraum von - man höre - 1986 bis 1994. In diesem Berichtszeitraum hat sich Der Kern unserer Forderung lautet: Fußball muß die Medienlandschaft so heftig fortentwickelt wie im Free-TV bleiben. Natürlich steht der Fußball hier kaum jemals zuvor. Seit dieser Zeit kommt die Sport als Pars pro toto, es geht ebenso um andere gesell- -schau manchmal ohne Fußball. Seit dieser Zeit muß schaftlich und kulturell wichtige Großveranstaltun- der bayerische Ministerpräsident im Fernsehen gele- gen, über die die Freiheit der Berichterstattung gesi- gentlich Unterschriftenlisten von Landfrauenverbän- chert werden muß. den gegen Gewalt mit der linken Hand entgegen- (Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Wahlver- nehmen, während Herr Kirch noch die rechte schüt- sammlungen!) telt. Noch ist es ja nicht so, daß der Kollege Waigel bei- Bei den Sozialdemokraten, zumal bei denen in spielsweise zur Haushaltssanierung Bundestagssit- Nordrhein-Westfalen, verhält es sich ähnlich, wenn zungen oder CSU-Parteitage exklusiv im Pay-TV ver- das ihnen verbundene mittelständische Medienun- marktet. Soweit darf es auch nicht kommen. Im Fuß- ternehmen aus Gütersloh Herrn Clement und den ball allerdings haben wir genau schon diese Situa- Vorsitzenden der Landtagsfraktionen unterbreitet, tion. Seit das Konsortium Kirch die Sonderrechte für wie die Konzentrationsregelung im neuen Rundfunk- die Fußballweltmeisterschaft gekauft hat, ist die Ge- staatsvertrag auszusehen hat. fahr offenkundig, daß zukünftig nur die Gutbetuch- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Soll das ten die Weltmeisterschaftsspiele live verfolgen kön- eigentlich lustig sein?) nen und die anderen eben als Konse rven. Der für den DFB zuständige Vertreter, der Multifunktionär Aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen ist dieser Mayer-Vorfelder, glänzte bei der entscheidenden Medienbericht bei aller Anerkennung der Fleißarbeit FIFA-Sitzung durch Abwesenheit, weil ihm in Stutt- in manchen Punkten nicht zureichend. gart zum selben Zeitpunkt politisch der Kittel brannte, und Sie wissen da genau, was ich meine. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wie hätten Sie es denn gerne?) (Zuruf von der CDU/CSU: Was meinen Sie denn?) Wir haben diese Punkte in einem Entschließungsan- trag vorgelegt, wobei dieser weitgehend mit der Be- - Ich werde es Ihnen nachher im P rivatissimum sa- schlußempfehlung übereinstimmt. Einige Punkte al- gen. lerdings haben wir weiter und konkreter gefaßt. Soll es etwa der Sinn der vielfach beschworenen Unzureichend behandelt der Medienbericht bei- technischen Evolution sein, daß bei Vervielfältigung spielsweise die Konzentrationsentwicklung im Ta- der Sendemöglichkeiten nur noch Besserverdie- geszeitungsbereich. Der Grad der Konzentration - nende die zusätzlichen 40 Mark fürs Pay-TV aufbrin- Herr Kollege Oswald, das wissen Sie - hat weder im gen können? Ich glaube nicht. Auch wenn es für Osten noch im Westen abgenommen. - Leider kön- Kirch und Konsorten noch so verlockend sein sollte, nen Sie nicht zuhören; denn Sie müssen jetzt telefo- mit dem Exklusivangebot Fußball die schwache nieren. - Im Gegenteil: Das Bild wird von lokalen Nachfrage nach Pay-TV zu beleben und die Konkur- und regionalen Monopolen geprägt. Deshalb muß renz von RTL, ARD und ZDF auszuhebeln, können die Pressestatistik als Instrument zur Konzentrations- wir nicht akzeptieren, daß damit dem Free-TV der 11272 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Rezzo Schlauch Boden entzogen und gesellschaftliche Öffentlichkeit Von allen Vorrednern ist das Problem der Be- in gut versorgte Besserverdiener und schlecht be- schlagnahmefreiheit von selbstrecherchiertem Ma- diente Resteverwerter gespalten wird. terial von Journalisten angesprochen worden.

Wer den Fernsehmarkt dereguliert und alles nur (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Mit dem Markt überlassen wi ll, darf sich hinterher nicht Recht und aus gegebenem Anlaß!) beklagen, wenn Marktgesetze herrschen. Und wenn Meine Damen und Herren, ich widerspreche der der Hehler ruft „Haltet den Dieb!", dann stimmt et- eben vertretenen Auffassung, hier bestehe eine Ge- was nicht. setzeslücke. Sie wissen genau, daß das Bundesver- fassungsgericht den jetzigen Rechtszustand für ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fassungsgemäß erklärt hat und die Auffassung ver- Ich glaube, es geht darum, in diesem Bereich zu in- treten hat, daß im Einzelfall die Frage, ob selbstre- tervenieren und soziale Marktwirtschaft zu gewähr- cherchiertes Mate rial beschlagnahmefrei ist oder ob leisten, ich betone: soziale Marktwirtschaft zu ge- ein Journalist wie jeder andere Staatsbürger auch währleisten. Das nächste Spiel ist immer das schwer- Zeuge in einem Strafverfahren sein muß, wenn er ste. Ich hoffe, daß dieser Satz nicht auf die jetzige Ab- selber Erkenntnisse recherchiert hat, immer mit un- stimmung zutrifft, sondern Ihnen die Zustimmung zu mittelbarem Rückgriff auf die Verfassung zu lösen diesem Resolutionsentwurf leicht fällt. ist. Es existiert hier also keineswegs eine Lücke oder ein rechtsfreier Raum. Danke schön. Ich gestehe Ihnen aber eines zu: Die sich häufen- den Durchsuchungsaktionen von Staatsanwaltschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten in der letzten Zeit geben Anlaß zu der Sorge, daß und bei der PDS) der Rückgriff auf die Verfassung, die nicht so präzise wie ein einfaches Gesetz formuliert sein kann, nicht praktikabel genug ist. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem Kollegen Dr. Max Stadler. Wir beobachten diese Entwicklung durchaus kri- tisch. Unser Generalsekretär, , hat am 17. September dazu Fragen an die Bundesregie- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr rung gestellt. geehrten Damen und Herren! Medienpolitik wird normalerweise unter den Aspekten diskutiert: Neue (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Donner- Medien, Multimedia, Wachstumsbranche Nummer wetter! Andere Möglichkeiten hat er wohl eins, Standort Deutschland, Rundfunkstaatsvertrag, nicht! - Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Kompetenzabgrenzungen Bund/Länder, Definition Gut, daß er den Namen dazusagt; sonst hät- neuer Dienste als Rundfunk oder als Dienstleistung, ten wir ihn nicht gewußt!) die nur wirtschaftsrechtlich einzuordnen ist, und all Ich sage Ihnen hier zu, daß wir die weitere prakti- diese Themen, die mehr in den Bereich Arbeitsplatz- sche Entwicklung unter dem Aspekt prüfen, ob ent- sicherung, Arbeitsplatzausbau, Standort Deutsch- gegen der Auffassung, die wir bisher dazu gehabt land gehen. All dies wird Thema des Zwischenbe- haben, eine spezialgesetzliche Regelung notwendig richts der Enquete-Kommission des Deutschen Bun- ist. destages sein, über den demnächst zu sprechen sein wird. (Thomas Krüger [SPD]: Wann sagt er einmal etwas im Innenausschuß?) Daher möchte ich genau, wie Frau Sonntag-Wol- gast das vorhin angeregt hat, die heutige Debatte be- - Herr Krüger, seien Sie doch froh, wenn ich Ihnen nutzen, um einmal einige andere Aspekte anzuspre- einmal etwas zusage, was Sie fordern. Es müßte Sie chen. Zunächst einmal gibt der Medienbericht einen doch erfreuen, wenn wir aufeinander zugehen. ausgezeichneten Überblick über die Fülle von (Thomas Krüger [SPD]: Herr Westerwelle Rechtsgebieten, die betroffen sind und wo der Bund sagt nie etwas im Innenausschuß!) durchaus eine Zuständigkeit hat. Ich nenne nur Urheberrecht, Datenschutz, Persönlichkeitsschutz, - Das hat mit Persönlichkeitsrecht zu tun. Das Strafrecht, Jugendschutz und Verbraucherschutz. schließt auch das Recht zu schweigen ein. Das beweist, in wie viele Bereiche der Innenpolitik Dazu mein zweiter Punkt. In der Entschließung des medienrechtliche Problemstellungen hineinreichen, Innenausschusses ist ausgeführt, daß die Rechtspre- und führt mich zu der ersten Folgerung: Medienpoli- chung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu ist und bleibt ein Kernstück der Innenpolitik des tik überprüfen ist. Die SPD wollte hier offenbar eine Bundes und muß daher weiterhin Sache der Innen- Ausweitung der Schmerzensgeldzahlungen bei Per- politiker sein, oder anders ausgedrückt: Innenpolitik sönlichkeitsrechtsverletzungen durch die Medien, ist mehr als nur innere Sicherheit. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Ja!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) deren Tendenz mir nicht völlig klar gewesen ist. Wir Aus der Fülle des Mate rials dieses Medienberichts müßten uns darüber einig sein, daß jedenfalls US- möchte ich einige wenige Fragen im Detail anspre- amerikanische Zustände, wo riesige Schmerzensgel- chen. der eingeklagt werden und wo das Persönlichkeits- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11273

Dr. Max Stadler recht sehr kommerzialisiert wird, nicht in unserem Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist abge- Sinne sein können. laufen.

(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Max Stadler (F.D.P.): Wir vom Innenausschuß Die Prüfung, die wir vom Justizministerium erbe- haben einen weiteren Medienbericht noch in dieser - ten haben, wird wahrscheinlich ergeben, daß wir mit Legislaturperiode angefordert. Das Innenministerium der bisherigen Rechtsprechung sehr gut zurechtkom- möge dies als Beleg dafür nehmen, daß uns dieser men. Bekanntlich handelt es sich hier um ein schwie- Medienbericht als eine sehr, sehr gute und nützliche riges Spannungsfeld zwischen Persönlichkeitsrecht Grundlage für alle diejenigen, die Medienpolitik be- einerseits und Rundfunk-, Fernseh- und Pressefrei- treiben, erscheint. heit andererseits, an der der Gesetzgeber schon in (Zuruf von der CDU/CSU: Schon wieder ein den 50er Jahren gescheitert ist. Die Rechtsprechung Bericht!) des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs hat hier nach meiner Meinung von der Soraya-Entscheidung Weil die Entwicklung so rasant fortschreitet, möch- bis zu Caroline von Monaco durchaus brauchbare ten wir möglichst bald diesen neuen Medienbericht Maßstäbe entwickelt. haben, nicht etwa, weil der vorgelegte Be richt unzu- reichend wäre. Ganz im Gegenteil! (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das waren noch Zeiten mit Soraya!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich komme zu einem dritten Punkt. Wir haben er- lebt, daß die Grünen nun auch den grünen Rasen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- zum Thema im Stuttgarter OB-Wahlkampf gemacht lege Wolfgang Bierstedt. haben.

(Thomas Krüger [SPD]: Er ist gerade raus Wolfgang Bierstedt (PDS): Sehr geehrter Herr Prä- gegangen! Schlauch steht auf dem sident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Schlauch!) kurze Bemerkung in Richtung der Kollegen von der CDU. Es wirft ein beredtes Licht auf Ihre Auffassung Lassen wir hier die Kirche doch im wahrsten Sinne von Meinungsvielfalt, wenn Sie den Beitrag von im Dorf! Noch ist nichts anderes passiert, als daß Rezzo Schlauch nur deshalb für falsch erklären, weil Übertragungsrechte verkauft wurden, wie in der die PDS Beifall geklatscht hat. Damit mögen Sie aber Vergangenheit auch. Der Gesetzgeber mag gefordert alleine fertigwerden. sein, wenn eine Situation eintritt, die hier schon vom Kollegen Schlauch beschworen worden ist. Noch ist Auch wenn der heute zu behandelnde Medienbe- es nicht so weit. Deswegen lehnen wir seinen Antrag richt der Bundesregierung schon etwas Patina ange- als verfrüht ab. setzt hat, so enthält er doch eine Vielzahl außeror- dentlich interessanter Feststellungen und Formulie- (Beifall bei der CDU/CSU) rungen. So zum Beispiel auf Seite 139 zum Unter- punkt Informationsvielfalt: Weil meine Redezeit beinahe schon abgelaufen ist, nur noch ein kurzes Wort zum dualen System: Für Er - uns steht die Bestandsgarantie für den öffentlich- - der Händler - rechtlichen Rundfunk außer Frage. Mit Bef riedigung haben wir registriert, daß die Anhänger einer alten ist gezwungen, alle Presseprodukte in seinem Idee der F.D.P. immer zahlreicher werden. Beispiels- Sortiment zu führen, er darf aus subjektiven, weise hat sich kürzlich Professor Ricker, ein führen- praktischen oder ethischen Motiven kein Objekt der Medienrechtler, dafür ausgesprochen. ausschließen. Das ist zweifelsfrei richtig. Neulich ist mir in einem (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber nur sehr südlichen Freistaat unserer Republik folgendes einer!) passiert: Als ich dort an einem Kiosk die sozialisti- Wir meinen, daß man mittelfristig ernsthaft dar- sche Tageszeitung „Neues Deutschland" verlangte, über nachdenken muß, ob der öffentlich-rechtliche war die nette Verkäuferin doch sehr erschrocken. Es Rundfunk nicht werbefrei werden soll, nur noch ge- kann sein, daß sie sofort an ihren Innenminister und bührenfinanziert sein soll, weil wir feststellen, daß seinen Überwachungswahn hinsichtlich der PDS ge- eine Tendenz zur Nivellierung mit den Privatsendern dacht hat, als sie mir in dem schon fast vergessenen in der Art und Weise, wie man Programminhalte prä- DDR-Jargon zurief: „Ham wa nich!" und nach einer sentiert, offenbar mit dem Erfordernis des öffentlich- kurzen Denkpause erläuternd hinzufügte, sie bringe rechtlichen Rundfunks zusammenhängt, an den Wer- sich mit sowas doch nicht in Schwierigkeiten. beeinnahmen teilzuhaben. (Zuruf von der CDU/CSU: Wahrscheinlich intellektuelle Schwierigkeiten!) Man sollte es als eine Chance für den öffentlich- rechtlichen Rundfunk begreifen, über Werbefreiheit Damit will ich sagen: Zwischen der politischen Ab- wieder mehr Programmautonomie zu erreichen. Ich sichtserklärung zur weltanschaulichen Pluralität - bitte Sie, diesen unseren Vorschlag vorurteilsfrei zu immerhin geschützt durch einen entsprechenden prüfen. Grundgesetzartikel - und der im wesentlichen durch 11274 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Wolfgang Bierstedt politisches Kalkül geprägten Wirklichkeit klafft doch Der Redakteur führt als Beweis eine ganze Reihe von eine ziemliche Lücke. tendenziellen Sendungen an. Ein kleiner Hinweis für die Kollegen vom Steno- Zweitens. graphischen Dienst: Falls Sie nicht ganz genau wis- Als Thomas Löffelholz, frischgekürter Chefre- sen, wie man „Ham wa nich!" schreibt, fragen Sie dakteur der „Welt", das Karlsruher Kruzifix-Ur- Ihre ostdeutschen Kollegen, falls Sie solche haben, teil in einem Leitartikel nicht in Bausch und Bo- die kennen das noch bestens aus ihrer Erinnerung. gen verdammte, verlangte Kirch (Zuruf von der SPD: Bayerisch ist viel - Leo genannt - schwieriger zu verstehen!) (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Der Wem dieses Kiosk-Beispiel nicht reicht, weil es sich heißt so!) dabei natürlich um einen Einzelfall handeln kann, der möge einmal darüber nachdenken, weshalb die prompt dessen Entlassung. Politische Ausgewo- Fraktionsvorsitzende der PDS im sachsen-anhaltini- genheit zählt sicher nicht zu den herausstechen- schen Landtag, Frau Dr. Petra Sitte, im Beirat des den Eigenschaften dieses medienscheuen Me- ZDF unerwünscht ist, im Gegenzug jedoch ein Herr dienmoguls. von der F.D.P. über das Vehikel Aushilfeplatz von der Bei allen bisher genutzten Medien hat Kapitalkon- CDU hineinmanövriert wurde. zentration zu einer Einschränkung der Meinungs- vielfalt geführt. Kennzeichnend dafür ist das rasche Meinungsvielfalt hin, aber politisches Kalkül her. und fast restlose Verschwinden der reichen und le- Nicht umsonst hat eine Vielzahl von Zeitungen aus bendigen Alternativpresse, die in und kurz nach der ihrem Kopf den Zusatz „unabhängig und überpartei- Wende in der DDR entstanden war, aus keinem an- lich " verbannt. Zweifelsfrei waren Presse, Rundfunk deren Grund als dem der erdrückenden Übermacht und Fernsehen in der DDR genauso gleichgeschaltet der Großen im ökonomischen Konkurrenzkampf. wie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, langwei- lig. Es gab aber zwei Vorteile: Zum einen gab es nur Es ist eine vielfach bestätigte Tatsache, daß Verei- sehr wenig Werbung - man könnte fragen: Wofür nigungen, Gruppen oder Initiativen von Bürgern ihre auch? -, und zum anderen wußte man ganz genau, Chance, mit zumeist nicht kommerziellen Presseor- daß die jeweilige Abteilung des ZK oder der Bezirks- ganen oder Rundfunkprogrammen in der Öffentlich- leitung der SED hinter fast jeder Meldung steckte keit wirksam zu werden, wegen der im Medienbe- und man davon ausgehen konnte, daß das Wesentli- reich herrschenden Marktgesetze sehr häufig nicht che zwischen den Zeilen stand. oder nur kurzfristig oder in sehr engen Bereichen realisieren können. So sind gerade Meinungen und Heute weiß die Allgemeinheit nicht mehr ganz ge- Anregungen an der Artikulation und Verbreitung ge- nau, wer hinter welchem Medienprodukt mit wel- hindert, die für eine lebendige Demokratie unersetz- chen Interessen steht. Das halte ich für bedenklich. lich sind und am ehesten geeignet wären, die einge- Denn der Medienbericht führt zwei weitere interes- fahrene Routine etablierter Institutionen und Organi- sante Sachverhalte aus: sationen zu durchbrechen. So auf Seite 85: Gewiß sind neben den ökonomischen auch andere - gesellschaftliche oder individuelle - Ursachen dafür Für jeden Bezirk der DDR gab es fortan - seit maßgeblich, daß sich diese Angebote nicht behaup- 1952 - eine SED-Zeitung mit dem P rivileg einer ten können. Nur die Marktgesetze verhindern in der flächendeckenden, jedoch wenig ausdifferen- Regel, daß sie überhaupt die Chance haben, sich ei- zierten Lokalberichterstattung. nen größeren Nutzerkreis zu erobern. Und auf Seite 88: Einschränkung der Meinungsvielfalt hängt auch mit der durch Konkurrenz um Werbeanteile beding- Heute, nach mehrjährigem Wettbewerb unter ten Verflachung des Kommunikationsangebotes der marktwirtschaftlichen Bedingungen, ist der Medien zusammen. Marktanteil der großen Bezirkszeitungen in den neuen Ländern, welche ohne Ausnahme von den (Zuruf von der CDU/CSU: Können Sie nicht großen westdeutschen Verlagshäusern übernom- mal langsamer lesen?) men wurden, zusammen mit über 91 Prozent noch etwas höher als vor dem politischen Um- Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist durch den bruch. Umfang des Wortprogramms und Mechanismen des Binnenpluralismus wenigstens eine gewisse, wenn Diese Medienmachtkonzentration macht mich als auch durchaus nicht hinreichende Meinungsvielfalt gelernten DDR-Medienbürger natürlich mißtrauisch. zu verzeichnen. Im größten Teil der privat-kommer- Ich will Ihnen mein diesbezügliches Mißtrauen mit ziellen Medien ist auf Grund der Banalisierung des zwei Zitaten aus einem Artikel des „Kölner Stadt-An- Angebotes und des geringfügigen Anteiles aktueller zeigers" vom 10. Juli dieses Jahres belegen. gesellschaftlicher Informationen schlicht kein Raum für Meinungsvielfalt, von den politischen Ambitio- Erstens. nen einzelner Veranstalter einmal ganz abgesehen. Fest steht, daß Kirch seinen Haussender SAT 1 (Zuruf von der CDU/CSU: Ich möchte mal praktisch stramm auf CDU-Kurs trimmt. wissen, wer das aufgeschrieben hat!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11275 Wolfgang Bierstedt - Das habe ich übrigens selbst geschrieben. Computern soll in allen Grundschulen obligato- risch werden. Alle 1,7 Millionen Arbeitnehmer (Zuruf von der CDU/CSU: Das hätten wir sollen bis zum Jahre 2006 über Computerwissen nie gedacht!) verfügen. In jedem Haushalt soll mindestens eine Wir schlagen vor, den Medienbericht zur Kenntnis Person Computer bedienen können. - zu nehmen. Aus diesem Grunde könnten wir uns 36 Prozent aller Haushalte sind heute schon aus- dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ganz ein- gestattet, und 24 Prozent haben Internet-An- fach anschließen. schluß. Danke schön. Ich komme noch einmal zurück auf die Aussage: (Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU/ „um uns nicht abzukoppeln von den entwickelten CSU: Der Beifall ist so dünn wie die Rede!) Staaten." Die Staaten, die hier als entwickelt be- zeichnet werden, nämlich die westeuropäischen Staaten, haben bei weitem noch nicht einen Stan- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, unsere Geschäftsordnung geht an sich davon aus, daß die dard in diesem Bereich wie Singapur. Ich will damit Beiträge in freier Rede vorgetragen werden. Ich erin- nur andeuten, welche Aufgaben auf uns zukommen. nere mich an eine Parlamentsreform, bei der eine be- Unabhängig von der Frage, was mit dem Computer sonders engagierte Reformerin diese Forderung un- angestellt werden kann - ich will ja die Gefahren terstrichen hat, dies aber vom Blatt las. überhaupt nicht vernachlässigen -, müssen wir als ein Land, das nur über einen einzigen Rohstoff ver- (Heiterkeit) fügt, nämlich die Qualität seiner Köpfe, dafür sorgen, daß die Defizite, die zum Teil vorhanden sind, ausge- Allerdings heißt es in diesem Parlament auch: er- glichen werden. Im Grunde genommen müßte doch ste, zweite und dritte Lesung. Das ist eine ambiva- dieses Land elektrisiert sein von den Möglichkeiten lente Geschichte. einer solchen Entwicklung und sollte bereit sein, sie Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Hans-Otto geistig offen mitzumachen. Wilhelm. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Warum sitzen wir denn in der Enquete Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Herr Prä- zusammen?) sident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe hoffnungsfroh der Eingangsbemerkung der - Das hat nicht nur etwas mit Enquete-Kommissionen Kollegin Sonntag-Wolgast zugehört, sie wolle erneut und abstrakter Beschreibung zu tun; vielmehr hat Grundpfosten einschlagen. Das Bemerkenswerte bei das auch etwas mit konkretem Tun zu tun. dem früheren Einschlagen von Grundpfosten war, Ich sage das deswegen, weil beispielsweise die daß die SPD sie immer wieder herausziehen mußte, Ausstattung von Schulen mit Computern eine der weil sie sich nämlich geirrt hatte. elementarsten Voraussetzungen dafür ist, daß man in Ich bin sehr im Zweifel, ob die Prognose über diesem Wettbewerbsprozeß, der gnadenlos geführt Technik und technologische Entwicklung, die in wird, nicht abgehängt wird. Ich frage, warum neben ganz erheblicher Weise nicht nur unser Leben, son- den Aktivitäten des Rüttgers-Ministeriums, in Zu- dern konkret die Medienwelt beeinflußt, ideologie- sammenhang mit der Telekommunikation mehrere befrachtet oder interessengesteuert, was den Aspekt tausend Schulen mit Computern auszustatten, bei- des öffentlich-rechtlichen Rundfunks anbelangt, auf- spielsweise die Sachkostenträger von Schulen er- rechterhalten werden kann. kennbar überhaupt nicht finanziell in der Lage sind, für eine der wichtigsten Zukunftsinvestitionen noch (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Die einen Pfennig auszugeben. Frage, was ideologisch ist, sollten Sie sich selber stellen!) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sagen Sie aber lie- ber: „Bereit sind"!) Ich will aus der Fülle der Möglichkeiten, an einen solchen Bericht heranzugehen, eine Meldung, wie - Oder bereit sind. sie jeden Tag kommt, einmal herausgreifen, um deut- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist natür- lich zu machen, was das für uns bedeutet. Das ist lich von Bundesland zu Bundesland auch eine Meldung, die gestern von einer Agentur kam verschieden!) und die wir schon oft in einem anderen Zusammen- hang vernommen haben: daß die Regierung des süd- - In der Tat. Aber es ist doch überhaupt gar keine ostasiatischen Stadtstaates Singapur für eine umfas- Frage: Es geht doch in Ordnung, wenn Bayern „on- sende Computerausbildung line" geht. Wir sollten hier keine föderalen Unter- schiede diskutieren; das Thema ist viel zu ernst. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr vor bildlich!) Ich plädiere dafür, daß auch die Länder ihre Ver- - in der Tat, Sie sollten das aber nicht zu hoffnungs- antwortung in diesen Fragen entdecken. Ich plädiere voll sagen - seiner Bürger sorgen wi ll, damit dafür, daß sie ihren nicht zahlungswilligen oder zah- lungsfähigen Kommunen in diesem Zusammenhang das Land im internationalen wirtschaftlichen helfen. Wie wollen wir denn diese Zukunft gewin- Wettbewerb gegen die entwickelten Staaten be nen, wenn in wenigen Jahren eine Eingangsvoraus- stehen kann. Eine Ausbildung im Umgang mit setzung für das Studium die Beherrschung des Com- 11276 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hans-Otto Wilhelm (Mainz) puters ist? Wie wollen wir in der Welt bestehen, diesen Schritt mitgeht und vorhandene Arbeitsplätze wenn in wenigen Jahren die Beherrschung des Com- stabilisiert und weiterentwickelt. puters Voraussetzung für den Eintritt ins Berufsleben (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) ist? Wenn wir uns von dieser Entwicklung abkop- peln, sind wir nicht konkurrenzfähig. Denn der Han- Wir alle müssen fähig sein, das zu erkennen. Hier - del mit Informationsgütern und mit Dienstleistungen hinkt die SPD - wie in vielen anderen Fragen des ge- wird die Herstellung traditioneller Produkte überflü- sellschaftlichen Fortschritts - deutlich hinterher. geln. Das Ziel der notwendigen Regelungen - das macht (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Wen wol uns bei der föderalen Struktur in Deutschland viel len Sie denn hier noch überzeugen?) Mühe - muß es sein, den alten, geprägten Rundfunk- begriff mit dem kompatibel zu machen, was an neuer - Ich appelliere an Sie, daß Sie den politischen, auch Kommunikation und Dienstleistung auf uns zukommt. den geistigen Rahmen liefern - wenn wir alle schon für mehr Arbeitsplätze in einem Land sind, das über ihren Verlust klagt -, daß Sie mit dafür sorgen, daß es Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege in dieser Beziehung keine Beschränktheiten gibt. Wilhelm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Bierstedt? (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ist doch Konsens!) Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Bitte Das kann ich bei Ihnen nicht immer feststellen. Bei schön. allen Zukunftstechnologien haben Sie in der Ver- gangenheit Schwierigkeiten gemacht. Ob das die Wolfgang Bierstedt (PDS): Herr Kollege, von der Gentechnologie ist oder andere Technologieberei- SPD-Bundestagsfraktion ist leider keiner der Kolle- che: Sie haben meines Erachtens eher behindert als gen anwesend, die dem Ausschuß für Forschung und gefördert, um es ganz deutlich zu sagen. Technologie angehören. Daher wird vielleicht Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. Mayer meine Frage bestätigen können. - Sie ha- Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das gilt leider ben den Oppositionskräften - vorrangig der SPD - heute noch, teilweise wenigstens!) pauschal vorgeworfen, daß sie den Vorlauf, den Deutschland erringen muß, um Informationsgesell- Es ist also unstreitig, daß die Bereitschaft für den schaft zu werden, verhindern. Wie sehen Sie die Tat- Wandel zur totalen Informationsgesellschaft, sache, daß gerade die Vertreter der Koalitionspar- teien gestern alle diesbezüglichen Anträge der Op- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Eine positionsparteien auf Erhöhung der ohnehin gekürz- totale wollen wir nicht!) ten Mittel dieses Haushaltstitels in Bausch und Bo- die beherrschbar gemacht werden muß, vorhanden gen abgelehnt haben? ist. Ob Sie das wollen oder nicht, ist völlig unbedeu- (Thomas Krüger [SPD]: Sie brauchen uns tend. Es ist so, verehrter Kollege; offenbar haben Sie nicht zu verteidigen!) nicht genügend Sachkunde in diesem Bereich. - Es geht nicht nur um Ihren Antrag, Herr Krüger, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr auch andere haben Anträge eingebracht. Ich vertei- wahrscheinlich!) dige Sie nicht allein. - Das ist doch ein offensicht- Die Technik der Digitalisierung und der Kompres- licher Widerspruch. sion von Daten hat sich in einer solchen Form entwik- kelt, daß das Abspeichern und das Verteilen von Wis- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Frage ist an- sen unbegrenzt möglich ist. Das alles ist in relativ gekommen. kurzer Zeit geschehen. Es wird eines der größten Entwicklungspotentiale der Wirtschaft sein; das Land Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Ich war Bundesrepublik Deutschland muß nur bewußt derar- bei der Behandlung des Gegenstands nicht dabei. tige Wirtschaftszweige nutzen. In diesem Sinne soll- Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob das in dieser ten wir ein geistiges Bündnis eingehen, um dieses vereinfachten Form zutreffend ist; denn ich kann Ziel zu erreichen, wenn wir etwas mit der Zukunfts- mich an alles, was von unseren Kollegen in diesem fähigkeit unseres Landes im Sinn haben. Bereich gemacht wurde, erinnern. Wir haben a llem, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) was diese Entwicklung fördert, auch hohe finanzielle Priorität eingeräumt. Ich glaube, daß das, was Sie sa- Es nutzt nichts, darüber zu lamentieren, daß wir gen, töricht und ideologiegeprägt ist und nur zur Dif- Arbeitsplatzbedarf haben. Wir müssen die neuen famierung der Union beitragen soll. Anders kann ich Entwicklungen in diesem Sinne nutzen. Es ist . auch mir das nicht vorstellen. völlig müßig, die Frage, ob die neue Informations- gesellschaft 1 Million, 5 Millionen oder nur 200 000 Herr Kollege neue Arbeitsplätze zu schaffen imstande ist, theore- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wilhelm, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage tisch zu erörtern. Ich weiß es nicht. Eines ist jedoch des Kollegen Catenhusen? auf jeden Fall sicher: Wenn wir diesen Schritt nicht mitgehen, werden die vorhandenen Arbeitsplätze noch schneller verlorengehen als dann, wenn man Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Ja, bitte. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11277

Wolf-Michael Catenhusen (SPD): Kollege Wilhelm, Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Bitte. es gibt niemanden hier im Saal, der Ihnen wider- spricht, daß der schnellstmögliche Anschluß von möglichst vielen Schulen an das Internet eine gute Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Kollege Wilhelm, wollen Sie mit diesen Ausführungen sagen, Sache ist. Ich frage Sie: Wissen Sie nicht, daß die - wirklichen Probleme für die Schulen die Anschluß daß sich die CDU/CSU sozusagen gezwungen ge- gebühren und die monatlichen Kosten sind? Ist Ihnen fühlt hat, auf Grund der jetzt nicht mehr vorhande- bekannt, daß die SPD-Fraktion gerade bei den Bera- nen begrenzten technischen Möglichkeiten den tungen zum Telekommunikationsgesetz Vorschläge privaten Rundfunk einzuführen? So weit wollen Sie gemacht hat, daß für solche Einrichtungen Sonder- doch wohl nicht gehen? Dahinter steckte doch auch konditionen und -tarife eingerichtet werden? Warum politischer Wille. Das wissen Sie doch. Übrigens ist hat Minister Bötsch unsere Vorschläge in dieser Sa- unbestritten, daß dies auch bei Teilen der SPD der che nicht unterstützt? Fall war.

Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Sie, die Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Also, wir Damen und Herren der SPD, schneiden gern die Rie- müssen in dieser Frage doch ein Privatissimum ma- men aus anderer Leute Leder. Ich kann nicht den Te- chen. lekommunikationsbereich privatisieren - das ist eine der größten politischen Leistungen überhaupt -, ei- (Zuruf von der CDU/CSU: Das hättest du nen ganz harten Wettbewerb einführen - wir wollen wohl gerne!) ihn alle, weil er im Dienste des Kunden ist - und von Man darf nicht nur in Journalistenveranstaltungen Anfang an die privatisierte Telekommunikation - in vorne stehen und Allgemeines sagen, sondern man der Verfassung festgelegt - mit politischen Auflagen muß auch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes befrachten, die zur Konkurrenzunfähigkeit führen. lesen. Das ist eine typisch sozialdemokratische Begriffsver- drehung von Marktwirtschaft. (Thomas Krüger [SPD]: Aber ja!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Danach ist die Festlegung, daß öffentlich-rechtlicher Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Warum Rundfunk, also Rundfunk des Volkes, gemacht wer- können die Amerikaner das denn?) den muß, ausschließlich auf zwei Aspekte zurückzu- Deswegen kommen Sie mit Ihrer Politik auch nicht führen: erstens auf den finanziellen Aufwand und voran. Sie begreifen das einfach nicht. zweitens auf die Begrenztheit von Frequenzen. Es stand nämlich bekanntermaßen nur eine terrestri- Frau Sonntag-Wolgast hat gemeint - ich will es mit sche Frequenz zur Verfügung, meinen Worten sagen -, wir hätten als Ergebnis die- ser Entwicklung den privaten Rundfunk durchge- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das peitscht. Ich glaube, das war ihre Formulierung. Der war doch gar nicht meine Frage!) Begriff hat so etwas Unkeusches an sich. Die SPD - auch eine so sachkundige Journalistin wie meine und niemand wollte, daß sich das in die Richtung der Kollegin Sonntag-Wolgast - hat bis heute nicht ver- Meinungsbeeinflussung durch einen p rivaten Rund- standen, daß es überhaupt nicht vom Willen der poli- funk bewegt. Nur aus diesem Grunde wurde der öf- tisch Handelnden abhängig ist, ob man p rivaten fentlich-rechtliche Rundfunk gegründet. Die techni- Rundfunk zuläßt oder nicht. Das ist allein über Art. 5 sche Entwicklung durch Digitalisierung und Kom- des Grundgesetzes geregelt. Auf Grund der Be- pression hat die Übertragungswege unendlich zahl- grenztheit der terrestrischen Frequenzen war Rund- reich gemacht. In dem Moment müssen Sie privaten funk zunächst auf den öffentlich-rechtlichen Rund- Rundfunk zulassen. Es ist nicht mehr Ihrem politi- funk begrenzt. Nachdem diese Begrenztheit durch schen Veto überlassen, ob Sie das wollen oder nicht. Digitalisierung und Kompressionstechnik aufgelöst Sie haben darauf einen verfassungsrechtlichen An- worden war, mußten nach A rt. 5 des Grundgesetzes spruch. Aus diesem Grund haben wir heute aus Ihrer privater Rundfunk und p rivates Fernsehen zugelas- Sicht das Dilemma, daß wir den dualen Rundfunk ha- sen werden. Das ist eine völlig ideologiefreie Ent- ben und daß sich aus dieser Entwicklung eine Viel- scheidung, die Sie offenbar bis heute nicht verstan- zahl von Problemen, auch für die öffentlich-rechtli- den haben. chen Rundfunkanstalten, ergibt. Das ist überhaupt keine Frage. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Bundesverfassungsgericht hat den öffentlich- Oder kennen Sie vielleicht öffentlich-rechtliche Zei- rechtlichen Rundfunkanstalten - in Weiterführung tungen? - Nein, in diesem Bereich, der auch über seiner Urteile zu Rundfunkfragen - in der Tat eine Art . 5 des Grundgesetzes geregelt wird, gibt es übri- Bestands- und Entwicklungsgarantie gegeben, was gens fast nur p rivate Zeitungen. Niemand nimmt an sehr unterschiedlich interpretiert wird. Es hat ihnen, diesem System Anstoß, um das ganz deutlich zu sa- weil private Rundfunkanstalten ihn noch nicht erfül- gen. len, den Grundversorgungsauftrag zugewiesen. Be- denken Sie doch einmal - jenseits a ller parteipoliti- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege scher Verengungen, zu denen Sie offenbar fähig Wilhelm, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage sind -, der Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast? (Heiterkeit) 11278 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hans-Otto Wilhelm (Mainz) daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Zeichen sind doch die sehr subtilen - auch rechtlichen - Fra- von Popularisierung von Programmen steht. Oder gen, die unserer Beurteilung bedürfen. Das hat mit glauben Sie, daß die Einführung von Spartenpro- CDU- und SPD-Politik überhaupt nichts zu tun. grammen, die Einführung der dritten Programme, die Überlegung, auch im öffentlich-rechtlichen Be- (Zurufe von der SPD: Überhaupt nicht!) reich Pay-TV einzurichten, nur das Ziel hat, die Qua- Es hat was mit Verfassungsrecht zu tun, meine Da- lität des Programms - in Ihrem Sinne - im Hauptpro- men und Herren. Das müssen wir hier deutlich se- gramm zu verbessern? Nein, man will natürlich eine hen. Ich glaube - der Kollege Stadler hat das unter- gewisse Anpassung an populäre Programme und strichen -, daß die meisten neuen Dienste Individual- Quotenentwicklung bei den Privaten haben - das ist angebote sind, die nicht unter den Rundfunkbegriff doch gar keine Frage - und entfernt sich damit stück- fallen. Der Rundfunkbegriff ist etwas völlig anderes. weise - obwohl das nichts mit Qualitätsanspruch zu Er wendet sich an die Allgemeinheit. Er verlangt tun hat - auch von dem Aspekt der Grundversor- Spartenvielfalt usw. - alles Rechtssprechung des gung. Bundesverfassungsgerichtes. Wenn wir diese Sache streitig austragen, werden Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege wir nie vorankommen, weil die SPD dazu neigt, im Wilhelm, Sie sehen, daß auch der Kollege Dr. Stadler Zweifelsfall alles, was neu ist, unter den Begriff eine Zwischenfrage stellen möchte. Gestatten Sie „Rundfunk" zu subsumieren und damit auf Grund die? unserer föderalen Struktur einen Prozeß in Gang zu setzen, der uns in der Entwicklung in Deutschland Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Ich finde deutlich behindert. es immer hochinteressant, wenn so viel Interesse ge- Deswegen halte ich es für vernünftig, daß von weckt wird. Bund und Ländern eine pragmatische Lösung gefun- den wird. Es wird derzeit versucht, sich in einem ent- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Kollege Wilhelm, sprechenden Staatsvertrag aufeinander zuzubewe- stimmen Sie mir zu, gen. Ob dieses Sich-aufeinander-Zubewegen vor den Verfassungen Bestand hat, ist eine völlig andere (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) Frage. Ich erinnere zum Beispiel an die Verfassungs- daß die verfassungsrechtliche Diskussion heute be- beschwerde von n-tv im Zusammenhang mit der Be- reits einen entscheidenden Schritt weitergegangen reitschaft der öffentlichen Rundfunkanstalten, Spar- ist, daß heute diskutiert wird, ob der einzelne p rivate tenprogramme zu machen. All diese Fragen sind Sender überhaupt noch einer Konzessionierung be- rechtlich nach wie vor umstritten und auch längst darf oder frei eröffnet werden kann, wie das im Pres- nicht alle gelöst. sewesen der Fall ist? Natürlich fragt man sich: Wie schaffen wir es ange- sichts der Entwicklung im Internet, junge Menschen Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): In der Tat. vor Gewalt zu schützen? Ist das Ganze überhaupt be- Ich finde nur, wenn man über so schwierige Fragen herrschbar? Reicht es aus, digitale Sittenwächter ein- spricht, sollte dieses Basiswissen auch bei den Kolle- zubauen? Reicht es aus, ein „net nanny" zu produzie- gen der SPD vorhanden sein. Dann hat man eine bes- ren? Ist die nationale Gesetzgebung ausreichend? - sere intellektuelle Grundlage, um über so schwierige Natürlich ist sie nicht ausreichend! Wir können viele Fragen zu reden. dieser Fragen verständlicherweise nicht abschlie- ßend beantworten. Aber möglicherweise wird das In- In dem Maße, in dem sich p rivater Rundfunk dem ternet in drei Jahren so überlaufen sein, daß niemand Grundversorgungsauftrag nähert - was nicht ausge- mehr hineinkommt und daß die Vermittlung von In- schlossen ist - formationen erst nach mehreren Stunden möglich ist. (Thomas Krüger [SPD]: So ist es!) (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Ja, was und sich möglicherweise der öffentlich-rechtliche machen wir denn dann?) Rundfunk auf Grund des Quotendrucks ein Stück - Ich weiß nicht, ob Sie wirklich ein angemessener vom Grundversorgungsauftrag entfernt, ohne daß es Gesprächspartner bei so schwierigen Fragen sind. dadurch keiner mehr sei, muß über die Frage der Wenn Sie nicht mehr dazu beitragen können als eine Gleichrangigkeit zwischen öffentlich-rechtlichem solche Frage, dann ist das ein bißchen wenig. Rundfunk und privatem Rundfunk nachgedacht wer- den. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nur Sie haben die Weisheit mit Löffeln geges- Diese Gleichrangigkeit bezieht sich beispielsweise sen! Nur Sie wissen alles!) auf die Frage des Zugangsrechts zu Kabelnetzen. Sie wissen, daß heute der öffentlich-rechtliche Rundfunk Also, meine Damen und Herren, vor diesem Hin- einen Vorrang hat. Was machen wir denn, wenn ne- tergrund ist die Frage begründet, die zu Recht aufge- ben den beiden Spartenprogrammen möglicherweise worfen worden ist, ob sich wegen des Aufeinander- auch Pay-TV im öffentlich-rechtlichen Bereich käme. zubewegens von privatem und öffentlich-rechtli- Wenn alle diese öffentlich-rechtlichen Programme chem Rundfunk die Privilegien des öffentlich-rechtli- ein Vorgriffsrecht auf die Kabelnetze hätten, dann chen Rundfunks reduzieren. Die Übernahme der müßten alle privaten Anbieter nach der jetzigen Grundversorgung durch die Privaten hat rechtliche Rechtslage aus den Kabelnetzen verschwinden. Das Folgen, die natürlich auch die Gebührenfrage berüh- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11279

Hans-Otto Wilhelm (Mainz) ren. Unabhängig von diesen Fragen werden wir doch die Tatsache ungeschehen, daß der Anteil ausländi- alle für das öffentlich-rechtliche System streiten. Das scher Filme, vor allem Filme amerikanischer Prove- ist überhaupt keine Frage. Jeder, der etwas anderes nienz, in den letzten Jahren bei 88 Prozent liegt. Den behauptet, sagt es nicht zutreffend. Franzosen geht es da keinen Deut besser. (Zuruf von der SPD: Das ist doch der Kern Frau Wolgast, wir haben eine Präferenzförderung beim Film, das heißt, wir orientieren uns am Erfolg in-punkt!) der Hoffnung, daß der nächste geförderte Film eben- Angesichts der Bestands- und Entwicklungsgaran- falls ein Erfolg wird, was nicht immer so ist. tie ist die Frage doch nur, Frau Sonntag-Wolgast: Wollen wir denn wirklich hinnehmen - Ansätze an- derer Art gibt es ja Gott sei Dank -, daß das öffent- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, lich-rechtliche System, über Gebühren finanziert, im- achten Sie bitte auf die Zeit. mer teurer wird? Haben die Parlamente nur die Funktion des Absegnens von tatsächlichen oder ver- Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Das ist meintlichen Ausgabensteigerungen? Ist es nicht rich- zwar ein wichtiger Aspekt, aber es ist kein ausrei- tig, als Politiker sagen zu dürfen: Wir schaden dem chender Aspekt. öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt nicht, wenn wir sagen: Prüft einmal eure Struktur, speckt Ich sage noch einmal: Lassen Sie uns unserer Film- ab? Dadurch braucht der öffentlich-rechtliche Rund- wirtschaft ein bißchen mehr helfen! Wir haben tau- funk in keiner Weise schwächer zu werden. Muß es send mittelständische Bet riebe. Konkurrenzdruck ist so viele Anstalten geben? Muß es 55 Hörfunkpro- da; die Kapitalausstattung ist nicht ausreichend. Wie gramme geben? ist es beispielsweise mit dem Risikokapital? Ich stelle nur fest, daß es neben den dritten Pro- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, ha- grammen, neben A rte, neben 3-Sat, neben zwei ben Sie mich gehört? Sie müssen auf die Zeit achten. Spartenprogrammen - ich will an dieser Stelle noch einmal wiederholen: Dem zweiten Spartenprogramm dürfen die Länderparlamente meines Erachtens nicht Hans-Otto Wilhelm (Mainz) (CDU/CSU): Ich habe zustimmen, solange die Auflage der Ministerpräsi- es nicht gehört. denten, daß es kein Informationskanal sein darf, -nicht erfüllt ist - dann möglicherweise noch Pay-TV Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: In Ordnung. Ich Überlegungen gibt. Sie können doch nicht sagen, habe auch keine Reaktion von Ihnen gespürt. daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Gefahr ist, zerrieben zu werden. Das Gegenteil ist der Fall. (Mainz) (CDU/CSU): Lassen Ich halte es nicht für hinnehmbar, daß wir in einem Hans-Otto Wilhelm Sie uns aus diesem Grunde über Arbeitsplätze reden, stetigen „Ritual der Interessen" alle vier Jahre die die zukunftsfähig sind, zum Beispiel in den Produk- Rundfunkgebühren erhöhen müssen - in den Län- tionsgesellschaften. dern, wohlgemerkt. (Zuruf von der SPD: Und im Handel!) Aus diesem Grunde bedarf es des Abspeckungs- prozesses, ohne daß damit die Substanz, die Aussa- - Ja, auch im Handel. gekraft und die Qualität - wenn sie denn noch vor- handen ist - des öffentlich rechtlichen Systems we- Ich freue mich, daß wir den Dialog fortführen. Ich sentlich eingeschränkt werden müssen. Mir hat noch hoffe, daß das bei den Sozialdemokraten in Zukunft niemand erklären können, warum nicht fünf öffent- auf einem inhaltlich höheren Niveau geschieht, als es lich-rechtliche Anstalten genauso gut arbeiten kön- bisher feststellbar war. nen wie die, die es jetzt gibt. Warum sollen wir das (Beifall bei der CDU/CSU) im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht fordern dürfen? Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Meine Damen und Herren, ich sage zum Thema Kollege Thomas Krüger, SPD. Filmförderung, zu dem der Kollege nach mir noch sprechen wird, nur so viel: Da gibt es weitestgehend Thomas Krüger (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Einvernehmen. Ich bin dafür, daß mit den P rivaten, men und Herren! Herr Kollege Wilhelm, nachdem den Öffentlich-Rechtlichen und den Videotheken er- Sie uns hier mit wahren Elektroschocks überflutet folgreich diskutiert wird, in die Filmförderung zu haben, um Ihr Beispiel von vorhin aufzugreifen, will zahlen. Aber ich akzeptiere auch die Erwartung der ich ein paar Anmerkungen zu Ihren Ausführungen Privaten, daß sie von dieser Förderung etwas haben, hinsichtlich der Technologiepolitik machen. (Zuruf von der SPD: Das haben sie doch Herr Catenhusen hat es vorhin schon angespro- auch!) chen: Wenn es um die Ausstattung der Schulen mit daß sie mehr davon haben, als sie bisher hatten. Computern geht, kommt es überhaupt nicht darauf an, ob die Hardware in die Schulen kommt. Die we- Ich will zum Thema Filmförderung darüber hinaus nigen tausend Schulen sind bei über 40 000 Schulen noch sagen: Die Schwalbe, wie sie hier zu Recht von in Deutschland nur ein Klacks, wenn ich mir die Pro- Staatssekretär Waffenschmidt beschrieben wurde, gramme in Großbritannien und in den Vereinigten daß sich der Anteil erhöht hat, macht trotzdem nicht Staaten von Amerika angucke. Der entscheidende 11280 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Thomas Krüger Punkt ist die Gebührenfreiheit. Das hätten wir im Te- mehr zurückgedrängt, wie der Chefredakteur des lekommunikationsgesetz in der Tat regeln können. Berliner „Tagesspiegels", Walter Stützle, vor kurzem bemerkte. Die Information wird im Medienzeitalter (Beifall bei der SPD) zur Ware, und das kommt nicht ihren kulturellen Wir brauchen nämlich nicht nur Datenautobahnen, Verankerungen zugute. Das haben wir in den letzten wir brauchen auch Datenbürgersteige, und zwar für Jahren erfahren. die Jugendlichen, damit auch do rt das Know-how Ich wünsche mir einen bald neu erstellten Medien- wächst, so daß der Standort Deutschland hinsichtlich bericht, der diese Fragen - auch die kulturellen Fra- der Technologiepolitik einen entsprechenden gen, die Frau Sonntag-Wolgast vorhin angesprochen Schwung bekommt. hat - mit reflektiert und nicht nur narzißtische Selbst- (Beifall bei der SPD) darstellung betreibt. Ich will dafür gleich ein Beispiel anführen. Sie berufen sich sonst immer so gern auf die Verei- nigten Staaten von Amerika. Sie wissen, daß do rt das Der Medienbericht geht auf die Printmedien und Telefonieren im lokalen Bereich gebührenfrei ist. Das ihre Neugestaltung in den neuen Bundesländern hat eine ungeheuere Dynamik in den Gesamtkom- ein. Da ist ein fataler Fehler gemacht worden. Im plex der neuen Technologien gebracht und bei jun- Grunde genommen sind die alten SED- und Block- gen Menschen ein Know-how erzeugt, das eine un- parteizeitungen privatisiert worden und auf be- geheuere Eigendynamik, einen ungeheuren Selbst- stimmte Verlage übergegangen. Der richtige Weg organisationsprozeß ausgelöst hat. Davon würde ich wäre gewesen, zu einer Vielfalt auf dem Markt zu mir hier mehr wünschen. kommen und mehrere kleinere Blätter zu erreichen; denn das, was sich heute faktisch im Leserverhalten Erster Punkt: Gestern, so hörte ich, sind im Aus- bei den Printmedien in den neuen Bundesländern schuß gedeckte Anträge der SPD zum Technologie- darstellt, ist, daß nur eine Tageszeitung, nämlich die bereich über 180 Millionen DM von Ihnen abgelehnt ehemalige SED- oder Blockparteizeitung, gelesen worden. Der Etat des Kollegen Rüttgers ist um wird, aber kaum überregionale Zeitungen gelesen 4,2 Prozent zurückgefahren worden. Mir scheint hier werden, und auch die Wochenblätter werden in den noch nicht ersichtlich zu sein, ob Sie das wirk lich zu neuen Bundesländern kaum gekauft. einem Schwerpunktthema machen. Sie vernachlässi- gen diesen Bereich in recht klarer Weise. Ich glaube, das ist auch das Ergebnis dieser Politik der Privatisierung, und auf ein undemokratisches Zu dem, was Sie zur Verstopfung des Internet ge- Meinungsmonopol ist nur ein demokratisches Mei- sagt haben: Ich weiß nicht, ob Sie sich auf diesem nungsmonopol gefolgt. Das ist nach meinem Ver- Gebiet wirklich auskennen und schon einmal gesurft ständnis zuwenig für einen medienpolitischen An- sind. Sie reden doch immer der Liberalisierung der spruch, der auf Informationsvielfalt und Informati- Netze das Wort, und Sie wissen, daß mittlerweile onsfreiheit setzt. durch die neuen Rechnerkapazitäten auch Rechner- kapazitäten anderer Computer mitgenutzt werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- können. Da gibt es eine ungeheure Bewegung, so ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - daß von einer Verstopfung des Inte rnet nun wahrlich Wolfgang Bierstedt [PDS]: Welche überre- nicht die Rede sein kann. gionale Zeitung lesen Sie denn?) Angesichts der Tatsache, daß dieser Medienbericht - Herr Bierstedt, ich möchte mich mit Ihnen nicht zwei Jahre alt ist und der vorhergehende acht Jahre auseinandersetzen. Das habe ich bei dem Beispiel dahinter zurückliegt, glaube ich: Es sind ganze Epo- der Printmedien soeben doch wohl zur Genüge ge- chen, Jahrhunderte über die Bundesregierung hin- tan. weggegangen, und es ist kein Wunder, daß die Bun- Zweiter Punkt: das Verhältnis zwischen öffentlich- desregierung heute in Sachen Medienpolitik so alt rechtlichen und privaten TV-Anbietern. Die Diskus- aussieht, wie es der Medienbericht ist. sion darüber ist meiner Meinung nach sehr wichtig. (Beifall bei der SPD) Wir dürfen uns nicht in die Tasche lügen. Mit dem dualen System sind auch wichtige Impulse von seiten Zunächst eine Vorbemerkung: Die rasanten Ent- des privaten in Richtung des öffentlich-rechtlichen wicklungen in der Mediengesellschaft haben einer- Fernsehens gekommen, das zum Teil sehr verkrustet seits zu bedenkenswerten Zuspitzungen geführt. Ich war. Wir wissen allerdings auch, daß die p rivaten TV- erinnere daran, daß noch Churchi ll das Fernsehen Anbieter mit sehr flachen Programmstrukturen be- geradezu verachtet hat. Politik ist jedoch immer mehr gonnen haben. Das hat sich etwas verbessert; ich als medial vermittelte Politik. Andererseits steht die komme nachher bei der Filmförderung noch einmal Medienpolitik als Regulierung des Medienmarktes darauf zu sprechen. natürlich in der Gefahr, nur noch in Wirtschaftskal- külen und in Wirtschaftsparametern gemessen zu Von Ihnen, Herr Wilhelm hätte ich ein klareres und werden. unmißverständlicheres Bekenntnis zum öffentlich- rechtlichen Rundfunk erwartet. Sie müssen hier er- Hier öffnet sich eine verhängnisvolle Schere. Auf klären, daß Sie den Deutschen nicht nur die Lohn- der einen Seite werden Meinungen immer schneller fortzahlung im Krankheitsfall wegnehmen, sondern produziert, wie wir auch im Fall Born sehen - das daß Sie den Deutschen auch noch die „Tagesschau" geht bis hin zu Fälschungen -, und auf der anderen wegnehmen wollen, wenn Sie hier dem freien Markt Seite werden Erfahrungsanteile reflexiver A rt immer das Wort reden und die Werbung bei den öffentlich- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11281 Thomas Krüger rechtlichen Anbietern in Zukunft einschränken oder stimmte Informationen und Sendungen nicht mehr ganz und gar verbieten wollen. Sie wissen ganz ge- konsumieren. Ich halte es deshalb für wichtig, daß nau, daß das dann wieder mit erhöhten Gebühren etwa Sportsendungen, aber auch andere Sendungen bezahlt werden muß und ein immer stärkerer Druck zeitgleich oder zeitnah im Free-TV zur Verfügung auf den Bereich der öffentlich-rechtlichen Anbieter gestellt werden. Hier sollte man zwischen den ver- entsteht. schiedenen Fraktionen einen Konsens herstellen. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU: Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind Rationalisierungsreserven da!) Der vierte Punkt schließlich betrifft die Filmpolitik. Hier setzt meine Kritik auch an den öffentlich-rechtli- Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist chen Anstalten an. Wenn Sie einmal mit Produzenten die Begrenzung der Machtkonzentration. Ich der Filmbranche reden, werden Sie feststellen, daß glaube, das ist überhaupt eine der zentralen Fragen. bei den Verträgen für die entsprechenden Film- oder Sie ist es deshalb, weil die Vernetzung zwischen den Fernsehproduktionen alle Rechte und Lizenzen an verschiedenen Medien in einem gravierenden Maße die Sender abgetreten werden müssen. Das führt zugenommen hat. Die großen Medienkonzerne ha- dazu, daß die Produzenten kein Eigenkapital bilden ben die Meinungsmacht in Deutschland. Deshalb be- können und ihre Produktion nicht zwischenfinanzie- grüße ich ausdrücklich die Position der Länder in die- ren können. Das ist in diesem Bereich wiederum eine ser Frage. Sie haben nämlich Obergrenzen festge- Beschädigung der mittelständischen Wirtschaft. Mei- legt. Als Sozialdemokraten werden wir sehr genau nes Erachtens müssen wir überprüfen, ob die bishe- prüfen, ob die Strategie, Fensterprogramme einzu- rige Filmförderung überhaupt greift. richten und Rundfunkbeiräte vorzusehen, auch wirk- lich greift. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Ich komme zu einem dritten Punkt, der mir sehr Sollte nicht der Trend eher dahin gehen, daß wir un- wichtig ist - dabei wende ich mich an den Kollegen abhängige Produzenten zugunsten der Angebots- Waffenschmidt -: Für meine Begriffe gibt es in der vielfalt in die Lage versetzen, Rechteanteile zu er- Medienpolitik des Bundes ein großes Defizit: die Au- werben oder an den Lizenzen beteiligt zu werden? ßenvertretung der Bundesrepublik hinsichtlich der Nur so kann man im Grunde Angebotsvielfalt und europäischen Medienpolitik. Ich möchte ein paar fa- letztendlich auch Programmqualität sichern. Dieser tale Beispiele aus dem Filmbereich nennen: unser Regierung muß man ins Stammbuch schreiben, daß -fehlender Einfluß bei der Gestaltung des Media-II sie mehr für die Medienwirtschaft tun muß. Das Programms, die Einstellung des EFDO-Filmprogram- scheint mir derzeit noch nicht gegeben zu sein. Des- mes, das in Hamburg angesiedelt war, und zum drit- halb meine ich, daß es auf Bundes- und Landesebene ten auch die französischen Bemühungen um einen weitere Bemühungen geben muß. Garantiefonds im Filmbereich. Hier finden Entwick- Abschließend eine Bemerkung zur Euphorie, die lungen statt, die im Grunde genommen völlig an im Bereich der neuen Medien ja immer urn sich Deutschland vorbeigehen. greift. Wir haben es hier mit einem ungeheuren Ent- Ich würde mir wünschen, daß die Bundesregierung wicklungsschub zu tun, der globale Ausmaße hat. gemeinsam mit den Ländern für eine repräsentative Daß diese Regierung der Technologiepolitik zu we- und mit entsprechender Kompetenz ausgestattete nig Bedeutung beimißt, weiß mittlerweile jeder. Die Außenvertretung der Bundesrepublik Position be- Etatkürzungen, die ich vorhin angesprochen habe, zieht; denn auf europäischer Ebene werden wir zur zeigen das zur Genüge. Man hat den Eindruck, daß Zeit von anderen Mitgliedsländern wie ein Suppen- Technologiepolitik im Hause Waigel gemacht wird. huhn ausgenommen. So kann das nicht weitergehen. Der macht seine Arbeit so gründlich, daß sie über- Der Produktionsbereich im Film- und Fernsehbereich haupt nicht stattfindet. leidet darunter. Das ist mittelständische Wi rtschaft, (Beifall des Abg. Wolfgang Bierstedt [PDS]) die es mit entsprechenden ordnungspolitischen Rah- menbedingungen zu schützen gilt. Diese Regierung manövriert Deutschland nicht ins nächste Jahrtausend, sondern ins kümmerliche Ab- Es wurde vorhin schon ein sehr wichtiger Punkt seits. Wären Sie wenigstens Stürmer und Dränger, angesprochen: Bei der Ausweitung der Möglichkei- könnte man Ihnen jetzt noch einen schönen Satz von ten im Bereich des öffentlich-rechtlichen und priva- Hans Magnus Enzensberger ins Stammbuch schrei- ten Fernsehens - durch die digitalen Techniken ist ben. Ich zitiere: das ja sehr gut möglich - ist natürlich darauf zu ach- ten, daß bestimmte öffentliche Angebote - ich nenne Fünfzig oder hundert Fernsehkanäle, Datenauto- das Stichwort Grundversorgung - nicht dadurch vor- bahnen, interaktives TV, alles schön und gut, enthalten werden, daß man auf Pay - TV oder ,,Pay aber es ist auch viel Schaumschlägerei dabei. Im per view" - Angebote mit ihren ungeheuren Kosten allgemeinen kann man sagen, je neuer ein Me- angewiesen ist. Meines Erachtens besteht hier die dium, desto leerer ist es auch. Alle reden von große Gefahr, daß wir es bei einer breiten Gruppe in Kommunikation, aber die wenigsten haben sich der Bevölkerung mit einem Informationsproletariat etwas mitzuteilen. ... Es gibt sehr erfolgreiche zu tun bekommen, das es sich nicht mehr leisten Zeitungen, die keinerlei Information enthalten. kann, diese teuren Angebote in Anspruch zu neh- Auch die meisten Fernsehprogramme haben den men. Es ist deshalb auf die öffentlich-rechtlichen und Zustand der vollkommenen Leere erreicht. Die privaten Anbieter angewiesen und könnte dann be- Zuschauer benutzen sie als Tranqui lizer. Insofern 11282 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Thomas Krüger sind die neuen Medien eher ein Teil der Pharma- von der Welt. Eltern sind ihren Kindern unterhalts- industrie, und es ist natürlich ein großer Vorteil pflichtig, Vater und Mutter gleichermaßen, und unter für die Produzenten, daß ihre Waren rezeptfrei zu den Bedingungen der Trennung ändert sich an die- haben sind. sem Grundsatz nichts. Wahrscheinlich werfe ich hier aber Perlen vor die (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Säue. Ich hoffe, daß diese Regierung endlich auf- wacht und wieder zu Innovationen im Bereich der In der Regel ist die Mutter diejenige, die Betreu- Medienpolitik bereit ist. ung leistet, der Vater derjenige, der den Finanzbe- darf eines Kindes zur Verfügung stellt. Das BGB, un- (Beifall bei der SPD) ser ehrwürdiges Gesetz in seiner ehrwürdigen Weis- heit, hält beide Leistungen für gleich we rt. Ich sage dazu: Auf dem Markt wären jedenfalls die Dienstlei- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die Aussprache. stungen eines betreuenden Elternteils nur zu sehr viel höheren Preisen zu bekommen. Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Medienbericht 1994, Drucksache 13/4288. DIE GRÜNEN) Der Ausschuß empfiehlt unter dem Buchstaben a, Aber wie dem auch sei, ich wi ll es erst einmal hin- den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für nehmen, obgleich ich manchmal ein bißchen das Ge- fühl habe, die Sprache des BGB ist an dieser Stelle diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig unangemessen kavalierhaft - als ob es auch noch angenommen. etwas Besonderes wäre, daß dies so gewertet wird. Dann kommt der Grundsatz der Der Innenausschuß empfiehlt unter dem Buchsta- Halbteilung im ben b seiner Beschlußempfehlung die Annahme ei- Kindergeldrecht. Wenn dies so ist, daß der Vater ner Entschließung. Wer stimmt für diese Beschluß- zahlt und die Mutter betreut - in der Regel ist es ja so empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die oder sollte es so sein, jedenfalls was die Zahlung des Vaters angeht -, dann wird das Kindergeld zwischen Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung vom beiden aufgeteilt. Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD Meine Damen und Herren, diese Grundsätze kön- angenommen. nen nur richtig sein oder nur umgesetzt werden, wenn das Existenzminimum, das heißt der Finanzbe- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- darf eines Kindes - wie das im übrigen das Gesetz ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen befiehlt - denn auch von dem zahlungspflichtigen auf Drucksache 13/5589. Wer stimmt für diesen Ent- Elternteil geleistet wird. schließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Die gesetzliche Materie, für die Ihr Haus auf Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bünd- Grund der Ermächtigung des BGB zuständig ist, nis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei nämlich die Festlegung des Finanzbedarfs von Kin- Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. dern, wird dem nicht gerecht. Denn der Finanzbe- darf, dessen Regelung Sie seit vielen Jahren als Bun- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: desjustizministerium in der Hand haben, Herr Staats- sekretär, ist weit unterhalb der Schwelle dessen, was Beratung des Antrags der Abgeordneten Mar- wir als Existenzminimum von Kindern im Steuer- got von Renesse, Christel Hanewinckel, Lilo recht anerkennen, Blunck, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD (Beifall bei der SPD) Bedarfsdeckende Unterhaltssätze für Kinder und das nicht auf Grund von Großzügigkeit, oh nein. Wir alle haben miterlebt, wie es errechnet wurde. Ich - Drucksache 13/5211 — muß gestehen, daß mich das Verhalten der Fiskali- Überweisungsvorschlag: sten auf diesem Gebiet an das Verhalten mancher Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterhaltspflichtigen Eltern erinnert hat. Rechtsausschuß (federführend) Haushaltsausschuß (Christel Hanewinckel [SPD]: Väter!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für - Ja, meistens sind es die Väter, aber ich muß dazu die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt sagen: Mütter als Unterhaltszahlungspflichtige sind es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es keinen Deut besser. so beschlossen. (Christel Hanewinckel [SPD]: Aber selte- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat die Kolle- ner!) gin Margot von Renesse, SPD. - Es gibt sie seltener, das ist alles. Margot von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine Jedenfalls ist sehr deutlich geworden, daß Vater Damen und Herren! Worüber wir jetzt zu sprechen Staat in Gestalt des Finanzministers Waigel den Kin- haben, ist ein Massenphänomen. Das Unterhalts- dern auch jedes Paar Schuhe nachzurechnen pflegt, recht ist eigentlich das einfachste und schlichteste genauso wie es zahlungspflichtige Eltern tun. Daß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11283

Margot von Renesse der Wohnbedarf auf der Ebene von „Hühnerstall mit den Zahlen aus dem Finanzministerium, die dem Un- Außenklo" geblieben ist, spricht auch nicht für Groß- terhaltsvorschußgesetz zugrunde liegen - in dieser zügigkeit. unserer Gesellschaft über ein Drittel aller Väter nicht in der Lage ist - von den Zahlungsunwilligen rede (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ich gar nicht -, ihre eigenen Kinder zu unterhalten. GRÜNEN und der PDS) Das ist ein Armutszeugnis für die Familienpolitik, Zumindest das müßte doch auch das Existenzmini- nicht für die Familien. mum im Unterhaltsrecht sein. - Weit gefehlt! Seit vie- (Beifall bei der SPD) len Jahren bleiben wir mit den Unterhaltssätzen un- ter dem tatsächlichen Existenzminimum. Im Prinzip Wahrscheinlich sagen Sie, die Belastung der Justiz hat selbst die fundamentale Erhöhung der Unter- durch die Abänderungsverfahren, wenn sie denn haltssätze zu Beginn dieses Jahres nichts daran ge- pauschal durchgeführt werden, sei ungeheuer. Herr ändert. Staatssekretär, ich bin sehr für die Entlastung der Justiz, aber nicht zu Lasten der Gerechtigkeit für Der durchschnittliche monatliche Finanzbedarf Kinder. Das geht nicht. beträgt nach den Rechnungen des Hauses Waigel - wie gesagt: geizig bis zum Geht-nicht-mehr - (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 522 DM. Der durchschnittliche Mindestfinanzbedarf GRÜNEN und der PDS) nach der Nichtehelichenverordnung beträgt in der mittleren Altersgruppe 424 DM, also rund 100 DM Aber was kommt bei der jetzigen Regelung her- weniger. Da schon in dieser Stufe die Halbteilung aus? Auch die leistungsfähigen Väter profitieren von einsetzt, muß im Ergebnis der betreuende Eltern- Ihren Tabellensätzen. Mit der pauschalen Tabelle teil - meist die Mutter - zusätzlich zur Betreuung wird auch bei ihnen unterstellt, daß sie im Prinzip Geld zuschießen, damit das Kind überhaupt über- nicht leisten können. Sie erreichen damit etwas ganz lebt. Erst wenn sie geldmäßig erheblich mehr als der Schlimmes. Sie verstärken nämlich die im Fa ll einer Zahlungspflichtige leistet, darf sie dankbar für die Trennung sowieso erhebliche Neigung beider Eltern hälftige Begünstigung durch Kindergeld sein. zur Realitätsverzerrung: Der Vater guckt auf die Ta- belle und sagt: Was bin ich doch großzügig! Ich zahle Das ist eine strukturelle Ungleichbehandlung, eine doch alles. Was will die - ich sage es einmal, wie es Rücksichtslosigkeit gegenüber den Leistungen vieler meistens gesagt wird - Alte? Die will ja immer nur Mütter. Als Frau und als Juristin kann ich darüber Geld. Die muß doch im Gelde schwimmen. Ich tue nur empört sein. doch das, was meine Schuldigkeit ist. - Und die Mut- ter guckt nicht auf die Tabelle, sondern in den Kühl- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schrank und sagt: Ich komme vorne und hinten nicht GRÜNEN und der PDS) hoch, mir fehlt das Schwarze unter dem Fingernagel. Es treibt mir vor Zo rn förmlich das Blut in die Augen, So hetzen Sie die Eltern aufeinander, die doch ko- weil sich das seit Jahren so abspielt. Es muß endlich operieren sollten. Die Eltern machen nämlich nicht möglich sein, das Existenzminimum, das wir im Steu- das Gesetz für ihre Situation verantwortlich, sondern errecht anerkennen, nämlich - auf der Basis der So- den jeweils anderen. Damit bewirken Sie auch bei zialhilfedaten von 1994! - 522 DM in diesem Jahr den Kindern viel Leid und Elend. Ich spreche aus Er- und nach noch geltendem Recht 578 DM im näch- fahrung; ich kann Ihnen dazu Fälle nennen. sten Jahr, zu erreichen. Wenn wir einigermaßen ge- recht sein wollen, kann es erst dann zur Halbteilung Ich weiß, daß wir keine paradiesischen Zeiten ha- kommen. ben. Deswegen ist mir durchaus klar, daß in der Welt der Knappheiten, in der wir leben, möglicherweise Wenn wir unter diesen Sätzen bleiben und sagen: beim Unterhaltsvorschußgesetz nicht hochgerechnet „Die Mutter bekommt doch das Existenzminimum, werden kann. wenn der Vater 423 DM leistet und sie zusätzlich 200 DM Kindergeld erhält", kommt das Kindergeld Aber eins geht nicht: daß Sie den Anspruch von im Ergebnis nur einem zugute, nämlich dem Zah- Kindern im Unterhaltsvorschußgesetz beenden, nur lungspflichtigen. Die anderen Leistungen, die zum weil der betreuende Elternteil heiratet oder wieder Unterhaltsbedarf gehören, wie Fahrdienst, Schular- heiratet. Dies widersp richt Art. 6. beiten usw. - von Kochen, Waschen und Putzen rede ich erst gar nicht -, bedeuten gar nichts. Es geht nach (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei dem Prinzip: Mama, mach die Küchentür zu, wir kön- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen nicht sehen, wie du arbeitest! (Heiterkeit) Es bedeutet Benachteiligung von anspruchsberech- tigten Kindern wegen der Eheschließung eines El- Sie werden nicht in Rechnung gestellt. Das ist eine ternteils. Unabhängig davon, ob dieser leistungsfä- Nichtgröße. Ich glaube nicht, daß wir das länger hin- hig ist oder nicht: Leistungspflichtig ist er nicht. Die nehmen können - jedenfalls nicht die Frauen im unterhaltsrechtliche Lage von Kindern braucht sich Bundestag, die diese Belastung kennen. nicht zu ändern. Natürlich können Sie einwenden, daß die Väter Ein Beispiel dazu: Eine geschiedene Mutter von meistens nicht leistungsfähig seien. Wem sagen Sie drei Kindern heiratet einen Arbeitslosen. Aus ist es das? Fragen Sie einmal Ihre Ressortkollegin, die Fa- mit dem Unterhaltsvorschuß, aus und vorbei. Wo hat milienministerin Nolte, wie es kommt, daß - nach sich die Lage der Kinder geändert? In nichts! Aber 11284 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Margot von Renesse das Gesetz benutzt die Eheschließung. Damals, als es zur Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit gemacht wurde, dachte man tatsächlich, alle Kinder veranlassen. von Alleinerziehenden seien arme Würstchen, denen man sozusagen einen Trost zugestehen müsse. Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von kann nach den heutigen Untersuchungen, die Das würde in vielen Fällen bedeuten: Die Erhöhung- wir über Alleinerziehende haben, keine Rede sein. der Unterhaltspflicht macht die Unterhaltspflichtigen Sie sind allenfalls dadurch benachteiligt, daß sie we- zu Sozialhilfeempfängern; also: indirekte Subventio- nig Geld haben, und das unterscheidet sie nicht von nierung der Unterhaltspflicht. Das kann nicht unser Famili en, denen es mitunter entsetzlich schlecht Ziel sein. geht, gerade in dieser Zeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Staatssekretär, ich denke, daß wir da gemein- sam etwas ändern müssen. Ich weiß, daß in Ihrem Vor der Aufrechnung „hier Naturalleistung, da Haus längst begriffen worden ist, daß im System des finanzielle Leistung" warne ich. Die Diskussion um Kindesunterhalts kein Stein mehr auf dem anderen das elterliche Sorgerecht hat gezeigt, daß sich der ist. Daher arbeiten Sie ja auch an einem neuen Ent- nichtsorgeberechtigte Elternteil nicht automatisch wurf. seinen Verpflichtungen gegenüber seinem Kind ent- zieht oder entziehen will. Nach meiner Meinung muß Ich bitte, uns die Beg rifflichkeit, die wir noch auf es bei dem Grundsatz bleiben, daß bei der Unter- das geltende Recht und nicht auf eine zukünftige haltsbemessung die Lebensstellung beider Eltern- Reform zugeschnitten haben - deswegen gibt es den teile zu berücksichtigen ist. Unsere Aufgabe ist es, Begriff „nichteheliche Kinder" noch -, nicht allzu materielle Überforderungen eines Elternteils auszu- sehr übelzunehmen. Was sollen wir denn als Opposi- schließen, damit die Verbindung mit dem Kind nicht tion sonst tun? Wie sollen wir wissen, ob und wann erschwert wird. Sie mit der Reform aus den Klötzen kommen? Um für den sorgeberechtigten Elternteil wirtschaft- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir kommen!) liche Erschwernisse auszugleichen, haben wir viel- fache Hilfen für Alleinerziehende geschaffen. Dazu Aber die sachliche Grundfrage heißt: bedarfsge- gehören unter anderem der Haushaltsfreibetrag, die rechte Unterhaltssätze für Kinder und Beseitigung Berücksichtigung von Betreuungskosten und der verfassungswidriger Zustände im UVG. Sonderausgabenabzug für ein sozialversicherungs- Sollten Sie sich auf die uralte Entscheidung, einen pflichtiges Beschäftigungsverhältnis zur Betreuung Prozeßkostenhilfebeschluß eines Verwaltungsge- eines Kindes. Ich nenne in diesem Zusammenhang richts in Bayern, berufen - ich kenne Sie -, die ein- auch Kinder-, Erziehungs- und Wohngeld. zige Entscheidung zu der Frage der Wiederheirat, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dann kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich sie genau an! Sie haben do rt eine Entscheidung, die Schließlich haben wir mit dem Unterhaltsvorschuß- ebenso uralt wie hingehauen, wie vorurteilsgeladen gesetz ein Instrument geschaffen, mit dem die Unter- ist. Ich hoffe, daß Sie sich nicht darauf stützen. haltssicherung des Kindes auch dann gewährleistet ist, wenn sich der Unterhaltspflichtige seinen finan- Herr Staatssekretär, Sie sind mit zuständig für das ziellen Verpflichtungen entzieht oder ihnen vorüber- Justizressort. Ich sage Ihnen dazu - ich bin heute gehend nicht nachkommen kann. wirklich außerordentlich fröhlich und nicht pole- misch gestimmt, weil ich heute zum fünftenmal Groß- 1993 wurden die Leistungen nach dem Unterhalts- mutter geworden bin - vorschußgesetz durch die Verdoppelung der Alters- (Beifall) grenze der Kinder von 6 auf 12 Jahre und durch die Verdoppelung der Leistungsdauer von 36 auf zum Schluß folgendes: Die Gerechtigkeit, die Waage 72 Monate verbessert. Es kann doch nicht vergessen und Schwert der Justiz krönt, wird seit alters an der sein - ich erinnere noch einmal daran -, daß die Re- Gerechtigkeit für Witwen und Waisen gemessen. gelsätze ab Januar 1996 um 20 Prozent erhöht wur- Walten Sie Ihres Amtes! den. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Christel Hanewinckel [SPD]: Weil die GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der Lebenshaltungskosten gestiegen sind!) SPD: Und sagen Sie es der Familienministe rin!) 31 Prozent aller Kinder unter 12 Jahren, die im Haushalt von Alleinerziehenden leben, erhalten Lei- stungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz. In kon- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die kreten Zahlen: 1994 bezogen 417 000 Kinder und Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU. 1995 471 224 Kinder entsprechende Leistungen. Die Ausgaben allein für den Bund lagen 1995 bei 790 Millionen DM. Renate Diemers (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Unterhaltssätze für Ich erinnere an das Ziel des Gesetzes: Kinder auf das Existenzminimum zu stellen ist eine immer wiederkehrende Diskussion. Aber es kann Besondere Hilfe für Alleinerziehende durch nicht unsere Absicht sein, Vätern finanzielle Dau- Unterhaltssicherung des Kindes in schwieriger menschrauben anzulegen, die sie möglicherweise Lebens- und Erziehungssituation. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11285 Renate Diemers Im Gesetz heißt es: Diese faktische Benachteiligung von Frauen ist nicht länger hinnehmbar. Daher müssen wir die Un- Der Elternteil ist nicht alleinerziehend, wenn er terhaltssätze an das tatsächliche Existenzminimum verheiratet ist und nicht getrennt lebt oder wenn anpassen. Ich wundere mich, daß es dazu noch keine er unverheiratet mit dem anderen Elternteil zu- Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gibt. sammenlebt. Dies ist aber nicht das einzige Problem, das mit der Wenn eines dieser Kriterien geändert oder aufgeho- Unterhaltszahlung verbunden ist. Nach geltendem ben werden soll, stehen alle zur Disposition. Dafür Recht verlieren Kinder ihren Anspruch auf Unter- besteht kein Anlaß. haltsvorschuß, wenn der alleinerziehende Elternteil Das Unterhaltssicherungsgesetz hat sich bewährt. heiratet. Das darf nicht so bleiben. Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit, wenn ein Kind um seinen eigenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Anspruch auf Unterhalt gebracht wird, ohne daß zu- Es ist nicht Sinn des Unterhaltssicherungsgesetzes, mindest die finanzielle Situation der Familie berück- Unterhaltsverpflichtungen auf die Steuerzahlenden sichtigt wird? abzuwälzen. Richtig und sogar zwingend erforder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, lich ist es, daß das Rückgriffsrecht des Staates auf die bei der SPD und der PDS) Vorschußleistungen entschlossen durchgesetzt wird. 1995 konnte bei rund 35 Prozent der Vorschußlei- Ein weiteres Ärgernis bietet das Unterhaltsvor- stungen davon ausgegangen werden, daß es sich um schußgesetz. Obwohl etwa 40 Prozent der Väter zahlungsfähige Schuldner handelt. Davon wurden finanziell in der Lage wären, den Unterhaltsvorschuß 13 Prozent der Leistungen zurückgeholt. Damit ist zurückzuzahlen, waren es im letzten Jahr gerade mal der Anteil der mißbräuchlichen Verweigerung auf 13 Prozent. Mindestens 224 Millionen DM gehen rund 20 Prozent zu schätzen. Bevor hier jedoch nach dem Staat dafür im nächsten Jahr verloren. Die Väter neuen gesetzlichen Maßnahmen gerufen wird, ist zu entziehen sich ihrer Pflicht. Die Mütter hingegen, bei prüfen, ob die bestehenden Möglichkeiten voll aus- denen die Kinder ja fast ausschließlich leben, erbrin- geschöpft werden. Nur so sind zielgenau Verände- gen ihre Unterhaltsverpflichtungen durch die Betreu- rungen, die zu einer effizienten Durchführung von ungsleistungen. Diesem Väter-Subventionierungs- Rückgriffsansprüchen führen, möglich. programm muß endlich ein Ende bereitet werden. Ich sage noch einmal: Das Unterhaltssicherungsge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, setz hat sich bewährt! Daher ist der Antrag der SPD bei der SPD und der PDS) abzulehnen. Daher unterstützen wir auch den SPD-Vorschlag, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Auskunftsrechte der Unterhaltsvorschußkassen zu verbessern. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Aber, liebe Kolleginnen und auch Kollegen von der Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. SPD, Ihre Forderungen in Ehren, sie gehen uns nicht weit genug. Eine wahrhafte Reform des Unterhalts- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rechts haben Sie damit noch nicht eingeleitet. Die NEN): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolle- -strukturelle Ungleichbehandlung von Betreuungs ginnen! Frau Diemers, ich habe den Eindruck: Wir und Barunterhalt im Steuer-, aber auch im Sozial- sprechen hier zu unterschiedlichen Themen. Ich bin recht lassen Sie unberührt. Haben Sie denn immer über Ihren Redebeitrag ganz irritiert. noch die Frauen vor Augen, die sich zu Hause aus- schließlich um die Erziehung und Betreuung ihrer Das Existenzminimum ist der Betrag, der einem Kinder kümmern, während die Männer lediglich Menschen die aktive Teilhabe am Leben sichern soll. einen finanziellen Beitrag leisten? Wollen Sie weiter- Aber, dieses Existenzminimum wird Kindern in dem hin diese geschlechtsspezifische Rollenverteilung Fall, über den wir heute sprechen, nämlich nichtehe- festschreiben? lichen Kindern, verweigert. Der Grund dafür sind die zu niedrigen Unterhaltssätze, die noch nicht einmal Ich meine, wir müssen endlich darüber nachden- das Sozialhilfeniveau erreichen; das wissen Sie. ken, ob nicht der Halbteilungsgrundsatz ganz abge- schafft werden muß. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Noch ein zweites. Während Kindern bis zum 18. Lebensjahr Unterhalt gezahlt werden muß, wird Da es in der Regel die Mütter sind, bei denen die der Unterhaltsvorschuß wie Sie wissen, lediglich bis Kinder leben, sind sie es, die die eigenen Ansprüche zum 12. Lebensjahr gewährt. Das ist eine ganz offen- zurückstecken, um ihren Kindern die Bef riedigung sichtliche Benachteiligung, die Sie in Ihrem Antrag der notwendigsten Bedürfnisse zu ermöglichen. Die nicht erwähnt haben. Kinder müssen in unserer Ge- zu niedrigen Regelsätze und der Halbteilungsgrund- sellschaft aber die gleichen Ausgangschancen be- satz, der den Elternteilen je zur Hälfte die Barunter- kommen. Der Unterhaltsvorschuß muß daher bis zum halts- und die Betreuungspflicht auferlegt, verstär- 18. Lebensjahr bzw. bis zur wirtschaftlichen Unab- ken, daß es zu einer ungleichen Lastenverteilung hängigkeit gezahlt werden können. zwischen Vätern und Müttern kommt. Mütter leisten zum Teil bis zu drei Viertel des gesamten Unterhalts- In diesem Zusammenhang - das sage ich hier bedarfs. auch - werden wir sicherlich über eine Bedarfsprü- 11286 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Irmingard Schewe-Gerigk fung nachdenken müssen. Meine Fraktion wird dazu Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Würden Sie in Kürze eigene Vorschläge vorlegen. mir, Frau von Renesse, zugestehen, daß das BGB ge- rade nicht an den steuerrechtlichen Begriff des Exi- Den Forderungen, die Sie hier gestellt haben, kön- stenzminimums anknüpft, so daß es schon aus dem nen wir zustimmen; sie stellen eine Verbesserung der Gedanken heraus nicht zwingend ist, daß die Be- jetzigen Situation dar. Aber lassen Sie uns gemein- griffe deckungsgleich wären? Wie auch immer, beide sam über neue Vorschläge nachdenken. Begriffe sind unterschiedlich voneinander zu sehen. Vielen Dank. Wissen Sie, ich teile ja im G runde Ihr Hoffen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bangen. Es wäre schön, wenn wir zu mehr kämen, bei der SPD und der PDS) wenn es denn sinnvollerweise machbar wäre. (Margot von Renesse [SPD]: Okay, einver- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der standen!) Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P. Es muß natürlich auch berücksichtigt werden, wie sich die Regelunterhaltssätze entwickelt haben. Ich Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Präsi- weise daher darauf hin, daß sie zum 1. Januar 1996 dent! Meine Damen und Herren! Liebe Frau von um immerhin 20 Prozent gegenüber dem Zeitraum Renesse! Herzliche Gratulation zu Ihrer heutigen davor angehoben wurden; die Kostenentwicklung Beförderung. Ich erinnere mich eigentlich gut, früher hätte wohl nur 1,5 Prozent gerechtfertigt. Dies be- waren die Omas immer alt. Aber das war wohl nur deutet, daß zum 1. Januar 1996 qualitativ ein erhebli- früher so. cher Sprung eingetreten ist, und zwar im Sinne Ihres Antrags. In den neuen Bundesländern haben wir in- Der Antrag der SPD soll nichtehelichen Kindern nerhalb von zwei Jahren gar eine Anhebung um und ihren Müttern das Leben erleichtern. Dieses Ziel 40 Prozent gehabt. Das sind gewaltige Sprünge, die wird wohl von allen anderen Fraktionen geteilt. Fol- von den Unterhaltspflichtigen erst einmal verdaut gende Anmerkungen sind allerdings schon jetzt ver- werden müssen. anlaßt: Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß Der Begriff des Existenzminimums ist nicht ein- viele der Unterhaltspflichtigen selber in einer sozial deutig. Das trifft allerdings auch auf den vom Gesetz schwierigen Lage sind, so daß sie durch die Unter- gebrauchten Begriff, nämlich den „bei einfacher haltsverpflichtungen oft gar in eine aussichtslose Si- Lebenshaltung im Regelfall erforderlichen Betrag" tuation geraten. Es ist niemand damit gedient, wenn zu. in der Regel junge Unterhaltspflichtige in eine aus ihrer Sicht ausweglose Situation geraten, die ihre Dem Gesetzgeber ist daher gewiß ein Spielraum ohnehin vorhandene Tendenz zur Verdrängung von gegeben, mit dem versucht werden muß, den wider- Pflichten noch unterstützt. Wer denkt, er schaffe es streitenden Interessen der Beteiligten gerecht zu ohnehin nicht mehr, und wer deshalb die Arbeit werden. Natürlich muß hier das Wohl des Kindes im nicht mehr sucht oder nicht mehr aufnimmt, gerät Vordergrund stehen. Liebe Frau von Renesse, dem selbst in eine höchst gefährliche persönliche Ent- können Sie doch zustimmen. Warum also diese Auf- wicklungsschiene. Sie wissen sehr wohl: Der Straftat- geregtheit? bestand „Verletzung der Unterhaltspflicht" ist oft der Ich darf in diesem Zusammenhang auch an den Einstieg in eine wirkliche kriminelle Karriere. All das neuen, sehr richtigen Denkansatz der gemeinsamen sollte mitberücksichtigt werden. elterlichen Sorge für nichteheliche Kinder erinnern. Damit will ich aber meinen ganz deutlichen Hin- Die Festlegung von Unterhaltssätzen, die bei einer weis verbinden: Ich will in gar keiner Weise die großen Zahl der Unterhaltsverpflichteten nicht er- Richtigkeit des Unterhaltsanspruchs als solchen, im bracht oder realisiert werden können, macht im pau- Grunde auch in der von Ihnen gewünschten Höhe, in schalierten Regelunterhaltsverfahren wohl wenig Zweifel ziehen. Aber die tatsächlichen Gegebenhei- Sinn. ten müssen hier vom Gesetzgeber berücksichtigt werden. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Der Antrag der SPD berücksichtigt nicht ausrei- Braun, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin chend den Umstand, daß der Regelunterhalt im er- von Renesse? leichterten Verfahren zu einem schnellen Titel führt. Das Kind kann aber statt dessen auch den individu- Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Bitte, gern. ell bemessenen Unterhalt geltend machen, der in der Regel der Düsseldorfer Tabelle entnommen wer- den kann. Da hier jedoch verschiedenste Einwen- Margot von Renesse (SPD): Herr Kollege Braun, dungen entgegengesetzt werden können, wird ein würden Sie mir freundlicherweise - da ich es wirk- Titel oft erst relativ spät erreichbar sein, so daß die lich nicht verstehe - erklären, wo Sie den Ermessens- Nachteile eines Versuchs, zu einem höheren, indivi- spielraum unterhalb des Existenzminimums sehen duell errechneten Unterhalt zu kommen, oft die Vor- bei einer Vorschrift, die Sie gerade zitiert haben - teile überwiegen. § 1605 -, wo der Gesetzgeber den bei einfachen Lebensverhältnissen erforderlichen Finanzbedarf Ich möchte noch etwas zu Ihren Vorschlägen zum festzulegen hat? Unterhaltsvorschußgesetz sagen. Ich teile Ihre Be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11287

Hildebrecht Braun (Augsburg) denken im Hinblick auf die Schlüssigkeit der Rege- man in diesem Punkt vielleicht sagen, daß Kinder- lung, daß Leistungen nach diesem Gesetz entfallen, freundlichkeit und Gleichstellung einen höheren wenn die Mutter wieder heiratet. Ich teile auch die Stellenwert in diesem Lande erreicht hätten. Bedenken gegen die Beschränkung der Auskunfts- Danke. rechte der Unterhaltsvorschußkassen im Hinblick auf - schaftliche Lage von bar- Aufenthaltsort und wirt (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- unterhaltspflichtigen Eltern. Diese Punkte werden in ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE der Ausschußberatung sicherlich intensiv erörtert GRÜNEN) werden. Dem Ergebnis will ich hier nicht vorgreifen. Vielen Dank. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kollege Professor Dr. Wolfgang von Stetten, CDU.

Das Wort hat die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: (CDU/CSU): Kollegin Heidemarie Lüth, PDS. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine herzliche Gratulation, Frau von Renesse; ich be- Heidemarie Lüth (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol- neide Sie darum, da ich noch nicht Großvater bin. leginnen! Liebe Kollegen! Es ist schon erstaunlich, Aber bei den anderen Dingen kann ich Sie nicht be- daß bei dieser kinderfreundlichen Regierung solch neiden. Ich frage mich, wo Sie denn in Deutschland ein Antrag gestellt werden muß, ermöglichte doch leben, wenn Sie unsere Regelbedarfssätze mit einem gerade die Formulierung des § 1615f des BGB der Hühnerstallniveau vergleichen. Bundesregierung, ganz ohne Sorgen gemeinsam mit dem Bundesrat die Unterhaltssätze nach dem tat- Der Antrag, den Sie gestellt haben, mag gut ge- sächlichen Existenzminimum festzulegen. meint sein. Er würde aber bei der Verwirklichung nach meiner Ansicht mehr Unrecht und mehr Un- An die zahlenden Herren, die hoffentlich bei die- gleichheit als die heutige Regelung bringen. Ich sem Thema zuhören: Es geht wohl nicht darum, daß möchte darauf hinweisen, daß wir ja überlegen, bei den Müttern irgendwelche Blütenträume erfüllt wer- der Frage des Regelunterhalts den umgekehrten den sollen, sondern tatsächlich nur darum, daß das Weg zu gehen, um zu ermöglichen, daß sich die Zahl gegeben wird, was allen Erwerbstätigen über das der vielen Unterhaltsprozesse mit Lügen, Beschuldi- Steuerrecht zugestanden wird: das Existenzmini- gungen und Bedrohungen deutlich verringert. Dies mum. soll zwar eine Kann-Lösung sein, könnte aber die (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ Konfliktstoffe vermindern, die zu Lasten der Kinder DIE GRÜNEN) gehen. Interessant ist, daß in der Berliner Tabelle, die die Sie wissen ganz genau, daß Unterhaltsforderungen Leitaussage für die Unterhaltssätze in den neuen auf der einen Seite ebenso wie die Unterhaltsverwei- Ländern festlegt, diese noch weit geringer sind als in gerung auf der anderen Seite mit den Kindern be- der Düsseldorfer Tabelle, obgleich das Existenzmini- sprochen werden, was nicht nur bei Besuchen und mum wohl in ganz Deutschland gleich ist und nicht im Hinblick auf Besuchsrechte das Klima vergiftet, in den neuen Ländern anders. sondern das Getrenntleben überhaupt schwieriger macht. Wir alle wissen, daß Kinder meistens die Wenn dieser Gesetzentwurf, der endlich mehr Hauptopfer bei Getrenntlebenden oder auch bei rechtliche Möglichkeiten hergibt, Männern keine Alleinerziehenden, die nicht verheiratet waren, sind. Chance zu lassen, sich dem Unterhalt zu entziehen, Dafür haben wir dieses Unterhaltssicherungsgesetz Erfolg hat, würde dies die Bundeskassen erheblich gemacht. Hätten wir das nicht getan, sagten Sie mit entlasten. Denn der Finanzminister griff beim Unter- Recht, wir hätten nichts getan. Aber daß Sie jetzt haltsvorschuß tief in die Taschen, um die Summe im sagen, das alles sei ganz schlecht, dafür habe ich gar Einzelplan 17 um 50 Millionen DM zu erhöhen. Er kein Verständnis. begründete das mit dem anhaltenden Ausgabenan- stieg, zunehmender Leistungsunfähigkeit und dem (Beifall bei der CDU/CSU) wachsenden Bekanntheitsgrad dieses Gesetzes. Da- mit wird natürlich vollkommen kaschiert, daß der Hinzu kommt: Wenn wir nicht irgend etwas tun, Hauptgrund dafür Schlichtweg der ist, daß sich viele dann fehlt auch der Ansporn für manche Männer, Männer der Zahlung entziehen können. mehr zu verdienen. Sie haben selbst darauf hinge- wiesen, daß sich mancher Berber, der durch die Stra- Sollen Kinderrechte in dieser stark von Männern ßen läuft, der Unterhaltspflicht entzieht. Das ist sehr geprägten Welt endlich Chancen haben, dann grei- bedauerlich. fen Sie doch wenigstens diesen Vorschlag der SPD auf und setzten Sie ihn vor allen Dingen um, auch Mit der Erhöhung der Regelbedarfssätze um wenn man ihn eigentlich weiter ausgestalten könnte. 20 Prozent ist eine Menge getan worden. Ich weise darauf hin - Herr Braun hatte es vorhin auch schon (Beifall bei der PDS) getan -, daß diese Regelbedarfssätze ein Ersatzan- Wenn dann noch in die Erarbeitung notwendiger ge spruch sind und nicht den Individualanspruch min setzlicher Regelungen auch die betroffenen Vereine -dern. Auch wenn viele davon leben müssen, sollte und Verbände einbezogen werden, dann könnte man das klar erkennen. 11288 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Wolfgang Freiherr von Ste tten Sie haben auch eine falsche Rechnung aufge- versorgt worden sind. Wir haben natürlich festge- macht: Das Existenzminimum für Kinder beträgt stellt, daß wesentlich mehr Unterhaltsberechtigte 6 288 DM. Das ist zugegebenermaßen sicherlich zahlen könnten. Wir sollten alle miteinander auf die nicht sehr hoch; aber wenn ich das hälftige Kinder- Ämter eindringen, damit diejenigen Väter, die nicht geld dazurechne, dann kommen wir bei allen - mit bezahlen, ausfindig gemacht und zur Kasse gebeten - Ausnahme der 12- bis 18jährigen - sogar etwas über werden. Ansonsten geht der nicht gezahlte Unterhalt den Regelsatz. zu Lasten der Steuerzahler. Ich wi ll daran erinnern: Diese Zahlungen trugen immerhin dazu bei, daß die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege von Gemeinden, die Kreise von Sozialleistungen entlastet Stetten, gestatten Sie eine Zwischenfrage? wurden; denn diese werden vom Bund und von den Ländern je zur Hälfte getragen.

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Von Herrn Braun habe ich gehört, er würde gern Aber gerne. über die Frage der Wiederverheiratung oder der Heirat eines Elternteils reden. Ich bin nicht der Mei- nung von Herrn Braun, da es sich in diesem Zusam- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Frau von Renesse. menhang nur um einen Ersatzunterhaltsanspruch handelt; denn mit der Heirat übernimmt der neue Vater oder die neue Mutter schon mindestens eine Margot von Renesse (SPD): Herr Kollege von Stet- moralische Aufgabe. ten, wäre es denn eine Lösung, wenn man die Tabel- len so läßt, wie sie sind, und denen, die weniger zah- (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Für len oder zahlen können, als das Existenzminimum die moralischen Verpflichtungen kann man wirklich ausweist, das Kindergeld nicht anrechnet, sich nur so wenig kaufen!) also in den Fällen, in denen die Unterhaltszahlungs- - Es wäre ja auch nur eine Vorausleistung. Der An- pflichtigen weniger zahlen, als das Kind braucht, das spruchsberechtigte bleibt das Kind, der Anspruchs- Kindergeld insoweit bei dem betreuenden Elternteil verpflichtete der Vater. Darüber kann man vielleicht beläßt? diskutieren. Ich halte diesen Vorschlag nicht für rich- (Monika Ganseforth [SPD]: Guter Vor tig, weil wir eigentlich die nicht vollständige Familie schlag!) unterstützen wollen. Nach einer Heirat ist die Familie vollständig. Diese muß notfalls - was auch nicht an- genehm ist - auf die Sozialhilfe verwiesen werden, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Mindestens ist der Vorschlag überlegenswert. Wir wenn der Vater oder die Mutter nicht genügend Geld wollen ja durch die Anrechnung des Kindergeldes hat und der Zahlungspflichtige die Zahlung nicht niemanden dafür belohnen, daß er weniger zahlen übernimmt. kann, sondern wir wollen, daß die Kinder möglichst Ich schlage vor, daß wir über all das diskutieren. viel haben; darum geht es uns ja schon. Ich glaube aber, daß das bestehende Gesetz aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und reicht und im Moment kein Handlungsbedarf be- F.D.P.) steht. Wir sollten vielleicht auch die steuerlichen Än- derungen im Kindschaftsrecht abwarten, bevor wir Aber wir müssen natürlich vorsichtig sein, Frau von das Unterhaltsrecht ändern. Vom Grundsatz her war Renesse, daß wir hier nicht einen Systembruch ma- das Gesetz damals sehr gut. Es hat viel zum Frieden chen. Ich werde es mir aber gerne durch den Kopf beigetragen. Es sollte daher im Moment nicht geän- gehen lassen. - Sie lächeln so, als wollten Sie mich dert werden. aufs Glatteis führen. Ich bin da sehr vorsichtig. Danke schön. (Heiterkeit bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Aber, wie gesagt, ich werde den Vorschlag sehr ordneten der F.D.P.) gerne aufgreifen und in unserer Gruppe und mit dem Koalitionspartner beraten. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Sie haben in Ihrem Entwurf auf § 1603 Abs. 1 BGB, Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke. die Grenzen der Leistungsfähigkeit, hingewiesen. Das zählt beim Regelunterhalt nur dann, wenn der Unterhalt wesentlich geringer als der Regelunterhalt Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- ist. Es ist also nicht wie bei dem Normalzahlenden, nister der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und bei denen es nach der Düsseldorfer Tabe lle genau Herren! Werte Frau Kollegin von Renesse, ich gratu- ausgerechnet wird. liere Ihnen sehr herzlich - nicht nur zum fünften En- kelkind, sondern auch zu Ihrer hervorragenden, en- (Margot von Renesse [SPD]: Nein, das gagierten Rede, die deutlich gemacht hat, daß Sie stimmt nicht!) eine anerkannte Familienrechtlerin sind. - Doch, das ist ganz eindeutig. Die Debatten, die wir schon gemeinsam führen Die Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes konnten, beispielsweise über das Kindschaftsrecht lehnen wir deswegen ab, weil die unvollständigen oder das Unterhaltsrecht, haben Sie immer als große Familien bisher ausreichend mit Vorauszahlungen Sachkennerin der Mate rie ausgewiesen. Insoweit Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11289

Parl. Staatssekretär Rainer Funke danke ich Ihnen ausdrücklich für das, was Sie heute in einigen Wochen - nicht Monaten - den Entwurf vorgetragen haben, eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Unter- haltsrechts minderjähriger Kinder vorlegen wird. Der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Entwurf sieht im wesentlichen vor, daß das Regelun- auch wenn ich nicht mit allem einverstanden sein terhaltsverfahren von allen Kindern, also auch den kann. Wir müssen über viele Anregungen, die Sie in ehelichen Kindern, in Anspruch genommen werden diese Debatte eingebracht haben, sicherlich gemein- kann, und ferner, daß die Unterhaltsrenten kontinu- sam nachdenken. ierlich ohne Inanspruchnahme der Ge richte an die Einkommensentwicklung angepaßt werden. Auf das Sie haben das ehrwürdige BGB erwähnt. Sie ha- Problem, daß es beim Unterhalt in den meisten Fäl- ben nicht erwähnt, daß dieses BGB von der Lei- len um die Verteilung des Mangels geht, habe ich ja stungsfähigkeit und von der Leistungsbedürftigkeit schon hingewiesen. ausgeht. Natürlich, für Sie ist es selbstverständlich, aber nicht für jeden von unseren Kollegen. Man muß Die Bundesregierung beabsichtigt weiterhin, in das abwägen. Es ist mal gesagt geworden, daß es im dem Unterhaltsvorschußgesetz eine Verbesserung Unterhaltsrecht auch darum geht, den Mangel zu der Auskunftsrechte der Unterhaltsvorschußkassen verteilen. Davon ist unser Unterhaltsrecht leider, muß in bezug auf Aufenthaltsort und Einkommensverhält- ich sagen, mitgeprägt. nisse von Unterhaltsschuldnern zu bewirken, damit die Zahlungsverpflichteten auch tatsächlich an die Ich glaube nicht, daß wir mit einer starken Erhö- Kandare genommen werden. Das hat dann auch edu- hung der Regelbedarfssätze immer im Interesse der kativen Charakter. betroffenen Kinder handeln würden. Darauf hat die Bundesregierung bereits mehrfach aufmerksam ge- Den Leistungsausschluß bei Heirat oder Wieder- macht. Regelunterhaltssätze können nur in einem heirat aufzuheben ist jedoch nicht geplant. Wenn der besonderen Verfahren, dem Regelunterhaltsverfah- alleinerziehende Elternteil heiratet und das Kind ei- ren, geltend gemacht werden. Dieses Verfahren er- nen Stiefelternteil erhält, ändert sich ja auch die fa- möglicht durch besondere prozessuale Erleichterung, miliäre Situation: Das Kind ist nunmehr in eine voll- Unterhaltsansprüche beschleunigt durchzusetzen. ständige Familie eingebettet und nimmt im allgemei- Abweichend von den sonstigen Grundsätzen des Zi- nen an deren sozialen Stand teil. Die unterhaltsrecht- vilprozesses ist das Kind der Notwendigkeit entho- liche Situation, Frau von Renesse, bleibt hingegen ben, die Leistungsfähigkeit des barunterhaltspflichti- unverändert und soll unverände rt bleiben. Aber las- gen Elternteils im einzelnen darzulegen und gegebe- sen Sie uns an Hand dieses Gesetzes über diese be- nenfalls zu beweisen, was manchmal ganz besonders sondere Situation diskutieren, wenn es soweit ist. schwierig ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die Unterhaltspflichtigen selbst können ebenfalls (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) in Abweichung von dem sonst Üblichen eine Herab- setzung des Regelunterhalts nur dann verlangen - es Ich schließe die geht nämlich nicht immer nur um mehr, sondern Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Aussprache. manchmal auch um weniger -, wenn sie angesichts ihrer Einkommensverhältnisse und ihrer sonstigen Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Unterhaltsverpflichtungen nur zur Leistung eines Fraktion der SPD auf Drucksache 13/5211 an die in wesentlich geringeren Unterhalts in der Lage sind. der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen; die Federführung soll beim Rechtsaus- Diese mit dem Regelunterhaltsverfahren verbun- schuß liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist denen Verfahrenserleichterungen setzen aber Re- der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. gelbedarfssätze voraus, die von der Mehrzahl der Unterhaltsverpflichteten auch geleistet werden kön- Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 10 auf: nen. Es muß also ausgeschlossen sein, daß sich die Unterhaltsverpflichteten in einer Vielzahl von Fällen Beratung des Antrags der Abgeordneten Ge- auf eingeschränkte Leistungsfähigkeit berufen, mit rald Häfner, Halo Saibold, Elisabeth Altmann der Folge, daß dann ein normaler, unter Umständen (Pommelsbrunn), weiterer Abgeordneter und langwieriger Unterhaltsprozeß zu führen ist. Nur un- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ter diesen Prämissen kann ein beschleunigtes Rege- Maßnahmen zur wirksameren Verfolgung lunterhaltsverfahren überhaupt praktische Bedeu- der sexuellen Ausbeutung von Kindern durch tung erlangen. Deutsche im Ausland Wir haben - das ist erwähnt worden - die Regelbe- - Drucksache 13/5139 — darfssätze zum 1. Januar 1996 um 20 Prozent erhöht. Überweisungsvorschlag: Diese Anpassung hat verhindert, daß die barunter- Rechtsausschuß (federführend) haltspflichtigen Elternteile, die das halbe Kindergeld Auswärtiger Ausschuß vom Unterhaltsbedarf abziehen können, in Folge des Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- ab dem 1. Januar 1996 deutlich erhöhten Kindergel- lung des letztlich weniger Unterhalt hätten zahlen müs- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus sen. Sie kennen die steuerlichen Implikationen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Abschließend lassen Sie mich noch auf einen die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- Punkt hinweisen, nämlich daß die Bundesregierung bei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 10 Minuten 11290 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose erhalten soll. - Kein Widerspruch. Dann ist so be- der macht uns so maßlos zornig. Da wird ein gesam- schlossen. tes Leben mit all seinen Möglichkeiten auf einmal brutal ausgelöscht. Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- lege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. Dennoch müssen wir uns selbst und den Men- schen draußen klarmachen, wo die Grenzen von Poli- tik und Justiz liegen. Nach solch schrecklichen Ver- (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Volker Beck brechen werden immer wieder archaische Wünsche Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Be- nach Vergeltung laut: Forderungen nach genereller richt des Rechtsausschusses über seine Thailandreise Sicherungsverwahrung, Kastration oder Strafver- heißt es: 335 000 deutsche Touristen reisten 1994 schärfung dokumentieren die Hilflosigkeit in der De- nach Thailand, ein großer Teil von ihnen auch zur se- batte. xuellen Kontaktaufnahme mit Kindern. Die UNICEF sagt: 100 000 Kinder unter 14 Jahren werden in Thai- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- land als Prostituierte ausgebeutet. SES 90/DIE GRÜNEN) Seit 1993 ist zwar auch der sexuelle Mißbrauch von Wir wissen: Diese Forderungen führen nicht zur Kindern im Ausland für Deutsche strafbar. Trotz des Verbesserung des Schutzes. Sie unterhöhlen aber die ungeheuerlichen Ausmaßes des Kindersextourismus Fundamente unseres Rechtsstaates und unserer frei- blieb diese Gesetzesänderung in der Praxis bis heute heitlichen Gesellschaft. Man kann nicht alle Sexual- leider ohne Bedeutung. 15 Strafanzeigen und nur straftäter lebenslang wegsperren. Trotz aller Wut, al- eine Verurteilung machen deutlich: Die Strafverfol- ler Trauer und Verzweiflung müssen wir rechtspoli- gung scheitert an der fehlenden Zusammenarbeit tisch einen klaren Kopf bewahren. Die Erhöhung des zwischen den Justizverwaltungen. Damit muß Strafmaßes verhindert keinen einzigen sexuellen Schluß sein. Das wollen wir mit unserem Antrag er- Mißbrauch. reichen. (Beifall im ganzen Hause) Die zwangsweise Kastration ist mit dem Men- schenbild unserer Verfassung nicht zu vereinbaren. Wir in der Ersten Welt haben eine besondere Ver- pflichtung, dieser Ausbeutung entgegenzutreten. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Wir müssen die Rechtshilfe verbessern und so dafür Der bayerische Justizminister Leeb hat völlig zu sorgen, daß der sexuelle Kindesmißbrauch durch Recht festgestellt: „Körperstrafen sind nicht zuläs- Deutsche im Ausland verfolgt wird. sig". (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Über die Entwicklungspolitik müssen wir dafür sor- SES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der gen, daß dieser Form moderner Sklaverei der Boden CDU/CSU: Es geht um die Freiwilligkeit!) entzogen wird. - Erfahrungen mit der freiwilligen Kastration, Herr (Beifall im ganzen Hause) Kollege, zeigen zudem: Auch hier gibt es Rückfälle, auch dieser Weg bietet nicht die Sicherheit, die er In den letzten Tagen beschäftigte sich die Öffent- scheinbar verspricht. lichkeit mit dem grausamen Mord an Natalie Astner. Die Menschen fragen uns: Wie konnte es passieren, Anstatt uns jetzt mit rechtspolitischen Schnell- daß der Täter vorzeitig aus der Haft entlassen wurde? schüssen gegenseitig zu überbieten, sollten wir un- Wie ist es möglich, daß solche Taten nicht verhindert sere ganze Kraft darauf konzentrieren, den Schutz werden? der Opfer und die Resozialisierung der Täter durch Therapie zu verbessern, um die Sicherheit zu erhö- Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, hen. Dazu gehört auch eine präzisere Regelung bei den sexuellen Mißbrauch zu bekämpfen. Wir müssen der Strafaussetzung zur Bewährung. prüfen, wie bei der Entscheidung über die Strafaus- setzung zur Bewährung weitere Sicherungen einge- Allerdings: Die Konzentration der Diskussion allein baut werden können. Der Prozeßgutachter sollte bei- auf diesen Punkt führt in die Irre. Die entscheidende spielsweise nach Möglichkeit in die Entscheidung Frage ist nicht: Kommt er nach fünf oder sieben Jah- über die Strafaussetzung einbezogen werden. ren aus der Haft? Die Frage ist: Hat man die Haft auch genutzt? Der beste Schutz ist ein gebesserter Der Schutz von kindlichen Mißbrauchsopfern im Straftäter. Strafverfahren ist dringend verbesserungswürdig. Durch Zulassung von Videovernehmungen im Er- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) mittlungsverfahren sollten künftig traumatisierende Viele Sexualstraftäter werden einfach wegge- Mehrfachvernehmungen soweit wie möglich vermie- schlossen. Das ist richtig so. Aber die Chance für eine den werden. Veränderung der Person wird oftmals nicht ausrei- (Beifall im ganzen Hause) chend genutzt. Hier sind verstärkte Anstrengungen nötig. Aber auch wenn wir unsere Anstrengungen ver- stärken, wird es eine absolute Sicherheit vor Verbre- Wir brauchen aber auch eine ehrliche Bilanz über chen leider nicht geben, auch nicht vor sexuellem Grenzen und Möglichkeiten von psychologischen Mißbrauch und Mord. Das ist bitter, weil diese Ver- und medizinischen Therapien, über Rückfallquoten brechen so grausam sind. Die Hilflosigkeit der Kin- und Besserungserfolge. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11291

Volker Beck (Köln) Herr Minister, daß Sie unseren Vorschlag eines Be- Der Grund, warum es bisher nur zu wenigen Er- richts aufgegriffen haben. Wir brauchen solide wis- mittlungsverfahren und kaum zu Verurteilungen ge- senschaftliche Grundlagen für die weitere Diskus- kommen ist, liegt darin, daß die Behörden noch im- sion. mer viel zu selten erfahren, wenn Straftaten im Aus- land begangen werden, daß die Beweisführung fast Effektive Resozialisierung im Strafvollzug sowie immer unmöglich ist, weil die Opfer aus Angst vor Sicherung und Therapie in psychiatrischen Kliniken Repression und Strafe als Zeugen nicht zur Verfü- sind aber nicht zum Nulltarif zu haben. Sie sind teuer gung stehen, daß die Polizei in vielen Zielländern und personalintensiv. Die Resozialisierung von Sexual- des Kindersextourismus korrupt ist, die Strafverfol- straftätern und der Opferschutz im Strafverfahren gungsbehörden nur unzureichend funktionieren und dürfen aber nicht an fehlenden Finanzen scheitern. es die betroffenen Länder zum Teil aus wi rtschaftli- Das muß auch in Zeiten knapper Kassen gelten. chen Erwägungen an entschlossenem Vorgehen feh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len lassen. Das heißt, wir brauchen zwischen den Be- hörden, hier wie do rt, einfache, unmittelbare, Dies sind wir den Opfern schuldig. schnelle und wirksame Geschäftsverbindungen, per- Vielen Dank. sönliche Kontakte und Zusammenarbeit, wenn wir an diesem Zustand etwas ändern wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der Dabei sollte kein Vorschlag - Herr Kollege Beck, PDS) ich rede ausdrücklich auch von Ihrem Vorschlag ei- nes Rechtshilfeübereinkommens - von vornherein Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der ausgeschlossen werden. Aber wir sollten auch wis- Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU. sen, daß es schnelle und einfache Patentlösungen an- gesichts der Probleme in diesem Bereich nicht geben kann. Peter Altmaier (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen De- Vor allem: Der ach so einfache Ruf nach dem Staat batte, nämlich die sexuelle Ausbeutung von Kindern darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die in der Dritten Welt und zunehmend auch in Osteu- entscheidende Frage an unsere Gesellschaft richtet. ropa, ist kein Kavaliersdelikt einzelner, sondern ein Wie gehen wir denn mit der zehntausendfachen Ab- beschämendes Massenphänomen, dem wir uns in kehr von sozialen Verhaltensmustern wie Schutz, den letzten Jahren zunehmend gegenübersehen und Verantwortungsbewußtsein und Zuneigung um, die dessen Dimensionen uns fassungslos gemacht ha- unsere Kinder jahrelang vor dieser Form von Aus- ben. beutung geschützt haben? Wie kommt es, daß die na- türliche Hemmschwelle gegenüber Sexualität von (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Kindern anscheinend immer leichter überwunden dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird und unsere gesellschaftlichen Frühwarnsysteme Wir dürfen es nicht hinnehmen, daß Sextourismus immer öfter versagen? ins Ausland zunehmend zu einem Exportschlager der bundesdeutschen Gesellschaft zu werden droht, Deshalb sage ich hier: Unsere Haltung gegenüber und dies weitgehend unbeachtet von der Öffentlich- dem Problem der sexuellen Ausbeutung von Kindern keit. Es geht dabei auch um das deutsche Ansehen entscheidet auch über den Stellenwert, den unsere im Ausland. Aber es geht vor allem und zuvörderst Gesellschaft dem Wertvollsten, das sie hat, ihren Kin- um die körperliche und psychische Integrität der be- dern, einräumt. Es handelt sich um die Frage der troffenen Kinder, um ihr Recht auf Zukunft und um Selbstachtung unserer Gesellschaft. Nötig ist ein Be- ihre Würde, die es verbietet, sie zum Objekt sexuel- wußtseinswandel in unserer Einstellung zu und un- ler Begierden und pervertierter Phantasie zu degra- serem Umgang mit Kindern, wenn die Maßnahmen, dieren, wie dies jährlich zehntausendfach geschieht. die wir diskutieren, greifen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als eines der hauptsächlichen Herkunftsländer der Meine Damen und Herren, an dieser Stelle schließt Kindersextouristen haben wir gegenüber den gefähr- sich auch der Kreis zu dem abscheulichen und be- deten Kindern eine moralische Verpflichtung, eine stialischen Verbrechen an Natalie Astner und den politische Garantenpflicht. Machenschaften des belgischen Kinderschänders Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz von 1993 hat Dutroux. Abscheuliche Einzeltat oder verabscheu- der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des deut- ungswürdiges Massenphänomen: Es handelt sich um schen Strafrechts wesentlich erweitert und bis dahin zwei Seiten ein und derselben Medaille. Notwendig vorhandene Strafbarkeitslücken geschlossen. Das sind hier wie da schnelle und wirksame Maßnahmen. verdient heute Anerkennung. Aber das Problem scheint mir weniger in fehlenden strafrechtlichen Re- Im Hinblick auf die Sexualverbrechen hier bei uns gibt es Vorschläge der Bayerischen Staatsregierung, gelungen als vielmehr in der praktischen Anwen- über die wir diskutieren müssen, etwa dung und Durchsetzung zu liegen. Verschärfun- gen für Prognoseentscheidungen, externe Gutachten (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der und erweiterte Voraussetzungen für Sicherheitsver- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wahrung. 11292 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Peter Altmaier Auch ich, Herr Kollege Beck, habe Zweifel, ob eine und freue mich, daß dieses Haus hier heute einmal Verschärfung der Strafrahmen ein geeignetes Mittel vertreten ist. Das war in allen vorherigen Debatten sein kann, um die Wiederholungsgefahr zu senken. nicht der Fall. Es kann doch wohl nicht wahr sein, Aber wir sollten auch in diesem Fall keine Maß- daß Mord an Kinderseelen weniger wiegen soll als nahme von vornherein ausschließen, sondern uns Drogenkriminalität und organisiertes Verbrechen. darüber im klaren sein, daß sich unsere Glaubwür- digkeit darin entscheidet, wie ernsthaft wir mit die- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sem Problem umgehen. GRÜNEN, der F.D.P und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Besorgte Bürgerinnen und Bürger haben vor der Stockholmer Weltkonferenz innerhalb weniger Wo- Meine Damen und Herren, wir werden im Hinblick chen 18 000 Unterschriften für den Einsatz von be- auf die Ausbeutung von Kindern im Ausland über sonders geschulten Beamten des Bundeskriminal- das hinaus, was wir getan haben, eine Reihe von amts gesammelt. Diese Unterschriften wollten sie praktischen Schlußfolgerungen zu ziehen haben, um dem für das Bundeskriminalamt zuständigen Mi- die bestehenden Probleme zu lösen. Der Antrag, der nister Kanther übergeben. Anstatt erfreut zu sein, uns heute vorliegt, ist Gelegenheit, Zwischenbilanz daß eine so große Anzahl von Bürgerinnen und Bür- zu ziehen und gemeinsam über die notwendigen gern unserem bewährten Bundeskriminalamt auch Maßnahmen zu diskutieren. diesen Bereich anvertrauen wollte, lehnte das Bun- Vielen Dank. desinnenministerium sogar schon die Entgegen- nahme dieser Unterschriften ab. Ich halte das für ei- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und nen Skandal. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Dorle Marx, SPD. Es müßte sich doch auch - Herr Staatssekretär, Sie geben es hoffentlich weiter - bis zu Ihrem Herrn Mi- Dorle Marx (SPD): Herr Präsident! Meine verehrten nister herumgesprochen haben, daß die Verurtei- Kolleginnen und Kollegen! Die Nachfrage nach Kin- lung deutscher Straftäter für den im Ausland began- dern als Ware im Sex steigt an. Die Täter finden sich genen sexuellen Mißbrauch von Kindern drei Jahre nicht nur im Bereich der sogenannten Pädophilen, nach Inkrafttreten des Gesetzes mehr als im argen Triebtätern oder wie das in diesen Tagen debattiert liegt. Vor der Stockholmer Weltkonferenz war es erst wird. Auf der Suche nach dem neuen Kick und einer zu einer einzigen Verurteilung gekommen. In der Verbindung zwischen Gewalt und Sex werden Kin- Woche danach hatten wir dann übrigens, Herr Kol- der zu Opfern eines neuen Geschäftszweigs, der sich lege Beck, die zweite Verurteilung. zunehmend der Methoden organisierter Kriminalität bedient. Ich darf Ihnen hier noch einmal die Strafmaße be- kanntgeben. Im ersten Fall wurde in Bayern ein Ur- Der Handlungsbedarf mit dem Ziel einer effektive- teil verkündet, das acht Monate auf Bewährung lau- ren Aufklärung und Strafverfolgung gegenüber tete. Das zweite Urteil aus Hessen kam immerhin zu deutschen Tätern im Bereich des Sextourismus, der einer anzutretenden Freiheitsstrafe von zwei Jahren. alleiniger Gegenstand des Antrages vom Bündnis 90/ Die Grünen ist, ist unstreitig. Wichtig und richtig ist Während der Stockholmer Weltkonferenz und der in Ihrem Antrag die Forderung in Ziffer 2 nach dem dadurch ausgelösten öffentlichen Aufmerksamkeit Einsatz speziell ausgebildeter Fahnder in den Ziel- wurden meines Wissens erstmals zwei des sexuellen ländern der Sextouristen. Kindesmißbrauchs im Ausland Beschuldigte in Un- tersuchungshaft genommen. Sind eigentlich auslän- Hier müssen wir, die wir uns schon länger mit dem dische Kinder Opfer zweiter Klasse? Es ist schlimm Thema befassen, einen unverständlichen Dissens in- genug, daß bei den Tätern die Hemmschwelle mit nerhalb der Bundesregierung beobachten. Während der Entfernung zum Heimatland abzunehmen der Bundesminister der Justiz und die Familienmi- scheint. Wenn sich dies in unserer Verurteilungspra- nisterin - so habe ich es bisher verstanden - einen xis niederschlagen sollte, wäre es unerträglich. solchen Einsatz befürworten und auch Bundesmi- nister Kinkel am Rande der Stockholmer Weltkonfe- Die Diskussion um chemische Kastration - freiwil- renz zugesagt hat, diese Frage zu prüfen, hält der lig oder nicht - und Erhöhung der Strafmaße mutet Bundesminister des Innern den Einsatz besonderer abenteuerlich an, wenn gegen Verdächtige nicht ein- Beamter in diesem Bereich schlicht für nicht notwen- mal effektiv ermittelt wird oder effektiv ermittelt wer- dig. den kann. Im Protokoll der gestrigen Fragestunde Er vertritt - noch - die Ansicht, die im Bereich Dro- können Sie solch einen Fall nachlesen. Der unlängst gen und organisierte Kriminalität eingesetzten Ver- in Tschechien auf frischer Tat ertappte Kinderschän- bindungsbeamten des Bundeskriminalamtes könn- der Dr. Lewicki war bereits im November letzten ten „im Einzelfall" mit tätig werden. Ich erwarte drin- Jahres auf den Philippinen verhaftet worden; sein gend, daß der Innenminister diese Ansicht revidiert Paß war damals eingezogen worden. Nach seiner Freilassung gegen Kaution hatte die deutsche Bot- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schaft Dr. Lewicki seinen Paß wieder ausgehändigt, GRÜNEN, der F.D.P und der PDS) mit dem er dann ungehindert ausreisen konnte. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11293

Dorle Marx Die traurige Geschichte geht weiter. Mehr als acht publik Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonven- Monate benötigte die Justizverwaltung in der Bun- tion allerdings nur mit Einschränkungen ratifiziert. desrepublik Deutschland, eine zuständige Staatsan- Von einer Bekanntheit und Verwirklichung aller waltschaft in Deutschland ausfindig zu machen, die Rechte dieser Konvention kann in unserem Land die Ermittlungen gegen Herrn Dr. Lewicki aufneh- selbst noch lange nicht die Rede sein. men sollte. Als ihr das gelungen war, war Herr Dr. Lewicki aber schon wieder verhaftet worden. (Beifall bei der SPD) Ende August nämlich ist der Verdächtige in Tsche- Deshalb wird die Bundesrepublik Deutschland in chien wegen sexueller Gewalt an Kindern, die er vor- diesem Bereich schlecht als Lehrmeisterin anderer her mit Heroin betäubt hatte, festgenommen worden. Länder auftreten können. Da können wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, (Beifall bei der SPD) viel über Prävention und Verhaltensanleitungen für Eltern und Kinder diskutieren, wenn unser Rechts- Der von allen Fraktionen gemeinsam im Juni ver- staat es nicht einmal fertigbringt, einen solchen Ver- abschiedete Antrag zur Vorbereitung der Stockhol- dächtigen, der auf den Philippinen bereits mit gutem mer Weltkonferenz hat der Vielfalt und der Ver- Grund in Haft genommen worden war, bei uns we- knüpfung aller Erscheinungsformen der sexuellen nigstens in Untersuchungshaft zu nehmen. Ausbeutung von Kindern Rechnung getragen. Ich bezweifle nochmals, sehr verehrte Kolleginnen und (Beifall bei der SPD und der PDS) Kollegen von den Grünen, daß es besonders weise Die gesetzlichen Voraussetzungen, so wurde ge- von Ihnen war, nach der Stockholmer Weltkonferenz stern in der Fragestunde gesagt, müssen dann natür- dem Deutschen Bundestag einen Antrag zur Debatte lich auch vorliegen. Aber wie war es denn hier? Der vorzulegen, der sich wieder ausschließlich mit dem dringende Tatverdacht war gegeben. Der Verdäch- Bereich Sextourismus beschäftigt. Vor dem Hinter- tige ist auf den Philippinen quasi ertappt worden. grund der tragischen Enthüllungen in Belgien und Und Fluchtgefahr besteht doch wohl auch, wenn der aktuellen Geschehnisse in unserem Land sind man acht Monate benötigt, um die verschiedenen wir endlich einmal über diese kurzsichtige Veren- Wohnsitze gegeneinander abzuwägen und der Ver- gung hinausgekommen: Wir haben begonnen, zur dächtige auch einen Wohnsitz in der Schweiz hat. Kenntnis zu nehmen, daß die besonders perfide Form Statt ihn festzunehmen, konnte Herr Dr. Lewicki wei- der Mißachtung der Rechte von Kindern durch Ge- ter die bei ihm sichergestellten Videobänder produ- walt und sexuelle Ausbeutung ein weltweit wach- zieren und sich wiederholt an Kindern vergreifen. sendes Problem ist. Was er die ganzen acht Monate über machen konnte, (Beifall bei der SPD sowie der Abgeordne- wissen wir nicht. Wir waren nicht dabei. Er ist in ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Tschechien erwischt worden, aber vielleicht war er und der PDS) auch in Deutschland aktiv. Wenn wir also die Rechte von Kindern anerken- Der weltweiten Verantwortung für die Wahrung nen, wahren und schützen wollen, sollten wir uns vor von Kinderrechten wird die Bundesrepublik Schnellschüssen in jede Richtung hüten. Alle Maß- Deutschland nur gerecht, wenn die in fernen Län- nahmen der gesellschaftlichen und politischen Prä- dern begangene Gewalt an Kindern und die grausa- vention müssen national und inte rnational Kinder men Ereignisse vor oder hinter unseren eigenen von ihrer Objektstellung befreien. Menschenwürde Haustüren mit gleicher Dringlichkeit geächtet und und kindliche Persönlichkeit müssen anerkannt und verfolgt werden. respektiert werden. Erst dann ist eine Gesellschaft in Hieran sehen Sie, verehrte Kolleginnen und Kolle- der Lage, Verantwortung für ihre Kinder insgesamt gen von Bündnis 90/Die Grünen, daß eine Begren- zu übernehmen, also unabhängig davon, ob es sich zung der aufgeworfenen Fragen auf die sogenannten um ein eigenes oder ein verwandtes, ein deutsches Sextouristen sehr gefährlich ist. Vor diesem Hinter- oder ein nichtdeutsches Kind handelt. grund - ich muß es leider sagen - wirkt Ihr Antrag Wir sind aufgerufen, die Würde und Rechte a ller ziemlich einfältig, und Kollege Beck hat sich erst gar Kinder anzuerkennen und zu verteidigen. Daraus er- nicht auf den Text bezogen. Peinlich finde ich die Be- geben sich folgende neun Grundsätze für alle Berei- grenzung des in Ziffer 3 Ihres Antrages aufgeführten che unserer Politik. Präventionsauftrages auf Reiseveranstalter und Ju- stizbehörden der Zielländer des Sextourismus und in Erstens. Kinder sind von Geburt an vollwertige diesem Bereich tätige Nichtregierungsorganisatio- Menschen und nicht bloß defizitäre Erwachsene oder nen. „Anhang" ihrer Eltern. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen konkretisiert die Menschen- Regelrecht abenteuerlich - es tut mir leid, das zu rechte der Kinder. Sie muß in Deutschland umfas- sagen - ist die Ziffer 4 Ihres Antrages. Do rt meinen send bekanntgemacht und schließlich auch gelebt Sie, die Bundesregierung müsse auf die Ratifizierung werden. und Einhaltung der Vorgaben der UN-Kinderrechts- konvention in den Zielländern des sogenannten Sex- Zweitens. Die Achtung der Würde und der Rechte tourismus drängen. Ich kann Ihnen verraten: Die Kin- des Kindes obliegt nicht nur den Eltern oder dem derrechtskonvention der Vereinten Nationen haben Fachpersonal in der Erziehung. Eine Behandlung, über 180 Staaten dieser Erde ratifiziert. Die von Ih- die die Würde von Kindern in irgendeiner Weise ver- nen genannten Länder gehören dazu. Die Bundesre- letzt, ist nicht mehr Privatsache. 11294 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dorle Marx Drittens. Familien, nicht nur Eltern, dürfen in ihrer Es ist richtig, daß wir 1993 die letzten strafrechtli- Sorge für Kinder nicht alleingelassen werden. Sie chen Lücken bei der Verfolgung von sexuellem Miß- haben Anspruch und Recht auf jederzeitige Hilfe bei brauch durch Deutsche im Ausland geschlossen ha- ihrer Aufgabe. Beratung und Unterstützung müssen ben; aber die tatsächlichen Ergebnisse können nicht ortsnah und ohne allzugroßen Kostenaufwand zur zufriedenstellen. Frau Kollegin Marx hat sie hier im Verfügung stehen. Hilfen und Unterstützung müssen einzelnen vorgestellt. Die wenigen Fälle legen ein nicht nur in diesem Bereich als gesellschaftliche Nor- beredtes Zeugnis dafür ab, daß etwas getan werden malität und nicht nur als Notfallhilfe angesehen wer- muß. Es kann im übrigen bei dieser Situation nicht den. darum gehen, auf parteipolitische Vorteile aus zu sein und Vorschläge insbesondere deshalb abzuleh- Viertens. Die Kinder selbst müssen auch außerhalb nen, weil sie vom politischen Gegner gemacht wor- des Elternhauses jederzeit Ansprechpartner finden den sind. können. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Fünftens. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Auf- ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ hebung der geschlechtsspezifischen Geringerschät- DIE GRÜNEN) zung von Mädchen, die einen ganz überwiegenden Anteil der Opfer aller Formen des sexuellen Miß- Ich habe deshalb überhaupt keine Probleme damit, brauchs ausmachen. für meine Fraktion zu erklären, daß wir die Vor- Sechstens. Die Opfer sexueller Gewalt müssen vor schläge im heute zu behandelnden Antrag im Ge- Verachtung und Kriminalisierung geschützt werden. gensatz zu Ihnen, Frau Kollegin Marx, durchaus für hilfreich halten. Sie müssen nicht nur in der Justiz, sondern auch im Sozial- und Gesundheitsbereich besondere Unter- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- stützung erfahren. ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Siebtens. Die Aufdeckung sexuellen Mißbrauchs DIE GRÜNEN) und der Mißachtung anderer fundamentaler Kinder- Die mündliche Absprache zwischen Deutschland rechte darf nicht nur zur Bestrafung und Fokussie- und Thailand aus dem Herbst 1995, die den unmittel- rung auf die Täter führen; die Hilfen für die betroffe- baren Verkehr zwischen Strafverfolgungsbehörden nen Kinder sind zumindest gleichrangig. ermöglicht, ist ein guter Schritt. Ich erwarte, daß wir (Beifall bei der SPD und der PDS) schnellstmöglich mit den anderen, insbesondere den in dem Antrag genannten Ländern zu ähnlichen Ab- Achtens. Mit der Achtung der Würde und der sprachen kommen. Rechte der Kinder ist auch ihr Recht zur Mitwirkung an allen sie betreffenden Angelegenheiten, wie es Lassen Sie mich noch ein deutliches Wort sagen. Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention vorsieht, ver- Ich spüre das Zögern insbesondere in der Beamten- bunden. Kinder müssen und können in die Entwick- schaft des Bundesjustizministeriums, die formelle lung und Durchführung von Präventionsprogram- Rechtshilfeabkommen sofort mit dem Stempel men aktiv einbezogen werden. „langwierig" und „umständlich" versieht. Ich er- warte mit Nachdruck, daß in einer sich immer mehr Neuntens. Die Achtung von Kindern bindet die na- globalisierenden Welt - das trifft dann leider auch tionale und internationale Politik, besonders in der auf den sexuellen Mißbrauch von Kindern zu - der Frage der Wahrung der Menschenrechte und der Rechtshilfeverkehr und die dazu erforderlichen Re- Entwicklungszusammenarbeit. gelungen aus dem Staub des 19. Jahrhunderts an die Wir müssen national und inte rnational mit Sorgfalt Bedingungen der Gegenwart angepaßt werden. prüfen, wie die drei Bereiche Prävention, Opfer- (Beifall im ganzen Hause) schutz und Umgang mit den Tätern im Interesse der Würde unserer Kinder verbessert werden können. Mir reichen mündliche Absprachen auf Dauer nicht. Ich möchte verbindliche Vereinbarungen, um (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE einerseits den schnellen Informationsaustausch, wie GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) mit Thailand mündlich abgesprochen, und anderer- seits eine rechtsstaatliche Durchführung der Strafver- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der fahren zu ermöglichen. Ein solches Vorgehen kann Kollege Jörg van Essen, F.D.P. nicht auf ein Land beschränkt bleiben, wie es bisher leider der Fall ist. Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- Ich habe auch sehr viel Sympathie für alle Überle- men und Herren! Das Thema „Sex mit Kindern" be- gungen und Versuche, die Zahl deutscher kriminal- schäftigt uns in diesen Tagen aus traurigen Anlässen polizeilicher Verbindungsbeamter zu erhöhen. Der in besonderer Weise. Wir reden heute über einen Mißbrauch von Kindern in der Dritten Welt ist für un- Teilaspekt, ohne dabei die Gesamtproblematik, die sere finanzkräftigen Landsleute deshalb so einfach, in der Debatte bereits eine Ro lle gespielt hat, aus, weil sie die Not in diesen Ländern schamlos ausnut- dem Auge zu verlieren. Ich begrüße es daher sehr, zen. Aber das von den Kindern verdiente Geld daß der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages sichert nicht nur den Unterhalt ihrer Fami lien; es ver- sich in einer Sondersitzung am 9. Oktober mit der dienen viele mit, bis hin zu den staatlichen Strafver- Fülle der sich aufwerfenden Fragen in einem Exper- folgungsbehörden, die sich korrumpieren lassen. Wir tengespräch beschäftigen wird. müssen daher durch mehr Verbindungsbeamte den Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11295

Jörg van Essen Druck auf die örtlichen Behörden deutlich erhöhen - Wo soll man also ansetzen? Die Ursachen der sexu- und damit auch den Strafverfolgungsdruck auf die ellen Ausbeutung von Kindern sind komplex und ge- Täter. Als strafrechtlichem Praktiker ist mir bekannt, hen über die immer wieder angeführte Armut in den daß einen Täter nichts so sehr zur Tat ermutigt wie Ländern der sogenannten Dritten Welt hinaus. Zur die Tatsache, daß er mit einer Entdeckung praktisch Umsetzung der Beschlüsse von Stockholm bedarf es nicht zu rechnen braucht. mehr als internationaler Absprachen über Amtshilfe bei der Strafverfolgung und nur begrenzt hilfreicher Aber auch andere sind gefordert. An den an Kin Entwicklungsprojekte. -dern interessierten Sex-Touristen verdienen nicht nur die einheimischen Hoteliers in den Zielländern Warum ist es möglich, mit dieser Art von Geschäft und diejenigen, die die Kinder zur Prostitution anhal- wahnsinnige Profite zu machen? Sexualität gilt als ten und diese organisieren, sondern auch die Flugge- Ware und funktioniert daher auf dem Markt, sofern sellschaften, die sie in die Zielländer transportieren. sie nachgefragt wird. Wo entsteht die Nachfrage Ich gebe zum Beispiel zu überlegen, ob nicht wäh- nach dieser Art von Ware? Die Mehrzahl der Sex- rend des langen Fluges entsprechendes Aufklä- touristen kommt aus Westeuropa und den USA. rungsmaterial, zum Beispiel Videobeiträge über die Ich denke, eine wesentliche Ursache für die sexu- Situation und deren schlimme Folgen, angeboten elle Ausbeutung von Kindern liegt da rin, wie Kinder werden könnten. Ich weiß von Bekannten, die in die- dargestellt und wahrgenommen werden, sprich: in sem Bereich tätig sind, wie offen unter den Passagie- ihrer Stellung in der Gesellschaft als letztlich unselb- ren bereits während des Fluges über ihre beabsich- ständige Wesen, über die Erwachsene nach eigenem tigten Taten in den Zielländern gesprochen wird. Das Ermessen verfügen können. alles ist für mich nicht hinnehmbar. Dieses Bild macht es Männern noch immer mög- Wir sollten in einen konstruktiven Wettbewerb al- lich, Kinder - wie übrigens auch Frauen - als Eigen- ler Richtungen dieses Hauses treten, um zu einer tum zu betrachten, auf deren Benutzung sie ein möglichst guten, rechtsstaatlichen und vor allen Din- Recht haben, als Sextouristen, als Konsumenten von gen wirksamen Lösung zu kommen. Dieser Antrag Kinderpornographie und als Mißbraucher in der Fa- ist ein Beitrag dazu. milie. Diesem Problem ist nur beizukommen, wenn Vielen Dank. Kinder in allen gesellschaftlichen Bereichen und vor allem in der Rechtsprechung als Subjekte, als selbst- (Beifall im ganzen Haus) bestimmte Personen mit unverbrüchlichen Rechten behandelt werden.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Die konsequente Umsetzung der UN-Kinderkon- Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS. vention ohne Wenn und Aber wäre ein Schritt in die richtige Richtung. (Beifall bei der PDS) Rosel Neuhäuser (PDS): Herr Präsident! Meine lie- ben Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal Auch im Rahmen der Haushaltsdebatten war im- alle Punkte unterstützen, die Kollege Beck hier vor- mer wieder die Rede von Werteverlusten und der getragen hat, insbesondere in bezug auf den Um- Notwendigkeit von Bewußtseinsänderungen. Regie- gang mit Sexualstraftätern im Gefängnis. rung und Koalition sind wild entschlossen, weitestge- hend unregulierte Marktmechanismen in allen Berei- Der Weltkongreß in Stockholm war sehr wichtig chen sozialstaatlicher Verantwortung zu etablieren. und auch notwendig. Meine Sorge ist: Was wird nun aus diesen Erklärungen und Beschlüssen? Gibt es in Woher, bitte, nehmen Sie, meine Damen und Her- diesem Haus und vor allem bei der Bundesregierung, ren von der Koalition, die Hoffnung, daß ausgerech- den politischen Willen, die Ursachen und Hinter- net das Bewußtsein der Gesellschaft sich diesen von gründe sexueller Ausbeutung zu analysieren und vor Ihnen favorisierten Mechanismen entziehen kann allem entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen? oder unabhängig von ihnen agiert? Das Sein be- Wie weit wohlgesetzte Worte und graue politische stimmt das Bewußtsein. Ihre ganz konkrete Politik Realität auseinanderklaffen können, das hat uns Kol- macht diese Bewußtseinsänderung unmöglich. Ich legin Marx eben sehr eindrucksvoll dargestellt, und gebe mich nicht der Illusion hin, daß Ihnen das nicht das ist mit Sicherheit nicht nur Familienpolitikerin- klar ist. nen und -politikern bekannt. Aber können Sie verantworten, was Sie tun? In der Die Forderung nach härteren Strafen für die Täter Gesellschaft, auf die Sie zusteuern, ist das Problem erscheint angesichts der jüngsten Fälle in Belgien sexueller Ausbeutung von Kindern nicht zu bewälti- und des Todes der kleinen Natalie in Bayern ein- gen. leuchtend. Ich glaube aber nicht, daß eine restrikti- (Beifall bei der PDS) vere Bestrafung mehr leisten kann als ein zorniges und hilfloses Reagieren auf unfaßbare menschliche Das Wort hat Grausamkeit. Ursachen werden davon nicht berührt. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Bundesminister Professor Dr. Schmidt-Jortzig. Geholfen ist damit niemandem. Die Experten sind sich auch einig, daß es nicht an Gesetzen mangelt, sondern vielmehr an einer konsequenten Anwen- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der dung der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten. Justiz: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen 11296 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig und Herren Kollegen! Gegenstand der offiziellen De- Um so mehr gilt es, Prognosefehler soweit irgend batte ist heute die sexuelle Ausbeutung von Kindern möglich zu minimieren. Ein erster Schritt wäre die im Ausland durch Deutsche. Der Weltkongreß in verstärkte Einschaltung von Gutachtern vor der Haft- Stockholm manifestierte eindrucksvoll den gemein- entlassung. Für den Strafvollzug zuständig sind die samen Willen, gegen so schändliche Verbrechen wie Länder, denen für verstärkte gutachterliche Prüfung Kinderprostitution, Kinderhandel und Kinderporno- häufig das Geld und auch die zusätzlichen Gutachter graphie vorzugehen. Auf dem informellen Rat der Ju- fehlen. Herr Beck, Sie haben darauf schon hingewie- stiz- und Innenminister der EU in Dublin, der zur sen. Auch ich sage ganz deutlich: Wer in diesem Be- Stunde tagt, steht ein Bündel von Maßnahmen gegen reich spart, spart mit Sicherheit an einer falschen und den Menschenhandel und gegen die sexue lle Aus- ganz schlimmen Stelle. beutung von Kindern auf der Tagesordnung. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Die Bundesregierung ihrerseits hat bereits 1993 SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den sexuellen Mißbrauch ausländischer Kinder durch Deutsche im Ausland unter Strafe gestellt. Nach dem Stockholmer Kinderschutzkongreß haben Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Frau Kollegin Nolte und ich uns zu zügiger Prüfung Schmidt-Jortzig, gestatten Sie eine Zwischenfrage der notwendigen Folgeschritte verabredet. Sie, sehr der Kollegin Jelpke? verehrte Frau Kollegin Nolte, werden nachher sicher- lich noch darauf zu sprechen kommen. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der Ich möchte jetzt zu einem anderen Thema spre- Justiz: Gerne. chen, das mit diesem ganz unmittelbar zusammen- hängt. Wir können diesen offiziellen Tagesordnungs- Ulla Jelpke (PDS): Herr Minister Schmidt-Jortzig, punkt nicht isoliert von den grausamen Ereignissen ich bin seit 15 Jahren Strafvollzugshelferin. Ich im Inland diskutieren. möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß die mei- sten Richter Sexualstraftätern seit Jahren Thera- Mit Trauer und Bestürzung haben wir von dem pieauflagen ins Urteil hineinschreiben? Ich habe die furchtbaren Tod der kleinen Nata lie erfahren. Fas- Erfahrung gemacht, daß die Therapie im Gefängnis sungslos stehen wir vor einer Tat, die sich nur wenige in der Regel nicht stattfindet. Im wesentlichen wer- Wochen nach den grausamen Entdeckungen in Bel- den Sexualstraftäter verschlossen, aufbewahrt. Sie gien hier bei uns, jetzt unmittelbar bei uns ereignet sprechen davon, Gutachten vor der Entlassung er- hat. stellen zu wollen. Ich frage Sie: Sind Sie nicht der Trauer und Bestürzung dürfen aber, so schwer es Meinung, daß die therapeutischen Maßnahmen auch fällt, nicht zur Maxime unseres politischen Handelns wirklich umgesetzt werden müssen und daß Gutach- werden. Die bayerische Strafjustiz hat ihre Ermittlun- ten am Anfang und am Ende der Haftzeit alleine gen aufgenommen und wird den mutmaßlichen Mör- nichts nutzen, wenn nicht zwischendurch und per- der einem korrekten und präzisen Verfahren zufüh- manent mit den Menschen gearbeitet wird? ren. Unsere Aufgabe ist es nun, sorgfältig und unaufge- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der regt zu prüfen, wie wir dem sichtbar gewordenen Justiz: Frau Kollegin Jelpke, auch nach meinen Problem wirksam begegnen können. Unsere Antwort Kenntnissen ist es in der Tat so, daß die Praxis der muß dabei angemessen, rechtsstaatlich einwandfrei Therapieangebote im Strafvollzug aus den unter- und vor allem besonnen und umsichtig ausfallen. schiedlichsten Gründen zu wünschen übrig läßt - aus Personal- und Geldengpässen, aus Überlastung des Was also ist zu tun? Die Schwierigkeiten und Un- Personals, aber auch, weil es in dem unmittelbaren wägbarkeiten liegen ganz zweifellos in der prakti- Zusammenhang des Strafvollzugs häufig nicht zu schen Gestaltung des Strafvollzugs, und zwar gene- sinnvollen Arbeiten kommen kann. Da gebe ich Ih- rell, nicht etwa nun konkret wegen dieses Falles in nen völlig recht. Bayern. Ob wir deswegen schon den Schluß ziehen dürfen, Im Brennpunkt der Kritik steht die Aussetzung des daß die Gutachten, die entsprechend erstellt werden, Strafrestes zur Bewährung. Die Entscheidung hier- keinen Sinn haben, möchte ich bezweifeln. Nach über kommt den Gerichten zu. Die Strafvollstrek- meiner Sicht der Dinge geht es dabei nicht so sehr kungskammern der Landgerichte müssen in jedem darum, Gutachten an sich in Frage zu stellen, son- Einzelfall die schwierige Prognoseentscheidung tref- dern darum, das Gutachtenwesen zu überprüfen. Es fen, ob ein künftig straffreies Verhalten des Proban- ist möglicherweise nicht das beste, wenn man dann den zu erwarten ist. Gerade bei Sexualstraftätern se- dieselben, kräftemäßig überforderten Gefängnispsy- hen die entsprechenden Verwaltungsvorschriften der chiater, Gefängnispsychologen und Sozialarbeiter in Länder eine besonders gründliche Prüfung vor. Aber den Strafvollzugsanstalten mit der Begutachtung be- - darauf ist schon verschiedentlich hingewiesen wor- auftragt. Es stellt sich also die Frage: Soll man soge- den; wer kann das auch übersehen? - auch die nannte Externe dazuholen, die von dem unmittelba- gründlichste Prüfung bietet, wie psychiat rische und ren Zusammenhang nicht so betroffen sind und die psychologische Fachleute immer wieder betonen, nicht so eingebunden sind. Dazu höre ich: Es gibt keine Gewißheit und mithin keine risikofreie Entlas- von solchen Externen, die hinreichend befähigt sind sung aus dem Strafvollzug. und Zeit haben, zuwenig. Insofern haben Sie recht. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11297

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der Schmidt-Jortzig, gestatten Sie eine Zwischenfrage Justiz: Herr Kollege, ich komme auf solche und ähnli- der Kollegin Wolf? che Punkte noch zu sprechen. Im übrigen wi ll ich schon jetzt sagen: Wir sind Gottlob in einen sehr fruchtbaren Diskussionsprozeß eingetreten, nament- Bundesminister der Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, lich durch die Entscheidung des Rechtsausschusses, Justiz: Gern. hierzu eine öffentliche Anhörung durchzuführen. Es wird sicherlich einiges an Schlüssen zu ziehen sein, Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Minister, Sie wenn wir diese Diskussion umfassend geführt haben gerade gesagt, daß in den Vollzugsanstalten haben. Ich will da gar nichts ausschließen. Daß es so zuwenig Personal vorhanden ist. Sind Sie der Mei- vorschnell geht, wie Sie es in Ihrer Frage ein bißchen nung, daß der Kenntnisstand der Richter in diesen unterstellen, kann ich eigentlich nicht bestätigen. speziellen Fällen nicht ausreicht und daß vielleicht eine ganz andere Aus- und Weiterbildung stattfinden (Beifall bei der F.D.P.) müßte? Wie schätzen Sie die Kompetenz von Rich- Ein weiterer Punkt - vieles ist in diesem Diskurs tern für die Behandlung dieser speziellen Verbre- schon zur Sprache gekommen - wäre sicherlich - chen ein? Frau Kollegin Jelpke, ich habe Ihnen da schon zuge- (Jörg van Essen [F.D.P.]: Das wird doch von stimmt - ein breiteres, gezielteres und sachgerechte- speziellen Kammern verhandelt!) res Angebot von Therapien. Vorrangig ist da allent- halben wieder die Justiz in den Ländern gefordert. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der Aber es soll nicht immer nur der Verweis auf die Justiz: Es geht um die Strafvollstreckungskammern, praktische Justizverantwortung der Länder in diesem die entscheiden müssen. Das ist ja unser Thema hier, föderalen System erfolgen. Wenn sich nach kritischer das uns durch den schrecklichen Fall in Bayern auf Durchsicht Gesetzeslücken herausstellen, muß auch den Tisch gelegt worden ist. Es geht darum, ob sich der Bundesgesetzgeber Verbesserungsüberlegungen die Strafvollstreckungskammern für die Entschei- anstellen. Insoweit könnte man daran denken - ich dung über eine Aussetzung des Strafrestes zur Be- sage das ausdrücklich im Konjunktiv, weil wir uns währung hinreichend sachkundig machen können, erst die Kenntnisse aneigenen müssen, um da defini- um ihre Entscheidung wirklich verantwortungsbe- tive Entscheidungen zu treffen -, daß bei der vorzeiti- wußt treffen zu können. Wie bei jedem Richter, der gen Haftentlassung auf Bewährung auch die obliga- die Kenntnisse nicht hat, ist es notwendig, daß man torische Zuziehung externer Fachleute vorgeschrie- entsprechende Gutachten einholt und Inaugen- ben werden muß. Auch darauf sind wir schon zu scheinnahmen vornimmt. Die Strafvollstreckungs- sprechen gekommen. Manche Länder, beispiels- kammern sind, wie man weiß, auch schon jetzt inten- weise Baden-Württemberg, haben das in ihren Ver- siv bemüht, sich diese Zusatzkenntnisse anzueignen. waltungsvorschriften für die Gestaltung des Straf- Nur ist das, was an möglichen gutachterlichen Quel- vollzugs zur Behandlung solcher Fälle ausdrücklich len zur Verfügung steht, häufig nicht hinreichend. vorgeschrieben. Wenn das nicht langt, müßte der Bund den anderen Ländern die Dinge so aufgeben. Ich würde den Vorwurf nicht den Richtern machen, es sei denn, wir müßten konstatieren, daß a lles man- Außerdem könnte man - auch darauf ist schon hin- gels hinreichender Zeit und wegen Überlastung viel gewiesen worden - die Gewißheitsschwelle für die zu schnell durchgepreßt wird. Ich würde sagen, die Prognose bei bestimmten Deliktsgruppen wie vorhandenen gutachterlichen Hilfen sind für die zur Sexualstraftaten höher legen. Entscheidung berufenen Richter nicht optimal. Schließlich ist sicherlich auch eine Überlegung wert, wie man die weitere Beobachtung der Täter Herr Kollege Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: nach der Verbüßung der Strafe gestaltet. Das Gesetz Schmidt-Jortzig, gestatten Sie auch eine Zwischen- räumt den Gerichten schon heute die Möglichkeit frage des Kollegen Dehnel? ein, gemeingefährliche Wiederholungstäter in Siche- rungsverwahrung zu nehmen. Es sieht für den Fa ll Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der der Entlassung in Freiheit auch die Anordnung von Justiz: Wenn das die letzte zu diesem Punkt ist, herz- Führungsaufsicht vor. Muß man hier für Sexualstraf- lich gerne. Zu den anderen Punkten können gerne täter möglicherweise die Anordnungsbedingungen weitere Fragen gestellt werden. herabsetzen? Auch das müssen wir erörtern. Meine Damen und Herren, wir alle sollten das in Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Die Diskussion geht Ruhe, mit Sorgfalt und Entschlossenheit diskutieren. für meine Begriffe ein bißchen in die falsche Rich- Schnellschüsse jedenfalls sind bei einem so heiklen tung. Ich habe manchmal den Eindruck, daß unser und empfindlichen Thema sicherlich nicht gefragt. Strafvollzug viel zu liberal ist, wenn ich daran denke, daß Sexualstraftäter Freigang bekommen und dann Deshalb - ich sage das noch einmal - begrüße ich ohne Fesseln irgendwo umherlaufen können, daß es sehr, daß der Rechtsausschuß des Deutschen Bun- zum Beispiel auch vorzeitig sowie ohne Kontrollmaß- destages am 9. Oktober eine öffentliche Anhörung nahmen entlassen wird und dann wieder Verbrechen durchführt und wir in derselben Woche, so habe ich ausgeübt werden. Glauben Sie nicht, daß das Straf- gehört, hier im Plenum wohl auch einen Sonderter- vollzugswesen doch zu liberal ist? min für eine Diskussion erhalten werden. 11298 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Außerdem werde ich die Dinge mit meinen Kolle- daß die Videographie im Strafverfahren genutzt wer- gen aus den Ländern erörtern und dem Rechtsaus- den sollte. Kollege Beck hat eine Forderung in dieser schuß einen ausführlichen Be richt vorlegen. Richtung erhoben, hat allerdings vergessen, daß die SPD einen solchen Entwurf längst eingebracht hat. Mir scheint, in dieser Weise können wir angemes- Wir bitten um Unterstützung. sen reagieren und werden damit vor allem auch dem - Ernst der Problematik gerecht. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. Ziel dieses Entwurfes ist es - wie wir ausdrücklich gesagt haben -, Kindern die Vielfachbelastung durch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU wiederholte Vernehmungen, noch mehr Leid, als ih- sowie bei Abgeordneten der SPD und des nen schon widerfahren ist, zu ersparen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir fordern weiterhin und bitten um Unterstüt- zung, daß Opfer dann, wenn sie ihre Rechte nicht Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer, SPD. selbst wahrnehmen können - für wen sollte das mehr gelten als für Kinder? -, einen Opferanwalt erhalten. Es kann doch nicht richtig sein, daß Beschuldigte bei Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Präsident! Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage auf Staats- Liebe Kolleginnen und Ko llegen! Herr Minister kosten einen Anwalt erhalten, die Opfer aber nicht. Schmidt-Jortzig hat soeben mit einer gewissen Ge- Auch hier bitten wir um Unterstützung für unsere nugtuung festgestellt, die Bundesregierung habe Forderung. schon 1993 den sexuellen Mißbrauch von Kindern durch Deutsche im Ausland unter Strafe gestellt. Ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- mal abgesehen davon, daß dies Sache des Parla- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ments gewesen ist, die wir sehr gerne gemeinsam be- und der PDS) schlossen haben, ist es jetzt doch an der Zeit, auch zu Lassen Sie mich in der Kürze der mir zur Verfü- fragen, ob das eigentlich reicht. gung stehenden Zeit noch auf zwei Lehren, die wir Der Fall Dr. Lewicki, über den wir gestern in der aus der Diskussion über den Fall Lewicki ziehen soll- mündlichen Fragestunde eingehend diskutiert ten, zu sprechen kommen. Eine ist - ich denke, da haben, müßte doch nachdenklich machen. Kann es sind wir uns einig -, daß jede Diskussion in diesem denn sein, daß sich ein deutscher Staatsangehöriger, Hause und selbstverständlich auch im zuständigen der schlimme Straftaten im Ausland begeht, wegen Fachausschuß seriös geführt werden muß. der jetzigen Fassung des § 5 Nr. 8 des Strafgesetzbu- Deshalb freue ich mich, daß aus keiner Fraktion, ches dadurch der deutschen Strafgewalt entzieht, auch nicht durch den Fragesteller, der sich vorhin ge- daß er seinen Wohnsitz im Ausland - in diesem Fall meldet hat, die Forderung nach einer chemischen in der Schweiz - hat? Das kann doch nicht sein. Zwangsbehandlung von Tätern erhoben worden ist. Wir jedenfalls treten dafür ein, daß die Vorausset- Wir sollten in aller Sachlichkeit darauf hinweisen, zung, der Beschuldigte müsse seine „Lebensgrund- daß es eine freiwillige chemische Behandlung längst lage im Inland" haben, gestrichen wird. Das ist un- gibt, die allerdings voraussetzt, daß sie von einer sere Forderung. Wir bitten Sie, das zu unterstützen. therapeutischen Behandlung begleitet und nur in ge- eigneten Fällen angeboten wird. Man sollte nicht in (Beifall bei der SPD) der Öffentlichkeit die Illusion erzeugen, als ob eine schwere psychische Erkrankung mit chemischen Ausdrücklich zustimmen können wir Ihnen, wenn Mitteln, die physisch wirken, geheilt werden könnte. Sie sagen, daß man bei der Ermittlung und Feststel- Das stimmt nicht, da sollten wir der Öffentlichkeit lung, ob eine positive Prognoseentscheidung der auch die Wahrheit sagen. Strafvollstreckungskammer verantwortet werden kann, an Gutachtern nicht sparen darf. Dies ist eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- gemeinsame Forderung. Wir sind auch der Auffas- ten der PDS) sung, daß man dazu übergehen sollte, externe Fach- leute hinzuziehen, bei schwieriger Fallgestaltung Ein letzter Punkt; darin stimme ich mit Ihnen, Herr nicht nur etwa einen psychiatrischen, sondern even- Kollege van Essen, überein. Wir sollten es nicht tuell auch einen Sachverständigen einer psychologi- bei mündlichen Absprachen beim strafrechtlichen schen oder anderen Fachdisziplin. Man sollte da Rechtshilfeverkehr belassen, wie etwa dieser sagen- nicht an Kosten sparen. Das ist auch unsere Auffas- haften Absprache in Thailand. Das sind Absprachen, sung. deren Funktionieren auf dem Zufall guter persönli- cher Kontakte beruht, und das ist kein ausreichender Mindestens ebenso wichtig wie das Diskutieren Opferschutz. über Täter ist es, über die Opfer zu reden, nicht zu- letzt über die kindlichen Opfer von Sexualdelikten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, Wir treten dafür ein, daß der strafrechtliche Rechts- der F.D.P. und der PDS) hilfeverkehr der Bundesrepublik Deutschland mit außereuropäischen Staaten, der sich bisher überwie- Wie Sie wissen, haben wir schon im vergangenen gend vertragslos vollzieht, auf die Grundlage natio- Jahr einen Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, naler Rechtshilfeabkommen gestellt wird. Es geht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11299

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) um die Verbesserung der strafrechtlichen Zusam- setzt. So hat die Bundesregierung in den letzten Jah- menarbeit durch den Einsatz speziell ausgebildeter ren gezielte Maßnahmen im Bereich der Prävention, deutscher Verbindungsbeamter vor Ort - das ist der Strafverfolgung und des Opferschutzes eingelei- keine private Sache des Herrn Botschafters -, von tet. Das waren wichtige Maßnahmen, aber sie rei- sachkundigen Beamten vor Ort, die auch gegen chen nicht aus. - deutsche Straftäter im Ausland ermitteln, die die ört- lichen Behörden schulen und damit sicherstellen, Im Fall der Kinderprostitution im Ausland stehen daß die Anforderungen an Beweismitteln und Zeu- die Ermittler vor der schwierigen Aufgabe, über- genaussagen für die Gerichtsbarkeit auch in einem haupt Kenntnis von entsprechenden Sexualverbre- deutschen Strafverfahren gesichert sind. Darum chen zu erlangen. Nur wenige Sexualstraftaten sind sollte es uns gemeinsam gehen. dort bislang zur Anzeige gekommen. Nur wenige Täter sind von den Strafverfolgungsbehörden der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Zielländer festgenommen worden. Dies zeigt, wie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dringend hier der Handlungsbedarf ist. und der F.D.P.) Auf welche Weise dem Problem beizukommen ist, (Vorsitz : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) kann dahingestellt bleiben. Ob die Lösung in Rechts- Es ist also Handeln geboten, sowohl für den Bun- hilfeabkommen, im Rahmen von völkerrechtlichen Vertragswerken, in Verbindungsbeamten oder aber destag als auch für die Bundesregierung, Handeln im formlosen Rechtshilfeverkehr zu sehen ist, mögen mit Augenmaß, Handeln ohne Hyste rie, damit der Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung durch die Rechtspolitiker entscheiden. Deutsche im Ausland verbessert wird. Die Bundesregierung fordere ich auf, die noch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nicht verwirklichten Forderungen des Aktionsplans ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, des Weltkongresses von Stockholm umzusetzen. der F.D.P. und der PDS) Dazu gehören folgende Punkte: Es muß, wie bereits angesprochen, verstärkt mit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt den Zielländern zusammengearbeitet werden. die Kollegin Erika Reinhardt. Auch ist es notwendig, bei schwerwiegenden Fäl- len des sexuellen Mißbrauchs eine Strafverschärfung Erika Reinhardt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! im Strafgesetzbuch festzuschreiben. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, kein Thema bewegt uns - mich besonders und auch Kindliche Opfer müssen als Zeugen wirksamer ge- die Menschen draußen - zur Zeit so sehr wie die schützt werden. Das große Leid, das den Kindern zu- sexuelle Gewalt gegen Kinder. gefügt wurde, darf nicht noch durch Aussagen im Gerichtssaal in Anwesenheit von Tätern verstärkt Gewalt gegen wehrlose Geschöpfe, die so drin- werden. gend auf Schutz und Hilfe angewiesen sind, ist wohl (Beifall bei der CDU/CSU) das Schlimmste, Widerwärtigste und Schändlichste, was es gibt. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das Ich nenne Multimedia. Im Rahmen der Gesetz- sich inzwischen weltweit stellt, und die jüngsten gebung muß alles getan werden, um Kinder- und Fälle von Kindesmißbrauch und Kindestötung geben Jugendschutz zu gewährleisten. Die zunehmend ge- Anlaß, die geltenden Schutzmaßnahmen auf ihre nutzten neuen Kommunikationssysteme und Daten- Wirksamkeit zu überprüfen. Es ist aber auch zu über- netze wie zum Beispiel das Internet dürfen nicht prüfen, ob wir in der Liberalisierung unseres Straf- Spielwiese von Sexualverbrechern sein. rechts nicht zu weit gegangen sind Die gegenwärtige Praxis von vorzeitigen Haftent- (Beifall bei der CDU/CSU) lassungen sowie die Bewährungszeiten im Strafvoll- zug bei Straftätern, die wegen sexueller Gewalt ge- und ob es nicht auch an der Zeit ist, sich in unserer gen Kinder verurteilt wurden, sind zu überprüfen. Gesellschaft wieder stärker auf Werte zu besinnen, Wir können und dürfen nicht allein davon ausgehen, die im Zusammenleben mit Menschen eine wichtige wie sich ein Täter in der Strafanstalt verhält. Tatsache moralische Funktion haben. ist doch, daß die verfehlte Triebanlage im Strafvoll- Der Weltkongreß gegen sexuelle Ausbeutung von zug meist ausgeschaltet ist. Der Täter fühlt sich kei- Kindern im August 1996 in Stockholm, aber auch die nen Reizen wie im Alltag außerhalb der Strafanstalt Ereignisse in Belgien und in Deutschland haben die ausgesetzt. Er ist fügsam und reuig. Unter diesen Öffentlichkeit auf die Probleme des Mißbrauchs von Umständen erlangt der Täter eine günstige Sozial- Kindern, die Probleme der Kinderpornographie, der prognose. Im täglichen Leben außerhalb der Haftan- Kinderprostitution und des Sextourismus gelenkt. stalt kann sich das Verhalten ganz anders darstellen. Mit der Verabschiedung der Stockholmer Erklärung Wir brauchen deshalb ein besseres Verfahren der und des Aktionsplanes gegen kommerzielle Ausbeu- Kontrolle. tung von Kindern ist eine neue Grundlage geschaf- (Beifall bei der CDU/CSU) fen worden, um diese Form der Gewalt international, sind meist Wiederholungstäter. Ich be- aber auch national verstärkt zu bekämpfen. Triebtäter grüße daher die Aussage unseres Justizministers, vor Die dort aufgestellten Forderungen sind in der einer Haftentlassung externe Gutachten einholen zu Bundesrepublik Deutschland bereits teilweise umge- wollen. Dabei möchte ich deutlich machen: Nicht je- 11300 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Erika Reinhardt der Täter ist Triebtäter; das wäre eine fatale Schluß- renart aus. Wenn es nur weit genug weg geschieht, folgerung. zucken viele mit den Schultern: So ist halt das Elend der Welt! Meine Damen und Herren, daß sexuelle Gewalt gegen Kinder sich nicht nur irgendwo in der Welt, Der Kongreß in Stockholm hat uns Handlungs- sondern auch vor unserer Haustür abspielt, wurde möglichkeiten aufgezeigt: Justizbehörden, Reisever-- uns durch die schrecklichen Ereignisse der letzten anstalter, Nichtregierungsorganisationen, alle gesell- Woche wieder bewußt. Jedes Verbrechen ist furcht- schaftlichen Gruppen müssen verstärkt zusammen- bar und muß bestraft werden. Aber die sexuelle Ge- wirken. walt gegen kleine, hilflose Kinder ist wohl das ab- scheulichste Verhalten, das es mit allen Mitteln zu Ganz anders fallen dagegen die Reaktionen auf bekämpfen gilt. die erschreckenden Taten der letzten Zeit hier und in Belgien aus. Sie haben die Angst in uns mobilisiert. Die Verschärfung des Strafrechtes allein reicht Wer Kinder hat, fragt sich: Wie kann ich sie schüt- nicht aus. Vielmehr muß das Problem stärker in das zen? Was kann die Gesellschaft angesichts dieser un- öffentliche Bewußtsein gerückt werden. Dazu ist faßbaren Grausamkeiten tun? - Es fällt ungeheuer nicht nur die Politik, sondern in erster Linie unsere schwer zu akzeptieren, daß Vergeltung im Rechts- Gesellschaft aufgerufen. Im Selbstverständnis zu staat keinen Platz haben darf. Werten und zu Moral sind sie in die Verantwortung zu nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen Beratung, und wir brauchen stärkere Der fremde Täter, der in das Lebensglück einer Fa- Unterstützung in der Gesellschaft überhaupt. Die Öf- milie einbricht, wird in seiner Bedrohung wahrge- fentlichkeit muß darauf hinwirken, daß Erwachsene nommen. Jeder macht sich ein Bild von der Verzweif- ihre Verantwortung, Kinder zu schützen, verstärkt lung und der Todesangst. Unsere Kinder haben ein wahrnehmen. Die Mißbrauchsproblematik darf nicht Recht darauf, daß wir die Mittel, die uns durch die verharmlost werden. Nur so kann ein we rtvoller Bei- Gesellschaft und das Strafrecht zur Verfügung trag dazu geleistet werden, Kinder, das Wertvollste in stehen, so sorgfältig wie möglich nutzen, um sie vor unserem Leben, vor Mißbrauch zu bewahren. diesen Tätern zu schützen. Der Kollege Beck und viele andere sind darauf bereits eingegangen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Hilfreich scheint mir in diesem Zusammenhang auch ein Blick in die Niederlande zu sein. Dort wer- den Gewalt- und Sexualtäter eingehend analysiert Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht als und je nach Problemlage behandelt. Das kostet zwar nächste die Kollegin Rita Grießhaber. Geld und Geduld, aber der Erfolg kann sich sehen lassen. Die Rückfallquote ist nur halb so hoch wie in Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Bundesrepublik. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kein Thema war in der öffentlichen Debatte so vielen Wir müssen den Blick aber auch auf die Täter im Wechselbädern ausgesetzt wie das der sexuellen Ge- sozialen Nahbereich richten. Das ist eine Bedrohung walt gegen Kinder. Das Thema war lange ein Tabu, ganz anderer Art; denn in diesem Zusammenhang das die Frauenbewegung gebrochen hat. Sie erin- geht es darum, daß viele Kinder in ihrer eigenen Fa- nern sich vielleicht: Noch vor wenigen Monaten milie, in ihrem sozialen Umfeld nicht vor sexuellen stand der angebliche Mißbrauch mit dem Mißbrauch Übergriffen sicher sind. Fami lie bietet einerseits im Vordergrund. Sexuell mißbrauchten Kindern Schutz und Geborgenheit, kann aber andererseits wurde oft kein Glauben geschenkt; wenn keine ein Ort von Gewalt und Verrat sein. Das wiegt beim offensichtlichen Beweise oder Geständnisse vorla- sexuellen Mißbrauch besonders schwer, weil Kinder gen, wurde das Problem zur Erfindung stilisiert. auf das Vertrauen angewiesen sind und das Ausge- liefertsein so groß ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen: Das lag auch daran, daß der Justizapparat mit der Wie gehen wir mit unseren Kindern um, und was kindgerechten Vernehmung ziemlich überfordert sind sie uns wirklich wert? war und noch ist. Dem muß so schnell wie möglich abgeholfen werden. Nicht nur in den armen Ländern zerbrechen so- ziale Strukturen. Auch unsere Gesellschaft setzt ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mitglieder vielerlei Brüchen aus. Sie lebt von Kon- und der SPD) kurrenz und kommerzialisierten Beziehungen. Kin- derpornographie, Kinderprostitution, Kinderhandel - Sexueller Mißbrauch - begangen in anderen Län- das ist ein weltweites, widerwärtiges Geschäft mit dern - wird beschönigend „Sextourismus" genannt. Milliardenumsätzen, mit Produzenten, Konsumenten Das klingt nach Abwechslung und Abenteuer, ver- und Kindern als Ware. Man kann richtig zusehen, drängt aber das Elend. wie die Hemmschwellen der Werbewirtschaft sinken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein Ende ist nicht absehbar. So viele Kinder in dieser Welt müssen sich prosti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tuieren, um zu überleben, so viele Freier kaufen sich und bei der CDU sowie bei Abgeordneten Kinderkörper und nutzen die Not nach Kolonialher der SPD und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11301

Rita Grießhaber Während die kommerzielle Bedeutung der Kinder Strafvollzugsanstalten besser ausstatten müssen, wächst, marginalisieren wir sie gesellschaftlich. Wir dann wäre das schon ein Gewinn. haben immer weniger Raum, Zeit und Zuwendung für Kinder übrig. Und während ein Teil der Kinder (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., beim materiell verwöhnt wird, rutschen immer mehr in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der Armut ab. PDS)

Die Erklärung von Stockholm bietet einen Rah- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzte Rednerin men, den wir so schnell wie möglich ausfüllen müs- in dieser Debatte die Ministerin Claudia Nolte. sen. Bundesministerin für Famili Mehr noch: Auch die Bedingungen bei uns müssen Claudia Nolte, e, Senio- ren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin! Meine lie- verbessert werden. Aber die öffentlichen Haushalte werden vom Rotstift regiert. Statt Prävention voran- ben Kolleginnen und Kollegen! Mir fällt diese Rede sehr schwer; denn die Geschehnisse der letzten Wo- zutreiben, fallen Hilfen für Kinder den Streichkonzer- ten zum Opfer. Die Kinder aber brauchen Schutz und che machen tief betroffen. Hilfe. Das müssen sie uns we rt sein. Es gehört zu den traurigen Wahrheiten, daß Kinder weltweit - auch hier in Deutschland - der Gefahr des Vielen Dank. sexuellen Mißbrauchs ausgesetzt sind. Der Tod der kleinen Natalie Astner macht uns auf grausame (Beifall im ganzen Hause) Weise klar, daß wir beim Thema „Sexueller Miß- brauch von Kindern" nicht erst ins Ausland schauen müssen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Kurzintervention zu dem Beitrag von Bundesminister Natalies Tod ist ein bestürzender und trauriger An- Schmidt-Jortzig erhält der Kollege Eylmann. laß, angesichts dessen es natürlich sehr schwerfällt, ohne jede Emotion notwendige Konsequenzen zu diskutieren. Ich kann den Zorn der Eltern ebenso wie den Zorn, den es in der Bevölkerung gibt, sehr gut (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Horst Eylmann verstehen. Wir alle stehen in der Verpflichtung, jede Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Straf- Möglichkeit zu prüfen, um solche Verbrechen zu ver- vollzug, zu den Schwierigkeiten und auch zu den hindern. Dazu haben die heutigen Debattenbeiträge Fehlentwicklungen bei den bedingten Entlassungen einen wichtigen Beitrag geliefert. ist von Herrn Beck bis hin zum Justizminister vieles Richtige gesagt worden. Ich habe mir aber überlegt - Der Stockholmer Weltkongreß gegen kommer- deshalb mache ich die Kurzintervention -, was wohl zielle sexuelle Ausbeutung von Kindern hat uns hier jemand, der vor Ort im Strafvollzug tätig ist, zu die- in Deutschland, aber auch die ganze Welt wachge- ser Debatte sagen würde. Er würde sagen: Ihr habt rüttelt. Er hat deutlich gezeigt, wie sehr Kinder durch gut reden. sexuellen Mißbrauch gefährdet sind und welcher körperlichen und seelischen Zerstörung sie ausge- Meine Damen und Herren, die Verhältnisse in un- setzt sind. Die Konferenz hat auch gezeigt, daß wir seren Strafvollzugsanstalten sind zum Teil fürchter- im Bereich der Prävention, im Bereich der Koopera- lich. Unsere Strafvollzugsanstalten sind überbelegt. tion von Polizei und Justiz, in der internationalen Zu- Das Personal steht do rt - aus den verschiedensten sammenarbeit und im Bereich des Opferschutzes Gründen, die ich hier nicht ausführen darf - unter ei- noch Handlungsbedarf haben. nem schrecklichen Streß. Die Therapie, die notwen- dig ist, wird häufig nicht angeboten. Wir rufen nach Für mich bedeutet dies im Bereich der Prävention Experten. Diese Experten sind in zu geringer Zahl in- konkret, daß wir hier in Deutschland mit unseren nerhalb wie außerhalb der Anstalten vorhanden. Aufklärungsbemühungen fortfahren. Prävention be- Hier liegen die entscheidenden Fehlentwicklungen deutet auch, daß verurteilte Sexualstraftäter nach ih- und Versäumnisse. rer Haftentlassung in Kinder- und Jugendeinrichtun- gen nichts zu suchen haben. Bei Personaleinstellun- Es geht nicht in erster Linie um Gesetzesänderun- gen ist deshalb ein Blick in das polizeiliche Füh- gen. Es geht auch nicht um Verschärfungen, obwohl rungszeugnis erforderlich. Jugendamtsmitarbeiter wir die Strafrahmen harmonisieren müssen; das ha- müssen für die Erkennung sexuellen Mißbrauchs ben wir uns ja vorgenommen. Jeder Fachmann sagt sensibilisiert und qualifiziert werden; sie brauchen uns aber, daß es für die Wiederholungsgefahr keinen ein gutes Supervisionskonzept. wesentlichen Unterschied macht, ob ich jemanden Ich werde deshalb diese Themen auf der nächsten vier oder sechs Jahre einsperre. Entscheidend ist die Sitzung der Jugendministerkonferenz diskutieren. Einwirkung auf den einsitzenden Täter in dieser Zeit. Zudem plane ich eine Fachtagung zur Frage der Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Wenn wir aus dieser Debatte vielleicht die Ent- tern der Jugendämter und Erziehungsberatungsstel- schlossenheit mitnehmen, den Ländern - nicht den len. armen Justizministern, die von den Finanzministern und den Kabinetten getrieben werden, sondern den Im rechtlichen Bereich heißt Handlungsbedarf für Landeskabinetten und den Landtagen - zu sagen, mich unter anderem die Schaffung einer zeitgemä- daß sie um der Sicherheit der Bevölkerung willen die ßen Multimedia-Gesetzgebung, die auch den Ju- 11302 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Bundesministerin Claudia Nolte gendschutz -im Bereich des Internet und der sonsti- Sie aber fragen, wie Sie in einem internationalen gen On-line-Dienste sicherstellt; denn jugendgefähr- Computernetz wie dem Internet durch nationale und dende Angebote haben im Inte rnet nichts zu suchen. auch durch inte rnationale Regelungen sicherstellen wollen, daß das, was wir gemeinsam verurteilen, Mein Ministerium wird die Indizierung von soge- nicht erfolgt. nannten FKK-Heften anstreben, damit diese Schund - hefte von den Kiosken verschwinden. Ich möchte Sie auch fragen, ob Sie demnächst be- reit sind, mir Belege über die flächendeckende Ver- Weiter 'ist dringend eine effektivere Strafverfol- seuchung des Internet vorzulegen, die ich von Ihnen geboten. Dazu bedarf gung von Kindersextouristen schriftlich erbeten habe, und ob Sie nicht der Auffas- es einer intensiveren Zusammenarbeit mit den Be- sung sind, daß solche Formulierungen möglicher- hörden in den Zielländern. Ich finde das, was hier an- weise geeignet sind, von anderen Sachverhalten, die gesprochen worden ist, vollkommen richtig. Wir müs- dramatischer sind als diese Form, abzulenken. sen verbindliche Absprachen mit allen in Betracht kommenden Ländern treffen. Auch die Intensivie- Wie wollen Sie dieses im internationalen Bereich rung des Einsatzes von BKA-Verbindungsbeamten in durchsetzen? Denken Sie, daß nationale Gesetze den Zielländern des Kindersextourismus muß erörtert ausreichend sind? werden. Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, ren, Frauen und Jugend: Ich glaube, die Frage erüb- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nie- rigt sich. Es geht mir in der Tat nicht darum, von ir- huis? gend etwas abzulenken. Aber es ist genauso notwen- dig, auf neue Entwicklungen hinzuweisen. Internet Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- ist eine neue Entwicklung. Es wird für jugendgefähr- ren, Frauen und Jugend: Ja, bitte. dende Inhalte genutzt - sowohl im Bereich der Kin- derpornographie, überhaupt der Pornographie, der Gewalt als auch für rechtsextremistisches Gedanken- Dr. Edith Niehuis (SPD): Frau Ministerin, Sie haben gut. Deswegen ist es notwendig, Jugendschutz vor den notwendigen Kinder- und Jugendschutz im In- dem Hintergrund des Internet zu diskutieren. ternet angesprochen. Der Justizminister hat den Rechtsausschuß gelobt, daß dieser am 9. Oktober (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- eine Anhörung zu dem heute behandelten Thema ordneten der F.D.P.) machen will. Deshalb möchte ich Sie fragen: Loben Sie als Ministerin auch den Ausschuß für Fami lie, Se- Ich bin mit nationalen und internationalen gesetzli- nioren, Frauen und Jugend, der am 9. Oktober eine chen Maßnahmen vollkommen d'accord. Ich denke, Anhörung zum Kinder- und Jugendschutz sowie daß wir mit den Gesetzen hinsichtlich der jugendge- Multimedia machen will? fährdenden Schriften einen ersten wichtigen Schritt für die rechtliche Verfolgung in Deutschland ma- chen. Es muß klar sein: Inhalte des Inte rnet fallen un- Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- ter die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende ren, Frauen und Jugend: Ich begrüße das ausdrück- Schriften. Das ist das eine. lich und hoffe, daß es eine sehr fruchtbare Anhörung sein wird. Das zweite ist: Wir müssen durch Diskussionen si- cherstellen, daß Anbieter verstärkt mit in die Verant- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wortung gezogen werden, daß über freiwillige Selbstkontrolle gegangen wird. Für einen besseren Opferschutz brauchen wir eine gesetzliche Neuregelung zum Schutz kindlicher Op- Ein dritter Punkt. Wir sind dabei, sowohl mein Kol- ferzeugen mit dem Ziel, alle Möglichkeiten einer lege Herr Rüttgers als auch ich, mit anderen Ländern zeugenschonenden Sachverhaltsermittlung zum Bei- darüber zu sprechen, wie wir auch international zu spiel durch den Einsatz der Videotechnik - auch das Mindeststandards im Jugendschutz kommen kön- ist angesprochen worden - auszuschöpfen. nen. Ich habe die Stockholmer Konferenz unter ande- Das sind nur einige wenige konkrete Schritte, die rem auch dafür genutzt, zum Beispiel mit amerikani- jetzt mit allen beteiligten Resso rts erörtert und abge- schen Delegationen genau zu diesem Thema Gesprä- stimmt werden. Darüber hinaus werde ich noch in che zu führen. Ich war überrascht, weil ich es so nicht diesem Jahr die Gespräche mit den NGOs fortsetzen, erwartet hatte, daß auch die Regierung in Amerika die wir in Stockholm aufgenommen haben. sehr intensiv daran arbeitet, zu prüfen: Wie kann man solche internationalen Netze vor Mißbrauch, vor Verwendung für Kinderpornographie und andere Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, da Dingen schützen? Das heißt, daß do rt die Bereitschaft ist noch eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss. vorhanden ist, Maßnahmen zu ergreifen. Ich denke, die Anbieter mit in die Selbstverpflich- Claudia Nolte, Bundesministerin für Fami lie, Senio- tung hereinzunehmen, klarzustellen, daß es sich um ren, Frauen und Jugend: Bitte schön. einen Straftatbestand handelt, der auch international geahndet wird, das sind wichtige Beiträge und wich- Jörg Tauss (SPD): Frau Kollegin, wir sind uns in tige Schritte, um auch im Internet einen rechtsfreien der Beurteilung der Situation sicher einig. Ich möchte Raum zu vermeiden. Das muß klargestellt werden. Es Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11303

Bundesministerin Claudia Nolte gilt für diesen Bereich wie für alle Bereiche, daß sie außenpolitischer Erkenntnisse durch Auflö- einen hundertprozentigen Schutz nicht bekommen sung des Bundesnachrichtendienstes werden; das ist klar. Das ist klar. - Drucksache 13/4374 —Überweisungsvorschlag: Zusatzfrage. - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß (SPD): Würden Sie mir zustimmen, daß Rechtsausschuß Jörg Tauss Verteidigungsausschuß es auch im Internet einen rechtsfreien Raum nicht Haushaltsausschuß gibt? Ich möchte Sie weiter fragen: Welche Maßnah- men wurden ergriffen, um beispielsweise den jüngst Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für aufgedeckten Fall von Kinderpornographie in Do rt die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich rver ver--mund, die von einem südamerikanischen Se höre keinen Widerspruch. Wir verfahren so. breitet worden ist, einer Strafverfolgung zuzuführen? Ich eröffne die Aussprache. Als erstes spricht der Denken Sie nicht, daß das die Probleme sind und daß Kollege Manfred Such. wir uns diesen Problemen zuwenden sollten?

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Bundesministerin für Fami Manfred Such Claudia Nolte, lie, Senio- Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte ren, Frauen und Jugend: Ich denke, das habe ich mit zur Korruption, die wir heute morgen geführt haben, beantwortet. Wichtig ist eben, daß man vereinbart, zeichnete sich durch große Sachlichkeit aus. Sie war daß Nutzer des Internets verfolgt werden können, geprägt von weitgehender Übereinstimmung zu vie- daß man auf sie zurückgreifen kann. Ebenfalls wich- len Problemen. Ich denke, daß uns das auch bei die- tig ist - das gilt auch für das Thema Sextourismus -, ser Debatte gelingen sollte. daß durch inte rnationale Zusammenarbeit der Straf- verfolgungsbehörden auch dafür Sorge getragen (Zuruf von der CDU/CSU: Geben Sie sich wird, daß in dem jeweiligen Land eine Verfolgung auch einmal Mühe!) stattfindet. Bündnis 90/Die Grünen haben beantragt, den Bun- (Jörg Tauss [SPD]: Heute schon! Da sind wir desnachrichtendienst schrittweise aufzulösen. Diese uns einig!) Initiative hat sehr viele engagierte Reaktionen ausge- löst. Neben vielen zustimmenden Kommentaren ist Wie auch in der Diskussion eben schon angespro- uns und vor allem auch mir persönlich vielfach vor- chen wurde: Eine hundertprozentige Sicherheit gibt gehalten worden, ein solcher Vorstoß sei realitätsfern es nicht bei den Maßnahmen, die wir treffen, so ha rt und könne nur aus ideologischer Verblendung gebo- das klingen mag. Deshalb bleiben wir selber aufge- ren sein und seine Verwirklichung habe Sicherheits- fordert, daß wir uns mit unserem Handeln schützend risiken zur Folge. vor die Kinder stellen, wir als Politiker genauso wie diejenigen, die mit Kindern zu tun haben, bis hin zu Genau das Gegenteil ist der Fall. Unser Antrag Verwandten, Freunden, Nachbarn. Es ist unsere Auf- zielt gerade darauf, die durch den Bundesnachrich- gabe, Kinder stark zu machen, sie selbstbewußt zu tendienst bewirkten Sicherheitsdefizite und politi- machen. Es muß klargestellt werden: Kinder haben schen Risiken auszuschließen sowie die Gewinnung eigene Rechte, und sie haben einen Anspruch auf und Analyse außenpolitischer Erkenntnisse effekti- Hilfe. Wir sind in der Pflicht, diesen Anspruch einzu- ver und dabei demokratisch transparenter zu gestal- lösen. ten. Auch die Einwände, die besagen, es handle sich um Ideologie, sind unzutreffend. Vielen Dank. Erstens. Weder ich noch meine Fraktionskollegin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. nen und -kollegen gehören zu denjenigen, die den sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Bundesnachrichtendienst oder gar dessen Mitarbei- 90/DIE GRÜNEN) ter von vornherein für reines Teufelszeug halten. Um das hier einmal ganz deutlich zu sagen: Ich empfinde Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die im Gegenteil große Hochachtung und Sympathie für Aussprache. den Mann an der Spitze dieses Dienstes, den neuen Präsidenten, Herrn Dr. Geiger. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5139 an die in der Tagesordnung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfah- ren wir so. Ich muß in diesem Zusammenhang auch den ehema- ligen Präsidenten, Herrn Porzner, nennen, den ich in Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: der kurzen Zeit, in der ich ihn noch erleben konnte, schätzen gelernt habe. Ich weiß auch um die Pro- Beratung des Antrags des Abgeordneten Man- bleme, die Herr Porzner hatte. Ich habe ihn oft an fred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE diesem Dienst leiden sehen. GRÜNEN Zurück zu Herrn Geiger. Ich möchte gerade Herrn Mehr Effektivität und demokratische Trans Geiger wünschen, daß er nicht länger ein „Himmel- parenz bei der Gewinnung und Analyse fahrtskommando" weiterführen muß, wie die „FAZ" 11304 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Manfred Such berichtetsche hat.Auslandsaufklärung Ich kann mir gut vorstellen, daß er an das Auswärtige Amt auch andere Positionen hervorragend ausfüllen bzw. das Verteidigungsministerium - und die Strafta- könnte, wie er das mit seiner Arbeit in der sogenann- tenermittlung bei der Polizei zu konzentrieren. Das ten Gauck-Behörde und in seiner kurzen Zeit als Prä- wäre eine echte Trennung zwischen Polizei und Ge- sident des Bundesamtes für Verfassungsschutz be- heimdiensten, Kollege Hirsch, wie Sie sie immer for-- wiesen hat. Dies gilt nicht nur für Herrn Geiger, das dern. gilt auch für eine große Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim Bundesnachrichtendienst, de- Wirklichkeitsnahe Vorschläge, die wir in unserem ren Umsetzung in eine andere Funktion wir vorschla- Antrag weiter spezifiziert haben, sind kein Ausdruck von Ideologie, sondern von politischer und ökonomi- gen. scher Vernunft. Bündnis 90/Die Grünen werben da- Zweitens ist unser Antrag auch - manche sagen so- für, auf dieser Grundlage gemeinsam und vorurteils- gar, als einzige Position unter den hiesigen Fraktio- frei über eine fällige Modernisierung unserer Au nen - realitätstüchtig. Er zieht aus den real bestehen- en- und Sicherheitspolitik zu beraten. -ß den Mängeln bei der Nachrichtengewinnung sowie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- aus den strukturellen Problemen beim BND Konse- SES 90/DIE GRÜNEN) quenzen, statt bei der verbreiteten Haltung nach al- ten Verwaltungsregeln zu verharren: Haben wir im- Zu den Beratungen in den Ausschüssen lade ich mer so gemacht, machen wir weiter so, machen alle Sie recht herzlich ein und danke für Ihre Aufmerk- anderen auch. samkeit. (Beifall der Abg. Simone Probst [BÜND (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) -NIS 90/DIE GRÜNEN]) Abgesehen davon, daß das nicht stimmt und man- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt che Staaten durchaus ohne Auslandsdienst auskom- der Kollege Dr. Rolf Olderog. men: Eine solche passive oder gar resignative, rück- wärtsgerichtete Haltung widerspräche grundsätzlich Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Frau Präsidentin! dem Politikverständnis von Bündnis 90/Die Grünen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- Als erste Fraktion in diesem Hause haben wir kon- lege Such, Sie sind seit anderthalb Jahren Mitglied krete Alternativen zur Institution Bundesnachrich- der PKK. Sie konnten do rt die Arbeit der Nachrich- tendienst präsentiert und praktische Reformschritte tendienste im einzelnen kennenle rnen, konnten jede vorgeschlagen. gewünschte Information erhalten, ja sogar, wenn ge- wünscht, geheime Akten einsehen und BND-Mitar- Das ist zugleich eine Vorarbeit für den ersten beiter als Zeugen befragen. 1. Untersuchungsausschuß, den sogenannten Pluto- nium-Untersuchungsausschuß, den dieses Haus be- Daß ausgerechnet Sie im Namen Ihrer Fraktion ein kanntlich nicht nur mit der Klärung der Plutoniumaf- solches Elaborat unterzeichnen und der Öffentlich- färe beauftragt hat, sondern auch damit, Vorschläge keit präsentieren, hat mich persönlich - ich sage das für die Konsequenzen beim Bundesnachrichten- offen - bitter enttäuscht. Es hat mich empört. Dieser dienst zu machen. Diese liegen hiermit schon auf Antrag und seine Begründung strotzen von Unwahr- dem Tisch. heiten, groben Verzerrungen und maßlosen Übertrei- bungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Solche Konsequenzen auch grundsätzlicher A rt er- scheinen uns heute erforderlich, statt in unange- Da nutzen die sanften Töne, die Sie heute angeschla- brachter Nibelungentreue sowie ideologisch moti- gen haben, überhaupt nichts. vierter Zögerlichkeit an der überkommenen Pulla Aber der Gipfel ist, daß Sie als Mitglied der PKK cher Institution festzuhalten. Gründe für tiefgrei- mit Ihrem Antrag bezüglich der Auflösung des BND fende Veränderungen hat der Dienst in der Vergan- eine moralische Gleichsetzung mit dem verbrecheri- genheit und auch aktuell genug geliefert: eine lange schen und menschenverachtenden System der DDR- Reihe von Pleiten, Pech und Pannen. Staatssicherheit vorgenommen haben. Ich empfinde In unserem Antrag haben wir viele Beispiele dafür es als geradezu ungeheuerlich, genannt: mangelnde außenpolitisiche Erkenntnis- (Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämt!) und Analysefähigkeit, eigene Durchsetzung durch gegnerische Dienste, Verwicklung in fragwürdige daß Sie dort ganz deutlich diese Parallele gezogen Waffengeschäfte, verbotene Inlandsoperationen usw. haben. und nicht zuletzt viel bürokratischer Leerlauf bei ho- (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hen jährlichen Kosten. Die „FAZ" bezifferte diesen NEN]: Das müssen Sie einmal benennen!) letzten Monat auf über 700 Mil lionen DM bei knapp 6 200 Personalstellen. - Lesen Sie Seite 3, Ziffer IV Ihres Antrages. Do rt ist das nachzulesen. Sie haben do rt ausdrücklich als Aus all diesen Gründen plädieren wir dafür, mit Modell die Auflösung des MfS genannt. der Auflösung des Bundesnachrichtendienstes die von ihm wahrgenommenen Aufgaben, soweit sie Zum BND verweise ich ausdrücklich auf die Be- weiterhin erforderlich erscheinen, den direkten Be- richte der Parlamentarischen Kontrollkommission darfsträgern zu übertragen - politische und militäri- für die geheimen Nachrichtendienste, in denen die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11305

Dr. Rolf Olderog PKK über ihre Arbeit von 1990 bis 1996 berichtet hat. Wie verzerrend, halbwahr und wie unwahr die als In all diesen Berichten wird den Nachrichtendiensten Tatsachen präsentierten Vorwürfe gegen den BND bestätigt, daß sie sich an Recht und Gesetz orientie- und die Dienste sind, zeigt beispielhaft die Landma- ren, daß die Nachrichtendienste „ihrem gesetzlichen schinen-Affäre. Das ist die „große Affäre", die Auftrag entsprechend" ihre verantwortungsvolle „Mutter der nachrichtendienstlichen Affären" gewe- - Aufgabe erledigt haben. sen. Ungeheuerliches sollte in Deutschland gesche- hen sein. Es brodelte im Medienwald. Wildgewor- Wie verbohrt, Herr Such, müssen Sie sein, daß al- dene BND-Leute sollten sozusagen auf eigene Faust lein Sie zu einem genau gegenteiligen Eindruck und Waffen und Panzer verschoben haben und dabei er- Votum kommen? Das ist offensichtlich Ihr Vorurteil, wischt worden sein. Viele Tage lang war die Presse das wie Beton ist. Da kann man offensichtlich nichts voll von abenteuerlichen Behauptungen und Rück- machen. trittsforderungen an führende Politiker. Der redliche Wir haben zu Beginn der Legislaturperiode ge- Stavenhagen ist tot; er ist damals daran kaputtgegan- hofft, daß wir mit der Wahl eines Grünen in die PKK gen. zu mehr Sachlichkeit und mehr Fairneß gegenüber den Nachrichtendiensten kommen würden. Es ist Gott sei Dank hat ein unabhängiges Gericht, das nichts geschehen. Ihr Kollege Rezzo Schlauch arbei- Landgericht in Hamburg, die Sache überprüft. Das tet in der G-10-Kommission sehr vernünftig und Ergebnis: Beide BND-Angeklagten wurden ohne sachbezogen mit. Aber Sie haben unsere Erwartun- Einschränkung freigesprochen. Der BND hatte einen gen enttäuscht. Ich verzichte heute darauf, was ei- ordnungsgemäßen Auftrag des Bundesverteidi- gentlich angesprochen werden müßte, auch über be- gungsministeriums durchgeführt. Irrtümlich nahmen stimmte Indiskretionen, über die wir leider klagen alle Beteiligten an, daß eine besondere Transportge- müssen und mit denen Sie zu tun haben könnten, zu nehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz reden. nicht erforderlich sei. Das war der Irrtum, das war der einzige Fehler. (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Das ist eine ungeheure Anschuldi Die Medien haben leider über diesen gerichtlichen gung, die Sie vortragen!) Freispruch nur knapp berichtet. Er schien ihnen nicht sonderlich wichtig zu sein. Sie, sehr geehrter Ich fordere Sie auf, Herr Such: Prüfen Sie ernsthaft, Herr Such, haben natürlich diese „Affäre" als eine ob Sie dem Konflikt gewachsen sind, einerseits mit schlimme Geschichte des BND in Ihrem Antrag noch einem, wie ich empfinde, brennenden Fanatismus einmal aufgeführt. draußen und im Bundestag für die Abschaffung, die Auflösung des BND zu kämpfen und zugleich als Mitglied der PKK der Verpflichtung zu entsprechen, Meine Damen und Herren, der BND-Präsident ein fairer, redlicher und unvoreingenommener Kon- Geiger hat kürzlich für mehr Kreativität, Flexibilität trolleur der Dienste zu sein. Das hülfe nicht nur uns und weniger Bürokratie im BND plädiert. Ich kann bei der Arbeit in der PKK, sondern es würde auch das nur nachdrücklich unterstreichen. Aber warum Ihre persönliche Glaubwürdigkeit erhöhen. fehlt es daran? Die entscheidende Ursache für die Demotivation der nachrichtendienstlichen Mitarbei- (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ter liegt in dem massiven einseitig negativen Vorur- NEN]: Geht es um den BND oder um die teil, liegt darin, daß sich weite Teile der deutschen PKK?) Presse und der Öffentlichkeit so gegen den BND und die anderen Dienste richten. - Es geht auch um den, der den Antrag gestellt hat, verehrter Kollege. Diese permanente Kritik, diese laufenden massi- Ich bin seit etwa zehn Jahren Mitglied der Parla- ven ungerechten Vorwürfe, Vorverurteilungen und mentarischen Kontrollkommission. Natürlich hat es Diffamierungen müssen unvermeidbar zu einer be- bei den Diensten Pannen, Fehler und menschliche denklichen Zurückhaltung und zu einem Hand- Schwächen gegeben. Das ist völlig klar. Aber ich lungsverzicht der Dienste auch do rt führen, wo Recht sage aus Überzeugung: Das bei der Presse und in und Gesetz einwandfrei eine Handlungsermächti- Teilen der Öffentlichkeit vorhandene maßlos nega- gung bieten und die Sachlage eigentlich Initiativen tive und kritisch überzeichnete Bild von den Dien- fordert . sten ist absolut ungerechtfertigt. Das Zerrbild, das manche bewußt von den Diensten vermitteln wollen, Meine Damen und Herren, die Geheimdienstaffä- hat mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun. ren in allen Variationen sind offensichtlich eine loh- nende Thematik für die Medien und steigern wohl Ich habe in der PKK feststellen können, daß unsere auch die Auflage. Minimalwissen über irgendeine Dienste insgesamt strikt bemüht sind, sich an Recht Geheimdienstaktivität beflügelt offensichtlich in ei- und Gesetz und an ihren Auftrag zu halten. nem ungeahnten Maße die Phantasie bestimmter Journalisten. In maßloser Übertreibung und mit ei- (Amke Dietert-Scheuer [BÜNDNIS 90/DIE nem Maximum an Phantasie entsteht praktisch aus GRÜNEN]: Bemühung reicht nicht!) dem Nichts ein vermeintlicher Skandal. Ich kann mich nicht erinnern, daß BND, BfV und MAD auch nur in einem einzigen Fall das Recht ge- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: brochen, also bewußt ein Gesetz verletzt hätten. Wie der Plutoniumskandal!) 11306 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Dr. Rolf Olderog Dicke Schlagzeilen verkünden der deutschen Öf- heit in diesem Hause nicht die Absicht, den BND ab- fentlichkeit wieder einmal das Empörende, das schon zuschaffen. wieder bei den Geheimdiensten geschehen sei. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Allerdings sind auch Ergebenheitsadressen, wie- manchmal muß man auch Untersuchungs Herr Olderog sie gerade formuliert hat, nicht unsere ausschüsse einsetzen!) Sache. Das muß ich ganz deutlich sagen. Das läuft dann mit großem Getöse durch die Repu- (Beifall bei der SPD) blik, bis sich nach einiger Zeit herausstellt, meist nach Sitzungen der PKK, daß alles nur ein Medien- Der BND in seinem jetzigen Zuschnitt kann nach flop gewesen ist. unserem Dafürhalten seinen Aufgaben, nämlich Ge- fahren abzuwehren, die uns aus dem Ausland dro- Es gibt sicherlich auch Punkte, über die man reden hen, nicht gerecht werden. muß. Das tun wir dann ja auch. Aber wieviele Flops gibt es, mit denen die Öffentlichkeit aufgeregt wird? Die Pullacher Behörde hat sich im Laufe der Jahre Anschließend können Sie über die Wahrheit und verselbständigt und ist zu einem aufgeblähten, un- eine Korrektur nur wenig lesen. Jedoch: Schon kurze übersichtlichen und unkontrollierbaren Apparat ge- Zeit später wird die nächste Sau mit gleichem Me- worden. Erschwerend kommt hinzu, daß er seit den dienaufwand durch die Republik getrieben, Ausgang dramatischen Veränderungen in Osteuropa auf der wie gehabt. Suche nach neuen Aufgaben ist. Das erschwert na- türlich die Situation ganz erheblich. Ich bitte die Presse eindringlich um mehr Fairness und Redlichkeit gegenüber den Nachrichtendien- Wie anders ist es zu erklären, daß kaum ein BND- sten. Präsident sich am Ende seiner regulären Amtszeit in den Ruhestand verabschieden konnte? Wir wün- Meine Damen und Herren, die CDU/CSU bekennt schen dem neuen BND-Präsidenten, Herrn Geiger, sich zu den deutschen Nachrichtendiensten. Wer viel Glück. Ich denke, er hat eine reelle Chance, sei- glaubt, heute auf diese Dienste verzichten zu kön- nen regulären Ruhestand zu erreichen, wenn die nen, täuscht sich. Die heutige Lage der Welt gibt kei- Bundesregierung unseren Forderungen nach einer nen Anlaß, gegenüber offensichtlichen Gefahren schonungslosen Analyse und den sich daraus erge- sorglos und nachlässig zu sein. Wichtige Informatio- benen Konsequenzen zur Straffung und zur Effizi- nen können wir nicht nur aus offenen Quellen ge- enzsteigerung des BND nachkommt. winnen, nachrichtendienstliche Mittel bleiben unver- Die Pannen und Skandale, Herr Olderog, in die der zichtbar. BND mehr oder weniger nahe verwickelt war, will Weder die USA, Rußland, England, Frankreich ich nur in einigen Punkten stichwortartig auflisten: noch andere mit Deutschland vergleichbare Staaten Verwicklung in den Technologietransfer an die Gift- sind bereit, auf ihre Auslandsdienste zu verzichten. gasfabrik in Rabta, Plutoniumschmuggel von Mos- Wir wollen den BND noch besser machen, auf ihn zu kau nach München, erst kürzlich erneute Lieferung verzichten wäre unverantwo rtlich. von Schlüsseltechnologien für Gaddafis Chemiewaf- fenprogramm, Ich möchte mich zum Schluß an die Mitarbeiterin- nen und Mitarbeiter des BND, des Bundesamtes für (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das ist Verfassungsschutz und des MAD wenden. Ihre Ar- unglaublich, was Sie hier behaupten, ein beit ist, insbesondere beim BND, mit ungewöhnlich Skandal!) großen persönlichen Belastungen verbunden. Sie Teilnahme eines BND-Mitarbeiters in den Reihen des müssen zum Teil obendrein mit öffentlichen Ver- EU-Beobachters in Bosnien sowie die Teilnahme ei- dächtigungen leben, die mich als Mitglied der PKK nes als Kanzleramtsmitarbeiter getarnten BND-Man- immer wieder empören. nes auch an den nichtöffentlichen Sitzungen des Plu- toniumausschusses. Überall haben sie mitgemischt, Ich möchte diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- in vielen Fällen sind sie aufgefallen. tern sagen, daß sie für unseren demokratischen Staat und für unsere Bürger einen wichtigen, ja einen un- Bei all diesen Aktivitäten gehen die Agenten zu- verzichtbaren Dienst ausüben. Die CDU/CSU-Frak- weilen höchst dilettantisch vor; das muß ich einfach tion dankt Ihnen ausdrücklich für die Erfüllung die- einmal sagen. Geheimnistuerei mit albernen Tarnna- ser Pflichten. men, mit denen sich selbst alte BNDler untereinan- der ansprechen, Trenchcoat mit hochgeschlagenem Vielen Dank. Kragen, mit rotem Schal garniert, konspirativ die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) „Wirtschaftswoche" in der Hand - wie beim Besuch des Plutoniumausschusses in Pullach -, halten das Agentenbild à la Humphrey Boga rt hoch. Präsident Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Peter Kemper. Und wofür dieses ganze Getue? 80 Prozent der Kenntnisgewinnung bestehen nach Aussagen von BND-Mitarbeitern in der Auswertung dessen, was in Hans-Peter Kemper (SPD): Frau Präsidentin! Rundfunk, Fernsehen und Presse ohnehin öffentlich Meine Damen und Herren! Um es gleich vorwegzu- dargetan wird. Diese Informationen werden dann zu nehmen: Meine Fraktion hat ebenso wie die Mehr- einem Paket verarbeitet und als geheimes Dossier Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11307

Hans-Peter Kemper dem jeweiligen Regierungschef angeboten. Da mag die auch bereit und in der Lage sind, sich entspre- es niemanden verwundern, daß unabhängig von der chend zu engagieren. Parteizugehörigkeit sowohl Altbundeskanzler Hel- mut Schmidt als auch sein Nachfolger So ist es auch nicht verwunderlich, daß viele dieser nur ein sehr begrenztes Vertrauen in die Fähigkeiten tatsächlichen oder vermeintlichen Skandale nicht- des BND hatten und immer noch haben. durch die PKK, sondern durch die Medien aufge- deckt wurden. (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Seine Lei stungen zu steigern, damit sind wir einver Ähnliches gilt für die Arbeit im 1. Untersu- standen!) chungsausschuß, dem ich angehöre. Wir versuchen dort seit einiger Zeit, den Transfer von Plutonium von Was die Aufklärungsarbeit des BND in der Ver- Moskau nach München aufzuklären. Ich ärgere mich gangenheit angeht, so will ich nur einige Beispiele als Mitglied dieses Ausschusses immer wieder über nennen, mit denen ich selbst etwas zu tun hatte. Als die Behinderung von Amts wegen, mit der der BND in den 70er Jahren die RAF-Terroristen ihre größten und gelegentlich auch unser Geheimdienstkoordina- Aktivitäten entfalteten, hatte ich eine leitende Funk- tor versuchen, die Sache bis zum Sankt-Nimmer- tion bei der Polizei. Dank der „hervorragenden" Auf- leins-Tag zu verschleppen. Besonders ärgerlich ist klärungs- und Ermittlungsarbeit nicht zuletzt des dabei, daß das zu funktionieren scheint. Das Erinne- BND habe ich zu einer Zeit mit meinen Leuten an rungsvermögen läßt nach, und mich ärgert, daß das Straßenkreuzungen gestanden und brave Bürger an- Erinnerungsvermögen und die Verantwortungsbe- gehalten und daraufhin kontrolliert, ob sie denn wohl reitschaft mit zunehmendem Dienstgrad erschrek- Terroristen seien, als die wahren RAF-Terroristen kend abnehmen. Gering besoldete BND-Mitarbeiter längst in ihren Ruheräumen in der damaligen DDR mit niedrigem Dienstgrad konnten sich sehr genau waren und dort unerkannt ein bürgerliches Leben erinnern, und je weiter es nach oben geht, desto führten. schlechter wurde es. Das ging sogar bis dahin, daß (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Warum ist ein Mitarbeiter in der Besoldungsgruppe A 11 die das so?) Verantwortung und der Mitarbeiter in A 13 die Bröt- chen trug. Im Zusammenhang mit der Truppenstärke und der Ausrüstung der ehemaligen DDR-Streitkräfte haben Und dann dieses völlig überzogene Fotografierver- wir erst nach der Wiedervereinigung erfahren, daß bot auf den Fluren! Das untergräbt doch die Glaub- der BND diese Dinge total überhöht hatte. würdigkeit des BND. Da wird alles mögliche geheim- gehalten, und die Rafas und Robertos konnten wir Erst in der letzten Zeit wurden wieder Verwicklun- doch längst mit Konterfei und Klarnamen in den Me- gen des BND bei der Lieferung von Giftgastechni- dien bewundern. ken nach Libyen bekannt. Hier hatte der BND über lange Jahre enge Kontakte zu einem Mittäter, zu Welche Schlußfolgerungen sollten wir aus alledem dem Libanesen Balanian. Man hielt ihn für einen V- ziehen? - Die Sachverständigenanhörung auf Initia- Mann, und man hielt ihn sich als V-Mann. tive der SPD-Fraktion hat bestätigt: Einen BND mit klar umrissenen Aufgaben soll es auch künftig ge- (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das stimmt ben. Seine Kontrolle muß allerdings deutlich und doch nicht! Der ist abgeschöpft worden!) zweifelsfrei verbessert werden, auch wenn ein Mit- Mir kommen im nachhinein allerdings Zweifel, wer glied der CSU-Landesgruppe sagte - ich zitiere -: nun wessen V-Mann war: Balanian der V-Mann des Die Nachrichtendienste verdienen bei der Er- BND oder der BND V-Mann des Balanian. füllung ihrer vielfältigen Aufgaben volles Ver- (Beifall bei der SPD) trauen. Spätestens hier stellt sich die Frage nach der Kon- Dieses Vertrauen hat ja nicht einmal der Bundes- trolle der geheimdienstlichen Ermittlungstätigkeit. kanzler, und die Redensart „Vertrauen ist gut, Kon- Das bisher einzige Gremium, die PKK, hat völlig un- trolle ist besser" trifft hier in besonderem Maße zu. zureichende Befugnisse. Die neun Parlamentarier - fünf von der Regierungskoalition, vier von der Oppo- In einem Punkt sind sich die Experten einig: Nur sition - tagen geheim, dürfen über das Gehörte eine effektive Kontrolle bietet die Chance für einen nichts sagen und sind - das führt ihre Arbeit nahezu Neuanfang. Der PKK müßte ein unabhängiger, nicht ad absurdum - auf die Informationen dessen ange- auf Parteienproporz ausgerichteter Mitarbeiterstab wiesen, den sie da kontrollieren sollen. Das heißt, die an die Seite gestellt werden, der zwar strengen Ge- PKK erfährt nur das, was der BND will. heimhaltungspflichten unterliegt, der aber gleichzei- tig ungehinderten Zugang zu den BND-Akten und Hinzu kommt, daß dem „Kapuzenausschuß" we- das Recht auf unmittelbare Befragung erhält; denn gen seiner Bedeutung keine parlamentarischen No- die bisherigen Gepflogenheiten haben gezeigt, daß names angehören. Alle PKK-Mitglieder haben in ih- der Dienst und auch sein jeweiliger Geheimdienst- ren Fraktionen wichtige Funktionen und können we- chef eher bemüht sind, unrühmliche Dinge zu vertu- gen zeitlicher Überbelastung ihre Kontrollaufgaben schen und herunterzuspielen, was auch ganz gar nicht optimal wahrnehmen. Ich will das gleich menschlich ist. Da hat sich im übrigen unser Geheim- mit einem Appell verbinden: Es sollten nur diejeni- dienstkoordinator Schmidbauer als Meister seines gen Kollegen die PKK-Mitgliedschaft wahrnehmen, Fachs erwiesen. 11308 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Hans-Peter Kemper Andererseits müßten die BND-Mitarbeiter die Tasten mag und pflegt, kann alle Möglichkeiten Möglichkeit haben, einzelne PKK-Mitglieder anzu- des Spiels üben, Mißgriffe und Fehler immer ein- sprechen und auch vertrauliche Gespräche mit ih- begriffen. nen zu führen. (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eine erste vertrauensbildende Maßnahme könnte NEN]: Aber im Konzertsaal und nicht im - die Offenlegung des tatsächlichen Etats und die Fest- stillen Kämmerlein!) stellung des tatsächlichen Personalumfangs sein. Wir beraten hier einen Antrag, Herr Kollege Such, Ziel muß es sein, einen Dienst zu schaffen, der der entweder töricht und weltfremd ist oder in der Er- straff organisiert ist, mit klaren Weisungs- und Infor- wartung gestellt wird, daß sein Mangel an Ernsthaf- mationssträngen. Das wird unweigerlich mit einer tigkeit und Erfolgsaussichten nicht verkannt wird. Es starken Reduzierung des Personalbestandes einher- wird in geradezu liebevoller Kleinarbeit über die wei- gehen müssen. Ziel muß es weiter sein, einen trans- tere Verwendung von Mitarbeitern, den Verbleib parenten Dienst zu schaffen, der effektiv arbeitet und und die weitere Nutzung der Akten des BND und sich auf die Aufklärung von Mißständen und Gefah- darüber nachgedacht, wer seine offenbar noch wei- ren beschränkt, die von außen auf uns zukommen, ter bestehenden Aufgaben in Zukunft wahrnehmen und der sich klar an das Trennungsgebot hält, der soll. Es fällt kein Wort zu der Frage, warum er denn sich deutlich von der Polizei unterscheidet, der keine aufgelöst werden soll, wenn seine eigenen Aufgaben polizeilichen Ermittlungsaufgaben, keine Kriminali- gemäß dem Antrag doch offenbar fortbestehen. tätsbekämpfung im Inland wahrnimmt. Dafür ist er fachlich nicht qualifiziert, und diese Betätigung ist (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rechtlich nicht zulässig. Zur Begründung werden alle jemals dargestellten Zur Umsetzung unserer Zielvorstellungen wäre oder behaupteten tatsächlichen oder angeblichen durchaus auch die Schaffung eines Geheimdienst- Pannen des Nachrichtendienstes aufgeführt. beauftragten denkbar, der in enger Zusammenarbeit Sie sind selbst Mitglied der Parlamentarischen mit dem Datenschutzbeauftragten und den Kontroll- Kontrollkommission. Sie scheuen sich aber nicht, da- gremien der Länder tätig werden könnte. bei auch solche Verdächtigungen zu wiederholen, Eines ist sicher: Der BND muß endlich aus den die durch eine offizielle Erklärung der Parlamentari- Schlagzeilen verschwinden. Er muß endlich das Waf- schen Kontrollkommission als haltlos und völlig un- fenschieberimage loswerden. Nur dann wird es dem begründet gekennzeichnet worden sind. Natürlich BND gelingen, in der Bevölkerung, aber auch in der sind beim Bundesnachrichtendienst auch Fehler ge- Politik das nötige Vertrauen zu gewinnen, das er für macht worden. Es kann ja gar nicht anders sein. Na- seine Arbeit braucht. türlich hat er nicht nur Erfolge gehabt. Aber es muß aufhören, daß wir hier aus offenkundig parteipoliti- Vielen Dank. schen Gründen immer wieder dieselben Lügenge- schichten aufgetischt bekommen. Ich beziehe mich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dabei insbesondere auch auf Passagen zur Firma Telemit.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kollege Dr. Burkhard Hirsch. Es ist unerhört und ich lasse mir das nicht mehr lange gefallen - das muß ich Ihnen sagen. (F.D.P.): Frau Präsidentin! Dr. Burkhard Hirsch (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kol- lege Kemper, um das gleich vorwegzunehmen - viel- Geradezu erstaunlich ist der Vorschlag, daß Teile leicht habe ich Sie falsch verstanden -, die Parlamen- der Aufgaben des BND von der Bundeswehr oder tarische Kontrollkommission hat das Recht und die vom Auswärtigen Dienst übernommen werden sol- Möglichkeit der Akteneinsicht, der Befragung der len. Wir erleben doch gerade in diesen Tagen Diskus- Mitarbeiter des BND und des direkten Kontaktes mit sionen darüber, daß ein Mitarbeiter des BND zum ihnen. Auswärtigen Amt abgeordnet wurde und Aufgaben im Rahmen einer Beobachtergruppe in Bosnien (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das weiß er wahrgenommen hat. Man kann doch nicht einen sol- noch nicht einmal! Keine Ahnung!) chen Vorgang kritisieren und im gleichen Atemzug Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, aus vorschlagen, daß das der künftige Regelfall werden einem Buch zu zitieren, das die verehrte Kollegin soll. Vollmer gerade lobend eingeführt hat. Es stammt von Auch nach dem Ende des Kalten Krieges leben wir Egon Bahr, der zu unserem Thema schreibt: nicht in einer gefahrlosen und spannungsfreien Welt. Das verborgene Netz von internationalen Verbin- Es gehört zur äußeren Sicherheit unseres Landes, dungen nicht zu nutzen wäre dumm und nicht zu daß alle dafür erforderlichen Informationen gesam- verantworten. Es wird ja auch, außer von einigen melt und sorgfältig ausgewertet werden. Das kann Wenigen in Deutschland, nicht verlangt. Denn weder nebenbei geschehen noch dadurch - wie oft das wäre genauso, als wenn ein Pianist nur die vorgeschlagen wird -, daß wir uns Informationen von weißen Tasten benutzen soll. Das reicht für den Diensten anderer Staaten kaufen und uns damit „Hänschen klein". Nur wer auch die schwarzen von ihnen abhängig machen. Darum brauchen wir Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11309

Dr. Burkhard Hirsch einen eigenen, effektiven und möglichst guten Nach- hen. Ich wehre mich auch dagegen, daß immer so ge- richtendienst. Er muß der veränderten politischen tan wird - damit meine ich auch den Kollegen Lage angepaßt und technisch und personell überzeu- Hirsch -, als handele es sich hier um einzelne Be- gend ausgestattet sein. Während unserer Arbeit ha- triebsunfälle. ben wir Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes - kennengelernt, vor denen ich alle Achtung habe, auf Ich glaube schon, daß die Geheimdienste in die- Grund ihrer Sachkenntnis und ihrer sachlichen Aus- sem Land abgeschafft werden müssen. Da kritisiere sagen. ich auch meinen Kollegen Such von links. Im übrigen wundere ich mich sehr über die Kollegen Olderog (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Sehr gut!) und Hirsch; denn in der letzten Legislaturperiode ha- ben die Grünen tatsächlich einen viel weitergehen- Der neue BND-Präsident Geiger hat Überlegungen den Antrag eingebracht. angestellt, die wir für gut und eindrucksvoll halten. Wir werden ihn nach Kräften unterstützen. Auch die (Jörg van Essen [F.D.P.]: Der war auch nicht parlamentarische Kontrolle des Dienstes ist verbes- besser!) serungsfähig. Der Dienst muß wissen, daß diese Kon- trolle in einer Demokratie notwendig ist und zu den Sie haben die Abschaffung des Bundesamtes für Ver- Existenzbedingungen dieses Dienstes gehört. Wir ar- fassungsschutz, des BND und des MAD gefordert. beiten dazu an Vorschlägen, die wir in Kürze in die- Ich stimme voll mit Herrn Hirsch überein, daß der sem Haus erörtern wollen. Sie sind in weiten Teilen Antrag zwar „Auflösung des BND " heißt, daß es sich nahezu deckungsgleich mit dem, was Sie hier vorge- aber faktisch um eine Aufteilung verschiedener Ab- schlagen haben, Herr Kollege Kemper, und zu einem teilungen auf andere Geheimdienste handelt. Teil auch schon erfüllt - das muß man hinzufügen. Eine Auflösung des Bundesnachrichtendienstes Heute klagen die Grünen Reformen beim MAD kommt für uns nicht in Betracht. und beim Bundesamt für Verfassungsschutz ein. Die militärische Aufklärung wollen sie an das Amt für (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Nachrichtenwesen der Bundeswehr übertragen. Im- Ich muß sagen, ich wundere mich eigentlich, daß merhin ist das ein Punkt, den wir in der vergangenen unsere Geschäftsführer vorschlagen, diesen Antrag Legislaturperiode noch gemeinsam gefordert haben: einem Ausschuß zu überweisen. Ich weiß nicht, was daß eine solche Abteilung aufgelöst gehört. man damit machen soll. Wir wären bereit, ihn hier Mit privaten Sicherheitsdiensten haben die Grü- und jetzt abzulehnen. Aber wenn Sie auf Überwei- nen inzwischen ebenfalls keine Probleme mehr. sung bestehen, können wir das natürlich auch ma- Auch das ist neu. Die Bespitzelung von Arbeit- chen. nehmerinnen und Arbeitnehmern wird jetzt in dem Vielen Dank. Antrag der Grünen ganz verschämt als Personalbe- treuung bezeichnet. Dies sollen zukünftig ein Ge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) heimdienstableger des Bundesamtes für Informa- tionstechnik sowie private Sicherheits- und Unter- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt nehmensberater übernehmen. die Kollegin Ulla Jelpke. Die von den Grünen hier empfohlene Geheim dienstkontrolle nach dem sogenannten Berliner Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Modell - das sagt selbst ihre Kollegin Renate Kynast und Herren! Herr Olderog, man kann sehr viel ver- in Berlin - ist gescheitert. harmlosen. Sie haben hier einen Appell an die Presse gerichtet, fairer über Geheimdienste zu berichten. Ich habe dem eigentlich nicht viel hinzuzufügen. Vielleicht noch die Bemerkung, daß es ein Gutachten Ich müßte eigentlich an Sie als PKK-Mitglied - für der Grünen von 1990 gibt, nach dem die Grünen aus alle unsere Gäste do rt oben: als Mitglied der Parla- unserer Sicht richtige Wege beschreiten wollten, und mentarischen Kontrollkommission, damit sie das zwar nach einem einheitlichen Konzept für die Auflö- nicht mit der kurdischen PKK verwechseln - die sung aller Geheimdienste. Ich sage nichts Neues, Frage richten, die auch der Kollege Hirsch inzwi- wenn ich mitteile, daß dies auch die Position der PDS schen angesprochen hat: Wo findet hier eigentlich ist, auch aus Aufarbeitungserfahrungen, die wir mit wirklich eine parlamentarische Kontrolle statt? der DDR gemacht haben. Wir sind beispielsweise in dieser Kommission nicht Es ist in diesem Gutachten auch einmal gesagt drin. Ich kann eine wirkliche Aufklärung seitens die- worden: Geheimdienste machen keine Fehler, sie ser Kommission nicht nachvollziehen; Sie dürfen ja sind der Fehler. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. auch nicht über das sprechen, was Sie do rt erfahren. Es lohnt auch kein ernsthafter Versuch über den In- (Beifall bei der PDS) nenausschuß, den Rechtsausschuß oder welchen auch immer. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in dieser Nach allem, was über Skandale bekannt gewor- Aussprache hat der Staatsminister Bernd Schmid- bauer das Wort. den ist - es gibt den Plutonium-Untersuchungsaus- schuß -, ist der BND massiv in diese Dinge verwik- kelt, andere Sicherheitsorgane auch. Ich habe leider Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- nicht die Zeit, hier auf einzelne Beispiele einzuge- kanzler: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kol- 11310 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Staatsminister Bernd Schmidbauer leginnen und Kollegen! Ich will zuerst etwas zum kussion einzutreten. Sie haben recht: Der Nachrich- Kollegen Such und zum Antrag der Fraktion Bünd- tendienst muß für die Aufgaben im Jahr 2000 schlan- nis 90/Die Grünen sagen. Es ist - dafür bin ich sehr ker und effizienter werden und ein neues Profil be- dankbar - bei den Ausführungen von Herrn Kemper kommen. Diese Arbeit ist aber bereits seit vielen Jah- deutlich geworden, daß jeder, der sich intensiv mit ren in vollem Gange. Sie wissen, wie man mit einer Nachrichtendiensten beschäftigt und Erfahrungen in großen Behörde umgehen kann - auch im Hinblick diesem Bereich hat, diesen Antrag völlig unverständ- auf Abbausituationen, auch im Hinblick auf Umset- lich findet. zen und die Notwendigkeit, einen evolutionären Pro- zeß einzuleiten und parlamentarisch zu begleiten. Am Anfang haben Sie hier die sanfte Tour gefah- Ich bin sehr dafür. ren. Herr Such, Sie müssen entlarvt werden. Sie sind nicht der, als der Sie sich ausgeben. Sie haben sich Sie sprechen sich für die Kontrolle aus. Ich kann heute wieder entlarvt, Ihnen bestätigen, daß diejenigen, die kontrollieren, uns das Leben in der Regel nicht einfach machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist gut so. Die Kollegen - Mitarbeiter mit langjäh- indem Sie wörtlich wieder zitiert haben, daß der BND riger Erfahrung - überprüfen diese Dinge in harter in dubiose Waffengeschäfte verwickelt sei, und Auseinandersetzung mit uns. Im übrigen habe ich zu gleichzeitig Ergebenheitsadressen an den BND ab- Beginn der Legislaturperiode für die Bundesregie- geben. Die seitenlange Aufzählung angeblicher rung die Erklärung abgegeben, welche zusätzlichen BND-Fehlleistungen ist - das muß ich Ihnen sagen - Möglichkeiten die Parlamentarische Kontrollkom- zusammengeschustert. Sie haben das bei einem so- mission hat. Ich will Ihnen nicht verschweigen - genannten Experten, der in Wirklichkeit keiner ist auch, wenn es noch nicht bekannt ist -, daß wir zwei und der überhaupt nichts von der Arbeit der Nach- Kontrollgremien haben. Wir haben auch die Vertrau- richtendienste versteht, abgeschrieben - ich kann Ih- ensmänner. Ich muß feststellen, daß die Arbeit in die- nen sogar die Fundstellen nennen -, und zwar aus sem Gremium über alle beteiligten Fraktionen hin- vordergründigen, verfälschenden und mißverstande- weg hervorragend ist. nen Schlagzeilen. Schwierigkeiten gibt es manchmal in einem ande- Es ist bemerkenswert, was ein anderer Redner aus- ren Gremium, weil dort gestört wird oder weil über- geführt hat, nämlich daß die Widerlegung der Vor- mäßig Auskunft verlangt wird. Ich erinnere mich an würfe durch parlamentarische, gerichtliche und auf- ein Beispiel: Bis tief in die Nacht wurden 70 Fragen sichtsbehördliche Untersuchungen bewußt unter- gestellt. Bei der zehnten Frage hat der betreffende schlagen wird. Kollege das Lokal verlassen. Ihm war es wichtiger, im Fernsehen eine Stellungnahme abzugeben, als auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Antworten auf seine eigenen Fragen zu warten. Sie addieren Lügenmärchen und nutzen sie zum An- Er wußte vorher, was passiert; er wußte vorher, wen griff. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, daß Institutio- er verdächtigen muß und was angeblich alles Schlim- nen dieses Parlaments diese Vorwürfe entkräftet ha- mes passiert ist. ben. Herr Kollege Hirsch hat darauf hingewiesen. (Jörg van Essen [F.D.P.]: Unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich bin der Meinung, daß wir über Kontrolle nicht Ich erwähne nur die aktuellen Vorwürfe, der BND sei nur nachdenken müssen. Aber: Unser Nachrichten- in Waffenschiebereien verstrickt. Der BND-Präsident dienst ist der am besten kontrollierte. Daß man daran hat das mit Nachdruck zurückgewiesen. Die Nach- noch etwas ändern kann, daß man in dieser Hinsicht prüfungen haben ergeben, daß es nicht bestätigt noch Wünsche haben kann - bitte sehr. werden kann. Trotzdem verwenden Sie es heute wie- Das Ende des Kalten Krieges hat die Beziehungen der. zwischen den Staaten verändert, man kann sagen: Bei dieser Gelegenheit möchte ich einmal klarstel- friedlicher gemacht. Es gibt aber nach wie vor Kon- len: Der BND ist keine Bande von gesetzlosen Gesel- flikte und neue Bedrohungen. Es liegt im Interesse len, sondern eine Bundesbehörde, die fest in unse- unseres Landes - da sind wir hundertprozentig einer rem demokratischen Staat verankert ist. Seine Mitar- Meinung -, daß wir für diese schwierige Arbeit beiter leisten - oft unter schwierigen Bedingungen - Nachrichtendienste brauchen. Denken Sie an den in- eine hervorragende Arbeit für unser Land. Sie ver- ternationalen Drogenhandel, die internationale Geld- dienen unser aller Anerkennung und volles Ver- wäsche, die Gefahren der Proliferation von Massen- trauen. vernichtungswaffen und die international organi- sierte Kriminalität. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich könnte Ihnen auf Anhieb die Erfolge eines Eigentlich empfehle ich Ihnen das, was hier schon Nachrichtendienstes in diesem Zusammenhang dar- gesagt wurde: Überschlafen Sie den Antrag! Machen legen. Ihre Kollegen sollten Ihnen allen einmal die Sie es uns einfach und bringen Sie etwas anderes Analysen zur Kenntnis geben. Vielleicht ist es wichti- ein, damit wir konstruktiv darüber reden können! ger, über solche Dinge, die eigentlich nicht streng geheimzuhalten sind, einmal in einer breiten parla- Herr Kollege Kemper, ich bin Ihnen sehr dankbar, mentarischen Öffentlichkeit zu reden. für das, was Sie gesagt haben: 50 Prozent im Mi- nimum - darin stimme ich mit Ihnen voll überein. Ich Ich könnte Ihnen auch Beispiele dafür geben, wie bin gern bereit, mit Ihnen in eine ausführliche Dis- der Dienst geholfen hat, Leben zu schützen, wie es Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11311

Staatsminister Bernd Schmidbauer dem BND gelungen ist, Terro risten den Prozeß zu Präsidentin, ich bin damit am Ende, wenn auch nicht machen, oder wie er mitgeholfen hat, internationale am Ende der Diskussion -: Ich habe Sie eingeladen, Verbrecher zu entlarven und der Polizei diese Infor- Herr Kemper, weil ich das als gut empfunden habe, mation weiterzugeben. Ich bin wie Sie der Meinung, was Sie hier gesagt haben. Ich bin gerne bereit, mit daß wir ein strenges Trennungsgebot durchhalten Ihnen darüber zu reden. Auch der Appell an die ei- müssen. Ich bin aber auch der Meinung, daß die Poli- genen Freunde im Ausschuß, sich Zeit zu nehmen zei weiter mit ihren polizeilichen Mitteln und die und in der Parlamentarischen Kontrollkommission Nachrichtendienste weiter mit ihren nachrichten- Erfahrungen zu sammeln, hat mich tief beeindruckt. dienstlichen Mitteln arbeiten müssen. Dies gewähr- leistet professionelle Arbeit und ausreichende Kon- Herzlichen Dank. trolle. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dazu ist aber nötig, daß koordiniert und kooperiert wird. Sie erinnern sich an den Fall Guillaume, der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die Anlaß für eine bessere Koordinierung innerhalb der Aussprache. Bundesregierung war. Im übrigen bin ich der Mei- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nung, daß wir die Diskussion so versachlichen soll- Drucksache 13/4374 an die in der Tagesordnung auf- ten, daß die Dienste aus einer solchen Situation et- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie nach was Produktives mitbekommen und wir auch in die wie vor damit einverstanden? - Das scheint der Fall Lage versetzt werden, über die neue Struktur des zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Bundesnachrichtendienstes Konsensfähigkeit zwi- schen den Fraktionen in diesem Plenum zu bekom- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: men. Erste Beratung des von den Abgeordneten Im übrigen freue ich mich über die Erklärungen zu Dagmar Freitag, Klaus Lohmann (Witten), In- unserem neuen Präsidenten. Sie können sicher sein, grid Becker-Inglau, weiteren Abgeordneten daß die Bundesregierung den neuen Präsidenten wie und der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- den vorhergegangenen Präsidenten voll unterstützt. wurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Do- ping und zur Umsetzung des Übereinkom- Ich empfehle Ihnen, Herr Kemper, einmal die Ar- mens des Europarates gegen Doping beit des Plutoniumausschusses abzuwarten und nicht von vornherein zu erklären, daß es da Profis im - Drucksache 13/5215 - Sinne einer Verzögerung gebe. Das Bundeskanzler- Überweisungsvorschlag: amt hat alles getan, Sie voll zu informieren. Zu jedem Sportausschuß (federführend) Zeitpunkt haben Sie von uns nach Aktenlage Infor- Rechtsausschuß mationen erhalten. Ausschuß für Gesundheit Dieser Tagesordnungspunkt soll zu Protokoll gege- (Zuruf von der SPD: Wir warten nur noch ben werden. Alle Redebeiträge liegen schriftlich auf Sie!) vor.*) - Sie haben mich zu lange genossen. Herrn Such Auch hier wird interfraktionell die Überweisung ging es zu lang; er konnte meinem Zweistundenvor- des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/5215 an die trag geistig nicht folgen, und er wollte mich nachts in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- um zehn Uhr schonen. Ich habe verstanden, daß die geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist Zeugenvernehmung allen zu lang war. Ich bin gerne der Fall. Dann ist das so beschlossen. bereit, in den Ausschuß zu gehen. Ich bin sicher, daß wir da in den Dingen, die Sie zu ermitteln suchen, Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf: noch ein Stück weiterkommen. Ich bin sehr dankbar. Ich habe immer gesagt, ich warte auf das Ergebnis Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla dieses Ausschusses. Jelpke und der Gruppe der PDS Änderung des Strafvollzugsgesetzes Nur, Herr Kemper, eins können wir schon heute feststellen: Alle üblen Verdächtigungen, die gegen - Drucksache 13/1443 - mich oder die Bundesregierung ausgesprochen wur- Überweisungsvorschlag: den, sind durch keinen einzigen Zeugen nachgewie- Rechtsausschuß (federführend) sen worden; es gibt nicht einmal ein einziges Indiz. Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- Im übrigen will ich dazu sagen - bei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatsmi- Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Dr. Ulla nister, wir haben der Bedeutung des Gegenstandes -- Jelpke.

Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: - im übrigen will ich mich bedanken, Frau *) Anlage 2 11312 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Wir haben in diesem Zusammenhang immer wie- und Herren! Am 1. Januar 1977 trat das Strafvoll- der deutlich gemacht, daß ein Gefangener, der so zugsgesetz in Kraft. Die Einbeziehung von Strafge- wenig Geld bekommt, natürlich auch wenig für den fangenen in die gesetzliche Renten- und Sozialversi- Täter-Opfer-Ausgleich tun kann. Das heißt, Wieder- cherung hat bis heute nicht stattgefunden. Damals gutmachung kann in der Regel gar nicht praktiziert wurde vom Gesetzgeber - nicht vom Bundestag in werden. Auch das wäre mit zu überlegen, wenn die- seiner heutigen Zusammensetzung - beschlossen, ser Antrag von uns in den Ausschüssen beraten wird. daß die Gefangenen in die Renten- und Sozialversi- cherung einbezogen bzw. tariflich entlohnt werden Ich möchte am Schluß noch sagen, daß sich in der sollen. letzten Legislaturperiode der Petitionsausschuß auf Grund einer Petition von Gefangenen aus Baye rn - Ebenso wurde die Resozialisierung als herausra- die ein Straubinger Manifest erarbeitet haben und gendes Ziel des Strafvollzugs bezeichnet. Gefangene darin nachweisen, daß der Staat Kosten sparen sollten befähigt werden, künftig in sozialer Verant- könnte, daß die tarifliche Bezahlung bzw. die Ren- wortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Daraus ten- und Sozialversicherung dringend notwendig ergibt sich meiner Meinung nach die Pflicht des Ge- sind - ebenfalls damit beschäftigt hat. Diese Gefan- setzgebers, hier endlich zu handeln. genen haben das als Petition in den Bundestag ein- gebracht. Der Petitionsausschuß hat in der vergange- Obwohl die Bundesrepublik das Übereinkommen nen Wahlperiode beschlossen, daß sich die Aus- Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation über schüsse hiermit beschäftigen mögen. Das ist bis die Abschaffung von Zwangs- und Pflichtarbeit un- heute nicht geschehen, und es ist inzwischen auch terschrieben hat, ist sie bis heute nicht wi llens, ihre schon wieder einige Jahre her. Ich kann nur hoffen, Verpflichtungen auch gegenüber Strafgefangenen daß sich die Ausschüsse ernsthaft hiermit auseinan- einzulösen. dersetzen, damit für die Gefangenen tatsächlich ein Leben in Freiheit möglich ist, und zwar ein Leben, Ergebnis: Gefangene, die in der Haft über Jahre ohne rückfällig zu werden. oder sogar Jahrzehnte ihrer Arbeitspflicht nachge- kommen sind, bekommen keinen Pfennig Rente. Sie Ich danke. sind, wenn sie entlassen werden, Sozialhilfeempfän- ger. Viele von uns wissen, daß Gefangene hohe (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ Schulden durch Prozeß-, Rechtsanwalts- und Haft- DIE GRÜNEN) kosten usw. haben. Nach den Statistiken hat ein Ge- fangener in etwa 50 000 DM Schulden, wenn er aus der Haft entlassen wird. Wir sind der Meinung, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hier auch über eine Entschuldung nachgedacht wer- spricht unser Kollege . den muß.

Wichtiger ist mir aber, festzustellen, daß Bund und Franz Peter Basten (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Länder immer damit argumentieren, die Haushalts- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kol- lage erlaube es nicht, den damaligen Beschluß umzu- legin Jelpke, ich möchte Ihrer Feststellung nach- setzen. Es gibt viele Gefangenenorganisationen, die drücklich widersprechen, daß der Strafvollzug in der nachgewiesen haben, daß dies eigentlich viel teurer Bundesrepublik Deutschland in den von Ihnen auf- ist. Denn wer sich ein wenig mit dem Strafvollzug be- geführten Fällen der Verfassung widerspreche oder schäftigt hat, weiß, daß Leute, die ohne finanzielle internationalen Übereinkünften wie beispielsweise Mittel entlassen werden und keine Arbeit oder Woh- der IAO-Übereinkunft Nr. 29. Das ist nicht der Fall. nung haben, natürlich schneller rückfällig werden. Es ist eine falsche Behauptung. Sie haben sie auch in Die Kosten der Rückfälligkeit und der neuen Straf- der schriftlichen Begründung erhoben. Ich muß verfolgung sind bislang weder vom Bund noch von Ihnen in diesem Punkte nachdrücklich widerspre- den Ländern errechnet worden. Umgekehrt haben chen. Der Strafvollzug der Bundesrepublik Deutsch- sich aber Gefangene die Mühe gemacht, auszurech- land ist verfassungskonform und steht im Einklang nen, daß die Kosten eigentlich umverteilt werden mit internationalen Abmachungen. Es existiert keine müßten. Dann wäre auch das Geld für eine tarifliche nationale oder internationale Norm, die dem Gefan- Entlohnung da. Sie hätten dann wenigstens eine genen einen Anspruch auf Arbeitsentgelt in Form Chance, so etwas wie eine Resozialisierung zu errei- von Tariflohn einräumt oder seine Gewährung gebie- chen. tet.

Deshalb forde rten wir nicht erst in dieser Legisla- Die gleiche Feststellung gilt für die Aufnahme in turperiode, sondern bereits in der vergangenen, daß die Kranken- und Rentenversicherung. Gefangene im Gefängnis tariflich entlohnt werden, wenn sie arbeiten. Heute erhält ein Gefangener, der Ich habe, weil Sie es immer wieder behaupten, acht Stunden am Tag arbeitet, etwa 7,50 DM pro Tag. diese Vereinbarung Nr. 29 einmal herangezogen, Das macht im Monat zwischen 120 und 160 DM aus. und ich stelle dort fest: Unter II Nr. 2 ist geregelt, daß Jemand, der nicht arbeitet, bekommt nur ein Ta- als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Über- schengeld von 40 DM. Davon bezahlt der Gefangene einkommens jedoch nicht gelten - dann werden seinen Tabak, Kaffee und alles das, was er außer den Fälle aufgezählt -: c) jede Arbeit oder Dienstleistung, Grundnahrungsmitteln noch braucht. In der Regel die von einer Person auf Grund einer gerichtlichen bleibt nicht allzu viel übrig. Verordnung verlangt wird. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11313

Franz Peter Basten Also die Strafgefangenen fallen gar nicht unter Ende der 80er Jahre in dieser Frage entschieden hat, diese Übereinkunft. Deswegen kann auch nicht ge- daß das alles noch verfassungskonform ist, auch gen sie verstoßen werden. Das ist der eine Punkt. wenn es noch nicht geregelt ist. Der andere Punkt, meine sehr verehrten Damen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE und Herren. Das Vollzugsziel - darin sind wir uns GRÜNEN]: Das heißt aber nicht, daß es gut einig - ist ein Leben ohne Straftaten in Freiheit, und ist!) dazu soll der Vollzug einen Beitrag leisten, indem er Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber durch therapeutische Maßnahmen, durch Arbeit, bisher keine bestimmte Frist aufgegeben, was es tun durch Ausbildung und Weiterbildung dem Strafge- könnte, wenn es das für geboten hielte. fangenen in seiner Haftzeit hilft. Darauf könnten wir uns vielleicht verständigen. Das ist ja auch etwas, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE was heute abend in der Debatte im Zusammenhang GRÜNEN]: Sie handeln, wenn Karlsruhe mit der Sexualgewalt gegen Kinder zum Ausdruck Ihnen das aufträgt?!) kam, daß wir die richtigen Akzente setzen, wenn wir - Das ist eine andere Frage. Aber ich wi ll Ihnen, Herr zusätzliche Hilfen, auch finanzielle Hilfe, fordern. Kollege Beck, dazu noch etwas sagen. Geben Sie mir Die Länder bauen Personal ab, auch therapeuti- Gelegenheit; ich will dazu noch meine Ausführun- sches Hilfspersonal. Sie haben nicht genügend Mit- gen machen. tel, um im Ausbildungs- und im Weiterbildungsbe- Es gibt einen weiteren Punkt, den wir in diesem reich zu helfen. Darüber kann man sicherlich ver- Zusammenhang berücksichtigen sollten. Wenn dem nünftig reden. Aber wenn wir die Akzente setzen, ist Strafgefangenen Tariflohn für die in der Strafhaft ge- der Tariflohn für in der Strafanstalt beschäftigte leistete Arbeit gezahlt wird, dann führt dies letztlich Strafgefangene sicherlich nicht das vordringlichste. in der Konsequenz, wie es im Antrag der PDS auch Das will ich Ihnen bei dieser Gelegenheit noch ein- gefordert wird, in den arbeitsrechtlichen Beziehun- mal deutlich zum Ausdruck bringen. gen und in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht Man kann sicherlich auch über die Frage reden, zu einer völligen Gleichstellung mit dem Arbeitneh- und da möchte ich gerne differenzieren im Verhältnis mer in Freiheit, der von seinem Tariflohn allerdings zum Tariflohn, ob nicht auf längere Sicht die Einbe- seinen ganzen Lebensunterhalt bestreiten muß. ziehung in die Rentenversicherung sinnvoll und not- (Jörg van Essen [F.D.P.]: Der hat nicht freie wendig ist. Kost und Logis! - Gegenruf des Abg. Volker (Zuruf von der SPD: Das ist Beschlußlage Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: des Bundestages! - U lla Jelpke [PDS]: Seit Das wird doch nachher abgezogen!) 18 Jahren!) Wenn Sie diese Fragen aufwerfen, müssen Sie - Nein, der Bundestag hat es einem zukünftigen Ge- auch die Fragen der Gegenleistungen, die der Straf- setz überlassen. Es gibt keine definitive Verpflich- vollzug aufwenden muß, um die Behandlung und die tung dazu. Ein zukünftiges Gesetz soll diese Frage Wiedereingliederung des Strafgefangenen möglich regeln, nicht mehr und nicht weniger. zu machen, stellen. Dann sind wir zu einer Gegen- rechnung verpflichtet. Was die Landesbehörden Was die Krankenversicherung angeht, da ist wie- durch die Arbeitstätigkeit der Strafgefangenen ein- derum zu differenzieren, we il ja der Strafgefangene nehmen, deckt nur einen Bruchteil dessen ab, was von den Gesundheitsdiensten des Vollzugs in vollem der Strafgefangene durch seine Straftat und die Not- Umfang versorgt wird. wendigkeit, ihn zu resozialisieren, an Kosten auslöst. Dann wäre es billig und gerecht, auch über eine Ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Basten, ge- genleistung für den Aufenthalt und für die Behand- statten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen lung in der Strafanstalt ein Wo rt zu verlieren. Beck? Es ist nicht richtig, wenn behauptet wird, daß ein Strafgefangener, der entlassen wird, ohne Hilfe auf Franz Peter Basten (CDU/CSU): Bitte schön. der Straße stünde. Er wird zunächst einmal durch die Sozialdienste des Vollzugs auf die Freiheit vorberei- tet. Das wird gründlich und sorgfältig getan. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, Sie haben die Zeitdimension beim (Ulla Jelpke [PDS]: Gehen Sie doch in die Thema Sozialversicherung angesprochen. Können Gefängnisse! Sie haben doch keine Sie uns vielleicht sagen, wie lange diese Verpflich- Ahnung, wovon Sie reden!) tung im Gesetz steht und welche Zeit Sie für die Um- Die Sozialarbeiter, die mit den Strafanstalten zusam- setzung solcher gesetzlicher Aufträge für angemes- menarbeiten, versehen einen ganz ha rten, aber ver- sen halten? läßlichen und guten Dienst. Man sollte ihnen bei die- (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch) ser Gelegenheit einmal dafür danken - das ist ganz selten der Fall - und deutlich machen, was solche Leute gerade unter dem Personaldruck, unter dem Franz Peter Basten (CDU/CSU): Seit 1977 steht die Anstalten stehen, für die Strafgefangenen und das im Gesetz, seitdem es das Strafvollzugsgesetz ihre Resozialisierung leisten. gibt. Das ist mit keiner F rist verbunden. Ich sage Ih- nen aber, daß das Bundesverfassungsgericht noch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 11314 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Franz Peter Basten Das ist der eine Punkt. sprochene Inte rvention. Sie wollten doch eine Frage stellen. Der andere Punkt: Es wird eine Überbrückungs- hilfe geleistet. Wenn jemand nach der Entlassung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht in Arbeit kommt, hat er Ansprüche an die Ar- beitslosenversicherung wie jeder andere auch, weil Franz Peter Basten (CDU/CSU): Herr Kollege er auch während der Strafhaft Mitglied in der Ar- Graf, ich stimme Ihnen insoweit zu, als es eine sehr beitslosenversicherung ist. Es gibt also auch von da- differenzierte Praxis gibt. Mein Wunsch wäre es, daß her Leistungen. Die Ansprüche nach dem Bundesso- man möglichst vielen Strafgefangenen die Möglich- zialhilfegesetz stehen zur Verfügung. keit eröffnet, durch Tätigkeiten außerhalb der Straf- Wichtig ist aber, daß durch Qualifizierung in der anstalt Angebote zu nutzen. Das geht aber nicht im- Strafhaft Voraussetzungen dafür geschaffen werden, mer. Manchmal gebieten sowohl der Resozialisie- daß der Entlassene bald wieder in Arbeit kommen rungs- wie auch der Vorbereitungszweck oder thera- kann, weil er etwas kann, weil er beruflich leistungs- peutische Gründe, so zu verfahren, wie das bisher fähig ist, weil er gut ausgebildet worden ist. Do rt geschehen ist. Könnte es uns gelingen, die Länder sollte der Schwerpunkt der Hilfen liegen. dazu zu bewegen, den Anteil derjenigen Strafgefan- genen zu erhöhen, die außerhalb von Anstalten Ar- Ein letzter Punkt: 560 Mil lionen DM soll das, was beiten verrichten, hätten Sie mich sofort auf Ihrer hier gefordert wird, die Länder kosten. Ich kenne Seite. kein einziges Land, das bereit ist, vor dem Hinter- grund seiner finanziellen Situation einen dera rtigen Jetzt möchte Schwerpunkt zu setzen. Eine Änderung des Straf- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: auch die Kollegin Ulla Jelpke eine Frage stellen. vollzugsgesetzes ist nach unserer verfassungsrechtli- chen Ordnung zustimmungsbedürftig. Mit einer Zu- stimmung der Länder zu diesem Gesetz ist bei der Franz Peter Basten (CDU/CSU): Bitte schön! Dann Haushaltsmisere der Länder mit Sicherheit nicht zu haben fast alle gefragt, die noch hier sind. rechnen. Deswegen müssen wir deutlich machen, (Heiterkeit) daß wir uns mit dieser Debatte vielleicht gegenseitig froh machen, aber keine Zustimmung zu dem, was hier angeregt worden ist, bekommen. Dessen bin ich Ulla Jelpke (PDS): Auch die Zahl der Kolleginnen mir absolut sicher. und Kollegen, die noch hier sind, qualifiziert dieses Thema. - Sind Sie denn wenigstens bereit, die Be- rechnungen der Gefangenenorganisationen nachzu- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, prüfen oder eine Art Bund-Länder-Analyse erstellen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten zu lassen, was es kosten würde, wenn man Gefan- Graf? gene materiell so ausrüstet, daß sie sich wieder ent- sprechend eingliedern können? Es liegen dazu Be- Franz Peter Basten (CDU/CSU): Ja. rechnungen von Gefangenenorganisationen vor. Sind Sie bereit, dies aufzunehmen?

Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Kollege Ba- sten, halten Sie es denn nicht für zwingend notwen- Franz Peter Basten (CDU/CSU): Sicherlich. Ich dig, daß wir Gerechtigkeit zumindest insoweit her- habe ja eine Zahl genannt. Das, was auf Grund Ihres Antrages auf die Länder zusätzlich zukäme, ist ent- stellen, als es heute eine sehr unterschiedliche Be- sprechend untersucht und durchgerechnet worden. handlung von Strafgefangenen gibt? Einerseits gibt es Strafgefangene, die außerhalb der Strafanstalten Ich bin dafür, daß wir dann sozusagen eine Gesamt- im Arbeitsprozeß stehen, tarifmäßig entlohnt werden bilanz im Sinne eines Pro und Kontra, also eine Rech- und somit auch in die Renten- und Sozialversiche- nung und Gegenrechnung, aufmachen, was auf der rung einzahlen und sich während der Verbüßung ih- einen Seite erwirtschaftet wird und Strafvollzug auf rer Strafe ein Polster zulegen können, mit dem sie der anderen Seite kostet. Dieses Ergebnis sollten wir nach ihrer Entlassung viele Dinge selbständig regeln uns dann anschauen. Das wäre eine gerechte und können. - Ich halte das im übrigen auch für vernünf- vernünftige Regelung. tig. - Andererseits kommt es vor, daß sich ein Unter- Vielen herzlichen Dank. nehmen in eine Strafanstalt einkauft, ein Strafgefan- gener innerhalb der Anstalt die gleiche Arbeit ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- richtet wie ein anderer außerhalb, allerdings nicht ordneten der F.D.P.) dieselben Leistungen gewährt bekommt. Das halte ich für eine Ungerechtigkeit. Außerdem ist das ein Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Handeln das Wort der Abgeordneten E rika Simm. ist notwendig. Ganz zu schweigen von den Tätigkei- ten, die Strafgefangene innerhalb der Anstalten aus- (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! üben, die anstaltseigen sind und hinter denen kein Erika Simm Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was ich jetzt Unternehmen steht. Ich denke, daß Sie uns - - sage, erwarten Sie vielleicht nicht unbedingt von mir. Es spricht mir aber aus dem Herzen, weil ich mich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege wirklich sehr geärgert habe: Debatten, wie wir sie Graf, das, was Sie jetzt bieten, ist schon eine ausge- heute aus Anlaß dieses PDS-Antrages führen, finde Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11315

Erika Simm ich ausgesprochen ärgerlich. Ich werde auch erklä- die jetzt geltende geringe Belohnung - was sie be- ren, warum: kommen, ist nämlich keine Entlohnung, sondern (Beifall bei der SPD) eine Belohnung - arbeiten könnten, um zumindest die Möglichkeiten des wöchentlichen Einkaufs wahr- Da durchforscht eine Kollegin auf der Suche nach ei- nehmen zu können. nem Tätigkeitsnachweis offensichtlich den Fundus alter, gescheiterter Anträge bzw. Gesetzesvorlagen Frau Kollegin Jelpke, Ihr Antrag geht an allem vor- aus früheren Legislaturperioden, formuliert ohne bei, was im Moment politisch durchsetzbar und er- Rücksicht auf politische Gegebenheiten und Durch- reichbar ist. Deswegen - es tut mir leid - nehme ich setzbarkeit ein paar Maximalforderungen, fügt noch Ihnen nicht ab, daß es Ihnen wirklich darum geht, an etwas Exotisches hinzu, das bisher noch niemand ge- der sozialen Situation von Strafgefangenen und de- fordert hat, schreibt zur Begründung ein paar Seiten ren Familien etwas zum Positiven zu ändern. zusammen - der Einfachheit halber gleich aus einem (Ulla Jelpke [PDS]: Das ist wirklich eine der gängigen Kommentare wortwörtlich; ich habe Frechheit, was Sie da sagen!) das gefunden - und beschäftigt uns damit. Das be- zeichne ich als Schaufensterantrag, Die von Ihnen erhobenen Forderungen haben in dieser Absolutheit keine Chance auf Durchsetzung, (Beifall bei der SPD) was Sie auch wissen. Sie erweisen den Betroffenen, denen helfen zu wollen Sie vorgeben, mit Ihrem An- dem der ernsthafte Wille, politisch etwas zu verän- trag einen Bärendienst. dern, abgesprochen werden muß. (Uwe Lühr [F.D.P]: So ist es!) (Ulla Jelpke [PDS]: Schaufensterrede!) Mir fällt schwer, dies alles zu sagen, weil ich näm- Das Problem, um das es in diesem Antrag geht, näm- lich als junge Juristin Anfang der 70er Jahre ehren- lich die Frage, wie die soziale Situation von Strafge- amtlich jugendliche Straffällige in der Strafanstalt fangenen und ihren Familien verbessert werden und nach ihrer Entlassung betreut habe. Ich habe in kann, ist durchaus ernst und verdient es nicht, unter den 70er Jahren als Mitglied einer Kommission zur den bestehenden politischen Gegebenheiten so ab- Reform des Strafvollzuges, die der SPD-Parteivor- gehandelt zu werden. stand eingesetzt hatte, gearbeitet. Wir haben damals Papiere formuliert, die selbstverständlich die Forde- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rung nach Einbeziehung der Strafgefangenen in die Die gerade auch von Sozialdemokraten erhobenen gesetzliche Sozialversicherung und nach angemesse- Forderungen, Strafgefangene in die gesetzliche Ren- ner Arbeitsentlohnung enthielten. ten- und Krankenversicherung einzubeziehen und Mittlerweile habe ich gelernt, daß man den Betrof- die Arbeitsentgelte im Strafvollzug auf ein Niveau fenen keinen Gefallen tut, wenn man Maximalforde- anzuheben, das es den Gefangenen erlaubt, daraus rungen erhebt. Vielmehr muß man irgendwann Kon- eine Familie zu unterhalten, den ange richteten Scha- sequenzen daraus ziehen, daß es einfach Hinder- den wiedergutzumachen und Schulden zu tilgen, rei- nisse gibt, die man in der Position, in der man sich chen weit zurück und sind zu Zeiten der soziallibera- befindet, nicht überwinden kann. Das gilt jetzt für len Koalition sowohl 1976 bei der Verabschiedung den Bundestag. Man muß dann versuchen, kleine des Strafvollzugsgesetzes als auch im Zusammen- Schritte zu machen, um wenigstens Verbesserungen hang mit Gesetzentwürfen der damaligen Bundesre- einer unbefriedigenden Situation zu erreichen. Hin- gierungen 1979 und 1981 jeweils am Widerstand des sichtlich der Situation haben Sie ja völlig recht; in der Bundesrates gescheitert. Sie sind nicht an diesem Sache widerspreche ich Ihnen gar nicht. Parlament, sondern am Widerstand des Bundesrates gescheitert, weil die Länder nicht bereit waren, die Ein solch kleiner Schritt ist - ich sage es, damit ich mit diesen Reformen verbundenen, ausschließlich sie das Thema nicht nur negativ darstelle - im Moment treffenden Kosten zu tragen. Um wieviel weniger ha- der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Reform des ben diese Forderungen, wie Sie sie jetzt wieder erhe- strafrechtlichen Sanktionensystems, der unter ande- ben, angesichts der gegenwärtigen Finanzsituation rem darauf abzielt, die Freiheitsstrafe mit ihren nega- der Länder heute eine Chance! tiven Folgen für die soziale Situation der Strafgef an -genen und ihrer Familien zugunsten von Sanktions- Der PDS-Antrag läßt jede Auseinandersetzung mit formen zurückzudrängen, die es den Verurteilten er- dieser Problematik vermissen. Unquantifizierte Ko- möglichen, ihrer sozialen Verantwortung in Freiheit sten-Nutzen-Analysen helfen da nicht weiter. Lö- nachzukommen. sungsansätze, wie sie auch früher schon gesucht wurden - etwa eine Anpassung der Arbeitsentgelte Für völlig unseriös halte ich in Ihrem Antrag Punkt in kleinen Stufen mit dem längerfristigen Ziel der 3, in dem Sie die Entschuldung von Strafgefangenen Annäherung an einer üblichen Entgelten entspre- fordern. - Wissen Sie, wenn es diesen Punkt nicht chenden Entlohnung -, werden erst gar nicht in Be- gäbe, hätte ich heute anders geredet. Aber gerade er tracht gezogen. Völlig außer acht bleibt das große hat mich in meiner Beurteilung, daß Sie einen Schau- Problem, daß die Strafanstalten heute vielfach gar fensterantrag gestellt haben, so sicher gemacht. nicht mehr in der Lage sind, den Gefangenen über- (Jörg van Essen [F.D.P.]: Völlig richtig!) haupt eine Arbeitsmöglichkeit anzubieten. Viele Strafgefangene sitzen heute beschäftigungslos in ih- Diese Forderung ist in dieser Form meines Wissens ren Zellen und wären froh, wenn sie wenigstens für bisher noch von niemandem, der ernst zu nehmen 11316 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 Erika Simm wäre, aufgestellt worden. Die Umsetzung dieser For- die wir vorhin festgestellt haben. Alle Bundestags- derung würde eine ungerechtfertigte Privilegierung fraktionen stellen in den Ländern Justizminister. Wir des Strafgefangenen gegenüber dem verschuldeten können uns da alle nicht auf die Schulter klopfen für gesetzestreuen Bürger bedeuten, das, was bisher erreicht wurde. Wenn man an Sätze wie „Angleichung an das Leben in Freiheit" denkt, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem muß man sagen: Solche Aussagen des Strafvollzugs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) gesetzes sprechen der Realität leider wirklich Hohn. von dem selbstverständlich erwartet wird, daß er für Den Resozialisierungsanspruch und die Humani- seine Schulden einsteht. sierung des Strafvollzugs sind wir nicht nur den Tä- Der von Ihnen geforderte Schuldenerlaß steht da- tern, denen die Freiheit wegen ihrer Straftat genom- mit meines Erachtens auch nicht im Einklang mit den men ist, sondern auch der Öffentlichkeit wegen der Zielen des Strafvollzuges, wie sie im Strafvollzugsge- Besserung der Straftäter dringend schuldig. setz festgelegt sind. Der Strafgefangene soll danach So sehr wir den Intentionen des Antrages zustim- im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden, sein Le- men, so sehr muß ich die Umsetzung und die Ausfüh- ben straffrei und selbstverantwortlich zu führen. Des rung im Detail tatsächlich als nicht sehr seriös und weiteren soll der Strafvollzug an die allgemeinen Le- doch etwas voluntaristisch kritisieren. bensbedingungen angeglichen werden. Die Forde- rung nach Schuldenerlaß widersp richt beiden Zielen. (Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist aber sehr vornehm ausgedrückt!) (Jörg van Essen [F.D.P.]: Völlig richtig!) Ich gehe mit Ihnen einig, daß wir bei der Sozialver- Dem Strafgefangenen würden falsche Vorstellungen sicherung nach so vielen Jahren endlich versuchen von der Lebensrealität in Freiheit vermittelt, zu der sollten, diese gesetzliche Pflicht umzusetzen. Sie es eben auch gehört, daß man Schulden bezahlen, aber stellen sich nicht mal der Diskussion in der So- für einen angerichteten Schaden einstehen und ihn zialdebatte. Stichwort: versicherungsfremde Leistun- wiedergutmachen muß. gen - sollen die Beitragszahler für die Kosten der So- Hätten Sie gefordert, wie es alle seriösen Fachleute zialversicherung für Strafgefangene aufkommen? auf diesem Gebiet tun, daß die soziale Betreuung in Sollen die Länder allein dafür aufkommen? Sollen den Strafanstalten wesentlich verbessert, die Vorbe- Bund und Länder gemeinsam dafür aufkommen? reitung auf das Leben nach der Entlassung intensi- Hierzu brauchen wir konkrete Vorschläge, damit wir viert und eine fachkundige Schuldnerberatung gelei- dieser meines Erachtens richtigen und wichtigen For- stet werden müsse, dann ginge ich mit Ihnen einig. - derung, daß die Strafgefangenen auch im Alter eine Im übrigen sehe ich das a lles nicht so rosig, Herr Ba- Perspektive haben, entsprechen. sten, wie Sie es dargestellt haben. Ich kenne die Ver- Auch bei der Anhebung des Arbeitsentgeltes - das hältnisse ziemlich gut. beschäftigt uns gleichfalls schon seit nunmehr Solche Forderungen wären nur kleine Schritte zur 16 Jahren, seit man in dem Gesetz Vorgaben ge- Verbesserung der sozialen Situation von Strafgefan- macht hat - stimme ich Ihnen zu. Ich meine, Herr von genen, die Ihre Sache, weil zu unspektakulär, ganz Basten offensichtlich nicht sind. (Franz Peter Basten [CDU/CSU]: Den (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Adelstitel können Sie weglassen!) F.D.P.) - Entschuldigung -, das Stichwort „Gesamtrech- nung" müssen wir auf andere Weise aufgreifen, als Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich Sie das in Ihrem Redebeitrag getan haben. Vielmehr das Wort dem Abgeordneten Volker Beck. müssen wir das Hauptaugenmerk nicht nur auf die Kosten, die beim Strafvollzug anfallen, richten, son- dern müssen auch eine umfassende Gewinn- und (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Volker Beck Verlustrechnung aufstellen. Wir müssen die Frage Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantworten: Was passiert, wenn Strafgefangene nehme Frau Jelpke - das sehe ich anders als Frau Simm - durchaus ab, daß sie es mit ihrem Anliegen nicht arbeiten, nicht genügend verdienen, mit der Familie, die da ist? Sie fällt den Sozialhilfeträgern zur der Resozialisierung und der Verbesserung der Si- Last. tuation von Strafgefangenen sehr ernst meint. (Jörg van Essen [F.D.P.]: Es ist so oder so (Jörg van Essen [F.D.P.]: Da braucht man staatliches Geld!) schon viel Phantasie!) Was passiert mit den Opfern der Straftaten? Es kann Wir sind fast im 20. Jahr nach der großen Reform für sie keine Wiedergutmachung geben, weil die des Strafvollzugsgesetzes. Viele Vorgaben, die in Straftäter auch nach der Entlassung nicht die Mittel dem Gesetz stehen und sich gut anhören, sind leider haben, hier einzutreten. nicht umgesetzt worden. (Franz Peter Basten [CDU/CSU]: Meinen Wir haben vorhin beim Thema „sexueller Miß- Sie, die Lage wird besser, wenn man ihm brauch" diskutiert, wie mit Tätern in diesem Bereich Tariflohn zahlt?) tatsächlich umgegangen wird. Ich hoffe, das ist zwei Stunden später nicht schon vergessen. Wir sollten uns Ich meine, auch dies sind Aspekte, die wir berück- alle an die Aufarbeitung der großen Defizite machen, sichtigen müssen. Nicht zuletzt müssen wir berück- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11317 Volker Beck (Köln) richtigen, daß die Strafgefangenen auf Grund der Aber gerade die Debatte von heute nachmittag, fehlenden Perspektive, wieder in die Gesellschaft nämlich die Debatte über den Umgang mit Tätern, integriert zu werden, rückfällig werden können. die schwerste Straftaten an Kindern begehen, macht deutlich, daß Resozialisierung nicht ausschließliche Aber ich weiß nicht, Frau Jelpke, woher Sie ange- Aufgabe des Strafvollzuges sein kann, sondern daß sichts der Geschichte dieses Problems den Mut neh- auch andere Strafzwecke, zum Beispiel auch der men, zu fordern, Strafgefangenen 100 Prozent des Schutz der Allgemeinheit, eine ganz erhebliche Be- zu zahlen. 40 Prozent hat der Sonderaus- Tariflohns deutung haben. schuß für die Strafrechtsreform damals gefordert. Das ist im Bundesrat gescheitert. Damals hat man dann (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 5 Prozent eingesetzt; jetzt sind es gerade einmal 6 Prozent. 1989 hat meine Kollegin Nickels - Es hat sich heute auch hier in der Debatte gezeigt, daß eine Perspektive bei uns völlig gefehlt hat, näm- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ihre Redezeit lich: Wie gehen wir mit den Opfern von Straftaten ist zu Ende, Herr Kollege; Sie müssen zum Schluß um? Wir haben uns heute unglaublich viele Gedan- kommen. ken darüber gedacht, wie es Strafgefangenen besser- gehen kann. Ich habe keinen einzigen Gedanken ge- hört, der sich mit den Opfern der Straftaten befaßt Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hätte. Ich muß sagen: Das hat mich schlicht geärgert. - einen Vorstoß unternommen, wenigstens 40 Prozent noch einmal in die Debatte zu bringen und ist damit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) leider auch gescheitert. Woher nehmen Sie, Frau Jelpke, die Courage, einfach einmal 60 Prozent Wir haben überall erhebliche Probleme in den draufzulegen und den Betroffenen damit Verspre- öffentlichen Kassen. Für mich persönlich muß ich chungen zu machen, die keiner von uns halten kann? dennoch sagen: Auch ich wünsche mir natürlich, daß Das, muß ich sagen, finde ich insgesamt an Ihrem es Verbesserungen bei den Resozialisierungsmög- Antrag unverantwortlich. lichkeiten gibt. Aber ich wünsche mir, daß bei unse- ren Überlegungen in erster Linie das Interesse der Opfer eine Rolle spielt. Das sage ich mit Blick auf Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, das, was wir heute nachmittag angesprochen haben: Sie müssen zum Schluß kommen. Tut mir leid. die therapeutische Betreuung von Strafgefangenen, die ihrer bedürfen, wofür allerdings das Geld fehlt. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich muß aber sagen: Wenn Geld da ist, dann möchte Dies gilt auch ganz im Sinne von Frau Simm für den ich es zuerst da für die Opfer eingesetzt wissen. Punkt 3 ihres Antrages. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein zweiter Gedanke, der mir wichtig ist: Es gibt das Opferentschädigungsgesetz, die Länder haben Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun spricht Opferentschädigungen zu leisten. Auch hier gibt es der Kollege Jörg van Essen. nur ganz wenig Entschädigungen für die Opfer von Straftaten. Hier möchte ich den Schwerpunkt gesetzt Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- sehen. men und Herren! Ich muß sagen: Als ich mich mit dem Antrag der PDS beschäftigt habe, habe ich mich Ich ärgere mich auch deshalb über den Antrag - es sehr geärgert. Wer sich diesen Antrag anschaut, der ist bereits mehrfach angesprochen worden -, weil muß genau den selben Eindruck haben, den die Kol- insbesondere der Vorschlag des Abbaus der Schul- legin Simm gerade in so eindrucksvoller Weise be- den, des Erlasses der Schulden Strafgefangene, legt hat. Ich unterstreiche jeden ihrer Sätze. Ich habe Leute, die schwere und schwerste Straftaten began- eine ähnliche Rede vorbereitet wie die Ihre, Frau Kol- gen haben - andere kommen gar nicht mehr in Straf- legin Simm. Es wäre schade, wenn ich Ihre Argu- haft -, gegenüber den anderen, sich straffrei verhal- mente wiederholen würde. tenden Bürgern, die sich nach der Neufassung der Insolvenzordnung entschulden können, dafür aber Ich möchte ein paar Gedanken anführen, die mir ganz erhebliche Bemühungen aufbringen müssen, gekommen sind, als ich der Debatte kritisch zugehört privilegiert. Diese Bürger stehen schlechter da als habe. Viele der Dinge aus den 70er Jahren, die ange- diejenigen, die schwerste und schwere Straftaten be- sprochen worden sind, sind sicherlich erfreulich, und gangen haben. Ich halte es für absolut unglaublich, keiner von uns wird bestreiten, daß die Resozialisie- worüber wir heute im Bundestag diskutieren müs- rung von Strafgefangenen ein ganz wichtiger Zweck sen. der Strafe und auch des Strafvollzuges ist. Daran darf sich nichts ändern. Ich selbst habe wie Sie, Frau Kol- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- legin Simm, in einer Jugendstrafanstalt zu einer ten der CDU/CSU) Gruppe gehört, die sich darum bemüht hat, insbeson- dere jugendlichen Strafgefangenen zu einer Resozia- Sie merken, daß ich mich geärgert habe. Jeder An- lisierung zu verhelfen. Ich muß sagen, daß ich gerade trag hat Anspruch darauf, daß ernsthaft über ihn dis- in bezug auf diesen Bereich das Gefühl hatte, daß kutiert wird. Selbstverständlich gehört es zur parla- man dort wirkliche Hilfe leisten konnte. mentarischen Kultur, daß das auch mit Ihren Anträ- 11318 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Jörg van Essen gen geschieht. Ich muß aber gestehen, daß mir das stungen der Länder um ein Mehrfaches übersteigen heute ganz besonders schwergefallen ist. würden.

Vielen Dank. Auch die Forderung nach einer Ergänzung des Strafvollzugsgesetzes um eine gesetzliche Regelung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) über den Abbau, den Erlaß bzw. die Übernahme von- Schulden von Strafgefangenen geht fehl. Der Kol- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich lege van Essen hat zu Recht - jetzt hört er auch zu - dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundes- darauf aufmerksam gemacht, daß nach der Neufas- minister der Justiz, Rainer Funke, das Wo rt. sung der Insolvenzordnung, die wir vor gut einem Jahr beschlossen haben und die am 1. Januar 1999 in Kraft treten wird, mit der Restschuldbefreiung auch Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- für Strafgefangene die Möglichkeit bestehen wird, nister der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und dem Strafgefangenen entgegenzukommen und ihm Herren! zu helfen. Aber er muß sich natürlich im Leben ent- sprechend bewähren. Er muß bemüht sein, seine (Ulla Jelpke [PDS]: Erzählen Sie ein biß Schulden zurückzuführen, genauso wie jeder andere chen von Hamburg!) Bürger, der unverschuldet in eine schwierige finan- - Nein, das wollte ich nicht, denn es ist kein Hambur- zielle Situation gelangt ist. ger Problem, sondern ein generelles Problem. Wenn er durch seine Straftat in diese finanzielle Die Einbeziehung der Strafgefangenen in die ge- Schuld gelangt ist, wird es auch eine Restschuldbe- setzliche Kranken- und Rentenversicherung sowie freiung natürlich nicht geben; denn - darauf haben die Erhöhung des Arbeitsentgelts waren bereits - das Frau Simm und auch der Kollege van Essen zu Recht ist mehrfach erwähnt worden - 1977 in der Diskus- hingewiesen - strafbedingte Schulden können natür- sion. Der Bundestag ist - darauf hat Frau Kollegin lich nicht zur Restschuldbefreiung führen, selbstver- Simm ausführlich hingewiesen - mit seinen Bemü- ständlich aber jede andere Schuld. Auch das ist eine hungen, dieses Strafvollzugsgesetz aus dem Jahre große Hilfe für Strafgefangene, die häufig vorher 1977 hinsichtlich der Arbeitsentgelte mit Leben zu schon in finanzielle Schwierigkeiten gelangt sind. füllen, am Bundesrat gescheitert. Das gilt natürlich unter dem Gesetz der leeren Kassen der Länder Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. heute ganz genauso. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das Argument, eine Erhöhung des Arbeitsentgelts der Gefangenen werde durch Wegfall ansonsten auf- zubringender Sozialleistungen - beispielsweise So- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Weitere Wo rt zialhilfe - für die Gefangenen und deren Familienan- -meldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die gehörigen nicht zu einer weiteren Belastung der Län- Aussprache. derhaushalte führen, sondern weitgehend neutral sein - es werde sich wie eine Waage wieder ausglei- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf chen -, hat sich nach dem Ergebnis eines 1994 er- Drucksache 13/1443 an die in der Tagesordnung auf- stellten Gutachtens des Instituts für Weltwirtschaft in geführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und Kiel nicht bestätigt. Ich bin gern bereit, Ihnen dieses höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Gutachten zur Verfügung zu stellen. Offensichtlich sen. ist es dem einen oder anderen hier im Hause nicht hinreichend bekannt. Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesord- nung. Das Gutachten, das alternative Modellrechnungen einer tariforientierten Gefangenenentlohnung ent- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- wickelt und deren voraussichtliche Auswirkungen destages auf morgen, Freitag, den 27. September auf die öffentlichen Haushalte untersucht hat, kommt 1996, 9 Uhr, ein. hinsichtlich eines tariforientierten Modells zu dem Ergebnis, daß auch nach Abzug aller Einnahmen Die Sitzung ist geschlossen. bzw. Ersparnisse die danach von den Ländern aufzu- bringenden Gelder die derzeitigen finanziellen Bela (Schluß der Sitzung: 21.01 Uhr) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11319*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 entschuldigt bis (Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung Abgeordnete(r) einschließlich des Doping und zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarates gegen Doping) Andres, Gerd SPD 26. 9. 96 rt SPD 26. 9. 96 * Antretter, Robe Dagmar Freitag (SPD): Mit dem vorliegenden Ge- Augustin, Anneliese CDU/CSU 26. 9. 96 setzentwurf unternimmt die SPD-Fraktion erneut ei- Beer, Angelika BÜNDNIS 26. 9. 96 nen Versuch, durch neue gesetzliche Regelungen die 90/DIE Dopingbekämpfung - gezielter als bisher möglich - GRÜNEN angehen zu können. Behrendt, Wolfgang SPD 26. 9. 96 * Wir sind nach wie vor der Meinung, daß Rege- Bindig, Rudolf SPD 26. 9. 96 * lungslücken im AMG bestehen. In dieser Auffassung Blunck, Lilo SPD 26. 9. 96 sind wir in zahlreichen Gesprächen, die wir in den Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 26. 9. 96 vergangenen Monaten mit Fachleuten auf dem Ge- biet der Dopingbekämpfung geführt haben, bestärkt Borchert, Jochen CDU/CSU 26. 9. 96 worden. Es geht um das unlautere Verschaffen von Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 26. 9. 96 * Wettbewerbsvorteilen, um skrupelloses Handeln und Dr. Däubler-Gmelin, SPD 26. 9. 96 um die Gesundheit von Menschen. Herta Menschen sind gestorben. Sie sind gestorben, weil Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 26. 9. 96 ihre Körper der massenhaften Einnahmen von unter- Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 26. 9. 96 * schiedlichsten Arzneimitteln zur Leistungsmanipula- Glos, Michael CDU/CSU 26. 9. 96 tion nicht mehr gewachsen waren. Sie mußten aber auch sterben, weil es offensichtlich kein großes Pro- Haack (Extertal), SPD 26. 9. 96 * blem war, sich die entsprechenden Mittel besorgen Karl Hermann zu lassen oder selbst zu besorgen. Die Leichtathletin Hirche, Walter F.D.P. 26. 9. 96 Birgit Dressel hat ihre damalige enorme Leistungs- Hoffmann (Chemnitz) SPD 26. 9. 96 steigerung mit dem Leben bezahlt, genau wie der Jelena Bodybuilder Andreas Münzer mit seinem Streben Horn, Erwin SPD 26. 9. 96 * nach dem kraftstrotzenden, makellosen Körper. Hornung, Siegfried CDU/CSU 26. 9. 96 * Wer wollte es leugnen: Doping spielt im Hochlei- Imhof, Barbara SPD 26. 9. 96 stungssport genau wie in der Bodybuildingszene Dr. Jacob, Willibald PDS 26. 9. 96 eine bedeutende Rolle. Die Sportfachverbände wen- den auf Aktive, die des Dopings überführt wurden, Junghanns, Ulrich CDU/CSU 26. 9. 96 * ihre eigenen Sanktionsvorschriften an. Dieses ist Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 26. 9. 96 richtig und wird vom vorliegenden Gesetzentwurf Lenzer, Christian CDU/CSU 26. 9. 96 * nicht berührt. Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 26. 9. 96 * Der Gesetzentwurf zielt vielmehr auf das Umfeld Erich der Aktiven ab. Nach der derzeit geltenden Rechts- Michels, Meinolf CDU/CSU 26. 9. 96 * lage steht die Abgabe von Arzneimitteln zu ärztlich Neumann (Berlin), Kurt SPD 26. 9. 96 nicht indizierten Zwecken gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 4 Dr. Probst, Albe rt CDU/CSU 26. 9. 96 * AMG nur dann unter Strafandrohung, wenn die Ab- gabe der Substanzen einen gewissen Umfang er- Regenspurger, Otto CDU/CSU 26. 9. 96 reicht und entgeltlich geschieht. Reuter, Bernd SPD 26. 9. 96 Rühe, Volker CDU/CSU 26. 9. 96 Aber der Dealer, der sich geschickt anstellt und sich nur bei einem einmaligen Verkauf erwischen Schäfer (Mainz), Helmut F.D.P. 26. 9. 96 läßt, kann nicht verurteilt werden - weil ihm nicht Schloten, Dieter SPD 26. 9. 96 * nachgewiesen werden kann, daß der Handel für ihn Schmidt (Aachen), Ulla SPD 26. 9. 96 eine dauerhafte Erwerbsquelle darstellt. von Schmude, Michael CDU/CSU 26. 9. 96 * Es ist auch hinlänglich bekannt, daß mit solchen Terborg, Margitta SPD 26. 9. 96 * Mitteln eben nicht nur ein schwunghafter, einträgli- Tröger, Gottfried CDU/CSU 26. 9. 96 cher Handel getrieben wird, sondern daß aus unter- schiedlichen Motiven Dopingmittel auch kostenlos Zierer, Benno CDU/CSU 26. 9. 96 * abgegeben werden.

für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Daher muß aus unserer Sicht eine Sanktionsvor- sammlung des Europarates schrift geschaffen werden, die auch die kostenlose 11320* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Abgabe von Arzneimitteln zu Dopingzwecken unter ner nicht weiterzubeschäftigen. Damit waren die Strafe stellt. Handlungsmöglichkeiten eines Verbandes bereits er- schöpft! Sport ist zum Geschäft geworden - für Aktive wie für Trainer. Der „Marktwert" eines Trainers steigt be- In der Debatte zum 8. Sportbericht der Bundesre- kanntlich mit den Erfolgen des oder der von ihm be- gierung habe ich bereits ausgeführt, daß man den treuten Athleten. Sport in seinen Bemühungen um Manipulationsfrei- Wer möchte da die Versuchung bestreiten, mit un- heit von seiten der Politik unterstützen muß. Mit der erlaubten Mitteln die Aktiven etwas beweglicher, Finanzierung von Dopingkontrollen, so wich tig sie schneller, kräftiger zu machen? Und das mit der be- sind, kommen wir unserer Aufgabe jedoch nur unzu- ruhigenden Gewißheit, sich nicht einmal strafbar zu reichend nach. machen! Unter diesem Gesichtspunkt habe ich mit verhalte- In besonderem Maße sind einmal mehr Kinder und nem Optimismus eine Stellungnahme des Kollegen Jugendliche gefährdet: Im Gegensatz zu Erwachse- Dr. Feldmann in der DSB Presse Nr. 36 zur Kenntnis nen - zumal wenn diese Hochleistungssportler sind - genommen. Ich zitiere: verfügen sie ganz sicher noch nicht über entspre- Dabei ist auch zu prüfen, inwieweit Doping ge- chende medizinische Kenntnisse, um die fatalen setzlich verboten und mit entsprechenden Sank- Konsequenzen eines Arzneimittelmißbrauchs für ihre tionen belegt werden muß. Gesundheit auch nur annähernd einschätzen zu kön- nen. Vielmehr vertrauen sie der Kompetenz eines Und weiter: Trainers, der ihnen scheinbar harmlose Mittel zur Leistungssteigerung unentgeltlich weitergibt. In jedem Fall darf der Sport mit der Lösung der Doping-Problematik nicht allein gelassen wer- Die Abgabe von Dopingmitteln an Minderjährige den. Dies ist auch eine Aufgabe der Politik. und die Anwendung dieser Mittel an ihnen ist bisher gesetzlich nicht gesondert geregelt. Die gebotene Soweit der Kollege Dr. Feldmann, F.D.P. Schutzwürdigkeit von Minderjährigen erfordert aus Geradezu Ermutigendes ist auch aus der CDU zu unserer Sicht jedoch eine Strafverschärfung. Die von vernehmen, bislang jedoch leider nur aus der nord- uns vorgeschlagene Neuregelung sieht hier eine rhein-westfälischen CDU. Auf den Gesetzentwurf Mindeststrafe von einem Jahr - ohne die Möglichkeit der SPD angesprochen, ließ CDU-Mann Leonhard einer Geldstrafe - vor. Kuckardt vor einigen Wochen im Morgenmagazin Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus der Einsicht der ARD wörtlich folgendes verlauten: entstanden, daß für die Dopingszene ein beträchtli- cher Freiraum besteht, den es einzuengen gilt. Wie- Ich würde meinen Freunden in der CDU/CSU- derholte Hinweise seitens der CDU/CSU auf eine Bundestagsfraktion empfehlen, daß sie diesen vermeintliche alleinige Verantwortlichkeit des Spo rts Gesetzentwurf der SPD zum Anlaß nimmt, um gehen an der Problematik vorbei. einen eigenen Gesetzentwurf einzubringen, der darüber hinausgeht. Dem Sport allein sind nämlich im Kampf gegen Doping Grenzen gesetzt. Diese werden deutlich, Ich glaube, es wird doch sehr deutlich, daß bei wenn sich Trainer der Sportgerichtsbarkeit allein da- dem Kampf gegen Doping alle, die es ernst meinen, durch entziehen können, daß sie keinem Verein des an einem Strang ziehen müssen. Das gilt für den Be- entsprechenden Spitzenverbandes angehören - so reich des Hochleistungssports, in dem sich immer geschehen im Fall Springstein. noch nicht alle Fachverbände in der erforderlichen Weise betätigen. Die Sprinterinnen Krabbe, Breuer und Derr hatten planmäßig während der Trainingsphase das ver- Die vielfältigen und lobenswerten Aktivitäten ein- schreibungspflichtige Medikament Spiropent einge- zelner Spitzenverbände innerhalb des DSB können nommen, und zwar in den von Springstein vorgege- nicht ausreichen, sondern müssen auch von den an- benen Dosierungen. Keiner der drei Athletinnen war deren Verbänden endlich umgesetzt werden. Der dieses Mittel von einem Arzt verschrieben worden, Sport kann in seinem Kampf gegen Doping nur ernst sondern es wurde auf dem schwarzen Markt be- genommen werden, wenn endlich eine einheitliche schafft. Nach unseren Informationen hat der Trainer Linie erkennbar ist. Dieses erwarten wir. das Medikament kostenlos an die Sportlerinnen wei- Unserer Meinung nach kann dann der Spo rt erwar- tergegeben. Ein gegen ihn eingeleitetes Ermittlungs- ten, daß der Gesetzgeber Rahmenbedingungen verfahren wurde von der zuständigen Staatsanwalt- schafft, die dort ansetzen, wo die Sportgerichtsbar- schaft Neubrandenburg eingestellt, weil ein Verstoß keit zwangsläufig ihre Grenzen findet. gegen das Arzneimittelgesetz nicht vorliege. Die von uns vorgeschlagene Änderung des § 95 Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich eines Abs. 1 Nr. 4 AMG soll gerade die unentgeltliche Wei- ganz deutlich machen: Der vorliegende Gesetzent- tergabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln wurf richtet sich in keinem Punkt gegen Athletinnen unter Strafe stellen, damit Fälle wie dieser zukünftig und Athleten. Es ist in der Tat nicht die Aufgabe des nicht mehr ungeahndet bleiben müssen. Gesetzgebers, die nicht verbotene Selbstgefährdung erwachsener, mündiger Menschen zu verhindern. Die einzige Konsequenz für Herrn Springstein war Dagegen ist aber sehr wohl unsere Aufgabe, zu ver- die folgerichtige Entscheidung des DLV, ihn als Trai- hindern, daß Dritte von dieser Selbstgefährdung pro- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11321* fitieren, sei es in finanzieller oder auch in ideeller oder bei anderen anzuwenden. Eine entsprechende Weise. Strafbewehrung wird in § 95 Abs. 1 Arzneimittelge- setz vorgesehen. Der Gesetzentwurf richtet sich deshalb ausschließ- lich gegen ein verantwortungsloses Umfeld, das sich Zweitens. Für das Doping bei Minderjährigen soll bisher bei geschickter Handhabung erfolgreich einer eine Einordnung als Regelbeispiel eines besonders Bestrafung entziehen kann. schweren Falles in § 95 Abs. 3 Arzneimittelgesetz vorgenommen werden. Die Bundesregierung hat sich durch den Beitritt zum Europäischen Übereinkommen gegen Doping Wie Sie wissen, enthält das zur Zeit gültige Arznei- von 1989 verpflichtet - ich zitiere -: mittelgesetz bereits Vorschriften, die der i llegalen Abgabe von Arzneimitteln zu Dopingzwecken bei in geeigneten Fällen Gesetze, Vorschriften oder Menschen entgegenwirken, die es allerdings zu ver- Verwaltungsmaßnahmen zu erlassen, um die bessern, das heißt zu präzisieren, möglicherweise Verfügbarkeit sowie die Anwendung verbotener auch zu verschärfen gilt. Bei dem geplanten Verbot Dopingwirkstoffe und -methoden im Spo rt ... des Inverkehrbringens, das heißt jeder Abgabe von einzuschränken. Arzneimitteln zu Dopingzwecken an andere, handelt Angesichts des Ausmaßes, das der Mißbrauch von es sich deshalb vor allem um eine Klarstellung dieser Arzneimitteln zu Dopingzwecken in den letzten Jah- Vorschrift, die jedoch, verbunden mit der erhöhten ren angenommen hat, ist dies, meine Damen und Strafandrohung für ein Doping bei Minderjährigen Herren, nicht nur ein geeigneter Fall für Maßnah- erhebliches Gewicht erhält. men, sondern ein notwendiger Anlaß, um endlich tä- Das Verbot von Verschreibung und Anwendung tig zu werden. von Dopingmitteln geht dennoch über die bisher gül- Vielen Dank. tige Rechtslage hinaus. Die Anwendung von Doping- mitteln durch einen Trainer oder den Betreiber eines Sportstudios soll nunmehr erstmalig von einem ge- Beatrix Philipp (CDU/CSU): Obwohl ich selbst setzlichen Verbot erfaßt werden. Daß aber gerade in keine Erfahrung mit der Einnahme von Doping-Mit- diesem Bereich die Weitergabe von wachstumsstei- teln habe, hat mich die Fraktion der CDU/CSU mit gernden Tröpfchen, Pillchen oder Pülverchen unent- der Aufgabe betraut, zu dem vorliegenden Gesetz- geltlich erfolgen soll, kann ja eigentlich nur zum entwurf der SPD-Fraktion zur Bekämpfung des Schmunzeln anregen. Doping aus gesundheitspolitischer Sicht Stellung zu beziehen. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion brauchen wir zwar kein eigenes, groß angelegtes Dopingbekämp- Zuvor möchte ich aber das im vorliegenden Ge- fungsgesetz, das inhaltlich im Grunde nichts anderes setzentwurf der SPD-Fraktion angesprochene Pro- ist als ein unzureichendes Änderungsgesetz zum blem des Dopingmißbrauchs durch kostenlose Ab- Arzneimittelgesetz, dennoch stimmen wir heute, weil gabe von Arzneimitteln in den Kontext zurückfüh- es guter Brauch ist, der Überweisung in die Fachaus- ren, in den es aus meiner Sicht gehört, nämlich in schüsse zu. den Arzneimittelbereich. Wenn ich den Gesetzent- wurf der SPD-Fraktion richtig verstanden habe, möchten die Damen und Herren der SPD das Arznei- Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Doping, daran besteht mittelgesetz geändert haben. Hier drängt sich förm- kein Zweifel, ist ein Problem, das sowohl im Spitzen- lich die Frage auf, ob es sinnvoll ist, ein neues Gesetz sport als auch im Breitensport und im Bodybuilding- mit eigenem Gesetzestitel zu schaffen, wenn hier- bereich zunehmend an Bedeutung gewinnt. Um die durch lediglich ein bereits bestehendes Gesetz geän- eigene Leistung zu steigern, ist einigen Menschen dert werden soll. jedes Mittel recht. Im Spo rt geht es natürlich darum, zu gewinnen - und das um jeden Preis. Das Fai rness- Das zur Zeit gültige Arzneimittelgesetz, das die gebot gegenüber dem Gegner, das Chancengleich- staatlichen Anforderungen an die Qualität, Unbe- heit voraussetzt, wird bewußt verletzt. Auf den eige- denklichkeit und Wirksamkeit industriell erzeugter nen Körper wird dabei ebenfalls keine Rücksicht ge- Arzneimittel regelt und die Zulassung, den Verkehr nommen. sowie die behördliche Überwachung ordnet, enthält bereits zahlreiche Regelungen, die den Mißbrauch Wie wir alle wissen, hinken die Methoden, das Do- von Doping eingrenzen. ping nachzuweisen, immer hinter dem Erfindungs- reichtum zurück. Laufend werden neue Substanzen Mißbrauchsformen, wie der Verkauf verschrei- entwickelt und der Einnahmerhythmus so variiert, bungspflichtiger Arzneimittel durch Privatpersonen, daß eine Entdeckung nach Möglichkeit ausgeschlos- werden jedoch bislang nach neuerer Rechtsprechung sen ist. im Arzneimittelgesetz nicht ausnahmslos erfaßt. Des- halb beabsichtigt das Bundesministerium für Ge- Äußerst bedenklich erscheint mir auch das, was sundheit in der 7. Novelle zur Änderung des Arznei- sich im Freizeitbereich insbesondere in den Body- mittelgesetzes in § 5 des Arzneimittelgesetzes eine buildingstudios abspielt. Für die Herausbildung eini- Regelung aufzunehmen, nach der folgendes verbo- ger Muskeln mehr wird in Kauf genommen, daß es ten ist: zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden kommt. Nicht immer ist umfangreiches Wissen über Erstens. Arzneimittel zu Dopingzwecken bei Men- die Auswirkungen der Stoffe vorhanden, die Tag für schen in den Verkehr zu bringen, zu verschreiben Tag aufgenommen werden. Aber zumindest eine 11322* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 vage Vorstellung davon, daß das nicht gerade ge- Ich begrüße deshalb, daß Sie nicht ein eigenständi- sundheitsfördernd ist, haben auch die Freizeitsport- ges Dopingrecht schaffen wollen und zudem die ler. Nur, es bewirkt bekanntlich wenig. große Verantwortung der Sportverbände und die Eigenverantwortlichkeit der Sportlerinnen - vor Eine Initiative, des Dopings Herr zu werden, halte allem der erwachsenen - für ihren Körper betonen. ich vom Grundsatz her für begrüßenswert. Es ist aber Von dieser Verantwortung werden die Verbände und die Frage, wie man das am besten anstellt. Wenn wir die Sportlerinnen auch dann nicht entlastet, wenn die Abgabe aller Arzneimittel und Stoffe unter Strafe Ihr Entwurf Gesetz würde. stellen, wenn sie zu Dopingzwecken verwendet wer- den, wie die SPD das vorhat, dann frage ich mich: Zu begrüßen ist zweitens, daß der Gesetzentwurf die Dimension des Problems umreißt, das nicht nur Wer will denn feststellen, ob ein bestimmtes Präparat zur Therapie oder zum Doping eingesetzt werden im Spitzensport existiert, sondern auch - und vermut- soll? Ist das überhaupt kontrollierbar? Lohnt es den lich zunehmend - im Breitensport, in der sportnahen Aufwand solcher Kontrollen? Den grauen und den Freizeitgestaltung und in Bodybuilding-Studios. schwarzen Markt auf Sportplätzen und in Sportein- Drittens ist zu begrüßen, daß Sie auf bedenkliche richtungen trocknen wir dadurch nicht aus. Wer wi ll Interessenkonstellationen im Spo rt hinweisen, die zu denn verhindern, daß weiterhin unter der Laden- Doping führen, und daß Sie die Problematik der theke Dopingpräparate den Besitzer wechseln? unentgeltlichen Abgabe von Mitteln zu Doping- zwecken unter dem Schutz des Vertrauensverhält- Ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß wir das nisses zwischen Sportler und Trainer ansprechen. Da Problem nur dann in den Griff bekommen, wenn es ist nichts zu beschönigen, was bedauerlicherweise uns gelingt, an diejenigen heranzukommen, die die- gerade von seiten von Sportfunktionären und Spo rt ses ganze Zeug schlucken. Ich bin deshalb der Auf- -medizinern viel zu oft geschieht. Auf die Abgren- fassung, daß wir in allererster Linie die Informations- zungsschwierigkeiten des Dopingbegriffs haben Sie politik über die Schäden, die die unkontrollierte Ein- ebenso hingewiesen wie auf die rechtstechnischen nahme von solchen pharmazeutischen Substanzen Fragen eines angemessenen Minderjährigenschut- mit sich bringt, viel deutlicher machen müssen. zes. Die Koalition wird in den nächsten Wochen eine Soweit - so gut! Arzneimittelgesetznovelle auf den Weg bringen. Er- Aber an einem entscheidenden Punkt ist Skepsis ste Vorgespräche dazu haben bereits stattgefunden. angebracht. Sie möchten erreichen, daß den poten- Wir haben vor, in diesem Zusammenhang auch eine tiellen Abgebern von dopenden Substanzen die be- Regelung für die Abgabe von Dopingmitteln zu sondere Verwerflichkeit der kostenlosen Abgabe von schaffen. Allerdings - darauf lege ich Wert - muß das Dopingmitteln an Minderjährige ins Bewußtsein ge- eine praktikable Lösung sein. Diese Regelung muß rückt wird, indem Sie diese Handlungen kriminali- durch eine Verbesserung der Informationspolitik sieren. Aber ob dies durch ein Gesetz erreicht wer- ergänzt werden. Gesetzliche Verbote sind schön und den kann, dessen praktische Anwendbarkeit und gut. Erfolg haben wir aber nur dann, wenn die Spo rt Handhabbarkeit bereits auf den ersten Blick be- -ler selbst bereit sind, auf Leistungssteigerung um trächtliche Probleme aufwirft, darf und muß bezwei- jeden Preis zu verzichten. felt werden. Die Schwierigkeit, die unentgeltliche Abgabe Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nachzuweisen und diese zu kontrollieren, thematisie- Prinzipiell wird sich kaum ein Unterschied ausma- ren Sie nicht. Das wirkliche Problem, daß legal Mittel chen lassen zwischen Sportlerinnen und Bodybuil- mit dopender Wirkung ärztlich verabreicht werden, dern, die sich dopen, und RauschmittelkonsumentIn- schaffen Sie ebensowenig aus der Welt, wie dies nen, die ihren Körper auf andere Weise manipulie- letztlich über das Arzneimittelgesetz begrenzt wird. ren, obgleich die einen den Inbegriff von „gesund", Sie haben ja recht, wenn Sie darauf verweisen, daß „leistungsstark" und „in" und die anderen den von bisher kaum kriminelle Energien nötig waren, um „kaputt", „krank" und „draußen" darstellen. Die an- Klienten im Training Dopingsubstanzen zugänglich gebotenen stimulierenden Substanzen sind so vielfäl- zu machen. Aber richtig und wichtig ist dann auch, tig wie die Motive sie zu konsumieren. Spitzensport- zu diskutieren, ob ein derartiges Gesetz in dem von lerinnen sind aber Trägerinnen und RepräsentantIn- Ihnen ja zutreffend charakterisierten Mi lieu einfach nen einer Leistungsidee und damit positive Vorbil- nur kriminelle Energie beflügelt und sich bei den po- der. Und alle wissen, daß Doping allgegenwärtig ist tentiellen Tätern wegen der erkennbaren Lückenhaf- im Leistungssport. Die Grenzziehung zwischen che- tigkeit der öffentlichen Inte rvention wohl nichts än- misch-pharmazeutischen Produkten, die zu verabrei- dern muß. chen erlaubt ist, und denen, die unter Doping fa llen, ist so tatsächlich, wie die Dopingkontro llen effektiv An die Wirksamkeit von Dopingkontrollen - nur, sind. Doping ist in gewisser Weise ein Sonderfall des um noch einmal auf den Spitzensport, der ja das posi- weltweiten Drogenproblems. tive Vorbild für die Jugend schlechthin ist, zu kom- men - glaubt heute niemand mehr so recht. Schließ- Insofern ist es zu begrüßen, daß die SPD die lich ist die Innovation der Pharmaindustrie uner- Grundsatzfrage erneut aufwirft, ob, wo und wie Poli- schöpflich. Wer wirklich spitzenmäßiges Doping be- tik im Bereich des Doping intervenieren soll und herrscht, wird gerade die Dopingkontrolle bestehen. kann. Es ist also schon angebracht, zu fragen, ob mit Ihrer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11323*

Initiative denn nicht gerade die altbackenen Pro- Man redet über die Sinnkrise im Hochleistungs- dukte in die Fänge der Kontrolleure geraten und ein sport, man weiß aber auch: Dopingmißbrauch ist nur zweigeteiltes Unrechtsbewußtsein gefördert wird. eine von vielen Erscheinungen, die diesen Wertever- fall begleiten. Will man diese Entwicklung wirklich Schließlich sollten die Eltern nicht vergessen wer- bekämpfen, muß man ihre Ursachen beseitigen. Das den, die den Hochleistungssport ihrer Kinder allzuoft Kurieren an Symptomen bleibt immer nur halbherzig aus fehlgeleitetem eigenem Ehrgeiz unterstützen, und löst langfristig das eigentliche Problem nicht. wissend, was da geschieht. Der vorliegende SPD-Gesetzentwurf folgt aber ge- Letztlich ist jedes Medikament, sofern es von nau der im letzten Satz beschriebenen Strategie. einem Sportarzt verordnet ist, legal verabreicht und Sanktionsvorschriften mögen auf nationaler Ebene erworben, auch wenn es dopende Wirkung hat. Be- für die Intentionen des Gesetzentwurfes hilfreich fürchten Sie nicht auch, daß am Ende doch nur Poli- sein. Auf internationalem Gebiet wird der Einfluß auf zeikontrollen in Bodybuilding-Studios stattfinden die Harmonisierung der Anti-Doping-Maßnahmen werden und die Strafandrohung den beabsichtigten kaum über eine Vorbildfunktion hinausgehen. Zweck nicht erreicht, insbesondere Kinder und Ju- gendliche wirkungsvoll vor hyperehrgeizigen Spo rt Die Schuldzuweisung von Dopingmißbrauch ist in -funktionärs- und Elterninteressen zu schützen? Dar- der Begründung des Gesetzentwurfes zu einseitig über möchten wir gerne weiter diskutieren. gefaßt. Nicht die Sportler und Sportlerinnen, nicht die Trainer und Betreuer haben diese Sportwelt ver- ändert, sondern diese hat sie verändert. Der Stellen- Dr. Ruth Fuchs (PDS): Medikamente, die die Lei- wert moralischer und rechtlicher Normen hat sich stungsfähigkeit des menschlichen Organismus stei- durch die Chance, viel Geld zu verdienen, verändert. gern, bieten der legale Pharmamarkt sowie der ille- Diesem Phänomen allein mit Gesetzen begegnen zu gale Schwarzmarkt in unübersehbarer Fülle an. Sie wollen, halte ich nicht für sehr aussichtsreich. werden verschrieben, käuflich erworben, unentgelt- lich weitergereicht. Genutzt von Jugendlichen und Für die Bekämpfung des Dopingmißbrauches im Erwachsenen, um noch leistungsfähiger, noch erfolg- sportnahen Freizeitbereich, in Fitness-Studios und reicher Schul-, Studiums- und Prüfungsstreß zu be- bei jugendlichen Bodybuildern trifft, wenn auch völ- kämpfen bzw. die fast erdrückenden Arbeitsaufga- lig anders motivert - Stichwort: Schönheitsideale -, ben zu bewältigen. eine ähnliche Einschätzung zu. Jeder weiß es, man kritisiert Fehlentwicklungen, Ein weiterer Versuch, diese Fehlentwicklung juri- man stellt auch die Frage nach der Gesundheitsge- stisch in den Griff zu bekommen, bleibt zweifelhaft, fährdung. Trotzdem, diese A rt des Medikamenten- ist aber kein Grund, dem Gesetzentwurf die Zustim- konsums scheint aber nicht so sehr spektakulär, nicht mung zu verweigern. so sehr unmoralisch und verwerflich zu sein. Ge- schieht aber dasselbe im sogenannten Amateurlei- stungssport, sieht die gesellschaftliche Bewe rtung Eduard Lintner Parl. Staatssekretär beim Bundes- ganz anders aus. minister des Innern: Dopingmißbrauch beschädigt unbestritten das Ansehen des Spitzensports und tan- Mit dieser Bemerkung will ich keinesfalls den Do- giert damit natürlich auch die Förderung des Bundes pingmißbrauch im Sport rechtfertigen und die mehr für den Hochleistungssport. Deshalb ist im Grund- oder weniger erfolgreichen nationalen und interna- satz jede Initiative unterstützenswert, die den Spo rt tionalen Bemühungen im Kampf gegen das Dopen dem Ziel der Manipulationsfreiheit näherbringt. Ob im Sport herabsetzen. Tatsache ist: Der Sport vertritt der vorliegende Gesetzentwurf, eine Strafvorschrift unverändert hohe Ideale, wie sie in der Olympischen gegen Doping, dies tatsächlich bewirken kann, er- Idee formuliert wurden, und hält an eigenen Rechts- scheint jedoch fraglich. normen fest, die dieses Selbstverständnis reflektie- ren. Die Gesellschaft hat diese Vorbildrolle des Auf dem Gebiet der Dopingbekämpfung im Sport Sports akzeptiert und damit das Recht, die Realität besteht - das gilt es an dieser Stelle ausdrücklich an- an diesen Ansprüchen zu messen. zuerkennen - ein breiter politischer Grundkonsens. Nur über den einzuschlagenden Weg gibt es manch- Aber in einer Sportwelt, die sich seit Jahrzehnten mal unterschiedliche Auffassungen. Die Bundesre- ständig verändert hat - egal aus welchen Gründen gierung setzt auf die strikte Bindung jeder Förderung und Zwängen -, in der heute Geldranglisten, Werbe- des Spitzensports an die konsequente und nachge- verträge, Siegprämien etc. dominieren und die Kluft wiesene Verhinderung von Doping durch den zu- zwischen armen und reichen Sportlern und Sportar- ständigen Verband. Sie setzt hier, weil bislang erfolg- ten größer werden lassen, hat der Spo rt zunehmend reich, auf die Autonomie und die Selbstreinigungs- auch mit selbstverschuldeten Widersprüchen zu kraft des Sports. kämpfen. In Deutschland wissen die Spitzenverbände um Die Diskussionen um den Marktwert sportlicher diese Haltung und den Zusammenhang zwischen ih- Leistungen, von denen vor allem auch sportfremde ren Anstrengungen im Kampf gegen Doping und der Bereiche profitieren, gefährden die Selbstbestim- Förderung durch den Bund. Die Bundesregierung mung des Sports, und ständige Veränderungen des wird auch künftig an ihrer Entschlossenheit, nur sogenannten Amateurstatus untergraben Werte wie sauberen, manipulationsfreien Spo rt zu fördern, Moral und Fair play. strikt festhalten. 11324* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996

Trotz einzelner verurteilungswürdiger Fälle von nisters wie auch mein persönlicher Auftrag als Dro- Doping darf nicht übersehen werden, daß die Kon- genbeauftragter der Bundesregierung. Aus dieser trolle durch nichtstaatliche Organisationen a lles in al- Sicht begrüße ich grundsätzlich die Zielrichtung des lem funktioniert, was weltweit sehr anerkannt wird. Gesetzentwurfes. Daß es immer wieder Ausreißer gibt, entspricht der Lassen Sie mich aber kritisch anfügen: Ich halte es - Erfahrung, daß es nie möglich sein wird - auch nicht für unerträglich, auf der einen Seite die Straffreiheit mit dem Strafrecht -, jedweden Mißbrauch zu verhin- bei Besitz und Konsum geringer Mengen selbst har- dern. Sanktionen auf der Ebene der Förderung und ter, suchtbildender Drogen zu propagieren und ande- Ausübung des Spitzensports sind nach allen Erfah- rerseits Strafverschärfungen beim Arzneimittelmiß- rungen noch die wirksamste Methode, Abstinenz zu brauch, und zwar nur für den Fall des Dopings im erzwingen. Sport, zu fordern. Wir müssen zusammen die Prinzi- So sind Verbandsstrafen, in der Regel lange Sper- pien einer glaubwürdigen Politik beachten, wenn wir ren, für Spitzensportler wegen der damit verbunde- Erfolge auf diesem Gebiet wirklich wollen. nen Einnahmeeinbußen wesentlich einschneidender als jede Strafbewehrung. Bei den von den Spitzen- verbänden angestellten Trainern und sonstigen haupt- und nebenamtlichen Betreuern berechtigt ein Verstoß gegen das Dopingverbot zur Kündigung aus Anlage 3 wichtigem Grund. Für nicht angestellte Ärzte gilt Standesrecht. Antwort Sie sehen, daß bereits wirksame Instrumentarien des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Frage vorhanden sind, um nachgewiesene Dopingprakti- des Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) ken zu ahnden. (F.D.P.) (Drucksache 13/5565 Frage 3): In welcher Weise ist gewährleistet, daß die Stiftung „Haus der Die deutschen Sportverbände bleiben aufgefor- Behinderten" in Bonn, an deren Stiftungskapital der Bund betei- dert, das Anti-Dopingsystem weiter zu verbessern. ligt ist, ihren Auftrag, modellartig zu wirken, erfüllt, und lassen Wir unterstützen diese Bemühungen uneinge- nach Ansicht der Bundesregierung die Mitarbeiter nach Zahl schränkt und werden die Spitzenverbände nicht aus und Qualifikation eine sachgerechte Führung der Geschäfte er- dem Obligo der Mitwirkung bei der Dopingbekämp- warten? fung entlassen. Der Bundesminister des Innern wird Die Stiftung Haus der Behinderten Bonn verfolgt den Deutschen Sportbund, seine Mitgliedsverbände das Ziel, die medizinische, berufliche und soziale und das NOK in dem Bestreben unterstützen, überall Eingliederung der Behinderten zu fördern. In dem Wettkampfkontrollen durchzusetzen und erkannte von ihr unterhaltenen Gustav-Heinemann-Haus wird Mängel in der Umsetzung zu beheben. Konkret: Bei diese Zielsetzung verfolgt mit einigen Sportverbänden fehlt die Verankerung der DSB-Auflagen in der Satzung. Die Bundesregierung - einem kinderneurologischen Früherkennungszen- geht davon aus, daß diese Verbände die Veranke- trum, rung unverzüglich nachholen. - einem integrativ arbeitenden Kinderga rten, Aber auch international muß mit aller Kraft die Ni- Förderkursen für noch nicht berufsreife psychisch veaugleichheit der Kontro llen geschaffen werden. - Das sind wir der Chancengleichheit für die deut- behinderte Jugendliche, schen Sportler schuldig, ebenso wie dem Ansehen - einer Begegnungsstätte für behinderte und nicht- des internationalen Spitzensports. behinderte Menschen Nach der Begründung zielt der Gesetzentwurf auch und auf den Mißbrauch durch unentgeltliche Abgabe von - einer Beratungsstelle für Behinderte. Arzneimitteln in Fitneßstudios und beim Bodybuil- ding. Der Verkauf von Anabolika u. ä. in Fitneßzen- Die in der Stiftungssatzung besonders herausge- tren ist aber schon heute strafbewehrt; denn es ist stellte Aufgabe der Begegnung von behinderten und weltfremd, anzunehmen, daß die unentgeltliche Ab- nichtbehinderten Menschen wird durch Veranstal- gabe in diesem Bereich eine nennenswerte Rolle tungen wie Konzerte, Theatervorführungen und spielt. In der Praxis dürfte diese Gesetzeslücke eher Kunstausstellungen gefördert. 1996 werden rd. unerheblich sein. Damit wird aber das Hauptproblem 120 Veranstaltungen dieser Art durchgeführt. Dar- deutlich, daß nämlich der Arzneimittelmißbrauch in über hinaus ist das Gustav-Heinemann-Haus Heim- erster Linie eine Frage des Gesetzesvollzugs ist. Hier stätte für 22 Hobby-Gruppen mit über 900 behinder- sind vor allem die Bundesländer gefordert. ten und nichtbehinderten Mitgliedern. Wir sind Teil einer Gesellschaft, in der der schnelle Durch die Verzahnung der genannten Bereiche in Griff zur Pille und die Akzeptanz von Tabletten-, diesem Haus ist eine bis heute immer noch in der Rauschmittel- und Drogenmißbrauch ständig zuge- Bundesrepublik einzigartige Einrichtung entstanden, nommen haben. Dies ist die eigentliche Herausforde deren modellhafter Charakter beispielhaft für viele rung für Politik und Gesellschaft. In den Köpfen vor andere Einrichtungen war. Auch aus dem Ausland allem der jungen Menschen muß das als Fehlverhal- haben Vertreter von bisher über 60 Ländern das ten, als anormales Verhalten wieder bewußt gemacht Haus besucht und sich über seine Arbeitsweise infor- werden. Das ist das besondere Anliegen des Sportmi- miert. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. September 1996 11325*

Nach Auffassung der Bundesregierung, die sowohl ten mit hohem Engagement. Nicht zuletzt aufgrund den Vorsitz im Stiftungsrat wie auch den Vorsitz im der hohen Kompetenz und des vorerwähnten Enga- Vorstand innehat, können die dem Gustav-Heine- gements der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es mann-Haus gestellten Aufgaben mit dem zur Verfü- bisher gelungen, trotz knapper Personalausstattung gung stehenden Personal sachgerecht erfüllt werden. das eingangs dargestellte vorbildliche Leistungs- Die Mitarbeiter verfügen über die für ihre jewei ligen niveau zu gewährleisten und damit den Stiftungs- Aufgaben erforderlichen Qualifikationen und arbei- zweck vollinhaltlich zu erfüllen.