Plenarprotokoll 13/113 (Zu diesem Protokoll folgt ein Nachtrag)

Deutscher

Stenographischer Bericht

113. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Inhalt:

Begrüßung des Präsidenten des Makedo-- - Zweite und dritte Beratung des von nischen Parlaments, Herrn Tito Petkovski, der Fraktion der SPD eingebrachten und seiner Delegation 10007 A Entwurfs eines Gesetzes zur Wie- derherstellung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Ar- Glückwünsche zum Geburtstag der Abge beitskämpfen (Drucksachen 13/715, ordneten Hanna Wolf (München) . . . 10007 B 13/2727) 10008B c) Zweite und dritte Beratung des von Erweiterung und Abwicklung der Tages den Abgeordneten Dr. Heidi Knake ordnung 10007 B Werner, Petra Bläss und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Absetzung von Tagesordnungspunkten 10007 D Gesetzes zur Änderung des Arbeits- förderungsgesetzes - Nichtberück- sichtigung der Kirchensteuer in den Tagesordnungspunkt 3: neuen Ländern (Drucksachen 13/1843, 13/3206) 10008 C a) Erste Beratung des von den Fraktionen Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 10008 C der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- Dr. PDS 10009B form der Arbeitsförderung (Arbeits- Adolf Ostertag SPD 10012 C förderungs-Reformgesetz) (Drucksache (Bremen) BÜNDNIS 90/ 13/4941) 10008A DIE GRÜNEN 10014C, 10017D, 10018 C b) - Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller Dr. Renate Hellwig CDU/CSU 10016D, 10036B (Berlin) und den weiteren Abge- Dr. Renate Hellwig CDU/CSU 10017 C ordneten der PDS eingebrachten Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 10018B Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Dr. F.D.P 10018D, 10034B derung des Arbeitsförderungsge- setzes (§ 116) (Drucksachen 13/581, Dr. Heidi Knake-Werner PDS 10021 C 13/2727) 10008B Julius Louven CDU/CSU 10023 B Renate Jäger SPD 10025 D - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Annelie Bunten- Dr. CDU/CSU 10027 B bach, Kerstin Müller (Köln) und der Konrad Gilges SPD 10029D, 10034 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Gisela Babel F.D.P 10031C eingebrachten Entwurfs eines Geset- Karl-Josef Laumann CDU/CSU 10032 B zes zur Änderung des Arbeitsförde- rungsgesetzes (§ 116) (Drucksachen SPD 10035A, 10038 A 13/691, 13/2727) 10008B Dr. Norbert Blüm CDU/CSU . . . . . 10037 C

II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. , Donnerstag, den 20. Juni 1996

Tagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa- Überweisungen im vereinfachten Verfah- nitz, (Köln), weiterer ren Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den wirtschaftlichen Aufbau c) Erste Beratung des von der Bundesre- Ostdeutschlands voranbringen (Druck gierung eingebrachten Entwurfs eines sache 13/4702) 10039A Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer- b) Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa- Abkommen vom 17. Juli 1995 zur nitz, Manfred Hampel, weiterer Abge- Gründung einer Assoziation zwischen ordneter und der Fraktion der SPD: der Europäischen Gemeinschaft und Einsetzung eines Ausschusses Aufbau ihren Mitgliedstaaten einerseits und Ost (Drucksache 13/4572) 10039 B der Tunesischen Republik anderer- seits (Drucksache 13/4790) 10071 A in Verbindung mit d) Erste Beratung des von der Bundesre- Zusatztagesordnungspunkt 2: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Antrag der Abgeordneten Werner 16. November 1995 zwischen der Bun- Schulz (Berlin), Antje Hermenau, wei- desrepublik Deutschland und der So- terer Abgeordneter und der Fraktion zialistischen Republik Vietnam zur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neue Im- Vermeidung der Doppelbesteuerung pulse für den Aufbau Ost (Drucksache auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- 13/4946) 10039B kommen und vom Vermögen (Druck- in Verbindung mit sache 13/4791) 10071B e) Erste Beratung des von der Bundesre- Zusatztagesordnungspunkt 3: gierung eingebrachten Entwurfs eines Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul - Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Ja- Krüger, , weiterer Abge- nuar 1995 zwischen der Bundesrepu- ordneter und der Fraktion der CDU/ blik Deutschland und der Republik CSU sowie der Abgeordneten Jürgen Peru über die Förderung und den Türk, Dr. , wei- gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- terer Abgeordneter und der Fraktion gen (Drucksache 13/4792) 10071 B der F.D.P.: Aufbau Ost vorantreiben (Drucksache 13/4979) 10039 C f) Erste Beratung des von der Bundesre- SPD 10039C, 10060 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Ja- Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 10041 C, 10067 A nuar 1994 zwischen der Bundesrepu- (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE blik Deutschland und der Republik GRÜNEN 10043 C Namibia über die Förderung und den Dr. F.D.P 10045A gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- gen (Drucksache 13/4793) 10071 C Jürgen Türk F.D.P. 10046 C Rolf Schwanitz SPD 10047 A g) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ernst Schwanhold SPD 10047 B Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. Fe- Werner Labsch SPD 10049D bruar 1992 zwischen der Bundesrepu- Dr. PDS 10050 B blik Deutschland und der Republik Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär Litauen über die Förderung und den BMWi 10052 B gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- gen (Drucksache 13/4794) 10071 C Jörg-Otto Spiller SPD 10052 C SPD 10054 B h) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 10054D, 10056 D Gesetzes zu dem Abkommen vom Walter Hirche F.D.P 10055 C 30. März 1994 zwischen der Bundes- Dr. Christa Luft PDS 10056A, 10064 C republik Deutschland und dem Staat Kuwait über die Förderung und den Gunnar Uldall 10057D, 10060 C CDU/CSU . . gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- Wolfgang Thierse SPD 10059 C gen (Drucksache 13/4795) 10071C 10061 C Christian Müller (Zittau) SPD i) Erste Beratung des von der Bundesre- Dr. Hermann Pohler CDU/CSU 10063 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Barbara Höll PDS 10063 D Gesetzes zu dem Abkommen vom Ernst Schwanhold SPD 10065B, 10067 D 7. März 1995 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und der Republik Manfred Kolbe CDU/CSU 10068 B Korea über den Luftverkehr (Druck- Gerhard Schulz (Leipzig) CDU/CSU 10069 D sache 13/4797) 10071 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 III j) Antrag des Bundesministeriums der e) und f) Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Beschlußempfehlungen des Petitions- Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in ausschusses: Sammelübersichten 124 die Veräußerung der ehemaligen US- und 126 zu Petitionen (Drucksachen Wohnsiedlung Hügelstraße in Frank- 13/4881, 13/4883) 10073A furt am Main (Drucksache 13/4711) . 10071D k) Antrag des Bundesministeriums der Zusatztagesordnungspunkt 4: Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Aktuelle Stunde Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in betr. bundespolitische Konsequenzen die Veräußerung der ehemaligen US- zur Rettung des Wattenmeeres . . . 10073 A Edwards-Wohnsiedlung in Frankfurt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ am Main (Drucksache 13/4751) . . . 10071D NEN 10073B 1) Antrag des Bundesministeriums der (Nordstrand) Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 CDU/CSU 10074 B Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen US- Dietmar Schütz (Oldenburg) SPD 10075B Wohnsiedlung Platenstraße in Frank- Günther Bredehorn F.D.P. 10076 B furt am Main (Drucksache 13/4752) 10072A Eva Bulling-Schröter PDS 10077 B m) Antrag der Abgeordneten Albert Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE Schmidt (Hitzhofen), Kristin Heyne und GRÜNEN 10078A der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Walter Hirche, Parl. Staatssekretär BMU 10079B NEN: Wirtschaftlichkeit der ICE- Strecke Nürnberg-Ingolstadt-Mün- Klaus Lennartz SPD 10080 C chen (Drucksache 13/4962) 10072A Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 10081 C Ulrike Mehl SPD 10082 D - Tagesordnungspunkt 22: Kurt-Dieter G rill CDU/CSU 10084 A Abschließende Beratungen ohne Aus- Susanne Kastner SPD 10085 B sprache a) Zweite Beratung und Schlußabstim- Tagesordnungspunkt 8: mung des von der Bundesregierung Antrag der Abgeordneten Hartmut eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Koschyk, Andreas Krautscheid, weite- zu dem Abkommen vom 20. März 1995 rer Abgeordneter und der Fraktion der zwischen der Regierung der Bundes- CDU/CSU, der Abgeordneten Volker republik Deutschland und der Re- Neumann (Bramsche), , gierung der Republik Polen über die weiterer Abgeordneter und der Frak- Seeschiffahrt (Drucksachen 13/4046, tion der SPD, der Abgeordneten Gerd 13/4896) 10072B Poppe, Wolfgang Schmitt (Langenfeld) b) Zweite Beratung und Schlußabstim- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE mung des von der Bundesregierung GRÜNEN sowie der Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dr. , Dr. Burkhard zu dem Abkommen vom 24. April 1995 Hirsch, weiterer Abgeordneter und zwischen der Regierung der Bundes- der Fraktion der F.D.P.: Die Menschen- republik Deutschland und der Regie- rechtssituation in Tibet verbessern rung der Demokratischen Volksrepu- (Drucksache 13/4445) 10086C blik Algerien über die Seeschiffahrts- Hartmut Koschyk CDU/CSU 10086 C beziehungen (Drucksachen 13/4047, Volker Neumann (Bramsche) SPD 10088 C 13/4897) 10072B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10091 D c) Zweite Beratung und Schlußabstim- Dr. F.D.P. . 10093C, 10104 D mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Steffen Tippach PDS 10094 C zu dem Vertrag vom 13. Juli 1995 zwi- Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜ schen der Bundesrepublik Deutsch- NEN 10095 B land und der Tschechischen Republik Dr. , Bundesminister AA . 10096 B über den Bau einer Grenzbrücke an 10098 A der gemeinsamen Staatsgrenze im SPD Zuge der Europastraße E 49 (Druck- Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P 10100 B sachen 13/4338, 13/4936) 10072C Andreas Krautscheid CDU/CSU . . . 10101A d) Beschlußempfehlung des Rechtsaus- Dr. F.D.P 10102 D schusses: Übersicht 5 über die dem Günter Verheugen SPD 10103 C Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 10105C sungsgericht (Drucksache 13/4732) . 10072D PDS 10107 B IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Tagesordnungspunkt 6: (Augsburg), Klaus Röhl, weiteren Ab- Große Anfrage der Abgeordneten Ott- geordneten und der Fraktion der F.D.P. mar Schreiner, Karl Hermann Haack eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Extertal), weiterer Abgeordneter und zur Änderung des Altschuldenhilfe- der Fraktion der SPD: Arbeitswelt Gesetzes (Drucksache 13/4949) . . . 10121D und Behindertenpolitik (Drucksachen f) Antrag der Abgeordneten Achim Groß- 13/1333, 13/2441) 10107 D mann, Norbert Formanski, weiterer Karl Hermann Haack (Extertal) SPD 10107D, Abgeordneter und der Fraktion der 10111C SPD: Anhebung der Freibetragsre- Heinz Schemken CDU/CSU . 10110B, 10111D gelungen nach dem Wohnungsbau- förderungsgesetz 1994 (Drucksache (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE 13/3665) 10122A GRÜNEN 10112B, 10120C g) Antrag der Abgeordneten Achim Groß- Uwe Lühr F.D.P 10113D mann, Walter Schöler, weiterer Abge- Petra Bläss PDS 10115B ordneter und der Fraktion der SPD: Wolfgang Meckelburg CDU/CSU 10116B Steuerliche Förderung im Mietwoh- Antje-Marie Steen SPD 10117 C nungsbau zielgenau gestalten (Druck sache 13/3918) 10122A Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU 10118D, 10121A h) Antrag des Abgeordneten Klaus-Jür- gen Warnick und der Gruppe der PDS: CDU/CSU . . . 10119D Umfassende Reform der Wohnungs- förderung und Erarbeitung eines Tagesordnungspunkt 7: Wohngesetzbuches (Drucksache 13/ Wohnungspolitische Debatte 4725) 10122A a) Unterrichtung durch die Bundesregie- i) Antrag des Abgeordneten Klaus-Jür- rung: Wohngeld- und Mietenbericht - gen Warnick und der Gruppe der PDS: (Drucksache 13/4254) ...... 10121 B Beendigung der Zwangsprivatisierung b) Beschlußempfehlung und Bericht des von kommunalen und genossenschaft- Ausschusses für Raumordnung, Bau- lichen Wohnungen in den ostdeut- wesen und Städtebau zu der Unter- schen Bundesländern durch Änderung richtung durch die Bundesregierung: des Altschuldenhilfe-Gesetzes (Druck Raumordnungsbericht 1993 (Druck--sache 13/4837) 10122B sachen 12/6921, 13/1740) 10121 C c) Beschlußempfehlung und Bericht des in Verbindung mit Ausschusses für Raumordnung, Bau- wesen und Städtebau zu der Unter- Zusatztagesordnungspunkt 5: richtung durch die Bundesregierung: - Zweite und dritte Beratung des von Großsiedlungsbericht 1994 (Druck- den Abgeordneten Dietrich Auster- sachen 12/8406, 13/1741) 10121C mann, Dr. Peter Ramsauer, weiteren d) Beschlußempfehlung und Bericht des Abgeordneten und der Fraktion der Ausschusses für Raumordnung, Bau- CDU/CSU sowie der Abgeordneten wesen und Städtebau Birgit Homburger, Jürgen Koppelin - zu der Unterrichtung durch die Bun- und der Fraktion der F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur desregierung: Bericht der Exper- Än- (Druck- tenkommission Wohnungspolitik derung des Baugesetzbuchs sachen 13/1733, 13/4978) 10122B - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Stellungnahme der - Zweite und dritte Beratung des von Bundesregierung zum Bericht der Ex- den Abgeordneten Dietmar Schütz pertenkommission Wohnungspolitik (Oldenburg), Volker Jung (Düsseldorf), weiteren Abgeordneten und der Frak- - zu dem Entschließungsantrag der tion der SPD eingebrachten Entwurfs Abgeordneten Franziska Eichstädt eines Gesetzes zur Änderung des Bau- Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS gesetzbuchs (Drucksachen 13/1736, 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrich- 13/4978) 10122C tung durch die Bundesregierung: Be- richt der Expertenkommission Woh- - Zweite und dritte Beratung des vom nungspolitik Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetz- (Drucksachen 13/159, 13/1268, 13/1312, buchs (Drucksachen 13/2208, 13/4978) 10122C 13/4533) 10121C Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . 10122 D e) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Werner SPD 10124 D Dörflinger, weiteren Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der CDU/CSU sowie DIE GRÜNEN 10126D, 10136A, der Abgeordneten Hildebrecht Braun 10147D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 V

Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. 10127 C, D, b) Beschlußempfehlung und Bericht des 10138D Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technik- Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 10128D folgenabschätzung Klaus-Jürgen Warnick PDS 10131 B - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 10132D Horst Kubatschka, Dr. , Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS weiterer Abgeordneter und der Frak- 90/DIE GRÜNEN 10135B, 10141D tion der SPD: Energieforschung Achim Großmann SPD . . 10135C, 10140D - zu dem Antrag der Abgeordneten Simone Probst, Elisabeth Altmann Norbert Formanski SPD 10136D (Pommelsbrunn), weiterer Abgeord- Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10137D DIE GRÜNEN: Energie für die Zu- Walter Schöler SPD 10138 C kunft Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 10140C, - zu dem Antrag der Abgeordneten 10148A , Hans-Otto Schmie- deberg und der Fraktionen der CDU/ 10124 A Norbert Formanski SPD CSU und F.D.P.: Forschung zur Konrad Gilges SPD 10142 B Sicherung der Energieversorgung Dr. Barbara Hendricks SPD 10143 B und für ein besseres Klima Albrecht Papenroth SPD 10145 A (Drucksachen 13/1424, 13/1935, 13/ 3610, 13/4210) 10163 D Rolf Rau CDU/CSU 10146D c) Beschlußempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 5: Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, - Forschung, Technologie und Technik- Erste Beratung des von der Bundesre- folgenabschätzung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur stärkeren Berücksichti- - zu dem Antrag der Abgeordneten gung der Schadstoffemissionen bei der Christian Lenzer, , Besteuerung von Personenkraftwagen weiterer Abgeordneter und der Frak- (Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz tion der CDU/CSU sowie der Abge- 1997) (Drucksache 13/4918) 10144 B ordneten Dr.-Ing. Karl-Hans Laer- mann, Dr. Karlheinz Guttmacher und Hansgeorg Hauser, Parl. Staatssekretär der Fraktion der F.D.P.: Rolle BMF 10149C Deutschlands in der internationalen Monika Ganseforth SPD 10151A Raumfahrt Detlev von Larcher SPD 10151 C - zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Lothar Fischer (Homburg), Dr. Peter NEN 10153D Glotz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zur Zukunft F.D.P. 10155 A der deutschen und europäischen Detlev von Larcher SPD . . . 10155D, 10159B Raumfahrt Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE (Drucksachen 13/3497, 13/3974, 13/ GRÜNEN 10156A 4609) 10164 A Dr. Barbara Höll PDS 10157 B in Verbindung mit CDU/CSU 10158 C Heide Mattischeck SPD 10161 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Horst Friedrich F.D.P. 10161 D Antrag der Abgeordneten Tilo Braune, Dr. Edelbert Richter, weiterer Abgeord- Tagesordnungspunkt 9: neter und der Fraktion der SPD: Neue Innovationsdebatte Akzente bei der Förderung der Indu- strieforschung in den neuen Ländern a) Große Anfrage der Abgeordneten Josef (Drucksache 13/4967) 10164B Hollerith, Christian Lenzer, weiterer Abgeordneter und Fraktion der der Tagesordnungspunkt 10: CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. , Horst Friedrich, wei- Antrag der Abgeordneten Gerd An- terer Abgeordneter und der Fraktion dres, Christel Deichmann, weiterer Ab- der F.D.P.: Stärkung und Förderung geordneter und der Fraktion der SPD: innovativer kleiner und mittlerer Bericht des Beauftragten der Bun- Unternehmen (Drucksachen 13/3542, desregierung für Aussiedlerfragen 13/4673) . . 10163D (Drucksache 13/3336) 10165B VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Tagesordnungspunkt 11: Tagesordnungspunkt 14: a) Erste Beratung des von der Bundes- Erste Beratung des von den Fraktionen regierung eingebrachten Entwurfs der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- eines Gesetzes zur Reform des ten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechts- derung des Gesetzes über die Alters- reformgesetz) (Drucksache 13/4899) . 10165 C sicherung der Landwirte (Drucksache 13/4947) 10165D b) Antrag der Abgeordneten Rita Grieß- Nächste Sitzung 10166C haber, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Berichtigung 10166 tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ge- setzliche Neuregelung des Kind- Anlage 1 schaftsrechts (Drucksache 13/3341) 10165C Liste der entschuldigten Abgeordneten . 10167A * Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10007

113. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ und Kollegen! Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet. DIE GRÜNEN: Bundespolitische Konsequenzen zur Rettung des Wattenmeeres Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte 5. - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten , Dr. Peter Ramsauer, , ich den Präsidenten des makedonischen Parlaments, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU Herrn Tito Petkovski, und seine Delegation, die auf sowie der Abgeordneten Birgit Homburger, Jürgen Kop- der Tribüne Platz genommen haben, ganz herzlich pelin, Hildebrecht Braun (Augsburg), Dr. Klaus Röhl und begrüßen. der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - Drucksachen (Beifall im ganzen Hause) 13/1733, 13/4978 - Mit viel Sympathie und Bewunderung haben wir - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Volker Jung (Düsseldorf), die positive Entwicklung Ihres Landes unter den Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Frak- schwierigen Bedingungen der letzten Jahre mitver- tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur folgt und freuen uns sehr über die Gelegenheit, durch Änderung des Baugesetzbuchs - Drucksachen 13/1736, die vielfältigen Begegnungen und Gespräche anläß- 13/4978 - lich Ihres Besuches, Herr Präsident, unsere Beziehun- - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge- gen zu Makedonien weiter vertiefen zu können. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - Drucksache 13/2208, 13/4978 - Es ist gut zu wissen, daß der Krieg in Ihrem Nach- 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Tilo Braune, barland zu Ende ist, aber wir wissen auch, daß der Dr. Edelbert Richter, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Neue Akzente bei der Frieden noch nicht gesichert ist. Wir hoffen, daß die Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern ganze Region befriedet wird und daß Sie zu norma- - Drucksache 13/4967 - len Lebensverhältnissen zurückkehren können. 7. Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Seien Sie sich unserer Unterstützung in diesem Pro- GRÜNEN: Dauerhafte Beschäftigungen sozialversichern zeß gewiß. - Drucksache 13/4969 - 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar Schultz Wir wünschen Ihnen einen gewinnbringenden Be- (Köln), Ingrid Becker-Inglau, Adelheid Tröscher, weiterer such und uns weiterhin gute parlamentarische Bezie- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Siedlungspolitik mit hungen. Herzlich willkommen! der Agenda von Habitat II in Einklang bringen - Druck- sache 13/4966 - (Beifall im ganzen Hause) 9. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Änderung des .,Sommersmog-Gesetzes" (Gesetz zur Änderung des Bun- Nachträglich möchte ich der Kollegin Hanna Wolf des-Immissionsschutzgesetzes vom 19. Juli 1995) - Druck- (München), die am 14. Juni ihren 60. Geburtstag sache 13/4974 - feierte, die herzlichsten Glückwünsche des Hauses Von der Frist für den Beginn der Beratung soll aussprechen. - soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung (Beifall) und der Zusatzpunktliste erforderlich ist - abgewi- chen werden. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in Nach der Kernzeit und den Beratungen ohne Aus- der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: sprache soll zunächst die Aktuelle Stunde zur Ret- 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz tung des Wattenmeeres stattfinden. Hieran anschlie- (Berlin), Antje Hermenau, Vera Lengsfeld, weiterer Abge- ßend soll der Antrag zur Menschenrechtssituation in ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tibet beraten werden. Die ursprünglich unmittelbar Neue Impulse für den Aufbau Ost - Drucksache 13/4946 - nach der Kernzeit vorgesehene Beratung des Kraft- 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr-Ing. Paul Krü- fahrzeugsteuer-Änderungsgesetzes soll erst nach der ger, Gunnar Uldall, Dr. Hermann Pohler, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- wohnungspolitischen Debatte aufgerufen werden. neten Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 7 j - das Aufbau Ost vorantreiben - Drucksache 13/4979 - ist eine der Vorlagen aus der wohnungspolitischen 10008 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Debatte -, die Tagesordnungspunkte 12a bis 12c, c) Zweite und dritte Beratung des von den Abge- „Expo 2000", sowie der Tagesordnungspunkt 13, ordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Petra Bläss Beschlußempfehlung zur „Errichtung einer Otto- und der Gruppe der PDS eingebrachten Ent- von-Bismarck-Stiftung", und die Tagesordnungs- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des punkte 21a und b, die ohne Debatte vorgesehen Arbeitsförderungsgesetzes - Nichtberück- waren, abgesetzt werden. sichtigung der Kirchensteuer in den neuen Ländern Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. - Drucksache 13/1843 - (Erste Beratung 56. Sitzung) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der schusses für Arbeit und Sozialordnung CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs (11. Ausschuß) eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsför- - Drucksache 13/3206 - derung (Arbeitsförderungs-Reformgesetz - Berichterstattung: AFRG) Abgeordnete Marieluise Beck (Bremen) - Drucksache 13/4941 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die —Überweisungsvorschlag: gemeinsame Aussprache eine Zeit von zwei Stunden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Innenausschuß Dann ist das so beschlossen. Rechtsausschuß Finanzausschuß Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundes- Ausschuß für Wi rtschaft minister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß Blüm. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Herren! Das Arbeitsförderungsgesetz ist 27 Jahre Technologie und Technikfolgenabschätzung alt. Es hat große Verdienste. Es hat den Strukturwan- Haushaltsausschuß del begleitet und unterstützt. Seine größte Bewäh- b) - Zweite und dritte Beratung des von dem rungsprobe hat es in Sachen deutsche Einheit be- Abgeordneten Manfred Müller (Berlin) und standen. Über Nacht stand die Arbeitsmarktpolitik den weiteren Abgeordneten der PDS ein- auf der Seite derjenigen, die ihre Arbeitsplätze verlo- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ren haben. Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes Trotz all dieser Verdienste - das Gute muß dem (§ 116) Besseren weichen. - Drucksache 13/581 - (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Erste Beratung 25. Sitzung) DIE GRÜNEN) - Zweite und dritte Beratung des von den Das Arbeitsförderungsgesetz hat zehn Novellen er- Abgeordneten Annelie Buntenbach, Kerstin lebt. Nach hundert Veränderungen ist es kaum noch Müller (Köln), Elisabeth Altmann und der lesbar. Die Gefahr ist groß, daß man vor lauter Bäu- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- men den Wald nicht mehr sieht. Deshalb machen wir brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- eine Reform und kein Reförmchen. Das ist eine Ge- rung des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116) neralüberholung und keine Reparatur. - Drucksache 13/691 - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Erste Beratung 25. Sitzung) Reform ist für mich immer eine Mischung aus Erhal- - Zweite und dritte Beratung des von der ten und Verändern. Wir machen nicht Tabula rasa. Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs Aber wir gießen auch nicht die Unveränderbarkeit in Beton. eines Gesetzes zur Wiederherstellung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Die Arbeitsmarktpolitik ist wichtig und unver- Arbeitskämpfen zichtbar. Dennoch - das sage ich gerade an die - Drucksache 13/715 - Adresse der SPD - schafft die Arbeitsmarktpolitik keine Arbeitsplätze. Sie flankiert, aber sie schafft die (Erste Beratung 25. Sitzung) Arbeitsplätze nicht. Das AFG ersetzt nicht die Ver- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- antwortung der Unternehmer für Arbeitsplätze. schusses für Arbeit und Sozialordnung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (11. Ausschuß) Das AFG ersetzt nicht die Verantwortung der So- - Drucksache 13/2727 - zialpartner für Arbeitsplätze. Das AFG ersetzt nicht Berichterstattung: die Verantwortung von Regional-, Wirtschafts- und Abgeordneter Adolf Ostertag Finanzpolitik. Die Arbeitsmarktpolitik erfüllt ihre Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10009

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Aufgabe durch die Reform des Arbeitsförderungsge- Dauer der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit nur setzes. um einen Monat verkürzen, wäre zum einen dem Ar- beitslosen geholfen und brächte zum anderen eine Wir sparen und gestalten. Machen Sie den Erfolg Entlastung von 7 Milliarden DM. Ich wiederhole: Ein einer Politik nicht allein davon abhängig, wieviel Monat weniger bringt 7 Milliarden DM, das heißt Geld verteilt wird. Das ist die bevorzugte Kategorie einen halben Prozentpunkt. der SPD, nämlich die Geldmenge zum Maßstab für Qualität zu machen. Es kommt nicht nur auf Geld an. Deshalb meine Aufforderung auch an die Arbeit- Es kommt auf Geist und Ideen an. Wenn das Geld geber: Melden Sie jede offene Stelle schnell dem Ar- darüber entscheiden würde, müßten die reichsten beitsamt, und zwar nicht übermorgen, sondern Leute die intelligentesten sein. Das sind sie aber heute! Wir haben keinen Tag für Einstellungen zu nicht. Das sagt noch nicht einmal die SPD. verlieren. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn das Geld knapp wird, dann muß man spar- sam mit dem Geld umgehen. Insofern sind knappe Am schwersten haben es bei der Vermittlung die Kassen auch eine Geburtshilfe für neue Ideen. Bevor Langzeitarbeitslosen. In der Statistik zählen wir die wir eine Mark ausgeben, müssen wir zweimal über- Fälle, wobei dieses Wort einen Zug von Zynismus legen, ob sie an der richtigen Stelle ankommt. Inso- und Unmenschlichkeit hat. Die Betroffenheit der Ar- fern geht es auch um die Zielgenauigkeit und Effek- beitslosen und Härte der Arbeitslosigkeit sind näm- tivität der Hilfen. lich höchst unterschiedlich. Zwei Drittel der Arbeits- losen sind unter sechs Monaten arbeitslos, 30 Prozent Der erste Grundsatz, auch für die Arbeitsmarktpo- sogar unter drei Monaten. Deren Schicksal und de- litik: Selbsthilfe ist besser als Fremdhilfe. Zweitens: ren Lage ist nicht mit denjenigen zu vergleichen, die Arbeit ist besser als Unterstützung. Lohn aus Arbeit lange arbeitslos sind; das sind ein Drittel. Es macht ist besser als jedes Arbeitslosengeld. einen großen Unterschied, ob ich drei Jahre oder drei Monate arbeitslos bin. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- Deshalb: Konzentration auf diejenigen, die es be- statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Enkel- sonders schwer haben. Dies geschieht zum einen mit mann? unserem Langzeitarbeitslosenprogramm, das sehr er- folgreich und milliardenschwer ist. Zudem wurden Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Trainingsmaßnahmen neu aufgenommen. Sozialordnung: Gut. Ich möchte nur darauf aufmerk- sam machen, daß es bei der Einbringung nicht üblich Wir wollen den Langzeitarbeitslosen auch helfen, ist, Zwischenfragen zu stellen. Aber ich bin großzü- ihre Eignung zu testen. Wir wollen ihnen bei der Be- gig. Bitte schön. werbung helfen. Es geht darum, Resignation zu ver- meiden. Es geht darum, daß die Langzeitarbeitslosen nicht in einem toten Winkel der Aufmerksamkeit, in Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Ich bedanke mich, einer dunklen Ecke der Resignation verharren. Herr Minister. Vielleicht können Sie folgendes auf- klären: Momentan ist auf dem Monitor zu lesen, daß Deshalb bieten wir einen Eingliederungsvertrag wir zur Zeit das „Arbeitgeberförderungsgesetz" be- an. Das ist neu. Ich empfehle ihn den Personalchefs handeln. Hat die Bundesregierung möglicherweise sowie den Betriebs- und Personalräten. Bei dem, der den Titel des Gesetzes geändert? einen Langzeitarbeitslosen einstellt, übernimmt die (Heiterkeit bei der PDS und der SPD) Bundesanstalt für Arbeit in den ersten sechs Mona- ten das Risiko der Lohnfortzahlung, weil es sich her- ausgestellt hat, daß die Angst besteht - ob zu Recht Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und oder zu Unrecht, lassen wir beiseite -: zwei Tage im Sozialordnung: Frau Kollegin, Sie haben schon bes- Betrieb, sechs Wochen Lohnfortzahlung. Ich möchte sere Witze als diesen gemacht. Brücken bauen in den Arbeitsmarkt. Schutz darf (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der nicht Aussperrung sein. F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Insofern bedauere ich Ihre Frage. Wenn Sie nichts Zuruf von der SPD) anderes als den Hinweis auf Druckfehler zu bieten haben, wenn es nicht mehr Einwände gibt, dann sind - Ich weiß, Sie stehen bei der Entlassung an der Aus- wir ja in guter Verfassung. gangstür und helfen den Arbeitslosen; das ist ja auch richtig. Ich stehe an der Eingangstür. Sie polstern die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ausgangstür, wir verbreitern die Eingangstür. Das ist der Unterschied. Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht Entlassung vermeiden helfen, Einstieg in die Arbeit erleichtern, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Rückkehr in die Arbeit fördern. Die erste Aufgabe ist Vermittlung verbessern. Die durchschnittliche Ar- Ich bin dafür, daß den Arbeitslosen geholfen wird. beitslosigkeit beträgt im Westen sieben Monate und Ich zerbreche mir aber nicht nur darüber den Kopf, eine Woche, im Osten sieben Monate und zwei Wo- wie man ihnen hilft, ihre Arbeitslosigkeit zu ertra- chen. Würden wir durch bessere Vermittlung die gen, sondern ich zerbreche mir auch den Kopf, wie 10010 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm wir es schaffen, daß sie wieder in den Bet rieb hinein- Bei F und U, Fortbildung und Umschulung, haben kommen. Das ist das erste Ziel. inzwischen 3 Millionen Arbeitslose in den neuen Bundesländern Weiterbildungsmaßnahmen in An- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) spruch genommen. Das ist jeder zweite. Wenn wir so Das Arbeitsamt ist verpflichtet, spätestens nach weitermachen, wird es demnächst jeder sein. Wenn sechs Monaten ein Gespräch mit dem Arbeitslosen wir dann noch weitermachten, dann müßten sie sich zu führen: Was kann er selber tun, und was kann für im Kreisverkehr bewegen. Das kann doch nicht der ihn getan werden? Denn die Gefahr ist groß, daß ge- Sinn sein. rade die Langzeitarbeitslosen vergessen werden. Sie Obwohl wir Arbeitsmarktpolitik zurückgefahren sind am schwersten vermittelbar. Man muß der Ver- haben, ist die Arbeitslosigkeit im Osten nicht gestie- suchung des Langzeitarbeitslosen, in Resignation zu gen. Sie muß sinken - nicht daß jemand meint, ich versinken, und des Arbeitsamtes, ihn zu vergessen, sei damit zufrieden. Aber obwohl wir die Arbeits- entgegenwirken. marktpolitik in ihrem Entlastungseffekt halbiert ha- ben, ist die Arbeitslosigkeit nicht im gleichen Maße (Zuruf von der SPD: Schon seit zehn Jah gestiegen. Sie sehen, es bewegt sich etwas. Die Be- ren!) wegung muß dem ersten Arbeitsmarkt gelten. Deshalb machen wir ja ein Langzeitarbeitslosenpro- gramm, das im übrigen erfolgreich ist. Trotz gestiege- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- ner Arbeitslosigkeit ist der Anteil der Langzeitar- statten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin beitslosen im letzten Jahr nicht gestiegen, was ich Steen? auch für ein Ergebnis unserer Anstrengungen halte. Der zweite Arbeitsmarkt: Ich lasse ihn mir nicht Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und madig machen. Wir brauchen ihn. Wir brauchen Ar- Sozialordnung: Nein, ich möchte das jetzt im Zusam- beitsbeschaffungsmaßnahmen. Wir brauchen Fortbil- menhang darlegen. dung und Umschulung. Aber der zweite Arbeits- Lohnkostenzuschüsse, fast ein Buch mit sieben - markt ist der zweite Arbeitsmarkt, und zwar nicht Siegeln. Sie brauchen schon einen Lohnkostenbera- nur in der Reihenfolge, sondern auch in der Rang- ter, wenn Sie alles durchschauen wollen. Wir fassen folge. Der zweite Arbeitsmarkt muß Brücke sein, er sie zusammen, denn die Hilfe muß ja bei denen an- darf nicht Parkplatz werden. Insofern muß man ihn kommen, die nicht Tag und Nacht Gesetze lesen. auf den ersten Arbeitsmarkt richten. Es muß ein An- reiz bestehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kommen. Das tun weder die Arbeitslosen noch der kleine Deshalb sollten die Löhne auf dem zweiten Ar- Handwerksmeister. Was nützt das schönste Gesetz, beitsmarkt zu denen auf dem ersten Arbeitsmarkt wenn es nur noch Fachleute verstehen? Deshalb ist Abstand haben. Darum gewähren wir bei einem Ein- diese Zuschußinflation zu einem Eingliederungszu- stiegstarif einen Zuschuß von 90 Prozent und ohne schuß zusammengefaßt. Einstiegstarif einen niedrigeren Zuschuß. Wir wollen Wir unterstützen den Ausgang aus der Arbeitslo- helfen, daß dieser Abstand bleibt und ein Anreiz er- sigkeit in die Selbständigkeit. Auch das ist ein Weg, halten bleibt. aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. 70 000 Arbeitslose haben im letzten Jahr auf diesem Wege Ich weiß, daß die SPD fast alle Probleme über die- sen zweiten Arbeitsmarkt lösen will. Arbeit gefunden, haben sich selbständig gemacht, unterstützt von der Bundesanstalt für Arbeit. In die- (Widerspruch bei der SPD) sem Jahr sind es bis April schon 27 000, also ver gleichweise mehr. Ich will ein Beispiel nennen. 1950 hatten wir 21 Millionen Erwerbstätige im Westen, 5 Millionen in Wir unterstützen das mit Überbrückungsgeld. Wer der Landwirtschaft; das waren 25 Prozent. Heute ha- sich selbständig macht, muß nicht Angst haben, so- ben wir 28 Millionen Beschäftigte und 0,8 Millionen fort aus sozialer Sicherheit herauszufallen, wenn es in der Landwirtschaft; das sind 3 Prozent. schiefgeht. Wir begleiten ihn zunächst mit seinen Ansprüchen, damit die Angst, er würde ins Nichts Nach Ihrem Motto hätten wir heute 4 Millionen fallen, nicht seine Selbständigkeit behindert. ABM für in der Landwirtschaft Beschäftigte aus 1950. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ABM ist doch keine Verweilangelegenheit! ABM muß den Strukturwandel begleiten, darf sich aller- Es ist ja auch so, daß ein Selbständiger viele Ar- dings nicht festsetzen. Das ist nicht das bequeme Ru- beitsplätze schafft. Deshalb wollen wir auch Lohnko- hekissen der Arbeitsmarktpolitik. stenzuschüsse in gesonderter Weise für Selbständige schaffen, die Arbeitslose einstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zu den Frauen. Meine Damen und Herren, auch Das gilt auch für die neuen Länder; denn do rt ha- Sie gehören zu den Gruppen, die besondere Unter- ben wir mit einem großen Programm von ABM ge- stützung erhalten. Der Anspruch auf Arbeitslosen- holfen. Das war auch richtig, und es muß auch wei- geld für Frauen, die ihre Erwerbsarbeit unterbrochen terhin geholfen werden. Aber wir müssen langsam haben - es sind ja gerade die Frauen, die sie der Kin- zurückfahren. dererziehung wegen unterbrechen -, bleibt nicht nur Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10011

Bundesminister Dr. Norbert Blüm im Rahmen der drei Jahre erhalten wie bisher, wir auch ein Facharbeiter im Bet rieb muß möglicher- verdoppeln ihn auf sechs Jahre. Sie sehen, wir spa- weise als Angelernter arbeiten, und mancher Ange- ren nicht nur, es ist kein hirnloses Einsammeln, son- lernte hat einen höheren Verdienst als ein Facharbei- dern wir helfen. Wer die Erwerbsarbeit wegen Kin- ter. Das stimmt doch alles nicht mehr. Berufe wech- dererziehung oder Pflege unterbricht, behält die seln, und deshalb weg mit dieser Hackordnung! Wir Möglichkeit zur Weiterbildung unbefristet. Wenn sie versichern das Einkommen. Der Beitrag ist nicht vom zurückkommt, kann sie sich durch Weiterbildung für Diplom, sondern vom Einkommen bezahlt worden. die Rückkehr fit machen und neue Chancen für die Das finde ich fortschrittlich, auch im Sinne einer kla- Eingliederung erhalten. Auch hier gibt es Lohn- ren Übersichtlichkeit. kostenzuschüsse. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Dann sind in den ersten drei Monaten der Arbeits- Ein weiterer wichtiger Punkt - ich kann das Gesetz losigkeit Arbeiten zumutbar, mit denen 20 Prozent nur zusammengefaßt darstellen -: Die Bundesanstalt weniger verdient wird, als der Verdienst vor der Ar- für Arbeit leistet eine gute Arbeit, aber sie kann beitslosigkeit ausmachte, in den nächsten drei Mona- noch besser werden. Sie ist ein Koloß und steht auf ten solche Arbeiten, mit denen 30 Prozent weniger dem Kopf, auf der Bundesanstaltszentrale in Nürn- verdient wird. Nach einem halben Jahr wird auch Ar- berg. Wir wollen diesen Koloß Bundesanstalt für Ar- beit zumutbar, wenn der durch sie erzielte Verdienst beit vom Kopf auf die Füße stellen und mehr Ent- auf der Höhe des Arbeitslosengeldes liegt. scheidung, mehr Kreativität, mehr Verantwortung vor Ort schaffen. Do rt weiß man es besser als in jeder Ich verstehe die Kritik daran nicht. Arbeit schändet Zentrale. doch nicht, Arbeit ist doch keine Krankheit. Hauptsa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) che, der Mann oder die Frau hat Arbeit! Es ist doch zumutbar zu arbeiten, wenn der Verdienst unterhalb Das Arbeitsamt Bremen hat wahrscheinlich ganz dessen liegt, was man bisher gewohnt war. Anderen- andere Probleme als das Arbeitsamt Traunstein. Bei falls würden wir ja eine Gesellschaft wie eine Ze- dem einen geht es um die Werftarbeiter, die anderen mentfabrik einrichten, die sich gar nicht mehr be- suchen Arbeitnehmer für die Gastronomie. Wenn al- wegt. Mobilität wird doch nicht nur von den Arbeits- les über eine Schablone gezogen wird, dann kann losen verlangt, sondern auch von den Arbeitnehmern die Arbeitsmarktpolitik nicht helfen. im Betrieb. Deshalb laßt die Menschen in Selbstverwaltung (Konrad Gilges [SPD]: Dann können wir vor Ort entscheiden, was sie machen! Sie bekommen beide ja die Gehälter einmal tauschen! Ich einen Eingliederungshaushalt, und dann sollen sie bekomme das Ministergehalt, und Sie entscheiden, was sie davon für ABM nehmen, was bekommen das Abgeordnetengehalt!) für Fortbildung, für Lohnkostenzuschüsse, und mit fünf Prozent sollen sie machen können, was sie wol- - Das ist es ja, was ich sage: Ihr denkt nur in Mark len. Traut den Menschen mehr zu! Schreibt ihnen und Pfennig. Etwas anderes fällt euch nicht ein, liebe nicht alles vor! Auch die Selbstverwaltung, auch die Sozialdemokraten. Ihr seid im Gehirn ausgeblutet. Arbeitsämter sind alle volljährig. Die wissen es bes- ser als jede Zentrale. Deshalb mehr Macht vor O rt ! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist eine Maxime. Es geht darum, Bewegung zu schaffen, nicht darum, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nur in Mark und Pfennig zu rechnen. Im übrigen Dann haben wir den wichtigen Punkt Solidarität. wird das Geld von den Arbeitnehmern und Arbeitge- Solidarität - vielleicht ist das wichtig - ist für mich bern bezahlt. Das bezahlen weder Sie noch ich. eine moralische Kategorie, nicht nur eine Geldver- Es gilt doch auch, die Beitragssätze zurückzuneh- teilungskategorie. Solidarität ist schutzwürdig, aber men, damit neue Arbeitsplätze entstehen. Wir sparen auch schutzbedürftig. Solidarität hat nicht nur doch nicht, weil es uns Spaß macht. Mir macht Spa- Rechte, Solidarität hat auch Pflichten. Deshalb müs- ren nicht Spaß, mir macht Ausgeben Spaß, privat wie sen Solidarität und Sozialkassen auch vor Mißbrauch öffentlich. Gleichwohl muß gespart werden, damit geschützt werden, wie jede Kasse, auch die jedes mehr Arbeitsplätze entstehen. Das ist das Gebot der Finanzamtes. Stunde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Zumutbarkeit definieren wir eindeutig, und zwar jetzt im Gesetz und nicht in tausend Anordnun- Zu den Neuregelungen gehört auch, daß die Ar- gen. Wir nehmen den Berufsschutz weg; das ist rich- beitslosenmeldung nur für drei Monate gilt. Es heißt tig. Bisher gab es eine Hierarchie: Akademiker, Mei- also nicht mehr: einmal arbeitslos gemeldet, immer ster, Facharbeiter, Angelernter, Ungelernter, und zu- arbeitslos gemeldet. Ist es denn für einen Mann oder nächst war dem Arbeitslosen nur die Arbeit in der al- eine Frau unzumutbar, der oder die arbeitslos ist, alle ten Berufskategorie zuzumuten. Haben Sie nicht den drei Monate zum Arbeitsamt zu gehen und sich dort Eindruck, das stammt aus dem 19. Jahrhundert? Wir zu melden? In welcher Welt leben Sie denn? Ich versichern doch kein Diplom, wir versichern Einkom- finde, es ist deshalb zumutbar, weil man auch verhin- men! Diese berufsständische Ordnung gehört ins dern muß, daß sich jemand arbeitslos meldet, sozusa- 19. Jahrhundert. Auch ein Arbeitnehmer im Bet rieb, gen vom Arbeitsmarkt abmeldet, und in der 10012 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Schwarzarbeit verschwindet. Das kann auch nicht den. Der kleine Schlossermeister, der mit Mühe und Sinn der Arbeitsförderung sein. Not einen neu einstellt, hat mehr getan als diejeni- gen, die kurzerhand tausend freisetzen. Laßt uns die (Beifall bei der CDU/CSU) Handwerksmeister loben, die einstellen. Ich setze Ih- Es ist ja viel über diese Reform geredet worden. rer Parole „Arbeit, Arbeit, Arbeit! " entgegen: Einstel- Unter anderem hieß es, wir würden das Arbeitslosen- len, einstellen, einstellen! geld kürzen. Selbst als kirchliche Botschaft habe ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das am vergangenen Samstag auf der Demonstration gehört. Liebe Frau Jepsen, du sollst kein falsch Zeug- Ich bedanke mich bei allen, die an der Vorberei- nis geben wider deinen Nächsten. Das ist ein christli- tung dieser Reform mitgewirkt haben, in Gesprächen ches Gebot. Das Arbeitslosengeld wird nicht gekürzt; mit Sozialpartnern, mit Wohlfahrtsverbänden, in der alles andere ist eine Falschmeldung. Arbeitsgruppe der Koalition. Laßt uns diese Reform - es ist kein Reförmchen -, laßt uns diese Generalüber- Verändert wird lediglich die Bezugsdauer bei Ar- holung - es ist keine Reparatur - auf den Weg brin- beitslosigkeit. Die Verlängerung dieser Bezugsdauer gen. Sie sehen: Wir sparen nicht nur, wir gestalten. ist übrigens durch uns erfolgt. In Zukunft soll die ver- Eine wichtige Neugestaltung ist diese Reform des Ar- längerte Bezugsdauer nicht mehr mit dem 42. Le- beitsförderungsgesetzes. bensjahr, sondern erst mit dem 45. Lebensjahr begin- nen. Da die Altersgrenze angehoben ist, ist es auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) logisch, die verlängerte Bezugsdauer um drei Jahre zu verschieben. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt (Zuruf von der SPD) der Kollege Adolf Ostertag. - Nein, Ihr Einwand ist nicht richtig. Die Aussage, das Arbeitslosengeld werde gekürzt, wird von der Adolf Ostertag (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! Mehrzahl der Zuhörer so verstanden, wir wollten das Meine Damen und Herren! Nach der beeindrucken- den am Wochenende in Bonn ist klar: Arbeitslosengeld absenken. Wir beginnen- statt des- Demonstration sen mit der verlängerten Bezugsdauer bei Arbeitslo- sigkeit später. Das ist ein elementarer Unterschied (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was war zur Absenkung des Arbeitslosengeldes. denn daran beeindruckend?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Es gibt eine breite soziale Bewegung in Deutschland, Zurufe von der SPD - Gegenruf des Abg. die den wirtschaftlich verheerenden und sozialpoli- Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Eine halbe tisch ungerechten Kurs der Regierung entschlossen Wahrheit ist schlimmer als eine ganze ablehnt. Das ist am Wochenende deutlich geworden. Lüge!) (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der - Ja, das war eine halbe Wahrheit, und die ist schlim- Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/ mer als eine ganze Unwahrheit. Das ist richtig. DIE GRÜNEN]) Die Abfindung wird auf das Arbeitslosengeld an- Die ersten Reaktionen dieser Regierung waren ja gerechnet. Im übrigen gibt es das schon im jetzigen entlarvend. Wer hier vom „Druck der Straße" spricht, Recht. äußert seine Arroganz und zeigt sein autoritäres Staatsverständnis. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam- menfassen. Die SPD hat im Wahlkampf gesagt: Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beit, Arbeit, Arbeit! Nicht jeder, der „Herr, Herr, ten der PDS) Herr!" sagt, kommt ins Himmelreich. Das ist ein Wenn Hunderttausende sich friedlich versammeln biblisches Wort. Mit dem Ruf „Arbeit, Arbeit, Ar- und von ihren vornehmsten demokratischen Rechten beit!" haben Sie nichts verändert. Es kommt auf kon- Gebrauch machen, dann sollte diese Bundesregie- krete Politik an, die darauf ausgerichtet ist, neue rung lieber genau zuhören und ihre Politik überden- Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosen wie- ken. Das sture Verharren des Bundeskanzlers in sei- der in Arbeit zu bringen, ner Politik der sozialen Ungerechtigkeit zeigt nur, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wie weit er sich von den Bedürfnissen der Menschen in diesem Lande entfernt hat. und zwar in den ersten Arbeitsmarkt. Dazu leistet das AFG seinen Dienst, dazu müssen die Unterneh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne mer ihren Dienst leisten. ten der PDS) Mein Appell an die Unternehmer: Der Erfolg eines Das heute zur Beratung anstehende AFRG ist ein Managers kann weniger an der Zahl der Entlassenen weiterer Schritt in diese Richtung. Dieses Gesetz will gemessen werden. Vielmehr muß der Manager ge- die Arbeits- und Lebensbedingungen von vielen Mil- lobt und unterstützt werden, der einstellt. Jetzt gilt lionen Menschen verschlechtern. Die geplanten Kür- Backen, nicht Schlachten. zungen im Bereich der passiven arbeitsmarktpoliti- schen Leistungen verschlechtern die Lebenssituation Wir brauchen auch eine neue Wertschätzung der der unmittelbar Betroffenen erheblich. Herr Blüm, da Anstrengung, neu einzustellen. Nicht der ist zu lo- haben Sie eben unrecht: Es wird gekürzt und gestri- ben, der sich damit brüstet, wie viele freigesetzt wur chen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10013

Adolf Ostertag Gleichzeitig führt diese Absenkung auch zu weite- nun mit einer neuen Arbeitsmarktpolitik anfinge, als rem Druck auf das Lohn- und Gehaltsniveau der Ar- hätte sie nicht 14 Jahre lang in diesem Politikbereich beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die noch in Ar- das Sagen gehabt. beit sind. Auch das sind Auswirkungen, die man nicht vergessen darf. Das verheißungsvoll klingende (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Arbeitsförderungs-Reformgesetz ist ein völliger Irr- ten der PDS) weg. Im Gegensatz zur arbeitsmarktpolitischen Flick- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wie hätten schusterei der Bundesregierung haben wir ein Ar Sie es denn gerne?) beits- und Strukturförderungsgesetz, ein innovatives und schlüssiges Konzept, vorgelegt. - Hören Sie zu, wir kommen darauf zu sprechen. - Es macht die Arbeitslosen selber und die angeblich zu (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Über Steuer hohen Löhne für die steigende Massenarbeitslosig- erhöhung!) keit verantwortlich. Diese Bundesregierung hat den Begriff „Reform" wieder einmal mißbraucht. Dieses ASFG ist das Ergebnis einer breiten Diskus- sion mit Wissenschaftlern, mit Gewerkschaften, mit (Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) den Kirchen, mit Sozialverbänden, und auch die Ar- Prüft man sorgfältig die Inhalte, muß es ,,arbeits- beitgeber haben Zustimmung signalisiert. marktpolitisches Katastrophengesetz" genannt wer- den. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Überall, wo Sie regieren, funktioniert es nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) Da sollten Sie vielleicht einmal genauer hinhören.

Anstatt Arbeit zu fördern, werden Arbeitslose weiter Lediglich die Regierungskoalition ließ sich nach ins Abseits getrieben, dem Motto „Weiter so" von ihrer bisherigen Politik nicht abb ringen und hat weiter dereguliert und (Siegfried Ho rnung [CDU/CSU]: Finsterer- Klassenkampf!) Sozialabbau betrieben. Qualifizierungsmaßnahmen gestrichen, Integrations- Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten möglichkeiten für Langzeitarbeitslose verbaut, unser haben mit dem ASFG unsere Alternative vorgelegt. Tarifsystem weiter ausgehöhlt und die Selbstverwal- Wir können in den nächsten Wochen und Monaten tung ein erhebliches Stück ausgehebelt. wirklich gut streiten, weil es in der Tat konkrete Vor- stellungen und Unterschiede gibt. Dieses Gesetz wurde wieder vom Finanzminister diktiert. Kohl und Waigel tragen den Sozialstaat (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie wei Schritt für Schritt zu Grabe. chen vor jeder Entscheidung aus!)

(Widerspruch bei der CDU/CSU) Wir werben für ein breites gesellschaftliches Bünd- Und Blüm - das hat er heute wieder bewiesen - darf nis gegen Arbeitslosigkeit und für ein Gesetz, durch dabei als Weihrauchschwenker das Ganze verne- das schon kurzfristig eine halbe Million Menschen beln. aus der Arbeitslosigkeit herausfinden können. Mit unserem Konzept wollen wir nicht nur den Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schen helfen, die zur Zeit keine Perspektive sehen, ten der PDS und der Abg. Annelie Bunten sondern wir wollen durch eine Fülle von Maßnah- bach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) men dazu beitragen, daß Arbeitslosigkeit erst gar Die neuen Vorschläge sind, Herr Bundesarbeits- nicht entsteht. Leitgedanke unserer Vorschläge ist minister, in der Tat einschneidender als alle hundert die im Grundgesetz gebotene Vollbeschäftigung als Veränderungen und zehn Novellen zum AFG bisher. Eckpfeiler für soziale Gerechtigkeit und inneren Es ist unbestritten, daß das AFG aus dem Jahre 1969 Frieden. gründlich überholt werden muß. Damals gehörte das Die Aussage von Herrn Blüm, wir wollten alles Gesetz sicher zu den modernsten seiner Zeit. Aber über den zweiten Arbeitsmarkt regeln, ist blanker die zusätzlichen strukturellen Probleme am Arbeits- Unsinn. Es wäre besser, er würde unseren Entwurf markt, der technische Wandel, die demographischen Veränderungen bei den Erwerbspersonen, zuneh- lesen. mende Frauenerwerbstätigkeit und starke regionale (Beifall bei der SPD) Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt können damit nicht mehr bewältigt werden. Deshalb kann das alte Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzie- AFG die heutigen arbeitsmarktpolitischen Probleme ren. Arbeitsmarktpolitik muß einem neuen Anspruch sicherlich nicht mehr lösen, aber zu einer grundle- gerecht werden. Sie soll eben gestaltende, beschäfti- genden Reform kam es bisher nicht. Diese Regierung gungswirksame und auf Vollbeschäftigung orien- hat immer nur an den Symptomen kuriert und die tierte Politik sein. Deswegen wollen wir Wirtschafts- Leistungen zusammengestrichen. und regionale Strukturpolitik miteinander verzah- nen. Das vorrangige Ziel des AFG, die Vollbeschäfti- gung zu sichern, hat diese Regierung in 14 Jahren Eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung der Arbeits- nicht erreicht, und heute wird so getan, als ob sie losigkeit ist letzten Endes das Gebot der Stunde, und 10014 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Adolf Ostertag dazu gehören selbstverständlich die Stärkung des gierung geht es vorrangig nicht um die Schaffung Wirtschaftsstando rtes von Arbeitsplätzen, sondern um die Durchsetzung neuer ordnungspolitischer Ziele. Das AFRG der Bun- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Alles bloß desregierung setzt auf umfassende Deregulierung, Phrasen!) auf Segmentierung des Arbeitsmarktes und auf eine - das haben wir immer gesagt - und zeitgemäße Rah- weitere Umverteilung von unten nach oben. menbedingungen. Eine gerechtere Verteilung der Arbeit durch weitere Arbeitszeitverkürzungen, die Herr Bundesarbeitsminister, mit diesem Arbeitsge- Umwandlung von Überstunden in Arbeitsplätze und setz machen Sie Tabula rasa auf dem Arbeitsmarkt. eine flexible Gestaltung der Arbeitszeit müssen Das werden wir nicht mitmachen. Wir wollen mehr ebenso hinzukommen. Gerechtigkeit und vor allen Dingen mehr Chancen für die Menschen, die Arbeit suchen. Es ist eben ein großer Irrtum zu glauben, mit der Wirtschaftspolitik allein oder mit der Arbeitsmarkt- Vielen Dank. politik allein sei das Problem zu lösen. Der Staat ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne also weiterhin gefordert, eine aktive Arbeitsmarkt- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN politik zu betreiben. Er muß dafür sorgen, daß Ar- und der PDS) beitslose oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte sich aus- und fortbilden können und muß Wirtschaftsför- derung mit den Möglichkeiten der Arbeitsmarktpoli- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt die tik verbinden. Er muß Vorsorge treffen, wenn abseh- Kollegin Marieluise Beck. bar ist, daß wirtschaftliche Strukturen sich verändern oder gar zusammenbrechen. Das von der Regierung vorgesehene Prinzip der Fürsorge reicht nicht aus. Es Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muß Vorsorge getroffen werden. NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die Bundesregierung ehrlich gewesen wäre, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hätte sie das heute vorgelegte Arbeitsförderungs-Re- Wichtig ist uns dabei die regionale Ausrichtung.- formgesetz gleich als Teil des Sparpaketes ein- Das ASFG wurde auch unter dem Aspekt der ge- gebracht. Dann nämlich wäre der Blick über die samtdeutschen Bedingungen und Erfahrungen kon- Kürzung der Lohnfortzahlung, die Vorziehung der zipiert und berücksichtigt diese regionalen Problem- Altersgrenzen und die Aufweichung des Kündi- bereiche. Wir streben eine generelle Stärkung der gungsschutzes hinaus gleich auf dieses Gesetz ge- örtlichen Verantwortlichkeiten an. Eine effektive Ge- weitet worden, das vor allem auf die fünf neuen Län- staltung der Arbeits- und Strukturförderung wird nur der verheerende Auswirkungen haben wird. dann gelingen, wenn die Beschäftigungs- und Quali- Wer bereit ist, sich den Menschen in Ostdeutsch- fizierungsprojekte in Kenntnis der konkreten Ar- land zu stellen, der konnte in den vergangenen beitsmarktdefizite vor Ort regional entwickelt und Wochen immer wieder hören, daß die Aufweichung verwirklicht werden können. des Kündigungsschutzes, wo es nichts zu kündigen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dabei sind gibt, und daß die Kürzung der Lohnfortzahlung, wo Sie doch immer nur zentral eingestellt!) es wegen der Arbeitslosigkeit keine Arbeitsverhält- nisse gibt, eher lapidar hingenommen werden. Jetzt Mit unserem ASFG werden wir die Tätigkeit der aber kommt das Gesetz, das auch und vor allem den Arbeitsämter vom Kopf wieder auf die Füße stellen. Menschen an den Kragen geht, die sich im Bereich Vorrang haben Vorsorgemaßnahmen zur Vermei- des zweiten Arbeitsmarktes bewegen - und das tun dung von Arbeitslosigkeit und zur Eingliederung in sie notgedrungen, meine Damen und Herren. den regionalen Arbeitsmarkt. Dabei werden benach- teiligte Arbeitslose besonders unterstützt, wie es Die Bundesregierung legt heute ein Gesetz vor, letztlich dem Sozialstaatsgebot unserer Verfassung das die „Normalität" im Osten herstellt. „Normalität" entspricht. soll heißen, daß unter der schönen Überschrift „An- gleichung des Arbeitsmarktniveaus Ost an das des Meine Damen und Herren, Politik muß sich an den Westens" massivste Einschnitte im Bereich der Bun- Interessen der Menschen orientieren. Sie muß das desanstalt für Arbeit vorgenommen werden, die in Kernproblem der deutschen Politik, nämlich die der Konsequenz im Osten eine Kürzung der aktiven Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, endlich in Maßnahmen um mehr als die Hälfte bedeuten wer- Angriff nehmen und die drohende arbeitsmarktpoliti- den. Zudem werden die Standards der Instrumente sche Katastrophe abwenden. abgesenkt. Das verschlägt einem den Atem. (Beifall bei der SPD) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist Wir haben dazu unsere Vorschläge gemacht. doch nicht wahr!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Untaugli - Ich werde Ihnen das belegen. Vielleicht kennen Sie che!) Ihr eigenes Gesetz noch nicht. Es ist auch sehr schwer zu lesen; das gestehe ich Ihnen zu. Dazu im Gegensatz steht der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der sich bruchlos in das schön um- Zwar ist bekannt, daß gewichtige Persönlichkeiten schriebene sogenannte Sparpaket einordnet. Die vor- von der Regierungsbank den „Spiegel" nicht lesen. geschlagenen Regelungen machen deutlich: Der Re- Aber allein das, was dort unter dem Titel „Absturz Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10015

Marieluise Beck (Bremen) Ost" zusammengetragen ist, offenbart die ganze des zweiten Arbeitsmarktes dermaßen stranguliert Katastrophe, die die fünf neuen Länder überzieht. wird, ist entweder gnadenlos dumm oder böswillig. Sie wissen es selbst: Die Wachstumsraten der ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gangenen Jahre sind in sich zusammengebrochen. bei der SPD und der PDS - Ottmar Schrei Trotz massiver Transfers aus dem Westen hat sich ner [SPD]: Beides!) kein ökonomisch selbst tragender Prozeß entwickelt. Soll die Arbeitnehmerschaft Ost über die Strei- Viele der mühsam aufgebauten kleinen Existenzen chung der Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit, geraten in die Insolvenz. Die Tendenz der Deindu- über die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung, schreitet fo rt. strialisierung über die Aufhebung des Berufsschutzes und die im Viele Menschen in den fünf neuen Ländern stehen Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vor einem Scherbenhaufen. In dieser Situation ruft vorgesehenen Deregulierungen im arbeitsrechtli- die Bundesregierung die „Normalität" aus und chen Bereich endlich in eine massive Senkung der streicht ein wesentliches Moment der Politik, die in Lohnkostenseite hineingezwungen werden, damit den fünf neuen Ländern überhaupt noch ein gewis- die fünf neuen Länder über den Weg der Billiglohn- ses Maß an Beschäftigung und damit an Perspektive produktion noch einmal den Sta rt von ganz unten für viele Menschen aufrechterhalten hat. versuchen, nachdem der erste Start mißlungen ist? Soll die brachliegende Produktion Ost jetzt nach dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Modell Tschechien angekurbelt werden, nachdem sowie bei Abgeordneten der SPD) der Treuhand mit ihren großzügig gestreuten Sub- Bevor man überhaupt ein Wort über die strukturel- ventionen die Puste ausgegangen ist und nachdem len Ansätze und Inhalte dieses heute vorgelegten mancher Investor diese Gelder dankend angenom- Gesetzes verliert, muß man einen Blick auf das men und sich dann vom Acker gemacht hat? Finanztableau werfen. Vorgesehene Einsparungen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS im Jahre 1997: 1,7 Milliarden DM. Die Beträge stei- SES 90/DIE GRÜNEN) gern sich im Jahre 1998 auf 3,4 Milliarden DM, auf 5,9 Milliarden im Jahre 1999 und auf 8,3 Milliarden- Sie nehmen hier eine Umsteuerung vor, einen DM im Jahre 2000. Dies alles ist ausschließlich im zweiten Versuch, einen Aufbau Ost über das Arbeits- Osten zu erbringen, meine Damen und Herren. förderungs-Reformgesetz zu unternehmen, das mit den anderen Gesetzen des Sparpaketes zusammen- Jetzt möchte ich mich noch einmal an Sie wenden, wirkt, die alle auf eine Deregulierung des Arbeits- Herr Kollege, da Sie gerade gesagt haben: Das marktes abzielen, um auf diese Weise mit dem Bil- stimmt nicht. In den fünf neuen Ländern kommen liglohnbereich noch einmal neu einzusteigen. Das ist zur Zeit auf 100 Erwerbslose 43 Personen in Maßnah- die Logik dieses Gesetzes, über das wir im Augen- men der aktiven Arbeitsmarktpolitik. In den alten blick debattieren. Bundesländern liegt das Verhältnis bei 100:13. Das ist die Zielvorgabe, die die Angleichung an die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS „Normalität" - das heißt im Klartext: an das Niveau SES 90/DIE GRÜNEN) im Westen - beinhaltet. Dieses Gesetz hat einen langen Vorlauf, meine Da- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Barer men und Herren. In der Tat war das alte AFG mit sei- Unsinn!) nen zehn Novellen und hundert Änderungen, ganz zu schweigen von den hundertfachen Verwaltungs- - Das ist kein barer Unsinn. Sehen Sie sich Ihr eige- anweisungen der Bundesanstalt für Arbeit, für nie- nes Gesetz an und verabschieden Sie es nicht. Das manden mehr durchschaubar. Sie haben - das wer- sind die realen Zahlen, die hinter dem Gesetz stehen. den wir bei den Einzelberatungen sehen - durchaus Wie können Sie da von barem Unsinn reden? positive Ansätze übernommen, zum Beispiel aus dem von der SPD vorgelegten ASFG-Entwurf und auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, aus dem Memorandum-Vorschlag für eine AFG-Re- der SPD und der PDS) form aus dem Jahre 1994. Von einem ökonomischen Aufschwung, der diesen Aber mit der Streichung der Zielbestimmung der Einbruch auch nur im Ansatz kompensieren könnte, §§ 2 und 3 des alten AFG haben Sie diese positiven ist weit und breit nichts in Sicht. Wenn Sie die Stim- Ansätze auf den Kopf gestellt. Die Grundorientie- mung im Osten vollends in die Depression treiben rung des alten Gesetzes - übrigens zu Zeiten der wollen, meine Damen und Herren, dann müssen Sie Großen Koalition als Konsequenz aus der Rezession nur so weitermachen. von 1966/67 gemeinsam entwickelt - folgte der Maß- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS gabe, den Beschäftigungsstand hochzuhalten, die SES 90/DIE GRÜNEN) Beschäftigungsaussichten des einzelnen zu verbes- sern und das Qualifikationsniveau zu fördern. Diese Die Konsequenzen dieses Gesetzes sind ein Spiel Vorgaben waren anderen wirtschaftspolitischen Ziel- mit dem Feuer. Das müssen selbst Sie von seiten der setzungen gleichgestellt. CDU/CSU-Fraktion begreifen. Natürlich kann man die fünf neuen Länder nicht mittels der Bundesan- Der Autor des neuen Gesetzes aus dem BMA hat stalt für Arbeit in eine große Beschäftigungsgesell- nun in dankenswerter Offenheit formuliert, was die- schaft verwandeln. Wer auf der Seite der Ökonomie ses neue Gesetz nicht mehr leisten soll. Ich fasse zu- so wenig tut, um zu verhindern, daß der Notbehelf sammen: Mit der Reform des AFG dürfe der soge- 10016 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Marieluise Beck (Bremen) nannte zweite Arbeitsmarkt nicht so ausgebaut wer- ment, das Sie vermutlich als solch eine Brücke quali- den, daß das jeweils produzierte und sich entwik- fizieren, nämlich den Eingliederungsvertrag. kelnde Arbeitsplatzdefizit dadurch ganz oder teil- weise ausgeglichen werde. Dieses Instrument korrespondiert mit der beabsich- tigten Verlängerung der zulässigen Dauer von befri- Damit ist die Katze aus dem Sack, meine Damen steten Arbeitsverhältnissen nach dem Beschäfti- und Herren: Das Gesetz soll gar nicht mehr ausglei- gungsförderungsgesetz auf 24 Monate sowie der chen, was der erste Arbeitsmarkt nicht leistet, son- Zulassung von Mehrfachbefristung und der Schaf- dern es soll hier bewußt zurückgeschraubt werden, fung eines untertariflichen Niedriglohnsektors. Der damit im klassischen Sinne ein großes Angebot auf Eingliederungsvertrag kann über sechs Monate lau- seiten der Arbeitssuchenden vorhanden ist, um die fen und seine Kündigung ist jederzeit ohne Angabe Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu verändern. von Gründen zulässig. Der Arbeitgeber erhält eine vollständige finanzielle Absicherung für den Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausfall wegen Krankheit und sonstige Fehlzeiten und sowie bei Abgeordneten der SPD) einen Eingliederungszuschuß, der selbst im Falle, Damit wird der soziale Imperativ der sozialen daß der Arbeitnehmer nicht übernommen wird, nicht Marktwirtschaft aufgegeben, meine Damen und zurückgezahlt werden muß. Herren. Auf diese Weise wird faktisch ein dreiseitiges Ar- beitsverhältnis begründet: einmal zwischen Arbeit- Dazu paßt die Verschärfung der Zumutbarkeitsre- gelungen, die nicht nur im Arbeitsförderungs-Re- geber und Arbeitsamt, einmal zwischen Arbeitgeber formgesetz vorgesehen, sondern im Bundessozialhil- und Arbeitnehmer. So wird ein neues Arbeitsrecht fegesetz bereits vorgenommen worden ist. 1993 wur- für Personen aus dem zweiten Arbeitsmarkt geschaf- den bei rund 3,3 Millionen Vermittlungen der Bun- fen, die im ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Das ist eine geniale Konstruktion zur Aushebelung tariflicher desanstalt für Arbeit 15 345 Sperrzeiten wegen Ab- lehnung zugewiesener Arbeit verhängt. Das heißt, Standards. die Erwerbslosen sind nicht die Faulenzer in der Hängematte, denen man Beine machen muß,- damit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Kollegin sie auf den Arbeitsmarkt gehen, sondern sie treffen Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin auf dem Arbeitsmarkt auf absolute Ebbe. Das ist das Renate Hellwig? Problem. Sie aber zerbrechen sich den Kopf über eine Zumutbarkeitsregelung nach der anderen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): Ja, natürlich. und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Frau Kollegin Beck, halten Sie eine Beschäftigung im zweiten Dieses Gesetz steht folgerichtig in der Logik all der Arbeitsmarkt für ebenso gut wie im ersten Arbeits- Veränderungen, die das 50-Punkte-Programm der markt? Wenn ja, dann wundert es mich nicht, daß Sie Bundesregierung vorsieht: Sobald es Erwerbslosig- jede Unterstützung für einen möglichst schnellen keit gibt, müssen die Rechte der Arbeitnehmer be- Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt als des Teufels schnitten und die Transferleistungen eingeschränkt ansehen, aber die volle Unterstützung, die der zweite werden, dann muß der Druck erhöht werden, damit Arbeitsmarkt genießt, klaglos akzeptieren, ja sogar die Arbeitskraft zu geringeren Standards und Ein- für moralisch besser halten. kommen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Das ist wieder eine Maßnahme, die uns britischen und (Widerspruch bei der SPD) amerikanischen Verhältnissen näherbringt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) NEN): Frau Kollegin, ich kann Ihre Fragestellung nicht teilen. Es geht leider für 4 Millionen Menschen Diese Regierung zerbricht sich weniger den Kopf nicht um die Alternative, ob sie lieber im ersten oder darüber, wie mit Hilfe der aktiven Arbeitsmarktpoli- im zweiten Arbeitsmarkt tätig sein wollen. Das ist tik die große Beschäftigungsmisere, die uns noch auf das Problem. Jahre hinaus begleiten wird, abgefedert und wie die Arbeitskraft an der Schnittstelle von öffentlichem Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, darf und Mitteln, die dem Unterhalt der Erwerbslo- bei der SPD und der PDS) sen dienen, sinnvoll eingesetzt werden kann. Dieses Natürlich wünsche ich mir Vollbeschäftigung, ich Gesetz setzt im Sozialbereich eine abwärts gerichtete glaube nur nicht daran, daß wir sie in den nächsten Spirale in Gang, damit sich die Arbeitnehmer zu al- Jahren noch einmal erreichen werden. Deswegen len Konditionen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie man, wenn stellen. es die Möglichkeit einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt nicht gibt, den zweiten Arbeitsmarkt In der Debatte um die Reform der Arbeitsförde- gestaltet. Das ist eine soziale Aufgabe, es sei denn, rung bestand immer Einigkeit, daß es auch um die Sie gäben in diesem Bereich den Löffel ab. Schaffung von Brücken in den ersten Arbeitsmarkt gehen muß; das hat auch Herr Blüm heute morgen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wieder ausgeführt. Sie schaffen nun ein neues Instru- bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10017

Marieluise Beck (Bremen) Sie setzen mit diesem Gesetz verschiedene Spira- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Beck, kom- len in Gang, die durch die Kürzung der passiven men Sie bitte zum Schluß! Lohnersatzleistungen für ältere Arbeitnehmer, durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen und Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durch die Streichung der Frühverrentung abwärts NEN): Ja. - Wir können uns diese Dummheit nicht führen. Sie erhöhen den Druck auf die minder quali- leisten; wir dürfen sie uns nicht leisten. Die Aufgabe fizierten Arbeitsplätze, indem durch die Zumutbar- des Ziels des sozialen Zusammenhalts der Gesell- keitsregelung solche Arbeitsplätze von höher Qualifi- schaft ist neben der ethischen Katastrophe sogar eine zierten eingenommen werden müssen. ökonomische Fehlentscheidung. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ja, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hätten Sie es denn gern?) sowie bei Abgeordneten der SPD und der Sie erhöhen auch den Druck auf die Kommunen, PDS) die angesichts der rapide gesenkten Zuschüsse der BA vermutlich in die Situation kommen werden, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zunächst erhält zu sie einen Teil der Mittel für Programme gar nicht einer Kurzintervention das Wo rt die Kollegin mehr abrufen, weil ihnen die Komplementärmittel Dr. Renate Hellwig. fehlen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Es ist nicht von der Hand zu weisen - das wissen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in die- auch wir -, daß die öffentliche Hand vor leeren Kas- sem Frage-Antwort-Spiel ist der Unterschied in den sen steht und daß gute, aktive Arbeitsmarktpolitik Philosophien der Opposition und der Koalition be- teuer ist. Aber ich frage: Wer stellt endlich einmal sonders deutlich zum Ausdruck gekommen. eine neue gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rechnung auf Dazu stehe ich auch voll und ganz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)- Mit absolutem Mißtrauen wurde hier der Möglich- und überwindet dieses so unendlich bornierte Res- keit begegnet, dem p rivaten Arbeitgeber, der einen sortdenken? An der Küste spielt sich zur Zeit ein öko- Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt schafft, bei logisches Drama ab. Das Wattenmeer stirbt. Wir ken- der Einrichtung dieses Arbeitsverhältnisses Unter- nen die Ursache: Es ist eine Folge des Verkehrs, der stützung zu bieten. Das wurde von Frau Beck ge- Überdüngung durch die Landwirtschaft, der Schad- radezu als unmoralisch dargestellt; denn das kostet stoffeinleitung aus den Flüssen. Man kann das Um- ja Geld. Gleichzeitig wurde der staatlich subventio- kippen eines Ökosystems nicht quantifizieren. nierte zweite Arbeitsmarkt hochgejubelt, bei dem sich ja der Bedarf überhaupt nicht aus dem markt- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nun reden wirtschaftlichen Spiel von Angebot und Nachfrage Sie doch nicht einen Unsinn nach dem ergibt. Das sehe ich geradezu als eine Form des Kom- anderen!) munismus an, Aber natürlich macht es Sinn, die vielen brachliegen- (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ den ökologischen Beschäftigungsfelder, von der DIE GRÜNEN und der PDS) Erstellung von Radwegen über Recycling bis hin zum ökologischen Landbau, mit der brachliegenden als eine Negativentscheidung gegen die Kräfte des Arbeitskraft zu verbinden. freien Marktes. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Sieg Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zur Antwort jetzt fried Hornung [CDU/CSU]: Tun Sie es Frau Kollegin Beck. doch!) (Peter Dreßen [SPD]: Frau Kommunistin, Die Entlastung, die das auf lange Sicht bei den ökolo- jetzt geht es los!) gischen Folgenkosten mit sich bringen würde, könnte auf' der Habenseite einer aktiven Arbeits- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- marktpolitik gutgeschrieben werden. NEN): Damit habe ich natürlich nicht gerechnet, daß wir heute morgen entlarvt werden. Denn daß wir die Diese gleiche Rechnung ließe sich für viele andere Revolutionsstiefel im Rucksack haben, hat bisher gesellschaftliche Bereiche aufmachen. Viele Pro- noch niemand gemerkt. Frau Kollegin Hellwig hat es jekte, die auch der sozialen und psychischen Stüt- heute morgen dummerweise aufgedeckt. zung von Randgruppen, von Jugendlichen, von Frauen und von Immigranten dienen, werden dem- Es gibt im bisherigen Arbeitsförderungsgesetz nächst vor dem Aus stehen. Die Kasse der Bundesan- schon ein Instrumentarium zur Eingliederung von stalt für Arbeit wird entlastet; das Gesundheitswesen Personen in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist ja keine wird sich schon um die Menschen kümmern, die neue Idee. Der Anwendung dieses Instrumentariums dann einen erhöhten Bedarf in diesem Bereich haben wir uns überhaupt nicht verweigert. Es han- anmelden - das läßt sich wenigstens ordentlich nach delt sich um ein Instrumentarium, das sehr wohl auch GOA abrechnen. das Risiko für den Arbeitgeber stark minimiert. Jetzt 10018 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Marieluise Beck Bremen wird dieses differenzie rte Instrumentarium wohl of- Er hat dann immer noch sechs Urlaubstage mehr als fensichtlich nicht mehr als ausreichend angesehen; der belgische Arbeitnehmer und 14 Tage mehr als vielmehr wird jetzt Butter bei die Fische getan, und - der amerikanische Arbeitnehmer. das habe ich schon vorhin aufgezeigt - es wird ein Wer behauptet, daß durch eine solche Regelung Bereich geschaffen, in dem auf massive Weise die der Sozialstaat plattgemacht wird, der hat, um es ge- Standards von Kündigungsschutz und Lohnfortzah- werkschaftlich auszudrücken, nicht mehr alle Tassen lung und auch in bezug auf das Lohnniveau einge- im Schrank und entlarvt sich. schränkt werden. Benennen Sie das offen, wenn Sie das für den rich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tigen Weg halten. Herr Geißler drückt sich immer noch ein wenig davor und kriecht in seinen Sitz, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Kollegin wenn wir sagen: Sie wollen zu einer Amerikanisie- Beck. rung des Arbeitsmarktes kommen. Ich weiß auch, daß die Kollegen Sozialpolitiker das alles für eine Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ganz knifflige Angelegenheit halten und sich total NEN): Herr Kollege Geißler, ich gebe Ihnen vollkom- unwohl fühlen. men recht: Dieser eine kleine Punkt macht natürlich Sprechen Sie das offen aus, sagen Sie: Dieser so- nicht den Sozialstaat platt. Das Problem ist - darüber ziale Klimbim ist uns viel zu teuer, er bringt auch haben wir das letzte Mal debattiert - die synergeti- überhaupt nichts. Wir starten jetzt durch, wir stärken sche Wirkung; denn Sie reformieren im Augenblick die Ökonomie durch radikale Absenkung der Stan- nicht nur ein Gesetz, sondern Sie schnüren Pakete. dards, damit der erste Arbeitsmarkt wieder brummt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Dann werden wir sehen, ob das gesellschaftlich der SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) bessere Weg ist. Sagen Sie das doch! Die Pakete muß man sich in ihrer Gesamtwirkung Sie haben von Kommunismus gesprochen; das ansehen. Ich will Ihnen sagen: Ich war noch nicht so zeigt doch, was in Ihrem Kopf vorgeht. böse, als es um das alte Sparpaket ging. Aber mit - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem AFRG mit seinen Auswirkungen auf den Osten und bei der SPD sowie bei Abgeordneten und der Veränderung der Zumutbarkeitsregelung der PDS) und der BSHG-Reform, die Sie gemacht haben, ha- ben Sie ein Paket geschnürt, dessen Inhalt in eine Wenn Sie das Arbeitsförderungsgesetz als den Aus- einzige Richtung weist: Deregulierung. bruch des Kommunismus bezeichnen, dann kann ich nur sagen, daß 1969 die Große Koalition in einem Das ist eine politische Trendwende, die Sie in ei- kommunistischen Projekt gesessen hat. Das ist eine nem Bereich vornehmen, in dem Sie jahrelang nicht ganz neue Art von Geschichtsdeutung. viel getan haben. Jetzt passiert wirklich etwas. Das sieht man nicht an einem einzelnen Gesetz; nicht das (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS einzelne Gesetz ist der Skandal, sondern dieser wird SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der erst dann deutlich, wenn man die Gesetze in ihrem PDS) Zusammenwirken sieht. Darum geht es. Deswegen sollten wir nicht über einzelne Gesetze sprechen, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es folgt eine Kurz- sondern immer darüber, wohin eine Kombination von intervention des Kollegen Dr. Geißler. Gesetzen führt, wen sie treffen und welche Bedin- gungen sie gesamtheitlich in dieser Gesellschaft schaffen. Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann Interpretationen und auch Definitionen vorneh- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten men. Die freie Rede ist ein konstitutives Element des der PDS - Widerspruch bei der CDU/CSU) Parlaments. Insofern kann jeder hier bei uns sagen, was er mag. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wir fahren in der Ich möchte etwas zu Ihren Beispielen sagen. Sie ha- Rednerabfolge fo rt. Frau Dr. Babel, bitte. ben die Lohnfortzahlung angesprochen. Wir sehen eine 20prozentige Selbstbeteiligung bei der Lohnfort- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine zahlung vor, die man durch Kompensation von fünf Damen und Herren! Es war vorauszusehen, daß die Krankheitstagen durch einen Urlaubstag verhindern Debatte über die Reform des Arbeitsförderungsge- kann. Wir haben in Deutschland einen durchschnitt- setzes von seiten der Opposition benutzt werden lichen Urlaubsanspruch von bis zu 32 Tagen. Wenn würde, um wieder die Frage des Sparpakets und des jemand sechs Wochen krank ist und die Kompensa- Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung tionsregelung in Anspruch nimmt, hat er statt 32 Ta- anzusprechen. Es war vorauszusehen, daß Sie mit Ih- gen nur noch 26 Urlaubstage; er hat dann immer rer schrillen Sprache glauben, von der Notwendig- noch einen Urlaubstag mehr als der französische Ar- keit aller dieser Reformen ablenken zu können. beitnehmer oder als die englische Arbeitnehmerin. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Konrad Gilges [SPD]: Die Krankheit wird bestraft, auch wenn sie unverschuldet ist! Es war auch vorauszusehen, daß Sie dies alles in Darum geht es doch!) der vermeintlichen Rolle eines Anwalts für den Ar- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10019

Dr. Gisela Babel beitslosen tun würden. Ich sage Ihnen aber: Sie sind lich gewirkt haben - das will ich überhaupt nicht Anwalt der Arbeitsplatzbesitzenden. In Ihrem Vor- leugnen -, hat gezeigt: Eines hat es nicht gegeben, schlag steht nichts Konkretes zugunsten der Arbeits- nämlich nachhaltige Verbesserungen der Beschäfti- losen. gung im ersten Arbeitsmarkt. Sie wurden nicht er- (Widerspruch bei der SPD) reicht. Deswegen ist es sinnvoll, daß man sich kri- tisch mit der Frage auseinandersetzt, ob wir hier alles Es handelt sich um eine Konzeption, die alles dem richtig machen. Staat zuwirft. Ihr Bemühen ist nur, alles zu erhalten. (Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]) CDU/CSU) Meine Damen und Herren, das Ziel eines moder- In keiner Ihrer Reden kommt jemals die Sprache nen Arbeitsförderungsgesetzes muß nach heutiger darauf, daß im Grunde eigentlich die Verantwortung Erkenntnis bescheidener sein. Wir müssen uns dar- der Tarifpartner hinsichtlich der Lohnhöhe das ent- auf beschränken, zu sagen: Es soll dem Arbeitslosen scheidende Moment ist und daß wir hier nur flankie- helfen, mit wirklich wirksamen Mitteln die Chancen rende Maßnahmen besprechen. Darüber reden Sie zu ergreifen, die gegeben sind. Das soll schneller ge- nie. Solange Sie das nicht tun, kann ich nicht erken- schehen. Da ist einiges möglich. Damit sollte man nen, daß Ihr Bemühen um Arbeitslose wirklich fun- sich auseinandersetzen. diert ist. Dem ist nicht so! Für die F.D.P. ging es darum, mehr Dynamik und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - frischen Wind in die Arbeitslosenversicherung zu Widerspruch bei der SPD) bringen. Die Innovationsfreudigkeit, die Freude an Die Arbeitslosenversicherung wird reformiert. Sie der Arbeit in den Ämtern sollen dadurch unterstützt soll Arbeitslosen schneller und wirksamer helfen und werden, daß wir den Arbeitsämtern mehr Flexibilität den Arbeitsämtern mehr Freiraum zu wirkungsvolle- und mehr Verantwortung einräumen sowie dem Ar- rem Handeln verschaffen. Sie soll insgesamt besser beitslosen mehr Verantwortung einräumen und von funktionieren und kostengünstiger werden.- Es soll ihm mehr Aktivität bei der Suche nach einem Job for- also eine Rundumsanierung sein. dern. Daß die Situation, wenn Jobs nicht vorhanden sind, natürlich kritisch ist, will ich nicht leugnen. Das Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit die- enthebt uns aber nicht der Aufgabe, mit Hilfe eines ser Reform ist von der jetzigen wi rtschaftlichen Situa- solchen Reformgesetzes das möglichst wirkungsvoll tion fast unabhängig. Wir haben seit 1969 mehr als umzugestalten. 90 Änderungen dieses Gesetzes vorgenommen - im- mer mit dem Ziel, zu mehr Einzelfallgerechtigkeit zu Deswegen ist es richtig, daß wir den Akzent auf kommen. Diese angestrebte Einzelfallgerechtigkeit eine verstärkte Hilfe zur Rückkehr in den ersten Ar- ist in einen Wust an Bürokratie gemündet und ist für beitsmarkt setzen. Das war bislang nicht geschehen. die Betroffenen abschreckend. Die Flexibilität der Wir haben ja keine Rangfolge, keine Bewe rtung der Arbeitsämter wurde erstickt. Die ganze Bandbreite Maßnahmen vorgenommen. Es ist richtig, daß wir der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitsmarktpoli- den Akzent hier gesetzt haben und damit die Brük- tik ist selbst für Experten nicht mehr zu übersehen. kenfunktion der Arbeitsmarktpolitik stärker betonen. Mir haben Arbeitsamtsleiter gestanden, daß sie nicht Die F.D.P. hat ihre Auffassung in einer Reihe von in der Lage wären, Anträge auf Arbeitslosengeld auszufüllen. Punkten konkret durchgesetzt, die sich in dem Re- formwerk widerspiegeln. Zunächst einmal ist zu nen- Die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, die Ar- nen, daß wir die Maßnahmen nicht nach der Dauer, beitsbeschaffungsmaßnahmen, stehen neben pro- in der jemand arbeitslos ist, staffeln und die Dauer duktiver Arbeitsförderung, Einarbeitungszuschüsse der Arbeitslosigkeit nicht erst abwarten, bevor wir neben Arbeitserprobung und Eingliederungshilfen mit einer Maßnahme einsetzen. Es ist natürlich un- neben Ausbildungszuschüssen für Behinderte. Die- sinnig, daß wir Langzeitarbeitslose geradezu produ- ser ganze bürokratische Wust ist mit einer einfachen zieren, weil wir ja warten müssen, bis der Betroffene weiteren Novellierung nicht mehr zu lichten. Es langzeitarbeitslos ist und wir mit der Maßnahme be- brauchte wirklich einen neuen Ansatz. ginnen können. Viel sinnvoller ist es, mit solchen Maßnahmen, wenn sie sich als notwendig und richtig Jetzt komme ich zu dem zentralen Punkt der heuti- erweisen, schon von vorneherein zu beginnen und gen Auseinandersetzung. Die Zielvorstellung des al- damit die Langzeitarbeitslosigkeit als Tatbestand zu ten Arbeitsförderungsgesetzes - A rt. 1 - war, einen verhindern. hohen Beschäftigungsstand zu erzielen und auf- rechtzuerhalten. Wir wissen heute besser als unsere (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Kollegen im Jahre 1969, daß diese Zielvorstellung ten der CDU/CSU - Konrad Gilges [SPD]: mit einem Arbeitsförderungsgesetz - auch wenn es So ein Unsinn, den Sie da erzählen!) noch so modern ist; auch Ihre Gesetze würden es nicht leisten - nicht zu erreichen ist. Heute wissen Hier appellieren wir gerade auch an die Arbeits- wir das leider. ämter, daß sie sich um die Problemfälle kümmern und bei diesen nicht lange warten und sagen, wir Das Testgebiet in den neuen Bundesländern, wo warten erst einmal, bis wir mit unseren Möglichkei- arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in einem giganti- ten beginnen, sondern daß sie gleich mit einer Bera- schen Ausmaß eingeführt wurden und sozial tatsäch- tung, die nach kurzer Zeit des Bestehens der Arbeits- 10020 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Gisela Babel losigkeit Pflicht wird, einsetzen und sich um den je- so, daß Sie in der heutigen Arbeitsmarktlage nicht weiligen Arbeitslosen kümmern. die Garantie eines sozialen Standards abgeben kön- nen. Keine Partei kann das mit gutem Gewissen. Wir (Weitere Zurufe des Abg. Konrad Gilges müssen vielmehr sagen, daß wir von jedem, der [SPD]) heute Arbeit hat, und von jedem, der Arbeit viel- Meine Damen und Herren, wichtig ist auch das In- leicht verliert, die Flexibilität verlangen, in andere strument des Eingliederungsvertrages. Der Arbeit- Bereiche, andere Berufe und andere Lohnhöhen um- geber soll gelockt und dazu gebracht werden, einen zusteigen. Die Bereitschaft dazu müssen wir einfach solchen Arbeitslosen einzustellen. fordern. (Ottmar Schreiner [SPD]: Dann locken Sie (Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch ein mal!) Erpressungselement!) Warum macht er das denn nicht? - Weil er nicht Deswegen finde ich es richtig, daß man sagt: in weiß, ob ein Arbeitsloser überhaupt in seinem Sinne den ersten drei Monaten 20 Prozent, in den folgen- in seinen Betrieb einzugliedern ist und Arbeit leistet. den drei Monaten 30 Prozent Lohneinbußen. Natür- (Ottmar Schreiner [SPD]: Sind Sie dabei der lich ist das hart. Es wäre aber eine Vorspiegelung fal- Lockvogel?) scher Tatsachen, wenn wir über einen Arbeitslosen sagten: Unsere Maßnahmen sind nur darauf gerich- Es ist also sinnvoll, daß man dem Arbeitgeber diese tet, daß er seinen sozialen Standard behält und daß Sorge für eine kurze Dauer nimmt, indem man be- alles andere für ihn unannehmbar ist. Für mich ist so- stimmte Risiken, die ja bei jeder Einstellung einer zialpolitisch viel wichtiger, daß wir einen Arbeitneh- neuen Arbeitskraft bestehen, seitens des Arbeits- mer in einen Arbeitsplatz vermitteln können, als daß amtes übernimmt. wir ihm die Garantie auf hohe soziale Leistungen vorspiegeln, daß er sozusagen nur das annehmen (Ottmar Schreiner [SPD]: Lockvogel Babel!) muß, was seinen bisherigen Lebensstandard ausge- Es hat sich sehr oft gezeigt, daß solche eingestellten zeichnet hat. Es ist auch sozialpolitisch richtig, was Arbeitslosen, wenn diese Phase der Erprobung- ein- wir da machen. mal vorüber ist, tatsächlich auch in die Belegschaft aufgenommen und länger beschäftigt werden. Ich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne glaube, dieser Gesichtspunkt ist sehr wichtig. ten der CDU/CSU - Konrad Gilges [SPD]: Nein!) Die F.D.P. hat sich auch dafür eingesetzt, den be- rühmten Drehtüreffekt abzuschaffen. Bisher hatten Länger als ein Jahr Arbeitslosengeld wird es künf- wir das - wiederum aus besten sozialen Absichten - tig erst ab dem 45. Lebensjahr geben; die übrigen Al- tersgrenzen werden angepaßt. Arbeitslose sind ge- so gestaltet, daß der Besuch einer Fortbildungs - und Umschulungsmaßnahme neue Ansprüche auf Ar- halten, ihre Verfügbarkeit nachzuweisen; auch dies beitslosengeld begründet. Die Gefahr ist offensicht- ist richtig. Entsprechende Kontrollen werden durch- lich: Wir haben dann sogenannte Maßnahmenkarrie- geführt. ren. Dies führt dazu, daß diese Menschen von der Ar- Die berühmten AB - Maßnahmen werden - auch beitslosigkeit in eine Maßnahme, aus der Maßnahme das ist eine Forderung der F.D.P. - künftig nur noch in die Arbeitslosigkeit und in den Bezug von neuem dann gefördert, wenn das Arbeitsentgelt auf Arbeitslosengeld gelangen. Das kann nicht einleuch- 80 Prozent gesenkt wird. Die Gewerkschaften sper- ten und soll unterbunden werden. ren sich - nicht alle, aber noch in der Breite - gegen Wir haben also geregelt, daß der Besuch einer Fo rt Einstiegstarife für Arbeitslose. Ich kann das nicht -bildungsmaßnahme nicht neue Ansprüche auf Ar- verstehen. Ich finde, daß ein Arbeitsloser seine eige- beitslosengeld begründet. Allerdings wird der alte nen Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, enorm Anspruch während dieser Maßnahme nicht ver- erhöht, wenn ihm die Möglichkeit eingeräumt wird, braucht, so daß es bei diesem alten Anspruch in sei- für 20 Prozent weniger zu arbeiten. Wenn ihm das ner Länge und Höhe bleibt, dieser Anspruch also vorenthalten wird, kann man mir nicht sagen, daß ruht. Nach Abschluß dieser Maßnahme soll es noch sich die Gewerkschaften mit dieser Position für Ar- drei Monate lang Anschlußarbeitslosengeld geben. beitslose einsetzen. Ich finde es richtig, daß wir dies Dann muß gesehen werden, ob die neue Qualifika- zumindest beim Arbeitsförderungsgesetz machen tion diesem entsprechenden Arbeitslosen tatsächlich und bei den AB-Maßnahmen, bei denen es keine auch zu einem neuen Arbeitsplatz verholfen hat oder Einstiegstarife gibt - die im übrigen nur 90 Prozent nicht. betragen -, auf 80 Prozent heruntergehen und damit die Chancen im Grunde verbessern. Meine Damen und Herren, zu dem wichtigen Punkt der Zumutbarkeit: Ich finde, daß wir verpflich- Auch die Selbständigkeit ist schon angesprochen tet sein müßten, uns hier die Wahrheit zu sagen. Es worden. Deutschland liegt bei der Zahl der selbstän- gibt natürlich in großem Umfang die Probleme, daß digen Existenzen im Vergleich zu abhängig Beschäf- ein Arbeitsplatz als unzumutbar nicht angenommen tigten noch auf einem hinteren Platz. Wir haben also wird. Das gibt es. Die Gesetzesmöglichkeiten, die es wenig Arbeitsplätze in diesem Bereich. Es ist sicher heute schon gibt, wurden in den Arbeitsämtern nicht richtig, daß ein Arbeitsloser nicht unbedingt wieder richtig angewendet, weil es natürlich unbequem ist in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zurück- und vielleicht auch ein bißchen Härte erfordert, die kehren muß, sondern daß wir ihm mit Qualifikation, man nicht möchte. Es ist aber auf der anderen Seite mit entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10021

Dr. Gisela Babel und einer möglichen längeren Zahlung eines Über- den für den eigentlichen Arbeitsmarkt auf Dauer und brückungsgeldes auch helfen sollten, in eine selb- in der geforderten Ausdehnung zu leisten. Diese ständige Existenz zu wechseln. Möglichkeit gibt es nicht. Beschäftigung entsteht nur durch das Angebot von Arbeit zu entsprechendem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Lohn. Insofern sind die im Programm für mehr ten der CDU/CSU) Wachstum und Beschäftigung vorgesehenen Maß- Dazu gehört Mut, Mut zum Risiko. Aber es ist richtig. nahmen, also Lockerung des Kündigungsschutzes, Die Maßnahmen, die wir in diesem Bereich getroffen Flexibilisierung, Änderungen bei der Lohnfortzah- haben, stoßen auf eine große Resonanz. Es ist sehr lung, insgesamt sicher wirkungsvoller, als das Ar- wichtig, daß wir in dieser Frage weiterkommen. Ich beitsförderungsgesetz. Aber ich denke, daß auch die- habe mich gefreut, daß ich zumindest diesen Punkt ses Reformwerk Anerkennung verdient. Trotz des auch im Entwurf der SPD gefunden habe. - Jetzt fettleibigen Gesetzestextes: Es wird wirkungsvoller, habe ich einmal gelobt, jetzt können Sie auch klat- die Verwaltung tüchtiger, die Ansprüche etwas be- schen. scheidener, die Maßnahmen gezielter, und es ist in- sofern für die Arbeitslosen insgesamt eine bessere Zur Organisation: Von großer Bedeutung ist die Hilfe. Dezentralisierung der Bundesanstalt für Arbeit. Ich mache aus meiner Meinung keinen Hehl: Wir - auch Ich bedanke mich. die Kollegen aus der Union - hätten den Mut gehabt, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Landesarbeitsämter ganz zu beseitigen, denn sie sind nicht unbedingt notwendig. Das Ganze sollte sich nach unten in die Arbeitsämter verlagern. Ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt wisse Koordinierungsaufgaben könnte man vielleicht Frau Dr. Heidi Knake-Werner. auch auf bescheidenerem Wege erledigen, ohne daß man das institutionalisiert. Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin! (Zustimmung bei der F.D.P.) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Babel, Sie - haben der Opposition erstens gerade vorgeworfen, Ich gebe aber auch zu, daß unsere Kollegen aus Bay- sie sei vor allen Dingen Anwalt der Arbeitbesitzen- ern diesem Vorschlag nichts abgewinnen konnten. den, nicht der Arbeitslosen. Nun erklären Sie doch Insofern ist es bei einer bescheidenen Organisations- bitte einmal einer arbeitslosen Frau in Ostdeutsch- reform geblieben, mit der nur Kompetenzen aus der land, was Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf mittleren Ebene an die Arbeitsämter und die Bundes- anderes tun, als ihre Qualifikation zu entwerten und zentrale verschoben worden sind. Wir sehen nämlich ihre Existenzängste weiter zu verschärfen. schon voraus, daß wir 16 entrüstete Voten der Bun- desländer gegen die Abschaffung von Landesar- (Beifall bei der PDS) beitsämtern zu gewärtigen hätten, wenn wir diese Zweitens sagen Sie, daß man mit dem Arbeitsför- Abschaffung durchsetzen wollten. derungsgesetz nicht alle Arbeitsmarktprobleme lö- Wir hatten uns in der Koalition vorgenommen, sen kann. Natürlich kann man nicht alle lösen; aber gern ein Gesetz vorzulegen, das kurz, knapp, lesbar man wird von der Regierung ja wenigstens ein Ar- und verständlich ist. Nachdem wir es nun gesehen beitsförderungsgesetz erwarten dürfen, das nicht haben, sind wir ein bißchen enttäuscht und wissen, kontraproduktiv die gegenwärtige dramatische Ent- dieses Ziel haben wir vielleicht nicht erreicht. Das wicklung auf dem Arbeitsmarkt vorantreibt. Gesetz ist ziemlich dick, und es ist nur ein bißchen Die grundlegende Reform des Arbeitsförderungs- lesbarer. Aber wenn man weiß, daß es im BMA Be- gesetzes - ich denke, darin sind wir uns einig - ist amte gibt, die oft nur einen einzigen Paragraphen längst überfällig. Nur, mit Ihrem vorliegenden Ge- hüten, bei allen Änderungen im Auge haben und setzentwurf sind Sie schon jetzt durchgefallen. Die Konsequenzen bedenken, dann wird erkennbar, wie dramatische Lage auf dem Arbeitsmarkt, besonders leicht es ist, kurze, knappe, lesbare Gesetze zu for- in Ostdeutschland, werden Sie nicht im Interesse der dern, und wie schwer es offensichtlich ist, dies dann betroffenen Menschen anpacken. Statt dessen ver- auch noch zu leisten. Vielleicht gelingt uns in den schärfen Sie die Situation der Arbeitslosen weiter. Ausschußberatungen hier noch etwas. Als das Arbeitsförderungsgesetz 1969 beschlossen Meine Damen und Herren, ich komme zu einer wurde, hatten wir es mit einer wirtschaftlichen Epo- Gesamtbewertung. Der Entwurf unterscheidet sich che zu tun, die durch Wirtschaftswachstum und ste- ganz deutlich von den Vorstellungen der Oppositi- tige Nachfrage nach Arbeitskräften gekennzeichnet onsparteien. Er ist insgesamt bescheidener in der war, von überschaubaren konjunkturellen Ein- Zielsetzung und vermittelt nicht die Heilsbotschaft, brüchen abgesehen. Mit dem Arbeitsförderungsge- die Arbeitsmarktsituation könne durch ein noch so setz sollte Formen konjunktureller Arbeitslosigkeit modernes Arbeitsförderungsgesetz nachhaltig und staatlicherseits offensiv entgegengesteuert werden. grundlegend verändert werden. Die Opposition er- weckt aber mit einem aufwendigen Apparat von re- Wir haben heute eine dramatisch andere Situation. gionalen konferenzdurchtränkten Strukturmaßnah- Heute blicken wir auf 20 Jahre anhaltende Massen- men den Eindruck, der Staat könnte mit gutem Wil- arbeitslosigkeit, die sich über Aufschwungzeiten len und gutem Geld das Auffangbecken bereitstel- weiter aufgebaut hat und zu einem der brennendsten len, es gäbe also in einer Sozialen Marktwirtschaft sozialen Probleme unserer Gesellschaft geworden ist. die Möglichkeit, staatliche Beschäftigung ohne Scha Hier verlangt es Antworten, die wirkungsvoll sind. 10022 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Heidi Knake-Werner Als 1969 arbeitsmarktfördernde Instrumente ent- förderter Beschäftigung in Ostdeutschland, und zwar wickelt wurden, ging es darum, eine Brücke zwi- in einem Umfang von 250 000 Arbeitsplätzen. schen Arbeitslosigkeit und erstem Arbeitsmarkt zu schlagen. Heute hängt diese Brücke in der Luft. Ei- Nun liegt dieser neue Gesetzentwurf vor. Ehrgei- nen aufnahmefähigen ersten Arbeitsmarkt mit tarif- zige Worte werden dafür verwandt. Man sagt, er sei gerecht bezahlten Arbeitsplätzen gibt es einfach ein neuer Beweis für den Willen der Regierung, sich nicht mehr. Um diejenigen, die sich heute auf der für die Herausforderungen in Gegenwart und Zu- Brücke drängen, nutzbringend im Sinne Ihrer Dere- kunft zu wappnen. Aber schon auf der zweiten Seite gulierungspolitik einzusetzen, wird dieses Instru- Ihres Gesetzentwurfs wird der eigentliche Pferdefuß ment der Arbeitsförderung mißbraucht, um neue Bil- sichtbar: Bis zum Jahre 2000 sollen 17 Milliarden DM liglohnsektoren zu schaffen. bei der Bundesanstalt für Arbeit und 2,9 Milliarden DM beim Bund eingespart werden. Ich frage Sie: Wie Schließlich wurde das Arbeitsförderungsgesetz in soll das geschehen, wo doch überhaupt nichts darauf einer Zeit geschaffen, in der sich Förder- und Lei- hinweist, daß es Ihnen gelingen könnte, die Massen- stungsrecht an der typischen männlichen Voller- arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende um die werbsbiographie ausrichteten. Damit blieben nicht Hälfte zu reduzieren? Ganz im Gegenteil, Ihre Politik nur die bis heute typischen weiblichen Tätigkeiten - und die Sparpakete werden das erneut deutlich wie Erziehungs- und Pflegearbeit völlig ausgespart. machen - schafft nicht nur nicht mehr Arbeitsplätze, In dem Maße, wie Frauen verstärkt auf den Arbeits- sondern sie vernichtet nachweislich bestehende Ar- markt drängten, verstärkten sich zudem die regle- beitsplätze. mentierenden Elemente des Arbeitsförderungsgeset- zes zu wirklich frauendiskriminierenden Elementen. Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf genauer an- Ich erinnere nur an Bedürftigkeitsprüfung, Verfüg- schaut, ist unschwer erkennbar - und damit stimme barkeitsregelung usw. Heute wissen wir zudem, daß ich mit der Sozialministerin von Sachsen-Anhalt völ- auch als Folge des gesellschaftlichen Wertewandels lig überein -, daß er ein reines Sparpaket ist und die Erwerbsarbeit ein fester Bestandteil in der Lebens- nahtlose Fortsetzung dessen bildet, was in der kom- planung von Frauen ist, daß aber vor allem die menden Woche in den Spargesetzen hier über die Frauen in Ostdeutschland - ich verweise nachdrück-- Bühne gehen soll. lich darauf - zu Hunderttausenden um diese ihre Le- bensplanung betrogen werden. Ein am sogenannten Der vorliegende Gesetzentwurf mit den darin vor- Normalarbeitsverhältnis orientiertes AFG bleibt auch gesehenen Maßnahmen schafft keinen einzigen ohne Antwort auf die sich vielfältig verändernden neuen Arbeitsplatz. Das haben Ihnen auch die vielen Formen von Flexibilisierung und Deregulierung in Stellungnahmen von be troffenen Verbänden, die in- der Arbeitswelt. zwischen eingegangen sind, bestätigt. Nun ist es natürlich nicht so, daß im Arbeitsförde- Wo man auch hinschaut - diese AFG-Reform gibt rungsgesetz seit 1969 nichts passiert wäre. Im Ge- falsche Antworten auf richtige Fragen. Sie setzen genteil: Unzählige Novellen wurden verabschiedet. überall dort an, wo Lösungen dringend notwendig Es wurde der Versuch unternommen, mit zwei deut- sind, aber Sie beantworten sie mit dem Rotstift. lich sichtbaren Problemen fertig zu werden: erstens mit dem Problem, daß Angebot und Leistung immer Erstens. Angesichts eines sich ungeheuer be- weniger mit der anschwellenden Arbeitslosigkeit fer- schleunigenden Wandels und zunehmender Heraus- tig wurden, und zweitens mit dem Problem, daß bei forderungen des internationalen Wettbewerbs müßte immer stärker ausfallenden Beiträgen notwendige Qualifizierung eine Hauptaufgabe neuer Arbeitsför- Mehrleistungen kaum mehr zu finanzieren waren. derungsgesetze sein. Aber was tun Sie? Der Zwang zur Arbeitsaufnahme vernichtet vorhandene Qualifi- Beides führte schließlich dazu, daß - natürlich poli- kationen und zwingt Arbeitslose in eine Negativspi- tisch gewollt - die aktive Arbeitsmarktpolitik in ih- rale. Berufsschutz ist passé, Hunderttausende wer- rem Umfang gekürzt wurde und daß ihre Instru- den in Tagelöhner verwandelt. Das Qualifizierungs- mente demontie rt wurden. Darüber hinaus ist ihre angebot reduziert sich in der Konsequenz auf diszi- diskriminierende Ausgestaltung als zweiter Arbeits- plinierende Trainingsprogramme und hat keinen an- markt zu einer Waffe der Deregulierungspolitik ver- deren Zweck als den, den Abstieg in niedrigere Qua- kommen. Es gibt eine Anpassung nicht an beschäfti- lifikations- und Entlohnungsstufen zu beschleuni- gungspolitische Notwendigkeiten, sondern an das gen. angebliche finanziell Machbare. Zweitens. Der unumkehrbare Rückgang der indu- Das geschieht seit 25 Jahren und findet in dem vor- striellen Arbeit würde eine AFG-Reform erfordern, gelegten Gesetzentwurf seinen vorläufigen Höhe- die Arbeitsmarktpolitik mit Struktur - und Regional- punkt; denn mit diesem Gesetzentwurf wird das ver- politik verbindet und neue Nachfrage schafft, die nichtet, was insbesondere in Ostdeutschland in den langfristige Projekte für den sozialen und ökologi- letzten Jahren als positiver Ansatz entwickelt worden schen Wandel fördert, die wegkommt von der kon- ist, dort vor allem, um den sozialen Frieden zu erhal- zeptionslosen Einzelförderung hin zu einer Beschäfti- ten. Jetzt passiert genau das, was sich im Westen seit gungspolitik, die strukturorientierte Förderung zu- Jahren vollzieht: eine Verkürzung von Arbeitsförde- kunftsfähiger Umbauprojekte in ihr Zentrum stellt, rungsmaßnahmen. Die sibyllinische Formulierung die Arbeiten fördert, die momentan nicht marktfähig, „Angleichung an das Westniveau" heißt ja nichts an- aber in der Lage sind, zukunftsfähige Wirtschafts- deres als die massenhafte Vernichtung öffentlich ge kreisläufe zu installieren. Hunderttausende neue Exi- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10023

Dr. Heidi Knake-Werner stenzgründungen werden dieses Problem nicht be- wird ein weiteres wichtiges Reformvorhaben aus der wältigen helfen. Koalitionsvereinbarung und aus dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung auf den Weg ge- Drittens. Der gesellschaftliche Wertewandel fördert bracht. die Nachfrage von Frauen nach zukunftsfähigen Dauerarbeitsplätzen. Eine zeitgemäße, mit dem Ge- Zunächst darf ich einmal festhalten, daß Regierung danken der Prävention verbundene AFG-Reform und Opposition übereinstimmend eine Reform der müßte dazu beitragen, neue Integrationsmechanis- Arbeitsförderung für erforderlich halten. Einigkeit men zu schaffen. zwischen Regierung und Opposition besteht aber nur hinsichtlich der Feststellung, daß das bestehende Aber für Sie sind das alles nur Problemfälle der Ar- AFG deshalb neu gestaltet werden muß, weil es beitslosenstatistik, die Sie durch Anspruchssenkung, durch zahlreiche gesetzliche Änderungen und durch Disziplinierung und Dequalifizierung zu Aspiranten unzählige Verwaltungsvorschriften unübersichtlich eines neuen Billiglohnsektors machen oder die Sie in und sogar für Fachleute kaum noch lesbar geworden private Dienstleistungen abschieben wollen. ist. Viertens schließlich: Natürlich muß eine AFG-Re- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) form die Arbeitsverwaltung selbst an die neuen Her- Die Zielsetzungen, die auf der einen Seite von der ausforderungen anpassen. Dezentralisierung, Verla- Regierung und auf der anderen Seite von der Oppo- gerung von Kompetenzen auf die unteren Hand- sition mit dem neuen Arbeitsförderungsrecht verbun- lungsebenen und mehr praxisbezogene Entschei- den werden, unterscheiden sich grundlegend. Die dungsfreiheiten sind fürwahr die richtigen und guten fünf Hauptziele, die wir mit der Reform des Arbeits- Ideen. Aber das Rezept der Organisationsreform ha- förderungsrechts erreichen wollen, sind: ben Sie bei denen abgeschaut, die gegenwärtig die Hauptverursacher der Massenarbeitslosigkeit sind, Erstens. Im Vordergrund steht die Verbesserung nämlich bei den Propheten der „schlanken Produk- der Erwerbschancen von Arbeitslosen, mithin die tion". Sie gehen nach dem Muster vor: mehr Aufga- Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß. ben für die dezentralisierten Einheiten, aber weniger - Zweitens. Dazu sollen die Instrumente der Ar- Mittel. beitsförderung zielgenauer eingesetzt und ihre Was sollen die Beschäftigten in den Arbeitsämtern Wirksamkeit gesteigert werden. zukünftig alles leisten? Drittens. Gleiches gilt für die Bundesanstalt für Ar- beit. Auch hier sind Effizienzverbesserungen mög- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Knake-Wer- lich und notwendig. ner, kommen Sie zum Schluß. Viertens. Ein wichtiges Ziel ist für uns auch, daß Leistungsmißbrauch und illegale Beschäftigung wir- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Ich komme zum kungsvoll bekämpft werden können. Schluß. Schließlich fünftens. Durch die Effizienzsteigerung Trainingsmaßnahmen und Eingliederungsverträge und durch die Bekämpfung von Leistungsmißbrauch betreuen, innovativ sein, abrechenbare Erfolgsbilan- und illegaler Beschäftigung wollen wir zu Einsparun- zen vorlegen. Die Motivation der Beschäftigten wird gen kommen, die wir für notwendig halten. allein durch Konkurrenzdruck erzwungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ihre Organisationsphilosophie reduziert sich auf ordneten der F.D.P.) Kostenminimierung. Ich muß schon sagen: Dieser Entwurf wird weder Brücken bauen noch neue Be- Frau Beck, Sie sind eine Kollegin, die sich gerade schäftigungsfelder schaffen. Herr Kollege Blüm, mit Arbeitsmarktfragen sehr ernsthaft auseinander- wenn Sie dieses Gesetz mit den Worten einbringen setzt. Sie haben recht, daß wir mit diesem Gesetz „Das Gute soll dem Besseren weichen", dann kann Einsparungen vornehmen. Ich hätte mir allerdings ich nur feststellen: Sie sind ganz schön bescheiden gewünscht, Sie hätten heute in Ihrer Rede einmal ei- geworden. nen Vorschlag gemacht, wie Sie denn bei knappen Kassen die Arbeitsförderung verbessern wollen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Um unsere Zielsetzungen zu erreichen, werden GRÜNEN) zum einen die Einsatzmöglichkeiten von vorhande- nen und bewährten Instrumenten des Arbeitsförde- rungsgesetzes verbessert. Davon betroffen sind die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: In der Debatte verschiedenen Formen der Lohnkostenzuschüsse, spricht jetzt der Kollege Julius Louven. die berufliche Weiterbildung, die Arbeitsbeschaf- (Konrad Gildes [SPD]: Der Oberderegu fungsmaßnahmen und das Kurzarbeitergeld. lierer!) Darüber hinaus werden neue Instrumente geschaf- fen, mit denen vorhandene Lücken geschlossen wer- Julius Louven (CDU/CSU): Frau Präsidentin! den sollen. Hierbei handelt es sich zum einen um Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Trainingsmaßnahmen, mit denen kurzfristig und heute vorgelegten Arbeitsförderungs-Reformgesetz ohne größeren Aufwand festgestellt werden kann, 10024 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Julius Louven was ein Arbeitsloser leisten kann und will. Ferner Versuch, Arbeitslosigkeit mittels staatlicher Beschäf- wollen wir erreichen, daß Sozialpläne nicht nur Ab- tigungsprogramme findungen vorsehen, sondern daß sie auch für früh- zeitige Eingliederungsmaßnahmen verwendet wer- (Konrad Gilges [SPD]: Die Tarifautonomie den können. ist an allem schuld! Die Arbeitslosen, die hohen Löhne - an allem ist die Tarifautono (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) mie schuld!) Weiter sollen spezielle Eingliederungsverträge für einschließlich Arbeitsförderung dauerhaft zu be- Langzeitarbeitslose abgeschlossen werden können. kämpfen, wurde in vielen Ländern unternommen, Herr Gilges. Er ist aber - wie alle internationalen Es muß bei diesen Instrumenten aber auch wieder Vergleichsstudien zeigen - überall gescheitert. einmal deutlich darauf hingewiesen werden, daß sie dazu dienen müssen, in den ersten Arbeitsmarkt zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) führen, und daß sie diesen nicht behindern dürfen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, weigern sich jedoch - ich denke, aus ideologischen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gründen -, dies zur Kenntnis zu nehmen. Es war für Ich war vorgestern beim Bundesverband für Land- mich schon fast deprimierend, Herr Ostertag, wie Sie schafts- und Gartenbau. Ich war schon erschrocken, noch immer an alten Dingen festhalten dort zu hören, daß im grünen Bereich mehr Arbeit- (Adolf Ostertag [SPD]: Welche alten Dinge?) nehmer in AFG-Maßnahmen tätig sind als bei Ar- beitgebern. Dies kann wohl nicht richtig sein. und wie wenig Sie bereit sind, sich der neuen Lage zu stellen. Sie weigern sich, die notwendigen Konse- Ich weiß, daß es in den neuen Ländern schwierig quenzen zu ziehen. Sie reden von Sozialabbau ist, dieses Ziel zu erreichen, und auch noch lange schwierig bleiben wird. Deshalb müssen wir beim (Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch so!) Zurückführen der Maßnahmen für die neuen Länder und erkennen nicht, daß Ihr Weg in die Sackgasse Sonderregelungen beschließen. Aber wir müssen- auf führt. Dauer zu einer Anpassung der Verhältnisse in Deutschland kommen. (Konrad Gilges [SPD]: Woher wissen Sie das eigentlich?) Besonders erwähnenswert ist auch, daß die örtli- chen Arbeitsämter neue Gestaltungsspielräume er- Niemand kann ernsthaft in Abrede stellen, daß wett- halten. In einem bestimmten Umfang können sie bewerbsfähige Arbeitsplätze nur dann entstehen, künftig entsprechend den Erfordernissen des örtli- wenn die Arbeitskosten erwirtschaftet werden kön- chen Arbeitsmarktes vergleichsweise frei über zuge- nen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, for- wiesene Mittel entscheiden. Allerdings müssen die dern hingegen flächendeckende Subventionen für Arbeitsämter darüber jährlich Rechenschaft ablegen. Arbeitsplätze. Sie unterliegen insoweit einer Erfolgskontrolle. (Konrad Gilges [SPD]: Quatsch!) Schließlich soll die Einrichtung einer sogenannten - Nicht „Quatsch", Herr Gilges, das steht in Ihrem Innenrevision in den Arbeitsämtern zu einer Stär- Gesetzentwurf. kung des Verantwortungsbewußtseins aller Mitarbei- ter hinsichtlich der Bekämpfung von Mißbrauch bei- (Konrad Gilges [SPD]: Sie machen doch die tragen. Mißbrauch gibt es sowohl auf der Arbeitge- Subventionen! Sie subventionieren doch die ber- wie auf der Arbeitnehmerseite. Industrie mit Milliardenbeträgen!) Ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß sich Sie verlangen, daß Rechtsansprüche auf Arbeitsbe- die Zielsetzungen grundlegend unterscheiden, die schaffungsmaßnahmen verankert werden. auf der einen Seite von der Regierung und auf der (Konrad Gilges [SPD]: Jeder Versuch, Sub anderen Seite von der Opposition mit der Reform der ventionen abzulehnen, scheitert an Ihrer Arbeitsförderung verfolgt werden. Wir haben die Klientel! Sie machen eine reine Klientel Grundentscheidung getroffen, daß die Gewährung politik!) individueller Hilfen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß im Vordergrund stehen soll. Nach den Vorstellungen der SPD soll hingegen die Arbeitsför- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gilges, möch- derung erstens die Aufgabe der Strukturförderung ten Sie eine Frage stellen? übernehmen und zweitens in den Dienst der Be- kämpfung der Arbeitslosigkeit gestellt werden. Julius Louven (CDU/CSU): Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf stehen, daß der staatlich geförderte (Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch richtig! Personenkreis, die zu fördernden Projekte und die Das ist doch heute schon so!) Fördermittel erheblich ausgeweitet werden. - Ich halte diesen Anspruch für verfehlt, Herr Gilges. (Adolf Ostertag [SPD]: Die Arbeitslosigkeit Er schafft sogar gefährliche Erwartungen. hat doch erheblich zugenommen!) In einer Marktwirtschaft mit Tarifautonomie kann Dadurch entstehen keine dauerhaft wettbewerbsfä der Staat Vollbeschäftigung nicht garantieren. Der higen Arbeitsplätze. Damit können Sie den An- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10025

Julius Louven Spruch nicht einlösen, Arbeitslosigkeit nachhaltig zu uns noch eine Reihe zu klärender Fragen gibt. Ich bekämpfen. will zwei nennen, zu denen die Diskussion in meiner Fraktion noch nicht abgeschlossen ist. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das will die SPD nicht wahrhaben!) Zum einen beschäftigt uns die Frage, ob es bei der Drittelparität in der Selbstverwaltung der Bundes- Insoweit ist auch Ihre Vorstellung irreführend, daß anstalt für Arbeit bleiben muß. Ich könnte mir durch- sich eine Ausweitung der Arbeitsförderung in Rich- aus vorstellen, daß es in einer Selbstverwaltung, die tung auf eine Beschäftigungspolitik quasi von selbst nur mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt ist, finanziert. klarere Zuständigkeiten gibt. Dadurch könnte ver- Für einen verhängnisvollen Fehler halte ich auch, hindert werden, daß sich eine Bank hinter einer an- daß Sie den Staat weiterhin in die Rolle des Repara- deren versteckt. Bei einer anders gesetzten Selbst- turbetriebes für die Fehler der Tarifvertragsparteien verwaltung könnte man dann auch darüber reden, drängen wollen. ob nicht Zuständigkeiten auf diese verlagert werden können, die heute nicht bei der Selbstverwaltung an- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - gesiedelt sind. Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch!) Der zweite Punkt bet rifft die künftige Rolle der Die Gewerkschaften haben anerkannt, daß eine mo- Landesarbeitsämter. Wenn wir dezentralisieren und derate und flexible Tarifpolitik unabdingbare Vor- die örtlichen Arbeitsämter mit angemessenen Kom- aussetzung für mehr Beschäftigung ist. Was Sie hin- petenzen ausstatten, muß die Frage erlaubt sein, ob gegen vorschlagen, nämlich umfassende Arbeitsbe- wir noch die große Anzahl von Landesarbeitsämtern schaffungsprogramme, mindert den Druck auf die brauchen oder ob nicht eine Mittelinstanz ausreicht, Tarifpartner, arbeitsgerechte Lohnabschlüsse zu tä- die höchstens fünf oder sechs Standorte hat. tigen. Auch deshalb verfehlt Ihr Gesetzentwurf das selbstgesteckte Ziel. Wer die aus tariflichem Fehlver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) halten resultierende Arbeitslosigkeit durch Arbeits- Die dadurch bei den Landesarbeitsämtern eingespar- förderung auffangen will, bekämpft nicht Arbeitslo- - ten Arbeitskräfte könnten vor Ort die Effektivität der sigkeit, sondern schafft Anreize zur Ausweitung. Arbeitsverwaltung steigern helfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Trotz einiger offener Fragen bin ich, meine Damen Deshalb verteidige ich die von uns getroffene und Herren von der Opposition, der festen Überzeu- Grundsatzentscheidung nachdrücklich. Im Vorder- gung, daß unser Weg der richtige ist und daß wir ein grund kann nur die Zielsetzung stehen, den von modernes, handhabbares Arbeitsförderungsgesetz Arbeitslosigkeit betroffenen oder davon bedrohten vorgelegt haben. Arbeitnehmern individuelle Hilfen zur Wiederein- Wir sind selbstverständlich offen für Verbesse- gliederung in den Arbeitsprozeß zu geben. Die dafür rungsvorschläge. Nach der Sommerpause werden in Frage kommenden Instrumente müssen in ihrer wir die Sachverständigen anhören. Wir laden Sie ein, Wirksamkeit verbessert und neue Instrumente müs- den Entwurf mit uns zügig zu beraten, damit das Re- sen eingesetzt werden. formgesetz - dies ist unser Wunsch und Wille - am In diesem Zusammenhang will ich auch kurz auf 1. Januar kommenden Jahres in Kraft treten kann. die Frage der Zumutbarkeit von Arbeit eingehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir weiten den Kreis zumutbarer Beschäftigungen aus. (Zuruf von der CDU/CSU: Endlich!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Jäger. Künftige Bezieher von Arbeitslosenunterstützung können sich nicht mehr auf einen bestimmten Aus bildungsabschluß berufen, wenn eine geeignete und Renate Jäger (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr vom Einkommen zumutbare Arbeit diesem Abschluß verehrten Damen und Herren! Seit gestern liegt von nicht entspricht. Ich halte dies für vertretbar. Ich sehe der Koalition ein Antrag vor, in dem es heißt: Bei der darin keine Abwertung von Ausbildungsabschlüs- Umsetzung der geplanten Einsparungen im Bereich sen, zumal es ja wohl unbestreitbar ist, daß Aus- und der Bundesanstalt für Arbeit ist auch ein differenzier- Weiterbildung in der jetzigen Zeit wichtiger denn je tes Vorgehen zu beachten, das die besonderen Pro- sind. Jedoch können Ausbildungsabschlüsse nicht blemlagen des ostdeutschen Arbeitsmarktes berück- die Rolle des Bestandsschutzes für bestimmte berufli- sichtigt. - Ich hätte von den Rednern der Koalition che Positionen und insoweit auch nicht für die Höhe gern einmal ein paar Ausführungen zu diesem diffe- der Lohnersatzleistungen übernehmen. renzierten Vorgehen gehört; vielleicht spricht Herr Laumann noch dazu. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD - Julius Louven [CDU/ Arbeit, meine Damen und Herren - darauf hat der CSU]: Ich habe dazu etwas gesagt, Frau Arbeitsminister schon hingewiesen -, schändet nicht, Jäger!) auch dann nicht, wenn sie unterhalb des erworbenen Ausbildungsabschlusses aufgenommen wird. Wir sprechen heute über eine Reform, über ein Re- formgesetz. Reformen und Veränderungen sind im- Dieses Reformgesetz wird uns den gesamten mer dann angebracht, wenn unerwartete oder auch Herbst des Jahres beschäftigen, wobei es auch für langfristig erwartete Veränderungen und Entwick- 10026 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Renate Jäger lungen nicht mehr in die gegenwärtigen Rahmenbe- Störungen. Auch die negativen Auswirkungen auf dingungen passen oder diese zu sprengen drohen. Familien, insbesondere auf Kinder, und die Folgen Rahmenbedingungen und die Realität sind niemals der Perspektivlosigkeit für die Jugend, die sich zum losgelöst voneinander zu betrachten. Das heißt, einer Beispiel in dem Ansteigen der Jugendkriminalität politischen Maßnahme muß die reale Situation ent- äußern, sind dabei noch lange nicht berücksichtigt. sprechen. Wenn die Frauenministerin, Frau Nolte, das Re- Deshalb lassen Sie mich, bevor ich auf einige formgesetz als einen Beitrag für mehr Gleichberech- Punkte der AFG-Reform eingehe, die besonders Ost- tigung rühmt, dann hat sie dabei nicht berücksich- deutschland betreffen, einen Blick auf die Situation tigt, daß der Frauenanteil im Osten in Maßnahmen in Ostdeutschland werfen. der Fortbildung und Umschulung 63 Prozent beträgt, in Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung 66 Prozent. Die Insolvenzhäufigkeit im Osten ist fast doppelt Das heißt, Einsparungen bei diesen Maßnahmen ge- so hoch wie die im Westen. Fachleute der Wirtschaft hen insbesondere zu Lasten der Frauen. sagen bis Ende 1996 und auch für 1997 eine Welle von Pleiten für Ostdeutschland voraus. Nach guten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Anfängen kam das Wachstum in Ostdeutschland An- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN fang 1996 fast völlig zum Stillstand. Sechs Jahre nach und der PDS) der Einheit gibt es nicht einmal mehr 50 Bet riebe mit Bereits mit der jährlichen Kürzung der Arbeitslo- mehr als 1 000 Beschäftigten. Betriebe mit 400 bis senhilfe um 3 Prozent, für die die Koalition ja bereits 500 Beschäftigten, die in den alten Ländern zum Mit- in der vorigen Woche votiert hat, sind die neuen Bun- telstand gehören, sind in Ostdeutschland schon recht große Unternehmen. desländer besonders gekniffen. Die Löhne im Osten sind niedriger; das heißt, die Arbeitslosenhilfe fällt Die Arbeitslosenquote betrug im Mai im Osten niedriger aus; das heißt, diese Menschen sind alle 15,2 Prozent. Zählt man Beschäftigte in Arbeitsbe- wesentlich früher auf die Sozialhilfe angewiesen, schaffungsmaßnahmen und in Maßnahmen der Fo rt was insbesondere die schwachen Kommunen des -bildung und Umschulung dazu, beträgt die Quote Ostens weiter stark belastet. derer, die keinen Arbeitsplatz auf dem ersten- Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beitsmarkt haben, 24 Prozent. Auch in der For- schung ist Ostdeutschland abgehängt. Auf 100 000 Diese Einsparungen im Reformgesetz gehen wieder Einwohner kommen in den alten Ländern 433 Be- mehr zu Lasten der finanzschwachen ostdeutschen schäftigte in Wissenschaft und Forschung, in den Kommunen. Wenn wir den Einigungsprozeß vollen- neuen Bundesländern 118. den wollen, dürfen ungleiche Belastungen nicht noch verstärkt, sondern sie müssen abgebaut wer- Selbst der Wirt schaftsminister, Herr Rexrodt, sieht den. die neuen Länder noch lange nicht am Ziel. Ich be- tone es noch einmal: noch lange nicht am Ziel. Es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne grenzt fast an eine Groteske, wenn die Koalition an- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gesichts dieser Schwächen im Osten mit dem Re- und der PDS) formgesetz besonders im Osten sparen will. Die SPD hat in ihrem Entwurf für ein Arbeits- und (Beifall bei der SPD und der PDS) Strukturförderungsgesetz vorgeschlagen, daß die Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktförderung ei- Die vorgesehenen Einsparungen im Bereich der Ar- nen Anteil von mindestens 50 Prozent haben müssen. beitsförderung für 1997 in Höhe von 1,7 Milliarden Damit durchbrechen wir den Mechanismus des gel- DM gehen allein - ich wiederhole: allein - zu Lasten tenden AFG, der bei ansteigender Arbeitslosigkeit des Ostens. In den späteren Jahren wird dann die die aktiven Kann-Leistungen durch die passiven Hälfte der geplanten Einsparungen, was aber na- Pflichtleistungen verdrängt, was in den neuen Bun- hezu dieselbe Summe ausmacht, auf die ostdeut- desländern ohne eine Sonderförderung für den schen Länder abgewälzt. Osten verheerende Auswirkungen gehabt hätte. Im Das bedeutet, daß in Ostdeutschland nur noch Reformgesetz der Koalition bleibt dieser alte Mecha- etwa ein Drittel der heutigen Maßnahmen gefördert nismus aber erhalten, und die Sonderförderung Ost werden kann. Von den ungefähr 120 000 Teilneh- wird weitestgehend abgeschafft. mern in Maßnahmen der Fortbildung und Umschu- Meine sehr verehrten Damen und Herren, natür- lung sowie in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in lich wäre es besser, wir hätten für die Arbeitslosen Sachsen würden im Jahre 2000 nur noch zirka 38 000 entsprechende wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. gefördert werden können. Das Ergebnis ist weiter Natürlich würden wir lieber alle Arbeitslosen im re- steigende Arbeitslosigkeit. Bis zum Jahr 2000 käme gulären Arbeitsmarkt unterbringen. in den neuen Bundesländern eine Viertelmillion an Arbeitslosen dazu, was die Arbeitslosenquote auf na- (Zuruf von der CDU/CSU: Nur Mut!) hezu 20 Prozent erhöhen würde. Auch für die SPD haben Arbeitsplätze im ersten Ar- Im Endeffekt heißt das wieder Mehrausgaben für beitsmarkt Vorrang. Arbeitslosigkeit: Mehrausgaben an Arbeitslosengeld (Beifall bei der SPD) und Arbeitslosenhilfe. Dabei sind die zusätzlichen Kosten in anderen Bereichen noch gar nicht berück- Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koali sichtigt, etwa Krankheitskosten durch psychosoziale tion, wissen das auch bis auf wenige Ausnahmen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10027

Renate Jäger Wer anderes behauptet, betreibt bewußte Verleum- daß die Wirtschaft aus sich heraus wieder einen im dung. volkswirtschaftlichen Maßstab entsprechend hohen Zuwachs an Beschäftigung zustande bringt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]) (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Minister Blüm, Sie haben die Bibel zitiert: Du Wir selbst müssen die Rahmenbedingungen set sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Näch- zen, damit Investitionen stattfinden und damit wir sten. Das aber haben Sie damit getan, wenn Sie der auf dem Weg zur Halbierung der Arbeitslosigkeit bis SPD vorwerfen, sie lege auf den ersten Arbeitsmarkt zum Jahr 2000 die erforderlichen neuen Arbeits- keinen prioritären Wert. plätze bekommen. Nur mit einer ausreichenden Be- (Beifall bei der SPD) schäftigung ist auch die soziale Sicherheit in Deutschland finanzierbar und gesichert. Der Unterschied besteht doch da rin: Neben dem ersten Arbeitsmarkt kann doch bei vier Millionen Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) beitslosen die öffentlich geförderte Arbeit nicht zu- rückgestutzt werden, wie Sie das tun wollen. Wenn wir gestern lesen mußten, daß die uns allen bekannte stellvertretende DGB-Vorsitzende Frau En- (Beifall bei der SPD) gelen-Kefer vor katastrophalen Auswirkungen des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfs gesprochen hat, Der Gesamteinsatz der Mittel zur Arbeitsförderung dann kann diese Bewe rtung nur allgemeines Kopf- muß doch dann und dort am höchsten sein, wo die schütteln auslösen, Arbeitslosigkeit am höchsten ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Zuruf von der SPD: Sie hat recht!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ebenso wie die Äußerung des Kollegen Ostertag von Ihre vorgesehenen Veränderungen der Rahmenbe- heute morgen, dies sei ein Katastrophengesetz. dingungen entsprechen nicht den Realitäten in Ost- (Adolf Ostertag [SPD]: Das ist es! Sie müs deutschland. Natürlich, Herr Blüm, ersetzt -das AFG sen mal genau hingucken und die Auswir keine verantwortungsvolle Wirtschafts- und Struk- kungen betrachten!) turpolitik. Schaffen Sie doch die Rahmenbedingun- gen dafür, daß die Braunkohlereviere im Osten nicht - Unterstellte man, daß Sie den Gesetzentwurf nicht weiter veröden! Schaffen Sie doch Rahmenbedin- gelesen haben, verstünde man das Ganze ja noch, gungen dafür, daß die kapitalschwachen Unterneh- aber, lieber Herr Kollege Ostertag, mit solchen Äuße- men in den neuen Bundesländern langfristig eine rungen schaden Sie sich nicht nur selbst, sondern Sie Chance bekommen! Wenn Sie mehr für den ersten schaden vor allen Dingen auch den Arbeitslosen Arbeitsmarkt tun, brauchen wir weniger über den draußen im Lande, zweiten Arbeitsmarkt zu reden. (Beifall bei der CDU/CSU) Danke schön. die von uns Handeln und nicht Nörgelei und Mies- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei macherei erwarten. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Sie müssen doch ein mal handeln! Sie handeln doch nicht! - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Gegenruf des Abg. Siegfried Hornung spricht der Kollege Dr. Peter Ramsauer. [CDU/CSU]: Der Obergewerkschafter!) Wir wollen keine Neiddiskussion, wir wollen keine Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sehr geehrte Schlechtmacherei, sondern wir müssen entschlossen Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- handeln. legen! Ob die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu ei- nem langfristigen Dauerproblem wird, Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Gesetz- entwurf zu einem neuen Arbeitsförderungsrecht be- (Adolf Ostertag [SPD]: Das ist sie schon!) zeichne ich als eine kleine Revolution. Das, was die- hängt im wesentlichen davon ab, ob wir heute fähig ser Gesetzentwurf vorsieht, wäre vor fünf oder zehn und in der Lage sind, die notwendigen Weichen zu Jahren noch nicht möglich gewesen. Ich bin deshalb stellen und die richtigen weittragenden Entscheidun- auch zutiefst davon überzeugt, daß wir mit diesem gen zu treffen. Wer sich solchen Reformen heute wi- Reformvorhaben auch ein Zeichen für die Reform- dersetzt, verspielt das Vertrauen der kommenden fähigkeit in Deutschland setzen, Generation. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) denn das ist ein Stück Reformfähigkeit unserer Poli- Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist eine wirt- tik. Wir sind nicht so verkrustet, wie wir manchmal in schaftspolitische, aber natürlich auch eine sozialpoli- der veröffentlichten Meinung beschrieben werden. tische Aufgabe. Die Politik selbst kann unmittelbar Mit solchen Gesetzen und einem solchen Paket, wie keine Arbeitsplätze schaffen, aber es ist unsere Ver- es in der nächsten Woche zur Diskussion anstehen antwortung, die Rahmenbedingungen so zu setzen, wird, zeigen wir unsere Entschlossenheit, die not- 10028 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Peter Ramsauer wendigen Reformen in Deutschland auch wirklich kommen - genau das wollten wir bezwecken, auch parlamentarisch anzupacken. wenn im Bereich der p rivaten Arbeitsvermittlung die Zahl der Vermittlungen nicht so gestiegen ist, wie es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) manche geglaubt haben. Die wichtigste Weichenstellung hierbei war, Ar- Zum anderen zeugt der SPD-Vorschlag von einer beitsförderung nicht als allgemeine Strukturförde- extremen Ausweitung des zweiten Arbeitsmarktes rung, sondern als individuelle Hilfe zu verstehen, und damit auch von der Lernunfähigkeit der SPD. also als Hilfe zur dauerhaften Wiedereingliederung Die bisherigen Erfahrungen in Westdeutschland zei- von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. gen eindeutig, daß mit einer breitangelegten staatli- Arbeitsförderungsrecht darf sich nicht als Rast- chen Förderung bestimmter Bereiche ein Struktur- platz für Arbeitslose, sondern muß sich immer als wandel nicht beschleunigt werden kann. Die Struk- Brücke in den ersten Arbeitsmarkt hinein verstehen. turen werden eher verfestigt, wenn durch überzo- Ich gebe zu, meine Damen und Herren, daß sich gene Subventionen volkswirtschaftliche Ressourcen diese Brückenfunktion in den letzten Jahren ausge- fehlgeleitet werden. Das ist eine alte Binsenweisheit, dehnt hat und diese Brücke so breit und so tragfähig die man im ersten Semester Volkswirtschaft lernt. geworden ist, daß viele diese Brücke mit dem Fest- Auch die Erfahrungen in Ostdeutschland machen land verwechselt haben. Wir müssen diese Brücke deutlich: Eine unbegrenzte Förderung des Ausbaus wieder etwas schmaler machen, damit sie als Brücke des zweiten Arbeitsmarktes würde zu keiner verbes- erkennbar wird. Ziel muß der erste Arbeitsmarkt serten Funktionsfähigkeit des Strukturwandels füh- sein, nicht ein dauerhaftes Verharren im zweiten Ar- ren. beitsmarkt auf Kosten der Beitragszahler. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Im Gegen (Beifall bei der CDU/CSU) teil!) Diese Beitragszahler sind nicht nur Arbeitgeber, son- - Genau, Herr Kollege Hornung. - Im Gegenteil, da- dern auch Arbeitnehmer, deren Interessen Sie, liebe durch würde die Wettbewerbsfähigkeit der Unter- Kolleginnen und Kollegen von der SPD, immer- bes- nehmen geschwächt, und neue Arbeitsplätze wür- ser vertreten zu können vorgeben. den gefährdet. (Adolf Ostertag [SPD]: Davon haben wir Der Beitragszahler hat übrigens überhaupt kein auch mehr Ahnung!) Verständnis dafür, wenn seine Beitragsmittel in un- sinnige Maßnahmen fließen. Alle neuen Instrumente zur Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wie der neuartige Ein- An dieser Stelle ein kurzes Wo rt an Sie, liebe Frau gliederungsvertrag als besondere Chance gerade für Kollegin Jäger. Sie haben angesprochen, daß die Ar- Langzeitarbeitslose, Weiterbildungsmaßnahmen für beitsförderung zuwenig Rücksicht auf die neuen Ungelernte, Unterstützung von Sozialplänen zur Bundesländer nähme. Ich glaube, man kann mit Fug Wiedereingliederung entlassener Arbeitnehmer, und Recht sagen, daß die Solidarität, mit der die al- Trainingsmaßnahmen und Hilfen für Arbeitslose, die ten Bundesländer mit Transferleistungen und mit ei- eine Existenz als Selbständige aufbauen wollen, sind ner glänzenden Aufbauleistung in der Arbeitsver- ausschließlich auf dieses Ziel hin ausgerichtet. waltung dem Strukturwandel und dem Arbeitsmarkt in den neuen Ländern unter die Arme gegriffen ha- Dagegen kann man, meine Damen und Herren ben, in der Welt ohne Beispiel ist. von der SPD, die Grundkonzeption Ihres Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes nur als großen, nach (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge hinten gerichteten Irrtum bezeichnen. Ich glaube, es ordneten der F.D.P.) genügt, wenn ich auf zwei Punkte daraus kurz ein- Das soll uns erst einmal jemand nachmachen. gehe. Zum einen ist Ihr Entwurf nicht zukunftsweisend, Wenn beim Übergang von einer kaputten Kom- sondern rückwärtsgerichtet. Sie fordern beispiels- mandowirtschaft die Zahl der Erwerbstätigen zu- nächst einmal um ein Drittel, von 9 Millionen auf weise die Wiedereinführung des Schlechtwettergel- 6 Millionen, zurückgeht, damit danach wieder frisch des, nachdem sich die Tarifpartner auf diesem Gebiet längst geeinigt haben. Sie wollen die Wiedereinfüh- angefangen werden kann, dann können Sie die da- mit verbundenen Probleme nicht einer scheinbar f al- rung des Arbeitsvermittlungsmonopols und überse- hen, daß gerade die Aufhebung des Alleinvermitt- schen Arbeitsmarktpolitik in die Schuhe schieben; lungsrechts der Bundesanstalt für Arbeit dazu ge- denn unsere Arbeitsmarktpolitik lebt auch nur von führt hat, daß das Ansehen dieser Anstalt gestiegen endlichen Ressourcen. Hier ist Hervorragendes gelei- ist und ihre Anstrengungen der Arbeitsvermittlung stet worden: vom Beitragszahler über die Transferlei- vor Ort erheblich zugenommen haben. stungen in die neuen Bundesländer, von der dort tä- tigen, investierenden Wirtschaft und auch - dies sage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ich ausdrücklich an die Adresse aller, die in der Ar- ordneten der F.D.P.) beitsverwaltung beschäftigt sind - von allen, die in der Arbeitsverwaltung beim Aufbau der Arbeits- Sie hat den Wind des Wettbewerbs um die behördli- ämter in den neuen Bundesländern tätig waren. che Nase gespürt und sich angestrengt. Sie hat neue Systeme entwickelt, die von den Arbeitslosen hervor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ragend angenommen werden. Es ist Wind hineinge ordneten der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10029

Dr. Peter Ramsauer Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nur durch Wir in diesem Hause setzen die Rahmenbedingun- den zielgenauen Einsatz der Instrumente, die uns gen als Gesetzgeber, und gemäß dem Subsidiaritäts- das neue Arbeitsförderungsrecht zur Verfügung prinzip muß dieser Rahmen von den Arbeitgeber- stellt, sind die Eingliederungschancen zu erhöhen. und Arbeitnehmervertretern vor Ort in den Verwal- tungsausschüssen ausgefüllt werden. Das ist regio- (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard nale Arbeitsmarktpolitik. Hirsch) Das gleiche Verschlankungsrezept empfehle ich Das neue Arbeitsförderungsrecht gibt die Möglich- auch dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für keit, für jeden einzelnen Arbeitslosen ein breitgefä- Arbeit. 3 mal 17 Mitglieder plus Stellvertreter ist chertes Maßnahmenbündel zu schnüren. Das Ar- gleich 102 tagende Mitglieder. Das ist zuviel, meine beitsamt kann individuell und flexibel auf jeden ge- Damen und Herren. Ich stelle die öffentliche Bank in gebenen Einzelfall eingehen. Ziel ist also eine ganz Frage. Dann hätten wir nur noch 2 mal 17 Mitglieder. persönliche Dienstleistung durch die Arbeitsverwal- Wenn man die Zahl von 17 auf die Zahl pro Bank vor tung für den und mit dem Arbeitslosen. Dies wird der Wiedervereinigung zurückführt, dann hätten wir durch einen neuen Innovationstopf der Arbeitsämter 2 mal 13 Mitglieder. Das sind 26. Und das, meine Da- ergänzt. Wir nutzen sozusagen die Kreativität vor men und Herren, wäre ein Verwaltungsrat, der wirk- Ort, um Arbeitslosen entsprechend der persönlichen lich überschaubar, entscheidungs- und arbeitsfähig und örtlichen Situation zu helfen. wäre. Die Arbeitsverwaltung darf sich aber nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU) dem Arbeitslosen widmen. Sie muß sich künftig auch vermehrt für den engagierten Arbeitgeber einsetzen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich der Arbeitsplätze schaffen will. Wir brauchen deswe- glaube, daß mit diesem Gesetzentwurf ein entschei- gen ein optimales Zusammenwirken aller Beteilig- dender Schritt getan wird, damit wir bis zum Jahre ten, um die notwendige Zahl offener Stellen bereit- 2000 die Zahl der Arbeitslosen auf die Hälfte und im stellen zu können. Interesse aller Beitragszahler die Beiträge zur Ar- beitslosenversicherung um einige Prozentpunkte re- Wir wollen die Arbeitsverwaltung dezentralisieren- duzieren können. Ich lade Sie, meine Damen und und schlanker machen; das ist ein weiteres wichtiges Herren von der Opposition ein, mit uns dabei an ei- Ziel dieser Reform. Wir müssen - auch das wurde nem Strang zu ziehen. schon angesprochen - die gesamte Struktur der Ar- beitsverwaltung vom Kopf bis zu den Füßen, bis hin- Besten Dank. ein in die letzten Dienststellen bei den Arbeitsämtern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unter die Lupe nehmen. Wenn sich herausstellt, daß die Mittelebene nicht mehr hinreichend Aufgaben wahrnehmen kann oder will, dann müssen wir über- Vizepräsident Dr. : Ich erteile dem legen, ob wir die Mittelebene der Landesarbeitsäm- Abgeordnete Konrad Gilges das Wo rt. ter überhaupt noch brauchen. Es gibt auch hier keine Tabus, zumindest ist aber ihre Zahl erheblich zurück- (SPD): Herr Präsident! Meine sehr zuschrauben. Konrad Gilges verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Besonders, meine Damen und Herren, liegt mir die und Kollegen! Ich will zu Beginn etwas klarstellen. Selbstverwaltung vor Ort am Herzen, das heißt, wir Herr Blüm ist ein Meister der Propaganda und der müssen die Verwaltungsausschüsse bei den Arbeits- Agitation. Das hat er heute morgen wieder gezeigt. ämtern stärken. Bisher - das muß man sich einmal Aber, Herr Blüm, es geht kein Weg daran vorbei: Für ansehen - sind das Kaffeekränzchen, Informations- die vier Millionen Arbeitslosen haben Sie, Ihre Re- veranstaltungen mit geringem Unterhaltungswert. gierung, Ihre Mitstreiter die Verantwortung. Die Wir müssen die dort sitzenden Vertreter von Arbeit- Zahl von vier Millionen ist ein Ergebnis Ihrer verfehl- gebern, Arbeitnehmern und der öffentlichen Bank ten Arbeitsmarktpolitik. mit neuen Kompetenzen und neuen Verantwortun- gen ausstatten. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das muß am Anfang einmal klargestellt werden, Sie müssen in Zukunft über den Geldmitteleinsatz denn Ihre Propaganda und Agitation erwecken den entscheiden können, damit sie einen Anreiz haben, Eindruck, als wären wir Sozialdemokraten die Ver- regionale und lokale Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. antwortlichen. Wir nehmen sie auch in die Verantwortung, indem sie in Zukunft Eingliederungsbilanzen vorlegen müssen. Zweitens. Über die Notwendigkeit einer Reform wird überhaupt nicht gestritten. Ist es denn eine Re- Ich habe wenig Lust, meine Damen und Herren - form, was Sie vorlegen? Hat es etwas mit Reform zu da stimmen Sie mir bestimmt zu -, daß alle Klagen tun? Es ist keine Reform. Es ist ein Sozialabbauge- über zuwenig funktionierende Arbeitsämter bei uns setz, sonst überhaupt nichts. Parlamentariern abgeladen werden. Ich möchte, daß diese Klagen in Zukunft von Arbeitgebern und Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beitnehmern bei ihren Vertretern in den Verwal- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tungsausschüssen vorgebracht werden. Es geht darum, 17 Milliarden DM in der Perspektive (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einzusparen und nicht darum, neue Wege zu gehen. 10030 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 Konrad Gilges Dann hätten Sie sich unserem Gesetzesentwurf an- sten Arbeitsmarkt hineinzukommen oder nicht. Das, schließen müssen. Alles, was in Ihrem Reforment- was Sie da mit den Arbeitslosen veranstalten, finde wurf gut ist, haben Sie von unserem Gesetzentwurf ich schlicht und einfach schofelig. abgeschrieben. So einfach ist die Welt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf DIE GRÜNEN) von der SPD: Abschreiber!) Dann möchte ich noch etwas zum Ausbildungs- Sie beklagen, daß das Gesetz nicht lesbar sei und vermittlungsmonopol sagen. Ich habe überhaupt daß es 100 Novellen gebe. Nun haben wir immer be- nicht verstanden, weshalb Sie das Ausbildungs- klagt, daß Sie die Hauptverantwortung dafür tragen. vermittlungsmonopol der Arbeitsämter abschaffen Wer hat das Gesetz denn einmal oder zweimal im wollen. Wer soll es denn in Zukunft haben? Wie Jahr geändert? Doch Ihre Mitstreiter, Ihre Regierung! soll diese Ausbildung denn dann vermittelt werden? Wir haben das Gesetz nicht geändert. Es ist Ihre Ver- Was findet denn da statt? Soll das dem freien Markt antwortung, daß das Gesetz unlesbar geworden ist, überlassen werden? Wollen Sie die Jugendlichen, daß es keiner mehr versteht, weder der Arbeitneh- die in den Arbeitsmarkt hineinwollen, eventuell mer noch der Arbeitgeber, noch die Beamten in der irgendwelchen privaten Ausbildungsvermittlern Arbeitsverwaltung. Es wäre gut gewesen, wenn Sie überlassen? Das kann doch wohl nicht ernstgemeint hier heute morgen einmal zu Ihrer Verantwortung sein. Es wäre wirklich vernünftig, wenn Herr Lau- gestanden hätten. mann, der, glaube ich, noch ein Herz für Auszu- bildende hat, eine Klarstellung herbeiführen würde, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne daß Sie genau das nicht wollen. Die Privatisierung ten der PDS) des Ausbildungsmonopols ist, glaube ich, eine In dem Gesetz von 1969, das Ihr großer Vorgänger schlimme Regelung, die im Gesetzentwurf enthalten Hans Katzer als damaliger Arbeitsminister gemacht ist. Es wäre gut, wenn Sie das hier klarstellen wür- hat, gab es ein Gleichgewicht der Schwerpunkte, den. nämlich der Arbeitsförderung und der Hilfen, des Angesichts der fortgeschrittenen Redezeit will ich Arbeitslosengeldes. Dieses Gleichgewicht- war da- nur noch folgendes sagen: Gestern abend ist mir mals eine wichtige Angelegenheit. Man wollte weg beim Lesen aufgefallen, daß Sie eine Neudefinition von der reinen Arbeitslosenhilfe, von der Unterstüt- der Arbeitslosigkeit vornehmen. Ich habe immer zung, und man wollte dazu kommen, durch Umschu- überlegt, was dahintersteckt, was der Hintergrund lungs-, durch Bildungsmaßnahmen und viele andere für eine solche Neudefinition sein kann. Ich bin zu Maßnahmen - ich will sie jetzt nicht alle im Detail dem Ergebnis gekommen, daß Sie nur an der Stati- nennen - aktiv in den Arbeitsmarkt einzugreifen. stik manipulieren wollen. Nur das kann der Grund Das ändern Sie jetzt mit Ihrem Reformentwurf. Das sein. Das heißt, Sie wollen mit der Neudefinition von heißt, das Schwergewicht wird verlagert, indem Sie Arbeitslosigkeit die Arbeitslosenzahlen nicht real, wieder zur reinen Unterstützungskasse zurückkeh- sondern künstlich über die Statistik herunterschrau- ren, und das Positive, das 1969 in das Arbeitsförde- ben. Das haben Sie in diesem Land ja schon einmal rungsgesetz hineingeschrieben worden ist, wird Zug durchexerziert. Damit ist jedoch keinem Arbeitslosen um Zug eliminiert. Das ist das Schlimme an Ihrem geholfen. Er bleibt weiterhin arbeitslos, auch wenn Reformentwurf. Sie die Statistik verändern. Das hat mit Reformen überhaupt nichts zu tun, sondern das ist schlicht und (Beifall bei der SPD) einfach - ich sagte es schon - eine Täuschung der Öffentlichkeit. Das heißt, Sie verbessern nichts an der Arbeitsmarkt- lage. Im Gegenteil, Sie schreiben die Arbeitslosen Dann will ich noch etwas zu der Frage der Zu- ab. Das ist der Ke rn Ihres Reformentwurfs. mutbarkeit sagen. Ich kann mir vorstellen, daß das in den Beratungen und in den Anhörungen noch ein Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. spannender Punkt wird. Sie reduzieren ja die Zumut- Die berufliche Weiterbildung ist ein wichtiges Merk- barkeitsschwelle und sagen schlicht und einfach: mal für unsere Gesellschaft. Im Gesetz gibt es noch Wenn jemand gemäß seiner Qualifikation nicht ver- einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Ich finde mittelbar ist, muß er auch dann einen anderen es nach wie vor richtig, daß es im Gesetz diesen Arbeitsplatz annehmen, wenn er nur wenig mehr Rechtsanspruch gibt. Welche Chancen hat denn je- bekommt als durch die Arbeitslosenunterstützung. mand, der aus einem Betrieb ausscheiden muß, der Das ist, verkürzt gesagt, Ihre Philosophie - so nennen entlassen wird, dessen Qualifikation - das gilt insbe- Sie es ja -, die in diesem Gesetz zum Ausdruck sondere für ältere Arbeitnehmer - nicht mehr aus- kommt. reicht, um wieder in den Arbeitsprozeß hineinzukom- men, wenn ihm nicht die Möglichkeit zur Weiterbil- Andererseits frage ich mich, Herr Blüm, weshalb dung, zur Verbesserung seiner Qualifikation gege- ein junger Mensch überhaupt noch eine Qualifika- ben wird? Das ist die einzige Chance, die ein Arbeits- tion anstreben soll, wenn diese Qualifikation keinen loser in dieser Gesellschaft hat, um wieder in den Ar- Wert an sich hat. Warum soll er sich noch qualifizie- beitsprozeß hineinzukommen. Diese Chance neh- ren - das gilt sowohl für die Erst- als auch für die spä- men Sie ihm aber, indem Sie aus dem Rechtsan- tere Weiterqualifikation -, wenn ihm jeder mitteilt: spruch eine Kann-Lösung machen. Das heißt, Sie „Es ist egal, welche Qualifikation du hast; du hast entscheiden willkürlich nach den finanziellen Gege- keinen Anspruch, gemäß deiner Qualifikation auch benheiten, ob er eine Chance bekommt, in den er- einen Arbeitsplatz zu bekommen"? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10031

Konrad Gilges Das einzig wirklich Wertvolle in dieser Republik Konrad Gilges (SPD): Ja, wenn das noch geht. stellt die Qualifikation unserer Arbeitnehmer dar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ja, sicher, na- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN türlich. - Frau Babel. und der PDS) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Gilges, erst Wer mit dieser Qualifikation Schindluder treibt, ver- einmal vielen Dank, daß Sie bestätigen, daß ich eine sündigt sich mehr als jeder andere an dem Standort Liberale bin. Deutschland. (Peter Dreßen [SPD]: Neoliberale! - Konrad (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gilges [SPD]: Für mich wäre das ein Deshalb ist das, was Sie unter den Begriff Zumut- Schimpfwort!) barkeit fassen, die Aufforderung an junge Men- - Das weiß ich. Ich möchte Sie jetzt auffordern, auch schen, keine Qualifikation mehr anzustreben. über folgende Frage nachzudenken. Die Tarifautono- (Zuruf des Abg. Wolfgang Lohmann mie ist dazu geschaffen, daß in freier Aushandlung [Lüdenscheid] [CDU/CSU]) Löhne für geleistete Arbeit vereinbart werden kön- nen. Ich mahne an, daß man beim Aushandeln nicht - Herr Lohmann, als Mitglied des Verwaltungsaus- nur an diejenigen denkt, die einen Arbeitsplatz ha- schusses eines Arbeitsamtes kenne ich die Probleme ben, sondern auch an diejenigen, die keinen Arbeits- vor Ort. Ich weiß, daß zum Beispiel die Deutsche platz haben, nämlich die Arbeitslosen. Dafür muß Bahn AG Auszubildende sucht. Sie sucht sie aber man zum Beispiel das Instrument der Einstiegstarife deswegen, weil sich junge Menschen nicht bei der für Arbeitslose akzeptieren. Mir geht es darum, daß Deutschen Bahn ausbilden lassen wollen, da sie do rt bei diesen Verträgen die in jetzigen Zeiten für die keine Perspektive haben. Die Deutsche Bahn teilt ganze Arbeitswelt notwendige Flexibilität - das glei- nämlich gleichzeitig mit: Du wirst von uns nicht über- che gilt zum Beispiel auch für die betrieblichen Öff- nommen. Wir werden das Personal in den nächsten nungsklauseln - und die Ausnahmemöglichkeiten 20 Jahren um ein Drittel reduzieren. - vergrößert werden. Sie stärken die Akzeptanz des Flächentarifvertrags und den Status der Tarifpar- Warum soll ein junger Mensch in solch einem Be- teien, wenn man den Tarifvertragsparteien die Mög- trieb eine Ausbildung machen, die speziell nur auf lichkeit gibt, sich in diesen Dingen anpassungsfähig diesen Betrieb zugeschnitten ist? Ein junger Mensch und flexibel zu zeigen. Das möchte ich Ihnen, zur Er- sieht darin keine Logik. Er sieht also nur eine mahnung, die Tarifautonomie zu erhalten, ins Chance, diese Ausbildungsmöglichkeit wahrzuneh- Stammbuch schreiben. Wenn Sie jetzt nicken, dann men, wenn ihm gleichzeitig gesagt wird, daß es eine bin ich schon ziemlich froh. Weiterbildung gibt, die von uns finanziert wird, und auf Grund dieser Qualifikation ferner die Möglich- keit besteht, woanders einen angemessenen Arbeits- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin platz zu bekommen. Das ist die entscheidende Frage, Babel, das war keine Zwischenfrage, das war schon die Sie offenlassen. Diese Angelegenheit wird sich, eine ausgewachsene Intervention. Dementsprechend wie ich glaube, ganz schrecklich auf die Qualifika- bekommen Sie, Herr Kollege Gilges, zusätzliche Re- tion unserer Arbeitnehmer auswirken. dezeit. Zum Schluß will ich etwas zum zweiten Arbeits- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ich fasse das in die Frage: markt und zu der 20prozentigen Absenkung des Stimmen Sie mir zu? Tariflohnes sagen. Frau Babel, ich bin erschrocken über Ihre Argumentation. Sie sind eine Liberale, und das wissen wir alle. Konrad Gilges (SPD): Ich stimme Ihnen nicht zu, und zwar deswegen nicht, weil es sachlich nicht rich- (Peter Dreßen [SPD]: Erzliberale!) tig ist. Frau Babel, wenn Sie einmal in den Tarifver- trag hineinsähen, wären viele Debatten viel einfa- Ein Grundprinzip der Liberalität, so habe ich es im- cher. Es hat immer schon Abstufungen in den Tarif- mer verstanden, ist die Möglichkeit, Tarifverträge frei verträgen gegeben. aushandeln zu können. Das heißt: Wenn Tarifver- tragsparteien etwas aushandeln, gilt das, und der Es gab immer schon Einstellungstarife. Ich will Ih- Staat braucht nicht einzugreifen. Nur bei der Tarif au- nen ein Beispiel nennen. Ich habe nach meiner Lehre tonomie sind Sie anderer Meinung. Daher frage ich im ersten Jahr als Fliesenlegergeselle mit 80 Prozent Sie ganz ernsthaft: Weshalb geben Sie Ihren libera- des Fliesenlegerlohns angefangen. Im zweiten Ge- len Standpunkt in bezug auf die Tarifautonomie auf? sellenjahr habe ich 90 Prozent bekommen. Erst im Weshalb lassen Sie nicht zu, daß die Tarifvertrags- dritten Jahr bekam ich den 100prozentigen Gesellen- parteien aushandeln, welchen Lohn ein Arbeitneh- lohn. Das ist in vielen anderen Handwerksbereichen mer erhält, und wollen ihn vom Staat festsetzen las- genauso, das ist auch in vielen Betrieben so, zum Bei- sen? spiel in der Chemieindustrie. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist eine Mär, daß der Arbeitgeber nicht in der Lage sei, jemanden unter dem geltenden Tarifvertrag Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, einzustellen, wenn er das will, auch wenn der Be- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel? schäftigte Anspruch auf einen höheren Lohn in die- 10032 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Konrad Gilges sem Betrieb hätte, weil er eine vergleichbare Be- sche Opposition in Deutschland das Augenmaß ver- schäftigung ausübt. Das ist eine Mär und stimmt in loren hat. der Sache nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Was die IG Chemie gemacht hat, ist etwas anderes. ordneten der F.D.P.) Sie hat einen speziellen Tarifvertrag für eine be- stimmte Gruppe gemacht. Das ist etwas ganz ande- Warum sage ich das? Ich halte viel davon, Politik res. Dazu sage ich: Das kann man als Tarifvertrags- auch so zu gestalten, daß man den Menschen in die- partei natürlich machen, ich bin auch dafür, daß man sem Land keine Angst macht. Wir sollten anerken- das unter bestimmten Bedingungen macht. nen, daß wir nicht zuletzt im europäischen Vergleich von einem sehr hohen sozialstaatlichen Niveau aus Aber das, was Sie bei den ABM machen, ist etwas über eine Umgestaltung reden müssen. anderes. Sie wollen eine vergleichbare Arbeit um 20 Prozent niedriger bezahlen, nur weil der Beschäf- In der Arbeitsmarktpolitik setzen viele - das hat tigte in einer AB-Maßnahme ist. Das ist schlicht und die Debatte heute deutlich gemacht - immer noch einfach eine Lohndiskriminierung. sehr stark auf staatliche Beschäftigungsprogramme. Ich gebe zu: Die Idee des sogenannten zweiten Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beitsmarktes hat etwas Bestechendes. Statt Arbeits- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN losigkeit zu finanzieren, sei es richtiger, Arbeit zu und der PDS) finanzieren, so lautet das eingängige Motto. Ich halte etwas davon, Frau Babel, daß für gleiche Was in der Diskussion häufig vergessen wird, ist, Arbeit gleicher Lohn bezahlt wird, ob Mann oder daß die Politik, bevor ein zweiter Arbeitsmarkt aufge- Frau, ob schwarz oder weiß, ob Deutscher oder baut wird, die Verpflichtung hat, erst einmal alles zu Nichtdeutscher. Das ist das entscheidende Prinzip. tun, den ersten Arbeitsmarkt zu vergrößern, zu stär- Es darf keine Diskriminierung im Lohn geben. ken und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich als- Liberale Dies geht nur, wenn wir auch die Kostensituation auf diesem Prinzip anschließen und diese Freiheit jedem dem ersten Arbeitsmarkt beachten und uns bemü- Bürger geben würden. hen, diesen Markt davon zu entlasten. Ich finde, nur dadurch können wir seine Weiterentwicklung för- Mein hauptamtlicher Kollege beim DGB-Kreis dern. Köln, der ein engagierter CDA-Mann Herr Kollege Gilges, meiner Meinung nach ist es (Dr. [SPD]: Immer noch?) richtig - Sie haben das in Ihrer Rede so gegeißelt -, und CDU-Kommunalpolitiker ist und mit dem ich daß die Entlohnung auf dem zweiten Arbeitsmarkt dieser Tage über dieses Gesetz gesprochen habe, hat niedriger sein muß als auf dem ersten Arbeitsmarkt. schlicht und einfach gesagt - das will ich Ihnen als Ich finde, man muß deutlich machen, daß ein künst- Schlußsatz mitteilen -: Das, was das Gesetz aus- licher Arbeitsmarkt ein anderer Arbeitsmarkt ist als macht, ist, daß Sie von der heutigen Arbeitsmarkt- der erste Arbeitsmarkt. politik und dem heutigen Arbeitsamt wieder zur Ich habe während meiner politischen Tätigkeit mit Stempelbude zurück wollen. vielen Leuten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne gesprochen. Wie Sie wissen, habe ich viele Jahre als ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schlosser in der Landmaschinenindustrie gearbeitet. und der PDS) Daß die Arbeitsplätze in der p rivaten Wirtschaft ei- nem ganz anderen Druck ausgesetzt sind als ABM, ist wahr. Ich finde, das muß man in der Entlohnung Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem deutlich machen. Ich meine, es muß Ansporn geben, Abgeordneten Karl-Josef Laumann das Wo rt. aus einer ABM herauszugehen, wenn man eine an- dere Arbeit bekommen kann. Das funktioniert in un- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Verehrter Herr serem Land nur über das Portemonnaie. Deswegen Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir halte ich das durchaus für verantwortbar - auch als sind uns in diesem Haus alle darüber einig, daß die Abgrenzung zu den Arbeitslosen. Arbeitslosigkeit sowohl sozialpolitisch als auch ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sellschaftlich und wirtschaftlich das größte Problem ordneten der F.D.P.) ist, das wir zur Zeit in Deutschland haben. In der Lage, in der wir jetzt sind, werden wir immer Ich bin der Meinung, daß es gut ist, in dieser Situa- nur für einen kleinen Teil der Arbeitslosen ABM an- tion bei allen Schwierigkeiten ein Stück Augenmaß bieten können. Die anderen Arbeitslosen müssen zu behalten. Angesichts der aktuellen politischen von 60 Prozent ihres vorherigen Einkommens, wenn Diskussion, die wir führen, Schlagworte ins Land zu sie keine Kinder haben, und von 67 Prozent, wenn bringen als wären wir dabei, den Sozialstaat zu sie Kinder haben, leben. Ich finde, auch deshalb ist zerschlagen, Katastrophengesetze zu machen, die es nicht richtig, zu fordern, bei ABM auf volle Soziale Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen und 100 Prozent zu gehen. eine Gesellschaft des Heuerns und Feuerns in die- sem Land einzuführen, macht deutlich, daß die politi- (Konrad Gilges [SPD]: Der Bezugspunkt!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10033 Karl-Josef Laumann Meiner Meinung nach sind 80 Prozent ein vernünfti- diese Reform versuchen, den Beitragssatz von 6,5 auf ges Maß; sie liegen genau zwischen den genannten 5,5 Prozent herunterzudrücken. Es ist wirklich ein 60 und 100 Prozent. Ansporn, das zu schaffen. Zum Thema Arbeitsmarkt möchte ich noch folgen- Nur, eines sage ich hier auch: Das macht natürlich des sagen - das ist meine Meinung als Abgeordneter nur dann Spaß, wenn wir das auch einmal als Bei- Laumann -: Bei uns im Ausschuß müssen die Fraktio- tragsentlastung weitergeben können. Deswegen un- nen einmal über die Praxis der Erteilung von Arbeits- terstütze ich unseren Arbeitsminister in der Ausein- erlaubnissen an osteuropäische Arbeitnehmer reden. andersetzung mit dem Finanzminister. Wir sollten Ich sage Ihnen ganz offen: Was ich nicht verstehen das wirklich in Form der Beitragsentlastung weiter- kann, ist, daß wir auf der einen Seite zur Zeit mehr geben und nicht als eine Entlastung für den Bundes- als 4 Millionen Arbeitslose haben und auf der ande- haushalt. Ich sage das ganz deutlich, weil mir dies ren Seite Hunderttausende von Arbeitsgenehmigun- angesichts der allgemeinen Diskussion als wichtig gen an Polen ausgeben, nur um Spargel und Erdbee- erscheint. ren zu bekommen; ich spreche die Saisonarbeit in der Landwirtschaft an. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Peter Dreßen [SPD]: Da müssen Sie mit Herr Gilges, Sie haben in Ihrer Rede auch angespro- Frau Babel reden!) chen, es sei eine schlimme Geschichte, daß wir das Berufsberatungsmonopol der Bundesanstalt für Ar- Die Erteilung von Arbeitserlaubnissen in der Sai- beit dadurch ergänzen wollten, daß auch Private Be- sonarbeit greift immer mehr um sich: in Baumschu- ratungen durchführen könnten. Wissen Sie, ich len, in Gärtnereien, im Gaststättengewerbe. Ich glaube, daß das sehr wohl verantwortbar ist. Wir ha- finde, wir haben als deutscher Gesetzgeber die Ver- ben ja diese grundsätzliche Auseinandersetzung pflichtung, zunächst einen Markt für unsere Arbeits- schon einmal im Ausschuß geführt, als es darum kräfte zu erhalten, bevor wir immer mehr Arbeitser- ging, private Arbeitsvermittler einzusetzen. laubnisse im Bereich der Saisonarbeit erteilen. (Zuruf von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) - Das haben wir gemacht. Meine Damen und Herren, der zweite Arbeits- markt kann die Probleme nicht lösen. Die Idee, die Jeder von uns weiß, daß diese privaten Arbeitsver- Probleme über eine Beschäftigungsgesellschaft zu mittler relativ wenig Arbeitsstellen vermittelt haben. lösen, haben wir in unserem Land schon einmal ge- Ich stelle aber fest, daß allein durch die Tatsache, daß habt: Die alte DDR war eine Beschäftigungsgesell- es dieses Instrument gibt, in der Amtsstube manchen schaft. Arbeitsamtes ein bißchen Wettbewerb entstanden ist. Wenn jemand auf privater Basis junge Menschen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na, na!) beraten will, dann soll er das meinetwegen auch gerne tun. Es wird aber weiterhin eine wich Sie ist pleite gegangen, weil sie die Leute zwar be- tige Auf- gabe auch der Bundesanstalt für Arbeit sein, in die- schäftigt hat, aber nicht mehr produktiv war. Ich sem Bereich junge Menschen zu beraten und auf die glaube, daß deswegen gerade wir wissen müßten, richtige Berufswahl und -entscheidung vorzuberei- daß wir die Probleme nicht mit einer Beschäftigungs- ten. gesellschaft lösen können. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir Ich glaube, daß wir in Teilbereichen ergänzend na- nach der Sommerpause, wenn wir dieses Gesetz im türlich auch Maßnahmen im Bereich FuU, Fortbil- Ausschuß beraten, sicherlich grundsätzliche Ausein- dung und Umschulung, und auch ABM brauchen. andersetzungen führen werden, weil die SPD eigent- Ich bin der Meinung, daß wir die großen Probleme lich einen anderen Weg gehen will. Sie glaubt, mit im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutsch- Strukturförderung einen ganzheitlichen Ansatz im land auch weiterhin ganz klar sehen müssen. Da, wo Rahmen eines Arbeitsförderungsgesetzes vorneh- es am Arbeitsmarkt am meisten brennt, muß natür- men zu müssen. lich auch am meisten getan werden. Das ist in den jungen Bundesländern der Fall. Das bet rifft aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch Regionen in den westdeutschen Ländern. Ich denke dabei an die Arbeitslosenraten in dem seit Wir bleiben bei dem alten Grundsatz des AFG, Jahrzehnten von der SPD regierten Bremen und an nämlich der Einzelbetrachtung und damit dem Ziel, die höchsten Arbeitslosenraten in dem seit 40 Jahren im Rahmen der Einzelbetrachtung dem Arbeitslosen von der SPD regierten Ruhrgebiet. Auch da muß man die Hilfe zu geben, die ihn wieder schneller in den etwas tun. Ich glaube, wir sollten die Maßnahmen ersten Arbeitsmarkt gelangen läßt. Ich finde zum Bei- dort ergreifen, wo wir die meisten Arbeitslosen ha- spiel das Instrument völlig in Ordnung, daß Arbeits- ben, um die Not etwas zu lindern. lose das Einkommen versichert bekommen und nicht ein Berufsbild. Denn das Berufsbild allein ist es Natürlich wollen wir mit dem Arbeitsförderungsge- nicht. Ich bin schon der Meinung, daß wir nicht an setz, das wir Ihnen vorgelegt haben, auch einen Bei- Berufsbildern festhalten und Arbeitslosen bestimmte trag zur Entlastung der Lohnnebenkosten leisten. Tätigkeiten dann nicht zumuten können, weil man Ich finde es gut, wenn ein Gesetzgeber sagt: Wir wol- das bisher vom Denkansatz her nicht konnte. Die len etwas Neues machen. Aber wir wollen auch eine Überlegungen, das Einkommen zu versichern und Beitragsentlastung für die Arbeitnehmer in diesem Abstufungen in der Form vorzunehmen, daß, je län- Land und ihre Arbeitgeber vornehmen und durch ger einer arbeitslos ist, desto mehr man in seinen 10034 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 Karl-Josef Laumann Lohnvorstellungen nach unten gehen muß, sind mei- hafte Beschäftigung in ihrem Bet rieb zu gewinnen. nes Erachtens richtig. Das ist einfach die Lebens- Eine Ursache dafür ist der fehlende Anreiz, von einer wirklichkeit. Die können Sie auch mit Gesetzen nicht AB-Maßnahme in eine Beschäftigung auf dem ersten außer Kraft setzen. Arbeitsmarkt zu wechseln. Wenn wir nicht darauf achten, daß ein solches Element des Anreizes bei der Wir würden uns im Rahmen eines Arbeitsförde- Entlohnung bei AB-Maßnahmen wirklich verankert rungsgesetzes auch übernehmen, wenn wir damit wird, dann handeln wir falsch, dann steuern wir strukturpolitische Aufgaben lösen wollten. Denn wir falsch. haben nun einmal einen föderalen Aufbau unseres Landes. Wahr ist auch, daß im Rahmen dieser födera- len Aufgabenverteilung für Strukturpolitik in erster Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Linie die Bundesländer zuständig sind und nicht die Gilges, Sie können darauf antworten. Arbeitslosenversicherung. Ich freue mich auf jeden Fall auf die Beratungen, Konrad Gilges (SPD): Frau Babel, ich will zu Ihrer die wir im Herbst in aller Ruhe über dieses Gesetz - ersten Frage folgendes sagen. Die Tatsache, die Sie im Grunde über die beiden Gesetzentwürfe - durch- ansprechen, daß es unterschiedliche Tarifverträge führen werden. Alles in allem werden wir in der Lage gibt, legitimiert überhaupt nichts. Wir und auch die sein, in diesem Bundestag ein modernes Arbeitsför- Gewerkschaften beklagen dies. Unser ganzes Stre- derungsgesetz zu verabschieden, das auch die Flexi- ben in den letzten 50 Jahren war immer, durch Ver- bilität der Bundesanstalt für Arbeit erhöht. Der hier- änderungen der Tarifverträge Angleichungen zu er- archische Aufbau der Katholischen Kirche ist meiner reichen. Das heißt, die Differenzierung in den Tarif- Meinung nach in Ordnung; bei den Arbeitsämtern verträgen, die unterschiedliche Bezahlung hat uns aber sollten wir ihn beseitigen, indem wir den un- große Sorgen und Schwierigkeiten gemacht. Eine teren Arbeitsämtern mehr Möglichkeiten geben, vor solche Angleichung haben die Arbeitgeber leider Ort aus ihrer Situation heraus zu entscheiden. verhindert; sie wollen die Differenzierung. Schönen Dank. Ich will Ihnen ein Beispiel aus dem öffentlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dienst nennen. Die Gewerkschaften haben gesagt, man muß die Bezahlung in den unteren Lohngrup- pen im öffentlichen Dienst anheben und die der Zu einer Kurz- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Staatssekretäre, der Minister und Oberstadtdirekto- intervention gebe ich der Abgeordneten Gisela Babel ren nicht anheben; sie könnten in diesem Jahr mit ei- das Wort. ner Null-Runde auskommen. Wir werden einmal se- hen, wie diese Frage ausgeht. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Gilges, ich möchte noch einmal auf den Punkt zurückkommen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Sie in Ihrer Rede ansprachen, als Sie sagten: Wir Gerechtigkeit in der Lohnfindung ist ein großes sind für gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ziel der Gewerkschaften. Deshalb - ich sage es noch (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: einmal - kann der Mißstand, den Sie dargestellt ha- Am gleichen Ort !) ben, nicht zur Begründung einer Absenkung der Be- zahlung herangezogen werden. Man muß es in Rich- - Und am gleichen Ort. tung Angleichung verändern. Ich will Sie folgendes fragen: Wie kommt es denn, Auch zu möglichen Anreizen bei ABM will ich Ih- daß dann derselbe Baggerführer, der im Osten die- nen etwas sagen. Sie können darüber durchaus mit selbe Arbeit gemacht hat, nämlich Räumarbeiten, im mir streiten. Die ÖTV hat ein Modell entwickelt, Bereich der Geltung der Metalltarife, im Bereich der nach dem 80 Prozent der Vergütung gezahlt werden, Geltung der Chemietarife oder in der Landwirtschaft aber auch nur 80 Prozent der Arbeitszeit gearbeitet unterschiedlich bezahlt worden ist, nämlich in dem wird und in den restlichen 20 Prozent der Arbeitszeit einen Fall 57 000 DM im Jahr, im anderen 36 000 DM eine Weiterbildungsmaßnahme erfolgt. Bei einer im Jahr und im letzten 24 000 DM im Jahr bekom- Fünftagewoche wird also vier Tage gearbeitet, die men hat? Das kann doch nun kaum Sinn machen, vor bezahlt werden, und am fünften Tag wird eine Wei- allen Dingen sollte man es nicht bei AB-Maßnahmen terbildungsmaßnahme besucht. Damit wird die Mög- wiederholen. lichkeit, in den ersten Arbeitsmarkt hineinzukom- Ich wollte Ihnen eine zweite Frage stellen. Empfin- men, verbessert. Genau das verhindern Sie aber. Das den nicht auch Sie, daß bei einer Betätigung in einer wollen Sie eben nicht. Schreiben Sie doch hinein, AB-Maßnahme mit einem abgesenkten Lohn der daß , die gearbeitet wird, bezahlt wird, Anreiz, in einen Arbeitsplatz auf dem ersten Ar- gleichzeitig aber eine Fortbildungsmaßnahme be- beitsmarkt zu wechseln, wo es Risiken der Arbeits- sucht werden muß! Dann hätten Sie uns wahrschein- platzerhaltung gibt, während es bei der AB-Maß- lich auf Ihrer Seite. Das ist doch der entscheidende nahme für eine gewisse Frist kein Risiko gibt, erhal- Punkt. ten bleiben muß? Wir haben oft Klagen gerade aus (Beifall bei der SPD) den neuen Bundesländern gehört, daß es den klei- neren Betrieben, den Handwerkern nicht gelingt, Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Arbeitnehmer aus AB-Maßnahmen für eine dauer- Im Ergebnis bleibt, daß Sie jemanden bestrafen wol- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10035

Konrad Gilges len, der sowieso schon in einer schwierigen sozialen Mein Thema ist ein anderes, nämlich das AFRG, Lage ist. dessen erste Lesung heute ansteht. Liebe Kollegin- nen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne entscheidende Meßlatte für die grundlegende Novel- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN lierung des Arbeitsförderungsgesetzes ist die Frage, und der PDS) ob mit dem novellierten Arbeitsförderungsgesetz ein nennenswerter Beitrag zu dem von der Bundesregie- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem rung proklamierten Ziel der Halbierung der Arbeits- Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wo rt. losigkeit bis zum Jahr 2000 geleistet werden wird. Die wesentlichen Eckpunkte dieses Gesetzes lau- Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- ten: Erstens. Die noch vorhandenen arbeitsmarktpoli- leginnen und Kollegen! Kollege Geißler hat heute tischen Instrumente werden weiter rabiat zurückge- morgen gesagt, diejenigen, die in der Öffentlichkeit fahren. Kollegin Jäger hat darauf hingewiesen. Die verkünden, der Sozialstaat in Deutschland werde Auswirkungen, nur auf Ostdeutschland bezogen, be- plattgemacht, hätten nicht alle Tassen im Schrank. deuten die zusätzliche Arbeitslosigkeit für über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 250 000 Menschen auf der Zeitachse dieses Gesetz- entwurfes. Das heißt, von einem bemerkenswe rten Dem Kollegen Geißler ist von Frau Beck dann zu Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kann Recht entgegnet worden, es komme nicht auf die Be- nicht nur keine Rede sein, sondern dieser Gesetzent- trachtung einzelner gesetzlicher Regelungen an, son- wurf wird in seinen Folgewirkungen die Arbeitslosig- dern entscheidend darauf, das Zusammenwirken keit in Deutschland weiter dramatisch erhöhen. verschiedener gesetzlicher Maßnahmen in seinen ge- sellschaftspolitischen Auswirkungen zu betrachten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Ich will Ihnen dazu ein aktuelles Beispiel geben. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Wenn ein Arbeitnehmer, der Mitte fünfzig ist, mit einem durchschnittlichen Einkommen in einem klei- - Zweitens. Die Kernziele des Arbeitsförderungsge- nen oder mittelständischen Betrieb, in dem keine So- setzes von 1969 sind in den Eingangsparagraphen zu zialplanregelungen bestehen, arbeitslos wird, dann finden. Da heißt es: Es soll ein Beitrag zur Erzielung wird dieser Arbeitnehmer zunächst in die zu kürzen- und Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungs- den Beträge des Arbeitslosengeldes und anschlie- standes geleistet werden. Nachteilige Folgen aus ßend in den Arbeitslosenhilfebezug hineingeraten. dem wirtschaftlichen Strukturwandel sollen mög- Die Arbeitslosenhilfe soll nach dem Willen der Bun- lichst vermieden werden. Das waren die Kernziele desregierung jährlich um 3 Prozent gekürzt werden. des alten Arbeitsförderungsgesetzes. Diese Kernziele Er wird dann teilweise in die Sozialhilfe rutschen. werden mit der Novellierung ausdrücklich aufgege- Wenn er wegen Arbeitslosigkeit mit 60 Jahren in ben. Es ist nicht mehr die Rede davon, daß ein Bei- Rente geht, hat er damit zu rechnen, daß er für den trag zur Wiederherstellung eines hohen Beschäfti- Rest seines Lebens Abschläge von der Monatsrente gungsstandes geleistet werden soll - und dies in ei- in Höhe von knapp 20 Prozent hinnehmen muß. ner Zeit, 1996, mit vier Millionen registrierten Ar- Wenn dieser Rentner den Haushalt mit seiner Ehe- beitslosen, während wir zum Zeitpunkt des Inkraft- frau, die die Familie versorgt und vier Kinder großge- setzens des alten Arbeitsförderungsgesetzes in West- zogen hat, teilt, dann hat dieses Rentnerehepaar ein deutschland eine Arbeitslosenquote von etwa Monatseinkommen, das unterhalb der Sozialhilfe- 0,8 Prozent hatten. schwelle liegt. Das heißt, dieses Rentnerehepaar ist Bei einem dramatischen Wandel wird gerade das auf zusätzliche Gelder aus der Sozialhilfe angewie- Gegenteil dessen getan, was politisch notwendig sen. wäre, nämlich dafür zu sorgen, daß über eine aktive (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Skandalös!) Arbeitsmarktpolitik auch hier ein nennenswerter Bei- Wohlgemerkt ein Rentnerehepaar, bei dem der Ehe- trag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet mann als Arbeitnehmer über 40 Versicherungsjahre, wird. das heißt über 40 harte Arbeitsjahre hinter sich ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bracht hat. Er darf im Alter mit seiner Ehefrau teil- ten der PDS) weise von der Sozialhilfe leben. Wenn dieses Ehepaar von kaputtem Sozialstaat re- Meine Damen und Herren, den Vogel hat heute det, wer hat dann hier nicht alle Tassen im Schrank, morgen Kollegin Hellwig abgeschossen, die ich bis- der Kollege Blüm oder dieses Ehepaar? lang für einen intelligenten Menschen gehalten habe. Die Kollegin Hellwig ist der Auffassung, daß (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE aktive Arbeitsmarktpolitik kommunistisches Gedan- GRÜNEN und der PDS) kengut sei. Ich könnte Beispiele dieser Art auf viele andere Fel- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der übertragen. Entscheidend ist die Auswirkung DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) verschiedener gesetzlicher Maßnahmen auf gesell- schaftliche Fallgruppen. Da kann mit Fug und Recht Damit hat sie wirklich den Vogel abgeschossen. sehr wohl von einem Kaputtmachen des Sozialstaa- Dann müßten nämlich die Vertreter der Großen Koa tes gesprochen werden. lition von CDU/CSU und SPD im Jahre 1969 sämtlich 10036 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Ottmar Schreiner heimliche Kommunisten gewesen sein. Das ist die Nun zu der Äußerung des Kollegen Blüm, man Logik dieses Gedankengangs. solle die Langzeitarbeitslosen aus dem toten Winkel der Gesellschaft herausholen. Diese Absicht ist löb- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich. Sie selbst gehen in Ihrem Gesetzentwurf davon DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der aus, daß im Jahr 2000 Mehrausgaben bei der Arbeits- PDS) losenhilfe in einer Größenordnung von rund Es ist nicht zu fassen, wie tief hier Teile der Koaliti- 3,5 Milliarden DM entstehen werden. Das heißt im onsfraktionen auch intellektuell abgesunken sind. Klartext: Sie gehen davon aus, daß unter anderem als Auswirkung Ihres eigenen Gesetzentwurfes die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Langzeitarbeitslosigkeit in den nächsten Jahren wei- Kutzmutz [PDS]) ter deutlich ansteigen wird. Der Kollege Blüm, der Bundesarbeitsminister, hat (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Nein!) davon geredet, man dürfe nicht zulassen, daß die Langzeitarbeitslosigkeit im toten Winkel der Gesell- Kollege Blüm, es ist pure Heuchelei, was Sie heute schaft, in der Ecke der Resignation lande. morgen mit Ihrem Weihrauchfaß veranstaltet haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol- und der PDS) legin Hellwig? Der nächste Punkt: Der Gesetzentwurf enthält eine deutliche ideologische Komponente. Es soll massiv Ottmar Schreiner (SPD): Ich habe gerade versucht, Druck auf die Arbeitslosen ausgeübt und damit der ein Gespräch mit dem Kollegen Blüm in Gang zu Schein erzeugt werden, Arbeitslosigkeit sei primär bringen. ein bloß individuelles Problem, das auch individuell lösbar sei. Das ist der ideologische Kern der Repres- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das können salienkataloge, die Sie zukünftig verschärft gegen Sie dann im Anschluß tun. Ich halte die Uhr- an. Arbeitslose anwenden wollen. Arbeitslosigkeit wird von der Regierung nicht mehr als gesellschaftspoliti- Bitte schön. sches Problem begriffen, sondern als ein individuel- les und individuell lösbares Problem. Das ist eine Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Herr Kollege, kön- grundfalsche Einschätzung der Lage. nen Sie mir zustimmen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]: Nein!) und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) daß ich in bezug auf Frau Beck gesagt habe, daß es Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der mich an den Kommunismus erinnere, wenn sie die Bundesregierung führt im Ergebnis zu einem weitge- Förderung des Einstiegs in den ersten Arbeitsmarkt henden Rückzug des Staates aus seiner beschäfti- als Geldverschwendung verteufele und gleichzeitig gungspolitischen Verantwortung. Wir brauchen den zweiten Arbeitsmarkt als den edlen beschwöre? heute bei 4 Millionen registrierten Arbeitslosen mehr Können Sie dieser Feststellung auch zustimmen? denn je eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Vorrang (Widerspruch bei der SPD) genießt vor der phantasielosen bloßen Finanzierung von Arbeitslosigkeit.

Ottmar Schreiner (SPD): Nein, dem kann ich nicht Ich will Ihnen nicht vorenthalten, was Frau Mar- zustimmen, weil schon Ihre Unterstellung in bezug tens in der vorigen Woche in der Wochenzeitung auf Frau Beck nicht stimmen kann; denn die Kollegin „Die Zeit" zu dem Gesetzentwurf geschrieben hat. Beck ist so intelligent, daß sie weiß, daß die Instru- Ich zitiere: mente des Arbeitsförderungsgesetzes sehr wohl zur Ein wesentlicher Baustein der sozialen Markt- Förderung der Wiederaufnahme von Arbeit im ersten wirtschaft, 1969 von der Großen Koalition zusam- Arbeitsmarkt eingesetzt werden können. men mit anderen Gesetzen der Konjunktur-, Sta- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bilitäts- und Wachstumspolitik, der Berufsbil- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dungsreform und der Sozialhilfereform zu einem und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) Paket geschnürt, wird damit zu Grabe getragen. Die soziale Flankierung des Strukturwandels Ihre Unterstellung ist also bereits im Ansatz so falsch, wird staatlichen Sparzwängen geopfe rt , betriebs- daß ich vermute, daß Sie von Dingen reden, von de- wirtschaftliche Belange werden vor gesellschafts- nen Sie wirklich nichts verstehen. politische Interessen gestellt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Das ist die Kommentierung von Frau Martens. Ich ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN glaube, sie trifft den Kern. und der PDS) Im Ergebnis wird dieser Gesetzentwurf dazu füh- So etwas kann man im Wirtshaus tun, sollte es aber ren, daß aus der Bundesanstalt für Arbeit wieder das im Parlament tunlichst vermeiden. wird, was sie vor 1969 und vor dem Zweiten Welt- (Zustimmung bei der SPD) krieg gewesen ist: eine Bundesversicherungsanstalt Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10037

Ottmar Schreiner für Arbeitslosigkeit. Das ist der reaktionäre Weg zu- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- rück, den Sie hier vorzeigen. intervention gebe ich nun das Wo rt dem Abgeordne- ten Norbert Blüm. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Meine lieben Kolle- Letzter Punkt. Die Koalition hat bis zur Stunde die ginnen und Kollegen! Wenn heute morgen etwas zu zentrale Frage, mit welchem Konzept, mit welchen beweisen war, dann die Tatsache, daß die SPD die Schritten und mit welchen Überlegungen Sie das von Güte der Arbeitsmarktpolitik allein davon abhängig Ihnen proklamierte Ziel Halbierung der Arbeitslosig- macht, wieviel Geld ausgegeben wird. Das, finde ich, keit bis 2000 - dieses Ziel wird von den Sozialdemo- ist ein Offenbarungseid der Einfallslosigkeit. kraten uneingeschränkt unterstützt - realisieren wol- len, nicht beantwortet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Julius Louven [CDU/CSU]: Das haben wir Daß dieses Arbeitsförderungsgesetz, wie wir es heute doch beschrieben!) vorlegen, mit neuen Instrumenten arbeitet, hat etwas mit neuen Ideen zu tun. Die Ausgangslage - wenn ich etwas mehr Zeit hätte, könnte ich sie Ihnen ausführlich schildern - ist, (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ daß die Beschäftigungsschwelle des Wirtschafts- DIE GRÜNEN und der PDS) wachstums plus 2 Prozent beträgt, das heißt, erst oberhalb dieser Wachstumsrate haben wir positive Beispielsweise der Eingliederungsvertrag, der den Beschäftigungseffekte auf Grund von wirtschaftli- Langzeitarbeitslosen hilft. Er nimmt dem Betrieb das chem Wachstum. Sie kennen die Wachstumsrate die- Lohnfortzahlungsrisiko. In erster Linie ist das eine ses Jahres. Sie kennen die Prognosen für die näch- Verminderung von Aussperrungsblockaden, die ge- sten Jahre. Eines kann man mit Sicherheit sagen: daß gen Langzeitarbeitslose errichtet worden sind. über wirtschaftliches Wachstum in den nächsten Jah- ren die Arbeitslosigkeit, wenn überhaupt, -nur margi- Sie denken immer nur: Je mehr Geld, um so bes- nal zurückgeführt werden wird. ser. Das finde ich ganz typisch für die Sozialdemokra- ten. Geld ersetzt nicht Geist. Das sage ich noch ein- Dann ist die Frage: Was haben Sie als Halbierungs- mal. strategie anzubieten? Alles, was Sie bisher gemacht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben, führt in die genau umgekehrte Richtung, nämlich zu weiteren Erhöhungen oder zur passiven Zweiter Punkt: Weiterbildung mit Rechtsanspruch. Hinnahme der Arbeitslosigkeit. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet, daß der Dazu nenne ich Ihnen ein paar Stichworte. Die Betrieb sagt: Du hast einen Rechtsanspruch, laß dich Bundesregierung ist neben der britischen Regierung doch von der Bundesanstalt ausbilden. Ich bleibe da- die einzige Regierung in Europa, die massiv zu ver- bei: Weiterbildung ist in erster Linie eine Aufgabe hindern sucht, daß in der Europäischen Union eine der Betriebe selber. Die Bundesanstalt hat nur eine beschäftigungspolitische Initiative gestartet wird und Ersatzfunktion. Jeder Rechtsanspruch entlastet die daß beschäftigungspolitische Ziele in den Maas- Betriebe von dieser Pflicht und schiebt sie den öffent- tricht-Vertrag aufgenommen werden. Die Teilzeit- lichen Kassen zu. offensive der Bundesregierung ist bereits in den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Rheinauen kläglich gescheitert: Sie lehnen im Parla- ment eine Initiative des Bundesrates ab, die mit ähn- Dritter Punkt. Zu der Aussage, daß das Monopol lichen Förderkonditionen arbeitet wie bei der Alters bei der Lehrstellenvermittlung aufgelöst wird, sagt teilzeit. Selbst das lehnen Sie ab. der Kollege Gilges unter dem Beifall seiner Fraktion: Wer soll denn dann vermitteln? Offenbar kann sich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege die SPD nur vorstellen, daß Monopole vermitteln. Schreiner, Sie müssen zum Schluß kommen. (Konrad Gilges [SPD]: Quatsch!)

Ottmar Schreiner (SPD): Ich komme zum Schluß. Das ist ein Offenbarungseid.

Vor diesem Hintergrund ist die behauptete Halbie- Es nimmt doch niemand der Bundesanstalt das rung der Arbeitslosigkeit als Ziel der Bundesregie- Recht, auch weiterhin so gut wie bisher zu vermit- rung ein gigantisches Täuschungsmanöver. teln. Aber die Wirklichkeit ist doch längst darüber Letzter Satz. Da der Kollege Blüm heute morgen hinausgegangen. Wollen Sie eine Industrie- und die Bibel mehrfach zitiert hat, sage ich: Wenn derje- Handelskammer, wollen Sie eine Pfarrei oder einen nige heute unter uns wäre, der vor 2 000 Jahren die Wohlfahrtsverband dafür bestrafen, daß sie mithel- Falschmünzer aus dem Tempel gejagt hat, wären die fen, Lehrstellen zu suchen? Das ist der alte sozialde- Plätze der Regierungsbank und ebenfalls die der mokratische Glaube: Nur der Staat kann gut sein. Koalitionsfraktionen ganz rasch leer. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Anhaltender, lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für alle, die zuhören, wiederhole ich die Offenba- und bei der PDS) rungseide: Erstens. Geld ist alles. Zweitens. Der Staat 10038 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 Dr. Norbert Blüm kann alles besser. Ein Offenbarungseid der Einfalls- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe losigkeit der Sozialdemokraten! damit die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Wir haben nun eine Reihe von Abstimmungen zu Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Herr Blüm, erledigen. Wir beginnen mit einer Überweisung. daß wir das noch erleben durften! - Heiter keit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Interfraktionell wird die Überweisung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeits- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege förderung auf Drucksache 13/4941 an die in der Ta- Schreiner, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu ant- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- worten. Bitte sehr. gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Der Kol- sen. lege Blüm frißt wirklich fast täglich sein eigenes Wir kommen nun zur Abstimmung über eine Reihe Wort. Es ist unglaublich, zu welchen Pirouetten Sie, von Gesetzentwürfen in zweiter Lesung. Ich lasse in Herr Minister, fähig sind. Unglaublich! der Reihenfolge der Größe der Fraktionen der An- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tragsteller abstimmen. DIE GRÜNEN) Wir stimmen zunächst über den Gesetzentwurf der Sie haben 1991, als es angesichts einer dramati- Fraktion der SPD zur Änderung des Arbeitsförde- schen Beschäftigungslage in Ostdeutschland darum rungsgesetzes auf Drucksache 13/715 ab. Der Aus- ging, die Arbeitsmarktinstrumente rasch hochzufah- schuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf ren, immer wieder betont - selbst in Hochglanzbro- Drucksache 13/2727 unter Buchstabe c, den Gesetz- schüren des Ministe riums -: Arbeit fördern ist nicht entwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzent- teurer als Arbeitslosigkeit finanzieren. wurf der SPD auf Drucksache 13/715 abstimmen. Ich - bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Gilt dieser Satz noch? Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Frak- (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Ja!) tionen und der Gruppe der Opposi tion abgelehnt. Wenn dieser Satz noch gilt, können Sie uns nicht mit Da der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abge- Ihrem ersten Vorwurf begegnen, die SPD wisse nur, lehnt worden ist, entfällt damit nach der Geschäfts- wie Geld ausgegeben werden könne. Das ist dann ordnung die weitere Beratung. dummes Zeug. Ich lasse nun über den Gesetzentwurf der Fraktion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Arbeits- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN förderungsgesetzes auf Drucksache 13/691 abstim- und der PDS) men. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/2727 unter Buchstabe b, Das ist wirklich grober Unfug. Wenn grober Unfug auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse strafbar wäre, wären Sie Serientäter. über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die (Beifall bei der SPD) Grünen auf Drucksache 13/691 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Entweder das gilt, oder das gilt nicht. len, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimm- enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetz- Der zweite Punkt. Der Kollege Louven hat heute entwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die morgen eigentlich die Katze aus dem Sack gelassen. Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Es geht nicht um die Frage, wie hoch der finanzielle der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Frak- Beitrag zur Arbeitsförderung sein soll. Das ist über- tion der SPD abgelehnt worden ist. haupt nicht die Frage. Der Kollege Louven hat heute morgen nämlich sinngemäß gesagt: Eine kochent- Damit entfällt auch in diesem Falle die weitere Be- wickelte Arbeitsmarktpolitik reduziert die offen aus- ratung. gewiesene Arbeitslosigkeit. Wenn die offen ausge- wiesene Arbeitslosigkeit sinkt, dann nimmt der Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ge- Druck ab, Verträge mit möglichst niedrigen Löhnen setzentwurf der Gruppe der PDS zur Änderung des abzuschließen. Das heißt im Umkehrschluß: Der Kol- Arbeitsförderungsgesetzes auf Drucksache 13/581. lege Louven vertritt als sozialpolitischer Sprecher der Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung emp- CDU/CSU-Bundestagsfraktion die klare Botschaft: je fiehlt auf Drucksache 13/2727 unter Buchstabe a, höher die Arbeitslosigkeit, um so niedriger die den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Löhne. Das sei die Lösung des Problems. Das ist er- Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 13/581 ab- neut großer Unfug. stimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ge- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei genprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE fest, daß auch dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU) der Koalition gegen die Stimmen der Gruppe der Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10039

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch PDS bei Stimmenthaltung im übrigen abgelehnt wor- ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten den ist. Dr.-Ing. Paul Krüger, Gunnar Uldall, Dr. Her- mann Pohler, weiterer Abgeordneter und der Damit entfällt auch in diesem Falle die weitere Be- Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- ratung. neten Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher, Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ge- Dr. Rainer Ortleb, weiterer Abgeordneter und setzentwurf der Gruppe der PDS zur Änderung des der Fraktion der F.D.P. Arbeitsförderungsgesetzes - Nichtberücksichtigung Aufbau Ost vorantreiben der Kirchensteuer in den neuen Ländern - auf Druck- - Drucksache 13/4979 — sache 13/1843. Der Ausschuß für Arbeit und Sozial- ordnung empfiehlt auf Drucksache 13/3206, den Ge- Überweisungsvorschlag: setzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetz- Ausschuß für Wirtschaft (federführend) entwurf der PDS auf Drucksache 13/1843 abstimmen Rechtsausschuß Finanzausschuß und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung men wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Technologie und Technikfolgenabschätzung Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den gleichen Haushaltausschuß Mehrheitsverhältnissen abgelehnt worden ist. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorge- weitere Beratung. sehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und b und die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abge- ordneten Rolf Schwanitz das Wort. 4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Anke Fuchs (Köln), Wolf- (SPD): Herr Präsident! Meine sehr gang Thierse, weiterer Abgeordneter und Rolf Schwanitz verehrten Damen und Herren! Anlaß dieser Debatte der Fraktion der SPD heute ist ein Antrag meiner Fraktion zum wirtschaft- Den wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutsch- lichen Aufbau Ostdeutschlands. Der Zeitpunkt hätte lands voranbringen nicht besser gewählt werden können. So titelte ein - Drucksache 13/4702 — nicht einflußloses Wochenmagazin dieser Tage: Überweisungsvorschlag: „Absturz Ost - Das Ende der Blütenträume". Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Die SPD-Bundestagsfraktion hatte bereits im März Finanzausschuß in ihrem Jahresarbeitsmarktbericht Ostdeutschland Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr auf die verheerende wi rtschaftliche Situa tion in den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau neuen Ländern aufmerksam gemacht, als noch die Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Bundesregierung und ihre Helfershelfer von Ost- Technologie und Technikfolgenabschätzung deutschland als der „dynamischsten Region Euro- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß pas" schwärmten. Der Sachverständigenrat und die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ha- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ben unsere Befunde wenige Wochen später bestätigt. Rolf Schwanitz, Manfred Hampel, Tilo Zwischenzeitlich mußte selbst die Bundesregierung Braune, weiterer Abgeordneter und der in Brüssel kleinlaut zugeben, daß sich Ostdeutsch- Fraktion der SPD land in einer kritischen Lage befindet. Von „blühen- den Landschaften" und der „dynamischsten Region Einsetzung eines Ausschusses Aufbau Ost Europas" kann keine Rede mehr sein. - Drucksache 13/4572 — Überweisungsvorschlag: Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern hat sich im vergangenen Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Haushaltsausschuß Jahr dramatisch verschlechtert. Praktisch ist die Auf- holjagd Ostdeutschlands gegenüber Westdeutsch- ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wer- land beendet. Ich will das an fünf Eckpunkten fest- ner Schulz (Berlin), Antje Hermenau, Vera machen: Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Erstens. Das Wirtschaftswachstum ist regelrecht Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgestürzt: von 9,4 Prozent Ende 1994 auf 0 Prozent Neue Impulse für den Aufbau Ost Anfang dieses Jahres. Zur Zeit wächst die Wi rtschaft - Drucksache 13/4946 - im Westen schneller als im Osten. Überweisungsvorschlag: Zweitens. Der Bauboom, der eigentliche Motor der Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Konjunktur im Osten, bricht zusammen. Die Auf- Finanzausschuß tragslage im Baugewerbe ist katastrophal. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Drittens. Die Investitionstätigkeit geht zurück, vor Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung allem im verarbeitenden Gewerbe, also do rt, wo es Haushaltsausschuß am notwendigsten wäre. Die gesamtwirtschaftlichen 10040 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Rolf Schwanitz Investitionen werden im nächsten Jahr um mehr als auf gepfiffen, welche Folgen dies für die Wirtschaft 3 Prozent schrumpfen. und das Gemeinwesen haben wird. Viertens. Der äußerst bescheidene Anstieg der Den Solidaritätszuschlag ersatzlos zu kürzen zu ei- Zahl der Erwerbstätigen seit der zweiten Hälfte 1993 nem Zeitpunkt, in dem der wi rtschaftliche Aufbau ist schon fast wieder aufgezehrt worden. Was nach Ostdeutschlands ins Stocken geraten ist, ist einfach sechs Jahren deutscher Einheit bleibt, ist der Verlust absurd. von über 3,5 Millionen Arbeitsplätzen. Das ist eine (Beifall bei der SPD) bittere Bilanz sechs Jahre nach der Wiedervereini- gung. Als die F.D.P. mit ihrer unsäglichen Diskussion über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags vor den (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Landtagswahlen am 24. März begann, meinte der Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sächsische Ministerpräsident Biedenkopf - ich zi- NEN]) tiere -: Fünftens. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen Die F.D.P. hat offensichtlich Ostdeutschland par- steigt saisonbereinigt, im Mai 1996 allein um teipolitisch abgeschrieben und glaubt deshalb, 140 000. Wir alle wissen, daß dies nur die Hälfte der auch keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Wahrheit ist. Die Zahl der Unterbeschäftigten, also derjenigen, die arbeitslos sind, und derjenigen, die in Das trifft genau den Punkt, um den es geht. irgendwelchen Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit stecken, lag im Mai 1996 bei 1,95 Millionen oder 27,8 Prozent. Das ist mehr als doppelt so hoch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege wie in Westdeutschland. Das ist die Lage, und nie- Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- mand - auch hier in diesem Haus - sollte diese Situa- geordneten Türk? tion beschönigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)- Rolf Schwanitz (SPD): Ich würde sie gerne im An- schluß beantworten. Ich renne Ihnen nicht weg, Herr Meine Damen und Herren, was wir heute in den Türk. neuen Ländern vorfinden, ist ein wirtschaftlicher Torso. Von einer funktionierenden Marktwirtschaft Oder nehmen wir uns die CSU vor: Ministerpräsi- kann keine Rede sein. Die wirtschaftliche Entwick- dent Edmund Stoiber und sein Finanzminister Erwin lung ist noch nicht selbsttragend, sondern weitestge- Huber sind im Dauereinsatz, um immer neue unge- hend von Transfers aus Westdeutschland abhängig. rechtfertigte Ostsubventionen auszumachen. Ich Angesichts dieser wi rtschaftlich dramatischen und muß allerdings sagen, daß ich angesichts der Kür- sozial explosiven Lage erklärt die Bundesregierung: zungsvorschläge von seiten der CSU - auch dessen, Wir haben zur Zeit keinen Handlungsbedarf, wir was im Bundesrat läuft - einen schlimmen Verdacht warten bis zum nächsten Jahr und werden dann ent- hege, der schon längst hätte ausgeräumt werden scheiden, ob etwas - und gegebenenfalls was - getan müssen. werden muß. - Das ist das, was die Bundesregierung heute sagt. Der „Münchner Merkur" machte am 3. November des letzten Jahres eine Meldung mit der Überschrift Dabei ist es ja nicht so, als ob die Bundesregierung auf: „Keine DM für PDS-Wähler". In der Meldung nichts tut. Sie tut schon etwas, nur etwas vollkom- hieß es - ich zitiere -: men Falsches. Die Bundesregierung untergräbt die Eine kritische Überprüfung des Solidaritätszu- solidarische Finanzierung des wirtschaftlichen Auf- schlags „bis hin zur Abschaffung" hat gestern der baus in Ostdeutschland. bayrische JU-Landesvorsitzende Markus Söder (Beifall bei der SPD) gefordert. Als Grund nannte Söder das Wahlver- halten der Ost-Bürger. „Wer die PDS wählt, Die Bundesregierung kürzt die investiven Ausgaben braucht keine D-Mark. Es geht nicht an, ständig im Bundeshaushalt. Die Bundesregierung streicht die über den Westen zu schimpfen und die PDS-Fuz- steuerliche Investitionsförderung zusammen. Die zis zu wählen, aber gleichzeitig den Aufbau vor Bundesregierung höhlt die arbeitsmarktpolitischen Ort allein aus dem Westen mit dem Solidaritätszu- Hilfen aus und vermehrt damit direkt die Zahl der schlag zu finanzieren", betonte Söder, für den Arbeitslosen. Die Wahrheit ist: Das Programm der „nun die Schmerzgrenze erreicht" ist. Bundesregierung, das nach ihren eigenen Worten und Ankündigungen für mehr Wachstum und Be- Meine Damen und Herren, ich gelte in diesem schäftigung sorgen soll, wird in Ostdeutschland das Haus sicherlich nicht als Verteidiger der PDS. genaue Gegenteil bewirken. Es wird dort weniger (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Nee, kann Wachstum und weniger Beschäftigte geben, meine man nicht sagen!) Damen und Herren. Was Sie tun, ist nichts anderes, als die lebensnotwendigen Hilfen für Ostdeutschland Aber ich meine: Dies ist eine unglaubliche Entglei- zum Ausschlachten freizugeben. Besonders bei den sung. beiden kleinen Koalitionsparteien F.D.P. und CSU werden hierbei immer neue Begehrlichkeiten ge- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie des weckt, um ihre Klientel zu bedienen. Dabei wird dar Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10041

Rolf Schwanitz Und es ist ein Skandal, daß diese Entgleisung von Meine Damen und Herren, ich bin davon über- der Führung der CSU bislang unwidersprochen und zeugt: Wir stehen in Ostdeutschland in diesem Jahr ungerügt blieb. Diese Aussage des bayerischen JU vor einer Weichenstellung. Wir brauchen einen Landesvorsitzenden muß weg, heute noch, hier in neuen Anlauf, um dem wirtschaftlichen Aufbau dieser Debatte. neuen Schwung zu geben. Die Länder und Gemein- (Beifall bei der SPD) den Ostdeutschlands sind dabei vollständig überfor- dert. Die Bundesregierung ist hier gefordert, und Daß staatliche Hilfen für Ostdeutschland vom meine Fraktion hat für diese überfällige Wende hier Wahlverhalten seiner Bürger abhängig gemacht wer- einen konkreten Vorschlag auf den Tisch gelegt. den könnten, ist eine Ungeheuerlichkeit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva Bul (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ling-Schröter [PDS]) ten der PDS - Abg. Jürgen Türk [F.D.P.] meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage) Ich fordere deshalb den CSU-Vorsitzenden und Bun- desfinanzminister auf, sich von dieser Äußerung sei- nes Parteifreundes klar und eindeutig zu distanzie- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es tut mir leid. ren. Ich kann keine Frage mehr zulassen, nachdem die Redezeit abgelaufen ist. (Beifall bei der SPD) Ich erteile nun dem Abgeordneten Dr. Paul Krüger Es darf nicht der leiseste Verdacht aufkommen, daß das Wort. sich diese Bundesregierung oder auch nur eine der sie tragenden Parteien von diesen demokratiezerstö- renden Aussagen des bayerischen CSU-Jungpoliti- Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Herr Präsident! kers leiten ließ oder heute noch leiten läßt. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schwanitz, Sie haben hier große Worte gemacht, Sie haben hier auf die Pauke gehauen, ein Horrorszena- (Beifall bei der SPD) - rio entworfen. Ich frage mich, ob Sie sich darüber im Meine Damen und Herren, ohne meinen Kollegen klaren sind, daß diese Aussagen auch dem Image der vorgreifen zu wollen, möchte ich am Schluß meiner deutschen und insbesondere der ostdeutschen Wi rt Rede noch auf drei Punkte eingehen: Erstens. Wir -schaft schaden. Wenn Sie so übertreiben und Fal- wollen verhindern, daß die Unternehmen in Ost- sches reden, kann ich nur sagen, wir müssen schnell deutschland dauerhaft von Subventionen abhängig zur Realität zurückkehren. bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall des Abg. [SPD]) Ostdeutschland - das ist wahr - spielt in der euro- päischen Wirtschaftsliga noch am unteren Tabellen- Deshalb schlagen wir vor, daß jedes Unternehmen, ende. Sie sollten aber nicht vergessen, mit welchem das Subventionen erhält, ein separates Subventions- Minuspunktekonto wir vor sechs Jahren gestartet konto führt, auf dem jede staatliche Hilfe genau regi- sind. striert wird. Wir schlagen weiter vor, daß Subven- tionshöchstgrenzen für Unternehmen eingeführt (Ernst Schwanhold [SPD]: Da wäre Realität werden, die an der jeweiligen Wertschöpfung orien- angebracht gewesen!) tiert sind. Kurz vor dem Fall der Mauer skizzierte der Vorsit- Zweitens. Wir müssen heute sicherstellen, daß das zende der Staatlichen Plankommission der DDR, Präferenzgefälle zwischen Ost- und Westdeutsch- Gerhard Schürer, die Leistungsfähigkeit der Wi rt land auf dem Niveau von 1996 bis Ende 1998 festge- -schaft mit folgenden Sätzen: schrieben wird und erst danach entsprechend dem Bei dem jetzt erreichten Niveau unserer Ver- Fortschritt beim wirtschaftlichen Aufbau degressiv schuldung würde eine Unterschreitung der gefor- reduziert wird. derten Exportziele unweigerlich die Zahlungsun- (Beifall bei der SPD) fähigkeit bedeuten. Wir wollen, daß gerade steuerliche Hilfen auf die Einen Monat später resümierte er: Schaffung von Arbeitsplätzen in der Industrie und im Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirt produktionsnahen Dienstleistungsbereich konzen- -schaftsgebiet ist gegenwärtig auf eine Höhe ge- triert und gegenüber den Fördersätzen, die zur Zeit stiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in gelten, deutlich erhöht werden. Frage stellt. Drittens. Wir wollen die arbeitsmarktpolitischen Wenn selbst Schürer zu dieser schonungslosen Bank- Überbrückungshilfenfortführen und sie nicht, wie rotterklärung kommt, kann man sich vorstellen, wie die Bundesregierung dies plant, zu einem Zeitpunkt schlimm die Situation wirklich war. zurückführen, in dem sie dringend gebraucht wer- den. Einen arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag wird Seither haben wir viel erreicht. Von Anfang an es mit uns nicht geben. verfolgten Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen klare Ziele für den Aufbau in (Beifall bei der SPD) den neuen Ländern. Vom Aufbau einer leistungsfähi- 10042 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr.-Ing. Paul Krüger gen, modernen Infrastruktur über die Privatisierung duktionslücke hatte dadurch 1995 eine Größenord- und Sanierung ehemaliger Staatsunternehmen, den nung von zirka 220 Milliarden DM erreicht. Aufbau von Verwaltung und Justiz, die Klärung der Eigentumsverhältnisse, die Förderung privater In- Das zeigt zum einen, in welch hohem Maße Trans- vestitionen bis hin zur sofortigen Einbeziehung der fers von West nach Ost fließen, also: wie stark die Hil- Bürger in die sozialen Sicherungssysteme und die festellung des Westens für den Osten immer war und arbeitsmarktpolitischen Instrumente reichten die auch heute noch ist. Das zeigt zum zweiten, daß die Schwerpunkte, die wir von Anfang an verfolgten. ostdeutsche Wirtschaft noch in sehr starkem Maße Von absoluter Priorität war immer die Schaffung auf West-Ost-Transfers angewiesen sein wird. Es ist wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. deshalb unumgänglich, daß die Politik auch in Zu- kunft den Aufholprozeß Ostdeutschlands mit wirksa- Insgesamt sind seit 1991 Nettotransfers in Höhe men Transfers unterstützt. von 740 Milliarden DM in die neuen Länder geflos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sen. Daß davon zirka 240 Milliarden DM allein Jürgen Türk [F.D.P.]) Sozialtransfers waren, zeigt, daß die Soziale Markt- wirtschaft auch unter den extremen Bedingungen Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun- der Umwandlung einer Planwirtschaft in eine wett- desregierung und die sie tragenden Koalitionsfrak- bewerbsfähige Wirtschaft funktioniert - und das tionen haben die Wichtigkeit des Aufbaus Ost von unter Berücksichtigung der Notwendigkeit des völli- Anfang an betont und auch entsprechend gehandelt. gen Neuaufbaus von Arbeitsverwaltung en. Die noch auf uns zukommenden Probleme werden wir weiterhin mit großer Priorität behandeln. Ich glaube, gerade die noch enorm hohen Sozial- transfers zeigen auch, daß wir erst die erste Hälfte Das wichtigste Ziel bleibt aber die Erreichung ei- des Weges absolviert haben. Alle Erfolge dürfen uns nes sich selbst tragenden Aufschwungs durch ver- nicht dazu verleiten, zu einer undifferenziert positi- mehrte Existenzgründungen, die Ansiedlung von ven Bewertung der Lage zu kommen. Eine realisti- weiteren Unternehmen, die Erhöhung der wirtschaft- sche Sichtweise der Dinge ist angebracht, wenn wir lichen Wertschöpfung, die Verbesserung der Arbeits- uns die Indikatoren der wirtschaftlichen -Entwick- produktivität, die Verbreiterung der industriellen Ba- lung in Ostdeutschland anschauen: Die Arbeitspro- sis und vor allem die Stärkung der Innovationsfähig- duktivität beträgt trotz hoher Steigerungsraten erst keit. Die Fördermaßnahmen sind deshalb kontinuier- zirka 54 Prozent der westdeutschen. Die indust rielle lich diesen veränderten Bedingungen anzupassen. Basis ist noch viel zu schmal. Wir haben derzeit einen Dies, meine Damen und Herren, ist in der Vergan- Anteil an der Bruttowertschöpfung durch die Indu- genheit geschehen. Ich denke zum Beispiel an das strie, der etwa halb so hoch ist wie in Westdeutsch- Jahressteuergesetz 1996. land. Der Industrieforschungsbereich ist viel zu klein. Darüber hinaus - das sage ich mit allem Nach- Bezogen auf die Einwohnerzahl haben wir nur ein druck - sind flankierende arbeitsmarktpolitische Drittel der Forscher und Entwickler. Maßnahmen in einem Umfang nötig, wie sie die be- (Beifall des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.]) sondere Arbeitsmarktsituation Ostdeutschlands er- fordert. Die Lohnstückkosten sind seit zwei Jahren 30 Prozent höher als im Westen und sind im vergangenen Jahr (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. erstmals wieder gestiegen; das ist ein entscheidender Jürgen Türk [F.D.P.]) Kernpunkt, über den wir nachdenken müssen. Die Der Aufbau einer modernen und leistungsfähigen Arbeitslosigkeit ist trotz weit überproportionaler ar- Wirtschaft in den neuen Ländern bleibt ein zentrales beitsmarktpolitischer Maßnahmen wesentlich höher Thema der deutschen Wirtschaftspolitik. als im Westen. Besondere Schwerpunkte liegen vor allem in der (Ernst Schwanhold [SPD]: Wovon redet der zielgerichteten Verbesserung der Innovationsfähig- eigentlich?) keit der Wirtschaft durch eine Innovationsoffensive Ost. Hier denke ich an zum großen Teil bereits er- Trotz großer Fortschritte bestehen noch erhebliche griffene Maßnahmen: von der Erfinderförderung Schwierigkeiten und Defizite bei der wirtschaftlichen über die Förderung technologieorientierter Unter- Erneuerung in Ostdeutschland, stellt die Bundesre- nehmensgründungen bis hin zur Risikokapitalpro- gierung in einem Memorandum über die wirtschaftli- blematik. Ich denke an die Fortführung der Maßnah- che Lage in Ostdeutschland am 13. Mai 1996 fest. men zur Eigenkapitalstärkung der Unternehmen in Wir müssen konstatieren: Derzeit stagniert der Auf- den neuen Ländern, angefangen beim Eigenkapital- bau Ost. Der Zustand ist insgesamt besorgniserre- hilfeprogramm über die Konsolidierungsmaßnahmen gend. Die Bürger in den neuen Ländern erwarten bis hin zu den Operativmaßnahmen, die wir seit lan- auch weiterhin rasches politisches Handeln. ger Zeit durch die Runden Tische aufgenommen ha- ben und die große Erfolge zeigen. Offensichtlich haben wir unterschätzt, wie schwie- rig es ist, Unternehmen aus einer sozialistischen Schwerpunkte werden ebenfalls durch die nach- Planwirtschaft in eine marktwirtschaftliche Ord- haltige Verbesserung der Ansiedlungsbedingungen, nung zu überführen. Das größte Problem ist die ge- durch zielgenauere Anwendung der steuerlichen ringe Eigenleistungsfähigkeit der ostdeutschen Wi rt Förderung in den neuen Ländern - hier insbesondere -schaft. Nur etwa zwei Drittel des Verbrauchs in den für den industriellen Bereich, vor allem für Innovatio- neuen Ländern wurden do rt erwirtschaftet. Die Pro nen -, die planmäßige Fortführung des Ausbaus der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10043

Dr.-Ing. Paul Krüger Infrastruktur und die weiterhin nachhaltige Investi- würden weitere Kapazitäten binden und weitere tionsförderung im industriellen Bereich, auch für Bürokratie hervorrufen. Existenzgründungen, gesetzt. Meine Damen und Herren, wettbewerbsfähige Ar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. beitsplätze werden nicht durch staatliche Admi- Jürgen Türk [F.D.P.]) nistration geschaffen, sondern durch privatwirt- schaftliche Initiative. Letzter Punkt: Förderung der Sanierung der Bau- substanz, insbesondere im innerstädtischen Bereich, (Beifall bei der CDU/CSU) durch kontinuierliche Städtebauförderung und Wohn- Wir haben in der Vergangenheit leidvoll erfahren, eigentumsförderung. Hier haben wir im letzten Jahr daß man weder mit planwirtschaftlicher Bürokratie besonders viel getan. Das beginnt, seine Früchte zu noch mit Überadministration eine wettbewerbsfähige tragen. Dies wird auch 1997 und in den Folgejahren Wirtschaft aufbauen kann. im Haushalt seinen Niederschlag finden. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Da geht aber der Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Vulkan hoch!) Koalitionsfraktionen haben viele Punkte, die ich eben angesprochen habe, bereits umgesetzt. Jetzt Vielmehr kommt es darauf an, daß nunmehr alle ge- scheinen sie endlich auch bei der Opposition Beach- sellschaftlichen Gruppen durch die Gestaltung bes- tung zu finden. Sie scheint endlich aufgewacht zu serer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen ihren sein und aufzunehmen, worum wir uns bereits seit Beitrag zum Wirtschaftsaufbau auch und insbeson- langer Zeit kümmern. dere in den neuen Ländern leisten. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Wir freuen uns, daß sich die Opposition teilweise un- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) serer Meinung anschließt. Aber es gibt bei Ihnen viele Punkte, die unausgereift zu sein scheinen. Ich erteile dem - Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zudem steht zu befürchten, meine Damen und Abgeordneten Werner Schulz das Wo rt. Herren von der Opposition, daß das alles Lippenbe- kenntnisse bleiben. In den Ländern, in denen Sie Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verantwortung tragen, sieht die Sache jedenfalls NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! nicht so gut aus. - An den Taten sollt ihr sie erken- Der Aufbau Ost steht längst nicht mehr auf der parla- nen, Herr Schwanitz. - Die Gesamtverschuldung in mentarischen oder politischen Tagesordnung, auch Sachsen-Anhalt und Brandenburg liegt mit 6 000 DM wenn er heute wieder einmal Thema ist. Wenn ich pro Einwohner weit über dem Niveau der anderen mir die Rednerliste anschaue, dann ist es mehr eine neuen Länder. Auch haben Brandenburg und Sach- Ost-Insider-Veranstaltung, wo sich die ostdeutschen sen-Anhalt unter den neuen Ländern die niedrigsten Abgeordneten den Kopf darüber zerbrechen, wie das Investitionsquoten. halb gefallene und halb geschubste Kind mit rhetori- schen Hilfsstricken aus dem Brunnen geholt werden (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die höchste Investi kann. Das große Feiertagspathos der deutschen Ein- tionsquote ist in Sachsen-Anhalt! Das soll heit, Herr Schwanhold, ist längst vorbei. Selbst wenn ten Sie endlich einmal zur Kenntnis neh man sich die Medien in dieser Woche anschaut: Im men!) ,,Zerr-Spiegel" erscheinen nur noch die Extreme, Der höchsten Gesamtverschuldung stehen in den also: Milliardengrab Ost oder Absturz Ost. Es geht neuen SPD-regierten Ländern die niedrigsten Inve- von einem Extrem ins andere. stitionsquoten gegenüber, ganz zu schweigen von (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS der mangelnden Hilfsbereitschaft der alten SPD-re- SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. gierten Länder bei der Verwirklichung der Pro- Guido Westerwelle [F.D.P.]) gramme für den Aufbau Ost. Ich glaube, daß die Wahrheit auch hier in der Mitte Ich glaube, angesichts dieser Realität wäre es mit liegt, also zwischen Verschwendung und Verelen- Blick auf die Umsetzung der SPD-Vorschläge am be- dung. Das ist die Situation im Osten. sten, wenn die CDU auch in Brandenburg und Sach- sen-Anhalt die Regierungsverantwortung bekäme. Aber machen wir uns nichts vor: Das Erfolgskapitel deutsche Einheit hat auf der Rückseite eine verhee- (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Dagmar rende wirtschaftspolitische Bilanz. - Herr Wester- Enkelmann [PDS]: Davon sind Sie weit ent welle. Ich hoffe, daß Sie auch hier klatschen können. - fernt! - Lachen und Widerspruch bei der SPD und der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. nimmt die Aufgaben der zweiten Hälfte des Aufbaus Ost voll Denn es ist ein Stillstand eingetreten. Und das Ge- an. Wir haben dafür im parlamentarischen Bereich fährliche daran ist: Es ist noch nicht einmal ein selbst- funktionierende Strukturen und Mechanismen auf- tragender Stillstand, den wir im Osten haben. Der gebaut und entwickelt. Deshalb halten wir die Schaf- Aufschwung Ost kommt zum Erliegen, obwohl der fung weiterer parlamentarischer Gremien für wenig Aufbau Ost längst nicht bef riedigend ist, längst nicht hilfreich bei der Lösung anstehender Probleme. Sie abgeschlossen ist. Auch da sollten wir uns nichts vor- 10044 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Werner Schulz (Berlin) machen: Im Osten steht nicht der Rohbau eines stabi- Das nenne ich unverantwo rtlich, das nenne ich üble len Wirtschaftsgebäudes, sondern eher die Frage, ob und ungerechte Politik. überhaupt ein wirtschaftliches Fundament vorhan- den ist. Falls in den nächsten Monaten - und das sa- Die Regierung ist auch in anderer Hinsicht un- gen viele voraus - die Konjunktur wieder anspringen glaubwürdig. Bezüglich ihres Aktionsprogramms für sollte, wird das vor allem in Westdeutschland zu Wachstum und Beschäftigung redet sie davon, daß Buche schlagen, denn hier befinden sich die export- bis zum Jahre 2000 2 Millionen neue Arbeitsplätze kräftigen Industrien. Die sind an Rhein, Main und geschaffen werden sollen. Der Bundeskanzler hat Neckar und leider nicht an Elbe, Mulde und Saale. das gestern vor laufenden Kameras - wie es sich für ihn gehört, in einer Aufzeichnung - wiederholt. Am Es rächt sich die Leichtfertigkeit, mit der die Regie- gleichen Tag - es ist paradox - erklärt uns die Bun- rung, vor allem auch der Kanzler, die schnelle An- desregierung auf unsere Kleine Anfrage, in der wir gleichung der Lebensverhältnisse angekündigt hat. die Wirksamkeit dieser 50 Punkte ihres Aktionspro- Die „blühenden Landschaften" haben sich im Osten gramms im einzelnen hinterfragt haben, nichtssa- vielerorts als Pusteblumen erwiesen. Es fehlt ein gend: „Der Beschäftigungseffekt kann nicht näher Konzept für den Aufbau Deutschland; es fehlt ein quantifiziert werden. " Oder: „Die Arbeitsplatzeffekte Konzept auch für den Aufbau Ost, und symbolisch lassen sich nicht voraussagen. " Ich finde, wer solche für die mangelnde Konzeption ist der Abriß des nichtsagenden Auskünfte gibt und dann die Halbie- Palastes der Republik. Man hat eigentlich nur eine rung der Arbeitslosigkeit verspricht, der hat nicht nur Vorstellung davon, wie die Fassade aussehen soll. im Sprachgebrauch den - so will ich einmal sagen - Was dahinter sein wird, darüber weiß im Moment Freudschen Defekt erkennen lassen - denn es geht noch niemand Bescheid. Ich glaube, das ist bezeich- nicht um eine Halbierung der Arbeitslosigkeit; die nend für die Politik, mit der wir es momentan zu tun haben wir momentan: knapp 2 Millionen im Osten haben. und über 2 Millionen im Westen; Sie meinen sicher- lich die Verringerung der Arbeitslosigkeit auf die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hälfte -, sondern der macht unhaltbare Versprechun- gen. Das zeigt Ihr 50-Punkte-Programm. Auch die Treuhandpolitik steht vor einem Scher- benhaufen. Frau Breuel sitzt - hochbezahlt, mit dop- Übrigens: Was ist denn eigentlich - Herr Wester- peltem Kanzlergehalt - im Grunde genommen schon welle, Sie schütteln den Kopf; da gehörten Sie die- auf dem nächsten Flop, auf dem nächsten Fehlpro- sem Hause noch gar nicht an - aus dieser Zaubertüte jekt. Staatssekretär Ludewig kann gar nicht so von 1994 geworden? Da gab es ein Aktionspro- schnell schauen, wie die industriellen Kerne im Mo- gramm, das zufälligerweise „Aktionsprogramm für ment wegbröckeln. Auch die vielen Baustellen im Wachstum und Beschäftigung" hieß und die gesamte Osten täuschen nicht darüber hinweg, daß der Bau- damalige Hitliste der F.D.P. enthielt, also private Ar- boom in sich zusammengebrochen ist, daß er außer beitsplatzvermittlung, steuerfinanzierte Hausarbeits- vielen Abschreibungsruinen und nicht gebrauchten plätze, Überführung von Arbeitslosen in die Selb- Büroräumen eigentlich kaum eigenständige Zuliefer- ständigkeit. Was ist denn daraus geworden? Wie betriebe hinterlassen hat. viele Arbeitsplätze haben Sie denn damit geschaf- fen? Im Grunde genommen zaubern Sie mit Ihrem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neuen Programm weiße Kaninchen aus den gleichen Profitiert haben von dieser Politik hauptsächlich alten Hüten hervor. westdeutsche Unternehmen. Ich will einmal einige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Zahlen herausgreifen, die einer Bilanz der Gemein- bei der SPD und der PDS) schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- schaftsstruktur" zu entnehmen sind. In der Zeit von In dieser Situation vom Abbau des Solidaritätsbei- 1993 bis 1995 sind allein 18 Milliarden DM in den trages zu reden ist nicht das Ende der Gefälligkeits- Osten geflossen. Dadurch sind nur 48 000 Arbeits- politik, sondern das ist der Anfang der Selbstgefällig- plätze entstanden. Das heißt, ein einzelner Arbeits- keitspolitik; denn Sie erreichen doch im Grunde ge- platz wurde mit 390 000 DM subventioniert. nommen das glatte Gegenteil von dem, was Sie vor- haben. Verantwortliche Politik müßte den Bürgerin- Welche Beschäftigungseffekte zum Beispiel die nen und Bürgern doch heute erklären, daß wir auf großzügigen Investitionszulagen und Sonderab- den Solidaritätsbeitrag noch lange Zeit angewiesen schreibungen in Höhe von 7 Milliarden DM in dem sind, daß wir ihn brauchen, um die Situation im gleichen Zeitraum, also von 1993 bis 1995, gebracht Osten zu stabilisieren, um den zweiten Arbeitsmarkt haben, weiß die Bundesregierung nicht. Auf eine An- zu erhalten. frage erklärte Staatssekretär Lammert wörtlich: „Angaben über die im Rahmen dieser Förderung ge- (Zuruf des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.]) schaffenen Arbeitsplätze liegen uns nicht vor." Ich - Herr Türk, ich habe Ihre Rostocker Erklärung gele- muß Ihnen sagen: Wer das Geld so zum Fenster hin- sen. In ihr sprechen Sie davon, daß die Transfers in ausschmeißt, der sollte nicht von Sparen reden. Wer den Osten natürlich auch beibehalten werden, wenn so leichtfertig mit Geld umgeht, hat nicht das Recht, es den Solidaritätsbeitrag nicht mehr gibt. Aber wie dieses Geld bei den sozial Schwachen wieder herein- das passiert, verschwindet dann im Küstennebel der zuholen. Rostocker Erklärung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10045

Werner Schulz (Berlin) Das haben Sie darin jedenfalls nicht erklärt. Viel- Ich glaube, wir können uns zumindest in bezug auf leicht widmen Sie jetzt die Gelder der Naumann-Stif- eine Frage verständigen, daß nämlich die Industrie- tung, die Sie großzügigerweise nicht empfangen ha- produktion in den neuen Ländern wesentlich größer ben, für den Solidarbeitrag Ost um. Oder vielleicht sein müßte, als sie im Moment ist, und daß vor allen akquiriert Graf Lambsdorff jetzt Spenden für den Dingen die Förderpolitik auf die Industrie, das verar- Aufbau Ost; das wäre mal eine neue Va riante des beitende Gewerbe und die mittelständischen Unter- Handaufhaltens. nehmen konzentriert werden muß. Heute steht ge- rade der Mittelstand, der ja die tragende Säule des Aufbaus Ost sein soll, vor der Überlebensfrage. Des- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege wegen brauchen wir für die Existenzgründer Ost ein Schulz, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kolle- Stabilisierungs- und Überbrückungsprogramm, da gen Westerwelle? - Bitte schön. sie eine viel zu schwache Eigenkapitaldecke haben und mitunter auch auf Grund der mangelnden Zah- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich habe folgende lungsmoral ihrer Kunden in Liquiditätsengpässe und Frage. Sie haben Ihre Rede damit begonnen, daß Sie Insolvenzen geraten. gesagt haben - deshalb habe ich Ihnen auch Beifall Die Pleiten, die Ostdeutschland durchziehen, sind gespendet -: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Aber ist natürlich nicht nur auf Pech und Pannen zurückzu- denn nicht der gesamte bisherige Verlauf Ihrer Rede führen und gehören nicht nur zum persönlichen nichts anderes als eine Schwarzmalerei, die Sie zu Schicksal des einzelnen. Vielmehr offenbart die Viel- Beginn beklagt haben? zahl der Pleiten die katastrophale Wirtschaftspolitik (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne dieser Regierung. Auch diese Wahrheit kann ich ten der CDU/CSU) Ihnen leider nicht ersparen. Als zweites möchte ich Sie fragen: Ist nicht der So- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lidaritätszuschlag Ausdruck der Tatsache, daß es in sowie bei Abgeordneten der SPD und der diesem Land eine viel zu hohe Steuern- und Abga- PDS) benlast gibt? Ist es nicht vielmehr beklagenswert,- Von Notfällen abgesehen, muß die Wirtschaftsför- daß der Solidaritätszuschlag, der ja ausdrücklich derung vor allem langfristig angelegt werden, weil auch in den neuen Ländern erhoben wird, do rt die Investoren, die nicht nur auf billige Schnäppchen aus Konjunktur abwürgt? Brauchen wir nicht auch do rt sind, wissen müssen, wie sich die Situation auf lange eine Steuersenkungspolitik, um die konjunkturelle Sicht für sie entwickeln wird. Das heißt also: Es ist Belebung zu bekommen, damit wir neue Arbeits- eine langfristig angelegte Grundförderung für die plätze schaffen können? nächsten zehn Jahre für den Aufbau Ost erforderlich. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) NEN): Ich glaube, Herr Westerwelle, Sie haben Schwierigkeiten mit unbequemen Wahrheiten. Des- Auch die Förderstrategie muß so überarbeitet wer- wegen können Sie wahrscheinlich nur bei der Hälfte den, daß die Schwachstellen besei tigt werden. Ziel- meiner Rede Applaus spenden. Der Solidaritätsbei- orientierte Konzepte, leistungsfähige, beschäfti- trag wird - wie Sie richtig sagen - in Ost und West gungsintensive und ökologisch verträgliche Aufga- und von allen Steuerzahlern in dieser Gesellschaft ben müssen in den Mittelpunkt gestellt werden. Ich erhoben. Es handelt sich bei ihm im Grunde genom- will das nicht alles im einzelnen wiederholen, das ist men um eine einmalige Solidarleistung dieser Gesell- auch von meinen Vorrednern schon betont worden. schaft, die zu einem Lastenausgleich beiträgt. Wir Ich glaube, in bezug auf manche Punkte sind wir uns brauchen ihn eben nicht nur, um den Erblastentil- einig. gungsfonds zu bedienen; wir brauchen ihn für eine wirkliche Solidaritätsleistung. Aber wenn man wie Es ist ja nicht so, Herr Türk, daß man nicht wüßte, Sie so tut, als sei diese Solidarität nicht mehr erfor- was getan werden muß. Es wird bloß eben zu wenig derlich, als könne man das alles mit Mitteln aus dem in dieser Richtung getan. Es ist ja bekannt, daß die Staatshaushalt ausgleichen, ohne daß Sie dabei sa- ostdeutschen Existenzgründer kapitalschwach sind, gen, wie das geschehen soll, oder wenn Sie in bezug daß man Risikokapital und Eigenkapital und wahr- auf die Steuerprivilegien, die Sie eingeführt haben, scheinlich auch regionale Entwicklungsgesellschaf- sagen, daß derjenige, der Fehler gemacht habe, sie ten, Beteiligungs- und Managementgesellschaften auch wieder wegräumen könne - ich warte darauf, braucht, die den Unternehmen vor Ort helfen kön- daß Sie das tun -, entgegne ich: Es ist heute wichtig nen. Denn viele Firmenzusammenbrüche wären ver- zu sagen, daß wir diesen Solidaritätsbeitrag brau- meidbar gewesen, wenn man vor Ort diese Hilfen ge- chen, auch noch für längere Zeit; wir brauchen ihn habt hätte. Den Großen, wie Vulkan, Maculan, SKET zweckbestimmt für diese oder jene Aufgaben im und anderen, wird durch Staat und Banken geholfen. Osten; er soll kein Sammeltopf sein, dessen Inhalt Die kleinen und mittleren Unternehmen sterben viel- fach einen sehr leisen Tod und verschwinden in der dann in eine große Kasse fließt. Statistik, die ihnen verdeutlicht, daß sie nicht allein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind und daß es nicht nur an ihnen gelegen haben sowie bei Abgeordneten der SPD und der kann. Es geht nicht nur darum, Besitzstände abzu- PDS - Jürgen Türk [F.D.P.]: Das ist doch nur bauen, sondern es müssen auch Widerstände abge- ein Bruchteil dieses Transfers!) baut oder aufgegeben werden. 10046 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Werner Schulz (Berlin) Gerade heute, fünf Jahre nach der Entscheidung Zu § 249h AFG heißt es wörtlich: für Berlin, möchte ich das zeit- und kraftaufwendige Gezerre um den Umzug ansprechen. Hier müssen Wie bei der ABM-Förderung ergeben sich hier- endlich Tatsachen geschaffen werden, nur das wird aus vielfältige positive Auswirkungen auf den Ar- den Aufbau Ost voranbringen und nicht die ständige beitsmarkt. Darüber hinaus konnten bereits ins- Bedienung von Unsicherheiten. besondere in den Bereichen der Umweltsanie- rung und der Verbesserung von sozialen Dien- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS sten und Jugendhilfe wichtige, im öffentlichen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Interesse liegende Aufgaben erledigt werden. Dementsprechend beurteilt die Bundesregierung Ich will noch anmerken, daß die öffentlichen Auf- den Erfolg des § 249h AFG sehr positiv. träge intensiviert und verbessert werden müssen, daß also bessere Bedingungen für öffentliche Auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) träge geschaffen werden müssen, daß die Exportför- Das ist doch eine Handlungsrichtlinie. derung für die ostdeutsche Indust rie verbessert wer- den muß, weil die Revitalisierung der Ostmärkte für Zwar habe ich bisher immer das Gegenteil erlebt. eine im Moment jedenfalls noch nicht exportorien- Doch Sie würden nicht nur mich verblüffen, wenn tierte ostdeutsche Wi rtschaft sehr wichtig ist, die an- sich der Bettvorleger zum Bären entwickelt und sich dererseits ihr Know-how und ihre Erfahrungen auf für die Interessen der Ostdeutschen einsetzt. diesen Märkten gesammelt hat. Ich danke Ihnen. Ich denke, wir sollten das Investivlohnmodell in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tensiv in die Diskussion einbringen. Es ist bisher viel sowie bei Abgeordneten der SPD und der zuwenig genutzt worden. Der DGB-Vorsitzende PDS) Schulte hat uns unlängst besucht - worüber wir sehr froh waren - und hat sich für die Beibehaltung der Ich erteile dem Flächentarife ausgesprochen. Aber das ist nur dann Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Abgeordneten Jürgen Türk das Wort. sinnvoll, wenn wir hier bestimmte Spielräume für un- - ternehmensspezifische Investivlohnvereinbarungen freilassen. Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gerade die Investivlöhne drücken die Betriebsaus- Schulz, ich glaube, wir kommen mit Schwarzmalerei gaben, sie erhöhen das Eigenkapital und verbessern genausowenig wie mit Schönfärberei weiter. Aber die Kreditwürdigkeit der Unternehmen. Auch so der Aufbau Ost braucht wirklich neue Impulse. Das könnten wir einen Weg aus der Falle finden, in die ist richtig, und deswegen ist die heutige Debatte viele ostdeutsche Betriebe nach der Währungsunion auch gut; denn in Zeiten knapper Kassen besteht die und die darauf logisch folgende Lohnangleichung Gefahr, daß man an der falschen Stelle spart. hineingelaufen sind. Falsch wäre es in der Tat, wenn wir vor allem am Ich will noch eine Sache aufgreifen, die wir vor Aufbau Ost sparen würden, wenn er als Steinbruch knapp zwei Stunden hier behandelt haben, und zwar dienen würde; denn der gewünschte selbsttragende nicht die Novellierung, sondern die Nivellierung des Aufschwung ist noch nicht erreicht. Das muß man Arbeitsförderungsgesetzes; denn das, was da auf einfach feststellen. uns zukommt, ist im Grunde verheerend. Die Bun- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) desregierung wi ll 18 Milliarden DM in den nächsten Jahren einsparen. Das heißt, es werden etwa 300 000 Das kann er auch nicht; denn 45 Jahre lassen sich Menschen von der überbrückten Arbeitslosigkeit in nicht in fünf Jahren aufholen. Das ist realistisch. die registrierte Arbeitslosigkeit geraten. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Da war doch was! - Ich bitte deswegen die Abgeordneten der ost- Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Sie haben deutschen CDU: Sie haben die Chance, dieses doch gründlich aufgeräumt! - Weitere Vorhaben zu stoppen. Sie haben die Chance, Ihren Zurufe von der SPD und der PDS) Wählern im Wahlkreis deutlich zu machen, daß Sie Natürlich sind auch Fehler von der Treuhandan- an dieser Stelle wirklich einmal Ostprofil gezeigt stalt, von den westlichen Tarifpartnern und von der haben und sich nicht hinter einem zagen Rehberg Politik gemacht worden, so zum Beispiel bei der verstecken. Übernahme gesetzlicher Bestimmungen, ohne der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS ostdeutschen Aufbausituation gerecht zu werden. SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Das ist natürlich nicht so gelaufen, wie es vielleicht PDS) hätte laufen können. Wir als Abgeordnete sollten uns da auch nicht ausnehmen. Sollten Ihnen noch Argumente fehlen, so glaube (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ach ja? Wer trägt ich, daß die Bundesregierung Ihnen welche liefert. denn die Verantwortung für diese Regie Ich will Ihnen vorlesen, was die Bundesregierung als rung?) Antwort auf eine Kleine Anfrage zu ABM schreibt. Es heißt wörtlich, daß die ABM-Förderung in den neuen Ich denke dabei an die Blockadepolitik im Bundes- Ländern „als Instrumente der aktiven Arbeitsmarkt- rat. Zum Beispiel war das vielumstrittene Sachen- förderung von besonderer Bedeutung ist". rechtsbereinigungsgesetz - wenn ich vielleicht wei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10047

Jürgen Türk terreden dürfte; Sie können sich ja zu einer Zwi- Zweitens haben wir mit dem Investitionsförde- schenfrage melden -, bei dem es um Eigenheime auf rungsgesetz ganz klar korrigiert. Ich glaube, das hat fremdem Grund und Boden ging, ein guter Kompro- letztlich doch noch ganz gut geklappt. miß, wie sich in der Praxis gezeigt hat. Wir haben für die Lösung aber zu lange gebraucht. Betroffene, die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne drei Jahre auf die Lösung des Problems warten müs- ten der CDU/CSU) sen, werden natürlich verunsichert. Auch muß zu denken geben - das möchte ich kri- tisch anmerken -, daß clevere Kommunalchefs, die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege die Weichen in der sogenannten gesetzlosen Zeit Türk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- 1990/91 gestellt haben, einen unübersehbaren Vor- neten Schwanitz? sprung gegenüber furchtsamen Bürgermeistern und Landräten erreicht haben. Damit will ich keinesfalls der Gesetzlosigkeit das Wo rt reden, möchte aber ei- Jürgen Türk (F.D.P.): Ja, bitte. nes sagen: Wenn wir schon die Chance der deut- schen Einheit zuwenig genutzt haben, müssen wir Rolf Schwanitz (SPD): Herr Kollege Türk, nachdem jetzt aber mit dem Aufbrechen gewachsener Verkru- das mit der Zwischenfrage vorhin nicht so geklappt stungen beginnen. Es ist, glaube ich, nie zu spät. hat, klappt es vielleicht jetzt; oder Sie nutzen die Ge- legenheit umgekehrt. Bei aller Unabhängigkeit unserer Richter kann es nicht sein, daß zum Beispiel erst zweieinhalb Jahre Wenn Sie sagen, das mit dem Aufschwung und nach einer Landratswahl deren Ungültigkeit festge- dem Aufbau habe alles nicht so geklappt, nehmen stellt wird. Wir brauchen schnellere Verfahren, die wir das natürlich zur Kenntnis. Aber wie erklären Sie noch einen Bezug zur Sache haben. sich und wie werten Sie es, daß der Bundeskanzler noch in den Haushaltsberatungen zum Haushalt Als F.D.P. sind wir nach wie vor davon überzeugt, 1996 im Herbst letzten Jahres für die jetzige Situation daß das Niedrigsteuergebiet die bessere Alternative den Begriff der „blühenden Landschaften- in Ost- zu dem undurchsichtigen Bündel staatlicher Einzel- deutschland" verwendet hat? maßnahmen gewesen wäre. (Zuruf von der F.D.P.: Sie blühen doch wie (Beifall bei der F.D.P.) verrückt!) Aber auch heute sind wir nicht vor Fehlern gefeit. Wer ist das schon? Erstens. Nicht in Ordnung ist zum Jürgen Türk (F.D.P.): Das habe ich nicht gehört. Ich Beispiel, daß bei allen berechtigten Einsparbemü- bezweifle es auch. Daß es sich 1989/90 um eine Fehl- hungen hauptsächlich Bundeseinrichtungen in den einschätzung handelte, ist bekannterweise festge- neuen Bundesländern geschlossen bzw. in die alten stellt. Bundesländer verlagert werden wie zum Beispiel, Herr Kollege Röhl, die Bundesanstalt für Straßenbau (Rolf Schwanitz [SPD]: Ich schicke Ihnen in Berlin. das entsprechende Protokoll zu!) Zweitens. Wir gehen davon aus, daß die Regional- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege kontrollstelle Ost der Deutschen Flugsicherung Türk, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? GmbH in Berlin, die erst am 9. November 1994 nach Investitionen von rund 150 Millionen DM eröffnet wurde, nicht geschlossen wird, weil sie zur Entwick- Jürgen Türk (F.D.P.): Ja. lung des Flugwesens in den neuen Bundesländern dringend gebraucht wird. Nachdem das Personal aus Lotsen der ehemaligen Interflug, der Bundesanstalt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön. für Flugsicherung, der Alliierten, der Bundeswehr und der NVA zu einer funktionierenden Einheit ver- Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege Türk, ich schmolzen wurde, die schon jetzt schwarze Zahlen konzediere Ihnen, daß Sie in der Vergangenheit häu- schreibt, wäre die Schließung das falsche Signal. Das fig auf Mißstände hingewiesen haben, zum Beispiel zum Bund. auf die falsche Vorgehensweise bei den Ansprüchen auf Grundstücke, um Investitionshemmnisse abzu- Nun zu den alten Ländern. Daß der Länderfinanz- bauen - also Entschädigung vor Rückgabe. Warum ausgleich - wir reden ja hier sehr viel über das nötige haben Sie eigentlich in der Vergangenheit, wenn Sie Geld für den Aufschwung Ost - erst 1995 zustande das als falsch erkannt haben, in keiner einzigen gekommen ist, war wahrlich kein Ruhmesblatt. Beim Frage den Mut bewiesen, gegen die verordnete Mei- Geld aber hört wahrscheinlich die Freundschaft auf. nung zu stimmen? Nur wer nichts macht, macht keine Fehler. Es ist et- was gemacht und durch Härte und Flexibilität der Ostdeutschen und Solidarität der Westdeutschen viel Jürgen Türk (F.D.P.): Erstens möchte ich etwas zu erreicht worden, zum Beispiel bei der Altersversor- dem konkreten Prinzip Rückgabe vor Entschädigung gung - um nur einiges zu nennen -, durch Schaffung sagen. Es ist gemeinsam beschlossen worden, ein- des sozialen Netzes, bei der Entwicklung von Wi rt schließlich der SPD; das muß man klar feststellen. -schaftsstandorten - wir haben ja welche entwickelt - 10048 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 Jürgen Türk und beim Aufbau der Infrastruktur. Nur ein Blinder Sinnvoll ist sicherlich, daß ab 1. Januar 1996 auch würde übersehen, was da geschaffen worden ist. der kleine und mittlere Handel eine steuerfreie 10prozentige Investitionszulage erhält. Eine wirk- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) same Starthilfe ist das ebenfalls ab 1996 in Kraft ge- setzte Meister-BAföG in Kombination mit der völli- Es wäre aber verhängnisvoll, wenn wir jetzt auf halbem Weg steckenblieben. Unser gewaltiger bis- gen Abschaffung der Erbschaft- und Schenkung- steuer. Das ist jedenfalls das Ziel der F.D.P. Zum Bei- heriger Einsatz - das ist unzweifelhaft so - wäre ver- spiel bei Betriebsübernahmen von älteren Hand- gebens gewesen. Wir dürfen keine Investitionsrui- nen produzieren. Das wäre natürlich volkswirtschaft- werksmeistern dürfte das eine echte Startchance für viele junge Meister und Arbeitnehmer sein. licher Unsinn. Wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Das tun wir auch nicht. Vom Pro- (Beifall bei der F.D.P.) gramm der Bundesregierung für mehr Wachstum und Beschäftigung wird auch die wirtschaftliche Ent- Das „Programm für mehr Wachstum und Beschäfti- wicklung in den neuen Bundesländern durch mehr gung" - fälschlicherweise auch nur als Sparpaket be- Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze profitieren. Da bin zeichnet - ich ganz sicher. Das ist nicht aus Spaß und Tollerei (Zuruf von der SPD) gemacht worden, sondern deswegen, um gerade den geht sinnvollerweise neben der Fortführung von För- wirtschaftlichen Aufschwung im Osten zu fördern. derprogrammen von einer drastischen Steuer- und Es ist erkennbar, daß wir in Ost und West zuneh- Abgabenentlastung sowohl der Unternehmen als mend die gleichen Probleme haben, natürlich in den auch der Arbeitnehmer aus. Das geschieht nicht aus neuen Bundesländern mit sehr viel härteren Ein- ideologischen Gründen - wie das manchmal der schnitten, weil - erstens - die Ausgangslage be- F.D.P. unterstellt wird -, sondern weil sich solch ein kanntlich sehr viel schlechter war und weil - zwei- Konzept schon mehrfach bewährt hat. Wir greifen ja tens - bereits mit der notwendigen Umstrukturierung nur auf Bewährtes zurück. So konnten in der Bundes- begonnen wurde. Wir in Ostdeutschland haben so- republik in der Zeit von 1982 bis 1989 zum Beispiel wohl vor der Wende als auch während der Zeit der durch Steuersenkungen mehr als 3 Millionen Ar- Wende schon Erfahrungen gewonnen. Diese Erfah- beitsplätze geschaffen werden. Diese Strategie hat rungen sollten bei dem längst überfälligen Struktur- sich zum Beispiel auch - ich komme darauf zurück - wandel auch und gerade der alten Bundesländer ge- in Neuseeland bewährt, wo nach diesem Rezept die nutzt werden. Arbeitslosigkeit von 12 Prozent auf 6 Prozent redu- ziert werden konnte. Sagen Sie nicht, Neuseeland ist Nun zu einigen Lösungsansätzen. Bekannt ist die weit. Wir sollten endlich einmal unsere Arroganz, al- chronische Liquiditätsschwäche ostdeutscher kleiner les selbst und besser zu wissen, ablegen und von Er- und mittlerer Betriebe. Natürlich muß etwas dagegen fahrungen anderer lernen. getan werden. Ich glaube, die ab 1996 gültige Rege- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lung, daß die Mehrwertsteuer erst nach Bezahlung der Rechnung abzuführen ist, dürfte ein konstrukti- Man muß das Fahrrad natürlich nicht immer neu er- ver Beitrag sein. Wichtig sind meines Erachtens un- finden, man kann sich wirklich vieles Gute abguk- sere Bemühungen zur Wiederherstellung der Zah- ken. lungsmoral und damit zur Wiederherstellung des Lei- stungsprinzips. Wenn wir nicht aufpassen, schaffen Natürlich reicht die von uns immer wieder gefor- wir das Leistungsprinzip ab. Die ostdeutschen Län- derte Streichung der Gewerbekapitalsteuer nicht der fordere ich hiermit auf, zentrale Mahngerichte aus. Bei dieser Gelegenheit wollte ich Sie, Herr einzurichten, weil es dann nämlich nicht ein Jahr Schwanitz, fragen, ob nicht auch Sie den Solidaritäts- dauert, bis man Titel bekommt, sondern nur eine Wo- zuschlag als Steuer ansehen und welcher Stand bei che. der SPD denn jetzt gilt: Wollen Sie es nun abschaf- fen, oder wollen Sie es nicht? Diese Frage haben Sie (Beifall bei der F.D.P.) leider nicht beantwortet. Das geht zum Beispiel in Berlin. Do rt gibt es solch ein (Rolf Schwanitz [SPD]: Sie haben die Frage zentrales Mahngericht. Das kann Brandenburg nut- nicht gestellt!) zen. Das muß schnell umgesetzt werden. - Dazu bin ich leider nicht gekommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ohne Fusion?) Fatal wäre es, wenn wir zum Beispiel die Gewerbe- - Trotz negativer Fusion sollte man das machen. kapitalsteuer, die wir im Osten jetzt nicht haben, do rt einführen müßten, wo wir doch gemeinsam die Ab- Mit dem Bundesjustizminister sind wir uns nach ei- gabenlast senken wollen. Auch deswegen wollen wir nem Gespräch mit ihm und Mittelständlern einig, eine ganze Steuerreform mit drastischen Senkungen daß das Zwangsvollstreckungsrecht und die Verga- und Vereinfachungen. Natürlich ist sie lange überfäl- beverordnung Bau novelliert werden müssen. Wir lig. Das bringt - jedenfalls sind wir dieser Meinung - wollen und dürfen nicht zusehen, daß an sich wettbe- für die neuen Bundesländer mehr als die Anträge der werbsfähige Betriebe wegen ausstehender Rechnun- SPD und der Grünen. gen Konkurs anmelden müssen und geschaffene Ar- beitsplätze wieder kaputtgehen. Wir gehen davon aus, daß erste Vorschläge Ende 1996 vorgelegt werden und daß die Reform bereits (Beifall bei der F.D.P.) 1998 in Kraft tritt. Wir müssen natürlich sehr aufpas- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10049 Jürgen Türk sen, daß das auch so wird, aber wir werden es tun. Es kann nicht sein, daß zum Beispiel Braunkohle- Wenn richtigerweise - ich will es einmal so nennen - sanierungsgesellschaften, die nach § 249 h tätig sind Spargerechtigkeit gefordert wird, dann ist diese - dies hat die F.D.P. übrigens mit eingerichtet -, über Steuerreform eine Chance, steuerliche Ausnahmere- Jahre arbeiten müssen, weil die Verträge entspre- gelungen, Vergünstigungen und Betrugsmöglichkei- chend gestaltet sind. Es kann nur so sein, daß es ein ten zu beseitigen. Ich glaube, wir kommen auf die- Junktim gibt, daß mit dem Abschluß von ungeförder- sem Wege auch an die Großen heran. Abgesehen da- ten Dauerarbeitsplatzverträgen angefangen wird, von, daß diese Strategie, wie schon bewiesen, mehr und zwar zur Sicherheit der Arbeitnehmer und um Wachstum, Arbeitsplätze und damit auch wieder den umliegenden mittelständischen Betrieben nicht mehr Steuereinnahmen bringen wird, ist es natürlich zu schaden. zwingend notwendig, Einsparungen vorzunehmen. Irgendwoher muß das Geld kommen. Wenn gespart Ich glaube, daß zum Sparen auch ein effizienterer werden muß, dann müssen das alle. Man kann nicht Mitteleinsatz gehört. Dazu gibt es ganz konkrete - wie wir das zum Beispiel machen - Nullrunden ver- Vorschläge. Wir müssen beim Bau von Infrastruktur langen, ohne beispielhaft voranzugehen. Um so zu- von den Mehrfachleistungen wegkommen. Das friedener bin ich, daß die F.D.P. es geschafft hat, die heißt, wir müssen wirklich darüber beraten, wie wir beiden großen Fraktionen dieses Hauses zu überzeu- Bauleistungen für die Infrastruktur koordinieren. Wir gen, daß man im Bundestag mit einer Diäten-Null- müssen weg von dem Prinzip „Straße auf, Straße zu". runde beginnen muß. Ich bin Bauingenieur, und ich weiß, wovon ich rede. Da sind Milliarden an Einsparungen möglich, wenn (Zurufe von der SPD) wir das endlich einmal hinbekommen würden. - Das ist die Realität. Es hat mich schon sehr verwun- Wir sollten auch - das sage ich immer wieder; ich dert, daß Sie dazu so lange gebraucht haben. glaube, das ist richtig - das kameralistische Haus- haltsführungssystem in den Gemeinden und Kom- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: munen abschaffen. Dieses Haushaltsführungssystem Auch die Ostkollegen!) entspricht eher einem sozialistischen Bilanzsystem. Im übrigen ist die F.D.P. bereit, Regelungen vorzuse- Bis zum Jahresende alle Mittel verbraten zu müssen hen, daß auch die Bundestagsabgeordneten an der kann mit Effizienz nicht in Übereinstimmung sein. teilweisen Rückführung der Lohnfortzahlung im Wir müssen von diesem System wegkommen. Das Krankheitsfall betroffen sind, denn: Gleiche Ver- sind ganz konkrete Einsparvorschläge. pflichtungen für alle. Ich darf darauf verweisen, daß (Beifall bei der F.D.P.) das eine so schlimme Sache nicht ist. Sie kennen das aus der DDR. Wir hatten keine 100prozentige Lohn- Letztlich will ich noch sagen: Wir müssen auch im fortzahlung. Westen von Finnen weg, die die Struktur sozialisti- scher Großkombinate haben. Die Treuhand hat in der Nun noch einige Bemerkungen zum Antrag der DDR alle ehemaligen sozialistischen Großkombinate SPD. Sehr geehrter Herr Kollege Schwanitz, Sie un- richtigerweise beseitigt. Wieso denn nicht auch im terstellen an Hand der Tatsache, daß die Fördermit- Westen? Ich spreche ganz konkret vom Vulkan. Die tel über 1997 hinaus noch nicht auf dem Niveau von Beseitigung dieser unübersichtlichen Gebilde, dieser 1996 festgeschrieben sind, daß die Fördermittel ab Dauersubventionsempfänger im Westen müssen wir 1998 nicht mehr gewährt werden. Sie gehen bei den betreiben. Wenn es die Treuhand noch gäbe, wäre neun Punkten Ihres Antrags, den ich so schlecht das vielleicht eine Aufgabe für sie. Aber das kann nicht finde - ich finde darin viele Forderungen von eventuell auch die BVS machen. uns wieder -, Herr Schwanitz, erfreulicherweise da- von aus, die Subventionsmentalität nicht fördern zu wollen. Da sind wir uns einig. Mit der Festschrei- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege bung des 96er Levels, die Sie im Antrag fordern, wür- Türk, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? den Sie genau das Gegenteil tun. Lassen Sie uns wie bisher die konkrete wirtschaftliche Lage betrachten und dementsprechend auch fördern! Bei Förderun- Jürgen Türk (F.D.P.): Ja, bitte. gen ist generell wichtig, daß nicht gedankenlos ein- fach gestrichen wird oder aber gedankenlos gefor- dert und festgeschrieben wird. Man muß entspre- Werner Labsch (SPD): Kollege Türk, Sie haben im chend der konkreten Situation differenziert vorge- .Zusammenhang mit dem Aufbau Ost die Rekultivie- hen. Das werden wir machen. rung der Braunkohle angesprochen. Ich frage Sie: Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es, um Sicher- (Beifall bei der F.D.P.) heit in die weitere Rekultivierung zu bringen, aller- höchste Zeit wird, daß aus der Option nach 1997 eine Das gleiche muß auch bei arbeitsmarktpolitischen verbindliche Vereinbarung wird, die Förderung Instrumenten gelten. Auch hier wird im SPD-Antrag durch die Bundesregierung sicherzustellen? eine Festschreibung gefordert. Wir kritisieren dies. Richtig ist meines Erachtens, daß nicht blind gestri- chen wird, aber auch nicht, dies sagte ich schon, auf Jürgen Türk (F.D.P.): Lieber Werner Labsch, ich bin Jahre festgeschrieben wird. Immerhin sollen ABM mit dir einer Meinung, daß wir erstens Dauerarbeits- bzw. die Maßnahmen nach § 249h ein Übergangsin- platzverträge abschließen müssen und nicht weiter- strument sein. hin auf § 249h abstellen dürfen. Dafür kannst du sor- 10050 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Jürgen Türk gen. Du bist Vorstandsmitglied dieser Sanierungsge- Dadurch kann man doch heute von den Versäumnis- sellschaft. sen dieser Bundesregierung nicht ablenken. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Jürgen Türk [F.D.P.]: Darauf habe ich mich ten der CDU/CSU) nicht nur beschränkt!)

Zweitens bin ich ganz klar dafür, daß wir die Mittel Sie beide, die Sie doch in großen Unternehmungen für die Sanierung dieser geschundenen Landschaft tätig gewesen sind, werden doch sicherlich erken- über 1997 sicherstellen müssen. Wir müssen dafür nen: Es kann nicht nur am maroden Zustand gelegen sorgen, daß diese sinnvollen Mittel auch effizient ein- haben, daß es dort eine Abwicklung gegeben hat. gesetzt werden. Ich glaube, ein bißchen mehr Differenzierung ist auch hier angezeigt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS)

Zum Abschluß möchte ich auf einen klugen, le- In einem gesellschaftlichen Umbruchprozeß hat benserfahrenen Mann der SPD verweisen, auf Herrn die Bundesregierung zugelassen, daß allein unter- von Dohnanyi. Herr von Dohnanyi forde rt nämlich, nehmerisches Kalkül zum Regulativ geworden ist. Regierung und Opposition sollten sich zusammenset- Das, was sich unternehmerisch bewähren muß, kann zen und etwas für das Vaterland tun. Das schließt na- bei der Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft türlich Ostdeutschland ein. Er hat recht: Die Lage ist nicht der Maßstab sein. ernst, aber nicht hoffnungslos, wenn wir bereit sind, ergebnisorientiert statt ideologisch zu streiten. Natür- Der Osten ist nach der Währungsunion einem gna- lich werden wir weiter streiten, und zwar im Zweifel denlosen Konkurrenzkampf ausgesetzt worden. für Arbeitsplätze in Ost und West. Wenn das in anderen, ökonomisch ähnlich wie die DDR gelagerten Ländern, zum Beispiel in Tsche- Vielen Dank. chien, auch so passiert wäre, wären sie ebenfalls in ist es aber anders gelaufen, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- die Knie gegangen. Do rt ten der CDU/CSU) und das zeugt davon, daß in diesem Land etwas falschgelaufen ist.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun (Beifall bei der PDS) der Abgeordneten Frau Professor Luft das Wort. Das Handeln der Bundesregierung war und ist, ob- wohl das immerzu verbal, auch heute, bestritten Dr. Christa Luft (PDS): Herr Präsident! Verehrte wurde, ideologisch ausgerichtet und nicht von öko- Kolleginnen und Kollegen! Man muß es einmal rund- nomischem Sachverstand getragen gewesen. Ich heraus sagen: Das ostdeutsche Land, der Osten kann nur Beispiele nennen: Das unselige Prinzip Deutschlands, steht inzwischen wieder einmal an ei- „Rückgabe vor Entschädigung" hat jahrelang Inve- nem Scheideweg. Das scheinen aber die meisten Re- stitionen behindert. gierungsmitglieder und die meisten Koalitionsabge- ordneten nicht wahrhaben zu wollen, denn sonst (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne wäre die Präsenz in diesem Hause größer. ten der SPD) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Die Maxime der Treuhand „Privatisierung hat Vor- ten der SPD) rang vor der Sanierung" führte zur Vernichtung von Forschungs- und Produktionskapazitäten in großem Die Wegegabelung, vor der wir in den neuen Bun- Maßstab. Die Industriereste, die es jetzt noch gibt, desländern stehen, lautet doch: Entweder setzt sich drohen abgewickelt zu werden. Wir stehen vor einer die wirtschaftliche Talfahrt, wie sie sich in den letz- zweiten Industrieabwicklung in den ostdeutschen ten Monaten deutlich ankündigt, fo rt, oder es kommt Ländern. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Jede zu einem Umsteuern, damit die neuen Bundesländer Woche gehen privatisierte Unternehmen in die Ge- die Chance erhalten, sich aus dieser Talsohle heraus- samtvollstreckung. Der Beweis ist für die Ostdeut- zubegeben. schen also noch nicht erbracht, daß p rivate Unter- nehmen es besser schaffen als die staatlich geleiteten (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) Unternehmen. Das bequeme Motto dieser Bundesregierung, Wi rt rtschaft statt, hat den-schaftspolitik finde in der Wi (Jürgen Türk [F.D.P.]: Was ist die Alterna Landstrich zwischen Elbe und Oder wi rtschaftlich tive?) geradezu in den Abgrund geführt. Wir wollten gerne diese Erfahrung machen. Bisher ist Herr Krüger und Herr Türk, mit Verlaub: Ich kenne sie nicht gemacht worden. kaum ostdeutsche Menschen, die sich mit dem Ver- weis auf die maroden Ausgangsverhältnisse zufrie- Auch die Verteufelung des historisch gewachse- dengeben würden. nen Tauschhandels der DDR mit ihren Haupthan- delspartnern im RGW beschleunigte den Zusammen- ( [F.D.P.]: Wer war denn dafür bruch von Absatzmärkten. Inzwischen ist der Barter- zuständig?) handel wieder hoffähig geworden. Ich kann das Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10051

Dr. Christa Luft nicht kritisieren, aber das wäre vor vier, fünf Jahren schulstudium oder Fachschulstudium. Sie haben eine schon notwendig gewesen. solch qualifizierte Mannschaft nirgendwo noch auf der Welt in der Arbeitslosigkeit verharrend. Damit (Beifall bei der PDS) haben Sie auch ein Stück Nationalreichtum ver- Mir hat neulich jemand gesagt - ich selber war dar- schleudert - das muß ich Ihnen so deutlich sagen -, auf noch nicht gekommen -: Sieben Jahre nach dem ganz abgesehen von den menschlichen Schicksalen, Zweiten Weltkrieg war zwischen Elbe und Oder die die sich dahinter verbergen. Wirtschaftsdynamik bereits stabiler und größer als (Beifall bei der PDS) sieben Jahre nach dem Fall der Mauer. Meine Da- men und Herren, ich denke über diesen Satz nach. Inzwischen gibt es - zumindest was den Finanz- Gibt er Ihnen nicht auch zu denken? rahmen anbetrifft - nicht einmal mehr eine Politik des Weiter-so, sondern jetzt soll die Arbeitsmarkt- Jawohl, wir sind im verflixten siebten Jahr, und förderung im Osten, wie wir gehört haben, auf das auch der vergangene Protestsonnabend hier in Bonn Westniveau zurückgeführt werden. Zusammen mit war dafür ein Zeichen. anderen Maßnahmen, zum Beispiel mit den Strei- Gewiß, wir haben frische Häuserfassaden, wir ha- chungen im Gesundheitswesen, werden an die ben glitzernde Bürobauten, wir haben ausgebaute 300 000 bis 400 000 Arbeitsplätze wegfallen. Straßen, eine moderne Telekommunikation und man- Ich nenne Ihnen einmal ein einziges Beispiel, das ches andere mehr - das wird niemand bestreiten -, ich in der jüngsten Zeit erfahren habe. In Bad Mus (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Reisefrei kau, einer Kleinstadt in Sachsen, beträgt die Er- heit!) werbslosigkeit 60 Prozent. Die Bundesversicherungs- anstalt für Angestellte wollte dort eine Kurklinik mit überwiegend finanziert durch Transfers, aber deren 220 Betten bauen. Das war eine Hoffnung für die wirtschaftlicher Effekt ist doch zum ganz großen Teil dort erwerbslosen Menschen. Nachdem die Streich- in den Westen zurückgeflossen. Das heißt, der We- vorhaben dort bekanntgeworden sind, hat die BfA sten hat auch Solidarität mit sich selbst geübt. ihr Vorhaben zurückgezogen. Was sagen Sie den be- - troffenen Menschen? Das wären Arbeitsplätze auf (Beifall bei Abgeordneten der PDS) dem ersten und nicht auf dem von Ihnen gern so ge- Aber - und das ist das entscheidende - die Wirt- schmähten zweiten Arbeitsmarkt gewesen. schaft ist 1996 weiter davon entfernt, auf den Pfad ei- (Beifall bei der PDS) ner selbsttragenden Entwicklung zu gelangen, als in den Jahren zuvor. Es brechen wieder mehr Arbeits- Die Europäische Union beabsichtigt, wie wir hö- plätze weg, als neue geschaffen werden. Die Mas- ren, die Fördermittel für Ostdeutschland zu straffen. senarbeitslosigkeit verharrt auf Rekordniveau. Zweifelsohne ist auch dies eine Folge des Subven- 30 Prozent, sagt die Statistik aus, beträgt die Unter- tionsbetrugs beim Bremer Vulkan. Was wollen Regie- beschäftigung. Diese Tendenz wird steigen, wenn rung und Parlamentsmehrheit denn noch riskieren, der Streichkatalog - man müßte sagen: die Streich- um den Ruf der Bundesrepublik Deutschland im orgie - dieser Bundesregierung sich durchsetzt. Ausland weiter zu schädigen, wenn nicht endlich und unverzüglich eine Aufklärung dieses Skandals (Beifall bei Abgeordneten der PDS) erfolgt? Wir haben das oft genug gefordert. Es ist im- Die Zahl der Gewerbeabmeldungen rückt immer mer wieder unter Vorwänden auf eine kleine näher an die der Anmeldungen heran, Ich prophe- Flamme zurückgeschraubt worden. zeie Ihnen, daß wir am Ende des Jahres dabei minde- (Beifall bei der PDS) stens einen Gleichstand, wenn nicht einen Minus- saldo erreicht haben werden. Im ersten Quartal 1996 Wie wir hören, will nun die Europäische Union von weist die Statistik ein Nullwachstum aus. Es gibt VW die Rückzahlung von Subventionen im Umfang kaum noch industrielle Kerne. Damit fehlt das Fun- von 240 Millionen DM verlangen, die der Autokon- dament für einen Mittelstand, der gesund werden zern angeblich für ein Auto- und Motorenwerk in soll. Sachsen zuviel erhalten hat. Ich sage Ihnen, in den Ostberliner Stadtbezirken - Hier bahnen sich ernste Bedrohungen für die wei- früher Standorte von weltbekannten Industriebetrie- tere Entwicklung in den neuen Bundesländern an. ben - sind heute die Bezirksämter die größten Arbeit- Man muß überhaupt kein Prophet sein, um zu sagen: geber. Das ist doch wohl eine Absurdität und hat mit Wenn nur das eben Gesagte - das waren nur wenige Verschlankung des Staats nichts zu tun. Wir machen Beispiele - realisie rt werden würde, dann wird das den Staat nicht schlanker und reduzieren die Be- gefürchtete Mezzogiorno-Gespenst im Osten kein schäftigung in der Industrie und in anderen produk- Gespenst bleiben, sondern dann wird es Realität wer- tiven Bereichen. Das ist doch ein Unsinn. den. Das würde das Gesicht dieses ganzen Landes verändern. (Beifall bei der PDS) Ich kenne niemanden im Osten, der dünne Bretter Der Ausbildungsnotstand war nie so groß wie ge- bohren will. Ich kenne auch kein Unternehmen, das genwärtig. Ein im internationalen Maßstab höchst sich am Markt vorbeimogeln will. Aber die ostdeut- qualifiziertes Arbeitskräftepotential liegt brach. Von schen Unternehmen haben es oft nicht einmal mit zehn Arbeitslosen sind acht solche mit abgeschlosse- dem Scharfrichter Markt zu tun, sondern zum großen ner Berufsausbildung, mit Meisterprüfung, mit Hoch- Teil mit unlauterer Konkurrenz, mit Abzockern, mit 10052 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Christa Luft Hasardeuren, mit unsauberen Marktbereinigungs- Das ist insbesondere das Ergebnis des Aufbauwillens strategen. Wie anders könnte man sich das leidvolle und auch der Veränderungsbereitschaft der Men- Schicksal des Unternehmens Foron, des ersten Her- schen in den neuen Ländern angesichts eines bei- stellers FCKW-freier Kühlschränke, vorstellen und spiellosen Strukturumbruchs. Dazu hat auch die Soli- erklären oder das der Bischofferöder Kaligrube? darität der westdeutschen Bürger beigetragen. Die Diese hatte ein Produkt, das gefragt ist, einen Markt Bundesregierung hat diesen Prozeß durch ihr konse- und zahlungsfähige Kunden. All dies - das habe ich quent wachstumsorientiertes Konzept unterstützt. inzwischen gelernt - sind eigentlich Kriterien, die Andererseits haben wir nach dem Aufbruch der er- man braucht, um in einer Marktwirtschaft zu existie- sten Jahre noch die zweite, vielleicht schwierigere ren. Aber das hat hier nicht funktioniert. Hälfte des Weges vor uns. Die Bundesregierung hat (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne dies in ihrem Bericht „Aufbau Ost - Die zweite Hälfte ten der SPD) des Weges - Stand und Perspektiven" vom Septem- ber 1995 im einzelnen beschrieben und unsere Ant- Wir fordern, daß das Fördermittelvolumen für den worten dargestellt. Der Bericht hat auch in den Aus- Osten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe auf schüssen des Bundestages und insbesondere bei der dem Niveau von 1995 beibehalten werden muß. Das Opposition viel Zustimmung gefunden. Die Bundes- würde im Haushalt 1996 eine Aufstockung von Bun- regierung wird im Oktober erneut umfassend Bilanz desmitteln um 550 Millionen DM bedeuten. Damit ziehen und die notwendigen Konsequenzen darle- die Länder ihren Komplementärbeitrag aufbringen gen. können, darf ihnen der Bund die Finanzierungsquel- len nicht weiter beschneiden. Das heißt: Weg die Hand von der Vermögensteuer und keine Kürzung Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatssekretär, ge- des Solidaritätszuschlages! statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?

Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit! Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft: Bitte sehr. Dr. Christa Luft (PDS): Ich komme zum Ende,- Herr Präsident. Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Staatssekretär, könn- ten Sie vielleicht kurz erläutern, wie die Bundesre- Wir fordern ein langfristiges, ein mehrjähriges Pro- gierung auf den Gedanken kommt, die erste Hälfte gramm für die Ausbildung junger Menschen, damit des Weges sei nach fünf oder sechs Jahren bereits wir hier endlich von der Kurzatmigkeit wegkommen, bewältigt, und muß man aus dieser Formulierung die die für die jungen Leute unwürdig ist. Schlußfolgerung ziehen, daß der Aufbau Ost nach Meine Damen und Herren - Auffassung der Bundesregierung in fünf Jahren ab- geschlossen sein wird? Vizepräsident Hans Klein: Keinen neuen Absatz mehr, Frau Kollegin. Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft: Herr Kollege, das ist hier von mir nicht gesagt worden. Ich bin sehr wohl der (PDS): - ja - , ich würde mir im übri- Dr. Christa Luft Meinung, daß wir die Hälfte des Weges zurückgelegt gen - neben dem, was ich gerne noch gesagt hätte - haben. Das ergibt sich schon fast mathematisch. wünschen, daß in der Wi rtschaft vielleicht auch ein Wenn Sie die Wachstumsraten der ersten Jahre se- paar Frauen mehr das Sagen bekommen. Wenn man hen und unterstellen, daß wir trotz aller Schwierig- sich einmal die Rednerliste anschaut: Es sind nur keiten nicht ganz bei Null angefangen haben, dann Männer. Nichts gegen Männer, aber Frauen haben können Sie feststellen, daß wir die Lücke, die zwi- vielleicht eine etwas andere Hand in dieser Angele- schen den neuen und den alten Bundesländern be- genheit. steht, mindestens zur Hälfte haben schließen kön- Danke schön. nen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Ernst Schwanhold [SPD]: Zur Zeit wird sie wieder größer!) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Parla- mentarischen Staatssekretär beim Bundesminister Ich habe nicht davon gesprochen, daß wir in den für Wirtschaft, Dr. Hein rich Kolb, das Wort. nächsten fünf Jahren die zweite Hälfte des Weges zu- rückgelegt haben werden. Das hängt natürlich ent- Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- scheidend davon ab, wie wir Rahmenbedingungen desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Liebe Kol- setzen. leginnen und Kollegen! Die wi rtschaftliche Lage in (Ina Albowitz [F.D.P.]: Einschließlich der den neuen Ländern ist - zumindest insoweit scheint Opposition!) mir hier Konsens zu bestehen - trotz aller Fortschritte weiterhin schwierig. Ich werde gleich einiges dazu sagen. Einerseits ist der Aufbau Ost in den vergangenen (Rolf Schwanitz [SPD]: Reden Sie doch ein fünfeinhalb Jahren, insbesondere angesichts der de- mal Klartext! - Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir solaten Ausgangslage, schon weit vorangekommen. reden immer Klartext!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10053

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb Der Aufschwung in Ostdeutschland - zumindest Das ist eine klare Weichenstellung gewesen, die das ist hier einzuräumen - hat sich seit Herbst 1995 auch den Investoren bis Ende 1998 entsprechende deutlich verlangsamt. Die Wirtschaftsforschungsin- Entscheidungssicherheit gegeben hat. stitute schätzen in ihrem Frühjahrsgutachten das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes für das Jahr (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir haben doch nicht 1996 insgesamt auf lediglich 3 Prozent. Dies bereitet geschlafen!) uns in der Tat allergrößte Sorge. Viertens und nicht zuletzt. Der durch Minister Rex- Die Gründe für diese Entwicklung liegen einmal in rodt initiierte Eigenkapitalfonds Ost ist von der Wirt der stärkeren Verflechtung mit der westdeutschen -schaft entgegen vielen Prognosen - ich sage das hier Wirtschaft. Die Zeit der - wenn Sie so wollen - ost- ganz offen - sehr gut angenommen worden und ist, deutschen Sonderkonjunktur ist vorbei. Deswegen das kann man heute schon sagen, ein großer Erfolg. ist auch die Verbesserung der Standortbedingungen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) in ganz Deutschland wichtig. Ich begrüße daher, daß in Ostdeutschland in vielen Bereichen - nehmen wir Inzwischen liegen Anträge in Höhe von rund den Ladenschluß oder die Lohnfortzahlung - ein viel 350 Millionen DM vor. Wir prüfen derzeit, wie wir größeres Verständnis für notwendige Änderungen den Fonds aufstocken können, falls die Mittel von besteht, als dies zum Teil im Westen der Fall ist. 500 Millionen DM, die für dieses Jahr vorgesehen sind, erschöpft sein sollten. Damit ist doch klar, für (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der das Problem der Eigenkapitalschwäche ist so ein we- CDU/CSU) sentlicher Lösungsansatz nicht nur diskutiert, son- dern bereits verwirklicht. Er greift in der Praxis. Ein weiterer Grund für die schwierige Lage ist die seit 1993 stagnierende, immer noch unzureichende (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen und ge- rade in der Indust rie. Unzureichendes Eigenkapital, Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist klar, und es zuwenig Forschung und Entwicklung, Probleme im ist außerhalb jeden Zweifels, daß die Wirtschaftsför- Absatz und im Management, aber auch zu hohe derung auf hohem Niveau fortgeführt wird, und ich Lohnstückkosten sind die Gründe. unterstreiche diese Forderung aus dem Koalitionsan- trag nachdrücklich. Die Bundesregierung hat auf diese Situation in den letzten Monaten in umfassender Weise geantwortet. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Erstens. Wir haben zur Verbesserung der Wirt- Klar ist auch, daß die Wirtschaftsförderung - entge- gen der Behauptung der SPD - 1998 nicht beendet schaftsentwicklung in ganz Deutschland - ich weise nur auf den Jahreswirtschaftsbericht hin - das Ak- sein wird. Jeder muß und wird doch einsehen, daß Wirtschaftsförderung immer von der absehbaren tionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze sowie kürzlich in Konkretisierung und Ergänzung wirtschaftlichen Lage abhängen muß. Daher hat die Bundesregierung bereits im Jahreswirtschaftsbericht dieses Programms das Programm für mehr Wachs- entschieden, im Verlauf des Jahres 1997 über Art tum und Beschäftigung verabschiedet. Die zügige und Umfang der Förderung ab 1999 zu entscheiden, Umsetzung wesentlicher Teile dieser Programme bis zur Sommerpause wird auch den neuen Bundes- so wie wir es zuvor im Jahre 1996 für den Zeitraum ländern neue Wachstumsimpulse geben. Ich kann bis 1998 getan haben. die Opposition nur auffordern und bitten, hier nicht Aber ich sage auch: Die Bundesregierung allein mit Verzögerungen den Weg dieser Gesetze zu be- kann den Aufbau Ost nicht schaffen. Der entschei- schweren, sondern dafür zu sorgen, daß diese Ver- dende Punkt in der heutigen Lage ist: Die Lohnstück- besserungen möglichst schnell in Kraft treten kön- kosten in Ostdeutschland sind die höchsten in der in- nen. dustrialisierten Welt. Zweitens. Die Leistungen für Infrastruktur, für die Um hier voranzukommen, muß einerseits die Pro- Wirtschaftsförderung, für die Verbesserung der allge- duktivität weiter gesteigert werden. Das geschieht meinen Lebensbedingungen werden 1996 um rund durch Investitionen. Die Fortschritte erkennt man an sieben Prozent gegenüber 1995 erhöht. der Investitionsquote. Sie ist mehr als doppelt so hoch, wie dies zu Wirtschaftswunderzeiten der Fall Drittens. Herr Kollege Schwanitz, wir haben die gewesen ist. Ich glaube, nachdrücklicher kann man Förderung für die neuen Bundesländer hier doch dies hier nicht unterstreichen. nicht demontiert, nicht abgebaut, sondern wir haben im letzten Jahr mit dem „Mittelfristigen Förderkon- Auf der anderen Seite stehen die Kosten, für die zept", das im Jahressteuergesetz 1996 umgesetzt die Tarifparteien eine besondere Verantwortung tra- wurde, die Förderung auf den Engpaß der wirtschaft- gen. Es geht mir hier überhaupt nicht um Vorwürfe lichen Entwicklung, nämlich die Industrie und den an Gewerkschaften und an Arbeitnehmer. Ich sage Mittelstand, konzentriert. Wir haben in diesem Ge- ganz deutlich: Auch die Politik hat dazu beigetragen, setz auch die häufig kritisierten Abschreibungsbe- hohe Erwartungen über Lohnsteigerungen zu wek- dingungen für Immobilien den veränderten Bedin- ken. gungen angepaßt. (Ernst Schwanhold [SPD]: Adressieren Sie (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der doch einmal richtig, Herr Kolb! Sie waren CDU/CSU) es doch!) 10054 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb Aber heute müssen wir feststellen, Herr Kollege det, meine lieben Kollegen und insbesondere Herr Schwanhold, die Steigerung der wirtschaftlichen Lei- Krüger, sondern ihr Verschweigen. stungsfähigkeit hat mit der Lohnentwicklung nicht Schritt gehalten. In Zahlen: Während die Produktivi- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner tät der ostdeutschen Wi rtschaft erst 54 Prozent des Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ westdeutschen Niveaus be trägt, liegen die Löhne bei NEN]) rund 73 Prozent. Das zeigt doch das Problem hier Es bleibt Ihr und der Arbeitgeber Geheimnis, wie ganz klar. durch Einsparungen Arbeitsplätze geschaffen wer- den können. Sie werden vielmehr vernichtet. Das Mittlerweile fordern die Forschungsinstitute, Ge- macht angst, nicht der Widerstand dagegen im Osten werkschaften und Unternehmen sogar unmißver- und anderswo. ständlich zu einer lohnpolitischen Kehrtwende, ja zu Lohnsenkungen auf. Entscheidend für den weiteren Gegen diese Realität hilft auch nicht, was Sie in Ih- Aufschwung sind flexible Vereinbarungen, die sich rem Antrag geschrieben haben. Wenn Sie davon re- an der wirtschaftlichen Leistungskraft der Unterneh- den, daß im Osten noch besondere arbeitsmarktpoli- men orientieren. tische Maßnahmen unverzichtbar bleiben, und wei- ter schreiben, deshalb sei auf ein differenziertes Vor- (Beifall bei der F.D.P.) gehen zu achten, dann halte ich das - gestatten Sie den Ausdruck - für ziemlich leisetreterisch oder, an- Schon aus den letzten Jahren kennen wir eine Viel- ders gesagt, für eine nur mühsam kaschierte Nieder- zahl solcher Regelungen, solcher - wenn Sie so wol- lage in den Verteilungskonflikten, in denen Sie im- len - Bündnisse für Arbeit auf Betriebsebene, die von mer verlieren, liebe ostdeutsche Kollegen. allen Beteiligten gemeinsam ausgehandelt wurden. Hier muß noch mehr passieren, damit sich die neuen (Beifall bei der SPD) Länder im Verlauf dieses Jahres von der Wachstums- schwäche erholen können. Seit sechs Jahren beschwört diese Bundesregie- rung die zweifellos hohen Aufwendungen für Ost- Liebe Kolleginnen und Kollegen, gefordert sind in deutschland. Sie macht aber zugleich eine Wi rt - dieser Situation alle wirtschaftspolitisch Verantwort- -schaftspolitik, die teilweise wieder zunichte macht, lichen. Nicht nur Forderungen an andere zu stellen, was die Menschen mit gutem Willen, mit größter An- sondern die eigenen Hausaufgaben zu machen, das strengung und manchmal auch mit zähneknirschen- muß die Devise sein. Die Bundesregierung war und der Solidarität geleistet haben. wird auch weiterhin ein verläßlicher Partner für den Aufschwung Ost bleiben. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krü- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ger? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wolfgang Thierse (SPD): Selbstverständlich.

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- lege Wolfgang Thierse. Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Herr Thierse, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es durchaus Sinn machen kann, bei der Vergabe von Wolfgang Thierse (SPD): Herr Präsident! Meine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Regionen, die we- Damen und Herren! Es hat sich ausgeblüht. Die Blü- niger Probleme im industriellen und wirtschaftlichen ten welken und fallen herab. Der Aufbau Ost- Bereich haben, die also mehr Arbeitsplätze und we- deutschlands war von Ihnen mit der amtlichen Pro- niger Arbeitslosigkeit haben, weniger mit ABM zu gnose blühender Landschaften in drei bis fünf Jah- fördern als Regionen wie etwa die Lausitz oder Ge- ren verbunden worden. Nun sind wir im sechsten biete in Mecklenburg-Vorpommern, die derzeit mit Jahr der deutschen Einheit, und das Wachstum in sehr hohen Arbeitslosenproblemen zu kämpfen ha- Ostdeutschland stagniert. Es wird in absehbarer Zu- ben, und daß deshalb eine Differenzierung notwen- kunft nicht mehr die westdeutschen Wachstumsraten dig sein kann und darüber hinaus eine Reihe von übersteigen. Gewiß ist viel erreicht worden; aber der weiteren Differenzierungen dazu führen kann, daß Abstand zwischen West und Ost nimmt inzwischen man mit etwas weniger Geld durchaus auch heilvoll wieder zu. Mit anderen Worten: Das Ende der An- noch die Arbeitsmarktprobleme begleiten kann? gleichung der Lebensverhältnisse scheint eingeläu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tet zu sein.

Das ist nicht hinzunehmen. Die ohnehin weit über- Wolfgang Thierse (SPD): Lieber Kollege Krüger, durchschnittliche Arbeitslosigkeit nimmt zu. Schon Differenzierung und Zielgenauigkeit machen immer allein der von Ihnen geplante Rückgang der Arbeits- Sinn. Aber Sie sagen ja, bei den Einsparungen solle beschaffungsmaßnahmen wird über 100 000 Arbeits- man differenzie rt vorgehen. Dazu sage ich: Ange- lose in Ostdeutschland zur Folge haben. Jede dritte sichts einer im Osten Deutschlands wieder wachsen- ABM-Stelle in Ostdeutschland wird dadurch gefähr- den Arbeitslosigkeit, angesichts der Tatsache, daß es det. 70 000 bis 100 000 Jobs stehen in der Baubran- keinen selbsttragenden Aufschwung gibt - darin wa- che zur Disposition. Das sind keine Horrorzahlen, das ren wir uns doch einig -, überhaupt von Einsparun- ist keine Schwarzmalerei. Nicht die Wahrheit scha- gen zu reden und das dann mit der Aussage zu be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10055

Wolfgang Thierse mänteln, dabei müsse man differenziert vorgehen, wäre es allerdings, mit den östlichen Nachbarn kon- das nenne ich leisetreterisch und ein Dokument der kurrieren zu wollen. Die Löhne do rt betragen nun Niederlage. einmal nur etwa 10 Prozent der unsrigen. Um ein sol- ches Lohnniveau kann es selbst Ihnen, meine Herren (Walter Hirche [F.D.P.]: Sie sollten sich von der F.D.P., nicht ernsthaft gehen. freuen, daß es keine Kahlschlagpolitik gibt!) (Jürgen Türk [F.D.P.]: Hat keiner gesagt und Wie lauteten doch die Verheißungen, die wir ge- keiner gefordert!) hört haben: Es seien nur gute Produkte erforderlich, dann gehe es auch ziemlich schnell gut. Die Filmfa- brik Wollen hatte ein sehr gutes, innovatives Pro- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- dukt. Die MuZ-Motorenfabrik, die Staßfurter Fern- schenfrage? sehgerätehersteller, der sächsische Kühlschrankher- steller Foron - sie alle hatten gute, innovative Pro- Wolfgang Thierse (SPD): Ja. dukte. Den Zugang zu den Märkten haben sie alle nicht geschafft. Foron hatte eine gute Presse, ist ge- radezu berühmt. Die anderen hatten den Designer Walter Hirche (F.D.P.): Herr Kollege Thierse, sind Luigi Colani; es gab Werbestrategien, aber keine Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in dieser De- Vertriebswege in den Westen, und die alten Kunden batte von unserer Seite von Lohnstückkosten und im Osten können nicht mehr bezahlen. So stehen wir nicht von Lohnkosten gesprochen worden ist und vor einer weiteren Pleitewelle in Ostdeutschland, die daß das zwei völlig verschiedene Dinge sind? Wenn die engagierten kleinen Handwerker ebenso treffen wir hier diskutieren, sollten wir den Versuch machen, wird wie innovative Unternehmen. auf die Stichworte einzugehen, die aus meiner Sicht in der Sache unbestreitbar richtig sind. Seit sechs Jahren verlangen wir, daß den Unter- nehmen auf die Märkte geholfen wird. Die Bundesre- gierung schafft es gerade einmal, daß sich Westfir- Wolfgang Thierse (SPD): Ich weiß sehr wohl, daß men freiwillig verpflichten, ein bißchen auch im ein Unterschied besteht zwischen Lohnstückkosten Osten einzukaufen. Hinter dieser Fassade machen und Lohnkosten, aber es gibt natürlich doch einen diese dann potentielle Konkurrenten platt, wie man Zusammenhang, der sich über den einzelnen Arbeit- an Foron unübersehbar studieren kann. nehmer herstellt. Sie schüren ja eine öffentliche De- batte, die gerade in Ostdeutschland den Eindruck er- (Beifall bei der SPD und der PDS) weckt, die Löhne seien insgesamt zu hoch. Daraufhin Meine Damen und Herren, der Abbruch des Auf- antworte ich Ihnen: Dies ist im internationalen Ver- baus Ostdeutschland ist - natürlich - nicht zu tren- gleich richtig wie falsch zugleich. Auf diesem Sektor nen von der Konjunktur- und Strukturkrise der Wirt werden Sie die Lösung nicht finden. Denn Ost- -schaft in Deutschland überhaupt. Der Nachteil Ost- deutschland kann - das können selbst Sie nicht deutschlands sind die hohen Lohnstückkosten; das ernsthaft wollen - doch kein Niedriglohnland wer- stimmt, Herr Kolb. Aber wie niedrig müßten dann die den, nur damit die Lohnstückkosten dramatisch ge- Löhne sein, um noch etwas zu retten? Auch diese senkt werden können. Es geht um die Steigerung der Frage muß man beantworten, wenn man klagt. Offen Produktivität. Ich komme darauf zurück. wird gegen die geltenden Tarifverträge polemisiert. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Aber die werden doch ohnehin nicht eingehalten. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]) Zwischen der tarifvertraglichen und der tatsächli- chen Lohnsumme in Ostdeutschland klafft eine rie- sige Lücke. Vizepräsident Hans Klein: Sind Sie bereit, dem Kollegen Hirche eine weitere Zwischenfrage zu be- Vielleicht darf ich Ihnen einmal ein anderes Datum antworten? nennen: Im vergangenen Jahr kostete nach Angaben des Instituts der Deutschen Wi rtschaft, Köln, eine Ar- beitsstunde in Ostdeutschland 26,50 DM, in West- Wolfgang Thierse (SPD): Ja. deutschland kostete sie 44 DM. An den Arbeitsko- sten also kann es alleine nicht liegen. Danach müßte Walter Hirche (F.D.P.): Sind wir uns dann wenig- Ostdeutschland ein Paradies der Vollbeschäftigung stens darin einig, Herr Kollege, daß die Lohnstückko- sein, sten entscheidend sind für die Produktivität und daß (Walter Hirche [F.D.P.]: Es geht doch um die Probleme der Arbeitslosigkeit kaum zu beseiti- Lohnstückkosten!) gen sind, solange die Lohnstückkosten in Ost- deutschland die höchsten in Europa sind? zumal bei uns noch immer länger gearbeitet wird als im Westen. Die Kürze der Arbeitszeit sei ja auch ein (SPD): Das habe ich überhaupt Grund für vermeintliche Standortprobleme, wie der Wolfgang Thierse nicht bestritten. Mein erster Satz in dieser Passage - Kanzler gelegentlich sagt. Beide Behauptungen wer- ich habe es hier in meinem Manuskript - war: Die den in Ostdeutschland widerlegt. Lohnstückkosten in Ostdeutschland sind zu hoch; (Zustimmung bei der SPD) das stimmt. Dem Wettbewerb mit Italien und Frankreich halten (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Genau, das ist wir bei diesen Arbeitskosten stand. Völliger Unsinn ja auch der Schlüssel!) 10056 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Wolfgang Thierse Dann habe ich aber gesagt: Dieses ändern zu wollen anderen Region wagt die Bundesregierung vorzu- über die Unterminierung von Tarifverträgen, das rechnen, was sie dafür ausgibt. halte ich für falsch. (Beifall bei der SPD und der PDS) (Beifall bei der SPD) Nord- oder Südwesttransfers gibt es im öffentlichen Meine Damen und Herren, der Traum billigster Sprachgebrauch nicht. Löhne ist nicht alles. Es wird Stimmung gemacht ge- Die deutsche Einheit, der Einigungsvertrag lassen gen die Transfers nach Ostdeutschland. es aber nicht zu, zwischen einem arbeitslosen Schwa- ben und einem arbeitslosen Sachsen zu unterschei- Vizepräsident Hans Klein: Auch die Kollegin Luft den. würde Sie gerne etwas fragen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Doch, das machen wir sehr differenziert!) Wolfgang Thierse (SPD): Bitte. Beide haben dasselbe Recht. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist wohl wahr!) Dr. Christa Luft (PDS): Herr Kollege Thierse, stim- men Sie mir zu, daß sich das Problem der Lohnstück- Es handelt sich zweitens um Bundesaufgaben wie kosten in den neuen Bundesländern - jedenfalls ein zum Beispiel den Bau von Bundesfernstraßen oder gutes Stück davon - allein dadurch lösen könnte, Verteidigungsaufwendungen. Es ist doch tatsächlich wenn endlich die Unterauslastung der Kapazitäten so, daß der Neuanstrich einer Kaserne in Ostfriesland durch fehlenden Marktzugang beendet würde? zu den Verteidigungsaufwendungen zählt, dasselbe Denn die Lohnstückkosten sind ja durchaus ein Pro- in Thüringen aber Osttransfer ist. duktionswert zu Lohnkosten. Auch die Aufwendungen, zu denen der Bund Wenn man also eine bessere Auslastung der Pro- durch die Verfassung oder durch Verträge und Ge- duktionskapazitäten durch mehr Aufträge, durch setze verpflichtet ist, wie der Bund-Länder-Finanz- mehr Zugang zu den Märkten hätte, würde- sich die- ausgleich oder die grundgesetzlich definierte Ge- ses Problem lösen. Ich glaube, wir müssen über Inno- meinschaftsaufgabe, sollten nicht als Heldentaten vationen reden, über Märkte reden westlicher Großzügigkeit gefeiert werden, für die man unablässig Dank verlangt. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das hätten Sie mal vor Jahren machen sollen, als DDR-Wirt (Beifall bei der SPD und der PDS) schaftsministerin!) Drittens bestehen die Osttransfers aus unmittelbar und nicht pausenlos über die Löhne und auch nicht investitionsfördernden Mitteln; das ist inzwischen über Lohnnebenkosten. der mit Abstand kleinste Teil der gesamten Aufwen- dungen. Er ist im vergangenen Jahr drastisch ge- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne kürzt worden, und jetzt kündigen Sie dasselbe wie- ten der SPD) der in Ihrem famosen Paket gegen - Entschuldigung: für Wachstum und Beschäftigung, wie es heißt, an. Wolfgang Thierse (SPD): Frau Luft, ich stimme Es gelingt dieser Politik nicht einmal, einen Anteil Ihnen da zu. Ich habe vorhin schon darüber gespro- an öffentlich geförderter Forschung in den Osten chen, daß der Marktzugang für die ostdeutschen Deutschlands zu bewegen, der dem Anteil der Bevöl- Unternehmen ein entscheidender Punkt ist. kerung auch nur nahekommt. Wir Ostdeutschen sind 19 Prozent von allen Deutschen, aber bei uns befin- Ich will von den Transfers sprechen, über die stän- den sich nur 5 Prozent der industriellen Produktion dig öffentlich Klage geführt wird. Die Gesamtauf- und etwas über 2 Prozent der Forschungskapazitä- wendungen pro Jahr für diese Transfers nach Ost- ten. deutschland sinken derzeit. Also rechnet man propa- gandistisch die letzten sechs Jahre zusammen; das (Beifall bei der SPD - Ina Albowitz [F.D.P.]: wirkt. Sie haben doch gerade die Aufteilung nicht gewollt!) Aber, meine Damen und Herren, es gibt Berech- nungen, denenzufolge die Transfers nach Ost- deutschland 1,9 Millionen Arbeitsplätze gesichert Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Krüger hätten - allerdings im Westen. Am Beginn der 90er würde gern noch eine Zwischenfrage stellen. Jahre haben sie wie ein klassisches Konjunkturpro- gramm im Westen gewirkt und die konjunkturelle Wolfgang Thierse (SPD): Ja. Talfahrt um gut zwei Jahre hinausgeschoben. Daß der Westen kurzfristig von der Lage Ostdeutschlands (CDU/CSU): Herr Thierse, profitiert hat, ist mittlerweile unbest ritten. Sehen wir Dr.-Ing. Paul Krüger sind Sie meiner Auffassung, uns deshalb die Transfers, wie sie heute gelten, noch einmal genauer an. (Zurufe von der SPD: Nein!) Es handelt sich erstens um Rechtsansprüche der in daß es ein bedeutender Anteil ist, wenn derzeit Ostdeutschland lebenden Menschen auf Rente, auf 40 Prozent der gesamten Forschungsaufwendungen Arbeitslosengeld, auf Wohngeld zum Beispiel. Keiner in den neuen Bundesländern allein vom Bund getra- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10057

Dr.-Ing. Paul Krüger gen werden, wohingegen in den alten Bundeslän- ren von den Regierungsfraktionen, können Sie mit dern der Anteil der vom Bund getragenen For- Ihrer Mehrheit machen, und zwar ohne ein Bürger- schungsförderung, von der Sie gesprochen haben, büro, aber Sie tun es nicht. nur 4 Prozent beträgt? Was jetzt not tut, ist die Konzentration der Förder- Ich meine, das ist ein weit überproportionaler An- mittel auf den Mittelstand, der produziert oder pro- teil, den die öffentlichen Hände in den neuen Bun- duktionsnahe Dienstleistungen erbringt. Wir brau- desländern übernehmen. Das sind genau zehnmal chen den Erlaß der Altschulden, die manche Kom- soviel Aufwendungen, bezogen auf die gesamten munen handlungsunfähig machen. Wir fordern eine Ausgaben im Bereich der Forschung, wie in den al- Offensive zur Vermögensbildung in ostdeutscher ten Bundesländern. Ich meine, daß das ein großer Hand. Wir verlangen die Förderung ostdeutscher Anteil ist. Forschungsstandorte und die Bereitstellung von Risi- kokapital; denn Ostdeutsche haben in aller Regel Ich frage Sie: Sind Sie der gleichen Meinung? kein Eigenkapital, und die Banken geben ihnen kei- nes und halten oft selbst ihren guten Rat zurück. Wolfgang Thierse (SPD): Herr Krüger, Sie wissen doch, daß Ihre Zahlen die meinigen nicht widerle- Wir brauchen - nicht nur in Ostdeutschland, aber gen. Sie wissen, daß die ostdeutschen Länder finan- da besonders - eine Initiative für mehr Arbeitsplätze. ziell noch nicht in der Situation sind, hinreichend Ostdeutschland als Investitionsruine werden wir uns Forschungsförderung zu betreiben. Sie müßten es alle gemeinsam nicht leisten können. viel mehr tun; sie können es gegenwärtig finanziell (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr.-Ing. nicht. Um des Ausgleichs in Deutschland willen muß Paul Krüger [CDU/CSU] und des Abg. der Bund einspringen, und zwar viel stärker, als in Walter Hirche [F.D.P.]) den vergangenen Jahren geschehen. Sonst wird es gerade in diesem nach vorn, in die Zukunft weisen- Was konzeptionsloses Sparen, zumal im Osten, den Bereich politischer Gestaltung eben nicht zu ei- aber auch sonst überall, bedeutet, schreibt Ihnen Ihr ner Angleichung oder Annäherung kommen. Parteifreund Lothar Späth ins Stammbuch: - (Beifall bei der SPD) Mißlingt der Versuch, Ostdeutschland auf eine ei- gene wirtschaftliche Grundlage zu stellen, ist der Wenn der Lebens- und Arbeitsstandort Ost- bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat nicht zu halten. deutschland eine wirkliche Zukunftschance haben soll, dann müssen die Forschungs- und Innovations- - Der Mann hat recht. Halten Sie sich daran! potentiale im Osten stabilisiert und aufgebaut wer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne den. Deswegen sage ich es noch einmal, Herr Krü- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ger: Ostdeutschland muß Schwerpunkt der For- und der PDS) schungsförderung des Bundes sein und bleiben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsident Hans Klein: Kollege Gunnar Uldall, ten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) Sie haben das Wort. Das heißt im übrigen auch - diese Wahrheit muß man aussprechen -: Wenn man keine Zuwächse hat, Gunnar Uldall (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine die man verteilen kann, dann muß man dem stärke- Damen und meine Herren! Herr Kollege Thierse, in ren Teil etwas abverlangen, wenn der schwächere vielen Punkten kann ich mich Ihren Ausführungen sonst nicht überleben kann. anschließen; und ich werde mich bemühen, das Thema so differenziert anzugehen, wie Sie es getan (Beifall des Abg. Dr.-Ing. Paul Krüger haben. Ich meine aber, daß Sie in vielen anderen [CDU/CSU]) Punkten, wenn Sie noch einmal Gelegenheit haben Wer dagegen jetzt am Osten spart, wird die Dauer sollten, eine solche Rede zu halten, etwas vorsichti- der Unterstützung nur verlängern und ihren endli- ger sein müßten. chen Erfolg gefährden. Wer jetzt die Schmerzen der Es muß immer Ziel einer solchen Rede sein, die Solidarität verringern will, verlängert sie nur. Wenn Menschen nicht zu entmutigen, sondern zu ermuti- der Aufbau Ost schiefgeht, wackelt der Standort gen. Deutschland insgesamt. (Klaus Lennartz [SPD]: Ihre Politik entmu (Beifall des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.]) tigt aber!) Deswegen fordern wir Kontinuität und Verläßlichkeit Letzteres fehlte in Ihrer Rede völlig. der Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland. Das ist das zentrale Anliegen unseres Antrags. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Sie haben keine Alternativen geboten. Sie haben nicht versucht, Mut zuzusprechen. Sie haben die Übrigens - eine Nebenbemerkung -: Ein Verein Dinge in vielen Punkten schlechter dargestellt, als Bürgerbüro wird und darf kein Ersatz für eine wirk- sie sind. same Politik sein. Er wird weder die Haftentschä- digung für Bautzen-Häftlinge noch die Mittel für (Wolfgang Thierse [SPD]: Wenn ich mit den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland Menschen rede, ermutige ich sie! Aber Sie erhöhen können. Das alles, meine Damen und Her- muß ich doch nicht ermutigen!) 10058 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Gunnar Uldall Meine Damen, meine Herren, es gibt genügend len hätte irgendwo zeigen können, und die Ge- Probleme; mein Kollege Paul Krüger hat das vorhin schichte wäre dann besser gelaufen. in seiner eindrucksvollen Rede (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Lachen bei der SPD) Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist ein neuer Aspekt in der Standortdebatte, Herr Uldall!) dargestellt. Ich sage, man sollte die Situation nicht schlechter Ich möchte zwei Punkte ansprechen, die mir be- reden, als sie ist, und vor allen Dingen sollte man den sondere Sorge bereiten. Der erste Punkt: In den Menschen Mut machen. neuen Bundesländern wird pro Einwohner nur die Ich will einen Vergleich anstellen, der Sie auch Hälfte dessen produziert, was in Westdeutschland nicht begeistern wird, lieber Herr Kollege Schwan- produziert wird. Das ist einer der Kernpunkte, wes- hold. Wir haben bisher immer einen Vergleich zwi- wegen wir so große Probleme zu bewältigen haben. schen Ostdeutschland und Westdeutschland ange- stellt; wir haben das Niveau, das in Ostdeutschland (Ernst Schwanhold [SPD]: Machen Sie Mut, erreicht wurde, mit dem Niveau, das in Westdeutsch- und sagen Sie, daß nicht die Menschen land vorhanden ist, verglichen. Dieser Vergleich ist daran schuld sind!) wichtig und muß durchgeführt werden. Der zweite Punkt: Der Export aus den neuen Bun- Ich möchte einen weiteren Vergleich bringen, an desländern ist noch viel zu gering. Er müßte pro Kopf dem deutlich wird, wie gut bisher der Aufholprozeß zehnmal so hoch sein, um an den Westdeutschlands in Ostdeutschland gelaufen ist. Ich möchte die Ent- heranzureichen. wicklung in Ostdeutschland mit der Entwicklung in Ländern Osteuropas vergleichen, die auch das Pro- Das sind die beiden Kernpunkte. Nun müssen wir blem hatten, daß ihre sozialistische Wirtschaft plötz- überlegen, wie wir es am besten in den Griff bekom- lich dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt men, aus dieser Lage herauszukommen, wie wir wurde, so daß man sich mit seinen Produkten auf völ- Wege weisen können, die Situation zu verbessern. - lig neuen Märkten behaupten mußte. Deswegen möchte ich vorweg ein Wort zu den Ur- Ich greife einige Länder heraus: Polen, Tsche- sachen sagen. Ich hatte mir eigentlich nicht vorge- chien, die Slowakei und Ungarn. Ich vergleiche zu- nommen, darüber zu sprechen. In mancher Rede nächst einmal die Arbeitslosenquote. Auch in diesen wurde aber so getan, als ob es nur einen Schuldigen Ländern ist die Arbeitslosenquote bedauerlicher- gäbe, als ob er allein schuld daran habe, daß es so weise sehr hoch. Sie liegt in der Größenordnung - schlecht vorangeht. Nein, lieber Herr Schwanhold, wie in den ostdeutschen Ländern - von etwa 16, das ist. anders. 17 Prozent: in Polen 16 Prozent, in der Slowakei ebenso, einen Tick besser in Ungarn, und nur in Als die Mauer geöffnet wurde, gab es kaum einen Tschechien ist sie deutlich besser. Betrieb in Ostdeutschland, der wettbewerbsfähig ge- wesen wäre. Es wurde seit Jahren nicht mehr das Man sieht also: Auch in diesen Ländern, in denen Notwendige investiert. es keine böse CDU/CSU-F.D.P.-Regierung gegeben hat, sieht die Situation nicht besser aus. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ist das eine neue Nachricht?) Zweitens will ich die Entwicklung des Bruttoin- landsprodukts in den genannten Ländern betrach- Es wurde über Jahre eine viel zu hohe Kosten- ten, und zwar in den Jahren 1991 und 1995. In Tsche- struktur in den Betrieben akzeptiert. Es wurde in chien lag 1995 das Bruttoinlandsprodukt gegenüber Ostdeutschland mit dem Kostenfaktor drei bis vier 1991 um 20 Prozent niedriger, in der Slowakei um produziert im Vergleich zu den Wettbewerbern auf 21 Prozent niedriger, in Ungarn um 12 Prozent niedri- den Weltmärkten. Deswegen mußte jede Mark der ger. Lediglich in Polen gab es eine positive Entwick- DDR, die im Export erlöst wurde, mit vier multipli- lung; hier lag das Bruttoinlandsprodukt 1995 gegen- ziert werden, um entsprechende Subventionen für über 1991 um 8,8 Prozent höher. die Betriebe zu bekommen. Das reale Wachstum in den neuen Bundesländern Das sind die eigentlichen Ursachen, von denen wir betrug von 1991 bis 1995 32 Prozent. Deshalb sage uns bisher noch nicht voll erholt haben. Das sind die ich: Wir brauchen uns doch mit unseren Leistungen Kostennachteile, die immer noch bestehen. nicht immer schlechter darzustellen, als wir tatsäch- lich sind. Lassen Sie uns viemehr mit Optimismus an Dazu kam noch ein weiteres Problem, nämlich daß die Problemlösung herangehen! Wenn wir nur Pessi- dann eine Situation auf den Weltmärkten eintrat, die mismus verbreiten, ermutigen wir die Menschen nicht durch überbordende Investitionsfreude welt- nicht, dann bringen wir weltweit keinen Investor weit und große Nachfrageschübe gekennzeichnet dazu, nach Ostdeutschland zu gehen. war; vielmehr kam es zu einer Abkühlung der Kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) junktur weltweit. Beides führte dazu, daß es weltweit gar keine großen Investitionsströme gab, die man Meine Damen und Herren, es wird oft gefragt: nach Ostdeutschland hätte lenken können. Das ist Warum gehen die Bet riebe aus Westdeutschland die Entwicklung. Ich lehne es einfach ab, hier so zu gleich weiter nach Osten in die Slowakei, nach tun, als wenn man nur ein bißchen mehr guten Wil Tschechien oder nach Polen? Ich antworte: Lassen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10059

Gunnar Uldall Sie uns die Auseinsandersetzung mit diesen Ländern Wolfgang Thierse (SPD): Lieber Kollege Uldall, doch einmal offensiv führen! Natürlich gibt es dort das, was Sie über uns Ostdeutsche und den Standort niedrigere Löhne, aber diese Länder haben auch Ostdeutschland gesagt haben, ist ja alles sehr lieb. viele Nachteile. Unsere Aufgabe ist es, darauf hinzu- Aber das ist schon seit fünf Jahren bekannt und nicht weisen, daß wir in Ostdeutschland oder in West- neu. Neu ist die Kürzung der Fördermittel für Ost- deutschland nicht nur Nachteile haben - beispiels- deutschland. weise bei der Lohnhöhe -, sondern daß wir viele Vor- (Zuruf von der CDU/CSU: Frage!) teile gegenüber diesen genannten Ländern aufwei- sen. Meinen Sie nicht - das ist die Frage -, daß Stabilität (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Verläßlichkeit in bezug auf Fördermittel das wichtigste Mittel sind, um Unternehmer dazu zu be- Beispielsweise sind die Kapitalkosten in den genann- wegen, nach Ostdeutschland zu gehen, wenn sie ten Ländern höher. Die physische Infrastruktur - sich also darauf verlassen können, daß sie diese Sub- Brücken, Straßen, Verkehrsanbindungen - ist do rt vention oder jene finanzielle Unterstützung bekom- viel schlechter als bei uns. men? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß das aussichtsreicher ist, als freundliche Worte an sie zu Daneben gibt es noch so etwas wie eine weiche In- richten? frastruktur, nämlich das Kreditwesen, das Versiche- rungswesen oder die Qualität bei den örtlichen Dienstleistungen und Handwerksleistungen. Alles Gunnar Uldall (CDU/CSU): Lieber Herr Thierse, ei- das sind doch Aspekte, bei denen wir meilenweit ner der Kollegen - ich weiß nicht, ob Sie es waren voraus sind. Der Vorteil eines vielleicht etwas niedri- oder Herr Schulz - hat eben schon gesagt, daß die geren Stundenlohns nützt einem überhaupt nichts, vorhandenen Mittel möglichst effizient eingesetzt wenn die Produktion plötzlich für längere Zeit aus- werden müssen. Darin sind wir uns einig. Wir haben fällt, weil eine notwendige Reparaturleistung nicht nur ein begrenztes finanzielles Volumen zur Verfü- erbracht werden kann. gung. Daher haben wir uns dazu entschlossen, die Investitionshilfen auf den Gebieten, wo es in Ost- Gehen wir also mit Mut an diese Fragen heran; deutschland wirklich keinen Investitions- und För- verstecken wir uns nicht hinter irgendwelchen Sor- derbedarf mehr gibt, zu begrenzen. Das sind die gen und Problemen! Versuchen wir, die potentiellen Handelsinvestitionen und die Investitionen in Immo- Investoren davon zu überzeugen, daß es gut ist, in bilien. Wenn man durch die Vororte von Leipzig oder den neuen Bundesländern zu investieren; denn die Schwerin fährt, dann sieht man doch, wie die Investi- großen Chancen des Standortes Ostdeutschland tionen dort fehlgeleitet worden sind. Wir haben die werden in den nächsten Jahren ja noch kommen, Fördermöglichkeiten bei den Handelsinvestitionen nämlich dann, wenn der riesige Markt von und beim Wohnungsbau zurückgefahren. Das ist 100 Millionen Einwohnern in den osteuropäischen auch richtig so; denn das Geld, das wir haben, müs- Ländern an Kaufkraft gewonnen hat. Wenn die sen wir punktgenau einsetzen. Grenzen zwischen der EU und Osteuropa ver- schwunden und die Handelshemmnisse beseitigt Ich möchte abschließend noch einige Sätze zu dem sind, gibt es für die Unternehmen doch keinen besse- SPD-Antrag sagen. Dieser Antrag ist falsch. Er führt ren Standort, um diese riesigen Märkte für sich zu er- in die falsche Richtung, und zwar deswegen, weil schließen, als die Städte in Ostdeutschland. Do rt wieder nur an einzelnen Progrämmchen gedreht und wohnen Ingenieure, Facharbeiter und Kaufleute, die überall noch eine Mark mehr draufgelegt wird. Das die Sprachen Osteuropas beherrschen, die die Men- ist nicht die Lösung. Die Probleme in Ostdeutschland talität der Menschen kennen und aus früheren ge- können wir nicht so lösen, daß wir überall noch ein schäftlichen Verbindungen heute noch viele Bezie- bißchen mehr Geld drauflegen. Es wird nicht scha- hungen in diesen Raum haben. den, wenn Sie noch ein bißchen Geld drauflegen; aber das stellt noch keine Lösung dar. Die Lösung Hier gibt es also eine Fülle von Anknüpfungsmög- liegt viel tiefer und ist sehr viel schwerer zu errei- lichkeiten, so daß ich jeden Unternehmer, der sich chen. langfristig diesen Markt in Osteuropa sichern will, nur dazu aufrufen kann: Versuche heute schon, Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit ist zu deine Position zu sichern! Um sich diese Märkte zu Ende. erschließen, gibt es keinen besseren Standort als Dresden, Potsdam oder Chemnitz. Diese Städte ver- fügen über große Vorteile. Gunnar Uldall (CDU/CSU): Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Die Probleme, die wir in Ich kann nur sagen: Wir werden alles tun, um diese Ostdeutschland haben, sind die gleichen Probleme Entwicklung dort mit zu unterstützen. wie in Westdeutschland. Das sind gesamtdeutsche Wirtschaftsprobleme, die darin bestehen, daß unsere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Unternehmen in weiten Feldern im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten können. Wir müs- sen damit beginnen, eine solche Wettbewerbsfähig- Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Thierse würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. keit wiederherzustellen. Das ist der Inhalt unseres Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung. Ich kann alle ostdeutschen Kollegen der SPD nur auf- Gunnar Uldall (CDU/CSU): Gerne. rufen: Unterstützen Sie dieses Programm! 10060 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist wirk- konkret zu sagen, aus welchen ostdeutschen Berei- lich abgelaufen. chen wir die Gelder, über die normale, durchschnitt- liche Kürzung hinaus, abziehen und in welche ande- Gunnar Uldall (CDU/CSU): Jawohl. - Denn nur ren Problembereiche in Ostdeutschland wir sie stek- dann, wenn die Wirtschaft im Westen floriert, wird im ken sollen. Ich bitte, mir konkret die Bereiche zu nen- Osten investiert. nen, die in bezug auf die Förderung von Maßnahmen auf Null gesetzt werden können. In bezug auf wel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) che Regionen soll denn dann noch zusätzlich regio- nal differenzie rt werden? Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Schwanitz Jetzt wäre die Gelegenheit, das einmal konkret zu hatte sich schon während der Rede des Kollegen sagen. Das sollte nicht in solch nebulösen Sätzen ge- Thierse zu einer Kurzintervention gemeldet. Dazu schehen, mit denen nur versucht werden soll, über gebe ich ihm jetzt das Wort. die Abstimmungsprobleme der nächsten Wochen Ich darf mir die Bemerkung an die Adresse aller und Monate hinwegzukommen. Kollegen erlauben, daß diese apotheotischen Schluß (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ina appelle in die Redezeit eingerechnet werden sollen Albowitz [F.D.P.]: Wir haben keine Abstim und sie nicht erst nach Ablauf der Redezeit an die mungsprobleme!) Kollegen gerichtet werden dürfen. Bitte, Herr Kollege Schwanitz. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Uldall, Sie haben die Möglichkeit zu replizieren. Rolf Schwanitz (SPD): Schönen Dank. - Herr Kol- lege Uldall, ich möchte als Einleitung vorweg sagen: Gunnar Uldall (CDU/CSU): Zunächst zu dem letz- Sie haben ja in den letzten Wochen einen konkreten ten Punkt: Wir werden die Arbeitsmarktregionen, in Vorschlag für eine Steuerreform gemacht. Es wäre in- denen eine Differenzierung vorgenommen werden soll, danach auswählen, ob es dort entweder eine teressant zu erfahren, wie dann, wenn Ihr Vorschlag- tatsächlich mehrheitsfähig würde, die Förderung für überdurchschnittlich schlechte Situation oder - posi- Ostdeutschland fortgesetzt werden könnte. Das aber tiv ausgedrückt - eine positive Situation auf dem Ar- nur am Rande. beitsmarkt gibt. Die letztgenannten Gebiete würden dann herausgenommen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Am Rande ist das nicht! Das ist schon ein wichtiges Thema!) (Rolf Schwanitz [SPD]: Sagen Sie einmal ein Beispiel!) Ich will einen Punkt angreifen, den Sie ebenfalls angeführt haben, nämlich die Frage der Differenzie- - Ich bitte folgendes zu berücksichtigen: Es gibt auch rung und der Konzentration, und noch einmal den in Westdeutschland Regionen, für die eine sehr hohe Bogen zu dem schlagen, was im Antrag der Koalition Arbeitslosigkeit zu verzeichnen ist. für den Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Ernst Schwanhold [SPD]: Aber kein Gebiet und FuU-Maßnahmen vorgeschlagen worden ist. Ich mit niedriger Arbeitslosigkeit!) finde, jetzt ist die Zeit, in der wir das einmal konkret machen sollten. In dem Papier heißt es - ich darf zi- Erfreulicherweise gibt es in Ostdeutschland - reden tieren -: Sie das bitte nicht immer kleiner, als es sich tatsäch- lich darstellt - Regionen, deren Situation schon sehr Da in den neuen Ländern vielerorts besondere ar- gut ist. Unsere Intention ist, daß wir nun auch do rt zu beitsmarktpolitische Maßnahmen unverzichtbar einer entsprechenden - - bleiben, ist ... auf ein differenzie rtes Vorgehen zu achten. (Ernst Schwanhold [SPD]: Wo? - Rolf Schwanitz [SPD]: Es gibt keinen Arbeits Damit ist ein regional differenziertes Vorgehen ge- amtsbereich, wo die Situation sehr gut ist!) meint. - Wissen Sie, wir haben die Zahlen dafür noch nicht Ich will jetzt gar nicht darauf hinweisen, daß die vorgelegt. ostdeutschen Arbeitsämter schon seit Monaten und Jahren die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnah- (Ernst Schwanhold [SPD]: Ihr habt sie euch men unter Verwendung von Arbeitsmarktindikato- noch nicht angeguckt!) ren regional differenzieren. Das nenne ich nur mal - am Rande. Das ist auch noch gar nicht Gesetz; greifen wir doch jetzt nicht der Entwicklung vor. (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Nicht (Rolf Schwanitz [SPD]: Gucken Sie sich mal ausreichend! Bei weitem nicht ausrei die Unterbeschäftigungszahlen an!) chend!) Das entscheiden wir dann, wenn wir soweit sind; Wenn wirklich gefordert wird, daß man in dieser Si- denn wir wollen nach aktuellen Zahlen und nicht auf tuation die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpo- Grund irgendwelcher theoretischer Begründungen litik auf das Westniveau herunterschrauben soll - das entscheiden. hieße für das nächste Jahr: 2 Milliarden weniger -, und wenn man gleichzeitig regional differenzieren (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie entscheiden will, dann bitte ich, mir den Maßstab zu nennen und doch vorher!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10061

Gunnar Uldall Im übrigen kann ich nur sagen: Jede Mark, die für gen, sondern man sollte wirklich auf den anderen Hilfen ausgegeben wird, muß so eingesetzt werden, eingehen. daß sie möglichst viel Nutzen bringt. Ich erteile jetzt dem Kollegen Ch ristian Müller das (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist doch Wort . Gesülze!) Deswegen kann es doch nur in Ihrem Interesse sein, Christian Müller (Zittau) (SPD): Herr Präsident! eine solche Formulierung zu akzeptieren, daß diffe- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit renziert vorgegangen werden soll. Ein pauschales ein paar grundsätzlichen Bemerkungen zur heutigen Streuen ruft nur die Kritik hervor, die Herr Schulz zu Debatte beginnen. Ich meine erstens: Es bestand in Beginn seiner Rede erwähnte. Die Streueffekte, die den letzten Monaten ein Mißverhältnis in der Debat- dadurch entstehen, will doch keiner von uns verteidi- tenlage. Es gab den Jahreswirtschaftsbericht mit ei- gen. Unser ganzes Bemühen ist es, hier zu einem effi- nem sehr anspruchsvollen Titel, der von einem Vor- zienteren Einsatz zu kommen. Das ist der Unter- rang für Beschäftigung sprach; inzwischen liegt die schied zwischen uns und Ihnen. Korrektur durch ein Sondergutachten vor. In Kontrast dazu steht das Frühjahrsgutachten der fünf wirt- Jetzt möchte ich etwas zum ersten Teil der Inter- schaftswissenschaftlichen Institute, das heute bereits vention sagen - es wurde nach meinem Steuersystem mehrfach erwähnt worden ist. gefragt -: Dieses Steuersystem geht davon aus, Herr Ich will feststellen, das allein hätte verdient, in ei- Kollege - das konnte man in verschiedenen Veröf- ner ausführlichen Debatte vertieft zu werden. Ich fentlichungen ausreichend lesen -, daß es keine Son- finde es ziemlich mißlich, daß statt dessen nur sehr derabschreibungen und damit auch keine Sonderab- einseitig über Ausgabenkürzungen in verschiedenen schreibungen in Ostdeutschland mehr gibt. Bereichen debattiert werden konnte, als ob das die Aber ich habe in meinem Programm auch vorgese- einzige Bedingung sei, zu mehr Wachstum in diesem hen, daß an die Stelle einer Abschreibungsmöglich- Lande zu kommen. direkte Zu- keit das staatliche Gestalten durch eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der treten soll. Wer wollte bestreiten,- daß wendung PDS) durch die Sonderabschreibungsregelungen für Ost- deutschland viel Geld in falsche Kanäle gelenkt wor- Dabei wäre man nämlich zweitens automatisch auf den ist? Gehen Sie einmal durch die Vororte von die besonders problematische Lage Ostdeutschlands Leipzig oder Schwerin. Sie werden sehen, daß es gestoßen, die in diesem 13. Bundestag nach meiner dort bereits jetzt Bauten gibt, die vom Markt nicht Empfindung ohnehin zu kurz gekommen ist. Ich mehr abgenommen werden. Man kann nicht sagen, gestehe Werner Schulz zu, daß er recht hat: Wir füh- daß es bei Realisierung meiner Vorschläge zu einer ren hier zunehmend Insider-Diskussionen über die- Verschlechterung kommen würde. ses Thema. Ich glaube, auch das ist mißlich. Meine Vorschläge würden dazu führen, daß die Vorhin hat sich Herr Uldall zunächst zur Ermuti- Mittel sehr viel effizienter, sehr viel nachprüfbarer gung geäußert. Ich finde, verehrter Kollege, die eingesetzt werden. größte Ermutigung, die wir auch den Ostdeutschen, aber den Deutschen insgesamt geben könnten, be- stünde darin, ihre Probleme ständig in ihrer gesam- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Uldall, da ten Komplexität besser aufzugreifen und sie als ei- beim Sprechen vom Platz aus nicht so leicht erkenn- nen regelmäßig wiederkehrenden Diskussionsge- bar ist, wann die Redezeit abgelaufen ist, teile ich es genstand ernst zu nehmen. Das ist meiner Empfin- Ihnen hiermit mit: Sie ist abgelaufen. dung nach nicht der Fall. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Gunnar Uldall (CDU/CSU): Wenn eine so umfang- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN reiche Fragestellung erfolgt, dann müßte man die und der PDS) Zeit für die Beantwortung verlängern. Das ist der Situation nicht angemessen. Es würden manche Zuspitzungen, die sich vielleicht durch eine Nein, drei Minuten gibt Vizepräsident Hans Klein: Debatte wie die heutige ergeben, nicht aufkommen. es für die Kurzintervention und drei Minuten für die Replik. Zum Instrument der Kurzintervention darf ich Freilich hatten wir dieses Problem in den vorange- noch etwas Allgemeines sagen. Herr Kollege Schwa- gangenen Jahren auch deswegen nicht, weil ange- nitz, wen hätten sie gefragt, wenn ich Ihre Meldung sichts der höheren Wachstumsraten Illusionen über nicht übersehen hätte? die tatsächliche Lage entstehen konnten. Diese war aber, wie wir wissen, zu keinem Zeitpunkt beruhi- gend, weil eigentlich schon immer durch unglaublich (SPD): Am liebsten Herrn Krüger. Rolf Schwanitz hohe Unterbeschäftigung, überdurchschnittlich gro- ßen Mangel an Ausbildungsplätzen und die schwie- Vizepräsident Hans Klein: Dann hätten Sie sich bei rige Lage von mittelständischen Unternehmen und der Rede von Herrn Krüger melden müssen und Existenzgründern geprägt. Gerade der Mangel an nicht bei der Rede des Kollegen Thierse. Wir sollten Ausbildungsplätzen ist ein ganz wesentlicher Indika- das Instrument der Kurzintervention nicht dazu be- tor für die tatsächliche Lage der ostdeutschen Wi rt nutzen, sich schlicht zusätzliche Redezeit zu besor -schaft. Ich denke, das dürfen wir nicht übersehen. 10062 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Christian Müller (Zittau) Ich glaube, darüber gibt es aber auch keinen beson- stimmter Sonderfaktoren im öffentlichen Investitions- deren Dissens. bereich, die der Konjunkturabhängigkeit der ost- deutschen Wirtschaft bisher gegensteuerten, das Ein- Meiner Meinung nach hat das alles etwas mit der schwenken auf die allgemeine Konjunkturlinie die Frage zu tun, wie die letzten Jahre verlaufen sind. Folge ist und daß in dieser Situation, die wir diskutie- Letztendlich wurden Privatisierungslasten auch ren, die Konjunkturabhängigkeit der ostdeutschen durch Privatisierungsverträge erzeugt. Wirtschaft natürlich besonders groß ist. Drittens. Dabei bestand immer die Gefahr - sie be- steht auch heute noch -, daß die öffentliche Meinung Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu diesem Thema „Förderung der ostdeutschen Wi rt ein paar Sätze - meine Redezeit ist bald abgelaufen - -schaft, Angleichung der Lebensverhältnisse" end- zu dem sagen, was durch Herrn Kolb und andere so- gültig kippen könnte. Zum Glück scheint es aber wie durch Ihren Entschließungsantrag auf der Tages- noch immer so zu sein - laut einer Umfrage aus die- ordnung steht: sen Tagen -, daß eine Mehrheit der Deutschen, näm- Es ist in Ordnung, wenn der Bundeswirtschaftsmi- lich 69 Prozent, dafür ist, die Transferleistungen nister in Brüssel in seinem Memorandum sagt: In noch für mindestens fünf Jahre fortzusetzen. Ostdeutschland ist noch keine tragfähige und dauer- (Jürgen Türk [F.D.P.]: Machen wir doch!) haft sichere wirtschaftliche Situation vorhanden. Da- mit mahnt er an, daß wir nach 1999 natürlich noch - Ja, ja. So ist es. weitere Wirtschaftsförderleistungen durch die Euro- (Ernst Schwanhold [SPD]: Die sind ehrlicher päische Union brauchen. Es ist völlig in Ordnung, als die Regierung!) wenn dies gemacht wird. Das ist aber, Herr Kolb, in der Tat ein erhebliches Kontrastprogramm zu dem, Nach der Verschwendungsdebatte der letzten zwei was wir hier heute diskutieren; denn auf der nationa- Jahre und dem heute schon erwähnten Geschrei aus len Ebene stehen Kürzungen an. Ich erinnere noch ganz bestimmten Richtungen ist dies fast schon ein einmal an die letzte Diskussion im Rahmen der Haus- Wunder. haltsberatungen, die wir ja auch im Wirtschaftsaus- Vom Deutschen Bundestag müßte die -Botschaft schuß geführt haben, in der aus der Richtung des ausgehen, jedem Versuch von Meinungsmacherei Bundeswirtschaftsministeriums letztendlich Bedau- entgegenzutreten, wie sie vor einigen Wochen auch ern darüber laut wurde, daß so etwas wie die Regio- nalförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe im Bonner „General-Anzeiger" zu lesen war: Der Strukturwandel im Osten sei abgeschlossen; ab so- „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", fort müsse man mit der dortigen Lage so zurechtkom- die Fernwärmeprogramme und ähnliche Dinge zu- men, wie sie sei. - Damit aufzuräumen könnte, rückzufahren seien. Das stimmt doch nicht mit Ihrer glaube ich, ein Sinn der heutigen Debatte sein. Aussage überein, daß in den nächsten Jahren gar kein Rückgang dieser Förderung bevorstehe. Die Viertens. Das führt dazu, noch einmal zum Früh- Zahlen sprechen doch ihre eigene Sprache. Es kann jahrsgutachten zurückzukommen, speziell zur Beur- nur unterstrichen werden, daß gerade im Bereich der teilung der ostdeutschen Situation durch das DIW Gemeinschaftsaufgabe eine Wiederaufstockung die- und das Wirtschaftsinstitut in Halle, die durch ihre ser Mittel angemessen wäre. größere geographische Nähe eventuell eine etwas andere Sichtweise der Problemlage Ostdeutschlands (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einbringen, was uns an und für sich nur guttun kann. DIE GRÜNEN) In dieser Beurteilung kommt klar zum Ausdruck, Meine Damen und Herren, Herrn Ludewig ist nur daß es in Deutschland ein einziges riesiges Standort- zuzustimmen, wenn er ausführt, daß ein Ziel nur problem gibt: Das ist das ostdeutsche Standortpro- darin bestehen könne, es müsse eine ostdeutsche blem. Es liegt im Interesse der gesamten Volkswirt- Wirtschaft geben, die auf eigenen Beinen steht und schaft - ich darf wohl auch sagen: der Gesellschaft in sich selber trägt. Wer will denn etwas anderes be- der Bundesrepub lik Deutschland -, daß dieses Pro- haupten? blem gelöst wird. Diese lineare Betrachtungsweise hinsichtlich der Der Strukturwandel im Osten ist in der Tat noch Wege, die zur Hälfte zurückgelegt sind, machte aber nicht abgeschlossen; es sei denn, man akzeptierte spätestens dann keinen Sinn mehr, wenn wir mit die vorhandenen erheblichen Strukturdefizite als Wachstumsraten von 0 bis 0,1 bzw. 0,5 Prozent rech- Dauerzustand und nähme die Transferleistungen in nen müßten. Denn daraus ergäbe sich für den zwei- soziale Bereiche, die Wanderungsbewegungen, die ten Teil des Weges ein Programm für die nächsten damit im Zusammenhang stehen, und all das, was 50 Jahre, also in einer sehr wenig linearen Form. heute schon reichlich besprochen worden ist, in Dies ist es nach meinem Dafürhalten dann nicht! Kauf. Meine Redezeit geht zu Ende. Ich wollte diese Es ist folglich kein Wunder, wenn festzustellen ist, Dinge hier ganz einfach noch einmal in den Mittel- daß die Konjunkturlage und die Konjunkturabhän- punkt der Debatte stellen. Sie sind ja schon sehr aus- gigkeit der ostdeutschen Wirtschaft ganz besonders führlich auch auf den Inhalt unseres Antrags einge- prekär sind. Auch in den Expe rtisen, die uns für die gangen. Ein letzter Gedanke zu diesem Thema von kurz bevorstehende Anhörung zur Lage in Ost- meiner Seite ist: Über den Sinn und Unsinn von Ar- deutschland bereits zur Verfügung stehen, kommt beitsbeschaffungsmaßnahmen zu streiten und zu dis- zum Ausdruck, daß durch das Zurückfahren ganz be kutieren ist eigentlich wenig ergiebig. ABM im Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10063

Christian Müller (Zittau) Osten werden letztendlich auch im Zusammenspiel Einig sollten wir uns auch darüber sein, daß es mit den Kammern diskutiert und von diesen geneh- nicht um Dauersubventionen gehen kann. Negativ- migt. Wer will denn sagen, welche Alternative es beispiele, wohin diese führen, gibt es in den alten dazu gibt, auch in der nächsten Zeit Arbeitsbeschaf- Bundesländern genügend. Wir brauchen eine ge- fungsmaßnahmen im Osten durchzuführen? sunde, sich selbst tragende Wi rtschaft. Dieser Ziel- stellung sollte alles andere untergeordnet werden. Vielen Dank, meine Damen und Herren. Dies können wir nur erreichen, wenn die vorhande- nen, aber leider begrenzten Mittel schwerpunktmä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ßig zum Einsatz kommen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Welche Schwerpunkte sehe ich dabei? Der Förde- rung von Existenzgründungen kommt ohne Zweifel eine besondere Bedeutung zu. Sie hat sich in der Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- letzten Zeit nicht nur in den neuen Bundesländern, lege Dr. Hermann Pohler. sondern über Jahrzehnte auch im Westen Deutsch- lands bewährt . Wenn man davon ausgeht, daß ein Existenzgründer bereits kurzfristig drei bis vier neue Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Wor- Arbeitsplätze schafft, ten meines Kollegen Müller ist zu entnehmen, daß (Ernst Schwanhold [SPD]: Wenn er nicht wir eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten beim Er- pleite ist!) kennen der Problematik haben. Sicher gibt es dann immer wieder einige Differenzen bei deren Lösung. brauchen wir uns gerade in dieser Zeit über diese Trotzdem aber schönen Dank für die Sachlichkeit, Maßnahme nicht weiter zu unterhalten. Aber wir mit der Sie gesprochen haben! müssen auch dafür sorgen, daß der Mut zur Existenz- gründung erhalten bleibt. Das ist nur dann der Fall, Wenn man nach zirka sechs Jahren deutscher Ein- wenn Zusammenbrüche von kleinen und mittelstän- heit zurückschaut, so kann man natürlich ohne Zwei- dischen Betrieben weitestgehend verhindert werden. fel feststellen, daß die Fortschritte im Aufbau- der Ausschließen kann man sie nicht. Es geht nicht neuen Länder unübersehbar sind. Verkennen dürfen darum, Unternehmen künstlich am Leben zu erhal- wir jedoch nicht die noch bestehenden Schwierigkei- ten, sondern darum, den Betrieben mit Zukunfts- ten. Auf diese stürzen sich natürlich unsere Kritiker - chancen zu helfen, die trotz guter Konzepte und vol- leider oft, ohne konkrete Vorschläge zu machen. ler Auftragsbücher in Schwierigkeiten geraten sind. Ursache dafür ist in der Regel fehlendes Eigenkapi Sie sollten jedoch dabei auch bedenken, daß, aus- tal. Dieser Schwerpunkt wurde erkannt und durch gehend von der desolaten Ausgangsposition der gezielte Förderinstrumente in Ang riff genommen. DDR-Wirtschaft im Oktober 1990 und angesichts des Ich denke dabei unter anderem an den Konsolidie- kurzen Zeitraums, der für eine grundlegende Um- rungsfonds, der über die BvS und die Länder einge- strukturierung der Wi rtschaft Ostdeutschlands zur setzt wird, und an den im vorigen Jahr eingerichte- Verfügung stand, Defizite unvermeidlich sind. Trotz ten Beteiligungsfonds Ost. Mit ihm wurde eine Mög- aller Finanztransfers in die neuen Bundesländer - in lichkeit geschaffen, p rivates Kapital für die Stärkung den Jahren 1991 bis 1996 betrug der Nettotransfer unserer Betriebe zu mobilisieren. Beide Wege haben zirka 746 Milliarden DM - und der erzielten Wachs- sich bewährt und sollten fortgesetzt bzw. ausgebaut tumsraten konnte ein selbsttragender Aufschwung werden. noch nicht erreicht werden. Erschwerend kommt (Beifall bei der CDU/CSU) hinzu, daß die derzeitige Wirtschaftskonjunktur in Gesamtdeutschland alles andere als zufriedenstel- Wesentlich ist auch die zielgerichtete Vergabe. In lend ist. diesem Zusammenhang möchte ich den sogenannten Runden Tisch erwähnen, eine Beratungsform, die Das muß sich auf die jungen Bet riebe und Unter- von Leipzig ausgegangen ist und inzwischen weit- nehmen im Osten Deutschlands deshalb besonders verbreitet Anwendung findet. An ihm sind unter an- negativ auswirken, weil sie nicht über das notwen- derem die zuständige IHK, die Deutsche Ausgleichs- dige Eigenkapital verfügen, um dera rtige Durststrek- bank und die jeweilige Hausbank beteiligt. Hier wird ken einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Sol- über die jeweilige Vergabe von Fördermitteln und len die hoffnungsvollen Anfänge nicht zusammen- Krediten entschieden, und die Betriebe werden, so- brechen, ist also trotz angespannter finanzieller Lage weit erforderlich, auch beratend begleitet. weitere finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder erforderlich. Darüber, meine Damen und Her- (Abg. Dr. Barbara Höll [PDS] meldet sich zu ren, sind wir uns alle in diesem Hohen Hause trotz einer Zwischenfrage) verschiedener Ansätze wohl einig. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten Lassen Sie mich diese Aussage mit einigen Zahlen Sie eine Zwischenfrage? unterstreichen. Nach vorliegenden Untersuchungen zur Wirtschaftslage vom Frühjahr 1996 liegt die Eigenkapitalquote von fast der Hälfte der ostdeut- Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Ja, bitte. schen mittelständischen Unternehmen unter 10 Pro- zent. Eine Eigenkapitalausstattung von über 30 Pro- Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Dr. Pohler, mit Inter- zent wäre dagegen sicher ein erstrebenswertes Ziel. esse habe ich vernommen, daß Sie eine Konzentra- 10064 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Barbara Hall tion der sicher begrenzten Mittel auf bestimmte Zielsetzung nur über eine leistungsfähige Wirtschaft Unternehmen fordern. Sie haben die kleinen und realisierbar ist. mittelständischen Unternehmen hervorgehoben. Wie sehen Sie es in diesem Zusammenhang, daß ge- Das wiederum setzt eine Übereinstimmung zwi- stern im Haushaltsausschuß bestätigt wurde, für die schen Arbeitsproduktivität und Lohnniveau voraus. geplante Chip-Fabrik in Dresden im Bundesland Daher sind neben den in unserem Programm für Sachsen eine Bürgschaft in Milliardenhöhe zu über- Wachstum und Beschäftigung ausgewiesenen Maß- nehmen, und daß über die GA mehrere hundert Mil- nahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten auch die lionen DM dorthin fließen? Eine solche Konzentra- Tarifpartner gefordert. Dabei sollte darüber nachge- tion von Mitteln dient dem Bau einer Hochtechnolo- dacht werden, ob nicht zumindest die zeitweise Ein- giefabrik mit nur 1 430 Arbeitsplätzen. Dieses „nur" führung einer Öffnungsklausel in das Tarifsystem setze ich in ein Verhältnis zur eingesetzten Summe. hilfreich wäre, würde sie den Bet rieben doch die Wie vereinbart sich dies mit Ihren Vorstellungen? Möglichkeit einer besseren Anpassung an die Reali- täten ermöglichen. Denn nur über Rationalisierungs- maßnahmen, die in der Regel auch zu einer Reduzie- Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Wenn Sie noch rung von Arbeitsplätzen führen, ist das Problem nicht etwas gewartet hätten, wäre ich darauf eingegangen. zu lösen. Ich bin davon überzeugt, daß dadurch be- Ich kann es aber auch in diesem Zusammenhang er- reits mittelfristig ein positiver Effekt auf die Arbeits- klären. Wir müssen zwei Sachen unterscheiden. Zum platzsituation eintreten würde. einen geht es um die Förderung kleiner und mittel- ständischer Bet riebe. Aber wir wissen genausogut, daß sie, wenn sie regional tätig sind, nur einen be- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pohler, grenzten Absatz haben, weil die Kaufkraft nicht für Frau Kollegin Luft würde gerne eine Zwischenfrage starke Expansionen ausreicht. Deshalb ist es unab- stellen. dingbar, daß wir auch den industriellen Bereich stär- ker in die Förderung einbeziehen. Im Endeffekt kom- Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Bitte. men nämlich aus dem Bereich der Industrie die drin- gend erforderlichen Auftraggeber für den- Mittel- stand. Dr. Christa Luft (PDS): Herr Kollege Dr. Pohler, Sie haben soeben davon gesprochen, daß Tariföffnungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Sekundäreffekte, klauseln den Prozeß in Ostdeutschland begünstigen klar!) könnten. Ich frage Sie: Wie weit wollen wir uns von Ohne sie werden wir sicher keine gesunde Wi rtschaft Tarifen denn noch entfernen? Schon 60 Prozent der aufbauen. Diese Zusammenhänge gibt es nun ein- Unternehmungen in Ostdeutschland gehören nicht mal. dem Unternehmerverband an, fühlen sich an keine Tarife gebunden, zahlen unter Tarif und sind auch, (Uwe Lühr [F.D.P.]: Grundwissen der Öko was die Lohnnebenkosten betrifft, weit unter dem, nomie, aber das kann man bei der PDS was in Unternehmen der alten Länder üblich ist. Wo- wohl nicht voraussetzen!) hin soll das also noch gehen? Es ist doch der Beweis erbracht, daß niedrigere Löhne auch nicht dazu bei- Die Stärkung der Bet riebe, die über die regionale tragen, mehr Investoren anzulocken. Bedeutung hinausgehen, muß, wie ich bereits er- wähnte, ein unverzichtbarer Bestandteil unserer För- dermaßnahmen sein. Dafür sehe ich gerade in dieser Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Frau Kollegin Richtung folgende Schwerpunkte: erstens die wei- Luft, wenn ich von Tariföffnungsklauseln spreche, tere, verstärkte Werbung von Investoren - dies wird dann meine ich folgendes: Wir denken immer nur an nicht ohne Geld gehen -, zweitens die Förderung der ein Minus. Es gibt aber auch bei uns Zweige, die Industrieforschung zur Entwicklung neuer marktfä- eine sehr hohe Arbeitsproduktivität haben. Geben higer Produkte und drittens eine gezielte Absatzför- Sie denen doch auch die Möglichkeit, mehr zu zah- derung, insbesondere auf den ausländischen Märk- len! ten. (Lachen bei der SPD und der PDS) Die in diesem Bereich noch unzureichende Wett- - Wir sollten auch einmal beide Seiten sehen. - Aber bewerbsfähigkeit zeigt sich in einer eklatanten Ex- ich glaube, es führt, ohne das jetzt weiter auszufüh- portschwäche. So beträgt der Anteil ostdeutscher ren, kein Weg daran vorbei: Wenn wir eine gesunde Firmen nur rund 3 Prozent des gesamtdeutschen Wirtschaft haben wollen, müssen wir stärker als bis- Exports. Diese Zahl unterstreicht deutlich die Not- her die Produktivität im Blick haben. Sonst werden wendigkeit dieser Fördermaßnahmen. wir auf Dauer von dem Tropf nicht wegkommen, und Wenn wir über weitere Wi rtschaftsförderung und wir werden keine gesunde Wi rtschaft haben. ihre Effektivität sprechen, dürfen wir aber auch die (Ernst Schwanhold [SPD]: Entweder man Problematik der Lohnstückkosten und der Arbeits- kommt vom Tropf weg, oder man ist ein produktivität nicht ausklammern. Die Ursachen für Tropf!) diesen Zustand sind vielschichtig. Sie sind unter an- derem in der grundsätzlich richtigen und politisch Als ein wichtiges Ziel dabei sehe ich nicht unbedingt gewollten Zielsetzung einer möglichst raschen An- die Reduzierung der Löhne an, sondern eher eine gleichung des Lebensstandards West und Ost be- Senkung der Lohnnebenkosten und eine moderate gründet. Aber es muß uns auch klar sein, daß diese Anpassung. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10065

Dr. Hermann Pohler Meine Damen und Herren, daß das zu günstigen in dieser Regierung nicht angemessen wahrgenom- Ergebnissen führt, zeigen uns doch auch kleinere Be- men. triebe, die in ihrer Entscheidung frei sind. Ich kenne viele, die sich in der Zwischenzeit sehr positiv ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wickelt haben und bei den Löhnen, nachdem sie Fuß PDS) gefaßt haben und gesund sind, nicht hinterherlaufen, Denn wenn wir den Aufbau Ost nicht schaffen, wer- sondern durchaus eine führende Stellung einneh- den wir auch keine Standortverbesserung in West- men. Das sind nicht nur Banken und Großbetriebe, deutschland hinbekommen und das Grundübel der sondern es sind auch kleine Bet riebe, die im Bereich Arbeitslosigkeit nicht mit Erfolg bekämpfen. des Handwerks angesiedelt sind. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist zu Ende. Es kann also die schlechte wi rtschaftliche Situation Ostdeutschlands - wer wollte sie denn schönreden? - zum Mühlstein der gesamten Volkswirtschaft wer- Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Abschließend den. möchte ich nur noch einmal darauf hinweisen: Auch Meine sehr verehrten Damen und Herren, viel- wenn die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Unter- leicht haben Sie das Sondergutachten der Sachver- nehmen bis auf wenige Ausnahmen geringer ist als ständigen oder das der wirtschaftswissenschaftlichen die der westdeutschen und die Branchen - und die Institute, die eindringlich genau auf dieses Thema Größenstruktur zwischen den alten und den neuen hinweisen, nicht richtig gelesen. Bundesländern deutlich voneinander abweichen, so zeigt die große Anzahl der Unternehmen in Ost- Ich will ein paar weitere Zahlen nennen: Die Cre- deutschland, daß sich in beachtlichem Ausmaß - ditreform schätzt für dieses Jahr 7 600 Konkurse in Ostdeutschland. Damit wird die Zahl der Unterneh- men erreicht, die neu gegründet werden. Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit! (Zuruf von der SPD: So ist es!) Wir haben 1995 8 000 Neugründungen gehabt, aus- Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): - unternehmeri- gehend von einem deutlich niedrigeren Niveau als in sche Initiative entwickelt hat. Ich glaube, darauf kann man aufbauen. Westdeutschland, übrigens sehr viele davon geför- dert, zwischenzeitlich wieder pleite - eine Fehlallo- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - kation, Vernichtung von Volksvermögen. Wir haben Zuruf von der SPD: Auf dieser Rede kann schon ein bißchen mehr darüber nachzudenken, was man nicht aufbauen!) wir tun können. Herr Pohler hat sich hier hingestellt und gesagt, die Schwäche sei eigentlich der Export. Was muß Vizepräsident Hans Klein: Ich weise im Regelfall auf das Ende der Redezeit erst hin, wenn sie schon man sich eigentlich von Ihnen an Selbstverleugnung eine Weile überschritten ist. Dann aber bitte nur noch anhören? Seit Jahren reden wir darüber, die noch einen Satz und nicht noch einen ganzen Ab- Messeförderung für Ostdeutschland aufzustocken, satz! - Herr Kollege Ernst Schwanhold, Sie haben den ostdeutschen Unternehmen Zugang zu den das Wort. Westmärkten zu verschaffen, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre alten Verbindungen zu den osteuro- päischen Ländern aufrechtzuerhalten. Alles ist von Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine Ihnen abgelehnt worden, und jetzt stellen Sie sich als sehr verehrten Damen und Herren! Ohne daß ich ir- Ostdeutscher in einer Schamlosigkeit hierher und sa- gend jemanden ganz besonders ansprechen will, gen, das sei alles Mist, als wenn Sie nichts damit zu möchte ich doch gerne einmal darauf hinweisen, daß tun hätten. wir nach zwei Jahren die erste Debatte über Ost- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE deutschland führen, daß hier fast nur Kollegen aus GRÜNEN und der PDS) Ostdeutschland sind und daß dieses Thema für die Regierung nicht mehr we rt ist, als einen Minister und Wie lange wollen Sie eigentlich Ihre Mitbürger in einen Staatssekretär in dieses Plenum hineinzuschik- Leipzig noch belügen? Das kann doch nicht wahr ken, um der Debatte beizuwohnen. sein! (Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch: Ich Ich glaube, wir haben ein paar Punkte, an denen bin nicht einmal geschickt worden!) wir ansetzen können. Ich nehme den Punkt von Herrn Uldall, der leider nicht mehr dasein kann, was - Ich schaue nicht in irgendeine Richtung, aber es ist ich nicht kritisiere. Er hat sich bei mir als einem nach- auch eine Frage des Forschungsministeriums, es ist folgenden Redner dafür ausdrücklich entschuldigt. eine Frage des Sozialministeriums - alle sind nicht Herr Uldall sagte: Wir müssen Hoffnung machen. vertreten. Herr Staatssekretär Kolb, daß Sie den Mi- Richtig! Im nächsten Satz sagte er aber dann: Wir ha- nister vertreten, ist begrüßenswe rt. Ich finde es gut, ben nur 50 Prozent Produktivität in Ostdeutschland. daß Sie da sind. Aber der Stellenwert dieser Frage Dabei tut er so, als läge es an den Menschen in Ost- wird in diesem Parlament und, wie ich glaube, auch deutschland, die zu faul wären. Nein, es sind die 10066 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Ernst Schwanhold fehlenden Investitionen, die dazu führen, daß man Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schwan- keine ausreichende Produktivität erwirtschaften hold, der Kollege Krüger würde Ihnen gerne eine kann. Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der SPD und der PDS) Was ist mit der Produktivitätsrate von 50 Prozent Ernst Schwanhold (SPD): Ich würde meine Rede denn eigentlich los? Herr Krüger hat das aufgegrif- gerne zu Ende vortragen. Sie wissen, Herr Präsident, fen, jeder greift das auf. Ich kann mit der Produktivi- daß auch ich gerne Zwischenfragen stelle, aber jetzt tätszahl nichts anfangen, jedenfalls mit einer volks- möchte ich gerne ohne Unterbrechung weiterreden. wirtschaftlichen Produktivitätszahl nichts, weil ich Herr Krüger, Sie können nachher in einer Kurzinter- damit nicht an die Ursachen herankomme. Es gibt vention dazu Stellung nehmen. Betriebe, die hochproduktiv sind, produktiver als Be- Ich will Ihnen einen weiteren Punkt benennen. Wir triebe in Westdeutschland. Es gibt andere, die nie die haben nach wie vor in Ostdeutschland erhebliche Chance hatten, in eine Produktivität hineinzukom- Probleme, was die Beratung insgesamt angeht. Es men, weil sie keinen Markt hatten, keine Investitio- gibt die Deutsche Ausgleichsbank, die sich geradezu nen bekommen haben, weil sie keinen westdeut vorbildlich Spielräume erarbeitet, um Unterneh- schen Investor gefunden haben, weil sie schlechtes mens - , Management - und Finanzierungsberatung Management gehabt haben, weil sie mit alten Schul- vorzunehmen. Dennoch reicht es nicht, sonst würden denlasten versehen sind. Rühren Sie das doch nicht nicht so viele Unternehmen pleite gehen. durcheinander! Wenn Sie es nicht differenzieren, können daraus auch keine Konsequenzen gezogen Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken, ob wir und keine politischen Forderungen abgeleitet Wer- nicht Fehlallokationen dadurch vermeiden können, den. Ich bitte Sie sehr herzlich, diese Totschlagsargu- daß wir ein Institut einrichten, welches sich ganz be- mente sein zu lassen. sonders auf den Aufbau Ostdeutschlands und die be- gleitende Beratung in der ersten Phase konzentriert. Wenn man sich dies anschaut, bleiben ein paar Ich halte davon außerordentlich viel, weil wir Tech- Punkte übrig, die wir dringend angehen müssen. Wir nologietransfer, Marktzugang, Finanzierungs- und haben dringend, trotz aller Fortschritte in- der Infra- Managementberatung und auch die Beschaffung der struktur, die Verkehrsinfrastruktur zu den mittel- notwendigen Kredite darüber abwickeln können. und osteuropäischen Nachbarn aufzubauen, nicht Wir werden es jedenfalls nicht schaffen, wenn wir die nur im Interesse Ostdeutschlands, aber im besonde- Entscheidung, welches Unternehmen gefördert wird, ren Maße auch im Interesse Ostdeutschlands. dem bisherigen Universalbanksystem überlassen, Wir wissen das doch aus Westdeutschland. Wenn das am Ende über dingliche Absicherung in jedem in Helmstedt die Züge enden mußten, weil es do rt Falle verdient, völlig egal, ob ein Unternehmen pleite nicht weiterging, wenn man viel Geld dafür aufwen- geht oder weitergeführt wird. Auch muß es das Ziel den mußte, um eine Region am Leben zu erhalten, der öffentlichen Finanzwirtschaft und der staatlichen und wenn es aus anderen Gründen keine Verkehrs- Kredite sein, möglichst viel in Arbeitsplätze und mittel gibt, obwohl die Grenze offen ist, dann darf Wertschöpfung umzusetzen. man sich nicht wundern, wenn der Markt nicht er- Letzte Bemerkung, die in diese Bereiche hinein- schlossen werden kann und dort niemand investiert. geht: Der indust rielle Bestand in Ostdeutschland ist Das heißt also: transeuropäische Netze. katastrophal. Fehllenkungen kann man wohl nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne überwinden, wenn man schonungslose Analysen be- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN treibt. Das geht nicht mit weiterem Schönreden. und der PDS) Wenn wir ein Stückchen von dem Geld zurück hät- ten, welches fehlgelenkt worden ist, wäre es viel- Zweitens. Der Kollege Krüger stellt sich hier hin leicht möglich - so wie wir es vorgeschlagen haben -, und beklagt die schlechte Forschungslandschaft. durch erhebliche Aufstockung von Investitionen im Herr Krüger, mir fallen dazu fast nicht mehr die industriellen und produzierenden Bereich jetzt für Worte ein. In Ihrer Zeit als Forschungsminister ist der einen Schub zu sorgen. Wenn es uns nicht gelingt, Kahlschlag geprobt und durchgeführt worden. Jetzt dort jetzt für diesen Schub zu sorgen, wenn Sie auf stellt er sich hier hin und sagt: Wir haben keine For- die allgemeine Standortdebatte hinweisen, dann schungslandschaft. wird dies auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verscho- ben werden; denn Ihr erstes Wachstumsprogramm In Ostdeutschland sind schon heute die Bet riebe, 1994 - mein Kollege Schwanitz hat darauf hingewie- die dort angesiedelt sind, mit Produkten am Markt, sen - hat keine Erfolge gezeitigt. Alle Wirtschaftswis- von denen wir wissen, daß sie in drei, vier oder fünf senschaftler sagen Ihnen zur Zeit, daß das, was Sie Jahren nicht mehr exportfähig sind. Es gibt die Mit- jetzt vorsehen, keine hinreichende Gewähr dafür ist, nahmeeffekte. Wie will ich denn do rt die neuen und daß wir zusätzliche Beschäftigung bekommen. modernen Produkte hinbringen, wenn ich nicht die korrespondierende Forschungslandschaft habe? Es Lassen Sie uns in Ostdeutschland einen ganz be- war ein Fehler, sie zu zerstören. Deshalb ist es um so sonderen Schub vornehmen, damit der Wettlauf um notwendiger, sie jetzt wieder aufzubauen, damit sol- die Investitionsstandorte nicht an Ostdeutschland che Technologien und solche Produkte dorthin ge- vorbeigeht. Dort sind die größten Probleme. Wir dür- langen. fen die Menschen nicht entmutigen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) GRÜNEN und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10067

Ernst Schwanhold Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe einfach nicht gut informiert sind, oder Sie wollen dies alles eher in einem friedlichen Ton gesagt, damit nicht wahrnehmen, was in der Realität passiert ist. wir die notwendigen Maßnahmen gemeinsam ergrei- fen, und nicht, weil ich mich scheue, mich mit Ihnen Ich hatte heute schon einmal Gelegenheit, darauf und Ihren Vorschlägen auseinanderzusetzen. Dazu hinzuweisen, daß allein im Bereich der Forschungs- könnte ich Ihnen viele zusätzliche Beispiele sagen: förderung für die neuen Bundesländer eine enorme Risikokapital, Technologieförderung, Marktzugang, Steigerung - auch während meiner Amtszeit - erfolgt Handelsentwicklungsgesellschaften für Osteuropa ist und daß die Förderung bezogen auf das gesamte und andere Dinge. Meine Sorge ist aber größer, daß Forschungsvolumen - wenn ich von Forschung spre- wir es nicht schaffen. Dann würde ein bißchen mehr che, meine ich immer Forschung und Entwicklung, darunter leiden als das, was wir hier an Streit haben. die zu Innovationen führen - für die neuen Bundes- länder sogar weit über 50 Prozent beträgt, wenn man Lassen Sie uns wirklich Ostdeutschland zum zen- Bund und Länder zusammennimmt. Hier zu sagen - tralen Problem unserer Auseinandersetzung mit ein wenn man weiß, daß in den alten Bundesländern ge- paar richtigen Schritten machen, die in unterschiedli- rade einmal 4 Prozent der Forschung öffentlich geför- chen Parteien diskutiert werden. Ich fordere Sie auf, dert werden -, man täte zuwenig bzw. in diesem Be- den Mut zu haben - vielleicht nicht ganz soviel Mut reich sei überhaupt nichts getan worden, halte ich, wie die Sozialdemokraten -, nicht immer nur anzu- gelinde gesagt, für eine schlimme Sache. kündigen und Luftblasen von sich zu geben, Herr Krüger, und in ostdeutschen Zeitungen zu sagen, ge- Ich bin der Meinung, wir sollten die Dinge wahr gen was alles man ist, sondern auch einmal aufzuste- ansprechen. Wir müssen in den neuen Bundeslän- hen und dagegen zu stimmen. dern im Bereich der Forschungslandschaft und der Innovationsförderung noch viele Probleme lösen; (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE auch das habe ich gesagt. Aber wir müssen auch zur GRÜNEN und der PDS) Kenntnis nehmen, daß sich die neuen Bundesländer hier sehr zurückhalten. Wenn ich nach Brandenburg schaue, also auf ein SPD-regiertes Land, wo gerade Zu einer Kurzinterven- Vizepräsident Hans Klein: - in der letzten Zeit ein enormer Abbau der For- tion erteile ich dem Kollegen Dr. Paul Krüger das schungsförderung erfolgte, dann ist es für mich Wort. schwer zu verstehen, daß Sie sich hier hinstellen und - während wir in letzter Zeit trotz großer Probleme im Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Sehr geehrter Haushalt unsere Linie aufrechterhalten haben - so Herr Kollege Schwanhold, Sie haben hier - genau tun, als würden wir nicht genug tun. Ich finde es wie einige Ihrer Kollegen schon heute morgen - ein nicht gut, wenn man die Menschen in den neuen Horrorszenario von der ostdeutschen Wirtschaftssi- Bundesländern mit Verzweiflung infiziert, statt sie tuation gemalt. gegen Verzweiflung zu immunisieren und ihnen Mut zu machen. (Widerspruch bei der SPD)

Wir erkennen - das habe ich in meiner Rede sehr Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, die Rede- deutlich gesagt -, wie problematisch diese Situation zeit ist abgelaufen. ist. Ich habe auch versucht anzudeuten, wo die Pro- bleme ihre Ursachen haben. Ich habe aber auch eine ganze Reihe von Schwerpunkten angedeutet, an de- Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Ja. nen wir arbeiten müssen und an denen wir schon seit (Beifall bei der CDU/CSU) langer Zeit arbeiten.

Wenn Sie hier den Eindruck erwecken, es wäre Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schwan- über Jahre nichts unternommen worden - ganz un- hold zur Replik. abhängig von der Höhe der Förderung, die allein für sich spricht -, dann ist das einfach nicht richtig. Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Ich will (Zuruf von der SPD: Das Ergebnis ist ent kurz auf drei Aspekte von Herrn Krüger eingehen. scheidend!) Erstens, Herr Krüger: Hermes-Bürgschaften sind et- Viele der von Ihnen angesprochenen Defizite in der was anderes - wenigstens für mittelständische Unter- Förderung, zum Beispiel in der Exportförderung, sind nehmen - als eine Exportförderung, die in Ost- in der Realität so nicht vorhanden. Wir haben eine deutschland notwendig ist, weil Hermes-Bürgschaf- ganze Menge im Bereich der Hermes-Bürgschaften, ten insbesondere auf Grund der hohen Risiken, unter bei der Exportförderung und bei der Messeförderung denen die ehemaligen Staatshandelsländer einge- gemacht. Auch auf dem Gebiet der Beratung, bei stuft sind, viel zu teuer sind und diese Unternehmen dem Sie Defizite angesprochen haben, gibt es ein nicht in der Lage sind, ihren Anteil an Finanzierung ganzes Spektrum von Maßnahmen, die in der Ver- selbst zu erbringen. Das sagen Ihnen alle Unterneh- gangenheit eingeleitet wurden. men. Das liegt auch an der schlechten Einstufung mancher dieser Länder, die zwischenzeitlich besser Wenn Sie hier auch noch die öffentliche For- eingestuft werden könnten. Darüber, welche Wir- schungsförderung an den Pranger stellen und das kungen Hermes-Bürgschaften in der ehemaligen So- auf die Zeit meiner Regierungsmitgliedschaft bezie- wjetunion haben, sind wir uns einig: Dies wird alles hen, dann muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen, daß Sie vom Staat, der nicht in der Lage ist, diese zu verwal- 10068 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Ernst Schwanhold ten, genehmigt; es muß vom ihm genehmigt werden. auch aus Ihrer Partei viel höherkarätige Genossen Wir müssen ermöglichen, daß zwischen dort florie- nennen, Lafontaine und Schröder, und Sie dann mit renden Unternehmen und Unternehmen aus Ost- deren Äußerungen zum Aufbau Ost traktieren. Das deutschland direkt Wirtschaftsbeziehungen aufge- wollen wir nicht machen. Wenden wir uns doch dem baut werden. Das geht anders als mit Hermes-Bürg- Aufbau Ost gemeinsam zu! schaften. Das ist die erste Bemerkung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Die zweite Bemerkung. Ich habe nicht negiert, was ordneten der F.D.P.) an Forschungsförderung geschehen ist. Aber sich Dazu gehört fairerweise, Herr Schwanitz, auch ein- hier hinzustellen und dieses alte Spiel weiter zu trei- mal das zu benennen, was in den letzten sechs Jah- ben, es wären die Länder, die die Förderung nicht ren passiert ist. Irgendwo kam die Bemerkung, es sei betrieben hätten: Mir ist das Thema zu ernst, als die- nichts passiert. Das ist natürlich auch Quatsch. Ich ses wirklich dümmliche Spiel weiterzuführen. nenne nur den Verkehrswegeausbau, sechs Millio- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber nen Telefone, Herr Bötsch, ich sage Bundeswehr der wahr!) Einheit, Frau Geiger, sowie Rechtseinheit, Herr Funke. Es gibt keine Versorgungsprobleme mehr. Ich habe gesagt: Wir haben abgebaut, um dann Was sagt es eigentlich aus, daß englische und hollän- mühsam wieder aufzubauen. Es wäre notwendig ge- dische Arbeitnehmer auch nach Sachsen oder Thü- wesen, schnell umzustrukturieren und bestehende ringen drängen, um dort zu arbeiten? Das sind Ar- Forschungseinrichtungen zu fördern, um nicht einen beitnehmer aus alten Industrienationen. Das zeigt Teil der Mittel westdeutschen Forschungseinrichtun- doch, daß wir durchaus nicht das Schlußlicht darstel- gen geben zu müssen, damit sie Gutachten über Ost- len. deutschland schreiben. Es wäre besser gewesen, wenn wir die Mittel direkt nach Ostdeutschland ge- Also bitte weder Miesmacherei noch Zweckopti- geben hätten. mismus! Wir machen auch nicht auf Zweckoptimis- mus. Wir haben in unserem Antrag die Lage ganz ex- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE akt definiert. Die Lage ist ernst. Wir haben im Osten GRÜNEN und der PDS) - Deutschlands 20 Prozent der Bevölkerung, sind aber Das ist der Punkt, den ich bei Ihnen kritisiere, nichts nur mit 10 Prozent am Bruttosozialprodukt beteiligt, anderes. mit nur 5 Prozent an der Industrieproduktion und mit nur 2,5 Prozent an den gesamtdeutschen Ausfuhren Drittens. Wenn man beklagt, daß die Förderung in und an den gesamtdeutschen Forschungs- und Inno- Westdeutschland viel geringer ist, oder wenn man vationsaufwendungen. feststellt, daß die Förderungsmittel für Ostdeutsch- land sehr hoch sind, dann muß man sich zugleich fra- Wir sind uns, glaube ich, alle in diesem Haus einig: gen: Ist dies denn eigentlich ein Wunder angesichts Das kann nicht so bleiben. der Beziehungen der Indust rie in Westdeutschland, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - die seit vielen Jahren ihre Kontakte zu den For- Wolfgang Thierse [SPD]: Wenn ich es sage, schungsinstituten hat, von denen Drittmittel einge- ist es Schwarzmalerei, sind es Horrorzah worben werden? Welchen Stand sollten eigentlich len!) die ostdeutschen Unternehmen haben, und wie soll- ten sie mit denen im Westen konkurrieren können? Dies greift auch die Bundesregierung auf, Herr Kolb. Wir sind Ihnen auch sehr dankbar für die guten, ob- Der nackte Zahlenvergleich sagt also zuwenig aus. jektiven und nüchternen Berichte, die gerade aus Ih- Das sollte jemand insbesondere dann wissen, wenn rem Hause kommen. er Bundesforschungsminister gewesen ist. Ich zitiere das Memorandum der Bundesregierung (Beifall bei der SPD) an die Europäische Kommission:

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Heute ist die ostdeutsche Industrie auf Grund ih- lege Manfred Kolbe. rer labilen Situation der entscheidende Engpaß der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutsch- land, der insbesondere auch ein kräftiges Wachs Manfred Kolbe (CDU/CSU): Liebe Kollegen! Las- tum des Dienstleistungssektors verhindert. sen Sie mich zunächst am Schluß der Debatte festhal- ten, es ist und war gut, daß der Bundestag zu einer Das ist so, und hier sind wir alle gefordert, liebe zentralen Zeit dieses schwierige Thema „Aufbau Kollegen. Ost" diskutiert. Es ist außerparlamentarisch im Au- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) genblick in der Diskussion, und es ist auch gut, daß wir uns als Parlamentarier damit befassen. Dem Haus Uns machen auch die Wachstumsraten Sorge, Herr liegen heute interessante Anträge vor. Ich hoffe, daß Schwanitz. Deshalb ist es gut, daß die Debatte zum wir gemeinsam etwas aus diesen Anträgen zum jetzigen Zeitpunkt stattfindet. Wir hatten in der Tat Wohle des Aufbaus Ost machen. sehr hohe Wachstumsraten. Der Osten Deutschlands war während einiger Jahre die am dynamischsten Da bringt es wenig, Herr Schwanitz, jetzt mit ir- wachsende Region Europas. gendeinem JU-Vorsitzenden, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, anzukommen. Da wer- (Ernst Schwanhold [SPD]: Das hört sich wie ten wir den Mann doch nur auf. Ich könnte Ihnen eine Mär aus vergangenen Tagen an!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10069

Manfred Kolbe Das ist er im Augenblick nicht mehr. Zweitens. Zur Tarif- und Lohnpolitik haben Sie kluge Einsichten in Ihrem Papier. Erstmals ist auch (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) bei Ihnen von einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik die Rede. Das ist gut so. Wir freuen uns Wir sind im Augenblick an einer Sollbruchstelle über hohe Löhne im Osten, aber diese hohen Löhne angelangt. Wir haben im ersten Quartal 1996 null dürfen nicht zu Lasten der Beschäftigung gehen. Wir Prozent Wachstum im Osten Deutschlands, während müssen hier im Interesse aller, der Arbeitnehmer wie wir im Westen immerhin ein Wachstum von der Arbeitslosen, zu einer vernünftigen Lohnpolitik 0,3 Prozent hatten. Zum erstenmal also seit vielen kommen, damit der Aufbau Ost voranschreitet. Jahren haben wir im Osten in diesem ersten Viertel- jahr ein schwächeres Wachstum als im Westen ge- habt. Das ist eine Tatsache, die wir zur Kenntnis neh- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- men müssen und auf die wir auch reagieren müssen. zeit ist abgelaufen. (Zustimmung bei der CDU/CSU) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Ich bin auch sofort fer- Es fragt sich, ob das ein bloßer Ausrutscher oder eine tig. Trendwende ist. Wir dürfen es nicht zur Trendwende kommen lassen. Wir müssen aber in dieser Richtung Drittens. Dieser Lohnverzicht sollte durch Maßnah- einiges tun; denn gerade die Konjunkturlokomotive men der Vermögenspolitik, also durch eine Beteili- Bauwirtschaft wird im nächsten Jahr diese Funktion gung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen, be- nicht mehr wahrnehmen können. Sie hatte ja einmal lohnt werden. überproportional zum ostdeutschen Wachstum bei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) getragen. Wenn wir diese drei Schritte ergreifen - wir haben Was müssen wir also tun? Wir müssen dreierlei tun. dazu jetzt die Chance -, dann wird der Aufbau Ost Zunächst einmal ist noch keine Normalität einge- im Interesse Gesamtdeutschlands weitergehen. kehrt. Die Förderung des Aufbaus Ost muß weiterge- Denn der Osten darf im gesamtdeutschen Interesse hen. Wir ostdeutschen CDU-Bundestagsabgeordne- kein Subventionsgebiet auf Dauer werden. ten haben das auch in Strausberg formuliert. Wir sind der Meinung, es darf bei den investiven Titeln im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Bundeshaushalt 1997 keine wesentlichen Kürzungen Wolfgang Thierse [SPD]: Wunderbare Rede! geben. Gut sozialdemokratisch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Das betrifft die Gemeinschaftsaufgabe Ost, die Ei- lege Gerhard Schulz. genkapitalförderung, die Absatzförderung, die Ver- kehrsprojekte Deutsche Einheit, die Städtebauförde- Gerhard Schulz (Leipzig) (CDU/CSU): Sehr geehr- rung und die Infrastruktur der Bundeswehr. Für den ter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein besonders problematischen Bereich der Forschung Kommentar zum vorliegenden Antrag: blinder Aktio- Ost brauchen wir eine Innovationsoffensive Ost. nismus und verzweifelter Populismus. Diese Debatte ist der pure politische Existenzkampf der Sozialde- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - mokratie in Ostdeutschland. Zuruf von der SPD: Richtig! Wann kommt denn die?) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Das sage ich insbesondere in Richtung des leider lee- Sie ist nicht Ihre Entdeckung des Aufbaus Ost als ren Stuhls des Bundesfinanzministers: Wer jetzt Sachthema. überproportional in diese Aufbautitel Ost einschnei- (Wolfgang Thierse [SPD]: Ihr Kollege Kolbe det, riskiert den Aufschwung Ost. Deshalb müssen hat gerade etwas anderes gesagt!) wir das alle gemeinsam verhindern. Dafür nenne ich Beispiele aus Ihrem Programm, (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und zunächst Ihre Forderung zur steuerlichen Investiti- der SPD) onsförderung. Eine Investitionszulage in Höhe von Weil vorhin von ABM die Rede war, möchte ich 20 Prozent für Mittelstand und Handwerk hatten wir dazu sagen: Wenn wir demnächst einen Wirtschafts- bereits 1993 eingeführt. Weil sie jedoch nur Ostdeut- boom bekommen, dann können wir den zweiten Ar- schen zustand, wurde sie von der EU nachträglich als beitsmarkt zurückführen. Wenn wir ihn nicht bekom- diskriminierend für andere Mitgliedstaaten einge- men, wenn die Arbeitslosigkeit stagniert oder gar an- stuft. Sie durfte nur dann weiter gewährt werden, steigt, können wir den zweiten Arbeitsmarkt nicht in wenn sie für alle EU-Bürger galt. Das war zu teuer, dem Umfang zurückführen, wie er im Gesetzentwurf und sie wurde deswegen zum 1. Juli 1994 auf der Koalition zahlenmäßig beziffert worden ist. 10 Prozent reduziert. Das, was 1994 zu teuer war, ist leider Gottes jetzt immer noch zu teuer. Sie fordern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge jetzt eine Erhöhung auf 20 Prozent, wohl wissend, ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ daß a) sie nicht finanzierbar ist und b) es außeror- DIE GRÜNEN - Ernst Schwanhold [SPD]: dentlich fraglich ist, ob sie von Brüssel genehmigt Kluge Einsicht!) werden wird. Das ist unredlich. 10070 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Gerhard Schulz (Leipzig) Das gleiche gilt für die steuerneutrale Wiederan- steuerliche Ostförderung den mit Abstand höchsten lage betrieblicher Veräußerungsgewinne. Dies ist Wirkungsgrad. bereits mit dem Jahressteuergesetz 1996 beschlossen worden. Bisher wurde auch diese Maßnahme von der Mit der in der Höhe leicht abgesenkten Festschrei- EU-Kommission leider nicht genehmigt. Auch hier bung dieser Instrumente im Jahressteuergesetz 1996 machen Sie also falsche Versprechungen. Sie fordern setzen wir bis 1998 einen erheblichen Anreiz für wei- etwas, was längst im Gesetz ist, dessen Wirksamwer- tere Investitionen - einen Anreiz, den man sonst nir- den aber von Verhandlungen der Regierung in Brüs- gendwo in der Europäischen Union findet. Und jetzt sel abhängt. Diese Verhandlungen werden geführt. kommen Sie angeturnt und fordern das, was wir längst machen, wenn auch - das gebe ich zu - ein Noch zu Beginn dieses Jahres zettelte der SPD bißchen modifiziert; aber im Prinzip ist es das glei- Bürgermeister Voscherau aus Hamburg eine völlig che. unnötige Neiddebatte an und forde rte die Abschaf- fung von Sonderabschreibungen im Osten. Heute Ich sage Ihnen auch: Ich halte nichts von Ihrer For- fordern Sie in Ihrem Antrag eine Ausweitung der derung, die steuerliche Ostförderung schon jetzt für Sonderabschreibungen. die Zeit nach 1998 zu konkretisieren und zu beschlie- ßen. Das wäre falsch. Denn durch die Bef ristung er- (Wolfgang Thierse [SPD]: Aber doch reichen wir, daß jetzt investiert wird und nicht erst andere! Sie müssen genauer hingucken!) später, wenn alles gut läuft und nur reine Mitnahme- Ich enthalte mich hier jedes weiteren Kommentars. effekte die Folge sind. Jetzt muß investiert werden, jetzt müssen neue Werkhallen gebaut werden, jetzt Leider - das will ich nicht verschweigen - hat der müssen neue Maschinen gekauft werden. Eine Fest- bayerische Finanzminister, Herr Huber, diese De- schreibung heute bis in das Jahr 2000 hinein würde batte im Bundesrat aufgenommen und fordert nun den Investoren signalisieren: Ihr könnt euch Zeit las- die umgehende Kürzung der bis 1998 rechtsgültigen sen, ihr könnt auch im Jahr 2000 investieren, das Sonderabschreibungen. Das ist wenig hilfreich, vor reicht dann immer noch. - Das wollen wir nicht. Wir allem ist es falsch. Denn Abschreibungsmodelle für brauchen die Arbeitsplätze jetzt und nicht erst im Schiffe können nicht mit Sonderabschreibungen für - Jahr 2000. Investitionen und Wohnungsbau in Ostdeutschland in einen Topf geworfen werden. Ich bin überzeugt: Sie zementieren den Ist-Zustand und reduzieren Hätte der Freistaat Bayern 16 Prozent Arbeitslosig- die Investitionstätigkeit, wenn Sie bei der Förderung keit, wie das aktuell in Ostdeutschland der Fall ist, jetzt den Zeitdruck wegnehmen. Was wir nach 1998 würde Herr Huber alle ordnungspolitischen Grund- an Förderung benötigen - ich gehe davon aus, das sätze, die er jetzt einfordert, über Bord werfen. wird erheblich sein -, das besprechen wir dann 1998, zeitnah und aktuell. Dieses Über-Bord-Werfen geschieht jetzt schon re- gelmäßig im Saarland, in Niedersachsen und Nord- Sie haben immer noch nicht beg riffen, daß wir vor- rhein-Westfalen. Gerade die Ministerpräsidenten La- haben, ab 1999 eine neue Einkommensbesteuerung fontaine und Rau werden in Zukunft Farbe beken- gelten zu lassen. Auch unter diesem Aspekt muß die nen müssen. Denn wir haben, wie Sie wissen, keine Art und Weise der Ostförderung betrachtet werden. finanziellen Zuwächse mehr: Die Konjunktur ist, wie Wir müssen die Fördermasse, die zur Verfügung sie ist; höhere Neuverschuldung und höhere Steuern steht, so einsetzen, daß sie ihre höchste Wirkungs- wollen wir nicht - warum, wissen Sie. kraft entfalten kann und nicht für falsche Bereiche eingesetzt wird. Was falsch und was richtig ist, sehen (Rolf Schwanitz [SPD]: Sie verzichten auf wir 1998 deutlicher als jetzt. drei Milliarden beim Solidaritätszuschlag, Herr Schulz!) Wir müssen uns darüber im klaren sein: Eine För- derdebatte macht keinen Sinn, solange die Betriebe Wenn wir in Zukunft vor der Entscheidung stehen, in den neuen Bundesländern keine Gewinne erzie- entweder mit teuren Subventionen den Steinkohle- len. Das ist der Kern des Problems. Solange die bergbau am Leben zu erhalten oder für neue Wi rt Lohn- und Gehaltsentwicklung in Ostdeutschland -schaftsstrukturen im Osten zu sorgen, werden wir se- schneller vorangeht als die Produktivitätsentwick- hen, meine Damen und Herren von der SPD, ob die lung, können wir uns „totfördern", weil jede Förde- Bekenntnisse, die Sie hier ablegen, nicht nur Lippen- rung sofort wieder aufgefressen wird. bekenntnisse bleiben. Wir werden Sie daran erin- nern. Sie selber sprechen in Ihrem Antrag die Tarifent- wicklung an. Dafür möchte ich Sie ausdrücklich lo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ben. Ich bitte Sie: Nutzen Sie Ihre letzten noch ver- Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) bliebenen Kontakte zu den Gewerkschaften, und Wir brauchen die steuerliche Ostförderung; denn nehmen Sie konstruktiv Einfluß auf diesen Tarifpart- sie ist - das ist schon mehrfach gesagt worden - der ner, um realistische Lohnabschlüsse zu erreichen, Garant für den wi rt schaftlichen Aufschwung. Seit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 1990 hat der Bund allein für Investitionszulagen und Sonderabschreibungen 16 Milliarden DM in die Lohnabschlüsse, die den ostdeutschen Bet rieben Luft neuen Länder fließen lassen. Aus diesen 16 Mil- geben, um den immer größer werdenden Wettbe- liarden DM wurde bis 1995 ein Investitionsvolumen werbsnachteil aufzuholen, Arbeitsplätze zu erhalten in Höhe von 315 Milliarden DM. Das ist das Zwan- und zu schaffen. Sonst wird unsere Arbeit, die wir zigfache der gewährten Förderung. Damit hat die hier verrichtet haben, umsonst gewesen sein. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10071

Gerhard Schulz (Leipzig) Schönen Dank. f) Erste Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Januar 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Re- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- publik Namibia über die Förderung und den ren, bevor ich die Aussprache schließe, möchte ich gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen doch noch gern eine Bemerkung machen. Diese runde Sitzordnung verleitet natürlich zu mancherlei - Drucksache 13/4793 — Bruch unserer Geschäftsordnung. Deshalb sei mir Überweisungsvorschlag: der Hinweis, daß zu meiner Linken der Bundesrat, zu Ausschuß für Wirtschaft meiner Rechten die Bundesregierung und mir gegen- über der Bundestag sitzt, zwischendurch wieder ein- g) Erste Beratung des von der Bundesregierung mal erlaubt. Wenn zwischen Bundesratsmitgliedern eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu und Mitgliedern des Hauses Gespräche geführt wer- dem Vertrag vom 28. Februar 1992 zwischen den sollen, dann doch bitte außerhalb des Raumes der Bundesrepublik Deutschland und der Re- und nicht auf der Bundesratsbank. publik Litauen über die Förderung und den Ich schließe die Aussprache. gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf - Drucksache 13/4794 — den Drucksachen 13/4702, 13/4572, 13/4946 und Überweisungsvorschlag: 13/4979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ist das Haus damit ein- Ausschuß für Wirtschaft verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind h) Erste Beratung des von der Bundesregierung die Überweisungen so beschlossen. - Ist das Haus eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. dem Abkommen vom 30. März 1994 zwischen Dann sind die Überweisungen so beschlossen. der Bundesrepublik Deutschland und dem Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 c bis 21 m auf: Staat Kuwait über die Förderung und den ge- genseitigen Schutz von Kapitalanlagen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu - Drucksache 13/4795 - dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom Überweisungsvorschlag: 17. Juli 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft Ausschuß für Wirtschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der i) Erste Beratung des von der Bundesregierung Tunesischen Republik andererseits eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu - Drucksache 13/4790 — dem Abkommen vom 7. März 1995 zwischen Überweisungsvorschlag: der Bundesrepublik Deutschland und der Re- Ausschuß für Wi rtschaft (federführend) publik Korea über den Luftverkehr Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Drucksache 13/4797 - Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Ausschuß für Verkehr (federführend) Technologie und Technikfolgenabschätzung Finanzausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union j) Beratung des Antrags des Bundesministeriums d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Finanzen dem Abkommen vom 16. November 1995 zwi- Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- schen der Bundesrepublik Deutschland und haushaltsordnung in die Veräußerung der der Sozialistischen Republik Vietnam zur ehemaligen US-Wohnsiedlung Hügelstraße in Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Frankfurt am Main Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom - Drucksache 13/4711 Vermögen - Drucksache 13/4791 —Überweisungsvorschlag: —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß Finanzausschuß k) Beratung des Antrags des Bundesministeriums e) Erste Beratung des von der Bundesregierung der Finanzen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- dem Vertrag vom 30. Januar 1995 zwischen haushaltsordnung in die Veräußerung der der Bundesrepublik Deutschland und der Re- ehemaligen US-Edwards-Wohnsiedlung in publik Peru über die Förderung und den ge- Frankfurt am Main genseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/4751 — - Drucksache 13/4792 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß 10072 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Vizepräsident Hans Klein 1) Beratung des Antrags des Bundesministeriums Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- der Finanzen schusses für Verkehr (15. Ausschuß) Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- - Drucksache 13/4897 - haushaltsordnung in die Veräußerung der Berichterstattung: ehemaligen US-Wohnsiedlung Platenstraße Abgeordneter Konrad Kunick in Frankfurt am Main - Drucksache 13/4752 — Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksa- Überweisungsvorschlag: che 13/4897, den Gesetzentwurf unverände rt anzu- nehmen. Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetz- Haushaltsausschuß entwurf zuzustimmen gedenken, bitte ich, sich von m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Al- ihren Plätzen zu erheben. - Gegenprobe! - Herr Kol- bert Schmidt (Hitzhofen), Elisabeth Altmann lege Krüger, sind Sie dafür oder dagegen? (Pommelsbrunn), Kristin Heyne und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist eine Gewissensfrage!) Wirtschaftlichkeit der ICE-Strecke Nürn- berg-Ingolstadt-München - Wenn ich es richtig beurteile, ist der Gesetzentwurf - Drucksache 13/4962 — einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) Tagesordnungspunkt 22 c: Haushaltsausschuß Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Eine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Ta- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei- 13. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik sen. Besteht darüber Einverständnis? - Das ist der Deutschland und der Tschechischen Republik Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. über den Bau einer Grenzbrücke an der ge- - meinsamen Staatsgrenze im Zuge der Euro- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a pastraße E 49 bis 22f. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu - Drucksache 13/4338 - Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. (Erste Beratung 101. Sitzung) Tagesordnungspunkt 22a: Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Zweite Beratung und Schlußabstimmung des schusses für Verkehr (15. Ausschuß) von der Bundesregierung eingebrachten Ent- - Drucksache 13/4936 - wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. März 1995 zwischen der Regierung der Berichterstattung: Bundesrepublik Deutschland und der Regie- Abgeordneter Rudolf Meinl rung der Republik Polen über die Seeschiffahrt Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksa- - Drucksache 13/4046 - che 13/4936, den Gesetzentwurf unverändert anzu- (Erste Beratung 98. Sitzung) nehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. Wer stimmt dage- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei einigen schusses für Verkehr (15. Ausschuß) Stimmenthaltungen ist der Gesetzentwurf angenom- - Drucksache 13/4896 - men. Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick Tagesordnungspunkt 22 d: Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksa- Beratung der Beschlußempfehlung des Rechts- che 13/4896, den Gesetzentwurf unverände rt anzu- ausschusses (6. Ausschuß) nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Übersicht 5 Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- angenommen. ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht Tagesordnungspunkt 22 b: - Drucksache 13/4732 - Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Berichterstattung: von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Abgeordneter wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. April 1995 zwischen der Regierung der Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer Bundesrepublik Deutschland und der Regie- stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Frau Kollegin rung der Demokratischen Volksrepublik Al- Jelpke, Sie enthalten sich? gerien über die Seeschiffahrtsbeziehungen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ - Drucksache 13/4047 - DIE GRÜNEN]: Nein, sie ist doch nur auf (Erste Beratung 98. Sitzung) gestanden!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10073

Vizepräsident Hans Klein - Die Abstimmungsvorgänge werden ein bißchen er- Meerestiere und Vögel geht mit dem Absterben der schwert, wenn sie zur Gaudi benutzt werden. größeren Bodenlebewesen im Watt verloren. Durch die Größe dieser Flächen sind nun ganze Lebens- Die Beschlußempfehlung ist angenommen. räume gefährdet. Die Folgen für das Ökosystem, das immerhin das zweitartenreichste nach dem tropi- Tagesordnungspunkt 22 e: schen Regenwald ist, sind unabsehbar. Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- Die schwarzen Flächen im Watt sind ein Signal da- onsausschusses (2. Ausschuß) für, daß die Zeit der Ökokatastrophen leider noch Sammelübersicht 124 zu Petitionen lange nicht vorbei ist. Das war nicht das erste Signal: - Drucksache 13/4881 - Diesen schwarzen Flächen gingen das Robbenster- ben im Jahr 1989, das Fische- und Krebssterben und Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer die jährlichen Meldungen von riesigen Algenteppi- stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Die chen voraus. Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der Eine jahrzehntelang anhaltende Überdüngung PDS angenommen. kann ein Ökosystem nicht unbeschadet überleben. Wattexperten und Biologen sind immer wieder er- Tagesordnungspunkt 22 f: staunt darüber, daß es in der Nordsee bisher zu kei- nen größeren Katastrophen gekommen ist. Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- onsausschusses (2. Ausschuß) Hier nützt aber kein Abwiegeln und Schönreden. Ursache für die schwarzen Flächen ist weder der Eis- Sammelübersicht 126 zu Petitionen winter, der die Muscheln sterben ließ, noch das Spei- - Drucksache 13/4883 - seöl von dem russischen Schiff; auch die Kieselalge Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Ge- trägt keine Schuld daran. Dies alles kann höchstens genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- der auslösende Faktor gewesen sein; denn solange lung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ die ostfriesischen Wattführer zurückdenken können, Die Grünen angenommen. - war dies nicht der erste Eiswinter, den das Watten- meer erlebt hat, und leider auch nicht die erste Ölein- Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: leitung. Schwarze Flächen von diesem Ausmaß hat, es jedoch noch nie gegeben. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Die Ursachen sind seit Jahrzehnten klar; darin sind GRÜNEN sich sämtliche Wissenschaftler einig. Die Nordsee wird von allen Anrainerstaaten als Müllkippe be- Bundespolitische Konsequenzen zur Rettung nutzt, und zwar leider noch immer ganz legal und ge- des Wattenmeeres setzeskonform. Organische Abfälle, Düngemittel, Pe- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin stizide, Schwermetalle, chlororganische Verbindun- Vera Lengsfeld das Wo rt . gen und andere Giftstoffe werden über die Flüsse in die Nordsee geschwemmt. Das Ökosystem muß jedes Jahr allein 1,5 Millionen Tonnen Stickstoff verkraf- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Vera Lengsfeld ten. Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Folgte man den Möchtegern-Trendsettern des neuen (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Das ist ökooptimistischen Zeitgeistes, könnte man sich ganz zuviel!) entspannt zurücklehnen: Die totgesagten Wälder wachsen munter weiter. Das Ozonloch wird sich frü- - Ja, ich bin ganz Ihrer Meinung. her oder später wieder schließen. Sogar Unilever ist Die intensive Agrarindustrie mit überhöhtem Mi- zu nachhaltigem Fischfang übergegangen, nachdem neraldüngereinsatz, Massentierhaltung und Gülle- der Konzern festgestellt hat, daß bei Beibehaltung überschüssen, die sonst über die Felder entsorgt wer- der derzeitigen Fangmethoden die Fischgründe in den, ist der Hauptverursacher für die enorme Stick- fünf Jahren leergefischt sein würden. Aber kaum hat stoffbelastung. man sich alles so schön zurechtgelegt, droht der Öko- optimismus in einem schwarzen Loch zu versinken, Die kürzlich beschlossene Düngeverordnung und und zwar in den schwarzen Flächen der Nordsee, die darin festgelegten Grundsätze der guten fachli- die in diesem Jahr fußballfeldartige Ausmaße ange- chen Praxis beim Düngen werden kaum zur Minde- nommen haben. rung der Stickstoffbelastung beitragen, da die Vor- schrift viel zu lasch ist. Zwar kennt man diese Flecken seit 1984, aber noch nie haben sie wie in diesem Jahr 10 bis 20 Prozent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der gesamten Wattfläche Niedersachsens eingenom- und bei der SPD - Günther Bredehorn men. Neue Befliegungen zeigen, daß sich diese Flä- [F.D.P.]: Die muß man erst einmal umset chen nach wie vor weiter ausbreiten. zen!) Über den Flächen stinkt es nach Methan und Die Nordsee-Anrainerstaaten versprühen jährlich Schwefelwasserstoff, in den Flächen ersticken die im mehr als 190 000 Tonnen giftiger Pflanzenschutzmit- Watt lebenden Organismen wie Würmer, Muscheln tel, von denen erhebliche Mengen über die Atmo- und Krebse. Die Nahrungsgrundlage für Fische, sphäre und über Flüsse in die Nordsee gelangen. 10074 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Vera Lengsfeld Während andere europäische Staaten wie Däne- see zu tun hat. Dabei soll nicht in Abrede gestellt mark, Schweden und die Niederlande längst positive werden, daß in den letzten Jahrzehnten Düngung Erfahrungen mit Pestizid-Reduktionsprogrammen und intensive Veredlungswirtschaft als ein Faktor gemacht haben, fehlen in Deutschland weiterhin von vielen zur Belastung der Nordsee beigetragen wirksame Schritte. haben. Es soll jedoch jeder zur Kenntnis nehmen, der sich dafür interessie rt, daß die Landwirtschaft allein Die Anrainerstaaten haben sich in den vergange- im Vergleichszeitraum von 1980 bis 1994 rund nen Jahren zu zahllosen Konferenzen zum Nordsee- 58 Prozent weniger Phosphat, 54 Prozent weniger schutz getroffen. Die vollmundigen Erklärungen, en- Kali und 22 Prozent weniger Stickstoff ausgebracht gagierten Reden, Zustandsberichte, Aktionspläne hat: und Fortschrittsberichte füllen Aktenordner um Ak- tenordner. Viel Diagnose und wenig Therapie, so Meine Damen und Herren, ich staune ein bißchen könnte man die Behandlung der Patientin Nordsee über Ihre Reaktion. Ich habe - Herr Präsident, ich charakterisieren. Die Halbierung der Stickstoffein- hätte es vorher anmelden sollen; ich weiß es - aus träge zwischen 1985 und 1995, die bei den Nordsee- einer Pressemitteilung zitiert, die der niedersäch- schutzkonferenzen beschlossen wurde, ist noch sische Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke, lange nicht erreicht. Auch Deutschland verfehlte die SPD, am 17. Juni in ,,Agra-Europe" veröffentlicht angestrebte Reduzierung bei weitem. hat. Er schreibt in diesem Artikel weiter: Große Defizite gibt es nach wie vor bei der Abwas- Keine Einigkeit über schärfere Kontrollen. serreinigung. Auch Deutschland erfüllt derzeit die EU-Bestimmungen noch nicht, nach denen bis 1998 Der niedersächsische Landwirtschaftsminister sagt die kommunalen Kläranlagen mit einer Stufe zum dann: Nährstoffabbau nachgerüstet werden müssen. So seien die wahren Sünder doch bekannt. An er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie: Sol- ster Stelle die Briten. Auf der einen Seite strahle len wir wieder warten, bis die Tourismusindustrie Großbritannien die irische See unverändert wei- uns zum Handeln zwingt? Es gibt bereits die ersten ter und auf der anderen Seite werde die Nordsee Stornierungen. Sie wissen, zehn Millionen -Touristen nach wie vor als Kläranlage mißbraucht. Die di- verbringen alljährlich ihren Urlaub an der Nordsee. rekten Einleitungen, die unveränderte Verklap- Wenn diese Industrie zusammenbricht, dann wird pung von Klärschlamm und Chemie, sei alles die Politik handeln müssen. Ich würde es sehr viel kein Geheimnis. besser finden, wenn sich die Politik wieder auf ihre Er sagt weiter: eigentliche Aufgabe, die Gestaltung, besinnt und als erstes aktiv wird und sich nicht erst wieder von der Zu guter Letzt redet niemand über die möglichen nächsten Katastrophe leiten läßt. negativen Folgen des harten Winters für die Mi- krolebewesen im Watt. Danke. Weiße Flecken in Forschung und Wissenschaft wohin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN er auch schaue, resümiert der Minister, und diese und bei der SPD) verpflichteten zur Objektivität und nicht zu diskrimi- nierender Kaffeesatzleserei. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Meine Damen und Herren, auch ich stelle fest, daß Kollege Peter Harry Carstensen, CDU/CSU. hier jedesmal, wenn es um das Wattenmeer geht, die gleichen Leute reden. Ich bin seit 1983 in diesem Par- Peter Harry Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): lament. Wir sprechen darüber, und ich staune dar- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und über, daß zum Beispiel die Kollegin Lilo Blunck sei- Herren! Frau Lengsfeld hat die Schuld, wem wir die nerzeit sicherlich noch sagen konnte, die Entwick- Flecken zu verdanken haben, zugeordnet. Auch in lung des Wattenmeeres, die Entwicklung der Nord- der Zeitung steht es: see gehe zu einer übelriechenden Kloake über, wo man ein Badeverbot aussprechen sollte. Die Landwirtschaft düngt nach wie vor nicht nur ihre Felder, sondern auch die See. Direkt von den Wenn es so ist, meine Damen und Herren, daß wir Feldern wird der Dünger ausgewaschen und in den letzten Jahren bei uns Verbesserungen gehabt fließt ins Meer. haben, dann ist es sicherlich auch denjenigen zu ver- danken, die insbesondere das aufgenommen haben, Ich habe das Gefühl, daß mancher von Ihnen über- was Karl-Heinz Funke am Schluß geschrieben hat, haupt noch nicht die Entwicklung in der Landwirt- daß es - - schaft in den letzten Jahren gesehen hat. (Zuruf der Abg. Ulrike Mehl [SPD]) Der Agrarsektor darf im Zusammenhang mit der zunehmend schlechter werdenden Situation des - Seit wann gibt es eine SPD-Regierung in Schles- Ökosystems Nordsee nicht an den Pranger gestellt wig-Holstein? werden. (Ulrike Mehl [SPD]: Seit 1988!) (Zuruf von der SPD: Warum nicht?) - Seit 1988, das ist richtig. Aber die Frage ist doch, Es ist noch weitestgehend ungeklärt, inwieweit die Frau Mehl, warum denn die Kollegin Blunck 1983 so Landwirtschaft mit der aktuellen Situation der Nord etwas sagen konnte, wobei vorher die Verantwor- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Peter Harry Carstensen (Nordstrand) tung für die Politik, insbesondere auch für den Nord- die Chancen für einen effektiven Nordseeschutz seeschutz hier in Bonn nicht bei der CDU-Regierung weitgehend ungenutzt blieben. gelegen hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich erinnere daran, daß der erste, der eine Nord- DIE GRÜNEN) seeschutzkonferenz einberief und sich Gedanken über die Möglichkeiten der internationalen Zusam- Die schwarzen Flecken sind nicht das Produkt ei- menarbeit machte, Innenminister F ritz Zimmermann nes harten Winters. Ich habe heute morgen noch mit gewesen ist, dem ich an dieser Stelle für seine Initia- einem sehr erfahrenen Wattführer gesprochen. Er hat tive noch einmal herzlich danke. Seitdem wissen wir, gesagt: So etwas, was ich hier bisher gesehen habe, daß es nicht ausreicht, Alleingänge zu machen und habe ich noch nie in meinem langen Leben als Watt- nur einem Faktor, nur einer Seite, nämlich der Land- führer erlebt. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. wirtschaft, die Schuld zuzuschieben, sondern daß wir Wir müssen feststellen, daß die Umsetzung der Be- uns viel häufiger zusammensetzen müssen und auch schlüsse der Konferenz von 1990 in Den Haag, wo einmal den Finger in die Wunde legen müssen, ob es wir uns eine 50prozentige Halbierung der Nähr- und an uns oder nicht vielleicht an den Briten oder Bel- Schadstoffzufuhren vorgenommen haben, nur in ei- giern liegt. Trotzdem erinnere ich noch einmal an die nem Umfang von 25 bis 30 Prozent gelungen ist. Reduzierungsmöglichkeiten und -ergebnisse, die wir Es bringt uns auch nicht weiter, wenn wir auf die bei uns in der Landwirtschaft erreicht haben. Verfehlungen anderer Nordseeanrainer schimpfen. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich weiter Natürlich haben die Belgier in Brüssel noch keine informieren wollen, dann wäre ich dafür dankbar, Kläranlagen; natürlich verklappen die Briten Schad- daß man auch das liest, was wir im Parlament veröf- stoffe in der Nordsee. Aber wir sind hier, um unsere fentlichen. Der Agrarausschuß hat kürzlich eine An- eigenen Positionen in Frage zu stellen. Wir haben hörung zu Stoffeinträgen in der Landwirtschaft eben eine Reduktion der Nährstoffeinleitungen nur durchgeführt. Ich glaube, wir haben gezeigt, Herr im Umfang von 25 bis 30 Prozent erreicht, wie es Kollege Bredehorn, daß wir uns der Verantwortung, auch letzten Mittwoch im Ausschuß gesagt worden ist. die die Landwirtschaft trägt, bewußt sind. - (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]: Der Landwirtschaftsminister hätte sich das mal anhören können! - Zuruf Um einen Zusammenbruch des Ökosystems und von der SPD: Auch der Verkehrsminister!) der Nordsee bis zur Doggerbank zu verhindern, müs- sen wir die Nähr- und Schadstoffeinleitungen ganz - Herr Kollege Fischer, daß Sie inzwischen vom Na- drastisch reduzieren. Die internationalen Nordsee- turschützer zum Naturnutzer geworden sind, zeigte schutzkonferenzen haben das immer wieder betont. eben Ihre Bewegungsfähigkeit bei den Abstimmun- Aber sie haben uns bisher kein zureichendes Instru- gen. Auch der Körperumfang zeigt das. ment an die Hand gegeben. Die nächste Konferenz, (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ die erst im Jahre 2000 oder 2002 stattfindet, ist viel zu NEN - Zuruf von der SPD: Was soll das spät, so daß wir heute und jetzt über Maßnahmen denn?) nachdenken müssen. Ich finde, man sollte sich seine Informationen auch 1980 hat Professor Buchwald schon einmal auf das holen. Wir sind vom Agrarausschuß aus gerne bereit, Umkippen hingewiesen. Ich habe jetzt meine eigene Ihnen die Informationen zu geben. Wir arbeiten im Rede von 1987 noch einmal nachgelesen. Damals ha- Agrarausschuß sehr gerne mit den Kollegen von der ben wir im Umweltausschuß - Herr Carstensen, auch SPD zusammen, aber man muß auch bereit sein, In- Sie waren dabei - den „Quality Status Report" über formationen, die auf dem Tisch liegen, zu akzeptie- die Nordsee diskutiert. Genau an dieser Stelle wurde ren, statt Schuldzuweisungen nur in eine Richtung gesagt, daß wir vor allen Dingen wegen der Nähr- zu machen. stofffrachten besorgt sein müssen und daß wir in etwa 20 Jahren ein Umkippen der Nordsee zu be- Herzlichen Dank. fürchten haben. Möglicherweise fängt dieses Umkip- pen jetzt mit den schwarzen Flecken an. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen also die Nährstofffrachten reduzieren. Ferner müssen wir fragen, was die Bundesregierung, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wört hat der Herr Staatssekretär Hirche, bis jetzt zur beschleunig- Kollege Dietmar Schütz, SPD. ten Reduzierung der Schadstoff- und Nährstoffein- träge gemacht hat. Wir müssen Sie fragen, was Sie Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): Herr Präsident! zum Beispiel von einer Stickstoffabgabe halten, um Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Mas- eine Reduzierung zu erreichen. sensterben im Watt ist eine Konsequenz des jahre- (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Gar nichts!) langen Versagens beim Nordseeschutz. Die schwar- zen Flecken führen uns auf dramatische Weise vor Das hat ja Herr Funke, den Herr Carstensen gerade Augen, wie unzulänglich alle unsere Anstrengungen zitiert hat, gefordert. Er will ja die Nährstofffrachten waren. Es rächt sich, daß in den letzten zwölf Jahren herunterbekommen. Das müssen wir machen. Um bei vier internationalen Nordseeschutzkonferenzen die Nordsee zu retten, brauchen wir eine Reduzie- 10076 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dietmar Schatz (Oldenburg) rung der Stickstoffeinträge aus diffusen Quellen im blute, insbesondere bei den Kieselalgen, wurde Verkehr und im Agrarbereich. durch die fehlenden Wattorganismen nicht mehr fil- triert. Das sehr heiße Wetter an einigen Tagen be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schleunigte den organischen Abbau der unver- Darüber gibt es überhaupt keinen Streit. Alle Wis- brauchten Algenmassen. Der dadurch bedingte Sau- senschaftler sagen uns das. Wir sollten wenigstens in erstoffmangel im bodennahen Wasser führte zum diesem Punkt auf sie hören. weiteren Absterben der Wattorganismen und letzt- endlich zu den schwarzen Flächen. Die schwarzen Flecken machen sehr deutlich, daß die Selbstheilungskräfte der Nordsee zwar vorhan- Was können wir tun? Die Verbreitung eines Hor- den sind - ich hoffe sehr, daß sie auch hier wieder rorszenarios hilft dem Wattenmeer nicht; sie schadet greifen -, aber die Entwicklung geht immer mehr in vielmehr den Insel- und den Küstenbadeorten, die Richtung von Katastrophenszenarien. Eines Tages vom Fremdenverkehr abhängig sind. werden wir oder unsere Nachfahren sagen: Jetzt ist (Beifall bei der F.D.P.) es erreicht. Dann können wir nichts mehr rückgän- gig machen. Dann können wir gar nichts mehr errei- Die Bundespolitik hat zusammen mit den Bundeslän- chen. Wir müßten den Patienten Nordsee dann mög- dern Niedersachsen und Schleswig-Holstein Verant- licherweise begraben. wortung für die Erhaltung unseres Wattenmeersy- stems. Politische Entscheidungen müssen allerdings Die Wasserqualität wird dann immer noch gut sein. auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse über die Baden wird man dann immer noch können. Aber das Ursachen von Fehlentwicklungen getroffen werden. Ökosystem Nordsee wird dann ein anderes sein. Ge- nauso, wie wir jahrelang Debatten über das Wald- Professor Dr. Flemming, Leiter des Meeresfor- sterben geführt haben, werden wir dann Debatten schungsinstituts Senckenberg in Wilhelmshaven, er- über das Wattsterben führen. So etwas möchte ich klärte - ich zitiere -: nicht noch einmal erleben. Das verbreitete Auftreten von schwarzen Flächen Ich danke Ihnen. ist keineswegs eine anormale Naturkatastrophe. - Das Watt stirbt mit Sicherheit nicht, wenngleich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es in einer unverkennbaren Krise steckt. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Diese wissenschaftlich fundie rte Aussage steht in diametralem Gegensatz zu den Verlautbarungen an- derer Wissenschaftler. Das zeigt doch, daß es einen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Günther Bredehorn, F.D.P. erheblichen Forschungsbedarf in bezug auf das Wat- tenmeer gibt. Ich fordere die Bundesregierung auf, zusammen mit den Bundesländern die Wattenmeer- Günther Bredehorn (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe forschung zu intensivieren, sie problemorientiert vor- Kolleginnen und Kollegen! Die in den letzten Jahren anzubringen und entsprechende Forschungsmittel zunehmenden schwarzen Flecken im Wa tt, die in- bereitzustellen. zwischen ja eine Ausdehnung von 10 bis zu 20 Prozent der niedersächsischen Wattenmeerfläche, (Beifall bei der F.D.P.) insbesondere vor der ostfriesischen Küste, erreicht Nach wie vor - das ist doch ebenfalls kein Streit- haben, sind ein Alarmsignal, das wir sehr ernst neh- punkt - ist die Überdüngung der Nordsee ein großes men müssen und das wir nicht negieren können. Umweltproblem. Auch wenn das starke Anwachsen Darin sind wir uns doch alle einig. der schwarzen Flächen wohl nicht im unmittelbaren Wenn die Grünen in ihrem Antrag allerdings vom Zusammenhang mit der Überdüngung steht, sterbenden Wattenmeer sprechen, so ist das zumin- (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Sogar dest leichtfertig, wenn nicht verantwortungslos. Alle er sagt das! Flemming vom Institut Senk Jahre wieder - so möchte man schon fast sarkastisch kenberg!) sagen - gerät das einzigartige Natur- und Erholungs- gebiet Wattenmeer in die Schlagzeilen. Ich erinnere fordere ich die Bundesregierung auf, alles zu tun, um an Algenpest, Robbensterben, Apron-Plastikbeutel die Beschlüsse der Internationalen Nordseeschutz oder ölverseuchte Seevögel. Für mich als Watten- konferenz nun auch in allen Anliegerstaaten umzu- meeranwohner und als einen der wenigen langjähri- setzen. gen und altgedienten Wattläufer sind schwarze Flek- Immer noch wird die Nordsee als Kläranlage miß- ken an und für sich nichts Neues. Diese gibt es seit braucht. 30 Millionen Bürger im Einzugsbereich der vielen, vielen Jahren. Nordsee sind nicht an eine Kläranlage angeschlos- Das Phänomen, mit dem wir es in diesem Frühjahr sen. Einige Länder verklappen nach wie vor Klär- zu tun haben, ist die explosionsartige Ausdehnung schlamm und Chemikalien. Die Ölverschmutzung von schwarzen Flecken zu schwarzen Flächen. hat eher zugenommen. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Wir Es ist interessant, daß das Bundesland Schleswig hatten einen der strengsten Eiswinter seit Jahrzehn- Holstein und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen ten. Dadurch sind viele Wattorganismen wie Herz- die kostenlose Ölentsorgung eingestellt haben. Dort und Miesmuscheln, Schnecken, Würmer und Krebse hat die SPD das Sagen, in Niedersachsen entsorgen abgestorben. Die im Frühjahr beginnende Plankton wir noch. Im Jahre 1990 sind 170 000 Kubikmeter Öl- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10077

Günther Bredehorn rückstände entsorgt worden. Auch darauf muß man Gerade erst letzte Woche wurde in diesem Haus sicherlich achten. eine Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz verab- schiedet, bei der mit der Vorbehaltsklausel strengere Die Reduzierungsziele, so hat es Kollege Carsten- Einleitungsbestimmungen unterlaufen werden kön- sen gesagt, sind bei Phosphaten und Kali erreicht, nen. Die von PDS und Bündnisgrünen vorgeschla- beim Stickstoff erst zur Hälfte. Do rt liegt die Vermin- gene Verankerung des Vorsorgeprinzips als Leitge- derung bei 25 Prozent, 50 Prozent wollen wir. Dabei danke im Wasserhaushaltsgesetz wurde verhindert. ist die Düngeverordnung ein richtiger Ansatz, auch hier voranzukommen. Auch die vierte Novelle des Abwasserabgabenge- war für die Gewässerökologie ein Rückschritt. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der setzes Mit ihr wurde es wieder billiger, die Abwasserab- CDU/CSU) gabe zu zahlen, als die Verschmutzung der Abwässer Wir alle sind aufgefordert, den komplexen Ursa- zu vermeiden. Das Einfrieren der Abgabe auf 70 DM chen der starken Ausbreitung der schwarzen Flä- pro Schadstoffeinheit an Stelle einer schrittweisen chen im Wattenmeer auf die Spur zu kommen und Steigerung dieses Betrags war ein Kniefall vor den entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ich Interessen der Hauptverschmutzer. hoffe, daß die kommenden Herbststürme für eine Re- generation des Sauerstoffs in den oberflächennahen Ein ähnliches Szenario gab es bei der Düngemittel- Sedimenten sorgen und im nächsten Jahr wieder verordnung. Die Bundesregierung konnte sich nicht normale Verhältnisse im Wattenmeer herrschen. zu einer Düngemittelabgabe durchringen. Ein Gros der landwirtschaftlichen Betriebe - 45 Prozent im Wir alle sind aufgerufen, durch unser politisches Westen und 78 Prozent im Osten - sind nach der in Handeln und Tun unserer Verantwortung zum Erhalt diesem Jahr verabschiedeten Verordnung für ihren des in der Welt einmaligen und einzigartigen Ökosy- Stickstoffeintrag nicht einmal bilanzpflichtig, und stems Wattenmeer gerecht zu werden. Dazu fordere das, wo schon jetzt zwei Drittel der Grundwasser- ich Sie alle auf, damit auch in Zukunft gilt: Das Wat- meßstellen stark überhöhte Nitratwerte aufweisen. tenmeer lebt. Ich denke, das kann niemand hier in diesem Hause - bestreiten. Schönen Dank. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Was aber erst einmal im Boden ist, ist irgendwann auch in den Flüssen. Ein gehöriger Teil davon landet in der Nordsee. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Bulling-Schröter, PDS. Auf europäischer Ebene deutet sich im Gewässer- schutz ebenfalls ein umweltpolitischer Blindflug an. Ende Mai wurde in Brüssel die Konzeption der EU Eva Bulling-Schröter (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am fehlenden Wissen Kommission für eine gemeinschaftliche Wasserricht- über Zusammenhänge des Ökosystems Wattenmeer linie diskutiert. Der Versuch von seiten der Industrie kann es nicht liegen, daß die Belastung der Nordsee und der Landwirtschaft, verbindlichen Regelungen und des Watts kaum Einfluß auf die Umweltpolitik zum Gewässerschutz zuvorzukommen, war offen- genommen hat. Seit Jahren sitzen Wissenschaftler im sichtlich. Das ging so weit, daß die Landwirtschafts- Auftrag der niedersächsischen Landesregierung im verbände rundweg eine Verantwortung für Gewäs- Schlick oder fotografieren ihn aus dem Flugzeug. Da- serverschmutzung ablehnten. ebensowenig ge- bei sind die schwarzen Flecken Die Kommission schlug weiter vor, die Entschei- heimnisvoll wie ihre Ursachen. dung über die Anwendungen von Emissions- und Was schwer bestimmbar bleibt, ist allenfalls der Immissionswerten den Mitgliedstaaten zu überlas- Zeitpunkt des völligen Umkippens des Nordsee- sen. Sollte sich europäisch der Immissionsansatz, also watts. Was die schwarzen Flecken - ähnlich wie die die an einer imaginären Aufnahmefähigkeit der Ge- schwindende Ozonhülle oder der drohende Klima- wässer orientierte Zulassung von Einleitungen, kollaps - zutage fördern, ist einmal mehr die Tatsa- durchsetzen, werden wir am Unterlauf der Flüsse che, daß sich Umweltqualitäten sprungartig und irre- noch manch böse Überraschung erleben. Selbst versibel verändern können. wenn man grob abschätzen könnte, wieviel der örtli- che Fluß gerade noch verträgt: Wer will wissen, wie Jetzt wird wieder hektische Bet riebsamkeit einset- sich die gegebenenfalls bis zur jeweiligen zulässigen zen, neue Gutachten werden erstellt und zusätzliche Obergrenze mit Schadstoffen aufgefüllten Gewässer Forschungsgelder bewilligt. Ich habe nichts dage- verhalten, wenn sie zusammenfließen? gen, aber was will man herausfinden? Daß auch Bo- denlebewesen Sauerstoff zum Atmen brauchen? Daß Unserer Meinung nach ist nur ein konsequenter dieser ihnen entzogen wird, wenn die Nordsee als Emissionsansatz - also einheitliche, dem Vorsorge- Kläranlage Europas fungiert? Oder daß der Haupt- und dem Verursacherprinzip verpflichtete Mindest- eintrag der Nährstoffe, Stickstoff und Phosphor, aus anforderung an die Einleitungen in die Gewässer - der Landwirtschaft kommt? Das alles ist längst be- geeignet, solche Kettenreaktionen wie die im Wat- kannt, wird jedoch immer bestritten. Das ist bekannt tenmeer zu verhindern. und trotzdem uninteressant für die aktuelle Entwick- lung im Umweltrecht und im entsprechenden Geset- Aber alle wasserpolitischen Bemühungen bleiben zesvollzug. irgendwie witzlos, wenn als normal angesehen wird, 10078 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Eva Bulling-Schröter daß Schiffe durch das Wattenmeer fahren und Erd- tenvielfalt greift arbeitsteilig mit ihren Funktionen in- gasleitungen in ihm verlegt werden. einander wie Zahnräder. Wenn ein Rädchen fehlt, gerät das gesamte System ins Wanken. Genau dies (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ geschieht seit Jahrzehnten. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Früher war ein Drittel des Wattenmeeres mit Mu- schelbänken bis zu 1,80 Meter Höhe bedeckt. Die ha- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die ben nicht nur das Wasser gefiltert, sondern auch die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grünen. Küsten geschützt. Heute gibt es gerade noch zwei Miesmuschelbänke. Die sind zum Befischen freige- (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE geben, anstatt daß ein Verbot ausgesprochen worden GRÜNEN] geht mit einem mit Schlick ist. gefüllten Einmachglas zum Rednerpult - Günther Bredehorn [F.D.P.]: Sie hat den Pott Die Bilanz: Das ist genau diese traurige Matsche - mitgebracht!) das Wattenmeer im wahrsten Sinne des Wortes ein- gemacht. Ich lasse es für Herrn Hirche stehen, damit er nachher mal daran riechen kann. Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ja, wir waren an derselben Stelle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die und bei der PDS sowie bei Abgeordneten Ostfriesen sind geduldige Leute; aber wenn man ver- der SPD) sucht, ihnen das Wattenmeer unter den Füßen weg- Können Sie sich eigentlich vorstellen, was dies für zuziehen, werden sie sauer. eine Region bedeutet, die vom Tourismus lebt, und Diese Katastrophe kommt nicht überraschend. Im- was es für diese Region bedeutet, wenn die Küsten mer wieder hat es Warnsignale gegeben, die konse- durch erodierendes Watt immer unsicherer werden? quent ignoriert worden sind. Seit 1976 sind schwarze Wer glaubt, er könne auf Kosten der Umwelt Be- schleunigungsprogramme durchpeitschen, wie die Flecken bekannt. Ende der 80er Jahre starben- die Seehunde. Auch damals waren wir alle ganz betrof- Bundesregierung das tut, setzt die ökologischen und fen. Danach ging man aber schnell zur Tagesord- ökonomischen Grundlagen aufs Spiel. Wer Umwelt- nung über. standards herunterfährt, gefährdet gerade an der Kü- ste Arbeitsplätze. Das sind 60 000. Das muß man sich Seit 1990 steht das Wattenmeer unter Schutz. Aber einmal vorstellen. was heißt das? Es wird weiter eingeleitet; es wird weiter abgefischt; eine riesige Gasleitung namens Ich sage Ihnen eines: Die Ostfriesen haben in jahr- „Europipe" wurde durch das Wattenmeer geknolzt - hundertelangem Kampf den Sturmfluten getrotzt. alles kein Problem. Auch diesmal wird wieder abge- Wir werden auch noch diese Regierung überstehen. wiegelt. Die Algen sind schuld - die pazifischen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht die deutschen; alles ganz natürlich. und bei der PDS sowie bei Abgeordneten Dabei wissen Sie doch genau, daß die Algenbil- der SPD - Günther Bredehorn [F.D.P.]: Sie dung das Ergebnis andauernder Überdüngung ist. Es meinen natürlich die niedersächsische ist klar wie Kloßbrühe, daß, wenn man ein System Regierung!) jahrzehntelang als Müllkippe und Kloake benutzt, Für jeden einzelnen Arbeitsplatz, für jede mittel- zum Beispiel durch Massentierhaltung, durch ton- ständische Existenz, die dort den Bach runtergeht, nenweise Schadstoffe aus den Auspuffrohren, die werden wir Sie von der Koalition verantwortlich ma- Jahr für Jahr auf das Meer niedergehen, durch Ab- chen. Es stinkt zum Himmel - nicht nur das Watten- wässer aus Industrie und Haushalten und - nicht zu meer, auch Ihre Umweltpolitik, Ihre kurzgegriffene vergessen - durch den Schiffsmüll, man sich nicht Standortdebatte, der alles andere geopfe rt wundern darf, daß ein Meer den Bach runtergeht. wird. Wo bleibt denn da die berühmte Versöhnung von Ökolo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gie und Ökonomie? Mit welchen Arbeitsplätzen bei der SPD und der PDS) andernorts wird denn der Tod des Wattenmeers er- kauft? Vielleicht gibt es ihn dann ja, den harten Winter, der dem Meer den Rest gibt. Das ist wie bei einem (Birgit Homburger [F.D.P.]: So ein Quatsch!) angezählten Boxer, der immer wieder aufsteht, bis er so schwach ist, daß ihn ein relativ harmloser Schlag Dafür müssen die Menschen an der Küste bluten. umhaut. Dieses Gesundbeten, das Ihre Kollegen von SPD und CDU auch vor Ort machen, ärgert mich nicht nur, ich Ich frage mich, ob Sie wissen, was in diesem Fall finde es vielmehr auch verantwortungslos. eigentlich kaputtgeht. Das Wattenmeer ist einzigar- tig auf der Welt. Es ist die größte biologische Kläran- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Verantwortungs lage. los ist, wie Sie Panik machen!) (Zuruf von der SPD: Kläranlage würde ich Jetzt muß Alarm geschlagen werden, wenn wir über- es nicht nennen!) haupt noch etwas retten wollen. Millionen von Kleinlebewesen, die jetzt sterben, sind (Zuruf von der SPD: Was wollen sie die Putzkolonnen der Nordsee. Diese einmalige Ar machen? Sagen Sie es doch!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10079

Gila Altmann (Aurich) Wir dürfen nicht so lange warten, bis die Deiche den Zusammenhang in diesem Sektor nicht genau wegrutschen und der Gestank des verwesenden kennen. Meeres die letzten Touristen vertrieben hat. Es reicht Es ist so, daß die Entstehung der schwarzen Flek- nicht mehr, mit dem Finger auf die anderen zu zei- ken noch nicht völlig geklärt ist - entgegen alldem, gen, nach England und sonstwohin, wie es Herr Funke in Niedersachsen macht oder Herr Bredehorn was von den Grünen gesagt worden ist. und Herr Carstensen hier. Wir müssen vielmehr jetzt Meine Damen und Herren, auch als es das Rob- in den Bereichen der Landwirtschaft und des Ver- bensterben gab, waren viele mit einer flinken Erklä- kehrs, bei der kostenlosen Altölentsorgung an Land rung dabei und haben gesagt, das liege an der Nähr- und zum Beispiel auch auf EU-Ebene bei der Reali- stofffracht. Hinterher hat sich herausgestellt, daß es sierung der dritten Klärstufe handeln. am Staupevirus lag. Das Meer muß endlich den Schutz erhalten, den es (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Seit zehn Jah verdient. Klar muß sein: Das, was in Jahrzehnten zer- ren haben wir nicht so viele Robben gehabt stört wurde, kann nicht von heute auf morgen repa- wie in diesem Jahr!) riert werden. Gerade deshalb müssen wir heute da- mit beginnen. Eine andere hysterische Diskussion haben wir im Zu- sammenhang mit den Nematoden in Fischen gehabt. Ein letztes Wort an Herrn Carstensen und Herrn Lassen Sie uns die Sachverhalte auseinanderhalten. Bredehorn: Alle Ihre Hinweise auf Forschungsbedarf in Ehren - Handeln ist das Gebot der Stunde. Sonst Ich sage Ihnen, trotzdem werden wir uns insbeson- bleibt uns bald wirklich nur noch die Rolle des Patho- dere mit dem Thema der zu hohen Nährstoffeinträge logen, der die Leiche seziert, um festzustellen, woran beschäftigen müssen. Denn natürlich führen diese der Patient gestorben ist. zur Bildung verstärkter organischer Substanz. Der kalte Winter hat dann wahrscheinlich zusätzlich sei- Danke schön. nen Teil dazu beigetragen und die Situation ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schärft. und bei der PDS sowie bei Abgeordneten- Wir wissen leider trotz der langen Forschungen, der SPD) die es gegeben hat, noch nicht ausreichend Bescheid über die Zusammenhänge in diesem hochsensiblen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Ökosystem. Parlamentarische Staatssekretär Walter Hirche. Ich denke, daß die Bundesregierung an Hand der Zahlen, die ich Ihnen nenne, nachweisen kann, wie Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- intensiv sie sich um dieses Thema gekümmert hat. Es ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- sind in den letzten Jahren viele Forschungsarbeiten cherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! durchgeführt worden. Es sind in den letzten Jahren Größe und Wachsen der schwarzen Flecken geben insgesamt 64 Millionen DM in das Forschungsvorha- Anlaß zu außerordentlicher Sorge um das Watten- ben „Ökosystemforschung Wattenmeer" geflossen. meer. Unter uns allen ist es gar keine Frage, daß Kon- Der Bund hat davon zwei Drittel der Kosten über- sequenzen gezogen werden müssen. Eine K rise, eine nommen. Speziell für die Untersuchung des Phäno- kritische Situation verlangt aber in besonderer Weise mens „schwarze Flecken" haben Bund und das Land sachliche Lösungen und nicht hysterische Beschrei- Niedersachsen bereits 2,5 Millionen DM eingesetzt. bungen und Forderungen nach blinden Aktionen. Zwei Tage, bevor die Mediendiskussion über die- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ses Thema begonnen hat, am 10. Juni dieses Jahres, hat sich der Bund auf Antrag Niedersachsens bereit Das um so mehr, als wir laut Zeitzeugen und dem erklärt, weitere 2 Millionen DM für eine Synthese der Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie wis- bisher gewonnenen Ergebnisse bereitzustellen. Nie- sen, daß schwarze Flecken auch in dieser Größenord- dersachsen stellt dafür zusätzlich 750 000 DM zur nung bereits unmittelbar nach dem Kriege in den Verfügung. Ein besonderer Schwerpunkt wird in die- Jahren 1947 und 1948 aufgetreten sind. Das ist keine sem Zusammenhang die nähere Untersuchung zur Beruhigung, wenn ich das sage; ich will das aus- Entstehung und zu den Wirkungen von schwarzen drücklich unterstreichen. Das, was wir jetzt erleben, Flecken bilden. ist vielmehr ein Zeichen für die schwierige und sensi- ble Situation im Wattenmeer. Wir halten auch dies insgesamt noch nicht für aus- reichend. Deswegen sind wir dabei, die Vorbereitun- Deswegen müssen wir uns intensiv mit den anste- gen für ein Fachsymposium in Deutschland mit inter- henden Fragen beschäftigen. Es ist aber nicht so - nationalen Experten über die Entstehung der wie eben von einigen Vorrednern gesagt worden ist -, schwarzen Flecken und natürlich Maßnahmen zur daß man schon alles darüber wisse. Natürlich wissen Verbesserung der Situation in der Nordsee insgesamt wir zum Beispiel, daß die Nährstofffracht viel zu zu treffen. hoch ist und daß wir dort etwas tun müssen. Wir können auf der einen Seite auf eine Bilanz ver- (Beifall des Abg. Dietmar Schütz [Olden weisen. Aber in einer solchen Situation nützen Bilan- burg] [SPD]) zen und Verweise auf Konferenzen, die stattgefun- - Herr Kollege Schütz, wir müssen unabhängig von den haben, auf Bücher, die veröffentlicht worden dem Thema schwarze Flecken etwas tun, weil wir sind, nichts. Tatsache ist, daß das Phänomen in die- 10080 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Pari. Staatssekretär Walter Hirche sem Jahr schlagartig in erheblich vergrößerter Di- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat mension aufgetreten ist. Aber wenn es so war, wie Kollege Klaus Lennartz, SPD. Zeitzeugen von 1947/48 sagen, (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr GRÜNEN]: Nicht in dieser Größe!) verehrten Damen und Herren! Unter dem Stichwort „Watt" findet sich im „Brockhaus" folgender Eintrag: muß festgestellt werden: Damals hat es die intensive landwirtschaftliche Bewirtschaftung überhaupt noch Das Watt hat eine reiche Mikrofauna, von der sich nicht gegeben, und es hat auch nicht die heutigen Würmer, Muscheln, Schnecken, Krebse und Fi- Einträge aus der Luft gegeben. sche nähren. An der deutschen Nordseeküste Wir wissen also, verehrter Herr Kollege Lippelt, wurden zum Schutz des reichen Lebensraumes über die Zusammenhänge noch nicht ausreichend drei Nationalparks eingerichtet. genug. Ich wiederhole, um Mißverständnisse zu ver- Wenn nationale und internationale Umweltschutz- meiden, daß uns diese Tatsachen in keiner Weise politik weiterhin so fahrlässig wie bisher bet rieben hindern sollten, sondern vielmehr ermutigen müssen, wird, werden solche Einträge schon bald aus den Le- jetzt daranzugehen, die engeren Zusammenhänge xika gestrichen werden müssen. aufzudecken. Genau zehn Jahre ist es her, daß der niedersächsi- Insgesamt kommt es auf folgende Punkte an. Er- sche Teil des Wattenmeeres zum Nationalpark er- stens: konsequente Umsetzung der Beschlüsse der 3. klärt wurde. Es steht zu befürchten, daß es in den und 4. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz. nächsten zehn Jahren keinen Grund mehr gibt, die- Das hat etwas mit Kläranlagen zu tun. Im Bereich ses weltweit einmalige Ökosystem zu schützen. Mitt- der Nordsee sind 30 Millionen Anwohner noch nicht lerweile nehmen die toten Zonen 20 Prozent der ge- an Kläranlagen angeschlossen. Es hat etwas mit der samten Fläche ein. Das entspricht einer Verdoppe- Entsorgung des auf Schiffen anfallenden Mülls auf lung in nur 14 Tagen. Das Artensterben ist kaum hoher See und, was Herr Bredehorn angesprochen noch aufzuhalten. Tier- und Pflanzenwelt faulen vor hat, den Möglichkeiten der Entsorgung für Schiffe- an sich hin. Das ist die Realität. Land zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Zweitens nenne ich die weitere Reduzierung der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nährstoffemissionen aus dem Bereich der Landwirt- schaft. Die Bundesregierung geht im Unterschied zu Dem Watt geht buchstäblich die Luft aus. Experten einigem, was Vorredner gesagt haben, davon aus, sind sich einig, daß sich nun jahrelanger Mißbrauch daß durch die Düngeverordnung vom Januar dieses rächt und zu schwarzen Flecken insgesamt von der Jahres die Nährstoffüberschüsse aus der landwirt- Größe Bremens führt. schaftlichen Produktion weiter deutlich abgebaut werden. Die Ursachen für den Kollaps sind seit langem, Herr Staatssekretär, geklärt. Ungeklärt aber bleiben Drittens muß die Fortsetzung des Ausbaus der drit- weiterhin die Abwässer. Ungeachtet aller Warnun- ten Reinigungsstufe mit dem Ziel einer flächendek- gen leiten die Europastadt Brüssel und die Großstadt kenden 50prozentigen Reduzierung der Nährstoff- Antwerpen Tag für Tag, Stunde für Stunde tonnen- fracht durch Kläranlagenbau gemäß der EU-Richtli- weise ungeklärte Abwässer in die Nordsee. nie „Kommunale Abwasserbehandlung" erfolgen. Ich denke, die Diskussion, die wir zum Teil streitig (Birgit Homburger [F.D.P.]: Unerhört!) mit einigen Ländern führen, hat gezeigt, daß man Die Wiederaufbereitungsanlage im englischen Sella- nicht einfach sagen kann, auf einer bestimmten Seite field belastet die Nordsee außerdem mit Radioaktivi- liege der Schwarze Peter. Wir wollen, daß diese Zeit- tät. Die hohe Schadstoffbelastung aus der Luft be- pläne eingehalten werden. steht nach wie vor. Viertens nenne ich die Aufgabe, die die Länder (Zuruf des Abg. Ku -Dieter Grill [CDU/ und Gemeinden haben: die Förderung des Baus und rt CSU]) Ausbaus von Kläranlagen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung - Herr Kollege Grill, zu Ihnen komme ich noch. - Die wird sich mit aller Intensität darum bemühen, aner- hohe Nährstoffbelastung durch Überdüngung in der kannte Erkenntnisse darüber, welches die Ursachen deutschen und europäischen Landwirtschaft raubt sind, auf den Tisch zu legen, in der Zwischenzeit dem Patienten Wattenmeer die letzte Überlebens- aber die Hände nicht in den Schoß legen, sondern in chance. den Punkten, die ich genannt habe, Maßnahmen er- Nun hoffen Experten auf eine neue Wetterlage, die greifen. Eines ist ganz selbstverständlich: Die Ver- das Watt mit Sauerstoff beleben soll. Meine Damen antwortung aller, ungeachtet, ob sie auf kommunaler und Herren, müssen wir auf besseres Wetter hoffen, Ebene, auf Landesebene oder im Bund Verantwor- damit unsere Meere und unsere Nordsee nicht ster- tung haben, für die Erhaltung des einzigartigen Öko- ben? Das darf doch wohl nicht wahr sein. systems Wattenmeer ist gegeben. Die Bundesregie- rung stellt sich dieser Verantwortung in vollem Um- (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Nein!) fang. Wir brauchen eine Veränderung in der politi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schen Großwetterlage. Schwarze Politik verursacht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10081 Klaus Lennartz schwarze Flecken, und die schwarze Politik wird von Wer schweigt, macht sich mitschuldig am Sterben der rechten Seite dieses Hauses gemacht. der Nordsee. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Meine Damen und Herren, wer aus der Nordsee ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Abfallgrube macht, darf sich nicht wundern, Ich frage Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Staatsse- wenn sie eines Tages auch so stinkt. Die Umweltpoli- kretär: Warum werden die auf der Nordseeschutz tik der Bundesregierung stinkt jedenfalls schon lange zum Himmel. Schwarze Politik - ich wieder- Konferenz von 1990 gefaßten Beschlüsse nicht um- gesetzt? Wo bleibt der Druck der Bundesregierung hole es bewußt - macht schwarze Flecken. Demzu- auf die europäischen Anrainerländer - auf England folge, meine Damen und Herren: Schwarz zu und auf die Niederlande - und auf die deutschen Schwarz! Bundesländer, diese Beschlüsse umzusetzen? Warum (Abg. Klaus Lennartz [SPD] stellt ein Glas sind die Schadstoff- und Nährstoffeintragungen nur mit Faulschlamm auf die Regierungsbank - um rund 20 Prozent statt auf die auf der Nordsee- Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schutz-Konferenz bis 1995 vereinbarten 50 Prozent DIE GRÜNEN - Walter Hirche [F.D.P.]: Und reduziert worden? Vielleicht weil die Devise dieser rote Politik produziert rote Zahlen!) Regierung lautet: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen? Wer national auf Stillstand im Umweltschutz setzt, verspielt international seine Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Glaubwürdigkeit und auch seine Möglichkeiten zur Kollege Norbe rt Rieder, CDU/CSU. politischen Einflußnahme. (Beifall bei der SPD) Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Im Umkreis der Nordsee leben - das haben Sie Kollegen! Es ist schon traurig, daß solche Debatten richtig zitiert, Herr Staatssekretär - zirka 30 Millionen im Plenum immer nach dem gleichen Schema ablau- Menschen ohne Kläranlagen. Nur, die Folgerungen fen: muß man erkennen: Druck muß ausgeübt- werden, und nicht einfach konsumieren und hinnehmen. Ar- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Es ist traurig, beiten muß man daran, daß dies verändert wird. Das daß es solche Debatten geben muß!) ist Ihre Aufgabe. Die Opposition fordert eine Aktuelle Stunde, wenn (Kurt-Dieter G rill [CDU/CSU]: Wie denn? die Presse irgendein Thema, das sie teilweise falsch Mal los!) darstellt, hochgekocht hat. Dann wird hier diskutiert nach dem Motto: Pinkeln wir der Regierung ans Es muß leider bezweifelt werden, daß die von der Bein! Es wird für uns - also die Opposition - schon EG-Richtlinie vorgesehene dritte Reinigungsstufe, etwas Gutes dabei herauskommen. Herr Staatssekretär, bei Kläranlagen bis zum Jahre 1998 überhaupt verwirklicht wird. Es reicht eben (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE nicht aus, Beschlüsse formal zu fassen, die in der Pra- GRÜNEN]: Gibt es die Sache nicht?) xis nicht umgesetzt, und, wenn doch, dann auch noch unzureichend kontrolliert werden. Es werden gleichzeitig noch Reden gehalten - ich will keinen Namen nennen -, bei denen außer der (Beifall bei der SPD) persönlichen Betroffenheit inhaltlich nichts zu Stuhle kommt. Auch das muß man leider sagen. Damit schutzbedürftige Gebiete wie das Watt nicht auf dem Opfertisch politischer Willenlosigkeit ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - schlachtet werden, muß die Bundesregierung end- Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Jetzt lich dem Vorsorgeprinzip Folge leisten. Schließlich kommen Sie mal inhaltlich zu Stuhle!) sind auch zirka 60 000 Arbeitsplätze gefährdet. Dazu wird meine Kollegin Mehl noch etwas sagen. Wenn dann noch Gläser mit Faulschlamm verteilt werden - etwas anderes ist es ja nicht - und so getan Die von Herrn Töpfer eingeführte Politik des Zö- wird, als sei das für das Wattenmeer etwas Besonde- gerns und Zauderns wird von Frau Merkel leider in res, dann stinkt die Ignoranz zum Himmel. Tradition fortgeführt. Statt zu schützen und zu erhal- ten, wird von Ihnen nur reagie rt und, wenn über- (Beifall bei der CDU/CSU - Gila Altmann haupt, repariert. [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Blinde von der Farbe reden!) Meine Damen und Herren von der Regierung, kommen Sie Ihrer Pflicht zur Berichterstattung und Ist dieses Problem wirklich ein Problem? Die Frage auch zur Aufsicht über unsere Länder, aber auch muß man stellen, denn Herr Hirche hat ausdrücklich über die europäischen Staaten nach. Nennen Sie gesagt, daß schwarze Flecken im Wattenmeer nichts schonungslos die Namen der europäischen, aber ganz Neues sind, sondern immer wieder in Genera- auch der deutschen Länder und der Städte, die die tionenabständen in erheblichem Ausmaße auftau- Auflagen, die wir im Deutschen Bundestag und auf chen. Länderebene beschlossen haben, umgehen. Keiner darf sich aus der Gesamtverantwortung zum Schutz (Dieter Schütz [Oldenburg] [SPD]: Nein! - der Nordsee stehlen. Kein einziger! Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Natürlich! Aber doch nicht in dieser (Beifall bei der SPD) Dimension!) 10082 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Norbert Rieder Deswegen wollen wir versuchen, uns das Ganze ein Sie sich die Klimadaten aus 1946/47 anschauen, bißchen sachlich anzuschauen. kommen Sie genau dahin.

(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Wir GRÜNEN]: Also los!) hatten auch später harte Winter!) - Harte Winter ja, aber keine Winter, wo es lange ge- Dazu wollen wir uns zuerst die diskutierten Fakto- froren hat und dies mit geringen Wasserbewegungen ren anschauen. Daß als wichtigster Faktor der Nähr- gekoppelt war. Das sind Faktoren der natürlichen stoffgehalt des Wattenmeeres diskutiert werden Art, die wir ins Kalkül ziehen müssen. muß, ist richtig und gut. Jetzt zu dem Nährstoffgehalt. Wir alle sind uns in (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE diesem Parlament einig, GRÜNEN]: Dann werden wir bis zum Tode diskutieren!) (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Hof fentlich!) Dabei müssen wir uns im klaren darüber sein, daß daß die Nährstoffgehalte, die in die Nordsee einge- gerade der große Nährstoffgehalt für unser norddeut- tragen werden, zu groß sind. Wir haben das oft ge- sches Wattenmeer das Typische ist. Denn wir haben nug diskutiert. Herr Schütz, Sie und jeder im Parla- extrem hohe Nährstoffgehalte, die dazu führen, daß ment - zumindest der, der im Umweltausschuß ist - wir im Wattenmeer überall, wo es typischerweise kennt dazu meine Ansicht. Ich glaube, daran können ausgebildet ist, in Normaljahren eine niedrige ober- Sie nicht allzuviel herumdeuteln. Wir müssen die ste Schicht haben, die sogenannte Oxidationszone, Einträge reduzieren. und darunter die Reduktionszone folgt, aus der Sie jedes Jahr immer beliebig viele Gläser von diesem (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Darin schwarzen Zeug abfüllen können. sind wir uns einig!)

(Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Aber Aber wir dürfen nicht der Bundesregierung die Vor- doch nicht in diesen riesigen Feldern!) würfe machen; denn die Bundesregierung hat mehr - als jeder europäische Staat, wahrscheinlich mehr als In diesem Jahr ist seit über einer Generation zum jeder andere Staat auf dieser Welt dazu beigetragen, erstenmal wieder das Phänomen aufgetaucht, daß daß diese Nährstoffeinträge in unsere Oberflächen- wir sehr große Flächen haben. Woran kann es liegen, gewässer reduziert wurden. außer am Nährstoffgehalt, der in großen Grenzen für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das Wattenmeer natürlich ist? Wir haben aus diesem Grund erst in der letzten Diskutiert werden unter anderem klimatische Fak- Woche einen Entschließungsantrag zum Wasser- toren - darauf ist schon eingegangen worden -, aber haushaltsgesetz angenommen, in dem wir gemein- auch Strömungsverhältnisse. Darauf ist noch nicht sam festgestellt haben, daß bei unseren kommunalen eingegangen worden. Wir hatten nämlich im vergan- Kläranlagen im Prinzip alle Wünsche erfüllt sind. Das genen Winter eine Saison mit außergewöhnlich ge- war ein gemeinsamer Entschließungsantrag. Auf die- ringen Wasserbewegungen, weil die üblichen Winde ser Basis sollten wir weiter arbeiten. bzw. Stürme sehr viel geringer ausgefallen sind als sonst. Der nächste Punkt ist -

(Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Sehr Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Dieser Punkt wohl!) muß allerdings Ihr letzter sein. Ich will niemandem zu nahe treten, aber in diesem Parlament bin ich garantiert der einzige Biologe, der Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): - daß wir eine sich jemals wissenschaftlich mit dem Wattenmeer be- Düngeverordnung haben, die seit diesem Frühjahr schäftigt hat. Das muß man auch in aller Deutlichkeit gilt und nun erst greifen muß. Sie wird hervorragend sagen. greifen. Damit wird sich auch der Zustand unserer Oberflächengewässer noch weiter verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank , Ich glaube, es gibt hier niemanden, der mir in diesem Punkt auch nur annähernd Nachhilfeunterricht ertei- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die len kann. Kollegin Ulrike Mehl, SPD. Zum Wattenmeer gehört nun einmal, daß durch diese Turbulenzen des Wassers in der winterlichen Ulrike Mehl (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Zeit - Herbst, Winter und Frühjahr - nicht nur die nen und Kollegen! Die abgestorbenen, schwarzen obersten Schichten des Wassers, sondern auch des Flecken im Wattenmeer machen es wieder einmal Schlicks durchwirbelt werden und dadurch die Oxi- deutlich: Schäden in einem Ökosystem - egal, ob es dationszone geschaffen wird. Wenn diese Turbulen- Wälder sind, die sterben, Gewässer, die umkippen, zen ausfallen, wird es zwangsläufig - das ist immer ob es der dramatische Verlust der Artenvielfalt oder so, wenn im Winterhalbjahr die Wasserbewegungen jetzt das flächenhafte Sterben des Wattenmeers ist - gering sind - zu schwarzen Flecken kommen. Wenn entstehen nicht plötzlich - das wurde schon einmal Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10083

Ulrike Mehl gesagt -, sondern in langen Zeiträumen. Umgekehrt kommt. Es gab schon einmal jemanden, der das for- gesagt: Wenn solche Schäden in langen Zeiträumen muliert hat. entstehen, kann man sie nicht plötzlich abstellen. (Beifall bei der SPD) Das ist völlig klar. Wir sind aber seit langen Jahren dabei, zu sagen, Als Resultat kommt heraus, daß wir angeblich alles worin die Fehler liegen. Das ist offenbar vergeblich geregelt haben. Aber das Gegenteil tritt ein: Wir ha- gewesen, trotz aller Beteuerungen, diese Schäden ben einen drastischen Artenrückgang, wir haben abzustellen. Es sind Schäden durch jahrelange Ober- eine dramatische Situation im Wattenmeer, wir ha- nutzung, Schadstoffbelastungen und Überdüngung. ben belastete Gewässer und und und. Das läßt sich der Reihe nach aufzählen, ohne daß jetzt die Welt un- Selbst wenn sich, Herr Kollege Carstensen, in der tergeht. Nur, es schönzureden, liebe Kolleginnen Landwirtschaft einiges geändert hat - das will ich gar und Kollegen, nicht bestreiten -, haben wir trotzdem noch die Dis- kussion, inwieweit sich die Landwirtschaft negativ (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Das hat doch auswirkt. Ich sage noch einmal, damit das ganz klar niemand gemacht!) ist: Es geht überhaupt nicht darum, irgendeine Be- rufsgruppe an den Pranger zu stellen, sondern zu sagen „Wir haben alles im Griff" und dann den darum, daß politische Entscheidungen getroffen wer- Herrn Flemming zu zitieren, das geht nicht. Was der den, die dazu führen, daß diese Berufsgruppe gar Herr Flemming da aufgeschrieben hat, finde ich un- nicht mehr an den Pranger gestellt werden kann. Es verantwortlich. kommt darauf an, daß sie nachhaltig wirtschaftet. Das ist jedenfalls mein Ziel. (Kurt-Dieter G rill [CDU/CSU]: Der ist aber Wissenschaftler, und zwar ein anerkannter!) (Beifall bei der SPD) So darf sich Wissenschaft nicht mißbrauchen lassen. Die Grundmisere des Natur- und Umweltschutzes wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Wir sind In der letzten Woche hat es eine Reihe von Wissen- im Moment noch nicht in der Lage, die komplexen- schaftlern gegeben, die zusammengesessen haben Wechselbeziehungen in Ökosystemen vollständig zu und sich die Köpfe darüber zerbrochen haben. Die verstehen. Das Schlimme ist, daß sehr häufig so ge- haben gesagt: Es läßt sich nicht bis zum letzten erklä- tan wird, als würden wir sie verstehen und als hätten ren, warum das aufgetreten ist. Nur eines ist klar: wir dazu auch gleich die Antworten. Das ist aber Maßgebliche Ursache ist der Nährstoffeintrag - das eben nicht der Fall. ist der entscheidende Faktor; Herr Kollege Rieder Das Wesentliche ist zwar bekannt, nämlich daß sagte das ja auch -, Ökosysteme Pufferkapazitäten und daß diese Puffer- kapazitäten Grenzen haben. Aber wir wissen nicht (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Ist er genau, wo die Grenzen sind. Auch wissen wir nicht auch! Da hat er recht! Wo er recht hat, hat genau, wann diese Grenzen überschritten sind. Auch er recht!) wissen wir nicht genau, was passiert, wenn wir die Grenzen überschritten haben. Deswegen ist in die- den zurückzuführen wir nicht geschafft haben. Da sem Fall Dramatik angebracht. Sind wir denn tat- nützen auch schöne Papiere nichts. sächlich auf dem Weg, die Pufferkapazität dieses Ich will dem Herrn Hirche ja gerne glauben, daß er Ökosystems zu überschreiten? Deswegen muß sofort sich das auf die Fahnen schreibt. etwas begonnen werden, auch wenn wir die Schä- den nicht unmittelbar beseitigen können. (Zuruf von der SPD: Aber die Fahne ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht alles!) DIE GRÜNEN) Aber ich möchte auch wirklich sehen, daß im Ergeb- Es müssen also Entscheidungen getroffen werden, nis das eintritt, was er sich auf die Fahnen geschrie- die es ermöglichen, den Nährstoffeintrag - die ben hat. Das sehe ich nicht. Hauptursache; das ist schon gesagt worden - zu reduzieren, und zwar sehr drastisch und nicht nur Deswegen fordere ich auch dazu auf, daß wir hier auf dem Papier. nicht einen Katastrophengewöhnungseffekt einrei- ßen lassen, sondern daß Umwelt- und Naturschutz Was ich langsam bis oben hin satt habe, sind die wirklich ernst genommen wird. Wenn ich mir Ihren Diskussionen, bei denen gesagt wird: Wir haben al- Gesetzentwurf zum Bundesnaturschutzgesetz an- les schön aufgeschrieben, wir haben inte rnationale gucke, dann sehe ich nicht, daß das ernst genommen Verträge, wir haben die Agenda 21 mit unterschrie- wird. ben, wir haben an der Umweltschutzkonferenz in Rio teilgenommen. Aber es wird nichts umgesetzt. Es (Widerspruch bei der F.D.P. - Dietmar steht alles wunderbar auf dem Papier. Schütz [Oldenburg] [SPD]: Er geht den Bay (Zurufe von der CDU/CSU) ern zu weit!) - So dumm bin ich nun auch nicht. Natürlich wird et Ich habe auch Herrn Gröbl eben beobachtet; da habe was umgesetzt. Aber man muß doch das, was hier ich ebenfalls nicht gesehen, daß das ernst genom- diskutiert wird, an dem messen, was dabei heraus men wird. 10084 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Ulrike Mehl Solange Sie das Signal geben, daß alles gar nicht möglicherweise wieder vor dem Problem einer Über- so schlimm ist, daß wir im Grunde a lles im Griff ha- population von Seehunden stehen. ben, müssen Sie sich diese Kritik gefallen lassen. (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Jawohl! (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Genau!) GRÜNEN und der PDS - Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Wir haben alles im Griff Dies, Frau Mehl, ist genau der Punkt, den ich Ih- auf dem sinkenden Schiff!) nen, Frau Altmann und vielen anderen zum Vorwurf mache, nämlich daß Sie eine Katastrophe herbeire- den, die nicht stattfindet, und damit langfristig beim Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Bürger den Eindruck erwecken, es sei eigentlich viel- Kollege Kurt-Dieter G rill, CDU/CSU. leicht gar nicht so schlimm, und man brauche sein Verhalten nicht zu verändern. (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Brennstäbe im Watten Den Gipfel der Unverfrorenheit hat heute eigent- meer!) lich Herr Lennartz geliefert. Herr Lennartz, der sich hier beredt so äußert, daß man gerade noch erken- nen kann, daß er von der Sache auch Ahnung hat, (CDU/CSU): Herr Präsident! Kurt-Dieter Grill der aber auch Polemik gegen die Bundesregierung Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr ge- richtet, ehrter Herr Fischer, ich will das ruhig einmal aufneh- men. Ich habe mich schon mit der Reinhaltung der (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE Nordsee beschäftigt, GRÜNEN]: Sie können nicht mal mehr die Bauern im Wendland überzeugen!) (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist aber nichts bei rausgekom hat da, wo er sozusagen nicht erwidern muß, nämlich men! - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND in einer Presseerklärung, ganz anderes gesagt. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es der Nordsee auch so schlecht!) Vielleicht vorweg, Herr Lennartz und Frau Mehl: - Es muß ja eigentlich erstaunen, daß wir dann, wenn da haben Sie noch in Hessen versucht, in Turnschu- wir über schwarze Flecken im Wattenmeer sprechen, hen Atomtransporte aufzuhalten oder so etwas ähnli- insbesondere über solche im niedersächsischen Wat- ches. Ich brauche diese Belehrungen nicht. tenmeer sprechen, während in den Bereichen des sonstigen Wattenmeeres die gleichen Erscheinungen Ich sage mal, Frau Mehl: Der Katastrophengewöh- nicht auftauchen. nungseffekt könnte genau in der Tatsache liegen, daß Ereignisse, deren Auswirkungen, deren Bilder (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Haben wir ja überhaupt nicht in Abrede stellen, von Ihnen Sie schon einmal etwas von Strömungen immer zur Katastrophe und sozusagen in die Nähe gehört? - Weitere Zurufe von der SPD) des Weltuntergangs geredet werden. Ich will Ihnen das am Beispiel der Robben nachweisen. - Warten Sie ab! Es kommt noch etwas dicker, Herr Lennartz. Die Backen nicht so weit aufblasen! Es (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ kommt gleich. DIE GRÜNEN]: Aha! Sie sehen aus wie der letzte Heuler!) Ich denke, daß es schon eine Erklärung dafür gibt, die von Wissenschaftlern geliefert wird, nicht von Po- In diesem Hause ist im Mai 1987 einstimmig eine litikern, nicht von der Bundesregierung. Wenn ich Resolution zur Umsetzung der Beschlüsse der Nord- mir meine Unterlagen, die von den Fachleuten der seeschutz-Konferenz verabschiedet worden. niedersächsischen Landesregierung zusammenge- stellt worden sind, durchlese, dann komme ich zu (Zuruf von der CDU/CSU: 10-Punkte-Pro dem Ergebnis, daß die Ursachen vielfältiger sind, als gramm!) Sie das heute in dieser vereinfachten und verein- - Das 10-Punkte-Programm. - Damals gab es auf den fachenden Art aus politischer Zweckmäßigkeit hier deutschen Fernsehschirmen keine toten Robben. dargestellt haben. Dann tauchten sie auf, und dann zogen einige in die- Ich lese in einer Tickermeldung: „ 13 Uhr 30, 16. 6. sem Hause, die gerade noch die Übereinstimmung 1996 - Fettiger Teppich vor Ostfriesland beeinträch- aller in den Vordergrund gestellt hatten, ihre Zustim- tigt Sauerstoffzufuhr." Eine der Erklärungen. mung zurück und behaupteten, daß jetzt alles viel dramatischer sei. Dann heißt es hier: (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Nach Meinung des SPD-Umweltexperten Klaus DIE GRÜNEN]: Der letzte Heuler!) Lennartz steht das Wattenmeer am Rande einer Katastrophe. Er gab vor allem Großbritannien die - Sehen Sie, Herr Fischer: Der letzte Heuler damals Schuld. war das Problem. Nur, Sie - wie viele in der Öffent- lichkeit und vielleicht auch in den Medien - haben Hier stellen Sie sich hin und tun so, als seien die überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, daß wir schwarzen Flecken ein Problem von Herrn Hirche, heute bereits wieder eine Population von 3 300 See- Frau Merkel und dieser Bundesregierung. Draußen hunden haben und daß es Experten gibt, die genau in der Öffentlichkeit geben Sie Großbritannien die das gleiche wie damals behaupten, nämlich daß wir Schuld. Dann fordern Sie - und darüber waren wir Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10085

Kurt-Dieter Grill uns ja, vor 14 Tagen im Umweltausschuß noch einig -, der Verantwortlichkeiten auf die Länder, ein bißchen daß der Deutsche Bundestag in Anbetracht der Ignoranz des Problems und auch - Herr Bredehorn, 30 Millionen Menschen, die noch nicht an eine Klär- das muß ich Ihnen sagen - ein Stück Selbstgerechtig- anlage angeschlossen seien, einen Weg finden keit. müsse, unsere europäischen Nachbarn davon zu (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Was?) überzeugen, ihrer Verpflichtung zur Nordseereinhal- tung genauso nachzukommen wie wir in Deutsch- Herr Kollege Grill, ich muß Ihnen schon sagen: Es geht in der Debatte niemandem darum, Katastro- land. phen herbeizureden. Mit Sicherheit nicht! Aber es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kann auch nicht angehen, daß Sie für eine Situation, wie sie jetzt im Wattenmeer entstanden ist, den Me- Dies war einstimmige Haltung im Ausschuß. Und dien die Schuld geben. dann schämen Sie sich nicht, hier herzugehen und eine solche Rede voller Polemik gegen diese Bundes- (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das habe ich regierung zu halten. doch nicht getan!) Es kommt noch viel schöner. Gleichzeitig heißt es Diese Aktuelle Stunde soll dazu beitragen, in der in dieser Meldung - Sie können sagen, daß die Jour- Sache ein Stückchen weiterzukommen. Vielleicht ist nalisten Sie falsch zitiert haben; das ist die berühmte das ja damals nach dem Robbensterben gelungen, Ausrede von uns allen -: als wir zunächst eine Problembeschreibung vorge- Gleichzeitig warf Lennartz der niedersächsischen nommen haben und dann vielleicht auch zu Problem- Umweltministerin vor, zu la- lösungen gekommen sind. Jedenfalls ist die Situation mentieren, aber die internationalen Abkommen der Robben besser geworden. selbst nicht umzusetzen. So dulde die SPD-Politi- Eines ist Tatsache: Das Wattenmeer ist in Gefahr. kerin, daß Cuxhaven den Bau einer dritten Klär- Die Fachleute vor Ort sprechen davon, das Abster- stufe zurückgestellt habe und die Bauern die Bö- ben großer Teile des Wattenmeeres - wie das mein den überdüngten. Kollege Schütz schon gesagt hat - sei „erschreckend - einmalig". Herr Kollege Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Tatsache ist aber auch, daß die völlig unzurei- Grill, Sie müssen zum Schluß kommen. chende Gewässerschutzpolitik der Bundesregierung und der europäischen Nordseeanlieger - Herr Kol- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Herr Lennartz - da- lege Grill, ich komme darauf noch einmal im Detail -, mit kann ich auch zum Schluß kommen, weil sich das insbesondere Belgiens und Großbritanniens, kata- übrige in der Debatte schon widergespiegelt hat -, strophale Folgen für das Öko-System Nordsee hat. Sie gehören genauso wie Frau Altmann und Frau Noch immer gibt es viel zu hohe direkte und diffuse

Lengsfeld zu denjenigen, die „Feuer!" rufen und un- Schad - und Nährstoffeinträge in die Gewässer aus fähig sind, den Brand zu löschen. Sie haben in dieser der Landwirtschaft, der Industrie und durch den Debatte nicht einen einzigen konstruktiven Vor- Autoverkehr. Wir können es hier nicht wegleugnen, schlag gemacht. verehrter Herr Kollege Bredehorn: Die Stickstoffein- träge sind die Hauptursache dessen, was jetzt im (Lachen bei der SPD - Detlev von Larcher Wattenmeer an Negativem passiert. [SPD]: Aber Sie!) - Wir haben diese Debatte in dieser Form nicht ge- (Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: Das ist einfach so!) wollt. Das ist nicht der Punkt. Sie haben die Regierung kritisiert, aber in dieser Natürlich kann man zu diesen Problemen eine et- Debatte ist nicht deutlich geworden, welche Alterna- was merkwürdige Verteidigungshaltung einnehmen, tiven Sie zur Lösung des Problems vorschlagen. Au- wie es die Bundesregierung in vielen Fällen tut; aber ßer Polemik und Horrorszenarien haben Sie nichts das lenkt nicht von der Tatsache ab, daß der Gewäs- geboten. Das ist die Realität dieser Debatte. serschutzbericht der EU auch der Bundesrepublik in punkto Gewässerschutz nicht gerade hervorragende (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Noten gegeben hat. Dies bestätigt im übrigen auch Klaus Lennartz [SPD]: Das Schwarze sind der Bericht der EU über die Qualität der Badegewäs- die Buchstaben, Herr Kollege! - Dietmar ser. Seit Jahren, Herr Kollege Grill, fordern wir Sie Schütz [Oldenburg] [SPD]: Die Nährstoff auf, einen vorsorgenden - ich lege jetzt ganz bewußt fracht muß reduziert werden, das ist der die Betonung auf Vorsorgen - Gewässer- und Mee- Punkt!) resschutz bei uns in Deutschland und auch in der EU durchzusetzen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Sie aber tun exakt das Gegenteil. Wir haben in der Kollegin Susanne Kastner, SPD. letzten Woche - Herr Kollege Rieder, da haben Sie natürlich recht: Es war schade, daß die Diskussion Susanne Kastner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- zum Wasserhaushaltsgesetz mitten in der Nacht war - leginnen, liebe Kollegen besonders von den Unions- im Rahmen der Novellierung des Wasserhaushalts- fraktionen! So habe ich mir die Diskussion vorge- gesetzes über Deregulierungsmaßnahmen im Inter- stellt. Sie ist so nach dem Motto gelaufen: verharmlo- esse der Industrie- und der Landwirtschaftslobby dis- sen, ein bißchen vertuschen, dann noch abschieben kutiert. Sie haben dann bei der Abstimmung zum 10086 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Susanne Kastner Wasserhaushaltsgesetz eine Abschwächung der An- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Aktuelle forderungen an die Abwasserreinigung herbeige- Stunde ist beendet. führt. Statt weniger also noch mehr Schadstoffein- träge in die Nordsee! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: (Birgit Homburger [F.D.P.]: Das ist doch überhaupt nicht wahr! Das ist doch nicht Beratung des Antrags der Abgeordneten Hart- richtig!) mut Koschyk, Andreas Krautscheid, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Frakti- Wir alle miteinander haben uns schon ein paarmal on der CDU/CSU, der Abgeordneten Volker über Gerichte geärgert. Aber es ist doch gut, daß es Neumann (Bramsche), Rudolf Bindig, Freimut noch Gerichte gibt, die falsche Entscheidungen der Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Politik korrigieren. der SPD, der Abgeordneten Gerd Poppe, Wolf- gang Schmitt (Langenfeld) und der Fraktion (Beifall bei der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abge- Der Europäische Gerichtshof hat dies in dieser Wo- ordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Burk- che getan und die vom Agrarministerrat beschlos- hard Hirsch, Uwe Lühr, weiterer Abgeordneter sene Pflanzenschutzrichtlinie für nichtig erklärt, weil und der Fraktion der F.D.P. diese Richtlinie den Gewässerschutz nicht ausrei- Die Menschenrechtssituation in Tibet verbes- chend gewährleistet. Ich muß Ihnen sagen, liebe Kol- sern leginnen und Kollegen von der Union: Da war Ihre Unterstützung gleich Null, ja, sie ging ins Minus. Ich - Drucksache 13/4445 - bin jedenfalls froh, daß das Europäische Parlament - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind anders als die Bundesregierung - Klage gegen diese für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Richtlinie eingereicht und den Prozeß gewonnen hat. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen. Frau Merkel, Ihnen muß ich sagen, ein „Ich bin entsetzt über die Situation" reicht nicht aus, wenn Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- Sie nicht endlich in der Sache die Konsequenzen aus lege Hartmut Koschyk, CDU/CSU. solchen Umweltkatastrophen ziehen. Schützen Sie endlich die Gewässer, statt die Anforderungen im- Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Herr Präsident! mer weiter zurückzuschrauben! Herr Kollege Hirche, Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Neun Jahre sind Sie wissen doch genausogut wie ich, daß die Dünge- vergangen, seitdem im Deutschen Bundestag zuletzt mittelverordnung, die Sie verabschiedet haben, viel ein interfraktioneller Antrag von CDU/CSU, SPD, zu kurz gesprungen ist, um einen wirksamen Schutz F.D.P. und den damaligen Grünen über Menschen- zu bieten. rechtsverletzungen in Tibet eingebracht, debattiert (Beifall bei der SPD) und verabschiedet worden ist. Ein Vergleich des For- Es wurde vorhin schon davon gesprochen, daß der derungskataloges des seinerzeitigen Antrages von 1987 und des heute vorliegenden interfraktionellen Tourismus eine der Haupteinnahmequellen an den deutschen Küsten ist. Wenn Sie, meine lieben Kolle- Antrages von CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/ Die Grünen zeigt, daß sich die menschenrechtliche ginnen und Kollegen, den Menschen do rt ihre Ar- beitsplätze und den Gastwirten und Hoteliers sowie Situation in Tibet in diesen neun Jahren leider nicht verbessert, ja, in vielen Bereichen sogar verschlech- dem Mittelstand die wirtschaftliche Basis erhalten wollen, dann müssen Sie, liebe Frau Merkel, und Sie, tert hat. liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, sich (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Leider schon ein bißchen intensiver mit dem Phänomen der wahr!) schwarzen Flecken im Wattenmeer auseinanderset- zen. Der Deutsche Bundestag, aber auch die Bundesre- gierung haben sich vielfach zum Anwalt des tibeti- Aber, Frau Kollegin Altmann, eines muß ich Ihnen schen Volkes, vor allem seiner Menschenrechte, der auch sagen: Wenn Sie hier ein Horrorszenario auf- Erhaltung seiner Kultur und Religion gemacht. Das führen, dann tun Sie dem Tourismus in Ihrem Ost- religiöse Oberhaupt der Tibeter, der Dalai-Lama, ge- friesland keinen Gefallen. Das wird nämlich dazu nießt in Deutschland großes Ansehen. Sein Ringen führen, daß die Touristen in diesem Bereich ebenfalls um den Erhalt der kulturellen und religiösen Identi- wegbleiben. tät seines Volkes findet gerade bei unseren Mitbür- gerinnen und Mitbürgern viel Zustimmung. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin Kastner, Sie müssen zum Schluß kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Susanne Kastner (SPD): Ich weiß. - Ein bißchen Deshalb ist es sicher gut, daß der Deutsche Bun- Betroffenheit und ein paar schöne Worte zum Gewäs- destag fraktionsübergreifend erneut zur Verbesse- serschutz reichen da nicht aus. Jetzt muß gehandelt rung der Menschenrechtssituation in Tibet Stellung werden - und meines Erachtens dringend. nimmt und dabei seinen Spielraum, der im Vergleich zu dem der Bundesregierung größer ist, voll nutzt. (Beifall bei der SPD) Die fraktionsübergreifende Befassung mit der Men- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10087

Hartmut Koschyk schenrechtslage in Tibet kann nicht positiv genug Auch die beabsichtigte Reise des Unterausschus- bewertet werden, weil die Botschaft an den Adressa- ses Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deut- ten, die Volksrepublik China, dann um so überzeu- schen Bundestag nach China und Tibet sollte einzig gender wirkt. und allein dem Ziel dienen, sich vor Ort selbst ein Bild zu machen und mit der chinesischen Seite vor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ort den Dialog zu führen, um ihr die Gelegenheit zu und der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE geben, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Denn, ver- GRÜNEN) ehrte Kolleginnen und Kollegen, jeder, der prakti- sche Verbesserungen der menschenrechtlichen Lage Das heißt aber auch, meine verehrten Kolleginnen in Tibet erreichen will, muß sich darüber im klaren und Kollegen, daß man bei so sensiblen Themen sein, daß dies nur mit und nicht gegen die chinesi- nicht auf eine innenpolitische Vorteilsnahme setzt. sche Seite geschehen kann.

( [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Dies ist im übrigen auch die Auffassung des Dalai Lama, der in einem Interview in der „Frankfu rter Ich sage ganz offen: Ich hatte in der vergangenen Rundschau" vom 14. Juni - also kurz vor der Tibet Woche den Eindruck, daß manchem Mitglied dieses Konferenz in der vergangenen Woche - davon abge- Hohen Hauses nicht so sehr an einem einvernehmli- raten hat, China politisch zu isolieren, um Zuge- chen Tibet-Antrag des Deutschen Bundestages, son- ständnisse in der Frage der Menschenrechte zu errei- dern viel mehr an einer Erschütterung der Koalition chen. und an einer Beschädigung des Bundesaußenmi- nisters gelegen war. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Günter Verheugen [SPD]: Das kommt doch China, so der Dalai-Lama, könne nur auf dem Weg aus den eigenen Reihen, oder nicht?) des Dialogs dazu gebracht werden, sich bei den Menschenrechten und in der Tibet-Frage zu bewe- Das hat der Sache leider nicht gedient. gen. Er fuhr fort: In einem „freundschaftlichen - Klima" müsse China unmißverständlich deutlich ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) macht werden, „was Recht und was Unrecht ist".

Ich kann für die Fraktion der CDU/CSU sagen: Der Genau diesem Ziel und dieser Intention dient der heute vorliegende interfraktionelle Antrag steht nach vorliegende Antrag, der die menschenrechtliche unserer Überzeugung nicht im Gegensatz zur China Lage in Tibet sowie die Bewahrung der tibetischen Politik der Bundesregierung, die von unserer Frak- Kultur und Religion in den Mittelpunkt stellt. Er stellt tion nachhaltig unterstützt wird. die territoriale Integrität Chinas in keiner Weise in Frage und wirft auch nicht die Problematik des völ- Das innenpolitische Hickhack um diesen Tibet-An- kerrechtlichen Status von Tibet auf. Damit stimmt er trag in der vergangenen Woche widerstrebt im übri- auch wieder mit der Intention des Dalai-Lama über- gen auch den Berichterstattern der diesen Antrag ein, der gerade bei der Konferenz am vergangenen einbringenden Fraktionen, Wochenende in Bonn - wie übrigens auch bei der Bundestagsanhörung 1995 und in seiner Rede vor (Beifall der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer dem Europäischen Parlament in Straßburg 1988 - [F.D.P.]) deutlich gemacht hat, daß seine Hauptsorge der Er- haltung tibetischer Kultur und Religion gilt, daß er die auch den Sprecherrat der interfraktionellen keine separatistischen Tendenzen verfolgt und fest Arbeitsgruppe Tibet des Deutschen Bundestages auf einen Dialog und eine Kooperation mit China bilden. Es zeichnet diese interfraktionelle Gruppe, durch seine „Politik des mittleren Weges", wie er es die seit 1990 im Deutschen Bundestag arbeitet, aus, nennt, setzt. daß sie vielfach im stillen und geräuschlos versucht, für das deutsche Parlament einen Beitrag zur Verbes- (Beifall des Abg. Ul rich Heinrich [F.D.P.]) serung der menschenrechtlichen Lage in Tibet zu leisten. Deshalb bedauern wir die jüngsten Ang riffe und Vorwürfe von chinesischer Seite gegenüber dem Da- Niemand kann und will die Augen davor verschlie- lai-Lama, die offenbar darauf abzielen, seine Stel- ßen, daß dieser Antrag, mit dem wir uns heute befas- lung als religiöses Oberhaupt der Tibeter zu erschüt- sen, die Beziehungen der Bundesrepublik Deutsch- tern. Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, daß land zur Volksrepublik China außerordentlich be- sie mir durch Staatsminister Hoyer auf eine schriftli- rührt. Deshalb sage ich für meine Fraktion ganz che Anfrage im Hinblick auf diese jüngsten Angriffe deutlich: Dieser Antrag ist aus unserer Sicht ein An- gegen den Dalai-Lama in der vergangenen Woche gebot an die chinesische Seite, mit dem Deutschen mitgeteilt hat, daß sie den chinesischen Vorwurf, der Bundestag, aber auch mit der Bundesregierung den Dalai-Lama betreibe die Abspaltung Tibets und Dialog über die Tibet-Problematik zu führen. Dieser schüre eine Unabhängigkeitsbewegung in Tibet, für Antrag stellt nicht die Ein-China-Politik der Bundes- ungerechtfertigt hält. regierung in Frage, zu der sich unsere Fraktion aus- drücklich bekennt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 10088 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Hartmut Koschyk Staatsminister Hoyer erklärte in der Regierungsant- Wir erachten es für höchst bemerkenswe rt, daß die wort, daß die Bundesregierung chinesische Seite trotz harscher Kritik an der Verab- schiedung dieses Antrages im selben Atemzug von die chinesische Regierung wiederholt dazu auf- aktiven Besuchsvorbereitungen in Peking gespro- gefordert chen und den Besuch des Außenministers unverän- hat, dert begrüßt hat. Die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls dankt dem Bun- den unterbrochenen Dialog mit dem Dalai-Lama desaußenminister, daß er trotz des bevorstehenden wiederaufzunehmen. Dieser Dialog müßte insbe- EU-Gipfels in Florenz demonstrativ an dieser Tibet sondere geführt werden über die Ausgestaltung Debatte des Deutschen Bundestages teilnimmt und einer Autonomie, die die Tibeter ihre Zugehörig- damit seine Zustimmung zu diesem Antrag unter- keit zum chinesischen Staatsverband nicht als streicht. Wir meinen: Mit einer großen, sachlichen Bedrohung ihrer ethnischen, kulturellen und reli- giösen Eigenständigkeit empfinden ließe. Gemeinsamkeit von Parlament und Regierung in die- ser Frage leisten wir für mehr Menschenrechte und Genau diese Politik der Bundesregierung findet für die Rettung und Bewahrung von Kultur und Reli- durch den heute zu verabschiedenden Antrag die gion in Tibet den besten Beitrag, den wir als deut- Unterstützung des Deutschen Bundestages. sches Parlament dazu leisten können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. [Wies Auch wir appellieren an die Regierung der Volksre- loch] [SPD] und der Abg. Dr. publik China, positiv auf die Bemühungen des Dalai [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lama um einen konstruktiven Dialog zu reagieren. China hatte ja auch seinerzeit auf die Rede des Dalai-Lama vor dem Europäischen Parlament 1988 Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der und auf seine darin enthaltenen Vorschläge für die Kollege Volker Neumann, SPD. Zukunft Tibets mit Dialogbereitschaft reagiert.- Für 1989 waren bereits Gespräche zwischen der tibeti- Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Herr Präsident! schen und der chinesischen Seite in Genf angesetzt, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich zu Be- die dann jedoch an chinesischen Einwänden gegen ginn zu sagen: Solange wir können, sollten wir versu- die Zusammensetzung der tibetischen Delegation chen, in Menschenrechtsfragen eine weitgehende scheiterten. Ich möchte auch an die im Frühsommer Übereinstimmung zwischen Opposition und Regie- 1992 begonnenen Gespräche erinnern, in deren Ver- rung zu bewahren. lauf die chinesische Seite zehn Vorschläge über die Zukunft Tibets als Diskussionsgrundlage unterbreitet (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem hat. Ich vermag nicht zu erkennen, daß der Dalai BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Lama der chinesischen Seite einen Vorwand gege- - Bundesminister Dr. Klaus Kinkel: Sehr ben hat, jetzt nicht auf Dialog, sondern auf Konfron- schönt) tation und Agitation zu setzen. Unsere Stärke in diesem Bereich ist die gemeinsame (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Grundüberzeugung, daß die Menschenrechte, so wie ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ sie in den Dokumenten der Vereinten Nationen nie- DIE GRÜNEN) dergelegt worden sind, universell gelten. Das bedeu- tet: Die Einforderung der Menschenrechte ist keine Um so wichtiger ist es, daß wir heute als Parlament Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines in Gänze, aber auch in Übereinstimmung mit der Staates. Bundesregierung an die chinesische Seite appellie- ren, nicht länger einen Dialog über die Verbesse- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem rung der menschenrechtlichen Lage in Tibet zu ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) weigern. Dies liegt auch im chinesischen Interesse, Auch wir Deutschen selbst verdanken Menschen- zumal die chinesische Seite damit rechnen muß, daß rechte und Demokratie bei uns der Einmischung von das politische Interesse an dieser Thematik, die welt- außen. Klar und einfach hat das Heinrich Böll so aus- weite Sympathie der Menschen gegenüber dem Rin- gedrückt: „Menschenrechte sind Einmischung". Das gen des tibetischen Volkes, seine kulturelle und reli- bedeutet nicht, daß wir uns in der Frage nach dem giöse Identität zu wahren, und damit auch der Druck besseren Weg bei der Durchsetzung der Menschen- auf die internationale Staatengemeinschaft, sich mit rechte nicht auseinandersetzen. Wenn es notwendig dieser Problematik zu befassen, eher zunehmen als ist, werden und müssen wir die Bundesregierung abnehmen werden. auch kritisieren. (Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜND Leider ist im Vorfeld der Diskussion um den inter- NIS 90/DIE GRÜNEN]) fraktionellen Antrag zu der Menschenrechtssituation In diesem Sinne ist nach unserer Auffassung die in Tibet ein diffuses Bild der Regierungspolitik ent- bevorstehende Reise des Bundesaußenministers standen; Konzeptionslosigkeit und Wankelmut zeich- nach Peking von großer Bedeutung. nen die China-Politik aus. Leider entsteht in der Öf- fentlichkeit der Eindruck, die Menschenrechtspolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gegenüber China werde Wirtschaftsinteressen ge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10089

Volker Neumann (Bramsche) opfert. Leider will es scheinen, daß innerparteiliche genüber einem demokratischen Parlament keinen Rangeleien in der F.D.P. Erfolg haben. (Dr. [F.D.P.]: Das gibt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne es bei uns nicht!) ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.) oder Differenzen zwischen Bundeskanzler und Au- ßenminister einem Drehbuch entstammen, das allen Auch die Absage der Reise von Mitgliedern des Menschen hilft, nur nicht denen, um die es geht: den Unterausschusses Menschenrechte ist eindeutig Tibetern. durch diesen Antrag begründet. Die chinesische Bot- schaft hat die Erteilung der Visa von dieser Debatte Für all diejenigen, denen das Schicksal Tibets am abhängig gemacht. Wäre es nicht richtiger gewesen, Herzen liegt - man darf die Zahl derer in Deutsch- die Abgeordneten vor Ort die Ergebnisse der Sach- land nicht unterschätzen -, kann die Konfusion auf verständigenanhörung überprüfen zu lassen? So seiten der Regierung nur dep rimierend sein. wird nun der Eindruck bestätigt, daß das, was die Trotz dieser wechselhaften Vorgeschichte des in- Sachverständigen gesagt haben, richtig ist und die terfraktionellen Antrags müssen wir dringlich zu Chinesen etwas zu verbergen hätten. einer gemeinsamen Grundlage in der Menschen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der rechtspolitik zurückfinden. Diese kann allerdings nicht so aussehen: Augen zu und durch - und dann F.D.P.) in die Parlamentsferien! Sie muß ernsthaft von der Es ist schon schlimm genug, daß die Bundesregie- rt für Regierung eingefordert werden. Wir müssen Wo rung den Eindruck nicht vermeiden konnte, sich mit ernst nehmen, was in dem Antrag steht, und Wort ihrer Willfährigkeit gegenüber China zum verlänger- dürfen keine halbherzigen Beschlüsse fassen. ten Arm der Regierenden do rt zu machen. Das sind Ich darf zu der Vorgeschichte des Antrags unmiß- jene Machthaber, die Tibet militärisch besetzt halten, verständlich feststellen, daß mittelbar nicht nur das die für die Unterdrückung der Tibeter und die Zer- Auswärtige Amt mit Ratschlägen an der Formulie-- störung ihrer Kultur und ihrer Umwelt verantwort- rung beteiligt war, sondern auch das Bundeskanzler- lich sind. Eine solche Regierung würde sich in den amt. Ein Beauftragter des Bundeskanzlers hat sich, Dienst derjenigen stellen, die den sechsjährigen wenn man dem „Focus" glauben darf, stundenlang Pantschen-Lama gefangenhalten und für den Tod um den Antrag bemüht. Die Kollegen der CDU ha- ungezählter Tibeter verantwortlich sind. ben im Wissen um die Menschenrechtslage in Tibet Änderungswünschen widerstanden. Der Ihnen vorliegende Antrag basiert auf den Er- kenntnissen einer Sachverständigenanhörung im (Beifall bei der SPD) letzten Jahr. Sie führte uns drastisch vor Augen, wie schlimm die Menschenrechtslage und die ökologi- Wenn also die eine oder andere Formulierung erst sche Situation in Tibet sind. Vor allem wurde uns heute kritisiert wird, so kann dies nur auf ein Verse- klar, wie sehr die tibetische Kultur von der Vernich- hen zurückzuführen sein - was verzeihbar wäre - tung bedroht ist und wie sehr die Zeit drängt, dem oder auf äußere Einflüsse - was zu hinterfragen entgegenzuwirken. wäre. Damit meine ich, daß die chinesische Botschaft offenkundig in seltsamer Weise über jeden Schritt Durch massenhafte Einwanderung werden Tibeter bei der Formulierung der Resolution informiert ge- von den Chinesen in ihrer angestammten Heimat wesen ist und wohl auch Gelegenheit zur Kommen- verdrängt. Heute wohnen schon mehr Chinesen in tierung hatte. Sollte dies zutreffen, dann hätte die Tibet als Tibeter. Viele Tibeter sind nach den un- Bundesregierung selbst eine skandalöse „Einmi- menschlichen Militäraktionen im Jahr 1950 und den schung von außen" zugelassen. massiven Menschenrechtsverletzungen bereits in an- dere Länder geflüchtet. Weitere flüchten täglich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Die Unterdrückung der Kultur geschieht durch Müller [Berlin] [PDS]) massive Gewaltanwendung, wie erst kürzlich wieder im Fernsehen zu sehen war. Als Mönche sich wei- Man kann und muß sich um gute Beziehungen zu gerten, die Bilder ihres religiösen Oberhauptes, des China bemühen; aber man muß nicht alles tun, was Dalai-Lama, abzuhängen, wurden sie von den Solda- China verlangt. ten verprügelt. Die sonst atheistische, kommunisti- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sche Regierung in Peking mischt sich aus politischem ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kalkül in rein religiöse Angelegenheiten ein. Sie und der PDS) maßt sich an, den Pantschen-Lama, den höchsten Würdenträger nach dem Dalai-Lama, auszuwählen. Es geht mir entschieden zu weit, wenn jetzt schon in Dabei wendet sie angeblich sogar lamaistische Ri- Peking entschieden wird, ob und in welcher Fassung tuale an. Der kleine Junge, der vom Dalai-Lama als hier eine Tibet-Resolution vorgelegt und verabschie- Inkarnation des verstorbenen Pantschen-Lama iden- det wird oder ob eine Tibet-Konferenz Zuschüsse der tifiziert wurde, ist kurzerhand entführt worden. Er deutschen Regierung erhält. Niemand spricht der wird versteckt. „Als hätte Castro den Papst be- chinesischen Regierung das Recht ab, ihre Meinung stimmt" , titelte die „Frankfu rter Rundschau" sehr zu sagen. Mit Drohungen aber darf und wird sie ge treffend. 10090 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Volker Neumann (Bramsche) In Tibet sind Religion und Kultur besonders eng ob das nachgiebige Verhalten der Bundesregierung miteinander verwoben. Indem die Chinesen die Reli- oder anderer europäischer Regierungen angesichts gion unterdrücken, weil sie do rt Widerstandspoten- der - zumindest verbal - rücksichtslosen Bereitschaft tial vermuten, unterdrücken sie auch die Kultur. Kul- der chinesischen Regierung, ihre eigenen Interessen tureller Völkermord ist dafür die richtige Bezeich- durchzusetzen, noch angemessen ist. nung. Die Chinesen haben im übrigen längst durch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaut, daß sich bei vielen hinter der Überreichung DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der von Namenslisten von politischen Gefangenen oft CDU/CSU und der F.D.P.) nicht viel mehr als ein Ritual verbirgt. Sie nutzen ihre Position als umkämpfter Markt rücksichtslos aus: für Hier zerstört ein großes Volk mit 1,3 Milliarden Men- die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für au- schen ein kleines mit 5 Millionen Menschen, und die ßenpolitische Interessen. Sie wissen, daß westliche Welt schaut weitgehend tatenlos und - wie es Staaten und Unternehmen konkurrieren. Sie spielen scheint - hilflos zu. gekonnt Staaten untereinander aus wie auch Unter- nehmer gegen ihre Regierung. Der wi rtschaftliche Der Dalai-Lama bietet seit Jahren an, mit China zu Konkurrenzkampf findet ohnehin statt. Aber müssen verhandeln oder wenigstens einen offenen Dialog zu wir uns auch noch in einen Wettlauf der politischen führen. China verweigert sich kompromißlos diesem Gefälligkeiten begeben? Ansinnen, solange der Dalai-Lama nicht die gegen- wärtige Lage in Tibet anerkennt. Dabei hat der (Beifall bei der SPD) Dalai-Lama eine Forderung nach Unabhängigkeit für Tibet nicht erhoben. Er will ohne Vorbedingun- Wenn man die Außenpolitik der Wirtschaft bedin- gen Gespräche führen. - Dies ist nach unserer An- gungslos unterordnet, wird man erpreßbar. Oft habe sicht eine gerechtfertigte Forderung. - Er würde ein ich den Eindruck, daß die Bundesregierung dieses Verbleiben Tibets im chinesischen Staatsverband nicht beachtet. Was bringt übrigens eine solche Poli- selbstverständlich akzeptieren, wenn er damit mehr tik? Bringt sie die erwünschten Wirtschaftserfolge? Sicher, die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands zu Rechte für das tibetische Volk und den Erhalt- der ti- betischen Kultur sichern könnte. China sind ganz gut. Aber wären sie weniger gut, wenn man die wegen der Menschenrechtsfrage oder Natürlich gibt es Streit unter den Völkerrechtlern der Situation in Tibet bestehenden Konflikte mutiger über den völkerrechtlichen Status Tibets. Das ist bei ansprechen würde? Wäre eine klare und unmißver- Juristen so Brauch. Ich als Ju rist bin zu der Auffas- ständliche Sprache in Fragen der Demokratie und sung gekommen - wie der Wissenschaftliche Dienst der Menschenrechte abträglich? des Deutschen Bundestages und anders als das Aus- Betrachten wir uns doch einmal die Großaufträge wärtige Amt -, daß Tibet juristisch nie ein Teil Chinas und Investitionen: Trotz des Besuches des Bundes- war. kanzlers in einer chinesischen Kaserne im letzten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des November war der wirtschaftliche Erfolg der China BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Reise eher mäßig. Firmenabkommen im Werte von 2 Milliarden DM seien abgeschlossen worden, hieß es Die Formulierung im Antrag, daß „unter den Sach- auf deutscher Seite. Auf der chinesischen Seite hieß verständigen der völkerrechtliche Status Tibets strei- es: 821 Millionen Dollar. Viele davon waren nur Ab- tig geblieben ist," entspricht also der juristischen sichtserklärungen, mehr nicht. Und wir wissen, daß Lage. Dennoch wollen wir, will die SPD an der Ein- Vertreter der deutschen Airbus-Indust rie mit dem China-Politik festhalten. Sie geht davon aus, daß Ti- Kanzler in China waren. Der Vertrag über die Liefe bet heute zum chinesischen Staatsverband gehört. rung wurde aber in Paris unterzeichnet. Was hat also Ich kann in dieser Frage im übrigen auf den Dalai der Besuch beim Militär erbracht? Ist nicht der Demo- Lama und seine religiösen und politischen Mitstreiter krat Wei Jingsheng unmittelbar nach Abreise des verweisen, die nicht die Unabhängigkeit, sondern Kanzlers wieder verhaftet und verurteilt worden? Für nur die kulturelle Autonomie gefordert und die Chi- mich ist es fraglich, ob politisches Wohlverhalten die nesen als „Brüder und Schwestern" bezeichnet ha- Wirtschaftsbeziehungen wirklich entscheidend för- ben. Die Aufregung um den Begriff „Exilregierung" dert. Aus Wirtschaftskreisen jedenfalls hört man, was ist daher nicht ganz verständlich. in China zählt: nämlich der Preis und die Ware. Politi- sche Dreingaben nimmt China gerne mit, sie sind Im übrigen wurde über den Antragsentwurf offen- aber nicht Bedingung. sichtlich im Kanzleramt mit Vertretern der chinesi- schen Botschaft diskutiert, ohne daß diese Formulie- Vergleichen wir doch einmal international: Bei den rung moniert worden ist. Sie entspricht im übrigen begehrten Direktinvestitionen in China zum Beispiel auch der Formulierung des Europäischen Parla- liegt Deutschland in Europa nicht auf Platz eins, ob- ments, des Kongresses der USA und anderer Parla- wohl der Kanzler und die Bundesregierung China mente. Es ist also müßig, über etwas zu diskutieren mit soviel Wohlwollen begegnen. England schloß und zum Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu 1993 Verträge über Direktinvestitionen mit einem machen, was selbst die Chinesen nicht beanstandet doppelt so hohen Volumen wie die Bundesrepublik haben. ab - und das trotz des damals schwelenden und auch heute noch nicht ausgestandenen Konfliktes mit Ich möchte noch einige Anmerkungen zum Um- Hongkong. Oder die USA: Sie haben offiziell die gang mit den Chinesen machen. Ich möchte fragen, Handels- und Menschenrechtspolitik entkoppelt. Sie Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10091

Volker Neumann (Bramsche) sprechen eine deutliche Sprache in der Frage der Wir sind dafür, daß der Außenminister seine ge- Menschenrechte und hatten schwere Konflikte mit plante Reise nach China antritt, China. Ich erinnere nur an Taiwan oder an die Fest- nahme von Harry Wu, jenes Chinesen, der mit ameri- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der kanischem Paß die Reportagen über chinesische F.D.P.) Zwangsarbeitslager geschrieben hat und in China um die Beziehungen zu China zu verbessern, aber festgenommen wurde. Oder ich nenne den großen auch, um unsere Haltung zu der Menschenrechtssi- Eklat, als die USA den taiwanesischen Präsidenten tuation in Tibet mitzuteilen. Er hat erklärt, daß er den zu einem Empfang einluden oder als der Dalai-Lama Tibet-Antrag inhaltlich mitträgt. Ich möchte ihm bei Präsident Clinton war. Schwere Konflikte also, noch eine Bitte auf die Reise mitgeben, nämlich in wegen deren die chinesische Seite lautstark prote- Peking das folgende ausführlich zu erläutern. Falls er stierte, die aber offensichtlich die Wirtschaftsbezie- von chinesischen Gesprächspartnern auf den Holo- hungen überhaupt nicht beeinträchtigten. Die ameri- caust und auf die Nazi-Zeit angesprochen wird, sollte kanischen Exporte steigerten sich von 1994 auf 1995 er antworten: Wir haben aus unserer Vergangenheit um 13 Prozent, die deutschen Expo rte im gleichen gelernt, bei der Verletzung von Menschenrechten Zeitraum um 3,7 Prozent. Das zeigt, daß man mit nicht zu schweigen, sondern uns klar und unüber- China durchaus politische Auseinandersetzungen hörbar für ihre Verwirklichung einzusetzen. Wir wol- haben und trotzdem gute Geschäfte machen kann. len nicht, daß die Tibeter, die tibetische Kultur und ihre Religion von der Welt verschwinden. Wir wollen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ daß das Vorbild einer gewaltfreien Politik, wie sie der DIE GRÜNEN) Dalai-Lama vertritt, immer in unserer Welt erhalten bleibt. China kann es sich im übrigen auch gar nicht lei- sten, Aufträge nach anderen als ökonomischen Ge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sichtspunkten zu vergeben. Es benötigt dringend Ka- GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abge pital und Know-how. Die Chinesen praktizieren nach ordneten der CDU/CSU und der PDS) meiner Meinung zunehmend eine Entkoppelung- der Wirtschafts- und der Außenpolitik. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Gerd Poppe, Bündnis 90/Die Grünen. Ohne Rücksicht auf die guten Beziehungen und ohne Augenmaß werfen sie ausländische Journali- sten aus dem Land. Sie schließen das Büro der Nau- Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr mann-Stiftung, die immerhin Entwicklungshilfe lei- Präsident! Meine Damen und Herren! Wie meine stet, und machen dennoch gute Geschäfte. Vorredner begrüße auch ich die entschlossene Hal- tung des Deutschen Bundestages, den vorliegenden Ich würde mir wünschen, daß in Zukunft die deut- interfraktionellen Antrag heute, trotz des massiven sche Politik zu einer neuen Form des Umgangs mit Drucks der chinesischen Seite, mit den Stimmen aller dem kommunistischen Regime in Peking kommt. Es Fraktionen und ohne Einschränkungen zu verab- ist im übrigen zu überlegen, ob auch wir den Weg schieden. einer stärkeren Entkoppelung von Menschenrechts- Dieser Antrag ist das Resultat eines langwierigen politik und Wirtschaft im Verhältnis zu China gehen Prozesses, der bereits im Jahr 1987 mit einer Anhö- können, die eine unbefangene, selbstbewußte und - rung der grünen Bundestagsfraktion begann. Diese wo nötig - auch kritische Politik bei im übrigen soli- erste Anhörung wurde von unserer verstorbenen Kol- den wirtschaftlichen Kontakten ermöglicht. legin Petra Kelly verantwortet. Ihr Engagement für das tibetische Volk ist vielen von uns in allen Fraktio- Wir haben in unserem Antrag die Bundesregie- nen dieses Hauses in guter Erinnerung und ist uns rung aufgefordert, sich zu bemühen, daß sich die Verpflichtung und Ansporn zugleich. Europäische Union auf eine gemeinsame Men- schenrechts- und Tibetpolitik gegenüber China (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einigt. Die Staaten Europas könnten so stärker auf- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten treten und vermeiden, gegeneinander ausgespielt der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) zu werden. Ein Ansatz war die erneute gemein- same Einbringung der Resolution bei der Men- Die seit Beginn der vergangenen Legislaturperiode schenrechtskommission in Genf. Das hat Wirkung bestehende interfraktionelle Arbeitsgruppe zu Tibet gezeigt. Ich will auch ehrlich zugestehen, daß der ist ein Ergebnis der sich seit Jahren entwickelnden Außenminister durch seine dortige Rede für den kollegialen Zusammenarbeit über Parteigrenzen hin- Einsatz für die Menschenrechte unsere Hochach- aus, die ich ausdrücklich würdigen will. Zu dieser tung verdient. Gruppe gehören alle bisherigen Redner und auch Frau Schwaetzer von der F.D.P., die, so hoffe ich, sich in ihrem Beitrag unserer Bewe rtung des vorliegen- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der den Antrags anschließen wird. F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND NISSES 90/DIE GRÜNEN) Der sichtbarste Ausdruck der bisherigen Arbeit dieser Gruppe war die gemeinsam mit dem Auswär- Dem Kanzler kann ich in dieser Frage nicht die tigen Ausschuß und dem Unterausschuß für Men- gleiche Hochachtung entgegenbringen. schenrechte und humanitäre Hilfe organisierte An- 10092 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Gerd Poppe hörung, die im vorigen Jahr stattfand, und ist dieser tung und Bewahrung ihrer Religion und ihrer einzig- gemeinsame Antrag. artigen Kultur, die - nicht zuletzt durch die massen- hafte Ansiedlung von Chinesen in Tibet - in ihrer Er ist nicht den Hirnen einiger böswilliger Agitato- Substanz bedroht sind. ren entsprungen, die sich mit separatistischen Vor- stellungen in die inneren Angelegenheiten der Die chinesische Regierung besteht auf der Aner- Volksrepublik China einmischen wollen. Der Antrag kennung ihrer Souveränität über Tibet als Vorbedin- ist nicht mehr und nicht weniger als ein Ergebnis die- gung für jede Form von Dialog. Wie die Anhörung ser Expertenanhörung, zu der neben renommierten des Bundestages gezeigt hat, ist die völkerrechtliche internationalen Völkerrechtlern und Menschen- Bewertung dieses Anspruchs durchaus umstritten. rechtsexperten auch Vertreter der chinesischen Bot- Trotzdem vertritt der Dalai-Lama nichts anderes als schaft eingeladen waren. Sie zogen es allerdings vor, den Wunsch nach gleichberechtigten, offenen Ge- nicht teilzunehmen. Man verzichtete darauf, seine sprächen über die politische und kulturelle Zukunft Sicht der Dinge einzubringen und sich mit den Argu- Tibets ohne jede Vorbedingung. menten der Sachverständigen auseinanderzusetzen. Was ist an der angesichts ihrer aktuellen Bedro- In diesen Tagen nun bezichtigen chinesische Re- hung berechtigten Sorge des Dalai-Lama um sein gierungsstellen und die chinesische Botschaft den Volk und seine Kultur separatistisch? Was ist so ge- Deutschen Bundestag in wütenden Reaktionen der fährlich daran, wenn sich das kleine tibetische Volk Verleumdung Chinas und der Verletzung der Ge- und seine legitimen Vertreter mit keinen anderen fühle des chinesischen Volkes. Währenddessen ge- Waffen als ihrer eigenen Glaubwürdigkeit gegen hen die chinesischen Sicherheitsorgane in Tibet mit den übermächtigen großen Bruder in Peking zu be- beispielloser Härte gegen alles vor, was an das reli- haupten wagen? giöse Oberhaupt der Tibeter, den Dalai-Lama, auch nur im entferntesten erinnert. Seit Anfang Mai wur- Was soll so verwerflich daran sein, wenn nicht nur den bereits alle Bilder des Dalai-Lama aus öffentli- der Bundestag, sondern auch die Bundesregierung chen tibetischen Einrichtungen und Schulen ent- das Anliegen des tibetischen Volkes unterstützen, fernt. Seitdem häufen sich Berichte über Hausdurch-- den Dialog mit der Pekinger Führung endlich zu be- suchungen und damit verbundene Verhaftungen von ginnen? Es muß von seiten der Einbringer des inter- tibetischen Menschen, die sich gegen die ge- fraktionellen Antrags nicht besonders betont wer- waltsame Verletzung ihrer religiösen Gefühle zu den, daß die Formulierung und Behandlung offener wehren wagen. Fragen nicht das Geringste mit der Unterstützung von Sezessionsbestrebungen zu tun hat. Mindestens zwei Mönche wurden getötet und mehr als 40 schwer verletzt, als am 6. Mai das Kloster (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ganden bei Lhasa gestürmt wurde, um es von allen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Hinweisen auf den Dalai-Lama zu säubern. In Lhasa SPD, der F.D.P. und der PDS) selbst wurden in der Nacht des 14. Mai von japani- Die Attacken der chinesischen Führung sind deshalb schen Touristen Lastwagen beobachtet, mit denen unberechtigt und in aller Entschiedenheit zurückzu- die geschundenen und zerschlagenen Körper von weisen. etwa 80 Personen, davon etwa 30 Frauen, ins Kran- kenhaus eingeliefert wurden. Ein großer Teil dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen sei als Mönche bzw. als Nonnen zu erken- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nen gewesen. SPD, der F.D.P. und der PDS) Nicht zuletzt bleibt auch das Schicksal des sieben- In der Öffentlichkeit ist mehrfach die Frage aufge- jährigen Gedhun Choekyi Nyima, des 11. Pantschen worfen worden, ob angesichts derartiger Angriffe ge- Lama, und seiner Familie bis heute völlig ungeklärt, genwärtig eine Reise des deutschen Außenministers ebenso der Haftort von Abt Chadrel Rinpoche und nach Peking angeraten ist. Ich will diese Frage hier weiteren Mönchen des Tashi-Lhunpo-Klosters, die ausdrücklich nicht stellen, aber ich darf meiner Er- den Dalai-Lama bei der Suche nach dem neuen Pant- wartung Ausdruck geben, Herr Kinkel, daß Sie, schen-Lama unterstützt hatten. wenn die Reise zustande kommt, die aktuelle Bela- stung der deutsch-chinesischen Beziehungen in aller Die aktuellen chinesischen Attacken gegen den Deutlichkeit ansprechen und dabei auch die mit so Dalai-Lama gipfeln - neben den abstrusen Vorwür- großer Mehrheit zustande gekommene Position des fen, Feudalismus und Sklaverei wieder in Tibet ein- Deutschen Bundestages mitvertreten. führen zu wollen - in der Behauptung, er stelle die Integrität des chinesischen Staatsverbandes in Frage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und wolle Tibet von China abspalten. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und der PDS) Wer jemals mit dem Dalai-Lama gesprochen hat, weiß, daß dies falsch ist, daß er und mit ihm die tibe- In diesem Zusammenhang möchte ich öffentlich tische Exilregierung keine Separatisten sind. Uner- wiederholen, Herr Kinkel, was ich Ihnen bereits auf müdlich und mit nicht nachlassender Geduld wieder- Ihren Brief geantwortet habe. Ich unterstelle Ihnen holen sie seit Jahren - auch während der Anhörung keineswegs einen Handel mit der chinesischen Re- im letzten Jahr im Deutschen Bundestag -, daß ihre gierung hinsichtlich Ihrer China-Reise, und ich be- Bemühungen eben nicht der staatlichen Abtrennung daure, wenn ich mich vor einer Woche nicht präzise Tibets von China gelten, sondern vielmehr der Ret- genug ausgedrückt habe. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10093

Gerd Poppe Es erschien mir aber notwendig, Sie auf den öffent- lich nicht, daß beide immer unterschiedlicher Mei- lich entstandenen Eindruck eines zeitlichen Zusam- nung sein sollten. Wenn wir dem Antrag zu Tibet menhangs zwischen dem Entzug der Mittel für die heute also mit großer Mehrheit zustimmen, verbinde Tibet-Konferenz und der endgültigen chinesischen ich damit die Hoffnung, daß dieses Ergebnis von der Bestätigung Ihres Reisetermins, die nach der Mittel- Bundesregierung mitgetragen und Auswirkungen streichung erfolgte, aufmerksam zu machen, um ihn auf ihre weitere Politik haben wird. auch ausräumen zu können. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Daß Sie Ihre Position jetzt durch die Zustimmung SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zum vorliegenden Antrag zum Ausdruck bringen wollen, begrüße ich ausdrücklich. Eine Reise nach Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der China muß gerade angesichts der jüngsten Entwick- Kollege Graf Lambsdorff, F.D.P. lungen dazu genutzt werden, die Meinungsverschie- denheiten offen auszusprechen. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! Natürlich sind auch wir, Herr Außenminister, an Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ist es guten Beziehungen zum bevölkerungsmäßig größten nicht ein erfreuliches Zeichen, daß man im Deut- Land der Erde interessiert. Dennoch halten wir es für schen Bundestag gemessen und dennoch klar reden notwendig - wir gehen davon aus, daß Sie dem zu- kann? Das kommt nicht so häufig vor. stimmen -, auch in China die dortigen massiven Menschenrechtsverletzungen öffentlich und über Die Tibet-Konferenz der Friedrich-Naumann-Stif- konkrete Einzelfälle hinaus zu thematisieren. tung hat stattgefunden. Über das weltweite Echo konnte sich jeder im Hause ein Bild machen. Zwei Es gibt Situationen, in denen stille Diplomatie al- Punkte will ich festhalten: lein nicht mehr ausreicht. Dies ist nicht zuletzt eine Lehre aus der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, Erstens. Der Dalai-Lama hat bei seinen Anspra- der Aufarbeitung zweier Diktaturen in Deutschland. chen im Thomas-Dehler-Haus der F.D.P. und im Was- Wir sollten daraus gemeinsam die Konsequenzen für serwerk des Deutschen Bundestages klar, unmißver- den Umgang mit heutigen autoritären Regimes- zie- ständlich und überzeugend versichert, daß es ihm hen. und seinen Mitstreitern um die Bewahrung des kul- turellen Erbes der Tibeter geht, nicht um die staat- Es ist gerade im Interesse guter bilateraler Bezie- liche Abtrennung von der Volksrepublik China. hungen nicht hinzunehmen, daß deutsche Einrich- tungen, die sich für die rechtsstaatliche Entwicklung Der Vorwurf der chinesischen Regierung, der Bun- in China einsetzen und die die chinesische Machtpo- destag mit seiner interfraktionellen Entschließung litik kritisch hinterfragen, mit der Schließung ihrer und die Friedrich-Naumann-Stiftung mit der Tibet Büros abgestraft werden. Im konkreten Fall geht es Konferenz unterstützten separatistische Bestrebun- um die Ihrer eigenen Partei nahe Stiftung. Aber es gen, ist blanke Propaganda. Es geht uns nicht um berührt unseren demokratischen Konsens insgesamt Staatsrecht. Es geht uns um Menschenrecht. und ist deshalb nicht nur die Sache der F.D.P. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Darüber hinaus sollten Sie, Herr Kinkel, während SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihrer Reise deutlich machen, daß die gegenseitigen Zweitens. Der Dalai-Lama hat eindringlich gefor- Beziehungen auch dadurch belastet sind, daß Peking dert, die Volksrepublik China möge endlich zum Dia- zwar den deutschen Außenminister zu empfangen log mit ihm bereit sein, wie es Deng Xiaoping 1979 bereit ist, die Bundestagsdelegation des Unteraus- vorgeschlagen hat. Reden muß man miteinander, schusses Menschenrechte, die vor allem auch nach nicht nur gegeneinander. Deshalb hat der Dalai Tibet reisen wollte, aber mit fadenscheiniger Begrün- Lama sehr darum gebeten, Außenminister Kinkel dung ausgeladen hat. möge die Einladung nach Peking wahrnehmen. Ge- (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen stern war der Präsident des Exilparlaments, Professor und der Gruppe der PDS) Rinpoche, bei mir und hat mich gebeten, dies aus- drücklich auch dem Deutschen Bundestag zu sagen. Die chinesische Regierung muß sich dessen be- wußt sein, daß dauerhafte Beziehungen - und nicht Die F.D.P. teilt diese Auffassung. Es war immer ein zuletzt auch gute Wirtschaftsbeziehungen - die Ent- essentieller Teil liberaler Außenpolitik - ich erinnere wicklung eines Rechtsstaates und das Vertrauen in an die Tage der Ostpolitik -, das Gespräch zu su- sein Funktionieren erfordern. Wie weit Chinas Weg chen. Wer der Kraft seiner Argumente nicht traut, bis dahin noch ist, läßt sich unter anderem daran er- sollte allerdings zu Hause bleiben. Er muß dann aber kennen, daß die Bundesregierung aufgefordert die Finger von der Außenpolitik lassen. wurde, den Bundestag zur Räson zu bringen. Es (Günter Verheugen [SPD]: Wer ist denn kann allerdings nicht besonders überraschen, daß damit gemeint?) der Führung der kommunistischen Partei in Peking das Wesen eines demokratischen Parlaments und sei- Wir trauen der Kraft unserer Argumente. Wir wol- nes Verhältnisses zur Regierung bis heute verborgen len gute Beziehungen zur Volksrepublik China. geblieben ist. Wir wußten und wissen, daß wir es in der Welt Für uns bedeutet der Unterschied zwischen Parla- nicht nur mit Partnern zu tun haben, die unsere Vor- ment und Regierung, auf den wir Wert legen, natür- stellungen von Demokratie und Freiheit teilen. Wir 10094 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Otto Graf Lambsdorff scheuen uns keine Sekunde, auch wirtschaftliche keit zu verantworten hat, das Parlament nicht und handelspolitische Aspekte zu unterstreichen. Es schweigt. geht immer auch um Arbeitsplätze. Es geht vor allem aber auch um unsere Überzeugung, daß marktwirt- Die F.D.P. stimmt dem Antrag zu. schaftliche Entwicklungen längerfristig zu politi- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der schem Wandel führen. Wer das bestreitet, der sehe SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich in Shanghai, Shenzen und Guandong um, der betrachte auch die zahlreichen deutsch-chinesischen Joint-ventures. Wirtschaftsbeziehungen sind im übri- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der gen keine Einbahnstraße, sie sind eine „Zweibahn- Kollege Steffen Tippach, PDS. straße" - beide Seiten sind interessie rt. Steffen Tippach (PDS): Herr Präsident! Sehr ge- Die Bundesregierung, der Bundesaußenminister ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die PDS wird sich müssen sich auf einem schmalen Grat bewegen. Das zum vorliegenden Antrag enthalten. ist bei solchen Konstellationen die Pflicht, aber auch die Schwierigkeit jeder Bundesregierung. Das war (Zurufe) früher so und ist heute so. Die Beziehungen sind zu Ich möchte dies im folgenden begründen: Das tibeti- pflegen, und gleichzeitig ist auf die Einhaltung der sche Volk hat, wie jedes andere Volk auch, gemäß Menschenrechte zu achten. der UN-Charta und Art. 1 des Paktes über die wirt- Mit Recht hat Bundesaußenminister Kinkel gesagt: schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte das Recht auf Selbstbestimmung. Diese völkerrechtliche Auf der Einhaltung von Menschenrechten zu be- Norm als Ausdruck eines emanzipatorischen Prozes- stehen stellt keine Einmischung in innere Ange- ses ist Grundlage unseres politischen Handelns. Dies legenheiten eines anderen Landes dar. beinhaltet auch das Recht nach Teil I Art. 1 des WSK- Paktes, frei über den politischen Status und die wirt- Die F.D.P. teilt diese Auffassung. schaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Selbstbestimmung bedeutet für uns aber auch die Meine Damen und Herren, Menschenrechte gelten Entscheidungsfreiheit des Volkes und nicht - wie im weltweit. Gefolterte und Gequälte leiden gleicher- Falle Tibet - einer feudal-religiösen Kaste, die für maßen, nicht unterschieden nach westlichem und gnadenlose Unterdrückung und Ausbeutung des ti- konfuzianischem Kulturkreis. betischen Volkes in früheren Jahren verantwortlich ist. Der Bundesaußenminister hat in vielen Fällen (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Menschen konkret geholfen. Das allein zählt, und NEN - Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das dafür sollte ihm auch jeder hier dankbar sein. Herr darf ja wohl nicht wahr sein!) Neumann hat mit Recht seine Rede in Genf erwähnt. Was der Begriff „Selbstbestimmungsrecht" mit Si- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) cherheit ebenso nicht beinhaltet, ist dessen Instru- mentalisierung durch imperialistische Groß- und Mit- Das frei gewählte deutsche Parlament schweigt telmächte, um eigene Interessen im Sinne von nicht zu andauernden Menschenrechtsverletzungen Macht, Einflußgebieten und Märkten durchzusetzen. in Tibet. Es gibt sie leider zuhauf. Sie sind hier er- wähnt worden; Herr Poppe und Herr Neumann ha- (Rudolf Bindig [SPD]: Das ist unglaublich! ben sie aufgezählt. Jeder weiß das, mit Ausnahme of- Dummes Zeug!) fenbar des chinesischen Botschafters in Bonn. Des- Genau das aber ist die Wirkung dieses Antrags. sen Umgangston mit dem Parlament seines Gastlan- des ist unangemessen. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Ihre Nichtzustimmung wertet den Antrag auf! - (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Rudolf Bindig [SPD]: Hier geht es um kultu SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) relle Identität! Hier geht es um Menschen Wie würde wohl China reagieren, wenn sich der rechte!) deutsche Botschafter in Peking öffentlich solcher - Ich finde, Sie sind hier nicht besonders souverän. Sprache bediente? Gerade Tibet hat eine lange Tradition als Spielball (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ anderer Mächte im Zuge antichinesischer Aggressio- DIE GRÜNEN]: Der wäre auf dem Heim nen der letzten beiden Jahrhunderte bis hin zur Or- flug!) ganisation und Finanzierung der tibetischen Exilar- mee durch die CIA bis zum Jahre 1972. Die F.D.P. freut sich darüber, daß diese Debatte nicht durch taktische Spielereien zwischen Regie- Wir teilen uneingeschränkt die Kritik des vorlie- rung und Opposition entwertet worden ist. Stehen genden Antrags an massiven Menschenrechtsverlet- wir zu dem, was wir interfraktionell mit diesem An- zungen. Es gibt keine Rechtfertigung für die Existenz trag erreichen wollen: Zeugnis geben, daß gerade in politischer Gefangener, für Folter und Hinrichtun- unserem Lande, das in diesem Jahrhundert die gen. Die Rechtfertigung gibt es nicht in Tibet, nicht scheußlichsten Verbrechen gegen die Menschlich- im Iran und auch nicht in den USA. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10095

Steffen Tippach Wir können den vorliegenden Antrag dennoch rerseits die Bereitschaft des Dalai-Lama zu Gesprä- nicht unterstützen, nicht etwa, weil Sie uns vorher so- chen mit der chinesischen Regierung zu einer für wieso nicht gefragt haben, ob vielleicht auch wir et- beide Seiten tragbaren Gesprächsgrundlage führen was einzubringen hätten. Diesen üblen Stil sind wir können. Daß ich mit Herrn Öcalan angeblich Erklä- gewohnt. Wir haben erhebliche Schwierigkeiten mit rungen veröffentlicht habe, muß wohl irgendwie der Legitimation der Exilregierung und der Behand- falsch gehört worden sein. Sie müssen dies Herrn lung des völkerrechtlichen Status durch den Antrag, Lummer fragen, er wäre hierzu die richtige Adresse. aber auch dafür gäbe es Lösungen. Hauptgrund un- Da sind Sie wohl schlecht informiert. serer Enthaltung ist, daß dieser Antrag, sein Inhalt, seine Zielrichtung und die Art seiner Einbringung (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie scheinen aber von einer satten Po rtion Heuchelei gezeichnet sind. sehr gut informiert!) Da wird zum Beispiel unter Punkt 4 formuliert: - Sie müssen mich noch einen Moment ertragen. Das in Anbetracht dessen, daß es Politik der Bundes- kann für Sie hart sein. republik Deutschland ist, die Verwirklichung des Ich möchte fortfahren. - Stellen Sie sich diesen Rechts auf Selbstbestimmung weltweit zu unter- Satz zur Selbstbestimmung und zum Selbstbestim- stützen . . . mungsrecht in einer Resolution zur kurdischen Frage Dieser Satz steht, durch eine breite Mehrheit dieses in der Türkei vor! Das Geschrei in diesem Hause Hauses getragen, eben in einer Resolution zu Tibet. wäre kaum zu ertragen. Er steht nicht in einer Resolution zu Tschetschenien oder zur Westsahara. Im Unterschied zu China füh- Während Kanzler Kohl mit dem Mantel der Ge- ren die russische Regierung in Tschetschenien und schichte den Staub auf Appellplätzen der chinesi- die türkische Regierung in den kurdischen Gebieten schen Volksarmee aufwirbelt und bereits 1987 die ti- einen Krieg gegen große Teile der Bevölkerung, was betische Landschaft durchstreifte, während Kollege die Bundesregierung keineswegs davon abhält, feste Glos am 5. Juni dieses Jahres aus China sozusagen und freundschaftliche Beziehungen zu den Initiato- live aus der Höhle des Löwen kabelt, Kinkel und das ren dieses Mordens zu unterhalten. Auswärtige Amt stünden „in besonderer Verantwor- tung, sicherzustellen, daß die kluge und weitsichtige Chinapolitik des Kanzlers nicht durch unnötige Pro- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege filierung der Friedrich-Naumann-Stiftung gestört Tippach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- wird", während diese Politik die „Süddeutsche Zei- gen Özdemir? tung" zu dem Kommentar veranlaßt: „Die Gier nach Chinas Markt hat die außenpolitischen Interessen Steffen Tippach (PDS): Natürlich. Bonns längst zusammenschrumpfen lassen auf: Ge- schäft, Geschäft, Geschäft", lese ich von der Koali- tion mit eingebrachte Sätze wie: Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Tippach, Sie haben uns gerade erzählt, daß im Hinblick darauf, daß es Politik der Bundesre- der Dalai-Lama Ihres Erachtens nicht legitimiert sei publik Deutschland sein muß, unrechtmäßige und wir insofern in der Gefahr stehen würden, je- Anwendung von Gewalt sowie massive Men- manden quasi zu unterstützen, der nicht unbedingt schenrechtsverletzungen nicht hinzunehmen, die für die Interessen des tibetanischen Volkes spricht. Menschenrechtsverletzungen in Tibet aber wei- Wir haben dies vor einigen Tagen als Kommentar ter anhalten, von Frau Ditfurth in der „Tageszeitung" gelesen. Es ist interessant, daß die PDS diese Argumentation und frage mich dann, ob es sich hier um einen Fall übernimmt. von Bewußtseinsspaltung handelt oder gar um etwas Schlimmeres. Ich wollte Sie fragen: Wodurch ist beispielsweise Abdullah Öcalan legitimiert, der Vorsitzende der Differenzierungen sind kaum gefragt, so bei der PKK, mit dem Sie aus Gründen, über die man sich Forderung nach angemessenen Bildungschancen für streiten kann, gelegentlich gemeinsame Äußerungen die tibetische Bevölkerung. Bei einem Anteil von abgeben? Wodurch ist er legitimiert, wodurch sind 70 Prozent schulpflichtiger Kinder, die tatsächlich andere Führer von Befreiungsbewegungen legiti- eine Schule besuchen, läßt sich zwar sagen, das ist miert? zu wenig, immerhin ist es aber mehr als doppelt so- viel wie 1965 beim Erbe der damaligen Administra- (Freimut Duve [SPD]: Frage auch an den tion. Kollegen Lummer!) Aber apropos Scheinheiligkeit. „Mahatma" Lambs- dorff: Steffen Tippach (PDS): Zum einen kann ich mich nicht entsinnen, dem Dalai-Lama irgendwie die Be- Daß in der China-Politik immer noch wirtschaftli- rechtigung abgesprochen zu haben, mit der chinesi- che Interessen Vorrang vor humanitären hätten, schen Regierung Gespräche zu führen. Im Gegenteil, prangerte Otto Graf Lambsdorff, Vorstandsvorsit- ich würde es begrüßen. Ich würde auch begrüßen, zender der F.D.P.-nahen F riedrich-Naumann- wenn Außenminister Kinkel auf seiner China-Reise Stiftung, an. mit vorträgt, daß zum einen das Angebot zu Gesprä- chen mit dem Dalai-Lama, das vorgestern durch den So die „Frankfurter Rundschau" am 17. Juni dieses chinesischen Botschafter gemacht wurde, und ande- Jahres. 10096 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Steffen Tippach Ich sehe einmal davon ab, daß Sie letzte Woche in gierung ist es immerhin gelungen, die sozialen Le- diesem Hause die Friedrich-Naumann-Stiftung ganz bensbedingungen für ihre 1,2 Milliarden Bürger nebenbei zur NGO erklärt haben, was in etwa das nicht unerheblich zu verbessern, wahrlich keine ge- gleiche ist, als wenn sein Kabinett als ringe Leistung, Nichtregierungsorganisation bezeichnen würde. (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie haben über wenn man die Probleme bedenkt, die China im Laufe haupt nichts kapiert!) seiner Geschichte immer wieder hatte. Sie, Kollege Lambsdorff, bestimmen seit vielen Jah- (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll ren in zentralen Funktionen die Politik einer Partei mer) mit, die das Auswärtige Amt und das Wirtschaftsmi- nisterium sozusagen im Dauerabo hält, und lassen Wir unterhalten zu China gute politische, wirt- jetzt den Obermenschenrechtler heraushängen. Um schaftliche und auch kulturelle Beziehungen, und die Sache dann vollends ins Absurde zu ziehen, ant- wir sind daran interessie rt , daß das so bleibt. worten Sie Inforadio am 13. Juni auf die Frage „Sie haben keine Kritik an der Tibet-Politik der Bundesre- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gierung?" schlicht mit „Nein." ten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, allerdings muß es (Zuruf von der SPD: Langsamer!) möglich sein, auch schwierige Fragen - dazu gehö- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie kaum ren natürlich die Menschenrechte und Tibet - offen verwundern anzusprechen. Es kommt jedoch darauf an, wie das geschieht. Die Bundesregierung hat immer einen of- ( [CDU/CSU]: Reden Sie ein fenen Dialog geführt. Ich habe mich in all meinen mal über Menschenrechte!) Gesprächen generell für die Menschenrechte und insbesondere für die Schicksale vieler einzelner - natürlich -, wenn wir in diesem Theater nicht die Menschen eingesetzt, übrigens nicht ohne Erfolg. Komparsen spielen werden. Daß Sie mich- wohl ver- Manche tönen; ich habe gehandelt. stehen: Natürlich sind wir für wi rtschaftliche Zusam- menarbeit mit der Volksrepublik China. Aber Außen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne politik kann und darf dem nicht alles unterordnen. ten der CDU/CSU) Für eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik Das gilt auch und gerade für Tibet und die Men- können Sie jederzeit mit unserer Kooperation rech- schen dort . Ich erkläre ausdrücklich und nachdrück- nen. Eine solche fängt aber in der Praxis an und nicht lich, daß uns, der Bundesregierung und mir, das auf einem Stück Papier. Schicksal dieser Menschen alles andere als gleich- gültig ist. Die Bundesregierung hat mit einer langfri- Danke. stig angelegten ausgewogenen Politik für unser Land wichtige Brücken zu China gebaut. Diese er- (Beifall bei der PDS - Rudolf Bindig [SPD]: folgreichen Bemühungen dürfen nicht leichtfertig Der Dalai-Lama wird Ihnen verzeihen!) aufs Spiel gesetzt werden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der ten der CDU/CSU) Bundesminister Dr. Klaus Kinkel. Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der Bundesregierung bleibt interessen- und wertorien- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: tiert, auch in unserem Verhältnis zu China und in der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde Tibet-Frage. Der fraktionsübergreifende Antrag, es gut, daß sich die Diskussion um unsere Chinapoli- über den wir heute abstimmen, greift wesentliche tik und um unser Eintreten für die Menschenrechte Punkte auf, die die Haltung der Bundesregierung in in Tibet inzwischen versachlicht hat. Ich will deutlich der Tibet-Frage bestimmen. und klar sagen, daß ich für das Klima gestern im Aus- Erstens. Wir unterstützen den Anspruch der Tibe- wärtigen Ausschuß dankbar bin. Das Klima und die ter auf kulturelle und religiöse Autonomie. Die Ti- sachliche Debatte haben sich wohltuend von man- beter haben ihr traditionelles, historisch belegbares chen unsachlichen Tönen nach draußen unterschie- Recht. Ich werde in Peking erneut an die chinesische den. Regierung appellieren, über die Frage der Autono- (Zuruf von der SPD: Lauter!) mie nun wirklich in Gespräche einzutreten. Für die - Ich spreche schon laut und deutlich. Tibeter darf die Zugehörigkeit zu China nicht den Verlust ihrer Kultur und ihrer Religion bedeuten. China ist ein Land mit einer bedeutenden Ge- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der schichte und Kultur, politisch und wirtschaftlich auf SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dem Sprung zur Weltmacht. Es hat große Bedeutung für die globale und regionale Stabilität. In diesem Zweitens. Die Bundesregierung forde rt von der Land haben beachtliche innere Entwicklungen auf chinesischen Regierung die Beachtung der Men- den Weg hin zur Marktwirtschaft und zur internatio- schenrechte der Tibeter und ihrer religiösen Freihei- nalen Öffnung stattgefunden. Der chinesischen Re ten. Im November 1993 fand auf meine Anregung Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10097

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel das erste deutsch-chinesische Juristensymposium nicht anerkennen, und sie trotzdem gleichzeitig fi- über Menschenrechte statt. Inzwischen gibt es einen nanziell unterstützen. Das geht einfach nicht. institutionalisierten europäisch-chinesischen Dialog über dieses Thema, und dabei wird Tibet nicht aus- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das sehen viele gespart. ganz anders! - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht vor (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne allen Dingen auch Ihre Partei ganz anders!) ten der CDU/CSU) - Herr Fischer, Sie sind am wenigsten geeignet, dazu etwas zu sagen. Sie sind derjenige, den ich mit dem Diese Fragen haben auch bei den Deutschlandbe- Tönen gemeint habe. suchen von Ministerpräsident Li Peng im Juli 1994 und von Staatspräsident Jiang Zemin im Juli 1995 Meine Damen und Herren, wer für die Menschen eine Rolle gespielt. Sie sind zuletzt angesprochen in Tibet etwas erreichen will, muß mit der chinesi- worden beim Zusammentreffen des Bundeskanzlers schen Regierung darüber sprechen. Das erfordert und mir mit Ministerpräsident Li Peng in Bangkok. Stetigkeit, Berechenbarkeit, Geduld und - ich füge es nochmals hinzu - die richtige Tonlage. Nur so wird Die stille Diplomatie kann und darf die öffentliche unsere China-Politik der Rolle und Bedeutung dieses Kritik nicht ersetzen. Diese Diplomatie ist gleichwohl Landes gerecht, und nur so können wir erfolgreich unverzichtbar, auch wenn Fortschritte oft nur müh- sein. sam erreichbar sind. (Rudolf Bindig [SPD]: Hat der Antrag die (Rudolf Bindig [SPD]: In Tibet gibt es eben richtige Tonlage?) Rückschritte! Das ist das Problem!) - Den Antrag unterstütze ich voll und ganz, auch in der Tonlage. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deklamationen allein reichen nicht, denn es geht um Menschen. Da Ich werde Anfang Juli nach China reisen. wird eine etwas andere Politik in der Praxis notwen- dig sein und erwartet. Deshalb wird die Bundesregie-- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) rung die Politik des Dialogs mit China fortsetzen. Die deutsch-chinesischen Beziehungen sind politisch (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ und wirtschaftlich zu wichtig, als daß wir ein Abrei- DIE GRÜNEN]: Des kritischen oder des ßen unseres Gesprächsfadens zulassen dürften. unkritischen?) Im übrigen finde ich es wenig akzeptabel, wenn Wir werden das nicht belehrend tun, sondern in deut- hier eine Art Arbeitsteilung vorgetäuscht wird: Die licher und klarer, aber in angemessener Form. Man einen sind für die Menschenrechte zuständig, die an- muß auch die Probleme der anderen Seite sehen und deren für die Politik und für die angeblich - ich sage sie in die eigenen Vorstellungen und in die eigene es ausdrücklich in Anführungszeichen - schäbigen Politik einbeziehen. Wirtschaftsinteressen.

Drittens. Die Bundesregierung betrachtet wie alle (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Wen meinen Sie anderen Regierungen der Welt Tibet als Teil des chi- damit?) nesischen Staatsverbandes. Aus dieser klaren völker- Die einen sind die Guten, und die anderen sind die rechtlichen Feststellung ergibt sich, daß die Bundes- Bösen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da machen regierung eine sich selbst so bezeichnende Regie- es sich einige doch zu einfach. Da ist - ich sage es rung Tibets im Exil nicht anerkennen wird. Dabei einmal ganz deutlich - sehr viel Heuchelei dabei. geht es nicht um Formalien, sondern dabei geht es um Völkerrecht. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es geht doch nicht um die Frage, ob wir für oder Die chinesische Regierung hat sich immer zur Ein- gegen die Menschenrechte sind, sondern es geht heit des deutschen Volkes bekannt, und wir haben darum, wie wir sie am besten schützen. von Anfang an eine klare Ein-China-Politik betrie- ben. Die Bundesregierung ist darüber hinaus völker- rechtlich verpflichtet - das wäre jede Bundesregie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Außenmi- rung -, alles zu unterlassen, was als Unterstützung nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin separatistischer Tätigkeit auf deutschem Boden aus- Nickels? gelegt werden kann. Dr. Klaus Kinkel, Bundesministerdes Auswärtigen: (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE Nein, ich bitte um Verständnis. Ich möchte zum Ende GRÜNEN]: Hat die Bundesrepublik die kommen. DDR unterstützt, oder wie war das damals?) Ich muß als Außenminister die Interessen unseres Infolgedessen konnte eine Veranstaltung, die aus- Landes im Gesamtzusammenhang sehen. Selbstver- drücklich als solche der tibetischen Exilregierung fir- ständlich hatte und hat der Schutz der Menschen- mierte, nicht aus Mitteln der Bundesregierung geför- rechte eine ganz, ganz hohe Priorität in unserer Au- dert werden. Wir können einfach nicht auf der einen ßenpolitik. Aber ich muß als Außenminister auch Seite erklären, daß wir die tibetische Exilregierung daran denken, daß jeder dritte Industriearbeitsplatz 10098 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel in Deutschland vom Export abhängt und wir 4 Mil- in der Menschenrechtsfrage gegeben. Daran hat lionen Arbeitslose haben. auch nicht das Abwandern einer Militäreinheit durch den Bundeskanzler irgend etwas gemindert. Nein, es (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ist in Tibet trotz unserer Beziehungen sehr viel ten der CDU/CSU) schlimmer geworden. Darum glaube ich, daß wir Dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen. Ich eine gemeinsame europäische Linie in bezug auf Ti- entschuldige mich dafür auch nicht, zumal die wirt- bet brauchen. Sie haben das angedeutet, aber das schaftliche Zusammenarbeit eine der Voraussetzun- muß dann zu sehr konkreten Formulierungen führen. gen dafür ist, daß man unsere Stimme in Menschen- rechtsfragen hört und auch ernst nimmt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU und der F.D.P.) (Rudolf Bindig [SPD]: Die Pauschalität ist ja unerträglich!) Liebe Kollegen, wir können uns - das ist auch vom Außenminister gesagt worden - China viel- - Sie können dem anschließend widersprechen. leicht wegwünschen. Doch die Realität von einer Diese Zusammenhänge werden in der Öffentlich- Milliarde Menschen und auch seine wirtschaftliche keit mehr und mehr verstanden. Wir werden weiter- Bedeutung der Zukunft werden durch unser Weg- hin als Bundesregierung eine Politik für die Men- wünschen nicht verschwinden. China mag sich un- schenrechte betreiben, bei der allerdings die Ver- seren Blick auf Tibet vielleicht wegwünschen. Die nunft nicht auf der Strecke bleibt. Realität unseres Protestes wird deswegen nicht ver- stummen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Rudolf Bindig [SPD]: Wischiwaschi!) Dabei mag seine Exzellenz der chinesische Bot- schafter noch so sehr denken, daß es seine wichtigste Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Aufgabe sei, bei uns im Deutschen Bundestag als un- bezahlter Redaktionsassistent an unseren Entschlie- jetzt der Kollege Freimut Duve. - ßungstexten mitzuwirken. Aber dann kommt er heute noch nicht einmal als Gast hierher. Sein Inter- Freimut Duve (SPD): Herr Außenminister, wir ha- esse an unserer Debatte hat ihn nicht dazu gebracht, ben bei dieser Frage, die auch unsere Ethik betrifft, daß er selber kommt oder einen Vertreter schickt. Er Wirtschaftspolitik auf der einen Seite und Wachsam- hat es leider nicht gemacht. keit gegenüber Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite, nie mit Zahlen von Arbeitslosen Wenn der Dalai-Lama nur ein Hundertstel der Dia- gearbeitet. Die beiden gehören in dieser Form nicht logbereitschaft in Peking anträfe, die der chinesische zusammen. Botschafter bei uns tagtäglich erfahren kann, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne könnte unsere Resolution noch wesentlich samtpföti- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ger sein, als sie es inzwischen geworden ist. Aber wir tragen sie gemeinsam. Wenn wir sagen, wir können einen bestimmten Staat durch wirtschaftliche Androhung in der Men- Der Außenminister - Herr Kinkel, dabei bin ich mit schenrechtsfrage nicht bewegen - das ist bei China Ihnen einer Meinung - darf nicht nur, sondern muß der Fall -, dann müssen wir diese ethische Entkopp- jetzt nach Peking reisen. Er muß diese Reise unter- lung der beiden Linien sehr präzise und sehr genau nehmen, um die ihn der Dalai-Lama dringend bittet diskutieren. Es gibt Staaten, bei denen man durch und um die ihn die anderen europäischen Kollegen wirtschaftlichen Druck Menschenrechtserfolge erzie- dringend bitten sollten, damit er do rt einhellige len kann. Dann muß man sie nutzen und darf sich Grundpositionen der Europäer zum wiederholten nicht - Beispiel: China - davon abhalten lassen. Das Male sehr deutlich vortragen kann. China darf es darf man nicht. nicht gelingen, die Wachsamkeit der Europäer für die gezielte Zerstörung der tibetischen Kultur zu be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) seitigen. Aber man kann nicht einfach die Arbeitslosen als (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Begründung anführen. Sie haben es vielleicht nicht GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der so gemeint. Aber es ist so angekommen. Ich wollte CDU/CSU und der F.D.P.) das klarstellen. Der zweite Punkt. Herr Außenminister, wir waren Das zeigt die heutige Debatte: China wird es nicht ein Instrument der ideologischen Auseinanderset- gelingen, unsere Augen gegenüber Tibet so zu ver- zung der Volksrepublik China in ihren Streitereien schließen, wie es seine eigenen Augen gegenüber im Kalten Krieg. Deswegen nun immer wieder zu zi- den Rechten der Menschen verschließt. tieren, wie toll China für die Einheit Deutschlands Petra Kelly und viele andere Kolleginnen und Kol- war, halte ich historisch für nicht so ganz richtig. Ich legen im Bundestag, wir haben in den 80er Jahren und andere haben damals jedenfalls nicht nur immer wieder auf die Lage in Tibet hingewiesen. Ich „China, China, China" gerufen. erinnere an die große, damals von ihr angeregte Drittens. In Tibet hat es in den letzten zwei Jahren Anhörung im April 1989, wenige Monate vor dem und in den letzten Monaten drastische Rückschritte Mauerbruch. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10099

Freimut Duve Ich zitiere aus einem Brief des damaligen chinesi- bens, die die tibetischen Bürger nicht länger zu Ent- schen Botschafters an Petra Kelly vom 3. Ap ril 1989: rechteten macht. Alle Tibet betreffenden Angelegenheiten sind in- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nere Angelegenheiten. Keiner ausländischen Re- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gierung, Organisation oder keinem Individuum CDU/CSU) steht das Recht zu, sich darin einzumischen. Der chinesische Kommunismus hat im Kalten Krieg Ähnlich hat sich der Pressesprecher des chinesischen weltweit Bewegungen gegen den Kolonialismus un- Außenministeriums auch heute geäußert. terstützt, sich als Bollwerk gegen den Kolonialismus dargestellt, und jetzt praktizieren seine Beamten und Da müssen wir einmal dem Mitglied des Sicher- eingeschleusten Siedler die exakte Kopie des Sied- heitsrates China etwas sagen. Das stimmt völker- lungskolonialismus, den seine Staatsgründer früher rechtlich nicht. Wer im Sicherheitsrat der Vereinten so vehement bekämpft hatten. Nationen sitzt, sollte wissen, daß mit seinem Dortsein ein Teil der angenommenen Souveränitätsrechte in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bezug auf Menschenrechte, auf Minderheitenschutz, Natürlich war Tibet keine Demokratie, und natür- auf das Behandeln der eigenen Bürger nicht mehr lich war die Lage der Menschen unter der Mönchs- wie im 19. Jahrhundert gelten. Das gilt nicht mehr. herrschaft keineswegs die ideale Inkarnation westli- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem cher Menschenrechte, und natürlich hatten sich ei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) nige der Mönchsgruppen durch dieses Jahrhundert hindurch gegen jede Reform entschieden zur Wehr Auch die Souveränität Chinas hat ihre Grenzen. Es gesetzt. gibt eine Einmischungspflicht und ein Einmi- schungsrecht in Fragen des Behandelns von Men- Aber der 13. Dalai-Lama, der Vorgänger des jetzi- schen, auch wenn es die Bürger eines anderen Staa- gen, hatte innere Reformen versucht und hatte die tes sind, Todesstrafe abgeschafft. Er hatte sich in den 20er Jahren, 1921, darum bemüht, das Bildungsmonopol (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Klöster zu brechen. Er errichtete damals eine Mo- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dellschule, die sich an westlichen Maßstäben orien- CDU/CSU und der F.D.P.) tierte, die sich den Naturwissenschaften und den europäischen Kulturen öffnete. Sie wurde damals un- zumal wenn sich diese Bürger hilferufend an uns ter dem Druck der konservativen Mönchseliten wie- wenden. der geschlossen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch der jetzige Dalai-Lama hat in der kurzen ihm DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der damals verbliebenen Zeit versucht, sich vehement CDU/CSU und der F.D.P.) für die Wiederaufnahme der Reformen seines Vor- Diese Definition der Souveränität des chinesischen gängers einzusetzen. Waren es in den 20er Jahren Staates - ich wiederhole, Mitglied des Sicherheitsra- die Mönche, die die Reformen des Dalai-Lama tes - ist grundfalsch, und wir dürfen diese Definition bremsten, so wurde 1951 die chinesische Armee der Souveränität uns selbst nicht zubilligen, aber nach ihrem Einmarsch in Lhasa am 7. Oktober der auch keinem anderen Staat, der glaubt, in den Ver- Bremser. Sie trieb die Reformer außer Landes. einten Nationen aktiv mitwirken zu sollen, zumal Der Kollege von der PDS ist jetzt nicht mehr da, keinem Staat, der bestimmte Menschenrechtskon- aber wenn Sie ihm das ausrichten wollen: Der unge- ventionen unterschrieben hat. heure Schwachsinn, den er hier eben erzählt hat, die totale Unkenntnis der chinesisch-tibetischen Ge- Wir haben immer wieder mit dem Dalai-Lama Mei- schichte des 20. Jahrhunderts spottet für einen jun- nungen ausgetauscht. Wer sich je mit Sprechern un- gen Abgeordneten des Deutschen Bundestages jeder terdrückter Gruppen oder Völker unterhalten hat, Beschreibung, der wird durch den Dialog mit dem Dalai-Lama be- eindruckt. Mir ist selten ein klügerer Realist begeg- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem net als dieser geistige und kulturelle Sprecher seines BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Volkes. weil er in einer Maßlosigkeit chinesische Presseagen- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem tur zitiert, chinesische historische Werke und Fußno- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) ten zitiert, wie ich es in dieser präzisen kopiehaften Form lange nicht gehört habe. Es tut mir furchtbar Es geht ihm nicht um die Herstellung eines souve- leid, daß ausgerechnet ein netter junger Mann hier ränen Staates, sondern es geht ihm um die Wieder- einen Blödsinn erzählt. herstellung einer souveränen Kultur. Es geht ihm nicht um die völlige politische Ablösung vom chinesi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schen Staatsgebilde, sondern es geht ihm um die völ- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lige Ablösung der in seinem Land operierenden chi- Da müssen Sie als Ältere ihn einfach mal an die Kan- nesischen Unterdrücker, und das ist etwas anderes. dare nehmen und sagen: So einen Quatsch kannst Es geht ihm nicht um die Rückkehr aller chinesi- Du nicht erzählen - schen Neusiedler, sondern es geht ihm um die Rück- kehr zu einer Kultur des f riedlichen Zusammenle- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) 10100 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Freimut Duve falls Sie meiner Meinung sind und sich historisch ein- auch für die Zukunftsorientierung dieses wichtigen mal kundig machen, daß es Quatsch war. Teiles der Menschenrechtspolitik und der China Politik des Bundestages und der Bundesregierung Ich will zum Schluß noch einen Gedanken sagen. haben. Wir alle - Lambsdorff hat das erwähnt - sind natür- lich ein bißchen irritiert, daß Perestroika in China In dem innenpolitischen Streit, den es jetzt in der ohne Glasnost, mit einem radikalen Bekämpfen der Tat gegeben hat, geht es nicht um den Inhalt der Ent- Glasnostlinie ökonomisch anscheinend relativ erfolg- schließung, sondern es geht um ein Stück Vergan- reich ist und daß umgekehrt eine Glasnostsituation in genheitsbewältigung, und es geht um Zukunftsorien- Moskau mit einer problematischen Perestroika nicht tierung, nämlich darum, ob wir die Erwartung haben, unbedingt parallele Erfolge hat. Wir müssen viel- daß der Beschluß dann auch umgesetzt wird. leicht offener über diese Fragen diskutieren. Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß ich der Trotzdem muß man auch den Chinesen, die sich Bundesregierung in dieser Frage voll vertraue. Ich nicht an die Brust, aber sozusagen an die großen hätte mir allerdings gewünscht, daß das Bundes- Wolkenkratzer in Shanghai und an die Neubauten kanzleramt in dieser Debatte auch vertreten gewe- klopfen und sagen: „Guckt mal, hier entsteht unser sen wäre. sinologisches New York!", entgegnen: „Leute, ihr fahrt an die Wand, wenn ihr auf die wichtigsten Kor- rektive verzichtet, ohne die es eine wirkliche Ent- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Herr Bun- wicklung auf Dauer nicht geben kann. " deskanzler ist da! Große wirtschaftliche Entscheidungen brauchen (Rudolf Bindig [SPD]: Der ist vor einer auch eine öffentliche Diskussion. Das kann nicht ein Minute hereingekommen und sitzt jetzt Funktionär, das können auch nicht zwei Funktionäre dahinten!) in der Zentrale oder in dieser riesigen Vorturnhalle, dem chinesischen Parlamentsgebäude, entscheiden, Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Sehr gut! Das be- sondern sie brauchen eine öffentliche Debatte auch grüße ich natürlich ganz besonders. über den Weg, den China geht. - (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der F.D.P. und der CDU/CSU) F.D.P.) Bedauerlicherweise hat er sich nicht vorher bei mir Große ökologische Beschädigungen zum Beispiel gemeldet. Das war auch nicht zu erwarten. brauchen den korrigierenden parlamentarischen Dis- put. Man muß nicht denken, weil man das jetzt so (Erneute Heiterkeit bei der F.D.P. und der nachahmt, kann man ohne Glasnost existieren und CDU/CSU) sagen: Guckt mal, wie toll wir das mit der chinesi- Meine Damen und Herren, Wirtschaftsinteressen schen Kultur hinkriegen. zu vertreten ist nicht nur legitim, sondern ich be- Nein, auch China braucht, wenn es ökonomisch trachte das wirklich als Selbstverständlichkeit. Aber diesen westlichen Weg gehen will, Elemente des sich darauf einzulassen, einen Gegensatz zwischen Korrigierens, der Fähigkeit und der Kraft zu korrigie- der Vertretung klarer Menschenrechtspositionen ren, auch und vor allem in der Menschenrechtsfrage. und Wirtschaftsinteressen zu konstruieren, ist der ab- solute Irrweg. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurz- Das ist eine Scheinalternative, die wir überwinden intervention erhält jetzt die Abgeordnete Schwaetzer müssen; denn das Beispiel anderer Staaten zeigt: Bei- das Wort. des kann angemessen und auch mit angemessenem Erfolg sowohl für die Betroffenen als auch für die Wirtschaft einer Industrienation vertreten werden. Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Natürlich bedarf es der stillen Diplomatie. Aber manchmal beeindruckt eben Diktaturen nur ein offe- Der Kollege Tippach hat in seinem Beitrag gerade nes Wort. Ich denke, das zeigt die Reaktion auf die klargemacht, daß es richtig war, die PDS nicht einzu- Rede von Außenminister Kinkel in Genf bei der Men- laden, mit uns gemeinsam diesen Antrag zu formu- schenrechtskonferenz, die ja von uns allen nach- lieren. drücklich begrüßt worden ist. Deswegen muß das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auch in Peking so der Fall sein. Der Kollege Poppe hat mich gefragt, ob ich nach Wir müssen auch dem offiziellen China immer wie- wie vor zum Inhalt dieses Antrages stehe. Selbstver- der sagen, daß es keine Einmischung in innere Ange- ständlich, und die gesamte F.D.P.-Fraktion tut das legenheiten eines Staates ist, wenn Menschenrechte auch. Es ist richtig und wichtig gewesen, daß wir die- eingefordert werden, sondern daß dies eine Selbst- sen Antrag formuliert haben, denn damit werden wir verständlichkeit und ein Auftrag für alle Demokraten nach der Abstimmung heute eine klare Grundlage weltweit ist. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10101

Dr. Irmgard Schwaetzer Wir machen mit der Abstimmung heute klar, daß stellt eine unzulässige Einmischung in die inneren wir uns Pressionen nicht beugen. Es darf China nicht Angelegenheiten Chinas dar. gelingen, Tibet von der Tagesordnung der Weltpoli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tik herunterzuholen. Spätestens seit dem Schlußdokument der großen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und UN - Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien ist völ- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei kerrechtlich festgeschrieben, daß „die Förderung Abgeordneten der SPD) und die Wahrung der Menschenrechte ein legitimes Die Chinesen streben ganz eindeutig an, die Tibet- Anliegen der internationalen Gemeinschaft ist". Dies Frage auf ihre Weise zu erledigen, und sie fühlten ist natürlich im Einzelfall für jedes Land unange- sich von dem einen oder anderen vielleicht zu der nehm, und es stellt auch einen allerdings völker- Annahme ermutigt, daß das ohne größere Proteste rechtlich legitimie rten Eingriff in dessen Souveräni- über die Bühne gehen könnte. tät dar. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese Vereinbarung, wechselseitig die Kritik ande- DIE GRÜNEN) rer Länder zu akzeptieren, ist von der Volksrepublik China 1993 unterschrieben worden, und daran muß Heute wird klargemacht, daß dies keinen Erfolg ha- sie sich halten. ben wird, und ich begrüße das nachdrücklich. Damit ist aber auch klar: Es ist nicht nur das Recht, Danke schön. sondern nach unserem Selbstverständnis sogar die Verpflichtung des Deutschen Bundestages wie der (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Bundesregierung, sich für die Wahrung der Men- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schenrechte in anderen Ländern einzusetzen. Dieses Recht läßt sich das Parlament von niemandem ab- sprechen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Krautscheid. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Frau Präsiden- tin! Meine Damen und Herren! Gemeinsam mit vie- Ein weiterer Einwand ist von verschiedenen Seiten len Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen gegen die vermeintliche „völkerrechtliche Neube- des Hauses freue ich mich, daß wir nach Monaten in- wertung" in einzelnen Passagen unserer Resolution tensiver und teilweise auch schwieriger Vorarbeiten vorgebracht worden. Um es ganz deutlich zu sagen: heute endlich diese Debatte führen können und die Der heutige Beschluß bezieht keine neue völker- Tibet-Resolution verabschieden werden. Nebenbei rechtliche Position hinsichtlich des Status von Tibet. bemerkt: Diese heutige Debatte ist sicherlich in er- Wir verweisen lediglich auf die Tatsache, daß in der ster Linie wegen der Situation der Menschenrechte Bundestagsanhörung vom 19. Juni 1995 unter den in Tibet wichtig. Aber gestatten Sie mir, nach den eingeladenen Fachleuten die Frage der Zugehörig- letzten Tagen auch zu sagen: Daß diese Debatte keit Tibets zum chinesischen Staatsverband umstrit- heute so stattfinden kann, ist auch ein gutes Zeichen ten war. Die dort geäußerten unterschiedlichen Ar- des Selbstverständnisses und des Selbstbewußtseins gumente machen wir uns aber nicht zu eigen. Insbe- unseres Parlamentes. sondere akzeptieren wir, daß die Bundesregierung hierzu im Einvernehmen mit allen anderen Staaten (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der eine klare völkerrechtliche Position einnimmt. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich persönlich halte die Diskussion über diesen Es gab und gibt eine Reihe von Bedenken und Ein- Aspekt ohnehin für reichlich fruchtlos. Man kann wendungen gegen den Text dieser Resolution. Sie ist hiermit akademische Seminare oder nationalistische ein Kompromiß zwischen allen Fraktionen, deren Eiferer tagelang beschäftigen, aber die tatsächliche Berichterstattern ich an dieser Stelle für die sehr kol- Lage der Menschen in Tibet wird sich hierdurch legiale Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des nicht verbessern. Textes danken möchte. Wie bei jedem Kompromiß bleibt auch hier für manche der Text hinter dem Und weil wir den Anspruch Pekings auf die Inte- Wünschenswerten zurück, und andere mußten über grität seines Territoriums respektieren, halte ich es das aus ihrer Sicht unbedingt Notwendige hinausge- für um so wichtiger, daß der Dalai - Lama am letzten hen. Daß alle Fraktionen dieses Hauses heute hinter Wochenende erneut klargemacht hat, daß im Zen- dieser Resolution stehen, verleiht ihr besonderes Ge- trum seiner Bemühungen nicht zuvorderst völker- wicht und Tragfähigkeit; denn mit kleinkariertem rechtliche Fragen, sondern das Recht auf kulturelle oder gar parteipolitisch motiviertem innenpolitischen und religiöse Selbstbestimmung steht. Auch zu die- Streit erweisen wir unserem eigentlichen Anliegen ser Textpassage in unserer Resolution gilt: Die Forde- einen Bärendienst. rung nach politischer Selbstbestimmung beinhaltet nach einhelliger Auffassung aller Fachleute niemals (Zustimmung bei der CDU/CSU) das Recht auf Sezession, und deshalb war die Aufre- gung auch in dieser Hinsicht reichlich überflüssig. Ein erster Einwand gegen diese heutige Debatte läßt sich vorab sehr schnell ausräumen. Weder die Ein letzter Punkt der Kritik am Text der Resolution Tibet-Resolution noch die heutige Debatte selbst bezieht sich auf die Erwähnung der sogenannten. 10102 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Andreas Krautscheid tibetischen Exilregierung. Am Rande sei bemerkt, takte und dem Eintreten für Menschenrechte. Man daß diese Formulierung in der fünfmonatigen Vorbe- darf nur nicht das eine tun und das andere lassen. reitungsphase nie beanstandet und erst in der letzten Beides gehört für uns zusammen. Woche gerügt worden ist. Aber auch hierfür gilt: Es ging und es geht den Verfassern der Resolution ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. zig und allein darum, auszudrücken, daß wir von der sowie bei Abgeordneten der SPD) chinesischen Regierung die Wiederaufnahme des Meine Damen und Herren, wir sollten von dieser Dialogs mit dem Dalai-Lama und seinen Mitarbeitern Debatte auch nicht das Mißverständnis ausstrahlen erwarten. Es handelt sich also um die Beschreibung lassen, das Thema Tibet sei, nachdem wir diese Reso- eines Gesprächspartners, der sich selbst als „tibeti- lution verabschiedet haben, quasi durch. Wir bringen sche Exilregierung" bezeichnet, nicht um dessen völ- hier nicht eine unangenehme Debatte möglichst kerrechtliche Anerkennung. schnell hinter uns, und das Thema Tibet wande rt (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ heute nicht bis auf weiteres in die Ablage. Wie lange DIE GRÜNEN]: So ist es!) und wie intensiv wir uns mit diesem Thema beschäf- tigen müssen, hierauf hat die chinesische Regierung Nach alledem kann nach meiner Auffassung fest- selbst die größten Einflußmöglichkeiten. gestellt werden, daß der vorliegende Text keine neue völkerrechtliche Position bezieht, sondern sich in vol- Deshalb ist für uns eines klar: Solange die Mei- lem Umfang auf der Grundlage der bisherigen Bun- nungs- und Bewegungsfreiheit in Tibet einge- destagsbeschlüsse und der Position der Bundesregie- schränkt ist, solange die religiöse Betätigungsfreiheit rung bewegt. massiv behindert wird - etwa durch das Verbot allein des Besitzes von Fotos des Dalai-Lama -, solange Meine Damen und Herren, man kann über die Klöster geschlossen oder sogar zerstört werden und Lage der Menschen in Tibet nicht diskutieren, ohne solange den Tibetern gleiche Entwicklungs- und unser Verhältnis zur Volksrepublik China anzuspre- Ausbildungschancen verwehrt bleiben, so lange wird chen. Es ist gut und wichtig, daß in der bisherigen sich der Bundestag auch in Zukunft mit diesem Debatte die große politische Bedeutung des Landes Thema beschäftigen müssen. gewürdigt worden ist. Es kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß die Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der land größtes Interesse an einem guten Verhältnis SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum drittgrößten und bevölkerungsreichsten Land sowie bei Abgeordneten der PDS) der Erde hat, einem ständigen Mitglied im Sicher- Meine Damen und Herren, diese Resolution fordert heitsrat, einer Nuklearmacht, die auch als Wi rt die Bundesregierung auf, die dort angesprochenen -schaftsfaktor stetig an Bedeutung gewinnt. China be- Themen gegenüber der chinesischen Regierung zur findet sich in einer schwierigen Übergangssituation. Sprache zu bringen, den Dialog mit diesem Land zu Wir wissen, daß nur mit einem f riedlichen und stabi- fördern und auf allen politischen Ebenen zu verbrei- len China die regionale Sicherheit in Asien gewähr- tern. Denn nicht durch Isolierung und Pression, son- leistet werden kann. dern nur durch das gemeinsame Gespräch werden Die besondere Schwierigkeit für uns besteht da rin, wir wirklich etwas zum Vorteil für die Menschen in in diesen Kontext unser Eintreten für Menschen- Tibet ändern können. rechte einzubetten. Es gehört zu den Aufgaben der Ich danke Ihnen. Bundesregierung, aber auch zu denen des Parlamen- tes, ein offensichtlich bestehendes Mißverständnis (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. auszuräumen. Für chinesische Gesprächspartner sowie bei Abgeordneten der SPD, des scheint unser Wunsch nach guten Beziehungen oft BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der unvereinbar zu sein mit dem Ansprechen von Men- PDS) schenrechtsverletzungen. Wir müssen hier unmißver- ständlich klarmachen, daß nach unserem Verständ- Es spricht jetzt nis zu einem guten Verhältnis immer auch ein Dialog Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann. über Menschenrechte gehört. Dabei akzeptieren wir, daß unsere Gesprächspart- Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! ner mit Recht auf eine unterschiedliche Geschichte, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich andere Traditionen und einen eventuell noch be- mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Die Be- stehenden Entwicklungsrückstand verweisen. Jedes ziehungen zum größten Land der Erde, die Zusam- Land muß unter seinen spezifischen Umständen den menhänge zwischen Menschenrechten und Wirt- Weg zur Demokratie finden. Aber dabei hat die Ver- schaftsbeziehungen sind eine sehr wichtige Sache. wirklichung von individuellen Rechten, wie zum Bei- Wir haben heute nicht die Zeit, es zu vertiefen, aber spiel der Meinungsfreiheit, demokratischer Mitbe- nach wie vor bleibt richtig, daß zumindest langfristig stimmung und kultureller Eigenständigkeit, gleich- die marktwirtschaftliche Öffnung eines Landes auch rangig betrieben zu werden. zu politischen Veränderungen führt. In diesem Zusammenhang besteht aus meiner (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Sicht - Herr Duve hat das schon völlig richtig darge- stellt - auch kein grundsätzlicher Widerspruch zwi- Selten hat sich ein Kabinettsmitglied so persönlich schen dem Erstreben besserer wirtschaftlicher Kon- und vehement wie Klaus Kinkel für individuelle Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10103

Dr. Helmut Haussmann Schicksale engagiert. Er braucht hier wirklich keine satz. Ihre Durchsetzung kann aber nur in direkter Be- Nachhilfestunde. gegnung und im Dialog erreicht werden. Deshalb ist die geplante Reise von Klaus Kinkel nach China so (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne wichtig. Sie muß dazu genutzt werden, die unerträg- ten der CDU/CSU und der SPD) lichen Versuche der chinesischen Regierung in jüng- Es ist auch nicht von schlechterer moralischer Quali- ster Zeit, auf die Durchführung von Veranstaltungen tät, wenn sich der deutsche Außenminister um Ar- in Deutschland Einfluß zu nehmen, sowie die Schlie- beitsplätze in der deutschen Exportindustrie küm- ßung des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in mert. Wer je die Gelegenheit hatte, mit sozialdemo- Peking unmißverständlich zu verurteilen. kratischen Ministerpräsidenten nach China oder in Über strittige Fragen muß auch und gerade mit andere Länder zu reisen, der kann hier keinen Unter- China offen gesprochen werden. Hierzu gehört vor schied erkennen. Es verhält sich eher umgekehrt. allem das Verständnis von Menschenrechten. Ihre (Günter Verheugen [SPD]: Das kritisiert nie Geltung ist aus liberaler Sicht universal. Dazu beken- mand!) nen wir uns. Ein entscheidender Beitrag ist der vor- liegende gemeinsame Antrag. - Diese Zweiteilung, Herr Verheugen, die wir schon in der letzten China-Debatte hatten - die Guten tre- Die gesamte F.D.P.-Bundestagsfraktion, gerade ten für Menschenrechte, die Schlechten für wirt- auch der Außenminister, werden diesem Antrag zu- schaftliche Beziehungen ein -, wird diesem ernsten stimmen. Problem nicht gerecht. Vielen Dank. (Beifall bei der F.D.P. - Freimut Duve [SPD]: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das geht völlig ins Leere! - [SPD]: Bauen Sie keinen Popanz auf!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Heute geht es um eine Entscheidung, die Tibet be- jetzt der Kollege Günter Verheugen. trifft. Ich kann für die F.D.P. feststellen: Seitdem sich der Deutsche Bundestag mit Tibet beschäftigt,- Günter Verheugen (SPD): Frau Präsidentin! Meine (Freimut Duve [SPD]: Das haben wir gar sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nach nicht gemacht!) den Bemerkungen, die der Bundesaußenminister und der Kollege Haussmann über den Zusammen- herrscht Einigkeit darüber, Herr Duve, daß Men- hang von Außenwirtschaft und Menschenrechten ge- schenrechtsverletzungen in Tibet durch die chinesi- macht haben, doch gerne noch etwas klarstellen. sche Regierung nicht hinnehmbar sind und daß aus der historischen Situation Tibets der klare Anspruch Erstens. Niemand in diesem Haus hat jemals kriti- auf Autonomie erwächst. Tibet hat in seiner gesam- siert, daß es einen intensiven politischen Dialog mit ten Geschichte eine eigene ethnische, kulturelle und der Volksrepublik China gibt. Ganz im Gegenteil, religiöse Identität bewah rt . Daß es nicht um die staat- dieser intensive Dialog ist notwendig. Ich bin auch liche Unabhängigkeit Tibets geht, hat der Dalai sehr dankbar, daß der Bundesaußenminister das Lama selbst mehrfach bekräftigt. Wort Dialog heute ohne ein Beiwort verwendet hat. Unsere Forderungen an die Volksrepublik China Zweitens. Niemals hat jemand kritisiert, daß wir sind klar: Sie muß die weltweit anerkannten Men- Handelsbeziehungen zur Volksrepublik China ha- schenrechte achten, die Menschenrechtsverletzun- ben wollen. Ich gehe noch nicht einmal so weit wie gen gegen Tibeter beenden und mit dem Dalai-Lama Graf Lambsdorff, der sagt: Wir machen das, weil wir in einen konstruktiven Dialog über mehr Rechte für glauben, daß der Handel Wandel herbeiführt. - Das das tibetische Volk eintreten. ist nicht überall der Fall. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das, wie es der Außenminister richtig dargestellt hat, Die F.D.P.-Fraktion begrüßt, daß der Bundesminister so exportorientiert ist, bedarf für seinen Außenhan- des Auswärtigen gegenüber der chinesischen Regie- del keiner besonderen Rechtfertigung. Wir leben da- rung die Achtung der Menschenrechte bei vielen Ge- von, daß wir mit anderen Ländern auf der Welt Han- legenheiten angemahnt hat, zuletzt bei der Men- del treiben. Das ist vollkommen in Ordnung. Das hat schenrechtskommission in Genf. Dies ist ein sehr niemals jemand kritisiert. wirksames Mittel, wie die Freilassung und Ausreise zahlreicher Dissidenten aus China bewiesen hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Das bedeutet aber doch nicht, daß wir im Umgang Über die Aufgaben eines Außenministers darf es mit Staaten, mit denen wir reden und Handel trei- jedoch kein Mißverständnis geben. Ihm ist die Wah- ben, nicht offen und ehrlich sagen können, was wir rung aller deutschen Interessen in der Außenpolitik politisch von ihnen erwarten. Ich verstehe gar nicht, anvertraut. Dies gilt genauso auch gegenüber China. warum immer dieser Zusammenhang hergestellt Zu diesen Interessen zählen aber nicht nur politische, wird. sondern auch wirtschaftliche Interessen, wie auch der Anspruch, Menschenrechten Geltung zu ver- Herr Kinkel, ich muß Ihnen sagen: Ihre Rede hat schaffen. Interessen und Werte bilden keinen Gegen- mich ein wenig bedenklich gestimmt. Sie haben so 10104 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Günter Verheugen viele Formeln gebraucht, so viele Einschränkungen Ich vermute, Sie haben es nur vergessen. gemacht und so oft „zwar - aber" gesagt, daß ich mir nicht ganz sicher bin, ob Sie verstanden haben, was Zum dritten - das ist das Entscheidende, Herr Bun- der Deutsche Bundestag mit dem, was er gleich be- desaußenminister -: Die Volksrepublik China nimmt schließen wird, tatsächlich erreichen wi ll. für sich eine Politik und Rechte in Anspruch, die sie anderen nicht zugesteht. Ich will an die A rt und Der Deutsche Bundestag wi ll erreichen, daß der Weise erinnern - das ist schon mehrfach gesagt wor- Volksrepublik China gegenüber unmißverständlich den -, wie sich der chinesische Botschafter in die Ent- deutlich gemacht wird, daß wir nicht bereit sind, scheidungsprozesse des Bundestages eingemischt über das, was in Tibet geschieht, hinwegzusehen. hat. Ich will auch an die Art und Weise erinnern, wie Der Deutsche Bundestag erwartet von Ihnen nicht, hochrangige chinesische Besucher in der Bundesre- daß Sie weitermachen wie bisher. Ich habe Ihre Rede publik Deutschland reagie rt haben, als sie mit dem so verstanden, daß Sie gesagt haben: Wir machen selbstverständlichen Recht der Bürgerinnen und Bür- das ja; wir reden schon mit denen. In der Entschlie- ger unseres Landes konfrontiert wurden, unter Inan- ßung, die wir gleich verabschieden wollen, steht viel- spruchnahme des Demonstrationsrechts auch Gästen mehr, daß wir Sie bitten, sich verstärkt für die Einhal- gegenüber ihre Meinung zu äußern. tung der Menschenrechte in Tibet einzusetzen. Die Betonung liegt für mich auf dem Wo rt „verstärkt". Ich will auch an die Verhaltensweise der chinesi- Wir erwarten, daß Sie mehr tun, als bisher geschehen schen Regierung gegenüber dem französischen ist. Ministerpräsidenten im Zusammenhang mit einem (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Geschäft erinnern. GRÜNEN und der PDS) Machen Sie bitte den chinesischen Partnern un- Ich möchte Ihnen gerne drei ganz konkrete Bitten zweideutig klar, daß die Bundesrepublik Deutsch- mit auf den Weg geben. Ich weiß, daß Ihr Gepäck für land auch von dem großen China nicht erpreßbar ist, die Reise nach Peking ohnehin nicht leicht ist, und in keiner Weise erpreßbar. beneide Sie nicht darum, dies machen zu müssen. Sie haben den Job aber ganz offensichtlich- gewollt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das gehört dann wohl dazu. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Zum ersten. Es ist darauf hingewiesen worden, daß Kolleginnen und Kollegen aus dem Unterausschuß Wir haben ganz gewiß unsere Gründe, manchmal für Menschenrechte des Deutschen Bundestages, die nicht allzu lautstark aufzutreten. Ich bin immer dafür, sich an Ort und Stelle ein Bild machen wollten, die nicht allzu laut zu sein. Aber wir haben auch Gründe, Einreise verweigert worden ist. Bitte, Herr Bundes- warum wir klar und deutlich sein müssen, wenn auf außenminister, machen Sie Ihren chinesischen Part- der Welt Dinge geschehen, die gerade uns als Deut- nern ganz klar, daß das nicht nur eine Einreisever- sche besonders bewegen müssen. Aus unserer eige- weigerung gegenüber einer kleinen Gruppe, gar nen Erfahrung heraus kann es nicht angehen, daß einer unbeachtlichen Minderheit des Deutschen wir in Menschenrechtsfragen mit unterschiedlichen Bundestages ist, sondern daß sich davon der gesamte Maßstäben messen, und es kann nicht angehen, daß Deutsche Bundestag betroffen fühlt wir kleinen und scheinbar unbedeutenden Ländern gegenüber die Muskeln zeigen und dem großen und (Beifall im ganzen Hause) starken China gegenüber eine Politik betreiben, die und daß wir wünschen, daß diese Reise stattfinden nur als Ermutigung zum Weitermachen aufgefaßt kann. werden kann. Zum zweiten. Graf Lambsdorff, verzeihen Sie mir: Das sind die Bitten, Herr Bundesaußenminister, die Ich will hier nicht der Interessenvertreter der Fried- ich Ihnen in allem Ernst mit auf die Reise geben rich-Naumann-Stiftung sein, möchte. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Ich habe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nichts dagegen!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) der ich mich, wie Sie wissen, aus vielerlei Gründen eng verbunden fühle. Ich hätte aber eigentlich doch erwartet, daß Sie und der Kollege Haussmann etwas Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile dem weiter gehen würden, als nur zu sagen: Man soll den Abgeordneten Otto Graf Lambsdorff das Wo rt zu ei- Chinesen sagen, das gefällt uns nicht. Ich bin schon ner Kurzintervention. der Meinung, daß wir klar sagen sollten: Wir können es nicht hinnehmen, daß eine deutsche Stiftung ihr (Freimut Duve [SPD]: Es war eine gute Büro schließen muß, weil sie eine Politik vertritt, die Debatte, Herr Lambsdorff! Das müssen Sie der Deutsche Bundestag für richtig hält. Fordern Sie zugeben!) die Chinesen auf, das Büro der F riedrich-Naumann- Stiftung in Peking wieder zu eröffnen! Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Vielen Dank, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin. - Herr Verheugen, ich bin über- GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abge haupt nicht erzürnt darüber. Im Gegenteil, ich bin er- ordneten der CDU/CSU und der PDS) freut darüber, daß Sie mir helfen, die Interessen der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10105

Dr. Otto Graf Lambsdorff Naumann-Stiftung wahrzunehmen. Die politischen traue darauf, daß dann, wenn sich der Pulverdampf Stiftungen arbeiten alle gut zusammen. Wir alle sit- und die Schwaden dieser Diskussion etwas verzogen zen heute um 20 Uhr mit den Haushältern zusammen haben und man wieder etwas mehr zu beruhigter und reden über den Haushalt des nächsten Jahres. - Einsicht kommt, auch die Naumann-Stiftung ihre Ar- Frau Albowitz stöhnt schon. Ich verstehe das. beit dort wiederaufnehmen kann. Wir haben alle miteinander kein Konkurrenzver- Wir werden uns überlegen, ob wir sie irgendwo in hältnis. Das gilt für die Ebert-Stiftung, bei der ich dieser Region, möglichst nicht zu weit entfernt von dank Ihrer freundlichen Einladung häufig zu Gast Peking, wenigstens halbwegs fortsetzen können. sein kann und in der letzten Zeit wirklich zu Her- zen gehende marktwirtschaftliche Vorträge gehört (Beifall bei der F.D.P. - Freimut Duve [SPD]: habe. In Hongkong!) (Zuruf von der SPD) - Sie haben es gesagt. Aber wie lange geht es dann - Es waren Gordon Brown und Tony Blair. Sie kön- dort? nen sich das vorstellen.

Herr Verheugen, ich habe zu diesen Dingen in den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat letzten Tagen häufig genug Stellung genommen. Ich jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Schwarz-Schil- wollte die wenigen Minuten Redezeit, die ich habe, ling. nicht so sehr der Naumann-Stiftung, sondern der Bundestagsresolution und der Gesamtsituation wid- men. Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Ich halte die Reaktion der chinesischen Regierung ren! Ich glaube, wir haben heute eine Debatte über in der Tat für völlig unangemessen, und zwar einmal eines der schwierigsten Probleme, nämlich über das deshalb, weil die Vorwürfe total ungerechtfertigt Problem der Menschenrechte im globalen Sinn, zu sind. - der wir uns alle beglückwünschen können - bis auf (Volker Neumann [Bramsche] [SPD]: Über eine Ausnahme, die ich hier nicht weiter erwähnen zogen!) möchte. Herr Neumann, Sie haben das selber gesagt; vielen Diese Debatte zeigt, daß wir auch in der Lage sind, Dank. Es kann keine Rede davon sein, daß wir in in unterschiedlichen Parteien die universellen Maß- irgendeiner Weise für separatistische Bestrebungen stäbe von Menschenrechten nicht nur zu akzeptie- eintreten. Wir haben das nie getan. Wir haben nie ren, sondern auch zu artikulieren. die staatliche Integrität der Volksrepublik China in Frage gestellt, auch was Tibet anlangt nicht, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD dern wir haben uns auf die Menschenrechte kon- sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) zentriert. Dafür bin ich unendlich dankbar, weil wir so etwas Ich muß mich - erlauben Sie mir diese vielleicht et- nicht oft antreffen. was unpassende Bemerkung - inzwischen dagegen wehren, daß wir in den Verdacht geraten, eine bud- Ich möchte zum zweiten folgendes sagen: Ich dhistische Stiftung geworden zu sein. Wir sind nach glaube, wir sind uns alle darin einig, daß Menschen- wie vor eine liberale Stiftung. rechte keine Unparteilichkeit vertragen. Da muß man Partei nehmen, einfach aus dem Grunde, weil (Zuruf von der SPD: Was heißt das?) die Geschichte gezeigt hat: Dort, wo dies nicht ge- Zum zweiten ist die chinesische Reaktion unange- schieht, fällt man zurück in Zustände, die nichts messen, weil die Naumann-Stiftung, die do rt seit mehr mit Menschenrechten zu tun haben. Das zehn Jahren arbeitet - und das betrifft auch die Lei- 20. Jahrhundert in Deutschland und in Europa ist in stung des Leiters der Vertretung -, „nach der Ford vielen Bereichen ein Beispiel, aus dem wir lernen Foundation" - ich zitiere die „Neue Zürcher Zei- müssen. tung" - „die angesehenste Einrichtung dieser Art in Die angebliche Einmischung, von der hier gespro- China" ist. 1 Million DM jährlich sind dort ausgege- chen wird, ist nichts anderes, als daß wir das, was wir ben worden. als Errungenschaften der Menschheitsgeschichte Ich verstehe nicht, warum sich die chinesische Re- Gott sei Dank hier und da feststellen können, erhal- gierung auf diese Weise selbst ins Knie schießt, in- ten wollen, wo es ist, und dort, wo noch der Kampf dem sie dieser vernünftigen Arbeit ein Ende bereitet darum tobt, auf sehr zivile Weise einen gewissen Bei- und durch die Schließung des Büros ihre Fortsetzung trag dazu leisten, daß diese Menschenrechte allge- unmöglich macht. meingültig werden. Ich sehe davon ab, Ihnen in der Forderung zu fol- Meine Damen und Herren, wenn wir heute das gen, den Bundesaußenminister mit der Bitte nach Pe- Thema Tibet behandeln, ist natürlich die Frage zu king reisen zu lassen, dort zu verlangen, daß das stellen: Wer steht hier auf welchem Niveau? Lesen Büro morgen wieder eröffnet werden darf. Sie wis- Sie einmal, was am 15. Juni von der „Tibet Daily" sen, Gesichtsverlust und Gesichtswahrung spielen in vom 9. Fünfzehnjahresplan der Regierung der Re- diesem Teil der Welt eine große Rolle. Aber ich ver- gion Tibet in Peking über die Region Tibet für die 10106 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Christian Schwarz-Schilling nächsten fünfzehn Jahre veröffentlicht worden ist. macht und der Kraft seines Marktes in wirtschaftli- Ich zitiere: cher Hinsicht von unseren Fragestellungen auch nur einen Millimeter abhängig machen ließe, das ist eine Wir müssen die Kritik am Dalai-Lama ausweiten Selbstüberschätzung, von der wir schleunigst Ab- und vertiefen und ihn öffentlich bloßstellen und schied nehmen sollten. dabei seinen Mantel eines religiösen Führers her- unterreißen. Wir müssen sicherstellen, daß die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, breiten Volksmassen deutlich verstehen, daß das, der SPD und der F.D.P.) was er mit seiner sogenannten Unabhängigkeit/ Autonomie auf hoher Ebene anstrebt, in Wirk- Ich habe mich schon damals, obwohl ich mich ve- lichkeit eine Opposition gegen die kommunisti- hement gegen das, was auf dem Tiananmen - Platz sche Partei darstellt. passiert ist, gewandt habe, gegen eine Selbstblok- kade ausgesprochen. Sie hat dazu geführt, daß wir in Meine Damen und Herren, da kommen wir auf des jener Zeit ungefähr 50 Prozent unserer Telekommu- Pudels Kern. Hier sind noch Steinzeitkommunisten nikationsaufträge verloren haben und daß uns damit am Werk, wie sie im übrigen China in weiten Berei- entsprechende langfristige Infrastrukturaufträge auf chen nicht mehr anzutreffen sind, die belehrend eine Jahrzehnte verlorengingen. Was hatte unser Verhal- andere Kultur daran messen, um wieviel Prozent die ten für einen Sinn? Die Franzosen, die Amerikaner Produktion der Landwirtschaft und der Indust rie ge- und die Japaner waren sofort da. Man muß schon steigert wurde, und die überhaupt nicht ahnen, wel- wissen, was man tut. che Höhe der Kultur es auf diesem „Dach der Welt" in Jahrhunderten gegeben hat und was vielleicht Mir fällt in diesem Zusammenhang doch noch die- auch die Gebete tibetischer Mönche für das Schick- ser eine Kollege, Herr Tippach, ein; Sie sind jetzt wie- sal dieser Welt bedeuten. der hier. Vielleicht ist das der eigentliche Punkt, nämlich daß Sie die gleiche Position vertreten wie da- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der mals Honecker, der die Ereignisse auf dem Tianan- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men-Platz ja wunderbar gefunden hat. Ich finde, Sie sollten einmal nachdenken; die PDS müßte sich an- Wenn Sie den Dalai - Lama sehen und mit ihm spre- gesichts dessen, was in der Zwischenzeit geschehen chen, diese Bescheidenheit, diese Ausstrahlungs- ist, auch ein bißchen fortentwickeln. kraft - nein, so sieht kein Mönch aus - wir haben in Europa manche Mönche gehabt, die haßerfüllt und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - fanatisch Politik bet rieben haben -, so sieht kein Reli- Zurufe von der PDS) gionsführer aus, dem man „die Maske abreißen muß". Da müssen sich die Gesprächspartner fragen, Wir wollen den Dialog. Ich muß sagen, Herr Ver- wie sie sich nach solchen Propagandaparolen selbst heugen, daß ich Ihre diesbezüglichen Ausführungen einzuschätzen haben. wirklich nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, ob ich eine andere Rede des Außenministers gehört habe. Deshalb, meine Damen und Herren, ist diese Ent- Der Außenminister hat mit aller Deutlichkeit festge- schließung wirklich eine Antwort des ganzen Deut- stellt, daß er hinter dieser Resolution steht und daß schen Bundestages, um die Dinge zurechtzurücken Menschenrechtsfragen voll mit in seine Verantwor- und Forderungen an diejenigen zu stellen, die mei- tung fallen. Ich habe in der Funktion, die ich früher nes Erachtens nicht an der Spitze der Menschheit, innehatte, einiges von den Beziehungen zu Peking sondern weit unterhalb marschieren und die noch mitbekommen. Da kann ich nur sagen: Durch großen viel zu lernen haben. Krach kann man in diesem Land nicht sehr viel errei- chen. Vielmehr muß man an den Erfolg für den ein- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der zelnen Menschen denken. Es kommt also nicht dar- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf an, daß wir hier hurra rufen, weil etwas beson- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu der ders laut gesagt worden ist; vielmehr sollten wir Frage Wirtschaft ein Wort sagen. Ich gehöre unter dann hurra rufen, wenn das eine oder andere durch keinen Umständen zu denjenigen, die eine einzige diese Gespräche bewegt worden ist. Position vertreten und die die Vertretung der ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ren Positionen anderen überlassen. Ich befinde mich in mehreren Funktionen inhaltlich auf beiden Seiten. Der Dialog bleibt weiter wichtig. Man kann also Insofern ist es dann sehr schwer, weil sich ja dieser schon die Behauptung aufstellen: Wenn man meint, Kampf in einem selber abspielt. Man kann nicht Wirtschaft und Menschenrechte separieren zu kön- sagen: Menschenrechte überlasse ich den anderen. nen - die chinesische Regierung behauptet ja lau- Oder umgekehrt: Wirtschaft ist nicht mein Bier; das fend, daß das gar nichts miteinander zu tun hat -, überlasse ich denen. dann muß man es auch praktizieren. Die chinesische Regierung kann das natürlich nicht in der A rt prakti- Ich möchte Ihnen sagen: Von der Idee her sind der zieren, daß sie in Wirtschaftsdingen weiter ge- Kampf und das deutliche Eintreten für Menschen- sprächsbereit ist und die Gesprächspartner für Men- rechte ein Muß für jeden Demokraten. Aber wenn schenrechtsfragen auslädt. Das ist nicht die Form des man sich politisch betätigt, muß man sich natürlich Dialogs, wie wir ihn uns vorstellen. Das muß aber auch fragen: Mit welchen Mitteln erreiche ich was? auch mit aller Deutlichkeit gesagt werden. In der Politik ist eine erfolglose Kampagne vollkom- men sinnlos. Zu glauben, daß sich dieses Land mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. über 1 Milliarde Menschen, mit seiner Wirtschafts- sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10107

Dr. Christian Schwarz-Schilling Herr Außenminister, Sie haben sicherlich in Ihrem Punkten Differenzen, die ich jedoch meiner Zustim- Tornister viele Dinge und Wünsche. Aber eines wäre mung unterordnen kann. mir schon ganz lieb: Wenn Sie herausfinden könnten, Ich möchte sehr scharf betonen, daß ich die Kritik welch vernünftiger Gesprächspartner auf hoher meines Kollegen Tippach in weiten Teilen teile, Ebene in Peking für einen Dialog über Menschen- rechte für die Delegation des Deutschen Bundesta- wenn es darum geht, wie in diesem Hause mit Men- ges in absehbarer Zeit zur Verfügung stünde. schenrechtsverletzungen in anderen Ländern umge- gangen wird. Sie sind oft von Doppelmoral und Heu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des chelei begleitet. Ich wünsche mir Einheitlichkeit bei BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen auch dann, wenn es beispielsweise um den schmutzi- Das wäre sicherlich für uns eine Freude. Wir wol- gen Krieg in der Türkei gegen das kurdische Volk len also nicht mit dem dritten Vertreter des Referates geht. für Westeuropa solche Lappalien austauschen, wie sie in dem Fünfzehnjahresplan stehen. Vielmehr soll- Ich denke, wenn Sie mit Ihrer Menschenrechtspoli- ten wir auch ein philosophisches Gespräch über die tik, auch anderen Ländern gegenüber, anders umge- Universalität der Menschenrechte und über die chi- hen, dann kann man vielleicht auch solche Anträge nesische Kultur suchen. Es hat schon im 8. Jahr- ernst nehmen. hundert große Religionsverfolgungen gegeben. Auf lange Sicht hat sich das in China alles applaniert. Ich Danke. bin der Meinung, daß das auch in bezug auf Tibet (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne einmal der Fall sein wird. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bloß, wir müssen dafür sorgen, daß in der Zwi- schenzeit nicht eine Kultur versinkt, eine der groß- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen artigsten, exklusivsten, von allen anderen Kulturen nun zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag unterschiedenen Ausprägungen des menschlichen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und der F.D.P. zur Verbesserung der Geistes. Würde sie in unserer Zeit versinken,- wäre das eine Schande für unsere Generation. Menschenrechtssituation in Tibet auf Drucksache 13/ 4445. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen fast sowie bei Abgeordneten der SPD und des des ganzen Hauses bei einigen Enthaltungen aus der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gruppe der PDS und einer Einhaltung aus der CDU/ Wir müssen dafür kämpfen, daß das nicht eintritt. CSU angenommen.

Im übrigen darf ich zum Schluß sagen, daß von chi- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: nesischer Seite kein Vertreter diese Debatte verfolgt, daß aber für die tibetische Seite Professor Samdhong Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Rinpoche, der Vorsitzende des Parlaments im Exil, ten Ottmar Schreiner, Karl-Hermann Haack auf der Besuchertribüne sitzt. Ich kann verstehen, (Eitertal), , weiterer Abgeordne- daß ihn interessiert, was der Deutsche Bundestag zu ter und der Fraktion der SPD sagen hat. Ich freue mich, daß er es hören konnte. Arbeitswelt und Behindertenpolitik Ich danke Ihnen. - Drucksachen 13/1333, 13/2441 - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion sowie bei Abgeordneten der SPD, des der SPD auf Drucksache 13/4972 und ein Entschlie- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen PDS) auf Drucksache 13/4991 vor. Der Entschließungsan- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die sache 13/4963 wurde zurückgezogen. Aussprache und erteile zu einer Erklärung zur Ab- stimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort. Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst und Herren! Ich werde mit einigen Abgeordneten der Abgeordnete Haack. meiner Gruppe für diesen Antrag stimmen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Frau Präsi- der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir NEN und der F.D.P.) debattieren heute die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Arbeits- weil auch ich der Meinung bin, daß es dringend der welt und zur Behindertenpolitik in der Bundesrepu- Verurteilung der chinesischen Regierung in Sachen blik. Ich möchte meinen Redebeitrag an drei Punk- Menschenrechtsverletzungen in Tibet bedarf. Die ten orientieren: erstens an der Verfassungsdebatte Repressionspolitik ist meines Erachtens in diesem zum Verbot der Diskriminierung von Behinderten in Antrag richtig beschrieben. Ich habe zu einzelnen unserer Republik, zweitens an der Koalitionsverein- 10108 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Karl Hermann Haack (Extertal) barung von CDU/CSU und F.D.P. zur Schaffung des liches Leistungsrecht geben müsse. Angesichts der Sozialgesetzbuchs IX und drittens an unserer An- finanziellen Gegebenheiten war dies aber nicht zu frage. Dann möchte ich eine Bewe rtung der Sparbe- realisieren, und dazu ist es bis heute nicht gekom- schlüsse der Bundesregierung hinsichtlich dieser men. Es sollte zu gemeinsamen inhaltlichen Verbes- drei Punkte vornehmen. serungen kommen. Dazu sagt die Regierung in ihrer Antwort: Das muß geprüft werden. 1994 hat sich der Deutsche Bundestag im Rahmen der Verfassungsreform fraktionsübergreifend darauf Ein zentraler Punkt in den Werkstätten und in der verständigt, den Katalog der Diskriminierungsver- Wirtschaft an sich ist eine verbesserte Stellung der bote um ein neues Grundrecht für Behinderte zu er- Schwerbehindertenvertrauensleute. Auch dazu sagt weitern. Der Antrag der SPD auf Ergänzung des die Regierung, dies sei bis heute ungeklärt. Grundgesetzes in dem damaligen Gremium lautete: Die Meinungsbildung zu einem Verbandsklage- „Niemand darf wegen seiner Behinderung benach- recht für repräsentative Behindertenverbände ist in- teiligt werden. " Das prinzipielle Anliegen, die Behin- nerhalb der Bundesregierung umstritten. derten zu integrieren, fand den Konsens aller politi- schen Gruppierungen des Bundestages. Dies wurde All diese Forderungen und die zentrale Forderung noch einmal unterstrichen, als der Herr Bundeskanz- der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behin- ler anläßlich des 12. Bundesverbandstages -des VdK derte" sind bisher nicht erfüllt. Sie sind in weite in Deutschland im Mai 1994 klar Position bezog und Ferne gerückt. seine eigene unentschlossene Fraktion von der Not- wendigkeit dieser Integration überzeugte. Meine Damen und Herren, ich möchte es bei die- sen Beispielen bewenden lassen. Damit dürfte der Der zentrale Punkt in der damaligen wie heutigen Darstellung der Untätigkeit und vielleicht auch Unfä- Auseinandersetzung ist der Appe ll, das zu realisie- higkeit der Bundesregierung, sich der Welt der Be- ren, was notwendig ist. Es ging und geht um die hinderten zu nähern, Genüge getan sein. Ein Prüfen, reale Konsequenz einer solchen Grundgesetzände- ein Erwägen, ein Abstimmen - wie in der Beantwor- rung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirk- tung der Großen Anfrage der SPD seitens der Bun- lichkeit von Behinderten. Im damaligen Rechtsaus-- desregierung dargestellt - sind nicht Politik. Behin- schuß waren sich alle einig, das Benachteiligungs- derte und deren Vertreter erwarten reale Maßnah- verbot als Wertentscheidung und deren Ausstrah- men. Zu allem Überfluß hat man dann noch intern lung auf die gesamte Rechtsordnung darzustellen. die Verantwortung auf eine Arbeitsgruppe abge- Leider steht bei der Bundesregierung und der sie tra- wälzt, die irgendwann einmal zu einem Ergebnis genden Koalition noch bis heute der Appellcharakter kommen soll. im Vordergrund. Noch heute sind Behinderte trotz der Verfassungs- Ich komme noch einmal zur Historie. ergänzung vielerlei Diskriminierungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt. Zahlreiche Debatten sind Erstens. Bereits 1993, also vor drei Jahren, hatte vor dem Hintergrund der Anfrage und deren Beant- sich die Koalition darauf geeinigt, im Rahmen des wortung durch die Bundesregierung in diesem Haus Sozialgesetzbuchs IX die Rehabilitation und Einglie- geführt worden. Doch entscheidende Verbesserun- derung der Behinderten voranzubringen. gen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind Zweitens. Die Fraktion der SPD hat zur Unterstüt- nicht in Sicht. zung dieser Absicht der Koalition die Große Anfrage Ich erinnere nur an die Auseinandersetzungen, die gestellt, die wir heute debattieren. allein in der laufenden Legislaturpe riode zu zentra- Die Koalition hat dies in dem Abkommen 1994 len Gesetzen geführt wurden, zum Beispiel im Rah- nochmals niedergelegt. Sie wollte 1994, also vor zwei men der Pflegeversicherung, bei der Sozialhilfere- Jahren, die Realisierung einer Verbesserung der Si- form und hinsichtlich des Status der Behinderten in tuation der Behinderten in unserer Republik voran- Werkstätten oder bei der Verbesserung der Reise- bringen. An diesem Koalitionsvorhaben orientiert möglichkeiten von Behinderten. Das sind vier Bei- sich auch die Antwort der Bundesregierung. spiele. Die Behindertenverbände haben energisch auf den Seit dem Tage des Einbringens des Referentenent- politischen Entscheidungsprozeß der Pflegeversiche- wurfs zum SGB IX ist seitens der Bundesregierung rung und der Reform der Sozialhilfe hingewirkt. In nichts geschehen, um die neue Formulierung des diesem Zusammenhang möchte ich mich bei den Be- Art. 3 des Grundgesetzes voranzutreiben und damit hindertenverbänden für die rigide Interessenwahr- den Erwartungen der Behindertenverbände zu genü- nehmung ihrer Klientel bedanken. gen. Angesichts der Sparbeschlüsse der Bundesre- gierung möchte ich behaupten, daß es sich damals (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mehr um eine Ankündigungs- und Phrasenpolitik GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gehandelt hat und weniger um konkrete Schritte zur PDS) Verbesserung der Situation der Behinderten. Wie konkret und mit welcher Härte die Auseinan- Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen darstel- dersetzungen geführt wurden, haben wir bei den Be- len. Ich beziehe mich dabei auf die Forderung der ratungen des Sozialhilfegesetzes sowie des Pflege Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte". Versicherungsgesetzes im Rahmen der Einbeziehung Damals herrschte unter allen politischen Parteien stationärer Versorgung für Behinderte erfahren. Konsens, daß es in allen Trägerbereichen ein einheit- Wenn die Vertreter der Behindertenverbände, wie Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10109

Karl Hermann Haack (Extertal) damals artikuliert, geglaubt haben, damit hätten sie Und: Kündigungen Vorschub leisten. Ich möchte die umgesetzten und geplanten Verschlechterungen dem nichts hinzufügen. für die konkrete Lebenssituation der Behinderten be- endet, müssen sie sich jetzt arg getäuscht fühlen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Sparpaket führt der Weg rückwärts. Ich will das als Ähnlich ist es mit § 20 des SGB V, mit der Möglich- „Fallbeilpolitik" bezeichnen. Ich stelle an einem Bei- keit, Selbsthilfegruppen im Behindertenbereich zu spiel dar, wie in unserer Gesellschaft Behinderte und fördern. Inzwischen haben Sie sich in dieser Sache chronisch Kranke anläßlich der Spargesetze mit be- bewegt. Ihre Abgehobenheit und Schäbigkeit aber, sonderer Härte getroffen werden, und zwar auf dem zunächst einmal zu versuchen, Ihre Vorstellungen Arbeitsmarkt. Schon heute sind Behinderte auf dem durchzusetzen, ist das Eklatante vor dem Hinter- Arbeitsmarkt benachteiligt. Die Arbeitslosenzahlen grund, das Sie Tiraden im Deutschen Bundestag ab- lagen bei dieser Gruppe im Jahre 1991 bei 132 000, gelassen haben, als es darum ging, A rt. 3 des Grund- im Mai dieses Jahres sind 177 000 arbeitslos. gesetzes um das Verbot der Diskriminierung von Be- hinderten zu erweitern. Das versuche ich darzustel- In dem von Ihnen - markanterweise „Wachstums- len. und Beschäftigungsförderungsgesetz" genannten - vorgelegten Kahlschlagwerk soll der Rechtsanspruch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne auf eine berufsfördernde Rehabilitation nach § 56 des ten der PDS) Arbeitsförderungsgesetzes von einer Muß- in eine Sie haben das erst einmal versucht. Das heißt, wenn Kann-Leistung umgewandelt werden. sich keiner gemeldet hätte, hätten Sie dies durchge- (Susanne Kastner [SPD]: Unerhört!) setzt. Ich habe durch ein Fax erfahren, daß Sie sich in Rich- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das tung der Herstellung des alten Rechtszustandes be- glauben Sie doch selber nicht!) wegen. Bei genauem Durchlesen stelle ich aber fest, - An den Schwachen hätten Sie gespart. Das ist der daß das, was Ihr Bundesgesundheitsminister als Ziel- Grund dafür, daß ich mich an diesem Rednerpult genauigkeit bezeichnet, heißt, bezogen auf diesen furchtbar erregen kann. Änderungsantrag: Es werden Behinderte nach dem Grad der Behinderung sortiert. Danach wird ent- Was ist zu tun? In unserem Entschließungsantrag schieden, ob sie einen Rechtsanspruch auf Wieder- fordern wir die Bundesregierung auf, einiges zu tun. eingliederung und Berufsförderung haben oder Wir fordern sie auf, mit uns zusammen ein einheitli- nicht. Ich halte dieses für einen Skandal. ches Rehabilitationsgesetzbuch mit folgenden Inhal- ten zu schaffen. Das Rehabilitationsgesetzbuch soll (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE acht unterschiedliche Gesetze vereinheitlichen, die GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Behinderte betreffen. Weil es acht sind, müssen sich PDS) Behinderte zur Wahrnehmung ihrer Rechte perma- Ich kann hier erklären, daß wir als Sozialdemokraten nent mit Landesbehörden, mit Kommunalbehörden, mit den Behindertenverbänden versuchen werden, mit Bundesbehörden und anderen Behörden vor So- dies zu verhindern. zialgerichten zanken. Sie haben in die Koalitionsver- einbarung hineingeschrieben, daß Sie das ändern Hinsichtlich des Beitragsentlastungsgesetzes will wollten. Sie kommen nicht dazu. Aber die ich Ihnen sagen, daß die Selbstbeteiligungsquoten, 3,4 Milliarden DM Einsparungen bei Leistungen die Sie mit dem Argument des Mißbrauches legiti- nach dem Sozialgesetzbuch, die Ihnen die Referen- mieren, auch für die Behinderten gelten. Ich zitiere ten des BMA ausgerechnet haben, realisieren Sie Ihnen hierzu kurz die Stellungnahme von der Bun- ohne Rücksichtnahme auf die Behinderten. Ich kann desarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte" zum Ihnen hier sagen: Wir werden dem mit den Behinder- Beitragsentlastungsgesetz vom 12. Juni 1996: tenverbänden entgegenwirken. Kuren sind für chronisch kranke Menschen eine Es geht auch um die Verbesserung des Rechts auf wichtige Rehabilitation ihrer Arbeitskraft. Chro- medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation. nisch Kranke mit dauernden oder wiederkehren- Es geht darum, gegenüber dem Bundessozialhilfege- den Beschwerden sind auf kurze Kurintervalle setz ein eigenes Leistungsgesetz zu schaffen. Behin- und auf eine Kurdauer angewiesen, die eine wir- derte sind auf Grund der Tatsache, daß sie behindert kungsvolle und andauernde Besserung bringt. sind, arm. Die Tatsache, daß sie behindert sind, führt Das Heraufsetzen des Wiederholungszeitraums sie in den Leistungsbereich des Bundessozialhilfege- von drei auf vier Jahre setzes. Wir fordern Sie auf, ein eigenes Leistungsge- setz zu schaffen, damit die Diskriminierung, im Lei- - auch für Behinderte im Arbeitsprozeß - stungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes leben und die gleichzeitig um eine Woche gekürzte zu müssen, beendet wird. Aufenthaltsdauer (Beifall bei der SPD) - für tätige Behinderte im Arbeitsprozeß - Wir fordern Sie auf, ein Artikelgesetz quer über würden ihre Belastbarkeit auch am Arbeitsplatz das Baugesetzbuch, das Personenbeförderungsge- weiter einschränken. setz, das Fernmeldegesetz, das Arbeitsrecht und an- 10110 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Karl Hermann Haack (Extertal) dere Gesetze zu machen, um die Gleichstellung der schen. Es geht darum, Benachteiligungen abzu- Behinderten herbeizuführen. bauen. Niemand hier stellt das in Zweifel, wir erst recht nicht. Vor drei Jahren haben wir das Grundgesetz geän- dert. Drei Jahre später schlagen Sie den Behinderten Aber der letzte Bericht über die Lage der Behinder- ins Gesicht, indem Sie durch Spargesetze deren be- ten macht deutlich - da beißt keine Maus den Faden rufliche Rehabilitation zunächst einmal schwerwie- ab; auch Sie sind auf den unterschiedlichsten Ebe- gend zu deren Nachteil verändert haben. Als Sie nen beteiligt -, daß gerade die Rehabilitation sich dann Angst bekommen haben, haben Sie das Ganze auf einem sehr hohen Niveau befindet. Das ist gut so, unter dem schönen Namen „Zielgenauigkeit" parti- und das ist wichtig. Denn wir brauchen gerade den ell verbessert. Sie können sich darauf verlassen, daß Einstieg in die Arbeitswelt. Sie ist eine große Chance wir versuchen werden, es grundsätzlich aufzuheben für die Integration der Behinderten. und den Status quo wieder herbeizuführen. (Susanne Kastner [SPD]: Warum lassen Sie (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE es dann nicht so?) GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Dort findet Integration auf die nachdrücklichste und auf wesentliche Weise statt. Der Koordinierung Wir wollen die Ausgleichsabgabe erhöhen. Wir kommt eine besondere Bedeutung zu. Wir wissen wollen angesichts der wirtschaftlich schlechten Si- sehr wohl, daß es darum geht, daß insbesondere der tuation die Bedingungen in den Werkstätten verbes- Zugang zur Arbeitswelt, der Zugang zum Arbeits- sern. Wir wollen auch die Rechtsstellung der Schwer- platz weiter verbessert wird, und daß Stillstand nicht behindertenvertrauensleute verbessern. Ebenso wol- eintreten darf. len wir in den neuen Ländern verhindern, was Sie mit dem Arbeitsförderungsgesetz in dem Artikelge- Insofern ist es völlig falsch, wenn Sie, Herr Haack, setz Ihrer Spargesetze machen wollen, nämlich die behaupten, daß in den jungen Bundesländern die berufliche Rehabilitation zurückzunehmen. Es kann Behinderten in besonderer Weise betroffen wären. nicht sein, daß in den neuen Bundesländern Behin- (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Wo derte auf Grund der Tatsache, daß sie dort und nicht ist der Behindertenbeauftragte?) in den alten Bundesländern leben, besonders abge- straft werden. Es wird - dazu wird meine Kollegin Ich stelle fest: Gerade do rt helfen wir den jungen Steen etwas sagen - ein Auge auch auf die Situation Menschen mit Maßnahmen vor O rt , die ich im einzel- der behinderten Frauen in unserem Land zu richten nen beurteilen kann, durch die Berufsbildungs- und sein. Berufsförderungswerke und ermöglichen den Behin- derten, den Rehabilitanden die Hinführung zur Be- Der Bundesgesundheitsminister führt seit Jahren rufs- und Arbeitswelt, anders, als das früher dort der eine Debatte über Subsidiarität und Solidarität. Wir Fall war. Das sage ich ausdrücklich. Das größte Va- haben den geänderten Grundgesetzartikel. Nach der kuum, das in der ehemaligen DDR festzustellen war, Koalitionsvereinbarung wollten Sie ein Sozialgesetz- war, daß für die Behinderten nicht das konzeptio- buch IX mit der Zielsetzung einer Verbesserung nelle Angebot vorlag, wie wir es hier dank aller, die schaffen. Sie kündigen mit Ihren Spargesetzen Soli- daran mitgewirkt haben, anbieten können. darität auf und sagen „Subsidiarität", das heißt, jeder ist seines Glückes Schmied. Ich, meine sehr verehr- Die Eingliederung in die berufliche Welt ist ein ten Damen und Herren, kann nach drei Jahren sa- großes Problem. Hier gibt es ein großes Vakuum gen: Sie betreiben eine schäbige Politik. auch im Hinblick auf die Gewinnung von Arbeits- plätzen. Insbesondere ist eine Aufklärung auch bei (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Arbeitgebern nötig. Wir müssen uns mehr einfallen GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lassen als Muß-Leistungen und Rechtsanspruch. In- PDS) sofern ist der Einstieg in die Kann-Leistungen nicht ein Schlag in das Gesicht der Behinderten, sondern Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die Möglichkeit, vor Ort in den Arbeitsämtern flexi- der Abgeordnete Heinz Schemken. bel - der Minister hat das heute morgen deutlich ge- macht - zu reagieren und richtige Ansätze gerade im Hinblick auf den Runden Tisch mit Arbeitgebern, mit Heinz Schemken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Handwerkern, mit Einzelhandelskaufleuten zu ver- Haack, die substantielle Auskunft der Bundesregie- wirklichen. rung auf Ihre Anfrage hat im Grunde genommen Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel in eine Bewertung wie „Fallbeilpolitik" oder „schäbig" meiner Heimatstadt: das Projekt „Berufsbegleitender nicht verdient. Sie stellen Ihre eigene Leistung in den Dienst", das für den Kreis Mettmann und für die Schatten. Städte Essen, Wuppe rtal, Solingen und Remscheid (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - vorgehalten wird. Hier ist es das Ziel, geistig und Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war körperbehinderte Menschen bei der Vermittlung auf noch sehr zurückhaltend!) dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu begleiten, ihnen zur Seite zu stehen sowie die Unternehmen und - Mit dieser Anfrage haben wir die Möglichkeit, in jetzt kommt das Entscheidende - auch die beschäf- der ganz wichtigen Sache der behinderten Men- tigten Kolleginnen und Kollegen in dieser Aufgabe schen weiter voranzukommen. Es geht hier um Men- zu unterstützen. Das sind ganz konkrete Ansätze. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10111

Heinz Schemken Hier sind Eltern, Schulen, Arbeitsämter und die örtli- daß man sich im Bereich der Vorsorge, auch der Ge- chen Fürsorgestellen wie auch die Werkstätten für sundheitsvorsorge, selbst einbringt. Diesen Gesichts- Behinderte beteiligt. punkt wollen wir einführen; das wissen Sie sehr wohl. § 20 wird eine ähnliche Beschreibung erhalten. Entscheidend ist der Arbeitsplatz. Es ist ein Stück Würde für den Behinderten darin zu sehen, daß er Schönen Dank! sich mit einbringen kann, daß er auch gefordert wird. Aber er kann dieser Forderung nur nachkommen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn er eine berufliche Qualifikation erhält. Genau dort setzen wir an. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zur Wenn Sie das SGB IX ins Feld führen - auch ich Kurzintervention erhält Herr Kollege Haack. beklage und sage ausdrücklich, daß auf dem Wege der großen Veränderungen in der Sozialgesetzge- Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Herr Kollege bung die Arbeit an der Fassung des Sozialgesetzbu- Schemken, ich schätze Sie sehr ches IX nicht so vorangetrieben werden konnte, wie wir uns gerne gewünscht hätten -, dann müssen wir (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ sagen: Herr Haack, Sie wissen ganz genau, daß un- CSU]: Ihn muß man auch schätzen!) ter anderem das Pflegegesetz uns so sehr beschäftigt - ja, ich habe ihn lieb -, aber ich muß darauf hinwei- hat, daß wir nicht an zwei Dingen gleichzeitig arbei- sen, daß die Koalitionsvereinbarung, ein SGB IX zu ten konnten, wenn etwas Ordentliches daraus wer- schaffen, nicht wegen Arbeitsüberlastung nicht zu- den sollte. stande gekommen ist. Jeder, der sich damit beschäf- (Antje-Marie Steen [SPD]: Das ist jahrelang tigt, weiß, daß Sie sich in der Koalition nicht darüber überfällig!) im klaren waren und nicht einig werden konnten, ob es sich lediglich um eine formale Zusammenfassung - Ja, Sie haben recht. Es ist so. aller Gesetze zu beispielsweise Behinderten handelt (Antje-Marie Steen [SPD]: Die Entwürfe oder ob es zur Innovation und damit eventuell zu sind zurückgezogen worden!) mehr Ausgaben führen würde. Es ist so: alles hintereinander. - Es ist sicherlich rich- Dieser Konflikt ist in Ihrer Koalition nicht gelöst tig, daß in der Bündelung der gesetzlichen Vorgaben worden. Deswegen gibt es in dieser Legislaturperi- und auch der Dienste für Behinderte endlich ein ode kein Sozialgesetzbuch IX. überschaubares Gesetzeswerk zustande kommt, da- (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE mit man weiß, woran man sich halten kann. GRÜNEN]: Genau!) Zu Ihren Ausführungen zur Frage der Rehabilita- Deswegen meine Argumentationskette, die Sie ver- tion im Arbeitsförderungsgesetz darf ich noch fest- letzt hat: Wir haben einmal, 1994, A rt . 3 des Grund- stellen, daß wir uns während der Anhörung durchaus gesetzes geändert. Sie treffen eine Koalitionsverein- von Argumenten der Verbände haben überzeugen barung und erklären als Folge, das sei notwendig. lassen und wir im AFG, auch in der Fortschreibung Dann machen Sie dieses Sparpaket. Das wollte ich nach dem AFRG, im Herbst, wenn es beraten wird, deutlich machen; das müssen Sie ertragen. diese Kann-Leistung so einschränken, daß Flexibili- tät möglich ist, aber daß den wirklich notwendigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anliegen Rechnung getragen werden kann. Das DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss werden wir tun. Wir sind dabei. [PDS]) Das gleiche gilt für die Selbsthilfegruppen. Sie wis- sen sehr wohl, auch aus der Beratung Ihres Fachaus- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Antwort schusses, daß wir hier eine Beschreibung vorneh- Herr Kollege Schemken. men, die es den Kassen möglich macht, daß das Not- wendige getan wird Heinz Schemken (CDU/CSU): Herr Haack, Sie be- (Beifall der Abg. Birgit Schnieber-Jastram schwören die Vergangenheit. Da brauchen wir nicht [CDU/CSU]) weit zurückzugehen. Sie wissen sehr wohl, daß ge- rade die Arbeit an und mit Behinderten auf allen und auch Selbsthilfegruppen, die ihren ehrenamtli- politischen Ebenen einen langen Prozeß in Anspruch chen Dienst tun, in Zukunft solche Angebote für nahm. So sind Sozialdemokraten wie Liberale und Menschen in der Vorsorge, in der Nachsorge, in den auch Christdemokraten in gleichem Maße mit betei- vielfältigen Bereichen der Gesundheitsvorsorge vor- ligt an dem, was an Erkenntnissen gewonnen und halten können. was auch umgesetzt wurde. Sie wissen sehr wohl, daß im inhaltlichen Bereich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, nicht nichts geschieht, daß alles weiter fortgeführt Ihre angemeldete Redezeit ist vorbei. wird. Wenn Sie den großen Wurf der 70er Jahre nen- nen, dann frage ich Sie, warum Sie andererseits das Heinz Schemken (CDU/CSU): Ein letzter Satz. Das SGB IX, das wir gerne hier in Szene setzen möchten, ist eine hilfreiche Sache, weil sie auch ein Stück Sub- kritisieren. Wenn die Arbeit in anderen Bereichen sidiarität ist, und ein Stück Subsidiarität bedeutet, augenblicklich notwendig ist, lassen Sie uns doch 10112 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Heinz Schemken erst einmal das zu Ende führen, und dann kommen zieren und die Rechtsstellung verbessern. Sie wollen wir zum SGB IX. immer nur das Allerbeste. Sie wissen sehr wohl, wie schwierig das Ganze ist (Uwe Lühr [F.D.P.]: Ist auch so!) und daß es hier ausdrücklich sehr unterschiedliche Aber wenn man sich das genau anschaut, ist die Meinungen der Behindertenverbände gibt. Nehmen Bilanz einfach zutiefst enttäuschend, nicht nur ge- Sie nur die Werkstätten mit der Frage der Entloh- messen an den hehren Worten, sondern vor allen nung, mit der Frage der Mitwirkung und auch mit Dingen aus der Sicht von Menschen mit Behinderun- der Frage der Rechtsstellung. Alleine diese Proble- gen, die sich zunehmend Schwierigkeiten auf dem matik ist - Sie stellen das fest, wenn Sie sich mit Arbeitsmarkt gegenübersehen. Die Bundesregierung Praktikern vor Ort in den Werkstätten unterhalten - betont immer wieder die Notwendigkeit einer beson- letztendlich noch nicht so zu beantworten, wie es deren Unterstützung von behinderten Menschen bei Praktiker hier und da sehen. der Integration in das Arbeitsleben. Dabei lesen wir Ich muß auf den Begriff „Fallbeil" zurückkommen. von unglaublich vielen Absichtserklärungen, die Das hat mich ein wenig betroffen gemacht; das sage durchaus zeigen, daß die Regierung weiß, was zu tun ich Ihnen ganz offen. Das ist nicht die Antwort auf wäre. das, was wir hier miteinander zu bewerkstelligen ha- Aber warum sind das alles Absichtserklärungen? ben. Deshalb habe ich auch auf die eine oder andere Warum finden sich in der Reform des Arbeitsförde- Äußerung, die Sie hier getan haben, im Grunde ge- rungsgesetzes nicht die entsprechenden Maßnah- nommen antworten wollen. men? Wo bleibt die besondere Unterstützung für Selbsthilfe und Integrationsfirmen? Warum überar- Die Anmahnung - das muß ich Ihnen offen sagen - beitet das Wirtschaftsministerium nicht das Instru- ist sehr wahrscheinlich überflüssig, weil wir daran ar- mentarium der allgemeinen Wirtschaftsförderung, beiten. Das muß man dann ehrlich zugeben. Es kann damit auch Firmen davon profitieren können? Statt nicht alles an einem Tag geschehen. Wir sind mit dessen werden an etlichen Stellen die Mittel der Aus- dem SGB IX beschäftigt, und die Arbeit mit den Be- gleichsabgabe bei jeder Absichtserklärung erneut hinderten läßt auf dem Wege dahin nicht nach. - verteilt, als handele es sich hier um einen uner- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schöpflichen Topf. Gleichzeitig sagen Sie an anderer Stelle, dieser Topf dürfe unter keinen Umständen stärker gefüllt werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die Kollegin Andrea Fischer das Wort. Nun hat das Argument eine gewisse Berechtigung, daß die bisherigen Erfahrungen mit der Ausgleichs- abgabe nicht gerade dazu ermutigen, zu hoffen, daß Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann mehr Behinderte Beschäftigung finden. Aber NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! selbst wenn dem so wäre: Was wäre denn falsch Das war gerade eine sehr typische Szene für das, daran, wenn man die Arbeitgeber im Rahmen einer worüber wir in der Behindertenpolitik reden. Alle sa- Umlagefinanzierung stärker in die finanzielle Ver- gen: Wir sind dafür. Wir wollen dabei mehr machen. antwortung nimmt, um die verstärkten Integrations- Es ist wichtig. Es ist notwendig. bemühungen für Behinderte daraus zu finanzieren? Wenn Sie ansonsten überall kürzen, dann, finde ich, (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Grü dürfen Sie diesen Ausweg überhaupt nicht ausschlie- nes Gelaber!) ßen und müssen ihn prüfen. - Genau. - Denn dies ist sozusagen die Grundlage, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der sich das Ganze bewegt. Die Fraktionen der sowie bei Abgeordneten der SPD und der Bundesregierung reagieren immer sehr allergisch, PDS) wenn man ihnen dann sagt: Aber eure Worte haltet ihr nicht. Mit guten Worten und Absichten ist den Behinder- ten nicht geholfen, sondern die Qualität der Integra- Herr Kollege Schemken, Ihnen persönlich unter- tionspolitik bemißt sich daran, ob diese Politik auch stellen wir alle in diesem Haus das Allerbeste in Sa- im notwendigen Umfang praktiziert wird. Damit bin chen Behindertenpolitik. Aber das entläßt Sie nicht ich bei einem der großen Skandale des Sparpakets: aus der Verantwortung für das, was im Moment im der Kürzung der Leistungen für die berufliche Reha- Sparpaket steht. bilitation. Dafür will ich die Bundesregierung als Kronzeugen bemühen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Der Aufwand für eine stationäre medizinische Re- PDS) habilitationsleistung ist ... schon dann von öko- nomischem Nutzen, wenn es durch die Maß- Das ist mir so gegangen, als ich die Antwort der nahme gelingt, die Eingliederung in das Erwerbs- Bundesregierung auf die Große Anfrage gelesen leben um drei bis vier Monate zu verlängern. habe. Wenn man diese Antwort sowie andere Äuße- Dies ist ein wörtliches Zitat aus der Antwort der Bun- rungen der Bundesregierung und der Koalitionsfrak- desregierung auf die Große Anfrage. tionen unbefangen zur Kenntnis nimmt, dann könnte man meinen: Hier ist es ihnen mit ihren Bemühun- Für Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation gen wirklich ganz ernst. Sie wollen fördern, qualifi- stellt auch die Bundesregierung fest, daß es dabei Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10113

Andrea Fischer (Berlin) Wiedereingliederungsquoten von 84 Prozent gibt, gen sozialen Sicherheitssysteme kostspielig werden. die zu jahrelanger Beschäftigung führen. Die Ar- Deshalb: Nehmen Sie diese Kürzung aus dem Spar- beitsgemeinschaft der Berufsförderungswerke hat in paket heraus. ihrer Stellungnahme zur Anhörung in der vergange- nen Woche darauf hingewiesen, daß sich eine Maß- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahme der beruflichen Rehabilitation nach sieben sowie bei Abgeordneten der PDS) Jahren durch die Sozialversicherungsbeiträge und Ich will aber noch eine grundsätzliche Anmerkung Steuerzahlungen der Eingegliederten „amortisiert" zur Streichung des Rechtsanspruches machen. Herr hat. Mir selber widerstrebt es, davon zu reden, daß Kollege Schemken, ich finde, Sie haben das eben sich Maßnahmen rechnen; denn hinter einer solchen schöngeredet. Die Politik der Bundesregierung ist in Ausdrucksweise treten die Menschen vollkommen vielen sozialpolitischen Feldern mehr und mehr da- zurück. Aber mir bleibt im Moment gar nichts ande- von gekennzeichnet, daß sie Rechtsansprüche auf res übrig; denn zur Zeit wird die berufliche Rehabili- Leistungen entweder gar nicht erst einführt oder wie- tation ausschließlich unter Kostenaspekten disku- der abschafft. tiert. Ich halte das für eine wirklich gefährliche Entwick- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die lung, die weit über die materiellen Folgen, die damit Frage war entsprechend! Lesen Sie einmal verbunden sind, hinausgeht. Für mich geht es um nach!) eine grundsätzliche bürgerrechtliche Frage. Ein Die Bundesregierung will in diesem Bereich Sozialstaat und auch ein Rechtsstaat muß zwischen 500 Millionen DM jährlich sparen. Ich finde, es wäre Institutionen und den Personen, die die Leistungen einmal eine interessante Rückwärtsrechnung dieses in Anspruch nehmen wollen, von gleich zu gleich soeben positiv errechneten Saldos der beruflichen verhandeln. Rehabilitation wert, was eine solche Einschränkung Wenn man die Menschen durch die ständigen Er- der Rehabilitation volkswirtschaftlich an Gegenko- messensleistungen in die Position des Bittstellers ver- sten produzieren würde: für Erwerbs- und Beruf sun- setzt, dann nimmt man Abschied von einem Konzept fähigkeitsrenten, für Leistungen der Arbeitslosenver- sozialer Bürgerrechte. Je länger ich darüber nach- sicherung und der Rentenversicherung, der Einglie- denke, um so mehr habe ich den Eindruck, daß das derungshilfe usw. die eigentliche politische Kehrtwende in der Sozial- Ich leugne gar nicht die schwierige Haushaltssitua- politik ist, die man zur Zeit beobachten kann, unge- tion. achtet der materiellen Kürzungen, die wir ansonsten noch zu gewärtigen haben. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist schon einmal gut!) Da ich schon einmal bei Rechtsfragen bin, möchte ich noch kurz darauf hinweisen: Angesichts dessen, Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, warum Sie wie die Bundesregierung in den letzten eineinhalb, entgegen Ihren eigenen Einsichten, die ich gerade zwei und drei Jahren Politik nicht für, sondern gegen aus der Antwort auf die Große Anfrage zitiert habe, Behinderte gemacht hat, angesichts der unendlich Leistungen kürzen, die anerkanntermaßen unglaub- langen Geschichte des SGB IX und angesichts der lich großen Nutzen haben. Ich weiß nicht, was die unbefriedigenden Ergebnisse der Anhörung im BMA Verzweiflung über die Haushaltslöcher mit Ihren vor einigen Wochen zum SGB IX haben die Behin- Köpfen anstellt. dertenverbände alle Hoffnung fahrenlassen, daß mit Sie waren von der Anhörung offensichtlich beein- einem SGB IX zur Zeit eine Verbesserung zu errei- druckt und werden uns Änderungsanträge zu die- chen wäre. sem Vorhaben präsentieren. Diese werden zumin- Aus diesem Grund würde ich sagen: Lassen Sie dest verhindern, daß die von den Fachleuten ge- uns nicht ein Beschäftigungsprogramm für Juristen äußerte Befürchtung Realität wird, daß bei ange- machen, sondern die Energie und vor allen Dingen spannter Haushaltslage nur noch die besonders das Geld in die Förderung der beruflichen Integra- kostengünstig einzugliedernden Menschen Rehabili- tion von Behinderten stecken! tationsleistung „zugemessen bekommen". (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, So gesehen ist es ein Fortschritt, wenn der Rechts- bei der SPD und der PDS) anspruch auf Leistungen für Schwerbehinderte er- halten bleibt und bei den Ermessensleistungen der besondere Bedarf berücksichtigt werden soll. Bleibt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat es aber bei der Kürzung des gesamten Haushaltsan- jetzt der Abgeordnete Uwe Lühr. satzes, dann können Sie sich nur rühmen, eine bes- sere Verteilungsregel für einen geschrumpften Topf Uwe Lühr (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr gefunden zu haben. Das ist kein Erfolg, den man fei- verehrten Damen und Herren! Auch wenn die Bun- ern kann. desrepublik international sicherlich zu den Staaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zählt, in denen die objektive Entwicklung der Inte- gration behinderter Bürger und Mitbürger dem An- Sie entkommen damit nicht dem Vorwurf, daß Sie spruch am nächsten kommt, so muß doch auch bei wider besseres Wissen Leistungen in einem Bereich uns, denke ich, noch wesentlich mehr getan werden, kürzen, wo die Folgewirkungen für die betroffenen um den Behinderten das Miteinanderleben mit Menschen dramatisch sein werden und für die übri- Nichtbehinderten in der Gesellschaft zu ermöglichen 10114 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Uwe Lühr und zu erleichtern. Das genau konzediert auch die und Dienstleistungen und Umsätzen in Milliarden- Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage höhe. der SPD-Fraktion. Mit neuer Technik und modernen Maschinenparks Das Grundgesetz schützt Behinderte ausdrücklich leisten Behinderte vielfach auch Arbeiten, die früher vor Diskriminierung. Diese Wertung des Grundgeset- undenkbar waren. Zur Zeit beschäftigen diese Werk- zes wirkt sich auf unsere gesamte Rechtsordnung stätten für Behinderte mehr als 130 000 Menschen. aus, auch ohne Antidiskriminierungsgesetz. Die 80 bis 85 Prozent von ihnen sind geistig behindert. Gleichberechtigung für behinderte Mitbürger voll- Diese Einrichtungen wollen nicht nur als soziale Ein- zieht sich nicht im Gesetz und in Gesetzen, sondern richtung betrachtet werden, sondern stellen auch in der Praxis. Behinderte brauchen unser Mitdenken ihre wirtschaftliche Leistungskraft in den Vorder- und unsere Hilfe, aber sie wollen und dürfen nicht in grund. ein Korsett der öffentlichen Betreuung und Fürsorge Hatten die Werkstätten ursprünglich die Aufgabe, eingezwängt werden. behinderte Menschen in das Arbeitsleben und damit (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) zugleich in das Leben der Gemeinschaft einzuglie- dern, so geht das Angebot heute weit darüber hin- Selbstbestimmung und Begleitung in rechtlich und aus. Heute findet sich zum Beispiel in der Selbstdar- materiell gesichertem Lebensraum, das sollte die De- stellung der Werkstätten für Behinderte die Formu- vise sein. lierung: (Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE Wir bieten Dauerarbeitsplätze für jeden, der nicht GRÜNEN]: Ja!) auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückkehren kann oder möchte. Die Politik hat die Pflicht, die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die öffentliche Wir werden uns wohl an den Gedanken gewöhnen Verwaltung auf allen Ebenen, die freien Träger und müssen, daß der ursprüngliche Auftrag der Werkstät- schließlich wir alle haben für die konkrete Umset- ten für Behinderte, für eine Arbeitsaufnahme auf zung zu sorgen. Das beginnt ganz lapidar bei- der Pla- dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren und nung der Ausstattung und dem Service unserer öf- zu trainieren, auf absehbare Zeit mehr Wunsch als fentlichen Verkehrsmittel. Das gilt für die Zugäng- Wirklichkeit bleibt. Bei einer Arbeitslosenzahl um lichkeit öffentlicher Straßen, Wege, Plätze, Gebäude vier Millionen, bei mehr als einer Million Menschen, und Geschäfts- oder Betriebsräume. die sich in Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungs- maßnahmen befinden, bei Tarifabschlüssen wie etwa (Antje-Marie Steen [SPD]: Aber wie ist die dem letzten im öffentlichen Dienst, die Arbeitsplätze Realität?) kosten, haben unsere Behinderten in den Werkstät- ten für Behinderte im Wettbewerb um Arbeitsplätze Dazu gehört, daß die öffentliche Hand als helfende kaum eine realistische Chance. Hand auch auf der Ebene der Länder und Kommu- nen bei der Beschäftigung von Behinderten endlich (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ihre Vorbildfunktion wahrnimmt. Leider wahr!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Zuruf Der Preis für Arbeit bestimmt die Menge der nach- von der SPD: Sehr richtig!) gefragten Arbeit. Das ist das Gesetz, das die Tarif- partner seit einigen Jahren schon ignorieren. Die Ar- Dazu gehört auch, daß die gemeinsame Erziehung beitslosigkeit von Millionen ist der Beleg für fehler- von behinderten und nichtbehinderten Kindern in hafte Tarifpolitik und einer vom Ansatz her falschen Kindergärten und Schulen nicht die Ausnahme Koppelung der Finanzierung unserer Sozialsysteme bleibt, sondern möglichst bald zum Regelfall wird. an den Lohn. Schließlich gehört dazu auch die Verbesserung der Eine große Zahl von Arbeitslosen ist wenig qualifi- Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstätten. ziert, ihre Arbeitsplätze sind wegrationalisiert oder Die Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstät- ins Ausland exportiert worden. Das ist aber genau ten sollte im Rahmen der BSHG-Reform gesetzlich der erste Arbeitsmarkt, für den unsere Werkstätten näher geregelt werden. Es bleibt zu hoffen, daß sich für Behinderte ihre behinderten Mitarbeiter eigent- im heute nachmittag begonnenen Vermittlungsver- lich qualifizieren sollten. fahren die Vernunft durchsetzt und auch die SPD ihre Blockadepolitik aufgibt, nicht zuletzt auch im In- Ich denke, wir müssen einsehen, daß die gute Ab- teresse der Werkstätten und ihrer Mitarbeiter. sicht nicht weit trägt. Unsere Werkstätten bleiben auf absehbare Zeit leider mit mittelständischen Unter- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nehmen konkurrierende Einrichtungen des zweiten ten der CDU/CSU) Arbeitsmarktes, und sie müssen, wo notwendig, auch unbedingt Schonraum bleiben. Die Werkstätten für Behinderte haben das ehedem geschützte Gehege für beschützende Werkstätten Ich möchte aber noch kurz auf einen anderen, längst verlassen. Sie sind auch längst keine Manu- weitaus größeren Personenkreis als den der in den fakturen mehr nur für Terrakottavasen und Kerzen- Werkstätten Beschäftigten eingehen, nämlich auf die ständer für den Weihnachtsbasar. Die heute mehr als Behinderten, die in der „normalen" Wirtschaft, also 1 200 Werkstätten in der Bundesrepublik sind aktiver auf dem ersten Arbeitsmarkt, tätig sind. Im letzten Teil des Wirtschaftslebens mit vielfältigen Produkten Jahr waren rund 900 000 Schwerbehinderte erwerbs- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10115

Uwe Lühr tätig. Bundesweit waren bei den Arbeitsämtern fast Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD 180 000 Schwerbehinderte als arbeitslos registriert, Fraktion „Arbeitswelt und Behindertenpolitik", so das heißt Personen, die einen Grad der Behinderung sind wir, was Wunder, einmal mehr mit einer Erfolgs- von 50 Prozent und mehr haben oder ihm gleichge- bilanz konfrontiert. Wenden wir uns also lieber den stellt sind. Zwei Drittel dieses Personenkreises sind Tatsachen zu. älter als 50 Jahre. Nahezu die Hälfte ist bereits seit einem Jahr oder länger ohne Beschäftigung. Besonders problematisch ist, daß die Bundesregie- rung keinerlei Handlungsbedarf bei der Minderung Wenn meine Informationen zutreffen, daß Behin- und Beseitigung diskriminierender Bestimmungen derungen in hohem Maße auf arbeitsbedingte Ursa- und Tatsachen und damit bei der tatsächlichen Um- chen und Krankheiten zurückzuführen sind, dann setzung des neu im Grundgesetz verankerten Diskri- bedeutet das, daß die meisten Personen bereits zu minierungsverbots anerkennen will. Daraus ergibt dem Zeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sich, daß ein Gleichstellungs- oder Antidiskriminie- wenn ihre Behinderung eintritt. Dieser Personenkreis rungsgesetz für Menschen mit Behinderungen von bedarf natürlich keiner Eingliederung, sondern viel- ihr kategorisch abgelehnt wird. mehr einer verläßlichen Sicherung, die eine Ausglie- derung verhindert. Hier müssen rechtzeitig Siche- Aber auch Korrekturen in Einzelgesetzen will sie rungen greifen, die dem Behinderten in seinem Be- nicht vornehmen. So prüft die Bundesregierung, trieb die weitere Beschäftigung ermöglichen. „inwieweit das Benachteiligungsverbot im Rahmen der einfachen Gesetzgebung klarzustellen ist". Wir haben heute einen Entschließungsantrag vor- Glaubt man den Aussagen im Dritten Bericht der liegen, der neben den oppositionellen Pflichtübun- Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur gen auch jeweils einen teuren Wunschzettel enthält, Entwicklung der Rehabilitation, so soll es im BMA der nicht in die Bemühungen um Senkung der Lohn- bereits eine Liste über zu verändernde Gesetze und nebenkosten und Entlastung der Wirtschaft für mehr Verordnungen geben. Die Bundesregierung prüft Wachstum und Arbeitsplätze paßt. Die Opposition also schon über zwei Jahre, ob sich aus der Grundge- läßt sich natürlich nicht übertreffen in ihrer morali- setzergänzung Konsequenzen ergeben. Aber eine schen Entrüstung über die angestrebten Sparmaß-- entsprechende Gesetzesinitiative gibt es nicht. nahmen der Bundesregierung. Von den zu prüfenden, möglicherweise positiven Wer aber meint, SPD und Grüne genügten ihren Ansätzen spüren die Menschen mit Behinderungen höheren moralischen Ansprüchen und stellten das in nichts. Das Gegenteil ist der Fall: Nur eine drohende den von ihnen regierten Ländern unter Beweis, der Verfassungsklage bewegte die Bundesregierung zu ist allerdings auf dem Holzweg. dem Zugeständnis, behinderten Menschen in Ein- richtungen eng begrenzte Leistungen der Pflegever- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: sicherung zuzubilligen. Aktive behinderte Men- Doppelzüngig!) schen, die sich bisher ihre Assistenz im Rahmen des Nicht nur, daß die Länder die zugesagten Investitio- Arbeitgebermodells selbst organisierten, werden ge- nen im Zusammenhang mit der stationären Pflege nerell auf das BSHG verwiesen und mit Leistungs- nicht leisten, sie scheuen sich genausowenig, das kürzungen bedroht. Auch die im Rahmen des Spar- Pflegegeld auf das Blindengeld anzurechnen. Im pakets beabsichtigte Umwandlung der Leistungen Vermittlungsausschuß haben SPD und Grüne durch- zur berufsfördernden Rehabilitation in eine Ermes- gesetzt, daß auch Einrichtungen ohne Pflegeschwer- sensleistung konterkariert jegliche Anstrengung zur punkt an den Geldleistungen der Pflegeversicherung Beschäftigung behinderter Menschen. beteiligt werden. Sie haben damit die Chance der Da liegt doch die Vermutung nahe, daß es Absicht Mehrheit genutzt, ihre Haushalte auf Kosten der Bei- tragszahler zusätzlich zu entlasten. der Bundesregierung ist, die Chancen behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt möglichst gering (Walter Hirche [F.D.P.]: Sie haben unbarm zuhalten. In diesem Umfeld sind die in diesem Hause herzig zugeschlagen!) beschlossenen Formulierungen des § 3 a BSHG nur die Vorbereitung für die Schaffung gesetzlicher Die angeblich Begünstigten hat dabei aber nie- Grundlagen einer ungehemmten Heimeinweisung mand gefragt. Für sie ändert sich lediglich der Ko- behinderter und chronisch kranker Menschen. stenträger. Im übrigen müßte klar sein, daß diese ur- sprünglich nicht vorgesehene Beteiligung ganz unso- Das Vorhaben, in einem SGB IX das Schwerbehin- lidarisch die knappen Mittel für diejenigen kürzt, für derten- und Rehabilitationsrecht zusammenzufassen, die das Gesetz eigentlich gedacht war. entpuppt sich immer mehr als Versuch, die Lebens- bedingungen für behinderte Menschen weiter zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - verschlechtern. Die PDS sieht sich in ihrer ablehnen- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: den Haltung gegenüber einem so geplanten SGB IX Das ist der SPD egal!) durch die Behinderten- und Sozialverbände bestä- tigt. Sie können in dem vorgelegten Eckpunktepa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat pier ebenfalls keine Basis für die Weiterentwicklung jetzt die Kollegin Petra Bläss. des Schwerbehindertenrechts erkennen. Meine Damen und Herren, betrachtet man die Si- Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- tuation in den neuen Bundesländern, so waren sie ginnen und Kollegen! Liest man die Antwort der das Experimentierfeld, um den mit ungeheurem pro- 10116 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Petra Bläss pagandistischen Aufwand verbreiteten Grundsatz wochen eine sehr beachtliche Leistung . Es verdient „Rehabilitation vor Rente" umzukehren. Waren im eine andere Wertung als die, die Sie vorgenommen Oktober 1990 noch knapp 200 000 behinderte Men- haben. „Fallbeilpolitik", „Kahlschlagwerk", „Schä- schen auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt, so re- bigkeit" - das sind Vokabeln, die hier nicht hingehö- duzierte sich diese Zahl im Oktober 1994 - neuere ren. Wir sollten den Disput, den wir zur Zeit führen, Zahlen gibt es hier nicht - auf nur knapp 90 000. Mit nicht auf dem Rücken der Behinderten austragen. anderen Worten: Wenn in Ostdeutschland gegenwär- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tig offiziell nur 23 000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet sind, dann haben von vier behin- Es gilt, in dieser Diskussion auch einen Blick auf derten Menschen, die 1990 noch einer Erwerbsarbeit die Anträge, die Sie vorgelegt haben, zu werfen. Ich nachgingen, drei die Rente wählen müssen. Keine habe mir vor allem einmal den Antrag der SPD-Frak- ostdeutsche Bevölkerungsgruppe wurde in einem tion vorgenommen. Man kann ihn in der Kürze der derartigen Umfang vom Arbeitsmarkt vertrieben wie Zeit natürlich nicht ausführlich behandeln. Aber das behinderte Menschen. Eine stetige und außerordent- eine oder andere muß gesagt werden. lich hohe Zahl schwerbehinderter Arbeitsloser ist In- diz für das Versagen der Politik. Ich glaube, Herr Haack, Sie liegen mit dem Vor- wurf Ihres Antrages, effektive Arbeitsmarktpolitik sei Völlig unverständlich ist, daß die Bundesregierung nicht mehr erkennbar, völlig daneben. Sie haben in vielen Schriften alle Betriebe und Einrichtungen scheinbar gar nicht mitbekommen, was wir zur Zeit auffordert, zu prüfen, inwieweit sie vom Angebot der machen: Wir sind zur Zeit dabei, die Maßnahmen Werkstätten für Behinderte Gebrauch machen und einzubringen, die zum Sparen notwendig sind. Wir so Schwerbehinderten Arbeit und Verdienst geben wollen für die Betriebe Freiräume schaffen, damit können, sie aber zugleich in der Antwort auf die wieder Arbeitsplätze entstehen. Das sind notwen- Große Anfrage dokumentiert, daß die Zahl der Auf- dige Voraussetzungen auch dafür, um die Chancen träge der Bundesbehörden an die Werkstätten für Be- für Einstellungen von Behinderten zu verbessern. hinderte ständig zurückgeht. Das ist ein wichtiger Beitrag auf diesem Feld. So ist es schlichtweg irreführend, wenn die Bun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU desregierung von Aufträgen in der Größenordnung und der F.D.P.) von 40 Millionen DM spricht, zugleich aber die Tat- sache, daß der Umfang der Aufträge durch sonstige Sie sind sogar in diesem Antrag auf die Sparmaß- Bundesdienststellen in der Zeit von 1992 bis 1994 nahmen eingegangen. Ich sage ehrlich: Es wider- von 18,8 Millionen DM auf 6,1 Millionen DM, das spricht aus meiner Sicht nicht dem Benachteiligungs- heißt also um mehr als zwei Drittel, zurückging, in verbot, wenn von der Zuzahlung bei Medikamenten einer Tabelle versteckt. Das sind Fakten, die die Un- auch Behinderte betroffen sind. Ich will nur darauf tätigkeit und das Desinteresse der Bundesregierung hinweisen, daß auch in diesem Bereich natürlich bei der Unterstützung von Menschen mit Behinde- nach wie vor Härtefallregelungen gelten. Ungefähr rungen belegen. Ein weiterer Beleg sind für mich 8,2 Millionen Menschen in unserem Land sind völlig Ihre Schlußfolgerungen aus der besonderen Benach- von Zuzahlungen befreit. Für alle übrigen Versicher- teiligung behinderter Frauen. Sie sehen keinerlei ten, insbesondere auch chronisch Kranke, gelten - Anlaß, hier spezielle Förderprogramme aufzulegen. daran wird sich nichts ändern - die Sozial- und Über- forderungsklauseln. Das heißt, nicht mehr als 2 Pro- Meine Damen und Herren, angesichts der Ent- zent des Einkommens müssen zugezahlt werden. Da wicklung auf dem Arbeitsmarkt bleibt als Fazit: Be- wird also nichts Gravierendes geändert. Ich finde, hinderte Menschen werden durch die auf Sozialab- wir sollten über diesen Bereich sachlich diskutieren. bau, Deregulierung und Privatisierung setzende Poli- tik der Bundesregierung systematisch vom Arbeits- Hinsichtlich der schon mehrfach angesprochenen markt vertrieben. Wir fordern die Bundesregierung Frage des Rechtsanspruchs auf Rehabilitation will auf, endlich mit den behinderten Menschen und mit ich darauf hinweisen, daß Sie alle, soweit Sie Sozial- den Behindertenverbänden eine auf die Bewahrung politiker sind, für die Ausschußsitzung am kommen- von Selbstbestimmung und Würde gerichtete Politik den Montag die Änderungsanträge dazu vorliegen zu entwerfen und umzusetzen. haben. Ich erinnere deshalb daran, daß wir einen An- trag zur Änderung der §§ 56 und 58 des Arbeitsförde- Da wir der Ansicht sind, daß die Entschließungsan- rungsgesetzes vorgelegt haben. Diese Änderungen träge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in die stellen klar, daß der Rechtsanspruch auf berufsför- richtige Richtung gehen, finden sie unsere Unterstüt- dernde Leistungen zur Rehabilitation für anerkannte zung. Schwerbehinderte und für Personen, die Leistungen (Beifall bei der PDS) zur Teilnahme an Maßnahmen im Eingangsverfahren oder im Arbeitstrainingsbereich anerkannter Werk- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt spricht der stätten für Behinderte benötigen, bestehenbleibt. Wir Kollege Wolfgang Meckelburg. haben aus der Anhörung also Konsequenzen gezo- gen.

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Frau Präsiden- Wir haben deutlich gemacht, daß Schwerstbehin- tin! Meine Damen und Herren! Daß der Bundestag derte vorrangig Zugang erhalten. Die Akzente sind heute über Arbeitswelt und Behindertenpolitik so wie in der Anhörung deutlich geworden. Deswe- spricht, ist, Kollege Haack, angesichts des Arbeits- gen sollten wir dieses Gesetzesvorhaben auch ge- pensums der Sozialpolitiker in diesen drei Sitzungs- meinsam tragen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10117

Wolfgang Meckelburg Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch könnten. Wir können sicherlich die Gesetze koordi- auf zwei oder drei weitere Punkte eingehen: Durch- nieren. Wir müssen offen miteinander darüber spre- gängig spielt die Frage der Ausgleichsabgabe eine chen, ob das den Aufwand in dieser Periode lohnt - Rolle. Sie ist in dem Antrag des Bündnisses 90/Die das ist meine persönliche Meinung. Vorgesehen ist Grünen, aber auch im Antrag der SPD ein vorrangi- es; ich halte daran fest, aber wir müssen darauf ach- ger Punkt. Diese Forderung ist altbekannt, aber den- ten, nicht zu große Erwartungen bei den Behinderten noch bleibt die Handhabung ungelenk. Sobald So- zu wecken, weil wir sonst mit einer Neuregelung in zialdemokraten nicht weiterwissen, rufen sie nach dieser Legislaturperiode Schiffbruch erleiden wür- dem Staatsdekret, so auch in dieser Debatte und in den. den Anträgen. Sie fordern für jene Bet riebe eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - spürbare Erhöhung der Ausgleichsabgabe, die ihrer Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Das Pflicht zur Beschäftigung von Schwerbehinderten war Lob und Tadel für die SPD!) nicht nachkommen. Das ist eine alte Forderung.

Ich will dazu ein paar Zahlen nennen, Herr Haack, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat damit wir wissen, worüber wir hier reden: Es gibt jetzt die Kollegin Antje-Ma rie Steen. 180 000 arbeitslose Behinderte, die einen Arbeits- platz suchen. Wir haben 400 000 Arbeitsplätze, für die die Ausgleichsabgabe gezahlt wird. In diesem Antje-Marie Steen (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Bereich muß man ernsthaft die Frage stellen, ob es, Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte Ihre Aufmerk- wenn es einmal auf Spitz und Knopf kommt, recht- samkeit auf den Bereich der weiblichen Arbeitneh- mäßig durchzuhalten ist, daß es 180 000 Bewerber, mer richten. In der Bundesrepublik leben zirka aber 400 000 Arbeitsplätze gibt, für die bezahlt wird. 4 Millionen Frauen mit Behinderungen - also wahr- An dieses Thema müssen wir vorsichtig herangehen. lich keine Minderheit. Zugleich aber werden ihre Ich finde, daß die 200 DM, die gezahlt werden - man spezifischen Probleme in der Öffentlichkeit immer kann darüber reden, ob hier eine Erhöhung entspre- noch viel zuwenig berücksichtigt. Frauen mit Behin- chend der Inflationsrate angebracht ist -, einen dop- derungen sind doppelt benachteiligt. Sie sind von pelten Anreiz haben: einmal Anreiz zur Beschäfti- der allgemeinen Benachteiligung der Frauen gegen- gung zu schaffen, andererseits die gegenwärtig ent- über Männern betroffen. Benachteiligt sind sie aber stehenden Kosten abzudecken. auch als Frauen mit Behinderung gegenüber Nicht- behinderten. Sie werden in erster Linie als Behin- Abseits von diesen Zahlenspielereien - das soll derte angesehen, die nebenbei weiblich sind. Auch deutlich gesagt werden - ist der Aspekt wirklich die vorliegende Antwort der Bundesregierung auf wichtig, daß wir voller Engagement versuchen, die die Große Anfrage der SPD-Fraktion macht da keine Beschäftigung Schwerbehinderter nicht als Almosen- Ausnahme. Sie erwähnt die Frauen als Arbeitnehme- akt der Arbeitgeber darzustellen, rinnen nur da, wo wir als Fraktion spezielle Aus- künfte verlangen. Die Bundesregierung lehnt sogar (Petra Bläss [PDS]: Das wäre es ja wohl Förderprogramme zur Beschäftigung behinderter noch!) Frauen ab, da sie - Zitat - keine Hinweise auf die Be- sondern vielmehr als selbstverständlichen Auftrag, nachteiligung schwerbehinderter Frauen bei der be- die Integration behinderter Menschen überall zu er- ruflichen Eingliederung habe. möglichen. Dabei müssen zweifelsohne die öffentli- Ich kann allerdings nicht erkennen, wo die Bun- chen Arbeitgeber Vorbildfunktion haben. Seitens desregierung diese Hinweise sammelt bzw. ob sie des Bundes ist dies seit 1994 - glücklicherweise mit sich zur Klarstellung der eindeutig schlechteren Be- steigender Tendenz - wieder der Fall. Länder und schäftigungssituation von behinderten Frauen über- Kommunen müssen geschlossen folgen, damit die haupt um Daten bemüht. Es findet sich in der Großen private Wirtschaft erkennt: Jeder arbeitslose Schwer- Antwort in keiner Tabelle, ausgenommen bei der behinderte ist einer zuviel. Das muß Grundlage sein. über die Eintritte in berufliche Bildungsmaßnahmen, Wenn wir dauernd über die Frage der Ausgleichs- eine geschlechtsspezifische Aufgliederung, nicht abgabe reden, bringen wir hier einen Zungenschlag einmal bei der Einstellung Schwerbehinderter in hinein, der an „Freikaufen" erinnert. Das darf nicht Bundesbehörden. Ich fordere Sie also auf, in Zukunft sein. Darüber muß Einigkeit bestehen. eine entsprechende Unterscheidung vorzunehmen, da nur so eine konkrete Datenlage zu schaffen ist, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU die Auskunft über die Beschäftigungs- und auch und der F.D.P.) Lebenssituation schwerbehinderter Frauen gibt. Ein letzter Satz zur Einordnung in das SGB IX. Wir Vielleicht ist es aber auch der Wille der Bundesre- sollten dies ehrlich einordnen. Wenn man bei der gierung, die dramatische Situation der betroffenen Eingliederung in das SGB IX große Sprünge erwar- Frauen nicht genau zu benennen, um nicht, wie in tet, Herr Haack - diese Erwartung sollten Sie meiner unserer Entschließung gefordert, in die Pflicht ge- Meinung nach nicht schüren -, dann hat man nicht nommen zu werden, spezifische Förderprogramme erkannt, daß wir hier alle über die Finanzen reden. zu initiieren. Wenn wir darüber reden, was der Bund und auch Nach unserer Erkenntnis erleben sich Frauen mit die Länder und Kommunen tun müssen, dann ist Behinderungen im Rennen um einen Arbeitsplatz klar, daß das Geld im Moment nicht so üppig vorhan- bei gleicher Qualifikation nur allzuoft als Viertpla- den ist, daß wir einen großen Sprung nach vorne tun zierte. Platz 1 belegt der Mann, Platz 2 die Frau, 10118 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Antje-Marie Steen Platz 3 der behinderte Mann und Platz 4 schließlich sich die Bundesregierung diesem Aufruf bis heute die behinderte Frau. nicht angeschlossen hat. Nur ein Fünftel der behinderten Frauen - bei den (Beifall der Abg. Andrea Fischer [Berlin] behinderten Männern ist es immerhin die Hälfte - ist [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) erwerbstätig. Bereits mit der Ausbildung beginnt die Die über 80 000 gehörlosen Menschen in der Bun- Benachteiligung dieser im beruflichen Bereich. desrepublik haben ein Recht auf Information und auf Der Frauenanteil in Berufsbildungs- und Berufsför- den Zugang zu Kommunikationsmitteln. Die Gebär- derungswerken liegt etwa bei einem Drittel. Ein ge- densprache kann wesentlich dazu beitragen, daß Iso- wichtiger Grund dafür ist, daß Reha-Maßnahmen, oft lation und Ausgrenzung schwerbehinderter Men- wohnortfern und mit internatsmäßiger Unterbrin- schen aufgehoben werden. Die Hauptfürsorgestellen gung, speziell für Frauen mit Kindern wegen der Kin- sind inzwischen bereit, berufstätige Gehörlose durch dererziehung nicht zu vereinbaren sind. Die Zahl der flankierende Hilfen zu unterstützen. Abbrecherinnen ist mit zirka 25 Prozent auch des- Mit der Anerkennung und Förderung der Gebär- halb so hoch, weil die Belastungen sehr intensiv sind. densprache könnten wesentlich mehr Betroffene in Wohnortnahe Ausbildungsangebote sind daher ge- eine bessere Lage versetzt werden. Wir fordern Sie rade für Frauen mit Behinderungen überaus wichtig. auf, diesen Antrag zu unterstützen. Hier gibt es einen erheblichen Nachholbedarf. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard (Beifall bei der SPD) Hirsch) Zusätzlich kann sich die geplante Umwandlung Außerdem bitte ich an dieser Stelle noch einmal des Rechtsanspruches auf Reha in eine Kann-Lei- um Unterstützung dafür, daß Gebärdendolmetscher stung insbesondere für Frauen mit Behinderungen bei den Debatten des Deutschen Bundestages einge- als eine unüberwindbare Hürde erweisen. Sie sollte setzt werden, wie es jetzt bereits durch einen - lei- unter dem Aspekt der speziellen Erschwernis Behin- der - privaten TV-Sender erfolgt. Es wäre eine Auf- derter, auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar- zu sein, gabe für das Hohe Haus, diesem Wunsch vieler be- fallengelassen werden. Ich frage: Wo war eigentlich hinderter Menschen endlich nachzukommen. das Veto des Behindertenbeauftragten? Hat er die In- teressenvertretung der Behinderten bei der Vorlage (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Sparpaketes abgegeben, oder hat er sie an das DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss Kabinett zurückgegeben? [PDS])

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz hat zur A rt der Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Arbeitsplatzausgestaltung für Menschen mit Behin- NEN] und der Abg. Petra Bläss [PDS]) derungen in ihrer Broschüre „Arbeitsplätze für Be- hinderte und Leistungsgewandelte" viele detaillierte Die Beschäftigungschancen für Behinderte sind Vorschläge und Anregungen gemacht. Das belegt: wesentlich von der Mobilität der Betroffenen abhän- Menschen mit Behinderungen sind voll leistungsfä- gig: von den Möglichkeiten, den Arbeits- oder Aus- hig, wenn der Arbeitsplatz der Behinderung ent- bildungsplatz zu erreichen, oder von der Nutzung spricht. Das gilt - ich möchte es noch einmal beto- des eigenen Pkw. Verstärkt wird dieses Problem nen - auch für Frauen mit Behinderungen. Solange durch den sehr unzureichenden ÖPNV, der für Mobi- wir Behinderung als abweichende Norm in körperli- litätseingeschränkte nicht zugänglich und nicht aus- cher, geistiger, seelischer und sozialer Hinsicht de- gebildet ist. Deshalb ist nachdrücklich auf den bar- klarieren - das ist in der Antwort der Bundesregie- rierefreien Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu rung sehr deutlich der Fall -, so lange wird es eine drängen. Hier ist endlich eine einzelgesetzgeberi- Gleichstellung Behinderter und Nichtbehinderter sche Maßnahme nötig. nicht geben. Die Bundesregierung führt an einer Stelle aus: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen und damit ein Der technologische Fortschritt und die auf seiner Stück zum Barriereabbau beizutragen. Grundlage entwickelten Hilfsmittel eröffnen ins- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne besondere Körper- und Sinnesbehinderten neue ten der PDS) berufliche Chancen . . .

So die Erkenntnis der Bundesregierung. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram das Wort. Sie finden in unserem Antrag die Aufforderung, die Anerkennung und Förderung der Gebärdenspra- che sicherzustellen. Gerade im Zusammenhang mit Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Herr Präsi- dem eben gemachten Hinweis auf die Einlassung der dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde sehr Bundesregierung möchte ich darauf aufmerksam ma- seltsam, wie hier heute argumentiert wird: Die SPD chen, daß das Europäische Parlament bereits 1988 ei- prangert auch in dieser Debatte, Herr Haack, öffent- nen Beschluß zur Anerkennung der Gebärdenspra- lich den Sozialabbau der Bundesregierung an. Aber che gefaßt hat. Die Mitgliedstaaten sind ebenfalls zur in den von Ihnen regierten Bundesländern, also hin- Anerkennung aufgerufen worden. Ich frage, warum ter Ihrer eigenen Tür, bauen Sie klammheimlich Lei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10119

Birgit Schnieber-Jastram stungen für Behinderte ab. Das muß man einmal Elbe-Werkstätten in Hamburg-Bergedorf ein Organi- deutlich machen. sationskonzept vorgelegt. Darin finden sich ganz ent- scheidende Punkte: individuelle Entwicklungs- und (Zuruf von der F.D.P.: Hört! Hört!) Leistungsmöglichkeiten, marktgerechte Grundsätze, Im Sozialausschuß haben wir uns am Rande der Kostenbewußtsein und vieles anderes. Wenn ich mir Beratungen zur Pflegeversicherung und bei der Ko- anschaue, was die Bundesregierung im BSHG plant, ordinierung der einschlägigen Paragraphen nicht sel- dann stelle ich fest, daß das identische Punkte sind. ten über den § 3 a BSHG unterhalten, der Behinder- Wir wollten eine Änderung der Werkstättenverord- ten einen Vorrang in der ambulanten Hilfe einräumt. nung im Rahmen der Reform des Sozialhilferechtes - Ich bin ziemlich erstaunt, wenn ich jetzt höre, daß eine Reform, die von der SPD abgelehnt worden und der Vermittlungsausschuß auf Antrag der SPD, Herr jetzt wieder im Vermittlungsausschuß ist. Wir wollten Haack, dieses Prinzip einschränkt. Um die Länderfi- die Erhöhung der Löhne in den Werkstätten. Sie, und nanzen zu schonen, können Behinderte jetzt unter niemand anderes, haben sie abgelehnt. bestimmten Umständen zwangsweise - dafür tragen Machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube! Sie die Verantwortung - in stationäre Einrichtungen eingewiesen werden. Im SPD-regierten Hamburg hat Bevor Sie neue Entschließungsanträge zur Arbeits- gestern ein Behinderter bereits symbolisch im schwe- welt und zur Behindertenpolitik vorlegen, sollten Sie dischen Konsulat um Asyl nachgesucht, um auf seine zunächst im Vermittlungsausschuß die Sozialhilfere- Situation aufmerksam zu machen. Ähnliches ist in form passieren lassen, die vielen Behinderten mehr Bonn und in Berlin passiert; in Hessen stehen erste gibt, als sie jetzt haben. Zwangseinweisungen bevor. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich empfinde die Praxis der SPD, nach außen hin den Abbau des Sozialstaates zu polemisieren, aber in Ich freue mich auf die Ausschußberatung zu dieser den eigenen Ländern knallharte Sparpolitik auf Ko- Sache. sten der Behinderten zu betreiben, als Heuchelei. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)- Sparen müssen die Länder ebenso wie der Bund. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich Dann aber sollte die SPD auch dazu stehen, wenn sie dem Abgeordneten Johannes Singhammer das Wo rt. im sozialen Bereich Einsparungen vornimmt. - Frau Kollegin, es gibt keine Zwischenfrage mehr, wenn nichts mehr „dazwischen" ist, wenn die Rede Die SPD greift in ihrem Entschließungsantrag un- zu Ende ist. gerechtfertigterweise die Bundesregierung an, sie verursache die Verschlechterung der Lebenssituation Behinderter. Dabei ist der § 3 a BSHG nur ein Bei- Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsi- spiel dafür, daß sich die SPD an die eigene Nase fas- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Rich- sen muß. Diese Nase müßte im übrigen wie die Nase tig ist, daß der Umgang eines Staates, einer Gesell- Pinocchios immer länger werden. schaft mit Schwächeren gleichsam einen Lackmus (Zuruf von der CDU/CSU: Rot ist sie ja test für die Humanität, für die Verfaßtheit eines Ge- schon!) meinwesens darstellt. Man betrachte einmal die verfälschenden öffentli- Allerdings entspricht das Ergebnis des Lackmus chen Darstellungen des Bonner Reformprogramms tests, das Sie ausstellen, nicht der Wirklichkeit. Las- durch die SPD! sen Sie mich dafür nur zwei Beispiele nennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Bundesregierung täte sich mit Recht schwer damit, Empfehlungen abzugeben, wenn sie bei- Die SPD weiß nämlich genauso gut wie die über- spielsweise nicht selbst eine Beschäftigungsquote wiegende Mehrheit der Bevölkerung in unserem von 6 Prozent Schwerbehinderter erreicht hätte. Der Land, daß das Reformprogramm der Bundesregie- Bund hat als Arbeitgeber die Beschäftigungsquote rung notwendig für die Erhaltung des Sozialstaates von Schwerbehinderten mehr als erfüllt. 57 000 mit ist. In den von Ihnen regierten Bundesländern und Schwerbehinderten besetzte Arbeitsplätze entspre- Kommunen - wie etwa in Hamburg - streichen Sie chen einer Quote von 6,4 Prozent. die Leistung zusammen. Wenn der Bund - wohlge- merkt: aus Sparzwang, nicht aus Sparlust - Leistun- Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialord- gen einschränken muß, dann wird gleich vom sozia- nung, also das Ministe rium als solches, der unmittel- len Kahlschlag gesprochen. Mit dieser Art der ge- bare Bereich, in dem auch der Minister mit seinen spaltenen Wahrnehmung lösen Sie die Probleme, die Mitarbeitern arbeitet, hat die Konsequenzen aus un- anstehen, überhaupt nicht. Mit Ihrem Doppelspiel serer generellen Forderung gezogen und nimmt mit werden Sie auch die Bürger nicht lange täuschen einer Quote von 10,2 Prozent eine Spitzenstellung können. ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie, Herr Haack, haben von einer „schäbigen Poli- Ich möchte noch ein paar Worte zu der spezifi- tik" gesprochen. Ich frage Sie: Sind diese schen Behindertenproblematik sagen. Letzten Som- 10,2 Prozent schäbig? Ich nenne sie nicht schäbig, mer haben in meinem Wahlkreis die Hamburger sondern betrachte sie als ein Zeichen der Solidarität, 10120 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Johannes Singhammer und ich danke dem Bundesminister für Arbeit und Bundesregierung, der sich ja immer eingesetzt hat Sozialordnung dafür, daß er dies erreicht hat. und der auch zuletzt in der Debatte um das Arbeits- förderungsgesetz maßgeblich mitgewirkt hat, herz- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lich danken. Sorge bereiten muß - das sage ich auch - diese Be- schäftigungsquote bei den p rivaten Arbeitgebern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie liegt deutlich unter 4 Prozent. Das ist zuwenig. Alle staatliche Gesetzgebung und alles Mühen Wir wollen, daß mehr Behinderte einen Arbeitsplatz der Verwaltung schaffen nur die Rahmenbedin- finden und die Sicherheit erhalten, im Arbeitsleben gungen. Deshalb ist der Appell, den ich eben an gebraucht zu werden. die Unternehmen und an alle anderen, die Um- Was ist zu tun? Zuallererst, ob behindert oder ohne gang mit behinderten Menschen haben, gerichtet Handicap, mehr wirtschaftliches Wachstum schafft habe, kein Ablenken von der politischen Verantwort- mehr Arbeitsplätze und belebt den Arbeitsmarkt. lichkeit. Er ist aber aus der Erkenntnis heraus ge- Deshalb gibt es zu unserem Programm „Mehr macht worden, daß der Staat nicht alles allein regeln Wachstum und Beschäftigung" auch im Interesse der kann. Behinderten keine Alternative. Menschen mit Behinderung brauchen kein Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) leid, wohl aber Verständnis, Freundschaft, Zuwen- dung, Aufmunterung und Anerkennung. Das ist Die Reform des Arbeitsförderungsrechts soll die mehr, als jeder Paragraph zu leisten vermag. Erwerbschancen von Arbeitslosen verbessern und Arbeitslosigkeit vermeiden helfen. Wir sind zuver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sichtlich, daß sich diese Erfolge auch für den Bereich der Behinderten einstellen werden. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- Meine sehr verehrten Damen und Herren, natür- intervention gebe ich das Wo rt der Abgeordneten lich gilt auch für andere öffentliche Arbeitgeber, die Andrea Fischer. Mindestquote nicht nur zu erreichen, sondern sie zu überschreiten. Ich denke - und das sage ich hier auch -, daß hier auch bei dem einen oder an- Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deren Bundesland noch ein gewisser Spielraum be- NEN): Frau Kollegin Schnieber-Jastram, Sie haben steht. sich eben darüber geärgert, daß mit gespaltener Zunge geredet wird, daß nicht gesagt wird, wie die Auch was die Zahl der Aufträge an Werkstätten Praxis in den Ländern ist. Sie haben die Praxis in den für Behinderte betrifft, meine ich, daß noch Steige- Ländern und das, was dort stattfindet, gegeißelt. Ich rungsmöglichkeiten gegeben sind. In den Jahren teile Ihre Forderung, daß wir uns hier um intellektu- 1992 bis 1994 sind von Bundesdienststellen Aufträge elle Redlichkeit und Wahrhaftigkeit bemühen soll- im Werte von 40 Millionen DM an diese Werkstätten ten. Ich kann bestenfalls anerkennen, daß Ihre Rede ergangen. Ich meine aber, daß nicht alle Möglichkei- unter sportlichen Gesichtspunkten sehr gelungen ten ausgeschöpft worden sind. Hier gilt es, Kreativi- war, nämlich dadurch, daß Sie die Verantwortung auf tät ohne Grenzen einzusetzen. Das gilt im übrigen eine andere Ebene abgeschoben haben. auch für die privaten Unternehmer und die Vor- standsetagen großer privater Firmen. Ich möchte auf zwei Punkte hinweisen. (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Sehr Die bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für die richtig!) von Ihnen in dieser Schärfe kritisierte Praxis - Sie ha- Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben ben sogar von „Zwangseinweisungen" gesprochen -, alldem, was den Staat mehr Geld, mehr Finanzen ko- die Sie bei den Ländern festgemacht haben, wird stet und was sehr wichtig ist, ist auch ein Umdenken durch das Sozialhilfegesetz, wie Sie es planen, und in den Köpfen entscheidend. Menschen mit einem durch die im Moment gültige Fassung des § 3 a Handicap können ein Gewinn für Unternehmen sein. BSHG, über den im Vermittlungsausschuß verhan- Damit meine ich nicht die Förderung durch das Ar- delt wird, geschaffen. Das ist das Problem. beitsamt, die auch dem Unternehmen zugute kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich meine die Ernsthaftigkeit, den Sachverstand, das sowie bei Abgeordneten der SPD und der Können, die Geduld, die Behinderte mit ihrer ganz PDS) besonderen Lebenserfahrung einbringen können. Wer trotz eines Handicaps mit Hartnäckigkeit und Ich will das an einem anderen Punkt, der Selbstbe- Zielstrebigkeit eine volle oder auch eine einge- stimmung, noch einmal festmachen, weil Sie darauf schränkte Leistung bringt, ist kein Verlustbringer, sehr stark abgehoben haben. Wir haben uns wirklich sondern ein Gewinn, vor allem auch ein Gewinn an den Mund fusselig geredet, um Ihnen zu erklären, Menschlichkeit. daß man das Assistenzmodell in der Pflege im Rah- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men des Pflege-Versicherungsgesetzes absichern kann, daß man den Mißbrauch, der von Ihnen be- Die staatlichen Leistungen für Behinderte sind in fürchtet wird, verhindern kann. Wir konnten mit den letzten Jahren spürbar verbessert worden. Ich Hilfe der Pflegekassen nachweisen, daß das ganze in möchte an dieser Stelle auch dem Beauftragten der einem erträglichen Finanzierungsumfang geschehen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10121

Andrea Fischer (Berlin) kann. Keines dieser Argumente hat bei Ihnen etwas b) Beratung der Beschlußempfehlung und des bewirkt. Auch die Regelungen in bezug auf die Pfle- Berichts des Ausschusses für Raumordnung, geversicherung sind in einem Bundesgesetz nieder- Bauwesen und Städtebau (18. Ausschuß) zu gelegt. der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung Deswegen möchte ich darauf hinweisen, daß diese Vorwürfe vielleicht diejenigen treffen, gegen die Sie Raumordnungsbericht 1993 sie gerichtet haben, aber daß sie Sie nicht von dem - Drucksachen 12/6921, 13/1740 - entlasten, was die Bundesregierung im Rahmen der Berichterstattung: Behindertenpolitik in den letzten Jahren gemacht hat Abgeordnete Walter Schöler und jetzt macht. Hans-Wilhelm Pesch

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS c) Beratung der Beschlußempfehlung und des SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Berichts des Ausschusses für Raumordnung, PDS) Bauwesen und Städtebau (18. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Schnie- rung ber-Jastram, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu Großsiedlungsbericht 1994 antworten. - Drucksachen 12/8406, 13/1741 - Berichterstattung: Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Liebe Frau Abgeordnete Iris Gleicke Fischer, vieles von dem, was Sie sagen, ist ja berech- Angelika Mertens tigt. Nur, eines möchte ich hier klarstellen: Was ich Josef Hollerith mir und wir uns nicht gefallen lassen, ist, daß wir des Sozialabbaus bezichtigt werden, daß von uns gefor- d) Beratung der Beschlußempfehlung und des dert wird, daß in § 3 a etwas geändert werden soll, Berichts des Ausschusses für Raumordnung, und daß dann, nachdem wir Sozialpolitiker- uns Bauwesen und Städtebau (18. Ausschuß) zusammensetzen und in § 3 a BSHG nach Vorlage - zu der Unterrichtung durch die Bundesre- aus dem Gesundheitsausschuß etwas geändert gierung haben, die SPD-Bundesländer im Vermittlungsaus- Bericht der Expertenkommission Woh- schuß diese Änderung zurückgenommen sehen nungspolitik möchten und damit die Stellung der Behinderten ver- schlechtern. So können wir diese Diskussion ohne - zu der Unterrichtung durch die Bundes- Zweifel nicht führen. regierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Expertenkommission Wohnungspolitik Ich schließe Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: zu dem Entschließungsantrag der Abge- damit die Aussprache. - ordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und Es ist beantragt worden, die Entschließungsan- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu träge der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die der Unterrichtung durch die Bundes- Grünen auf den Drucksachen 13/4972 und 13/4991 regierung zur Federführung an den Ausschuß für Arbeit und Bericht der Expertenkommission Woh- Sozialordnung und zur Mitberatung an den Aus- nungspolitik schuß für Gesundheit-zu überweisen. Sind Sie damit - Drucksachen 13/159, 13/1268, 13/1312, einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider- 13/4533 - spruch. Dann sind die Überweisungen so beschlos- sen. Berichterstattung: Abgeordnete Otto Reschke Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 i und Zusatzpunkt 5 auf: e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wohnungspolitische Debatte Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Werner Dörflinger, Herbert Frankenhauser, weiteren Abgeord- 7. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- neten und der Fraktion der CDU/CSU so- desregierung wie der Abgeordneten Hildebrecht Braun Wohngeld- und Mietenbericht (Augsburg), Dr. Klaus Röhl, Lisa Peters, Horst Friedrich und der Fraktion der F.D.P. - Drucksache 13/4254 - eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - Drucksache 13/4949 - (federführend) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (federführend) Ausschuß für Gesundheit Finanzausschuß 10122 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch f) Beratung des Antrags der Abgeordneten - Zweite und dritte Beratung des von den Achim Großmann, Norbert Formanski, Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter Volker Jung (Düsseldorf), Achim Groß- und der Fraktion der SPD mann, weiteren Abgeordneten und der Anhebung der Freibetragsregelungen nach Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs dem Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 eines Gesetzes zur Änderung des Bau- - Drucksache 13/3665 – gesetzbuches Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/1736 – Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Erste Beratung 44. Sitzung) (federführend) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Zweite und dritte Beratung des vorn Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Geset- g) Beratung des Antrags der Abgeordneten zes zur Änderung des Baugesetzbuchs Achim Großmann, Walter Schöler, Ing rid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und - Drucksache 13/2208 – der Fraktion der SPD (Erste Beratung 55. Sitzung) Steuerliche Förderung im Mietwohnungs- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- bau zielgenau gestalten schusses für Raumordnung, Bauwesen und - Drucksache 13/3918 – Städtebau (18. Ausschuß) Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/4978 - Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Finanzausschuß Berichterstattung: (Federführung strittig) Abgeordnete Peter Götz Ausschuß für Wirtschaft Walter Schöler h) Beratung des Antrags des Abgeordneten Zum Wohngeld- und Mietenbericht liegt ein Ent- Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der schließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Zum PDS Raumordnungsbericht liegt ein Entschließungsan- Umfassende Reform der Wohnungsförde- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, zum rung und Erarbeitung eines Wohngesetz- Großsiedlungsbericht ein Entschließungsantrag der buches Fraktion der SPD und ein Änderungsantrag der Frak- - Drucksache 13/4725 - tion Bündnis 90/Die Grünen. Außerdem hat die Frak- Überweisungsvorschlag: tion der SPD einen Entschließungsantrag zum Be- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau richt der Expertenkommission Wohnungspolitik ein- (federführend) gebracht. Rechtsausschuß Finanzausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Wider- Haushaltsausschuß spruch. Dann ist das so beschlossen. i) Beratung des Antrags des Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Ab- PDS geordnete Dietmar Kansy. Beendigung der Zwangsprivatisierung von kommunalen und genossenschaftlichen Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Herr Präsi- Wohnungen in den ostdeutschen Bundes- dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen ländern durch Änderung des Altschulden- und Kollegen! Gestern hat die SPD eine Pressemittei- hilfe-Gesetzes lung zu unserer heutigen Debatte herausgegeben, - Drucksache 13/4837 – und ich hatte schon Zeichen und Wunder vermutet; Überweisungsvorschlag: denn die Überschrift heißt: Grundlegende Reform Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau der Wohnungspolitik dringend notwendig. Dann (federführend) machte ich den Fehler und las auch das Kleinge- Rechtsausschuß druckte. Dieses konterkariert die Überschrift. Haushaltsausschuß Wir können doch nicht fachpolitische Themen los- ZP5 - Zweite und dritte Beratung des von den gekoppelt von der allgemeinen gesellschaftlichen Abgeordneten Dietrich Austermann, Dr. Pe- Umbruchsituation behandeln, in der wir uns befin- ter Ramsauer, Meinrad Belle, weiteren den und in der sich das ganze Land befindet. Was Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ soll der Vorwurf, der Bauminister habe die schlimm- CSU sowie der Abgeordneten Birgit Hom- ste Krise der Bauwirtschaft seit 20 Jahren herbeigere- burger, Jürgen Koppelin, Hildebrecht det? Braun (Augsburg), Dr. Klaus Röhl und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs (Iris Gleicke [SPD]: So lange ist der noch eines Gesetzes zur Änderung des Bauge- gar nicht im Amt! Vorher war es Frau setzbuchs Schwaetzer!) - Drucksache– 13/1733 - Richtig, Frau Kollegin! Das sagen Sie einmal Ihrer (Erste Beratung 44. Sitzung) Fraktionsgeschäftsstelle. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10123

Dr.-Ing. Dietmar Kansy Zweitens hatte er natürlich den größten Bauboom Dieses Prinzip nimmt übrigens auch den Investo- in seiner Amtszeit. Das möchte ich bei dieser Gele- ren jeglichen Anreiz zum kostengünstigen Bauen, genheit einmal sagen. zur Kostensenkung. Das ist ein Thema, mit dem sich das Parlament in den letzten Monaten in den Fach- (Beifall bei der CDU/CSU) ausschüssen beschäftigt hat. Wenn beispielsweise der sachsen-anhaltinische Eine flexible Ausrichtung der differenzie rten Wohnungsbauminister einer rot-grünen Landesre- Wohnbedürfnisse ist nach unserer Auffassung weder gierung, die von der PDS geduldet wird, die Woh- mit dem ersten Förderweg noch langfristig mit dem nungs- und Städtebaumittel um zwei Drittel kürzt zweiten Förderweg zu erreichen. Wir schlagen Ihnen oder wenn der entsprechende Senator in Berlin aus noch einmal vor, sich im Rahmen eines dritten Woh- einer großen Koalition oder wenn andere Landesmi- nungsbaugesetzes oder Wohnungsgesetzbuchs auf nister Ähnliches tun, dann kann man nicht sagen, eine einkommensorientierte Förderung unter Weg- das seien unfähige oder hartherzige Wohnungspoliti- fall der klassischen Fehlbelegungsabgabe zu kon- ker. Die Leute stellen sich der Verantwortung unter zentrieren. veränderten Bedingungen. Das müssen wir auch im Bund in der Wohnungspolitik tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Die Koalitionsfraktionen haben deswegen bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode klargemacht, daß Meine Damen und Herren, meine Fraktion ist of- wir bei begrenzten öffentlichen Mitteln, hoher Steu- fen. Wir bestehen auch nicht darauf, daß jeder Vor- erlast und einer gewaltigen Verschuldung von Bund, schlag des BMBau auf Punkt und Komma genau Ländern und Gemeinden unsere Hauptaufgabe übernommen wird. Aber wir müssen jetzt mit Ihnen - darin sehen sollten, diese begrenzten Mittel unter Sie sind herzlich dazu eingeladen - und mit den Bun- dem Gesichtspunkt der Subsidiarität und Solidarität desländern einen praktikablen Weg finden, um we- zielgerichteter und treffsicherer einzusetzen und nigstens diese Eckwerte zu beschließen. Wir wollen nicht so weiterzumachen, wie wir in guten Jahren in der Angelegenheit weiterkommen. Sonst landet ir- gendwann einmal ein eigener Gesetzentwurf im Ver- Wohnungspolitik betreiben konnten. - mittlungsausschuß. Was dann damit passiert, wissen Im Bereich der Eigentumsförderung ist das bereits wir in diesem Hause: Er landet jedenfalls nicht mehr erfolgreich geschehen. Die Kollegin Rönsch wird im bei Fachleuten. Verlauf dieser Debatte noch darauf eingehen und er- Ein weiteres Reformvorhaben ist die Novelle zum ste Bilanz ziehen. Baugesetzbuch. Auch da beklagen Sie, es sei nichts Im Bereich des sozialen Wohnungsbaus liegt die passiert. Der Referentenentwurf ist bei den Ländern, Aufgabe noch vor uns. Der Bundesbauminister hat - ist bei den Verbänden. Als interessie rtes MdB konn- meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was ten auch Sie ihn bekommen. In kurzer Zeit ist Gewal- soll der Vorwurf des Untätigseins? - bereits im De- tiges geleistet worden, um diesen Referentenentwurf zember letzten Jahres den Länderbauministern in auf den Tisch zu bringen. der Arge-Konferenz die Eckpunkte seines Konzepts (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vorgelegt. Bisher ist dort nichts passiert. Ich appel- liere dringend an die Länder, entweder endlich ei- In Teilbereichen haben wir noch Erörterungsbe- gene Vorstellungen zu Papier zu bringen oder sich darf, auch als CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die unbeschadet unterschiedlicher parteipolitischer In- Schwerpunkte der Novelle haben aber unsere Zu- teressen mit uns auf einige wesentliche Eckwerte zu stimmung: überhaupt erst mal wieder die Schaffung einigen, damit wir in der Reform des sozialen Woh- eines einheitlichen Baurechts, Integration der um- nungsbaus weiterkommen. weltrelevanten Regelungen, strukturelle Vereinfa- chung, Rücknahme des Staatseinflusses, Stärkung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der kommunalen Planungshoheit, eine neue Baunut- zungsverordnung, eine Novelle zum Raumordnungs- Es hat keinen Sinn, weiter die Augen davor zu ver- gesetz. Diese und viele andere Punkte sind ein ge- schließen, daß Mietvorteile der rund 2,5 Millionen waltiger Schritt zur Straffung und Schlankmachung Sozialwohnungen, die wir noch haben, in erhebli- des Planungsrechts am Ende dieses Jahrhunderts chem Umfang Menschen zugute kommen, die im und damit zur Zukunftsgestaltung. Verwaltungsdeutsch Fehlbeleger genannt werden. Das sind mehr als 40 Prozent, und trotz heiliger (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Schwüre vieler Bundesländer zahlen nur 20 bis Zuruf von der SPD: Das schafft keine neuen 30 Prozent aller Sozialmieter eine Fehlbelegungsab- Wohnungen?) gabe und weitere eine zu geringe. - Da kommt ein Zuruf: „Das schafft keine neuen Jetzt muß das Wesentliche auf den Tisch. Die Ursa- Wohnungen." che für die Mietverzerrung ist die starre Kostenmie- (Zuruf von der SPD: Das war eine Frage!) tenkalkulation, das sogenannte Erstarrungsprinzip. Das muß nicht nur unter dem Druck der leeren Kas- Wenn das Ihr Politikansatz ist, liebe Kollegen von der sen, sondern auch mit dem Anspruch auf soziale SPD, dann können wir so langsam wirklich einpak- Treffsicherheit und letztendlich soziale Gerechtigkeit ken. Es geht nicht darum, immer neue Milliarden auf vom Tisch, sonst werden wir keine wesentliche Re- den Tisch zu legen, die wir nicht haben. Vielmehr form durchbekommen. müssen wir auch im immateriellen Bereich neue 10124 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 Dr.-Ing. Dietmar Kansy Wege gehen, damit wir wieder eine Zukunft haben. Bei den Länderfinanzministern, Frau Kollegin, stand Das gilt auch für den Wohnungsbau. das Wohngeld in den letzten Tagen sogar auf ihrer Sparliste, die durch die Presse gezirkelt ist. Das ist Deswegen steht trotz Ihrer Kritik auch das Miet- nämlich die Wirklichkeit in diesem Lande. recht auf dem Prüfstand; denn es ist zwischenzeitlich nicht nur für die Mieter, sondern teilweise auch für Heute hat der Finanzausschuß des Bundesrates ge- die Kleinvermieter fast ein Dschungel mit Lotterie- tagt. Mir ist kein SPD-Antrag bekannt, eine allge- charakter. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - meine Erhöhung des Wohngeldes durchzuführen. das will ich an dieser Stelle sagen - ist damit nicht Man hat über den thüringischen Minivorschlag dis- gemeint, die Balance zwischen den berechtigten An- kutiert und eine Mehrheit gefunden. Wir brauchen sprüchen der Mieter und denen der Vermieter aufzu- also eine gemeinsame Strategie von Bund und Län- geben. dern, in der schwierigen Haushaltssituation der bei- den eine vernünftige Wohngeldnovelle hinzubekom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) men. Der Wohngeld- und Mietenbericht, der uns vorliegt, (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf des Abg. zeigt, daß diese Balance existiert. Achim Großmann [SPD]) Eine wirklich unabhängige DIW-Untersuchung in - Herr Kollege Großmann, das ist einfach die Wahr- Ihrem sozioökonomischen Panel, die zufällig gleich- heit. Die tut manchmal weh; das ist klar. Aber so ist zeitig vorgelegt wurde, hat gezeigt: Die große Mehr- sie. heit der Mieter in Deutschland ist mit ihrer Wohnsi- Das Jahressteuergesetz 1997 und den Diskussions- tuation zufrieden und hält die Miete für angemessen, bedarf seitens der Baupolitik kann ich aus Zeitgrün- weil sie dafür eine anständige Wohnung bekommt. den nicht ausführen. Wo das nicht geschieht - das kann man sich in den neuen Bundesländern ansehen -, passiert das, was Zum Altschuldenhilfe-Gesetz wird Kollege Rau wir gerade mit Mühe aufholen. gleich etwas sagen. Wir sind stolz darauf, daß wir jetzt eine zeitgerechte Novelle erreicht haben. 25 Prozent Belastungsquote im Westen und 20 Prozent im Osten sind tragbar. Deswegen bedeu- Das CO2-Programm - von der Union insbesondere tet Mietenreform für uns - ich wiederhole mich - unter der Federführung des Kollegen Meister erar- Durchschaubarkeit, Einfachheit. Dabei gibt es durch- beitet - muß aus technischen Gründen heute von der aus Haushalte, die Schwierigkeiten haben. Tagesordnung gestrichen werden. Wir werden es bei passender Gelegenheit wieder auf die Tagesordnung Ich muß Ihnen natürlich auch folgendes sagen: setzen. Achten Sie nicht immer allein auf Bundesrecht! Wenn zum Beispiel die nordrhein-westfälische Lan- Zum Abschluß ein Wort zur Bauwirtschaft. All dies, desregierung durch Anhebung der Zinsen für Woh- was wir jetzt zu bereden haben, weil wir mit den Ge- nungsbaudarlehen Sozialmieten über den Stand der gebenheiten fertig werden müssen, trifft die Bauwirt- Vergleichsmieten hochtreibt, ist auch das Mietenpoli- schaft in einer schwierigen Situation. Ich kann jetzt tik, und zwar eine falsche. darauf im Detail nicht eingehen. Ich möchte aber von dieser Stelle aus noch einmal an die Tarifpartner - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) insbesondere auch an die Arbeitgeberseite - appel- lieren, jetzt endlich das Wirksamwerden des Entsen- Wenn die Kommunalabgaben unserer ruhmrei- degesetzes zu ermöglichen, chen Kommunalpolitiker aller Fraktionen in 1000 Ge- meindeparlamenten fünfmal stärker steigen als die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nettokaltmiete, ist auch das Mietenpolitik - aus Sicht damit wir überhaupt eine Chance haben, auf die der Mieter. Dauer deutsche Bauunternehmer mit deutschen Ar- Wer wie die SPD-Bundestagsfraktion und die A- beitnehmern in Deutschland noch zu halten. Länder die betriebliche Vermögensteuer beibehalten Für uns, meine Damen und Herren, gilt: Wir müs- und noch erhöhen will, muß wissen, daß er bei den sen - stärker, als wir das bisher in der Vergangenheit Wohnungsunternehmen mit solcher Politik sowohl gemacht haben - denjenigen in unserer Bevölke- Investitionsverzicht als auch Mietenerhöhung be- rung, die dies wirtschaftlich leisten können, in der treibt. Dies alles gehört dazu, wenn wir uns dem- Wohnungsbaupolitik und beim Thema Wohnen mehr nächst über das Thema Mietrecht unterhalten. Eigenverantwortung zuweisen, damit wir mit dem Ich komme zum Wohngeld. Natürlich ist eine ge- restlichen Geld denjenigen besser helfen können, meinsame Antwort von Bund und Ländern überfäl- die es allein nicht schaffen. Das sollte unsere Leitlinie lig, und zwar eine Antwort. Wahrscheinlich wird es sein. an diesem Freitag, wenn die Arge Bau tagt, den x- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten Appell an Regierung und Bundestag geben, das Wohngeld zu erhöhen. Er kommt von den Herren Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der Länderbauministern, die wohl wissen, daß sie, wenn Abgeordneten Angelika Mertens das Wort. sie nach Hause kommen, in den Landeskabinetten auf taube Ohren stoßen werden. Angelika Mertens (SPD): Herr Präsident! Meine (Widerspruch bei der SPD) Damen und Herren! Politiker sind ja immer auf der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10125

Angelika Mertens Suche nach schönen Sprüchen. Solch ein Aphoris- Markt hat viele Eigenschaften. Rücksichtnahme und mus stammt von einem serbischen Dichter mit einem Moral gehören nicht dazu. unaussprechlichen Namen und lautet: „Keine Ver- gangenheit, die nicht einmal Zukunft gewesen Die Koalition hat es in 14 Jahren sogar geschafft, wäre." Ich finde, er paßt nicht nur hervorragend zu gleichzeitig zu schlafen und zu sündigen. Während unserer Arbeit im Bauausschuß, weil unsere Taten jeder mittelmäßige Statistiker ziemlich genau sagen und auch Untaten ja fast immer sichtbar werden, konnte, wann die geburtenstarken Jahrgänge Wohn- zum Beispiel in Form von Häusern oder Windkrafträ- raum nachfragen werden, für wie viele Aussiedler dern, aber auch in Form von Obdachlosigkeit und Wohnraum bereitgestellt werden muß und wie hoch Segregation. Er paßt natürlich auch hervorragend die Scheidungsraten sind, träumte die Koalition vom zum Sparpaket und zu den Haushaltsberatungen. Markt, der schon alles regeln wird. Sie hat den Markt mit der Abschaffung des Woh- Kaum eine Politikergeneration hat über mehr Zu- nungsgemeinnützigkeitsgesetzes sogar noch erwei- gang zu Informationen verfügt als unsere. Wir haben tert. Letztlich ist sogar das gemeinnützig gebundene damit viele Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Vermögen zur Ware degradiert worden. Eine Woh- Veränderungen in unsere Konzepte aufzunehmen nung ist aber kein Profitcenter. Der Markt ist nur und vor allen Dingen aus der Vergangenheit zu ler- daran interessiert, möglichst schnell und möglichst nen. viel Rendite zu machen. Wohnungspolitiker müssen Was dann aber auf der rechten Seite dieses Hauses daran interessiert sein, möglichst vielen Menschen dabei herauskommt, ist die sture Verengung auf möglichst guten und möglichst preiswerten Wohn- quantitative Fragen der Wohnraumversorgung und raum zugänglich zu machen. natürlich auch auf Finanzierungsfragen. Herr Kansy (Beifall bei der SPD und der PDS) hat das eben noch einmal deutlich gemacht. Nicht, daß das keine wichtigen Fragen wären; sie sind für Nach Meinung der Expertenkommission Woh- viele Menschen sogar existentiell. nungspolitik haben wir heute noch viel zuwenig Markt. Niemand bezweifelt wohl die jeweilige Fach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- lichkeit der Experten. Aber manchmal können die ten der PDS) Köche noch so gut, die Zutaten noch so frisch sein, wenn man ein Soufflé bestellt, bedarf es nicht nur Anstatt in finanziell und gesellschaftlich schwieri- des Könnens, es bedarf geradezu der Kunst. Nur gen Zeiten so fehlerfreundlich und rückholbar wie wenn alles stimmt, geht das Ding auch auf. Da darf möglich zu entscheiden, macht die Koalition vorzugs- man vor dem Ofen dann nur auf Zehenspitzen ste- weise beide Augen zu. Will sie nicht sehen, was die hen, man darf die Ofentür nicht vor der Zeit aufma- Deregulierungs- und Liberalisierungspolitik auf chen. Die Opfer mißratener Soufflés behaupten gar, angerichtet hat, und welche dem Wohnungsmarkt man dürfe noch nicht einmal scharf hinsehen. sozialen und kulturellen Kosten das verursacht hat? Von wem wird das bezahlt? Es wird von denen be- Was 1994 vorgelegt wurde, ist der gescheiterte zahlt, die die Ellenbogen nicht angespitzt haben. Wo- Versuch eines Soufflés. Man hätte übrigens auch et- mit wird es bezahlt? Mit reduzierten und gescheiter- was Einfacheres bestellen können. Man kann sich ten Lebensentwürfen. jetzt darüber unterhalten, ob man mit den Zutaten noch etwas anfangen kann oder ob der Orkus für Ex- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne pertengutachten der richtige Aufbewahrungsort ist; ten der PDS) so einsam ist es da übrigens nicht. Sie reden von mehr Eigenverantwortlichkeit, ver- Da dem Bauminister der Ruf der Genußfähigkeit engen aber gleichzeitig die Spielräume: Die einen und der Genußbereitschaft vorauseilt, ist die Vorstel- gewinnen, und die anderen verlieren. Nun sollen die lung, er deklariere das zusammengefallene Werk Verlierer, die das System nicht verstanden haben kurzerhand zur Suppe um und lasse sie von oder nicht verstehen wollen, es doch richtig zu spü 50 Millionen Mietern auslöffeln, fast unvorstellbar. ren bekommen. Ich befürchte aber, unsere ursprüngliche Annahme, eine sogenannte Amerikanisierung des Wohnungs- sozialen Wohnungsbau Die Diskussion um den marktes und des Lebens allgemein kann selbst diese macht das sehr deutlich. Gleichsam als Gnade soll er Bundesregierung nicht zulassen, bröckelt allmählich denen gewährt werden, die sich aus eigener Kraft dahin. nicht mehr versorgen können. Ich frage mich: Was ist das für eine Politik? Sie haben Deregulierung zuge- Der Bundesbauminister bastelt zur Zeit an der Ab- lassen, ja, massiv gefördert. Sie müssen doch festge- schaffung des sozialen Wohnungsbaus und an einem stellt haben: Marktwirtschaft in der Wohnungsver- neuen Mietrecht. Damit nimmt er zwei Forderungen sorgung hat nicht zu niedrigen Mieten und nicht zu der Expertenkommission auf, die sich nach Meinung einer gerechten Verteilung des Wohnraums geführt. der SPD nicht nur fatal auf die Mieter und Sozialmie- Sie hat vielmehr aufgeteilt in Gute und Zahlungs- ter - übrigens auch die künftigen -, sondern auch kräftige für die besseren Gebiete und die privaten massiv auf die Länder auswirken werden. Herr Töp- Vermieter sowie in Schlechte und Arme für die fer, wir erwarten von Ihnen heute eine Stellung- schlechten Gebiete und die öffentlichen Vermieter. nahme, wieviel Bedeutung das Expertengutachten für Ihre zukünftige Politik haben wird. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Vielleicht sollte das die IG Metall übernehmen!) (Beifall bei der SPD) 10126 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Angelika Mertens Sie können dabei den üblichen Schmus, das seien heute hören. Sie haben vielleicht nachher noch Zeit, alles nur Diskussionsvorschläge und man wolle das um dazu etwas zu sagen. Ganze im Konsens mit den Parlamentariern und dem Bundesrat klären, weglassen. Wir wollen wissen, was Wenn es stimmt, daß diese Wohngeldnovelle zur Sie wollen, meinetwegen auch, was die Bundesregie- Disposition steht, dann kann man eigentlich nur rung will, falls es da einen Unterschied geben sollte. einen Schluß ziehen: Der Bauminister ist als Wohn- Was die Länder wollen, ist auch Ihnen mittlerweile geldtiger gestartet und als Bettvorleger des Finanz- klargeworden. Das ist das eine. ministers gelandet. Das andere - da komme ich auf das zurück, was (Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU/ Herr Braun gestern so deutlich und wohlformuliert CSU und der F.D.P.: Oh! - Dr.-Ing. Dietmar gesagt hat -: Wir erwarten, daß vom Steuerzahler be- Kansy [CDU/CSU]: Manche starteten schon zahlte Gutachten, die Ihre und unsere Entschei- als Bettvorleger!) dungsfindung erleichtern sollen, uns nicht sozusagen Wir in Hamburg sagen zu solchen Leuten, die vor- im Nachklapp und zweiter Klasse zugänglich ge- zugsweise schöne Reden halten, aber nicht zu Potte macht werden. Ganz schlecht ist es, wenn man das kommen: Tetsche mit de Utsichten. Ich denke, das Ganze erst aus der Presse erfahren kann. trifft sehr genau zu. Man kann auf platt manchmal sehr freundlich sagen, was man von jemandem hält. (Beifall bei der SPD) Überzeugen Sie uns heute von dem Gegenteil! Wir Ich habe neulich einen B rief einer sogenannten würden uns alle sehr freuen. Fehlbelegerin erhalten. Sie konnte meine Kritik an Verstecken Sie sich bitte mit Ihrer Antwort nicht den Vorschlägen zur Vergleichsmiete im sozialen hinter den Länderministern. Wer dauernd seine Ver- Wohnungsbau überhaupt nicht verstehen, wo doch abredungen nicht einhält, wird schwerlich den Ein- Herr Töpfer endlich die Fehlbelegungsabgabe ab- druck erwecken können, er sei an einer gemeinsa- schaffen wolle. Überhaupt wolle sie aus ihrer Woh- men Sache interessiert. Sie haben diese Verabre- nung auf keinen Fall hinaus, und die Mieten könnten dung nicht eingehalten. ruhig steigen, schließlich stehe einem Wohngeld zu. Da sind wir dann bei dem Thema, das alle Mieter auf (Beifall bei der SPD) alle Fälle brennend interessie rt. Der Wohngeld- und Mietenbericht liegt vor. Er do- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der kumentiert sehr eindrucksvoll, was in den letzten Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig das Wo rt. Jahren gelaufen ist. Der Presse kann man entneh- men, daß es mit dem Wohngeld alles nicht mehr so Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE toll ist. Auch kann man der Presse entnehmen, daß GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sich namhafte Koalitionspolitiker überlegen, ob eine Kollegen! Ich denke, daß es Zeit ist, ein bißchen ehr- Verringerung der Mieterrechte und eine Reduzie- lich und nicht nur schönfärberisch über die Situation rung des Kündigungsschutzes nicht wichtig wären; zu sprechen. Insofern unterstütze ich die Forderung sogar der sogenannte Wucherparagraph sei so der SPD nach Reformen, auch wenn ich nicht unbe- schlimm doch nicht. dingt in allen Punkten der gleichen Meinung bin. Ich sage Ihnen, die ganz große Nummer scheint Ich denke, wir müssen uns als erstes eingestehen, wirklich das Wohngeld zu werden. Wir wissen alle, daß wir neben wachsendem Wohnungsreichtum und daß die Mieten in den Jahren seit 1990 um 30 Prozent wachsendem Wohnflächenverbrauch unvermittelt gestiegen sind. Das Wohngeld ist gleichgeblieben. wachsende Wohnungsnot und Obdachlosigkeit ha- Immer mehr Menschen erreichen die Kappungs- ben, und das trotz jahrelanger, intensiver, umfassen- grenze. Wir haben das alles in dem Bericht gelesen. der öffentlicher Förderung, nach der wir uns noch Jetzt scheint diese Wohngeldnovelle zur Disposition vielfach sehnen werden. zu stehen. Ich finde, das ist ein unglaub licher Vor- gang. (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das war halt ein falsches Konzept!) Weil die Presse zwar immer gut unterrichtet ist, aber nicht immer richtig zitiert, habe ich einmal in - Das ist dann mehr Ihr Problem als meines. den Bundestagsprotokollen nachgeguckt. Töpfer (Lisa Peters [F.D.P.]: Nein, das war nicht sagt am 18. Mai 1995: Wohngeld 1996. Töpfer sagt unseres!) am 5. September 1995: Wohngeld 1996. Ich zitiere aus dem Bundestagsprotokoll vom 9. November Wir müssen als zweites zugeben, daß die fortdau- 1995: ernde Arbeitslosigkeit und der Abbau sozialer Netze die Probleme enorm verschärfen werden. Die Woh- Ich kann zum Wohngeld genau das wiederholen, nungsnot und die soziale Destabilisierung ganzer was wir gesagt haben. Wir werden das Gesetz so Stadtteile wird uns in Kürze sehr viel mehr beschäfti- novellieren, daß es noch im Jahr 1996 wirksam gen, als wir es heute wahrhaben wollen. Ich bitte Sie, wird. Das haben wir an dieser Stelle fünfmal ge- diesen Satz wirklich sehr ernst zu nehmen. sagt. Wenn Sie es zum sechstenmal hören wollen, habe ich das damit jetzt gesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage Ihnen, Herr Töpfer: Wir würden das gerne Der erste zentrale Punkt ist - da sind wir uns einig -, auch noch zum siebtenmal hören, und wir wollen es daß wir immer weniger öffentliche Mittel haben, um Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10127

Franziska Eichstädt-Bohlig dies zu kompensieren. In den kommenden Wochen stensteigerung und schon gar über die Einkommens- wird Herr Minister Töpfer einen Haushalt auf den steigerung hinaus ermöglicht. Tisch legen, der fast ein Nicht-Haushalt sein wird. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Na! müssen Sie denen sagen, die die Kappungs Na!) grenze erfunden haben!) Die Wohngelderhöhung wird, den Versprechungen Die Neuvermietungsformel darf nicht weiter so zum Trotz, nicht kommen. Das ist schon mehrfach an- sein, daß die Wohnungssuchenden zu Trüffelschwei- gesprochen worden. Die Städtebauförderung können nen der Mietsteigerung werden. Das muß wirklich wir überhaupt nur noch mit geputzter Brille suchen. dringend geändert werden. Das Bestandsmietrecht Wir finden sie nur noch als symbolische Größe. Auch und das Neuvermietungsrecht müssen gleichgestellt die Wohnungsbauförderung macht mir zunehmend werden. Sorge. Ich glaube, wir werden uns wundern, wie klein die Zahl ist, die wir im Etat 25 finden werden. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun? Das einzige, was gerettet worden ist, ist die Eigen- heimzulage. Aber die existentiellen Pflichtaufgaben (BÜNDNIS 90/DIE stehen alle auf der Abschußliste. Franziska Eichstädt-Bohlig GRÜNEN): Ja, von Herrn Braun gerne. Wenn das so ist, müssen wir doch ernsthaft dar- über nachdenken, wie wir mit den Instrumenten um- Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Liebe Frau gehen, die keine oder wenig öffentliche Gelder ko- Eichstädt-Bohlig, verstehe ich Ihre Äußerung richtig, sten. Insofern ist für mich die erste Frage: Wie gehen daß Sie die Kappungsgrenze mit den 20 respektive wir mit unserem Mietrecht um? Ich sage ganz deut- 30 Prozent nach dem Miethöhegesetz streichen wol- lich: In diesen Zeiten brauchen wir ein Mietrecht, das len? die Abhängigkeit vom Wohngeld nicht ständig er- höht. Das aktuelle Mietrecht ist vom Gesetzgeber- verordnetes Recht der permanenten Mietsteigerung. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie verstehen mich richtig, daß wir die für (Zuruf von der CDU/CSU: Na! Na!) zu hoch halten. Ich habe nicht von einer Streichung gesprochen, also Mietstopp. Davon ist bei mir nicht Das können wir uns in Zukunft bei Einkommenszu- die Rede. Aber bei diesen Lebenshaltungskosten wächsen wie im öffentlichen Dienst mit einer Erhö- und bei diesen Einkommenssteigerungen, die auch hung zwischen 0 und 1,3 Prozent wirklich nicht mehr in den nächsten Jahren realisie rt werden, wo der Ge- leisten. setzgeber von den Tarifpartnern äußerste Zurückhal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung erwartet, können wir doch nicht ein Mietrecht und bei der SPD) zulassen, das 20 bis 30 Prozent in drei Jahren zum Normalfall macht. Wir alle kennen die Zahlen: Die allgemeine Preis- steigerung von 1991 bis 1995 hat im Westen 12,5 Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zent betragen, die Mietsteigerung allein 21,3 Pro- und bei der SPD) zent. Für den Osten wage ich die Zahlen gar nicht zu sagen - wir wissen, daß das besondere Ursachen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie hat -: allgemeine Preissteigerung 33,3 Prozent, Miet- noch eine Frage? steigerung 426 Prozent. Wir haben eine Explosion der Mietnebenkosten, Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE fast die zweite Miete. GRÜNEN): Ja. Leider bringt der Wohngeld- und Mietenbericht nicht sehr vernünftige und differenzierte Aussagen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte sehr. über die Relation von Miete zum Einkommen, aber dem von Herrn Kansy zitierten DIW-Panel entneh- Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Frau Eich- men wir folgende Daten: Für Haushalte mit Nettoein- städt-Bohlig, sehe ich es richtig, daß Sie nur die ge- kommen bis zu 1 000 DM beträgt in Westdeutschland genwärtig gesetzlich festgelegte Grenze für zu hoch inzwischen die Bruttokaltmietenbelastung 47,5 Pro- halten, oder wollten Sie ausdrücken, daß jegliche zent und im Osten 33,8 Prozent. Für Haushalte mit Kappungsgrenze zugleich eine Korridorwirkung, einem Nettoeinkommen zwischen 1 000 und 2 000 eine Zielwirkung hat, die bei der Bevölkerung den DM sind es im Westen 33 Prozent Belastung und im Eindruck erweckt, als sei das, was gesetzlich als Osten 23 Prozent. Ich denke, da ist die Schallgrenze Obergrenze zulässig sei, im Grunde auch das Rich- mehr als erreicht. tige? Für uns heißt die Schlußfolgerung daraus: Es darf kein automatisches Mietrecht mehr geben, das 20 bis Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE 30 Prozent Mieterhöhung in drei Jahren zum selbst- GRÜNEN): Ich sage es ganz deutlich: Mein Korridor verständlichen Recht macht und damit permanent läge bei 5 Prozent im Jahr. Das ist immer noch über Mietsteigerungen weit über die Lebenshaltungsko- den Lebenshaltungskosten und immer noch über 10128 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Franziska Eichstädt-Bohlig den Einkommenszuwächsen. Ist Ihnen das als Ant- auf die wirklich bedürftigen Schichten reden; aber wort deutlich genug? nicht umgekehrt: Abbau der Neubauförderung ten- denziell gegen Null und gleichzeitig Verscherbeln Noch eine sehr wichtige Forderung zum Mietrecht der öffentlichen Wohnungen. So darf es nicht weiter- ist: Wir brauchen ein Mietspiegelgesetz, das auf den gehen. Bestandsmieten aufbaut und das die extremen Ver- zerrungen zwischen den Altbaumieten und den Neu- Ich darf noch einen Satz zur Änderung des Alt- baumieten nivelliert. Auch hierin liegt ein ganz zen- schuldenhilfe-Gesetzes sagen. Wir sind froh, daß wir trales Problem der ständigen Mietsteigerungen. endlich so weit sind, daß die Erlösabführung auf et- was realistische Füße gestellt wird. Ich möchte dafür (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein artiges Dankeschön sagen. Aber auf der einen sowie bei Abgeordneten der SPD und der Seite - Herr Großmann hat es eben mit einem Zwi- Abg. Petra Bläss [PDS]) schenruf gesagt - war es mehr als überfällig. Wir ha- Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der ben dafür endlos lange diskutieren müssen. mir genauso wichtig ist: die Novelle zum Zweiten Wohnungsbaugesetz. Herr Töpfer bemüht sich mo- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, mentan, die schrumpfenden Sozialwohnungsbe- Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß stände zu einem Instrument für mehr Mieten zu ma- kommen. chen. Daran ist sicher einiges richtig, weil die Fehl- belegung wirklich ein Problem ist. Aber wir müssen (BÜNDNIS 90/DIE eindeutig sehen, daß die Zahl der Sozialwohnungen Franziska Eichstädt-Bohlig GRÜNEN): Auf der anderen Seite muß ich deutlich schrumpft. Wenn die Empirica-Studie recht hat - das sagen: Die Aktivierung der Wohnungswirtschaft Ost wissen alle nicht so genau -, dann haben wir heute für genossenschaftliche Konzepte wäre wirklich ein 2,5 Millionen Sozialwohnungen, aber schon im Jahr wichtiger zweiter Schritt neben dem zaghaften Brem- 2005 nur noch 1 Million Sozialwohnungen. Wir sen der Erlösabführung gewesen. bauen also auf einem Bestand auf, der gar nicht wei- ter wächst. Danke schön. - Gleichzeitig bietet Herr Waigel zunehmend Woh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nungen der öffentlichen Hand zum Verkauf an. Er bei der SPD und der PDS) hat schon die Gesellschafterrechte an den bundesei- genen Wohnungen wie sauer Bier auf den Markt ge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat tragen. Als neuestes sollen über 100 000 Wohnungen der Abgeordnete Hildebrecht Braun. der BfA vermarktet werden. Das heißt: Das Wichtig- ste, was wir haben, die öffentlichen Bestände, die in den letzten Jahrzehnten mit viel Subventionen, mit Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Präsi- vielen Steuergeldern gebaut wurden, werden auf dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bundes- den Markt geworfen, während wir gleichzeitig drin- tagsabgeordnete leiden bekanntlich unter Zeitnot. gend Wohnungen suchen, die wir zur Beseitigung Dennoch wünschte ich, daß alle Abgeordneten we- der Wohnungsnot brauchen, die in Zukunft wachsen nigstens die ersten beiden Seiten des Wohngeld- und wird. Mietenberichts 1994/95 lesen würden. Sie müßten dann nämlich erkennen, daß die Wohnungspolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Regierungskoalition in den letzten sechs Jahren und bei der SPD sowie der Abg. Petra Bläss ungewöhnlich erfolgreich war. Zirka 2,5 Millionen [PDS]) neuer Wohnungen in der ersten Hälfte der 90er Jahre führten dazu, daß die Anspannung auf allen Woh- Insofern halten wir nach wie vor die Aufhebung nungsmärkten erheblich zurückgegangen ist. der Gemeinnützigkeit für einen Kardinalfehler. Un- sere wichtigste Forderung mit Blick auf die Novellie- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes ist: Siche- rung der öffentlichen Bestände auf den Ebenen Kom- Auf Grund des großen neuen Angebots fiel die munen, Länder, Bund einschließlich der öffentlichen Steigerungsrate beim Mietenindex von 1993 mit Betriebe und öffentlichen Rechtsträger, die dazuge- 5,9 Prozent über 1994 mit 4,6 Prozent auf 3,9 Prozent hören. im Jahre 1995. Soweit der Anstieg um 2,2 Pro- zentpunkte noch immer über der allgemeinen Infla- Dabei sind zwei zentrale Punkte zu beachten: Das tionsrate von 1,7 Prozent liegt, ist dies die Folge der eine ist die Vermögensbindung dieser Bestände. Es Mietzusatzkosten, insbesondere auf die kommunalen kann nicht sein, daß ständig vermarktet wird, wenn Gebühren zurückzuführen. Sie stiegen 1995 gegen- uns das Geld für den Neubau fehlt. Das zweite ist: über 1993 beim Abwasser im Schnitt um 21 Prozent, Sozialbindung für diese Bestände. Es kann nicht bei der Müllabfuhr um 25 Prozent. Dafür ist aber sein, daß beliebig belegt wird, weil es für die Woh- nicht der Bund zuständig, sondern die Kommunen. nungsbaugesellschaften bequemer ist, wenn wir Diese Gebühren erhöhen auch nicht etwa die Ein- dringend die Wohnungen für die unteren Schichten, nahmen des Vermieters. Sie belasten aber die Mieter für die echt bedürftigen Gruppen brauchen. sehr. In dem Moment, wo wir mit den Beständen wirk- Besonders wichtig ist, daß die Marktentspannung lich achtsam und sorgfältig umgehen, können wir dazu geführt hat, daß die Erst- und Wiedervertrags über die Neubauförderung und über ihre Reduktion mieten Anfang 1996 um etwa fünf Prozent unter dem Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10129

Hildebrecht Braun (Augsburg) Vorjahresniveau lagen. Die Entwicklung der Neu- Zweitens. Die schon in vielen Städten bekannten und Wiedervertragsmieten wird auch zu einer Ver- Leerstände von Wohnungen motivieren natürlich langsamung der Entwicklung der Bestandsmieten auch nicht. führen. Das sind Signale, die ein einmütiges Lob der Oppositionsparteien für die Wohnungspolitik ver- Drittens. Zögerliche Baugenehmigungsbehörden, dient hätten. Gerade auch der Mieterbund sollte die die sich gelegentlich gar als Bauverhinderungsbe- parteipolitische Schere im Kopf überwinden und an- hörden verstehen, verteuern das Bauen beträchtlich erkennen, daß die Politik, die er leider heftig be- und machen es oft zu einer verdrießlichen Angele- kämpft hat, ein Segen für seine Mitglieder war. genheit. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Viertens. Das Auslaufen der Sonderabschreibung Eine Politik, die für ein ausreichendes Angebot an Ost beim Neubau wird zu einem rapiden Rückgang bezahlbarem Wohnraum mit guter Qualität führt, des Neubaus in den neuen Bundesländern führen. dient dem sozialen Frieden mehr als ein Dutzend Großdemonstrationen. Fünftens. Auch sinkende Mieten gab es in frühe- ren Jahren nie. Sie freuen die Mieter; sie irritieren (Walter Schöler [SPD]: Warum machen Sie aber Bauwillige. das nicht endlich?) Sechstens. Insbesondere die Angst vor den bevor- Das vorhandene Angebot, durch Modernisierung stehenden Änderungen der Erbschaftsteuer wird das zu erhalten und durch Neubau zu mehren, ist das traditionelle Vertrauen in die Anlageform Woh- Ziel unserer Wohnungspolitik. nungsbau in bisher noch nicht quantifizierbarer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Weise beschädigen. Damit die hierfür nötigen Investitionen, die zu über Bisher war klar, daß man Immobilieneigentum we- 90 Prozent von Privaten erbracht werden müssen, gen der außerordentlich günstigen Einheitswertbe- auch erfolgen, müssen die Rahmenbedingungen steuerung ganz oder fast steuerfrei vererben konnte. stimmen. Wir brauchen Neubau, weil die Nachfrage Diese Gewißheit wird in Zukunft nur noch für das nach Wohnraum noch weiter ansteigen wird. Die selbstgenutzte Wohneigentum gelten. Die Vererbung Steigerungsraten dürften allerdings etwas zurückge- von Mietwohnungen wird in Zukunft teurer. Es wird hen, da die demographische Entwicklung, die durch unsere Aufgabe sein, die Erbschaftsteuer so zu ge- den Pillenknick gekennzeichnet ist, in naher Zukunft stalten, daß wir keinen Einbruch beim Wohnungsbau voll auf die Zahl der Erstnachfrager nach Wohnraum bekommen. durchschlagen wird. Ich möchte aber auch auf eine Reihe von Rahmen- Hinzu kommt, daß die finanziellen Spielräume bedingungen zu sprechen kommen, die für den weiter Kreise der Bevölkerung durch den notwendi- Wohnungsbau sehr günstig sind. Erstens. Die niedri- gen Umbau des Sozialstaats geringer werden und gen Zinsen verbilligen das Bauen beträchtlich, die gesicherte Aussicht auf immer steigende Löhne in allen Bereichen einer vorsichtigeren Betrachtung Zweitens. Die Preise am Bau steigen nur geringfü- gewichen ist. Die Entscheidung, eine größere Woh- gig. nung zu kaufen oder zu mieten, fällt daher vielen Drittens. Grundstücke sind eher billiger zu haben, schwerer als früher. verglichen mit den Werten von vor zwei oder drei Dennoch bleibt der seit Jahrzehnten anhaltende Jahren. Trend zu immer mehr Wohnraum pro Person in redu- (Lisa Peters [F.D.P.]: Das stimmt!) zierter Weise erhalten. Wir brauchen deshalb auch in Zukunft Neubau, wenn auch nicht in bisherigem Allerdings ist wegen des in Europa einmalig hohen Umfang, sondern wohl bundesweit im Schnitt mit Preisniveaus - allerdings auch des Qualitätsniveaus - 470 000 Wohnungen statt der gegenwärtig gebauten des deutschen Wohnungsbaus ohnehin eine Initia- 600 000 pro Jahr. tive zur Senkung der Kosten angesagt, da wir sonst im europäischen Markt mit Hollandhäusern und ähn- Ausschläge nach oben oder unten führen zu Ver- lichem überrollt werden. Die Bundesminister haben werfungen bei den Mieten und zu erheblichen Bela- hier bereits qualifizierte Vorschläge unterbreitet; es stungen der Bauwirtschaft. Verstetigung der Nach- gilt sie umzusetzen. frage und somit eine kalkulierbare Auslastung der Betriebe sind notwendig. Wenn wir aber bei den Kosten sind, dann müssen wir auch über den ersten Förderweg im sozialen Wie bringen wir aber private Investoren dazu, aus- Wohnungsbau sprechen. Do rt werden die Kosten reichend im Wohnungsbau zu finanzieren? Das wird schlicht ersetzt, wie immer sie entstehen. Das ist na- in Zukunft schwieriger werden. türlich eine Methode, mit der man die Kosten und da- Erstens. Die Reduzierung der Abschreibung beim mit die Preise in die Höhe treiben kann. Mietwohnungsbau gemäß § 7 Abs. 5 des Einkom- (Achim Großmann [SPD]: Sie haben es mensteuergesetzes, die wohlgemerkt die SPD im immer noch nicht begriffen!) Vermittlungsausschuß erzwungen hat, nimmt dem Wohnungsbau mit seiner traditionell geringen Ren- Das muß nachhaltig geändert werden. Dies ist einer dite einen wichtigen Anreiz. der Gründe, warum wir den ersten Förderweg für 10130 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Hildebrecht Braun (Augsburg) überholt halten und auf diesem Weg nicht fortschrei- Schichten der Bevölkerung mit staatlich hoch sub- ten wollen. ventionierten Wohnungen versorgen zu wollen, wie dies bisher den einschlägigen Gesetzen zu entneh- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne men ist, überfordert den Staat und unterfordert die ten der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Weng Masse der Bürgerinnen und Bürger. Eigenverantwor- [Gerlingen] [F.D.P.], an die SPD gewandt: tung ist auch im Wohnungsbereich angesagt. Sie werden den sozialen Wohnungsbau nie begreifen!) (Zustimmung bei der F.D.P.) Sehr vorsichtig müssen wir generell mit Vorschlä- Dies gilt gerade bei der persönlichen Versorgung mit gen sein, die das Bauen verteuern, zum Beispiel mit Wohnraum. der in Aussicht genommenen zweiten Stufe der Wär- meschutzverordnung. Es wird sehr genau zu prüfen Natürlich wird es auch in Zukunft viele Menschen sein, ob eine weitere Reduzierung der Grenzwerte geben, denen der Staat oder die Gemeinde über die trotz der damit verbundenen Verteuerung wirk lich Gewährung von Wohngeld hinaus beistehen muß. sinnvoll ist. Ebenso wird die Frage der gesundheit- Hier verweise ich auf das liberale Konzept „Soziales lichen Verträglichkeit von nahezu luftdichten Woh- Wohnen" , das für jedermann verständlich darlegt, nungen untersucht werden müssen. Nicht anders wie mit geringsten öffentlichen Mitteln schnell und verhält es sich mit der Frage, ob die Energiebilanz flexibel, zielgenau und eben sehr preiswert diesem wirklich besser wird, wenn total abgeschottete Woh- Personenkreis geholfen werden kann, ohne daß die nungen nur durch wiederholtes Öffnen der Fenster bekannten fatalen Fehlentwicklungen eintreten wür- bewohnbar bleiben, denn wie wir alle wissen, führt den wie Fehlbelegung. gerade dies zu einem Entweichen warmer Luft von innen und zum Eindringen kalter Luft von außen. 42 Prozent der Sozialwohnungen sollen nach der Empirica-Studie von Fehlbelegern bewohnt werden. Ein großes Problem ist die Wohngeldproblematik auf dem Hintergrund des Zwangs zur Sparsamkeit. (Achim Großmann [SPD]: In Bayern noch Weder der Bund noch die noch mehr betroffenen viel mehr!) Länder - wohlgemerkt, auch die von der SPD- regier- Ich halte das für einen Skandal allererster Ordnung. an ten - wissen, wie sie eine Wohngeldanpassung Den gilt es ganz schlicht zu beseitigen. die gestiegenen Mieten finanzieren sollen. Dennoch muß eine Strukturveränderung des Wohngelds er- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) reicht werden. Es kann nicht sein, daß ein Mieter bei einer Quadratmetermiete von 10,50 DM beispiels- Aber auch die Bildung von sozialen Ghettos, die un- weise in München dieselbe Förderung erhält wie ein glaubliche Ungerechtigkeit bei den Mieten der So- Mieter, der bei gleichem Einkommen 18,50 DM für zialwohnungen untereinander und speziell bei der den Quadratmeter bezahlen muß. Für diejenigen, die immer gleichen Fehlbelegungsabgabe, die nicht dar- keine Alternative dazu haben, eine weit über den auf abstellt, welche Miete zunächst gezahlt wird, Mietobergrenzen des Wohngeldrechtes liegende oder auch bei der Vergabe von Sozialwohnungen - Miete zu zahlen, muß natürlich mehr gezahlt werden all das muß beseitigt werden. Hier ist eine Radikal- als für diejenigen, die weniger belastet sind. kur erforderlich. (Zustimmung bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die jetzigen Mietobergrenzen bei den einzel- Ein Lichtblick im Baugeschehen ist der Trend zum nen Wohngeldstufen verstoßen eklatant gegen das Wohneigentum. Der rapide Anstieg der Zahl der grundlegende Gebot der Gerechtigkeit staatlicher Bausparverträge signalisiert eine ungebrochene At- Normen. Hier ist eine Strukturveränderung erforder- traktivität des Wohneigentums. Dieser Trend wird lich. von der F.D.P. unterstützt, wo immer es nur geht. Wir (Beifall im ganzen Hause) gehen davon aus, daß die neue Wohneigentumsför- derung, die wir ja übrigens gemeinsam verabschie- - Ich bedanke mich ausdrücklich für die Zustim- det haben, Schwellenhaushalte, die sich bisher mung, die ich in diesem Punkt auch von der SPD er- Wohneigentum nicht leisten konnten, besser erreicht halte. Hier können wir offensichtlich gemeinsam vor- als bisher. gehen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das von uns initiierte Programm der staatlichen Aber wenn es ernst wird, sind sie wieder Bürgschaft zur Wohneigentumsförderung in den weg!) neuen Bundesländern ist eben angelaufen. Die Mie- terprivatisierung nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz Wir stehen aber zum Wohngeldsystem; denn das wird erleichtert werden. Wohngeld ist sozial treffsicher und unterstützt im Ge- gensatz zum ersten Förderweg des sozialen Woh- Wir sind davon überzeugt, daß der Zug zum Wohn- nungsbaus diejenigen, die Hilfe brauchen, und nicht eigentum auch in den neuen Bundesländern an die Ersteller von Wohnraum. Fahrt gewinnen wird. Ich will noch einige Worte zum sozialen Woh- Das Mietrecht will ich jetzt nicht streifen, weil ich nungsbau sagen. Von Jahr zu Jahr wächst die Zahl sonst Zeitprobleme bekomme. Darüber werden wir derer, die erkennen, daß der soziale Wohnungsbau sicherlich nach den Sommerferien intensiv zu spre- mit seinem ersten Förderweg ausgedient hat. Breite chen haben. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10131

Hildebrecht Braun (Augsburg) Ich möchte aber klarstellen: Mietpreisregulierun- - Na, er hat doch den notwendigen Einfluß, denke gen wirken preistreibend. Das werden zwar die ich, um der Wohnungspolitik hier einen höheren Ewiggestrigen nie verstehen, für die das Wo rt Stellenwert zu verschaffen. „Marktwirtschaft" ein fremder oder gar feindlich be- (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Wir setzter Begriff bleibt. Sie werden sich gegen die Ein- sicht wehren, daß die Mietpreisanstiege vor der Ein- sind doch hier im Parlament, Herr Kollege!) führung der Kappungsgrenze 1982 niedriger waren Wie gering der Stellenwert der Wohnungspolitik als danach. Sie werden auch nicht zur Kenntnis neh- hier im Deutschen Bundestag ist, zeigt sich an dem men wollen, daß viele tausend Mieter in den neuen krassen Gegensatz zu dem Stellenwert, den Woh- Bundesländern durch das Mietenüberleitungsgesetz nungspolitik draußen - „in diesem unserem Lande", eine extrem ungerechte, da zu hohe Miete bezahlen. wie unser Bundeskanzler immer so sagt - hat. Mit dieser Tagesordnung zeigt die Koalition, daß sie Wenn der Markt den Mietpreis regulie rt, werden nicht an ernsthaften Debatten und Veränderungen in weiten Bereichen die Preise angesichts der Leer- interessiert ist, sondern sich nur unangenehmer stände fallen. Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Pflichten entledigen will. Opposition, sollten den Bürgerinnen und Bürgern im Osten nicht die Segnungen des Marktes vorenthal- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist ten. Sie sollten dafür sorgen, daß diese Überregulie- nicht wahr!) rung fällt und damit auch die Mietpreise fallen. Tatsache ist, daß die hier vorliegenden Berichte zur Vielen Dank. Raumordnung, zu Großsiedlungen, zur Entwicklung von Mieten und Wohngeld sowie der Bericht der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 6 Millionen DM schweren Expertenkommission zahl- reiche, aufschlußreiche Fakten und Analysen enthal- ten. Tatsache ist aber auch, daß diese Koalition und Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das ihre Regierung unwillig und/oder unfähig sind, dar- Wort dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick. aus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen. (Dr. [PDS]: Gott hilf uns! - Da mir, wie gesagt, nur sieben Minuten zur Verfü- Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist gung stehen und ich wenigstens in zwei Themen wahr!) konkreter einsteigen möchte, will ich dies an zwei Punkten deutlich machen: erstens am Altschulden- - Herr Warnick, ich weiß nicht, warum der Beginn Ih- hilfe-Gesetz und der damit verbundenen Politik der rer Rede mit diesem Zuruf begleitet wird. Zwangsprivatisierung und zweitens an der Woh- nungsförderung. (Heiterkeit) Zum Altschuldenhilfe-Gesetz: Nimmt man die Er- Aber bitte, Sie haben das Wort. gebnisse ernst und die ideologische Brille ab, dann wird deutlich, daß die Politik der Zwangsprivatisie- rung eindeutig gescheitert ist. Nur rund 116 000 der Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident! nach AHG zu privatisierenden zirka 359 000 Woh- Meine Damen und Herren! Ich möchte lieber nicht nungen wurden trotz großen Aufwandes an Personal, auf das eingehen, was Herr Braun gerade gesagt hat. Werbung und finanzieller Förderung bis 1995 ver- Das würde ich in sieben Minuten nicht schaffen; das kauft, davon lediglich gut 34 000 an die Mieterinnen geht nicht. und Mieter bzw. Genossenschafter. Der überwie- gende Teil der Wohnungen ist in den Besitz west- Wie wenig Herrn Töpfers Versprechungen und An- deutscher Immobiliengesellschaften, Banken und kündigungen wert sind, macht allein schon die heu- Kapitalanleger übergegangen. tige Tagesordnung deutlich. Es ist wie in einer Ge- mischtwarenhandlung: Rund ein Dutzend wichtiger Die Annahme, daß der beabsichtigte Verkauf von Themen aus dem Bereich der Mieten-, Wohnungs- Wohnungen an die Mieter in Zukunft in Schwung und Baupolitik sowie zur Raumordnung sollen in kommen kann, ist eine Töpfersche Illusion. Weder 90 Minuten abgehandelt - besser sollte ich vielleicht die Empfehlungen des Lenkungsausschusses zu sagen: durchgehechelt - werden. Dabei geht es hier „mieternahen Privatisierungen", vor allem mittels ja nur um so lapidare Themen wie das Menschen- „Zwischenerwerber", noch eine Begrenzung der Er- recht auf Wohnung und eine zukunftsträchtige Ent- lösabführung auf 45 Prozent lösen die Probleme wicklung der Städte und Gemeinden. wirklich. Da machen Sie sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, aber auch von SPD und (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Was Bündnisgrünen, etwas vor. Ich weiß nicht, warum Sie hat denn Herr Töpfer damit zu tun?) jetzt über diese 45 Prozent so froh sind, da Sie doch in der letzten Debatte zum Altschuldenhilfe-Gesetz - Ich weiß nicht, Herr Kansy, warum Sie sich darüber selber zugegeben haben, daß eigentlich eine Strei- aufregen. Sie haben sich im Ausschuß auch darüber chung das Richtige wäre. aufgeregt, daß der Stellenwert der Wohnungspolitik in Plenardebatten zu gering sei. (Beifall bei der PDS - Achim Großmann [SPD]: Wir haben doch noch gar nichts dazu (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ja, gesagt!) aber damit hat Herr Töpfer doch nichts zu tun!) - Doch, von Frau Me rtens wurde das schon begrüßt. 10132 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Klaus-Jürgen Warnick Aus unserer Sicht gibt es nur eine vernünftige Lö- bauförderung von der indirekten Steuervergünsti- sung: die ersatzlose Streichung des § 5 aus dem Alt- gung auf die direkte Bezuschussung; zweitens die schuldenhilfe-Gesetz. Neueinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit ; drittens eine konsequente Ausgestaltung des Wohn- (Beifall bei der PDS) geldes; viertens die Fortführung des sozialen Woh- Dies ist sofort realisierbar und gefährdet nicht die nungsbaus mit kommunalen Belegungsrechten, um Gesamtstruktur des Gesetzes. Dabei ist zu beachten, Wohnungszugangsprobleme auch zukünftig lösen zu daß die Wohnungsprivatisierung Wohnungsunter- können; fünftens die Herstellung von Mietgerechtig- nehmen, Kommunen, Länder und den Bund perso- keit auf der Grundlage einer primär vom Wohnwert nell und finanziell belastet statt entlastet. Der Ver- abhängigen Richtwertmiete sowie eine gesellschaft- zicht auf die Privatisierungsauflage würde sogar ei- lich kontrollierte Entwicklung der Mieten mittels ei- nen positiven Saldo für die öffentlichen Kassen brin- nes neuen Miethöhe- und Mietspiegelgesetzes und gen. Wenn das kein Argument für Ihren Minister sechstens die Erweiterung der Rechte und Pflichten Waigel ist, dann sicher nur, weil ihm das Wohlerge- der Kommunen und die Bestimmung der Verantwor- hen der Privatbanken wichtiger ist als die Situation tung von Bund und Ländern. in den öffentlichen Kassen. Dabei werden die wirtschaftlichen Interessen der m(Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Ko Wohnungsunternehmen an Bau, Erhaltung und Nut- pletter Blödsinn!) zung von Wohngebäuden berücksichtigt, Rendite- maximierung und Spekulation aber unterbunden. Im Interesse der Mieterinnen und Mieter, der Ge- Alle Eigentumsformen sollen bei der Förderung nossenschafter, der Wohnungsunternehmen und der gleichgestellt werden. Im Kern geht es darum, die Kommunen in Ostdeutschland fordere ich Sie auf, Kapitaldominanz entscheidend zurückzudrängen, die Zwangsprivatisierung von kommunalen und ge- das Genossenschaftswesen und gemeinnützige Un- nossenschaftlichen Wohnungen mit einer wirklichen ternehmen neben selbstgenutztem Wohneigentum Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu been- bevorzugt zu fördern sowie ökologisches und barrie- den. refreies Bauen durchzusetzen. (Beifall bei der PDS) - Das Wohngesetzbuch soll alle bisherigen Gesetze Zur Wohnungsförderung: 14 Jahre Kohlscher Miß- und Verordnungen der Wohnungsbauförderung, wirtschaft und Reformunwilligkeit in der Wohnungs- zum sozialen Wohnungsbau, zur Mietpreisbildung politik haben Wohnkostenbelastung, Wohnungsnot und zum Wohngeld neu zusammenfassen. und Obdachlosigkeit auf der einen Seite, Erträge auf dem Immobiliensektor und Wohnflächenkonsum auf Abschließend nur soviel: Der Absicht bzw. der Poli- der anderen Seite vervielfacht. Die knappen Kassen tik der Bundesregierung, sich weiter ihrer sozialen vorschiebend, hat die Bundesregierung angekün- Verantwortung bei der Wohnungsversorgung der Be- digt, die Mietpreisbindungen bei den noch vorhan- völkerung zu entziehen, wird die Partei des Demo- denen 2,4 Millionen Sozialwohnungen aufheben zu kratischen Sozialismus auch weiterhin energischen wollen. Widerstand entgegensetzen. Skandalös ist, daß noch immer kein Regierungs- Ich danke Ihnen. entwurf zur überfälligen Wohngeldgesetznovellie- (Beifall bei der PDS) rung vorliegt. Um so mehr bedauere ich, daß die SPD die Vorschläge der PDS zur vorgezogenen Anpas- sung des Wohngeldes für Westdeutschland ab Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich 1. Januar 1996 mit der Begründung abgelehnt hat, dem Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen daß ja in Kürze ein Gesetzentwurf von Töpfer vorge- und Städtebau, Klaus Töpfer, das Wort. legt werde. Das war, denke ich, zu viel des guten Vertrauens, zumal dieser Antrag im Prinzip von Ih- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nen selbst schon einmal gestellt worden ist. nung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein so Dieser unscharfen und unsozialen Regierungspoli- breit angelegtes Spektrum bei diesem Tagesord- tik setzt die PDS-Bundestagsgruppe nun ihren An- nungspunkt bietet die gute Chance, einmal darauf trag „Umfassende Reform der Wohnungsförderung hinzuweisen, was in den letzten anderthalb Jahren, und Erarbeitung eines Wohngesetzbuches" entge- in denen ich die politische Verantwortung für dieses gen. Dabei haben wir sowohl die Erfahrungen der Ressort trage, gemacht worden ist, was jetzt ansteht Wohnungswirtschaft aus der Zeit der Weimarer Re- und was in Zukunft wohnungspolitisch zu leisten publik und der DDR als auch der Bundesrepublik be- sein wird. achtet, ebenso zahlreiche Vorschläge von Mieter- organisationen und Wohnungsverbänden, von Ex- (Zuruf von der SPD: Und was liegenbleibt!) perten verschiedener politischer Couleur und der Wissenschaft. Ich freue mich natürlich, Herr Kollege Warnick, daß Sie der Meinung sind, ich könne auch noch die Mit dem Wohngesetzbuch soll die im Grundgesetz Tagesordnung dieses Hohen Hauses mit beeinflus- verankerte Sozialpflichtigkeit als soziales Grund- sen. Ich habe davor viel zuviel Respekt. Aber auch recht auf menschenwürdige und bezahlbare Woh- Sie werden sicherlich irgendwann einsehen, daß die nungen für alle umgesetzt werden. Die Hauptele- dafür erforderlichen Entscheidungsstrukturen bereits mente bilden: erstens die Umstellung der Wohnungs- vorhanden sind. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10133

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Ich weise mit großem Nachdruck auf das hin, was Wir machen es wieder in einem Artikelgesetz, weil erreicht wurde, weil die Arbeit nicht nur vom zustän- ich glaube, daß die bauplanungsrelevanten Fragen digen Minister, sondern auch von diesem Hohen zusammengehören. Dazu gehören die Baunutzungs- Hause gemacht worden ist. Wir haben das Mieten- verordnung und die Novelle zum Raumordnungsge- überleitungsgesetz verabschiedet. Trotz aller Unken- setz. Wir haben also den gesamten Kanon des Pla- rufe ist das Mietenüberleitungsgesetz in der Praxis nungsrechts berücksichtigt und dazu einen Entwurf akzeptiert worden. Es hat eben nicht zu sozialem Un- auf den Tisch gelegt. Lassen Sie uns intensiv daran frieden geführt, sondern war ein wichtiger Schritt hin arbeiten! Es gibt daran weiß Gott noch genug zu ver- zu einer sozialen Wohnungsmarktwirtschaft auch in bessern. den neuen Bundesländern. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS (Beifall bei der CDU/CSU) SES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben es alle gemeinsam für richtig gehalten - Frau Mertens, ich verstehe nicht, daß Sie zu mir sa- und dies in einem Artikelgesetz verbunden -, eine gen, ich solle mich nicht hinter die Länder zurückzie- Neufassung des Wohngeldsondergesetzes für die hen. Die Länder sagen mir dauernd: Geh doch nicht neuen Bundesländer zu erarbeiten. Auch das ist in mit deinen Überlegungen raus, sondern sprich sie dieser Zeit geleistet worden. erst mit uns ab! In dieser vergleichsweise kurzen Zeit haben wir (Zuruf von der SPD) außerdem eine grundsätzliche Reform des selbstge- - Ich komme sofort darauf zurück. - Sehen Sie, ich nutzten Wohneigentums durchgeführt: unter Einbin- kann doch nur Fehler machen, wenn ich die Länder dung einer Ökokomponente, unter Einbeziehung der nicht vorher frage, was sie auf diesem oder jenem Genossenschaften, mit einer entsprechenden Förde- Gebiet machen; denn wir sind doch eindeutig darauf rung der Zielgruppe Schwellenhaushalt. Diese Ele- angewiesen, daß sie in dieselbe Richtung gehen. Wir mente wirken daraufhin, daß wir eine höhere Wohn- wollen die Gesetze mit den Ländern durchsetzen. eigentumsquote bekommen. Das alles ist nicht nur Schließlich haben wir ja auch noch einen Bundesrat, angekündigt, sondern durchgeführt worden.- den wir in die gesamte Diskussion einzuschalten ha- ben. Was haben Sie denn dagegen einzuwenden? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich verstecke mich doch nicht dahinter. Würde ich ordneten der F.D.P. und des Abg. Achim mich nicht mit den Ländern absprechen, dann wür- Großmann [SPD]) den Sie hier sagen: Kennt der denn nicht die Mehr- Wir haben in einer Zeit, in der es wirklich nicht heitsverhältnisse im Bundesrat? Kann er sich nicht ganz einfach ist, zusätzliche Förderungsinstrumente ein bißchen darum kümmern, daß die Argumente zu schaffen, eine nachhaltige Förderung des Bauspa- dort ebenfalls aufgenommen werden? rens durchgesetzt. Gehen Sie doch bitte einmal zu (Zuruf von der SPD: Nun lenken Sie mal den Bausparkassen! Dann werden Sie sehen, wie das nicht weiter ab!) wirkt. Wir haben allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres eine Zunahme von bis zu 40 Prozent Wir haben - ich nehme gerne das auf, was der Kol- bei den Verträgen und von über 24 Milliarden DM lege Braun gesagt hat - das alles machen können, beim Bausparvolumen bei den Landesbausparkassen weil in den Jahren davor in der Bundesrepublik zu verzeichnen. Das hat unmittelbare Wirkungen Deutschland eine hervorragende und sehr erfolgrei- auch und gerade auf Investitionen auf dem Bausek- che Wohnungsbaupolitik gemacht worden ist. tor. Das haben wir doch zusammen gemacht! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ich nehme nochmals die Gelegenheit wahr, zu sowie bei Abgeordneten der SPD) sagen, daß das, was meine Vorgängerin im Amt Es ist nicht bei Ankündigungen geblieben, sondern gemacht hat, eine prima Antwort auf die Bedürfnisse es ist umgesetzt worden. im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands gewesen ist. Wir haben mehr als Wir haben einen Entwurf zu einer ganz wichtigen 2 Millionen Menschen aus den neuen Bundeslän- und - wie ich meine - auch sehr schwierigen Geset dern in die alten Bundesländer umziehen sehen, und zesmaterie vorgelegt, nämlich die Novelle zum Bau- es ist nicht zu einer Katastrophe auf dem Wohnungs- gesetzbuch. Ich bin dem Kollegen Dietmar Kansy markt gekommen, weil gut darauf geantwortet wor- sehr dankbar dafür, daß er darauf hingewiesen hat, den ist. wie schwierig es ist, jetzt das zu integrieren, was wir als Antwort auf den deutschen Einigungsprozeß Lieber Herr Kollege Großmann, Sie schreiben durchgeführt haben. Ich freue mich auf die weitere vorne in Ihrem Antrag, daß die Bruttokaltmiete um Diskussion über diese wichtige Gesetzesmaterie in 3,9 Prozent gestiegen sei und daß dieser Prozentsatz diesem Hohen Hause. Ich bin mir natürlich darüber über der allgemeinen Inflationsrate von 1,7 Prozent - im klaren, daß vieles davon abhängt, inwieweit es bei 1,7 Prozent kann man ja nun wirklich nicht von uns gelingt, ein Übermaß an Genehmigungen abzu- Inflation sprechen - liege. Zwei Seiten weiter schrei- bauen, ohne daß wir in Konflikte mit ökologischen ben Sie, daß dabei in besonderer Weise die kommu- Zielsetzungen kommen. Das ist eine wichtige Sache, nalen Gebühren eine Rolle spielen. - Es wäre doch die auf dem Tisch liegt; das können wir behandeln. eigentlich ganz sinnvoll, wenn man das schon vorne mit hineinschreiben würde. Ich sage das auch deswe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, damit wir die richtigen Handlungsanweisungen 10134 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer bekommen. Es darf doch nicht übersehen werden, sind gegenwärtig bereits 75 Prozent in der vereinbar- daß die Signale für mehr Investitionen in den Miet- ten Förderung und nicht mehr im ersten Förderweg. wohnungsbau angesichts der gegenwärtigen Miet- Wenn ich ein bißchen überzeichne - ich rechne Ham- preisentwicklungen, die für die Vermieter eben nicht burg mit ein -, ist der erste Förderweg eigentlich eine über der Inflationsrate liegen, vergleichsweise gering nordrhein-westfälische Spezialität. sind; das ist doch die Konsequenz daraus. Würden diese 3,9 Prozent wirklich den Vermietern zugute Dann aber kann es doch nicht ganz falsch sein, kommen, dann hätte ich bei den niedrigen Zinsen, wenn wir jetzt darauf drängen: Überprüfen wir doch, die wir haben, und bei den geringen Preissteige- ob eine vereinbarte oder einkommensorientierte För- rungsraten im Baubereich gar keine Sorge, daß in derung im sozialen Wohnungsbau, die uns hinterher dem Bereich mehr investiert würde. Deswegen müs- die Schwierigkeiten der Fehlbelegung erspart, nicht sen wir das wirklich miteinander verbinden. doch zielgerichteter ist, als von vornherein zu sagen: Es muß alles so bleiben, wie es ist. Nur darum geht es (Zuruf von der SPD) doch. - Diesen Zuruf habe ich fast erwartet. Natürlich bin (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich in dieser Bundesrepublik Deutschland siebenein- Wenn jemand bessere Ideen hat: Herzlich willkom- halb Jahre lang Umweltminister gewesen. Ich bitte men! Sie dann aber ganz herzlich, sich bei der nächsten Diskussion über Umweltpolitik in diesem Hause ein- Ich habe ein Eckpunktepapier vorgelegt, über das mal das anzuhören, was die Vertreter Ihrer Fraktion wir kontrovers mit den Ländern diskutiert haben. dazu sagen. Leider Gottes kommen die Länder immer auf die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) „gute" Idee, eine Sitzung der Arge Bau in einer Sit- zungswoche des Deutschen Bundestages anzuberau- Sie sprechen davon - ich begrüße das -, daß wir öko- men. Gegenwärtig ist Frau Staatssekretärin Thoben logisch ehrliche Preise brauchen und daß wir durch in Potsdam. Dort diskutieren wir ebenfalls über die- solche Preisentwicklungen Signale dafür geben, daß sen Tagesordnungspunkt - ich bin ziemlich sicher: man mit Wasser - und damit auch mit Abwasser - wiederum kontrovers. Wir sind aber doch ein Stück- sparsamer umgehen muß. Dies alles ist gesagt wor- chen weitergekommen. den. Wir müssen die Dinge schon ein bißchen zusam- menpacken; denn wenn wir das nicht tun, dann - ich In der Frage der Neuinvestitionen sind wir ver- sage dies noch einmal - kriegen wir die falschen gleichsweise weit gekommen. Wir werden uns hin- Handlungsanweisungen, und damit werden wir uns sichtlich der Bestände darüber zu unterhalten haben, alle keinen Gefallen tun. Wir wollen die Probleme lö- ob wir den Ländern weiterhin sagen werden: „Ent- sen. Wir wollen nicht jemanden suchen, dem wir sie wickelt eure Fehlbelegungsabgabe; ansonsten war- in die Schuhe schieben können; denn das kann doch ten wir, bis wir aus den Dingen herauswachsen" oder nicht richtig sein. ob wir das mit Blick auf mehr soziale Gerechtigkeit nicht doch ein Stückchen unterstützen sollten. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fordere deshalb dazu auf, dies nicht von vornherein Deswegen werden wir auch an das Wohngesetz- abzulehnen. Wir sollten vielmehr fragen: Läßt sich buch heranzugehen haben. Der soziale Wohnungs- das nicht gemeinsam machen? bau muß überprüft werden; das ist doch keine Privat- Ich komme zum Wohngeld, meine Damen und idee des Bauministers. Bevor wir das Gutachten von Herren. Natürlich ist das zu einer extrem schwieri- „Empirica" bekommen haben, hat der Deutsche Ver- gen Sache geworden. band für Wohnungswesen, Städtebau und Raumord- nung, in dem wirklich alle Gruppen, von den Hypo- (Zuruf von der SPD: Warum denn?) thekenbanken bis hin zum Deutschen Mieterbund, integriert sind, seine Studie vorgestellt. Er kommt zu - Das kann ich Ihnen sagen. Wir, Bund und Länder vergleichbaren Ergebnissen. zusammen, zahlen gegenwärtig etwa 6 Milliarden DM Wohngeld. Wenn ich den Antrag der SPD richtig Ich hatte die Freude, vor wenigen Tagen beim verstanden habe, sagen Sie: Wir brauchen eine Erhö- 50jährigen Jubiläum des Deutschen Verbandes spre- hung des Wohngelds um etwa 30 Prozent. Wenn Sie chen zu dürfen. Ihr Freund ist der Präsi- 30 Prozent von 6 Milliarden DM berechnen, kommen dent dieses Verbandes. Ich hatte nicht den Eindruck, Sie auf eine Größenordnung von etwa 1,8 bis 2 Mil- daß er mir in ganz besonderer Weise vorwerfen liarden DM. wollte, das Nachdenken über diese Frage sei ein An- satz, den sozialen Frieden in Deutschland zu gefähr- (Achim Großmann [SPD]: Sie haben 3,6 Mil den. Eher hatte ich den umgekehrten Eindruck:-li arden DM vorgeschlagen!) Wenn wir jetzt nicht über den sozialen Wohnungs- bau wirklich ernsthaft nachdenken und ihn nicht - Das habe ich nicht vorgeschlagen. Ich habe viel- wieder auf die Füße stellen, dann werden wir ganz mehr gesagt: Wenn wir in Ost und West das Lei- sicher den sozialen Frieden in Deutschland erheblich stungsniveau von 1990 erreichten, würde es so viel gefährden. kosten. Das ist völlig richtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Achim Großmann [SPD]: Wir liegen doch weit darunter!) Deswegen frage ich zurück: Kann das denn so falsch sein? Vom gesamten sozialen Wohnungsbau - Ich will das doch nur ansprechen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10135

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Nun bin ich heute zufälligerweise - der Kollege Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- Kansy hat das schon angesprochen - im Finanzaus- nung, Bauwesen und Städtebau: Ich hoffe sehr, Frau schuß des Bundesrates gewesen. Ich habe die Kolle- Kollegin Eichstädt-Bohlig, daß wir zum Beispiel gen Finanzminister der Bundesländer gefragt, was durch die Förderung des selbstgenutzten Wohn- sie davon halten. Da gab es nicht einen, der gesagt eigentums eine Entlastung der Wohnungssituation hat, das sei auch seine Meinung. erreichen, so daß wir sozial schwache Mieter in die entsprechenden Wohnungen bekommen und die An- (Konrad Gilges [SPD] Was sagt denn der hebung des Wohngeldes nicht notwendig wird. Ich Bundesfinanzminister? - Weitere Zurufe von weiß nicht, warum das ein Widerspruch sein soll. der SPD) Wenn man die Mittel des sozialen Wohnungsbaus zu - Das tue ich doch auch! Leute, es hat doch keinen den genannten Ausgaben dazu rechnet, dann sind Wert, daß wir uns permanent solche Dinge um die die Größenordnungen gar nicht mehr so unterschied- Ohren schlagen. lich. Aber das will ich gar nicht. (Erneuter Zuruf des Abg. Konrad Gilges Mein zentrales Ziel muß doch sein, die Wohnun- [SPD]) gen in das Angebot hineinzubekommen, die von de- nen frei gemacht werden, die durch die Förderung - Es ist doch wirklich faszinierend, zu sehen: Die des selbstgenutzten Wohneigentums in die Lage ge- neuen Bundesländer sind der Meinung, daß hier kommen sind, ihr eigenes Haus zu bauen, und damit gehandelt werden muß, und bringen im Bundesrat nicht mehr im Mietwohnungsmarkt als Nachfrager einen entsprechenden Antrag ein. Die alten Bundes- auftreten. Das ist doch das sehr viel Sinnvollere. länder haben diesen Antrag nicht eingebracht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Achim Großmann [SPD])

- Sehen Sie, prima! Wenn Sie das so sehen, dann Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, wollen wir uns ernsthaft darüber unterhalten, was gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten machbar ist. Großmann? Wenn wir Ihren Antrag genau lesen, bekommen wir schon wieder einen Hinweis darauf, worüber wir Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nachdenken müssen. Sie sagen, im Bereich des pau- nung, Bauwesen und Städtebau: Aber gerne. schalierten Wohngeldes müsse etwas gemacht wer- den. Ich möchte aber wirklich einmal wissen, warum in dem Antrag steht, wir sollten beim pauschalierten Achim Großmann (SPD): Herr Minister, sind Sie Wohngeld die Einkommensbezüge nach unten bereit, zuzugestehen, daß unser Antrag nicht so in- durchrechnen, weil die Finanzierung dann billiger terpretiert werden kann, wie Sie das gerade gemacht würde, dürften das Eingesparte aber nicht beim ta- haben? Wir haben darauf hingewiesen, daß eine bellarischen Wohngeld drauflegen. Warum denn Wohngeldnovelle nicht daraus bestehen kann, einen eigentlich nicht? bestimmten Betrag beim pauschalierten Wohngeld zu sparen und diesen beim tabellarischen Wohngeld Ich halte es für nachvollziehbar, eine solche Ände- draufzusetzen. Das könnten die Städte und Gemein- rung ein Stück weiter zu durchdenken. Daß sie eine den auf Grund der damit verbundenen erhöhten So- Querverbindung zum Sozialhilferecht hat, ist jedem zialhilfezahlungen gar nicht leisten. Sind Sie des wei- klar. Was ich in der Sache will, ist eine Reform des teren bereit, zuzugestehen, daß wir mehrfach den Wohngeldes. Das muß mit Blick darauf gemacht wer- Finanzierungsvorschlag gemacht haben, mit dem den, daß die Zahlung von Wohngeld einen gezielten Unsinn aufzuhören, im frei finanzierten Mietwoh- sozialen Ansatz hat und daß es die wirklich Bedürfti- nungsbau Subventionen für leerstehende Luxusbau- gen erreichen soll. ten zu zahlen?

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten nung, Bauwesen und Städtebau: Das zweite habe ich Eichstädt-Bohlig? in der Tat zur Kenntnis genommen. Sie haben völlig recht. Sie haben schon in Ihrem vor einigen Wochen Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- gestellten Antrag darauf hingewiesen, man solle den nung, Bauwesen und Städtebau: Ja, selbstverständ- § 7 Abs. 5 von einer bestimmten Höhe der Baukosten lich. an nicht mehr gelten lassen. Ich bin der Überzeu- gung, daß Sie das, wenn Sie das in die Diskussion über die Situation des Baumarktes und vor allen Din- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE gen in die Diskussion über die Verwaltungsvereinf a- GRÜNEN): Herr Minister, wie wollen Sie der Bevöl- chung einbringen, noch einmal zu überdenken ha- kerung und vor allem den Schichten, die auf das ben. Das möchte ich dazu sagen. Wohngeld angewiesen sind, eigentlich vermitteln, daß Sie zwar in der Lage sind, ein Eigenheimzula- Natürlich habe ich auch zur Kenntnis genommen, gengesetz zu verabschieden, das auf Bundesebene daß Sie uns gesagt haben, wir könnten nicht nur eine etwa 7,2 Milliarden DM kostet, daß Sie aber nicht Umschichtung durchführen, weil wir dann die Quer- das Wohngeld erhöhen können, in das Sie momentan verbindung zur Sozialhilfe bekämen. Auch das ist etwa 3 Milliarden DM hineinstecken? völlig richtig. Ich frage aber zurück: Wie bekommen 10136 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer wir denn die Automatik der Anstiege, die gerade im ben, als würden sie durch den Verkauf praktisch aus Bereich des pauschalierten Wohngelds dynamisch ihren bisherigen Bindungsmöglichkeiten herausfal- ist, in den Griff? Wir bekommen sie doch nur in den len. Das ist aber nicht der Fall. Wenn Sie sich das Griff, wenn wir fragen: Können wir nicht das, was noch einmal ansehen, werden auch Sie zu dieser wir im tabellarischen Bereich gemacht haben, im Feststellung kommen. pauschalierten Bereich weiterführen? So habe ich Ihren Antrag gelesen, und es kann auch nicht anders Ich komme zum Wohngeld zurück. Ich halte es sein. Wir werden in diesem Bereich weniger Geld nach wie vor für unumgänglich notwendig, daß wir einsetzen; wenn wir es statt dessen für eine Gesamt- jetzt eine Novelle zum Wohngeldgesetz machen. Ich reform des Wohngeldes verwenden können, sind wir kann in der gegenwärtigen Situation allerdings nicht ein gutes Stück vorangekommen. sagen, daß wir Ihre 30-Prozent-Forderung von 1,8 Milliarden DM durch Bund und Länder finanzie- ren werden, sondern wir müssen sehen, wie wir die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie vorhandenen Ungerechtigkeiten beim Wohngeld noch eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt beseitigen können, so daß wieder etwas mehr soziale Bohlig? Symmetrie hineinkommt. Ich bin ganz sicher, Herr Kollege Großmann, daß Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nung, Bauwesen und Städtebau: Ja. wir, wenn wir so vorgehen, auch die Zustimmung von vielen Ländern bekommen werden, die heute eher darüber nachdenken, ob man das Wohngeld ab- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE senken sollte, statt es ansteigen zu lassen. Dies ist GRÜNEN): Sie haben mir eben geantwortet, daß eine realistische Verfahrensweise, und ich hoffe, daß durch die Eigenheimzulage und durch den entspre- Sie daran mitwirken werden, so etwas zu machen. chenden Eigenheimbau Wohnungen für die bedürfti- Ich bedanke mich jetzt schon dafür, daß auch die Ko- gen Schichten frei werden. Ist Ihnen bekannt, daß er- alitionsfraktionen genau in diese Richtung mitden- stens gerade im Bereich der preiswerten Wohnungen ken, um auf diesem Gebiet weiter voranzukommen. die Mietpreissteigerungen überproportional- hoch sind, weil dort die Schichten wohnen, die darauf an- (Konrad Gilges [SPD]: Das ist unkonkret!) gewiesen sind, daß das zweitens dazu führt, daß die preiswerten Wohnungen sozusagen nach oben anzie- Also, meine Damen und Herren, wir haben auf al- hen - unter anderem durch Eigentumsumwandlung len Gebieten nicht angekündigt, sondern wir haben und Modernisierung -, und daß drittens gleichzeitig die Dinge vorangebracht. die öffentlichen Hände - allen voran und mit Ihrer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zustimmung unser Finanzminister Waigel - im Mo- ment dabei sind, sehr viele preiswerte und sozial ge- Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Wenn bundene Wohnungen zu verkaufen und damit ihrer- wir die vor uns liegende Zeit genauso nutzen, um seits dazu beizutragen, das Zweite Wohnungsbaugesetz weiterzuentwickeln, wenn wir sie nutzen, um das Wohngeldrecht wirklich (Zuruf von der CDU/CSU: Wann kommt die zu reformieren, so daß es den Ansprüchen gerecht Frage?) wird, die wir auch in Zeiten leerer Kassen damit ver- daß die preiswerten Wohnungen eher vom Markt binden, wenn wir die Notwendigkeit erkennen, ge- verschwinden, als daß sie für die entsprechenden rade in Sachen Erbschaftsteuer nichts zu tun, was Gruppen bereitstehen? den Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum be- hindern könnte, dann werden wir auf diesem schwie- rigen Gebiet sicherlich weiterhin erfolgreich voran- Frau Kollegin, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: kommen. das ist wirklich ein Mißbrauch des Rechts, eine Zwi- schenfrage zu stellen. Sie sollen eine Frage stellen. Ich habe jedenfalls allen Grund, mich dafür zu be- danken, daß wir in den letzten anderthalb Jahren mit Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- guter Unterstützung dieses Hohen Hauses vieles lei- nung, Bauwesen und Städtebau: Frau Kollegin Eich- sten konnten, was für eine gute Wohnungsversor- städt-Bohlig, wenn Sie sich etwas über die Konditio- gung in Deutschland von großer Bedeutung ist. nen des Verkaufs von bundeseigenen Wohnungen, Recht herzlichen Dank. also von Deutschbau und Frankfurter Siedlungsge- sellschaft, informieren, dann werden Sie feststellen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß wir gerade bei diesem Verkauf die Bindungswir- kung beibehalten haben. Das heißt, diese Wohnun- gen sind auf jeden Fall während der gesetzlich vor- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem geschriebenen Zeit noch weiter gebunden. An dieser Abgeordneten Norbert Formanski das Wort. Stelle und an vielen anderen haben wir mit größtem Nachdruck dargestellt, daß dieser Verkauf nicht die Wirkungen hat, die Sie hier beschwören. Norbert Formanski (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte unseren Antrag Ich sage das deswegen mit Nachdruck, weil ich „Anhebung der Freibetragsregelungen nach dem von vielen verunsicherten Mietern gerade darauf an- Wohnungsbauförderungsgesetz 1994" vorstellen und geschrieben worden bin, weil sie den Eindruck ha- begründen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10137

Norbert Formanski Der Herr Minister wies zu Recht darauf hin, daß Unser Antrag sieht deshalb vor, daß Behinderte mit das Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 mit Zustim- einem Grad der Behinderung von mindestens mung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion 80 Prozent, die nicht häuslich pflegebedürftig sind, beschlossen wurde. Damals haben wir nach Jahren einen Freibetrag von 4 200 DM und Behinderte mit der Untätigkeit erreichen können, daß die Einkom- einem Grad der Behinderung von mindestens mensgrenzen im sozialen Wohnungsbau der aktuel- 50 Prozent und unter 80 Prozent, die nicht häuslich len Einkommensentwicklung angepaßt wurden. pflegebedürftig sind, einen Freibetrag von 2 000 DM in Anspruch nehmen können. Die Freibeträge für (Beifall bei Abgeordneten der SPD) häuslich pflegebedürftige Menschen bleiben in der Dies hatte den positiven Effekt, daß Arbeitnehmer- jetzigen Höhe. haushalte gezielt entlastet wurden und der Trend zu Sachlich nicht gerechtfertigt ist auch die Tatsache, einseitigen Mieterstrukturen im sozialen Wohnungs- daß Alleinerziehende lediglich für Kinder unter bau zumindest abgebremst werden konnte. 12 Jahren einen Freibetrag von 1 800 DM geltend Negativ festzuhalten ist allerdings, daß trotz Anhe- machen können, sofern sie wegen Erwerbstätigkeit bung der Einkommensgrenzen auf Grund der Neu- oder Ausbildung längerfristig vom Haushalt abwe- gestaltung der Freibetragsregelungen behinderte send sind. Der Freibetrag hat nach dem Willen des Menschen, die nicht häuslich pflegebedürftig im Gesetzgebers das Ziel, Alleinerziehenden finanziel- Sinne des Bundessozialhilfegesetzes sind, erheblich len Spielraum bei der Beaufsichtigung ihrer Kinder schlechtergestellt wurden. Das führt für diesen Per- einzuräumen. Nach der derzeitigen Rechtslage fällt sonenkreis zu individuellen Härten bei der Erhe- dieser Freibetrag aber gerade dann weg, wenn eine bung der Fehlbelegungsabgabe und bei der Zu- häusliche Beaufsichtigung auf Grund der kritischen gangsberechtigung zum sozialen Wohnungsbau. Jahre in der Entwicklung besonders wichtig wäre. Es Zusätzlich sind negative Effekte beim Neu- und Aus- ist daher sachlich und pädagogisch gerechtfertigt, bau behindertengerechter Wohnungen zu verzeich- daß der Freibetrag bis zu einer Altersgrenze von nen. 14 Jahren gewährt wird. Ziel und Zweck der staatlichen Wohnungsbauför-- Mit diesen Freibetragsregelungen können wir den derung ist es aber, die Wohnungsversorgung vorran- Betroffenen zumindest eine geringe finanzielle Entla- gig für diejenigen Menschen sicherzustellen, die auf stung einräumen. dem sogenannten freien Wohnungsmarkt nur ge- (Beifall bei der SPD) ringe Chancen haben, eine angemessene Wohnung zu finden. Zu diesem Personenkreis gehören aber Das erklärte Ziel des Wohnungsbauförderungsge- nicht nur die häuslich Pflegebedürftigen, sondern setzes, einen Schritt zur Harmonisierung des Ein- auch die große Zahl der mobilitätsbehinderten Men- kommensbegriffs und der Einkommensermittlung im schen, die auf eine barrierefreie und behindertenge- gesamten Bereich des Wohnungswesens zu leisten, rechte Wohnung angewiesen sind und die sehr wohl steht nicht im Widerspruch zum vorliegenden An- in der Lage sind, wenn diese Voraussetzungen gege- trag. Es ist vielmehr erforderlich, daß sich die seit ben sind, ein eigenverantwortliches Leben in der Jahren überfällige Novelle zum Wohngeldgesetz und eigenen Wohnung ohne oder nur mit geringer frem- die beabsichtigte Neugestaltung der Wohnungsbau- der Hilfe zu führen. Die Zahl mobilitätsbehinderter förderung im Rahmen eines dritten Wohnungsbau- Menschen liegt nach Angaben des Reichsbundes bei förderungsgesetzes bei den Freibetragsregelungen zirka 5 Millionen, darunter zirka 3,8 Millionen erheb- am vorliegenden Antrag orientiert. lich Gehbehinderte und 500 000 außergewöhnlich Gehbehinderte mit besonderem Wohnraumbedarf in Die Zustimmung sollte Ihnen, meine Damen und bezug auf barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzung Herren, um so leichter fallen, da außer geringfügigen der Wohnung. Nach Schätzung des Reichsbundes Mindereinnahmen aus der Fehlbelegungsabgabe sind mit der aktuell geltenden Regelung etwa der Länder keine Kosten auf die öffentlichen Haus- 75 Prozent aller Schwerbeschädigten von der Ge- halte zukommen. währung von Freibeträgen ausgeschlossen worden. Der CO2-Antrag, Herr Kansy, liegt uns bis heute Die soziale Härte des damaligen Beschlusses noch nicht vor; wir sind aber gespannt auf ihn, und wurde erst in den letzten Monaten drastisch deutlich, wir werden uns, sobald er vorliegt, natürlich dazu da die Einkommensüberprüfung zur Festlegung der äußern. Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau in Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. einem mehrjährigen Turnus erfolgt und die betroffe- nen behinderten Menschen zum Teil jetzt erst mer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ken, daß ihre Freibeträge reduziert wurden bzw. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ganz weggefallen sind. Vielen Menschen tut jede Mark weniger im Portemonnaie weh, auch wenn es Ich erteile das die Regierungskoalition manchmal nicht glauben Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Wort dem Abgeordneten Helmut Wilhelm. will. Es kommt verschärfend hinzu, daß natürlich die behinderungsbedingten Mehraufwendungen größer geworden sind und Behinderte und chronisch Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE Kranke durch das Gesundheits-Reformgesetz und GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- das Gesundheitsstrukturgesetz zusätzlich finanziell ren! Jetzt kommt ein kleiner Sprung zu den erneuer- belastet wurden. baren Energien. Was lange währt, wird endlich gut - 10138 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Helmut Wilhelm (Amberg) das kann aber nicht so ganz die endlose Geschichte Walter Schöler (SPD): Herr Präsident! Meine Da- der gesetzlichen Neuregelung der Privilegierung men und Herren! Nachdem ich gerade den Baumini- der Windenergie vergessen lassen. Immerhin war ster mit seiner Einlassung zum Bundesrat gehört diese Privilegierung schon einmal bis zur Entschei- habe, stellt sich mir die Frage, warum man den Bun- dung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juni desfinanzminister nicht gefragt hat, ob man über- 1994 gängige Rechtspraxis. haupt noch einen Bundesbauminister braucht. Das war die Konsequenz dieses Vortrags. Um diese frühere Rechtspraxis nunmehr im Bauge- setzbuch festzuschreiben, hat dieses Parlament ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ganzes Jahr gebraucht. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Nur Teile des Parla und der PDS) ments!) In meinem Beitrag will ich jetzt das breitgefächerte - Richtig. Die Verzögerungen brachten nicht etwa Thema, das uns heute gestellt wird, ansprechen. Der die bösen Umweltschützer, die nach gepflegtem Kollege Warnick hat es einen Gemischtwarenkatalog Feindbild den Fortschritt im Standort Deutschland genannt. Ich möchte in diesem engen Zeitrahmen immer wieder behindern. drei Punkte ansprechen. Der erste ist die steuerliche Förderung im frei finanzierten Mietwohnungsbau. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU): Natür lich war es der BUND!) Um sofort klarzustellen: Für uns Sozialdemokraten ist der frei finanzierte Mietwohnungsbau unverzicht- - Nein, Herr Kansy. Die Verzögerung brachten einige barer Bestandteil der Wohnungsbauförderung von denen, die ansonsten nicht müde werden, den ebenso wie auch der soziale Wohnungsbau und die Standort Deutschland durch Rückschnitt von Um- Förderung des Wohneigentums. Zur Schaffung eines weltstandards, durch Abbau der Prüfbefugnisse der ausreichenden Angebots an Wohnungen ist die Be- Verwaltung und durch Reduzierung des gerichtli- reitstellung privaten Kapitals unerläßlich. Das setzt chen Rechtsschutzes gesundbeten zu wollen. selbstverständlich voraus, daß die steuerlichen Rah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)- menbedingungen zu akzeptablen Renditen ermög- licht werden. Auch das halten wir für erforderlich. Völlig ignoriert wurde dabei anscheinend, daß ein mittelständischer Industriezweig mit immerhin Diese Rahmenbedingungen dürfen aber nicht zur 10 000 Beschäftigten in arge Existenznot - mit Kon- Verschwendung finanzieller Ressourcen führen. Wir kurs und Entlassungen - geriet und fast vor dem Aus haben Ihnen im Februar unseren Antrag vorgelegt, stand. Doch damit möchte ich die Vergangenheit die steuerliche Förderung im Mietwohnungsbau ziel- auch schon ruhen lassen. genau zu gestalten. Die derzeitige steuerliche Förde- rung ist wenig treffsicher und geht an den Notwen- Nach langem Ringen ist es endlich gelungen, ein digkeiten des Wohnungsmarktes und am Ziel der Gesetz gemeinsam zu erarbeiten, das zu guter Letzt Konzentration und Effizienz vorbei. und fast schon unerwartet von allen in diesem Haus vertretenen Fraktionen getragen wird und das die In- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ teressen einer umweit- und ressourcenschonenden DIE GRÜNEN) Energieversorgung, des Umweltschutzes an einer Der im Vermittlungsausschuß beim Jahressteuer- Minderung der CO2-Emissionen, des Naturschutzes gesetz erzielte Kompromiß darf die Wohnungspoliti- an einer wirksamen Planungskontrolle zur Vermei- ker nicht zufriedenstellen. Da gebe ich Herrn Braun dung von Wildwuchs bei der Anlagenerrichtung durchaus recht. durch Ausweisung von Vorrang- und Tabuflächen, der Gemeinden an der Erhaltung ihrer Planungsho- heit und letztendlich der Förderung eines zukunfts Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, trächtigen Industriezweigs und damit der Erhaltung, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen berück- Braun, Augsburg? sichtigt.

Mit Aufnahme der Windenergie in den Privilegie- Walter Schöler (SPD): Aber natürlich. rungstatbestand wird zum Ausdruck gebracht, daß diese ein wichtiger Bestandteil der Energieversor- gung sein muß. Nur durch die konsequente Nutzung Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Schö- regenerativer Energiequellen, von denen die Wind- ler, netterweise billigen Sie dem Wohnungsbau im energie nur ein Teil ist, und der Möglichkeiten der Moment angemessene Renditen zu. Was verstehen Energieeinsparung ist ein Beitrag zum Schutz der Sie unter angemessenen Renditen? Erdatmosphäre und des Klimas zu leisten. Auf die- sem Weg werden wir fortschreiten müssen. Walter Schöler (SPD): Herr Braun, ich werde in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinem Vortrag auf Ihre Frage zurückkommen. Ich sowie bei Abgeordneten der SPD und der erspare Ihnen jetzt, länger stehenbleiben zu müssen. PDS) Ich werde mir entsprechend Redezeit nehmen; das ist schon klar.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das (Zuruf von der CDU/CSU: Das könnten Sie Wort dem Abgeordneten Walter Schöler. aber gleich sagen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10139

Walter Schöler - Nein, ich will das gleich in meine Rede einbauen, standsetzungsaufwandes je Quadratmeter Wohnflä- weil ich das so für sinnvoll halte. che vor.

Es sollte schon einen Unterschied machen, ob ein Die im Jahressteuergesetz 1996 beschlossene Ver- Investor anderthalb Millionen DM für ein Penthouse schlechterung der degressiven AfA sollte korrigiert als Steuerabschreibepalast aufwendet oder ob er mit werden. Auch Sie in der CDU haben erkannt, daß der gleichen Summe im frei finanzierten Mietwoh- bei den Reisekosten eine steuerliche Korrektur vor- nungsbau sechs Mietwohnungen errichtet. Das jet- zunehmen ist. Lassen Sie uns die gemeinsam ange- zige Steuersystem fördert den Bau luxuriöser Woh- hen. nungen. Kostensenkende Anreize, geschweige denn Vorgaben, wie sie im sozialen Wohnungsbau und bei Im übrigen sollte der Wohnungsbauminister damit der Wohneigentumsförderung vorhanden sind, feh- aufhören, die Zahl der erteilten Baugenehmigungen len hierbei völlig. in den letzten Jahren als den Durchbruch bei der Bauland- und Wohnungsversorgung zu verkünden. (Beifall bei der PDS) Längst pfeifen die Spatzen von den Dächern, Herr Die Formel „hohe Kosten gleich große Steuervor- Dr. Kansy: Es gibt keinen Bauboom mehr. Bei den teile" darf nicht weiter gelten. Baugenehmigungsbehörden kann schon Kurzarbeit gemacht werden, und die Bauindustrie beklagt hohe Stagnation oder Senkungen bei Mieten betreffen Einbrüche bei den Aufträgen im Wohnungsbau - bis leider nur Höchstmieten in Ballungsräumen und von zu 25 Prozent. Lesen Sie die Statistiken nach. Luxuswohnungen. Was wir brauchen, sind bezahl- bare Mieten, auch im frei finanzierten Wohnungs- Es muß noch über Jahre hinweg heißen - da sollten bau. Diese bezahlbaren Mieten sind noch immer wir uns einig sein -: „volle Kraft voraus" zur Lösung Mangelware. der Wohnungsprobleme; nicht Fehlleitungen öffentli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne cher Subventionen und erst recht nicht „Sparen am ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) falschen Ende". Herr Braun, um auf Ihre Frage einzugehen:- Sie (Zuruf von der SPD: Das machen sie doch können heute steuerliche Abschreibungen geltend ständig!) machen; Sie können Eigenkapital investieren; Sie können ausrechnen, wo Sie Ihr Eigenkapital besser Ich will noch auf einen Punkt zur Wohneigentums- investieren - auf dem Kapital - oder auf dem Bau- förderung hinweisen. In den letzten Monaten habe markt. Sie müssen das Objekt, das Sie zur Verfügung ich erlebt, daß die Grundstückspolitik der Kommu- stellen, ebenso wie die Erhaltung Ihres Kapitalwertes nen in weiten Teilen unseres Landes aus dem Ruder immer langfristig im Auge behalten. läuft. Ich habe zwar Verständnis für Gemeinden, die defizitäre Haushalte haben - wir wissen, daß der Diese Rechnungen sind anders aufzumachen. Man Bund in den letzten Jahren munter zu Lasten der Ge- darf nicht sagen: Wir investieren einfach im Ausland, meindekassen verlagert hat -, aber der Anstieg der bringen unser Geld weg, womöglich noch an der Baulandpreise um 100 DM - bei einer durchschnittli- Steuer vorbei. Ich bin der Meinung: Wir können auf chen Baustellengröße von 300 Quadratmetern sind Grund der unterschiedlichen Landschaften Deutsch- das 30 000 DM oder 200 DM Monatsbelastung - lands nicht von bestimmten Mietbeträgen reden, schluckt das weg, was wir an Eigenheimförderung sondern müssen sie gemäß den Landschaften festle- zusätzlich beschlossen, was wir verbessert haben. gen. Ich komme gleich darauf zurück. Bauwillige sind nicht in der Lage, diese Mehrkosten (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, gleich, in kürzester Zeit wieder anzusparen oder am Ge- gleich!) bäude einzusparen. Wir wollen keinen Bestand an leeren Wohnungen. (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ Investoren haben Mietpreisvorstellungen, die bis an CSU]: Was halten Sie von Eigenleistung?) die Grenze des Mietwuchers gehen, der im wesentli- chen von der Rechtsprechung bestimmt wird, sind Baukosten stehen, Frau Rönsch, in keinem vernünfti- aber dennoch nicht zur Senkung der Mietpreise, die gen Verhältnis mehr zu den Grundstückskosten, die sie sich vorgestellt haben, bereit und machen neben in Deutschland teilweise höher liegen als die Bauko- den steuerlichen Forderungen auch noch Verlustab- sten selber. Ich kann die Gemeinden deshalb nur schreibungen aus der Vermietung geltend. Ich habe auffordern, eine soziale Bodenvorratspolitik zu be- Ihnen in einer anderen Debatte mehrfach Beispiele treiben. von großen deutschen Investoren genannt, die das praktizieren. Ich müßte noch ein bißchen Zeit haben, um auf den Raumordnungsbericht 1993 eingehen zu kön- Wir fordern die Bundesregierung auf umzusteuern. nen, der heute auch auf der Tagesordnung steht. Es Die steuerliche Abschreibung muß so gestaltet wer- hat auf den Tag genau ein Jahr gedauert - Herr Kol- den, daß die Förderung kostensenkende und kosten- lege Wilhelm, das ist ähnlich wie mit der Windkraft -, begrenzende Wirkungen erzielt. Die Einführung von daß dieser Bericht des Ausschusses auf die Tagesord- Förderobergrenzen ist hierfür sehr dienlich. Glei- nung kam. Am 20. Juni 1995 war unsere Beschluß- ches sollte auch für den Instandhaltungsaufwand im empfehlung. Auch Herr Dr. Kansy hat sich gestern Wohnungsbestand gelten. Hierzu schlagen wir die im Bauausschuß zu der unzumutbar kurzen Debat- Kappung des steuerlich geltend zu machenden In- tenzeit geäußert. Ich kann nur feststellen: Wie in die- 10140 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Walter Schöler sem Parlament mit diesem wichtigen Thema umge- Zustimmung des Bundesrates" - „das folgende Ge- gangen wird, ist unzumutbar. setz beschlossen". Tun wir es jetzt! (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich danke Ihnen sehr. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ PDS) DIE GRÜNEN) Der Bericht zeigt ebenso wie der politische Orien- tierungs- und Handlungsrahmen der Ministerkonfe- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der renz für Raumordnung auf, daß nach wie vor beson- Abgeordneten Hannelore Rönsch das Wort. Es tut ders in den neuen Ländern erheblicher Handlungs- mir leid, daß Sie über Gebühr haben warten müssen. bedarf besteht. Es gibt noch ein starkes Ungleichge- Sie haben aber nun das Wo rt. wicht in den Regionen.

Ich will deshalb nur einen Punkt ansprechen, den Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr auch die vorliegende „Raumordnungsprognose Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich 2010" beinhaltet, nämlich die Bevölkerungsentwick- möchte mich erst einmal bei den Kollegen der Oppo- lung. Im nächsten Jahrzehnt wird die Bevölkerung sition dafür bedanken, daß Sie Verständnis dafür ha- des Bundesgebietes voraussichtlich noch um 5 Mil- ben, daß unser Bauminister mitten aus der Plenarde- lionen Einwohner anwachsen - überwiegend wegen batte zu einer anderen Veranstaltung muß. Herzli- der Zuwanderung aus dem Ausland. Die Regierung chen Dank dafür. sieht bei dieser Entwicklung untätig zu. Die Koalition kann sich nicht einigen. Ich frage mich allein vor Kein Verständnis habe ich allerdings dafür, daß die dem Hintergrund der Entwicklung im Wohnungs- Präsidentin des Deutschen Mieterbundes dieser De- bau, regionaler Siedlungsstrukturen und der Ankün- batte heute abend nicht beiwohnt. digung zur Steigerung der Wohneigentumsquote, (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) wie wir diese Probleme lösen wollen, wenn hier Un- tätigkeit besteht. Ich gehe gar nicht auf andere Fra- Ich erinnere mich noch an die Wohnungsbaudebatte gen ein, wie zum Beispiel auf die Auswirkungen auf im November 1995. Dort wurde gerade von der Prä- den Arbeitsmarkt, die Wi rtschaftspolitik, sozialpoliti- sidentin schwarzgemalt. Ich habe immer ein gewis- sche Bereiche und die Infrastruktur der Gemeinden. ses Verständnis dafür, daß man sich selbst Klienten zuführen will und deshalb natürlich gerade die Mie- Ich wünsche mir für die Zukunft - da sollten wir terpolitik recht negativ anmahnt. Heute morgen hat- uns vielleicht einmal einig sein -, daß die mitberaten- ten wir ein Fax vom Deutschen Mieterbund auf dem den Ausschüsse diesen Bericht intensiver beraten. Tisch, wir mögen zu den Fragen der Wohnungspoli- Kenntnisnahme allein ist zu wenig. tik Stellung nehmen. Man hätte sich das Fax sparen können, wenn die Präsidentin heute abend anwe- Ein letztes Wort zur Novellierung des § 35 Bauge- send gewesen wäre. setzbuch - zur Privilegierung der Windkraft -, weil ich als Berichterstatter hier tätig bin. Ich kann mich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Worten des Kollegen Wilhelm nur anschließen, daß wir endlich Klarheit und Planungssicherheit Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin schaffen, daß wir dafür sorgen, Windkraft wieder in Rönsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- der Weise voranzubringen, daß die Privilegierung im ordneten Großmann? Gesetz festgelegt wird - unter Wahrung der kommu- nalen Planungshoheit. Das hielten wir für ganz wich- tig. Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Selbstverständlich. Dies ist uns gemeinsam gelungen, auch wenn ich anmerken muß: Wir hätten das schon im Dezember letzten Jahres erledigen können. Ich bedaure sehr, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte sehr. daß es so lange gedauert hat. Achim Großmann (SPD): Sind Sie bereit, mir zuzu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestehen, Frau Kollegin Rönsch, daß es völlig unfair DIE GRÜNEN) ist, wenn wir zur Abwesenheit des Bauministers Töp- Wir schaffen jetzt im übrigen eine Übergangsrege- fer nichts sagen und damit einverstanden sind, daß lung, die auch den Gemeinden und dem Bundesrat er fahren kann, und wenn aus den gleichen Grün- entgegenkommt. Der § 35 des Baugesetzbuches wird den, die Herr Töpfer hat, daß nämlich die Debatte, dabei die Schutzfunktionen für den Außenbereich die zunächst für 16 Uhr heute nachmittag anberaumt weiterhin behalten. Auch das ist ein sehr wichtiger war, um 19.10 Uhr begonnen hat, andere Abgeord- Punkt. nete, zum Beispiel auch Frau Fuchs, nicht anwesend sein können und Sie sie hier vorführen wollen? Als Berichterstatter darf ich Sie dann noch bitten, hinsichtlich der Beschlußempfehlung auf Seite 3 der (Beifall bei der SPD und der PDS) Drucksache 13/4978 eine Berichtigung zu akzeptie- ren. Hier muß es nämlich im Hinblick auf die Einfü- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Lie- gung eines § 245b in das Baugesetzbuch heißen: ber Herr Kollege Großmann, der Herr Bundesbaumi- „Der Bundestag hat" - und jetzt ist einzufügen: „mit nister hat sich bei Ihnen und bei uns entschuldigt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10141

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) Mir fehlt noch die Entschuldigung der Präsidentin längst von einem Mietermarkt. Genau das war unser des Deutschen Mieterbundes, die als Abgeordnete, Ziel, und dieses Ziel haben wir erreicht. wenn es um die Wohnungspolitik geht, hier sonst im- mer das große Wort führt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir haben, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, aus Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU - Walter Schöler unmittelbaren Berliner Umfeld Pressemeldungen, [SPD]: Kommen Sie zur Sache!) daß von 1 048 Wohnungen 40 Prozent leer stehen. Ich gestehe Ihnen zu, daß, eingedenk der Debatte Angesichts dieser Zahlen frage ich mich, wieso Sie des letzten Novembers, die Aussagen von Ihnen we- dazu kommen, hier von einer wachsenden Woh- sentlich moderater geworden sind, denn Sie haben nungsnot zu sprechen. eigentlich kaum noch etwas zu beklagen. (Hanns-Peter Hartmann [PDS]: Weil sie Herr Kollege Schöler, Sie haben gerufen, ich möge nicht bezahlbar sind!) zur Sache kommen. Ich lade Sie herzlich ein, die vom - Aber selbstverständlich. Kollegen Hildebrecht Braun gestellte Frage nach der Rendite, die Sie im Laufe Ihrer Rede noch beantwor- (Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜND ten wollten, vielleicht in einer persönlichen Stellung- NIS 90/DIE GRÜNEN], Norbert Formanski nahme doch noch zu beantworten. Ich habe sehr auf- [SPD] und Konrad Gilges [SPD] melden sich merksam zugehört, ich habe eine Antwort nicht ge- zu Zwischenfragen) hört. - Herr Präsident, es sind drei Fragen. (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: So ist es!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Abgeord- Es kam im Redekonzept offensichtlich nicht vor. nete Rönsch, ich nehme an, daß Sie die Fragen zulas- Kommen wir zur Sache, und klären Sie das bitte sen wollen, und gebe zu einer kurzen Frage zunächst nachher. Frau Eichstädt-Bohlig das Wort. Ich weise darauf hin, - daß es in der Geschäftsordnung heißt, daß die Fra- Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist gen kurz und präzise sein müssen. Frau Eichstädt heute, Frau Eichstädt-Bohlig, auch von Ihnen, wieder Bohlig, bitte schön. von der wachsenden Wohnungsnot geredet worden. - Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, ich spreche gerade mit Ihnen; ich sehe Sie nur in der Diskussion. - Kol- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE lege Braun hat schon einige Zahlen genannt: GRÜNEN): Frau Kollegin Rönsch, ist Ihnen erstens 2,7 Millionen Fertigstellungen von 1990 bis jetzt und bekannt, daß Wohnungsnot speziell ein Problem der weitere 635 000 Anträge. Das spricht für sich. Großstädte und der Ballungsräume ist und insofern Schleswig-Holstein eine vielleicht etwas entspann- Es irritiert auch, wenn zum Beispiel im Koalitions- tere Region ist? vertrag von Schleswig-Holstein, der wohl zwischen Rot und Grün ausgehandelt worden ist, steht, daß (Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.]: Ach von wachsender Wohnungsnot keine Rede mehr sein nein!) kann. Da würde ich doch empfehlen, daß auch die Ist Ihnen zweitens bekannt, daß die Mietsenkungen, Grünen ihre Sprache untereinander einmal koordi- die in der letzten Zeit tatsächlich stattgefunden ha- nieren. Ich meine schon, daß man mit dem ganz be- ben, sich überwiegend auf das obere Preissegment sonderen Gut Wohnung, mit dem Grundbedürfnis beziehen, das heißt aus dem Bereich zwischen 20 auf Wohnen und den Ängsten der Mieter keinen Un- und 22 DM herunter auf 15 DM, fug treiben und die Verängstigung nicht permanent weitertreiben darf. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Zuruf des Abg. Achim Großmann [SPD]) vielleicht auch einmal auf 13 oder 12 DM, aber ge- rade nicht in dem Bereich, - Wir haben uns für diese Legislaturpe riode wichtige Ziele gesetzt, Herr Kollege Großmann, und haben ei- nige dieser Ziele schon erreicht. Gerade mit der fami- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Eichstädt lienfreundlichen Wohneigentumsförderung kommen Bohlig, bitte halten Sie sich an die Geschäftsord- wir den jungen Familien entgegen. nung! (Hanns-Peter Hartmann [PDS]: Und den (BÜNDNIS 90/DIE Arbeitslosen?) Franziska Eichstädt-Bohlig GRÜNEN): - in dem Wohnungen dringend ge- Ich würde mich freuen, wenn Sie die Möglichkeit braucht werden? wahrnehmen würden, auch die eine oder andere Zahl nach draußen zu geben. Wir haben eine ent- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau spannte Lage auf dem Wohnungsmarkt. In meiner Kollegin Eichstädt-Bohlig, das Problem ist bekannt. Heimatstadt Wiesbaden sind die Mieten im Durch- Ich habe mich ausdrücklich auf Großstädte bezogen schnitt um 8 DM pro Quadratmeter gefallen. Man spricht in den bundesdeutschen Großstädten schon (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) 10142 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) und habe deshalb das Beispiel Berlin-Weißensee ge- desrepublik haben wir noch nie eine so hohe Ob- nommen. Ich nenne Ihnen noch einmal die Zahlen. dachlosigkeit gehabt. Sie brauchen nur einmal an In Berlin-Weißensee - das ist Großstadt - sind 1 048 den Bonner Bahnhof zu sehen, - Wohnungen, davon 40 Prozent Leerstände. Ich habe nicht von Schleswig-Holstein und von ländlichen Re- (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr gionen gesprochen, sondern von der Großstadt Ber- Hannelore Rönsch Kollege Gilges, Sie müssen keine Ausführungen ma- lin. chen. Ich habe das Problem verstanden. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann fragen Sie einmal nach den Gründen!) Konrad Gilges (SPD): - wie viele Leute da im Freien schlafen, oder in den Bahnhöfen in Berlin, - Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Die zweite Frage kommt von dem Kollegen Formanski. Bitte Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Gilges! sehr.

Konrad Gilges (SPD): - wie viele keine Unterkunft Norbert Formanski (SPD): Frau Rönsch, Sie sagten haben, - gerade, daß die Mieten um 8 DM pro Quadratmeter gefallen seien. Würden Sie bitte den Betrag nennen, von dem aus sie um 8 DM gefallen sind? Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Präsident! (Zuruf von der CDU/CSU: 9 DM! - Heiter keit bei der CDU/CSU) Konrad Gilges (SPD): - wie viele unter den Brük- ken leben müssen, Frau Kollegin. Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ich hatte meine Stadt Wiesbaden als Grundlage genom- men. Die Stadt Wiesbaden liegt im oberen Preisseg- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Gilges, ment. Die Mieten sind von 25 auf 18 bzw. 17- DM ge- ich rufe - - fallen. (Zurufe von der SPD) (Konrad Gilges [SPD]: Diese Arroganz!) - Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber das zeigt - Herr Gilges, Sie haben nicht das Wort. doch, daß im breiten Mietspektrum Bewegung ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Lie- sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augs ber Herr Kollege Gilges, ich weiß nicht, woher Sie burg] [F.D.P.]) die Ungezogenheit für diese Unterstellung nehmen. Sie haben sich mit diesem Problem offensichtlich Ich würde Ihnen allen, die im November letzten Jah- überhaupt noch nicht vertraut gemacht. res geredet haben, empfehlen: Lesen Sie doch ein- mal Ihre Redebeiträge nach! (Konrad Gilges [SPD]: Sie! Sie!) (Achim Großmann [SPD]: Das ist doch keine Denn wenn Sie sich einmal damit befaßt hätten, mit Durchschnittszahl!) Obdachlosen geredet hätten, dann hätten Sie sich auch mit den Ursachen der Obdachlosigkeit, Ich hätte schon erwartet, daß der eine oder andere sich heute abend ein wenig korrigierte. (Konrad Gilges [SPD]: Sie haben ihre Miete nicht bezahlen können!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augs die nicht im Fehlen des Daches über dem Kopf lie- burg] [F.D.P.]) gen, sondern aus tiefen persönlichen Schicksalen herrühren, vertraut machen müssen. Es ist eine so- zialpolitische Frage - - Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Die dritte Frage kommt von dem Kollegen Gilges. (Konrad Gilges [SPD]: Arbeitslosigkeit! - Weitere Zurufe von der SPD und der PDS) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Klar doch. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Einen Augen- blick! Konrad Gilges (SPD): Frau Kollegin, sind Sie be- reit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Statistik der (Wiesbaden) (CDU/CSU): Länder und des Bundes ausweist, daß wir noch nie in Hannelore Rönsch Selbstverständlich kann Arbeitslosigkeit Ursache der Geschichte der Bundesrepublik eine so hohe Ob- sein. dachlosigkeit gehabt haben wie in diesem und in den vergangenen Jahren? Haben Sie das alles ver- drängt, oder haben Sie dazu keinen Bezug? Es kann Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Einen Augen- ja sein, daß es in Wiesbaden und Berlin-Weißensee blick, Frau Kollegin Rönsch! - Herr Kollege Gilges, Probleme in der Wohnungsvermietung gibt. Dafür ich habe Sie eben schon ermahnt. Wenn Sie sich gibt es auch Ursachen. Aber in der gesamten Bun- nicht an die Geschäftsordnung halten, rufe ich Sie Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10143

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch zur Ordnung. Sie haben nicht das Wort; ich bitte Sie, und präzise sein. Stellen Sie Ihre Frage, sonst ent- sich an die Geschäftsordnung zu halten. ziehe ich Ihnen das Wort. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (SPD): Können Sie mir sa- Frau Kollegin Rönsch, bitte. Dr. Barbara Hendricks gen, wie eine Einzelhandelskauffrau mit einem Net- -toeinkommen von etwa 1 700 bis 1 800 DM eine 50 Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Quadratmeter-Wohnung, die nach Ihrem Beispiel Kollege Gilges, ich würde mir wünschen, daß Sie vorher 1 250 DM gekostet hat und jetzt 850 DM ko- sich mit weniger Emotionen, aber dafür mit mehr stet, bezahlen soll? Ernst und Tiefsinn dieses Problems annehmen wür- den. Denn das Schicksal dieser Menschen kann aus Arbeitslosigkeit, aus Ehescheidung, aus Krankheit, Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Liebe zum Beispiel auch aus Alkoholproblemen resultieren. Frau Kollegin, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten Aber es ist nicht eine Frage des Daches über dem vielleicht aus Ihrer Stadt Beispiele mitgebracht oder Kopf. sich beim Mieterschutzverein oder bei „Haus und Grund" erkundigt, wie die Preisentwicklungen sind. (Achim Großmann [SPD]: Die Zahl der Dann hätten wir ein breiteres Spektrum gehabt. Ich Wohnungsnotfälle ist gestiegen! Sie reden habe meine Heimatstadt als Grundlage genommen, um den heißen Brei herum!) und ich kann Ihnen sagen, daß auf dem Mietermarkt Deshalb muß man dieses Problem der Obdachlosig- Bewegung ist. Wenn ich weiter ausführen darf, keit anders angehen. werde ich das auch noch an einzelnen Beispielen sehr deutlich machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Offensichtlich wollen Sie weiterhin ignorieren, daß Frau Kollegin auch 1996 die höchste Anzahl von fertiggestellten Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Wohnungen im sozialen Wohnungsbau zu verzeich- Rönsch, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? nen ist und daß wir eine breite Bewegung hin zum - Mietermarkt haben. Ich habe vorhin ausgeführt, daß Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): rot-grüne Koalitionsvereinbarungen dies schon be- Selbstverständlich. stätigen. Das paßt bei Ihren Diskussionen nicht so ganz ins Bild. Frau Abgeord- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich werde auch an anderen Stellen noch zeigen, nete Hendricks, bitte schön. daß Sie manche Entwicklungen, die Ihnen bekannt sind, verschweigen. Dabei sollten Sie Fortschritte, Dr. Barbara Hendricks (SPD): Frau Kollegin wie zum Beispiel bei der Bausparförderung veröf- Rönsch, darf ich auf das Beispiel der Mietpreissen- fentlichen. kung in Ihrer Stadt Wiesbaden, wie Sie zu sagen be- lieben, - (Abg. Klaus-Jürgen Warnick [PDS] meldet sich zu einer Zwischenfrage.) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ich komme dorther. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? von 25 DM pro Dr. Barbara Hendricks (SPD): - (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) Quadratmeter auf etwa 17 DM pro Quadratmeter zu- rückkommen? Darf ich Sie dann zunächst darauf auf- merksam machen, daß dies natürlich keinesfalls eine Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Nein. durchschnittliche Mietpreissenkung in verschiede- - Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Braun nen Preissegmenten ist, sondern allenfalls in diesem hat schon auf die Entwicklung im Wohnungsmarkt Beispiel stimmen kann? hingewiesen. Ich meine, daß wir mit unserem Eigen- Darf ich Sie darüber hinaus fragen, wie zum Bei- heimzulagengesetz einen weiteren, sehr wesentli- spiel eine vollzeitberufstätige Einzelhandelskauffrau chen Schritt gerade für junge Familien getan haben. mit einem Nettoeinkommen, das kaum über 1 800 Das Eigenheimzulagengesetz ermöglicht es gerade jungen Familien mit Einkommen zwischen 50 000 DM liegt, eine Wohnung, die vorher vielleicht - - und 70 000 DM, wesentlich schneller an Eigentum zu kommen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Sekunde, Frau Hendricks. Sie wollten eine Frage stellen. Wenn man sich die Bundesrepublik Deutschland im internationalen oder europäischen Vergleich be- trachtet, muß es schon erstaunen, daß junge Men- Dr. Barbara Hendricks (SPD): Ich habe die ganze Zeit „Darf ich Sie fragen ...?", „Darf ich Sie darauf schen bei uns erst im Durchschnittsalter von aufmerksam machen ...?" formuliert, Herr Präsident. 38 Jahren Eigentum erwerben wollen. (Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nach § 27 der DIE GRÜNEN]: Was heißt „wollen"? Kön Geschäftsordnung müssen die Zwischenfragen kurz nen!) 10144 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) Wir liegen hier im europäischen Vergleich ganz weit CDU stellt den Antrag. Ich hätte mir gewünscht, daß unten. Deshalb ist diese Eigenheimförderung und Sie Ihre Bundesländer entsprechend auf den Weg ge- diese Familienförderung so zwingend wichtig, damit bracht hätten. auch junge Familien mit Kindern die Möglichkeit ha- ben, Eigentum zu erwerben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch ei- nen weiteren Punkt erwähnen. Ich denke, gerade für Wir haben gerade bei den Einkommen um 50 000 junge Bauwillige ist es ausgesprochen wichtig, daß DM im Vergleich zum alten § 10e eine Steigerung die vom Bundesbauminister initiierte Kostensen- von 9 500 DM im Jahr. kungsinitiative endlich umgesetzt wird. Ich bin neu- (Zuruf des Abg. Achim Großmann [SPD]) gierig, was die Untersuchungen von Pilotprojekten aussagen werden. Wir haben bereits die ersten Mel- - Herr Kollege Großmann, auch das können Sie nicht dungen, daß bei Einsparungen von 100 000 bis leugnen. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gerade bei 150 000 DM zum Beispiel jede dritte Familie, die in der Eigenheimförderung mitgearbeitet und mitbe- einer Mietwohnung wohnt, zum Eigentumserwerb stimmt haben. bereit wäre. Diese Kostensenkungsinitiative muß von uns weiter vorangetrieben werden. (Achim Großmann [SPD]: Wir hatten zehn Jahre Arbeit, damit Sie das gemacht Auch die Initiative „Das junge Haus" trägt dazu haben!) bei, daß Familien mit mittleren und unteren Einkom- Wenn zum Beispiel in Selbsthilfe ein Eigenheim er- men die Möglichkeit erhalten, Eigentum zu erwer- baut wird, ist es nun für eine junge Familie möglich, ben. Ich will auch noch einmal an die Kommunen die Baukosten um die Hälfte zu senken. appellieren, Bauland zur Verfügung zu stellen. Denn man kann nur dann günstig bauen, wenn entspre- (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) chende Grundstücke vorhanden sind. Wir sollten auch eine weitere Erfolgsmeldung nicht (Beifall bei der CDU/CSU) verschweigen: In den ersten fünf Monaten- dieses Jahres sind bei den 13 Landesbausparkassen über Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müs- 700 000 neue Bausparverträge abgeschlossen wor- sen in dieser Legislaturpe riode auch an die Fehlbele- den. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle be- gungsabgabe herangehen. Das ist heute immer wie- kommen solche Erfolgsmeldungen doch auch auf der von Ihnen beklagt worden. den Tisch. Da frage ich mich, warum man in einer Ich appelliere an die Fehlbeleger: Es ist ein sozia- Presseerklärung von Ihnen nicht auch einmal die les Unrecht, wenn man eine Wohnung fehlbelegt, Meldung findet, daß zum Beispiel bei 13 Landes- also ein zu hohes Einkommen hat. Man hat dann bausparkassen im ersten Halbjahr 1996 700 000 neue doch die Möglichkeit, sich auf dem freien Woh- Verträge abgeschlossen worden sind. nungsmarkt mit einer Wohnung zu versorgen. Die In diesem Papier steht ein schöner Satz: fehlbelegte Sozialwohnung könnte dann an die wirk- lich bedürftigen Sozialmieter gegeben werden. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres hatte die Sparkassenorganisation der 13 LBS mit über Wenn jeder sein soziales Gewissen schärfen und 700 000 neu abgeschlossenen Bauverträgen ein entsprechend handeln würde, müßte der Gesetzge- Plus von 48,1 Prozent zu verzeichnen und er- ber nicht eingreifen. Denn jeder Fehlbeleger weiß, reichte eine Bausparsumme von 23 Milliarden daß er Unrecht am Sozialstaat und an den jungen DM. Familien begeht. (Achim Großmann [SPD]: Wir haben keinen Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch Beratervertrag mit Bausparkassen!) etwas Versöhnliches. Ich bin ausgesprochen dank- Ich denke, daß wir den jungen Familien auch hier bar, daß gestern im Ausschuß für Raumordnung, ein Riesenstück entgegengekommen sind und damit Bauwesen und Städtebau die Privilegierung der auf dem richtigen Weg sind. Windenergie einvernehmlich abgeschlossen werden konnte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND Wir haben heute verschiedentlich auch das Wohn- NIS 90/DIE GRÜNEN) geld angesprochen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben permanent beklagt, daß nichts passiert sei. Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß wir von der Ich wundere mich, daß es dann das Land Sachsen ist, CDU/CSU-Fraktion über ein Jahr ringen mußten. das im Finanzausschuß des Bundesrates den Antrag (Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ stellen muß, das Sonderwohngeld Ost um ein Jahr zu DIE GRÜNEN]: Wer war denn der Blockie verlängern. rer?) (Achim Großmann [SPD]: Das war Thürin - Sie haben eben nicht zugehört. Ich gestehe Ihnen gen!) zu: Wir von der CDU/CSU-Fraktion mußten ein Jahr - Das ist vollkommen egal. Es ist ein CDU-geführtes ringen. Und ich sage Ihnen, dieses Ringen hat uns Land aus den neuen Bundesländern. Wo sind denn gutgetan; denn diejenigen, die die planungsrechtli- Ihre Länder geblieben? Sie klagen hier an, und die che Erleichterung vornehmen wollten, befanden sich Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10145 Hannelore Rönsch (Wiesbaden) mit den Umwelt- und Naturschützern in einem ern- fehlende Kaufbereitschaft auf die unzureichend zur sten Konflikt. Verfügung stehenden finanziellen Mittel und die ge- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr ringe Attraktivität der Mehrzahl der angebotenen wahr!) Wohnungen. Aber auch fehlende grundbuchrechtli- che Eigentumszuordnungen spielten eine wesentli- Wir wollten, daß die Kommune ihre Planungsho- che Rolle. heit erhält bzw. daß diese ein Stück ausgebaut wird, damit wir naturschützerischen und touristischen In unserem Bericht haben wir damals darauf hin- Argumenten weiterhin entsprechen können. gewiesen, daß diese Erkenntnisse, die übrigens auch in anderen Modellstädten gewonnen wurden, ent- (Beifall bei der CDU/CSU) sprechend zu berücksichtigen sind und mit geeigne- ten Maßnahmen gegengesteuert werden muß. Allerdings wollten wir auch eine Privilegierung einer Nichts geschah. Energie, die zukunftsweisend ist. Das Altschuldenhilfe-Gesetz war nach unserer An- sicht in der ursprünglichen Fassung von vornherein Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Frau Kollegin Rönsch, achten Sie bitte auf die Zeit. zum Scheitern verurteilt. Daß sich dies auch in der Praxis bewahrheitet hat, zeigt sich daran, daß nach Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau bislang Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Liebe bei zirka 360 000 gestellten Anträgen auf Teilentla- Kolleginnen und Kollegen, wenn die Diskussion im stung nur etwa 65 000 Wohnungen privatisiert wor- Wohnungsbau so sachlich und einvernehmlich ver- den sind und von diesen nur ein ganz geringer Teil läuft, wie es heute teilweise der Fall war - Sie haben an die in ihnen wohnenden Mieter. Daran hat selbst vom November letzten Jahres dazugelernt -, dann ist die Unterstützung durch das Erwerberzuschußpro- mir um die Wohnungspolitik nicht bange. gramm nichts Wesentliches geändert. An diesem Er- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gebnis ist auch für die Koalition unschwer zu erken- nen, daß das Altschuldenhilfe-Gesetz tatsächlich ge- - scheitert ist. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Albrecht Papenroth, SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) Albrecht Papenroth (SPD): Sehr geehrter Herr Prä- Welche Schlußfolgerungen haben Sie als Mehr- sident! Meine Damen und Herren! Zuerst ein Wort heitskoalition nun aus dieser Misere gezogen? an Frau Kollegin Rönsch. Damit Sie die Vertretung des DMB nicht allein an der Anwesenheit der Präsi- (Zuruf von der CDU/CSU: Die richtigen!) dentin festmachen: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Es gab bisher keinen Hinweis darauf, daß der be- daß mindestens drei Vertreter des DMB in diesem absichtigte Verkauf vorrangig an die Mieter in Zu- Raume anwesend sind. kunft einen merklichen Aufschwung erfahren wird. (Beifall bei der SPD) Der Verkauf dümpelte weiter vor sich hin und be- schränkte sich auf den ständig abnehmenden Be- Meine Damen und Herren, seit ich im Bundestag stand der Ein- und Zweifamilienhäuser, teilweise bin, stelle ich mir immer wieder die Frage, weshalb auch auf kleinere Mehrfamilienhäuser in bevorzug- Alltagsfragen so oft durch die Koalitionsmehrheit ten Wohnlagen. halbherzig, ja wirklichkeitsfremd und an den Realitä- ten vorbei entschieden werden. Ein Musterbeispiel Anstatt den Kaufanreiz bei den Erwerbern durch dafür ist die in vielen Punkten umstrittene und frag- zusätzliche - damit meine ich ausreichend wirksame - würdige Altschuldenproblematik. Sie belastet insbe- Vergünstigungen zu stimulieren, wurde weiterhin sondere die ostdeutschen Wohnungsunternehmen Druck auf die Veräußerer ausgeübt. und sollte durch die Umsetzung des Altschulden- Sie müssen zugeben, meine Damen und Herren hilfe-Gesetzes aus der Welt geschaffen werden. der Koalition, dieses Verfahren ist schon von der Das ursprüngliche Ziel des Altschuldenhilfe-Ge- kaufmännischen Herangehensweise absurd und kontraproduktiv. setzes bestand darin, vorrangig den Mieterinnen und Mietern der neuen Bundesländer die Möglichkeit zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne geben, ihre oftmals langjährig gemieteten Wohnun- ten der PDS) gen zu kaufen. Um die Kaufbereitschaft dieser Bür- ger zu testen und die geeignetsten Angebots- und Oder haben Sie schon einmal erlebt, daß ein Verkäu- Verkaufsmethoden ausfindig zu machen, wurden zu fer, ohne auf das Kaufverhalten seiner Käufer einzu- Beginn einige Modellstädte dafür ausgewählt. gehen, mehr Waren an den Mann bringt, wenn er von steigenden Erlösabführungen bedroht ist? Ich bin Mieterbundvorsitzender in meinem Wahl- kreis und habe auf Wunsch eines ehemaligen Abge- Gegen die progressive Erlösabführung haben sich ordneten Ihrer Koalition, der mit einem Modellvorha- nicht nur wir als Opposition, sondern haben sich ben beauftragt war, diesen Privatisierungstest aktiv auch Fachgremien, die durch den direkten Kontakt begleitet. Was kam nun dabei heraus? mit den Eigentümern und den potentiellen Erwer- bern Sachverstand einbringen, wie zum Beispiel der Neben den unterschiedlichsten subjektiven Grün- Gesamtverband der Wohnungswirtschaft und der den konzentrierten sich die Schwerpunkte für die Deutsche Mieterbund, ausgesprochen. 10146 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Albrecht Papenroth Immer wieder haben wir in den letzten drei Jahren Erklärung eines angeblich notwendigen Anreizes zur mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die progres- Veräußerung nicht glaubhafter. Leider wurde die be- sive Erlösabführung in eine Sackgasse führt und in reits erwähnte Bevorteilung der Zwischenerwerber eine lineare umgewandelt werden muß. Nur so kann im Änderungsantrag nicht aufgehoben. das genannte ursprüngliche Anliegen, privates (Zuruf von der SPD: Leider, das stimmt!) Wohneigentum zu schaffen, befördert und dadurch verhindert werden, daß sich die Wohnungsunterneh- Daß Wohnungsgenossenschaften, sobald die Be- men zu anderen Privatisierungsformen gezwungen reitschaft ihrer Mitglieder zum Eigentumserwerb er- sehen. schöpft ist, gezwungen werden sollen, an Dritte zu (Beifall bei der SPD) veräußern, bedarf auch noch einer Veränderung. Die Bundesregierung hat mit der progressiven Er- Genossenschafter zu überzeugen, daß sie sich lösabführung bisher erreicht, daß durch den Priva- ohne Not und Nutzen zu einer Ausgründung mit hö- tisierungsdruck viele Unternehmen der Wohnungs- herer Belastung bekennen sollen, gehört schon in wirtschaft nur ihre Filetstücke losgeworden und auf den Bereich der Schildbürger. Während hier noch die den problematischen Plattenbauten sitzengeblieben Eigentumsfrage gleichbleibt, geht es bei der dann in sind, deren Privatisierung schwer oder gar aussichts- Frage kommenden Veräußerung an Dritte um eine los ist. Die stärkere Hinwendung zu mieternahen Pri- für die betroffenen Genossenschafter fragwürdige vatisierungsmodellen sollte als Ausweg zur Erfüllung Zwangsenteignung. Und das, meine Damen und der Veräußerungsverpflichtung aus dem Altschul- Herren der Koalition, werden Sie im Ernst nicht wol- denhilfe-Gesetz beitragen. len. Welche Auswirkungen künftig von der mögli- chen Bestellung von Erbbaurechten nach dem Woh- Meine Damen und Herren, wie sich doch so ein nungseigentumsgesetz zu erwarten sind, wird die Schwerpunkt wandeln kann: von der ursprünglichen Umsetzung dieses Beschlusses letztlich zeigen. Zielsetzung der Schaffung privaten Wohneigentums hin zu einer Erfüllung der Veräußerungsverpflich- Insgesamt kommt diese halbherzige Novellierung tung. Das ist doch eine für die Koalition bezeich- viel zu spät und wäre bei weniger Lobbyismus von nende Auffassungsakrobatik. - Anfang an gar nicht erforderlich gewesen. (Zuruf von der SPD: Das ist wohl wahr!) (Beifall bei der SPD) Die Bundesregierung hat inzwischen über den Dennoch ist die vorgeschlagene Regelung zugege- Lenkungsausschuß auf das Scheitern ihres Privatisie- benermaßen eine kleine Verbesserung und hilft der rungskonzepts reagiert. Sie hat sich durch eine Kon- Wohnungswirtschaft weiter. kretisierung der Anerkennung von Zwischenerwer Wenn nunmehr die Sprecher der CDU/CSU erklä- bermodellen endgültig von dem - für alle sichtbar - nunmehr als scheinheilig erkannten Zielen der Mie- ren, mit dieser Reform erhalte die Wohnungsprivati- terprivatisierung verabschiedet. Zwischenerwerber sierung eine faire Chance, muß ich schon staunen. erhalten damit die Möglichkeit, ihre Verpflichtung Das heißt doch letztlich nichts anderes, als daß diese zur Veräußerung an die Mieter auf 40 Prozent des faire Chance entgegen allen bisherigen Beteuerun- übernommenen Wohnungsbestandes zu beschrän- gen der Bundesregierung bis jetzt nicht bestanden ken. hat. (Beifall bei der SPD) Gleichzeitig weist die Kreditanstalt für Wiederauf- bau darauf hin, daß Zwischenerwerber, die ihren Um auf die Frage am Anfang meiner Rede zurück- Verpflichtungen zur Mieterprivatisierung nicht nach- zukommen, zum Schluß noch ein kleiner Hinweis an kommen, keine Sanktionen zu befürchten haben. die Vertreter der Opposition: Beherzigen Sie die Weshalb diese bis jetzt einseitige Regelung nicht Weisheit des großen Reformators, von dem Sie einen auch für die Wohnungsunternehmen gelten kann, Namensvetter in Ihrer Fraktion haben. Meine Damen wird wohl schwerlich von der Koalition zu begrün- und Herren, schauen Sie öfter mal den Betroffenen den sein. aufs Maul und entscheiden Sie künftig mehr mit dem Kopf und etwas weniger mit dem Bauch. Mehr als drei Jahre hat es nun gedauert, bis die Vertreter der Koalition aus ihrer Lethargie erwacht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind. Aber weit gefehlt, wenn man nun annehmen DIE GRÜNEN - Dr.-Ing. Dietmar Kansy könnte, daß sie den Fehler der progressiven Abfüh- [CDU/CSU]: Etwas weniger Selbstgerech rung eingesehen hätten. Es scheint schon Altersstarr- tigkeit wäre auch ganz gut!) sinn zu sein, daß sie nur eine Abflachung der Abfüh-

rungskurve zustande brachten und sich vor einer li- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der nearen Abführung fürchten wie der Gehörnte vor Kollege Rolf Rau, CDU/CSU. dem Weihwasser. Es könnte ja sein, daß sie anson- sten einen Fehler zugeben würden. Rolf Rau (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsi- (Beifall bei der SPD) dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Christdemokraten arbeiten mit Herz und Kopf; das Die Erlösabführung soll nun weiterhin progressiv sollte man hier einmal deutlich sagen. bleiben, aber bis zum Jahre 2001 in drei Schritten auf 55 Prozent begrenzt werden. Die Grundtendenz be- Vor 14 Tagen stellte auf einer Veranstaltung im steht weiterhin und wird auch durch die fragwürdige neuen Messe-Center in Leipzig, an der ich teilneh- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10147

Rolf Rau men konnte, ein Vertreter einer bekannten Bank, die Ich bin froh, daß wir mit der Korrektur des Alt- im Umgang mit dem Wohnungsbestand der Platten- schuldenhilfe-Gesetzes erfolgreich voranschreiten. bauten noch gar keine Erfahrung in den neuen Län- Die Abflachung der Abführungsquote in den Erbla- der gesammelt hat, auf ein Gutachten sich stützend, stentilgungsfonds von 60 auf 45 Prozent setzt Liquidi- gleich einmal fest, man müsse 30 Prozent dieser Häu- tätsmittel frei und sichert für die nächsten zwei Jahre ser abreißen. Hier stellt sich schon eher die Frage, ob und darüber hinaus, daß bei den Arbeiten für die sich hinter dieser Aussage reine Naivität oder be- Mieterprivatisierung, aber auch bei der Arbeit mit stimmte Absichten verbergen. Zwischenerwerbern und Genossenschaften Konti- nuität beibehalten wird. Durch diesen Entwurf wer- Wie bekannt, haben die Wohnungsgesellschaften den die Unternehmen geschützt, bei denen es zum und Genossenschaften mit rund 29 Milliarden DM Beispiel durch die nicht vorhandene Zuordnung von aus dem Altschuldenhilfe-Gesetz ihre Unternehmen Grund und Boden zu Verzögerungen kam. Durch die entlastet. Nichtberücksichtigung der SPD-Forderung nach ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ner 40prozentigen linearen Abführung verhindern wir gleichzeitig, daß fleißige Privatisierer bestraft Ich möchte daran erinnern, daß der Chef des GdW, werden. der bei uns im Ausschuß war, sogar das Wort „Se- gen" in den Mund genommen hat, als er davon Ich denke, daß wir mit der Lösung - ich könnte mir sprach, daß diese Möglichkeit den Gesellschaften auch eine zweistufige Erhöhung vorstellen - und der und Genossenschaften an die Hand gegeben wurde. Möglichkeit der Anwendung des Erbbaurechtes eine Erst dadurch bestand die Chance, die Wohnungs- gute Ausgewogenheit geschaffen haben. Angerei- wirtschaft in den Unternehmen auf gesunde Füße zu chert durch die hohe Eigentumsförderung, die seit stellen. Anfang des Jahres auf dem Weg ist, ergibt das Poten- tiale im Wohneigentumsbereich aus dem Bestand. Ich möchte dabei auch noch einmal daran erinnern - das klang bereits in einem Beitrag hier an -, daß es Sorge macht mir dabei - ich möchte das kurz an- mit Modellversuchen immer so eine Sache ist. Ich sprechen - die Städtebauförderung. Es gehört dazu, kann andere Beispiele nennen. Wir haben auch ge- daß wir, wenn wir in den Bereich der kompletten nügend Modellversuche, in denen bis zu 85 Prozent Plattenbausiedlung hineingehen, auch in der Lage der Bürger die Wohnung gekauft haben. Also ist da sein müssen, einmal ein Objekt zu entkernen und da- genau das Gegenteil dessen passiert, was hier eben mit Infrastruktur zu gestalten sowie angenehme vorgehalten wurde. Wohn- und Lebensbedingungen zu schaffen, damit Unter Einbeziehung der zahlreichen Wohnungs- auch die Fragen des sozialen Zusammenlebens be- neubauten im mehrgeschossigen Wohnungsbau, gleitet werden. aber auch im Reihen-, Doppel- und Einfamilienhaus- Ich möchte auch noch einmal hervorheben, daß wir bereich wird deutlich, daß der Wohnungsmarkt in im Zusammenhang mit dem Wohngeld auf be- Ostdeutschland in Bewegung geraten ist. Die Tatsa- stimmte Schwierigkeiten gestoßen sind, und ich che, daß in einzelnen Wohnbereichen nach kürzester möchte hier deutlich unterstreichen, daß die Einfüh- Zeit Leerstände entstanden sind, wirkt mietpreisre- rung eines verbesserten Wohngeldes für Gesamt- duzierend, zeigt aber auch Probleme der Umsied- deutschland im Anschluß an die Wohngeldregelung lung, also der Wohnungsmarktveränderung, auf. in den neuen Bundesländern erfolgen muß und ge- Auch stimmen oft Preis und Qualität nicht überein. gebenenfalls in zwei Stufen ab dem 1. Januar 1997 Im Rahmen der Wohnungsprivatisierung sind in eingeführt werden sollte. Wenn es nicht anders geht, den einzelnen Ländern unterschiedliche Ergebnisse sollte über die Verlängerung des Wohngeld-Ände- erzielt worden. Jeder muß wissen: Ohne die Priva- rungsgesetzes oder über § 42 des Wohngeldgesetzes tisierung und ohne Veräußerung wäre eine Moderni- eine Lösung gefunden werden. sierung und Sanierung in den neuen Ländern kaum möglich gewesen. Abschließend sage ich, daß ich froh bin, daß wir als Parlament in der Lage sind, so, wie wir Prozesse auf (Beifall bei der CDU/CSU) den Weg gebracht haben, sie zu begleiten und, wenn wir Erkenntnisse gesammelt haben, die an unseren Erst durch die Sonderabschreibung, die ohne Zweifel Vorstellungen vorbeigelaufen sind, auch die Kraft ein wichtiger Faktor ist, und durch das MW-Pro- haben, Veränderungen vorzunehmen. gramm, gepaart mit den Länderprogrammen, ist es möglich, den Nachholbedarf in der Sanierung der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Altbestände, der allein im Bauschadensbericht mit rund 130 Milliarden DM angegeben wird, in den nächsten Jahren abzuarbeiten. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort zu ei- ner Kurzintervention hat die Kollegin Eichstädt-Boh- Auf Grund der Mietendeckelung - wie Sie wissen, lig. liegt die Kappungsgrenze für die Modernisierung bei 3 DM pro Quadratmeter - sind hier wi rtschaftliche Entwicklungen ja nicht unmittelbar möglich gewe- Franziska Eichstädt - Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE sen. Insofern müssen wir alles tun, um die erhebliche GRÜNEN): Frau Rönsch ist kurz hinausgegangen. Konjunkturabflachung des Baugewerbes und do rt Trotzdem möchte ich mich an sie wenden. besonders auch des mittelständischen Handwerks nicht zuzulassen. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Da kommt sie!) 10148 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Franziska Eichstädt-Bohlig Ich habe mir inzwischen die schleswig-holsteinische schüsse überwiesen werden wie der Wohngeld- und rot-grüne Koalitionsvereinbarung besorgt, um kor- Mietenbericht. Sind Sie damit einverstanden? - Dann rekt zitieren zu können. Do rt steht - ich möchte das sind die Überweisungen so beschlossen. vorlesen -: Tagesordnungspunkt 7 g, Überweisung des Antra- Die bisherige Leistungsbilanz im Wohnungsbau ges der Fraktion der SPD zur steuerlichen Förderung kann sich sehen lassen. Auch wenn sich Anzei- im Mietwohnungsbau. Interfraktionell wird vorge- chen der Entspannung auf dem Wohnungsmarkt schlagen, den Antrag auf Drucksache 13/3918 an die abzeichnen, muß die Förderung des Wohnungs- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu baus auf hohem Niveau fortgesetzt werden, um überweisen. Die Fraktionen haben sich zwischenzeit- den Bedarf zu decken. lich darauf verständigt, daß die Federführung beim Finanzausschuß liegen soll. Sind Sie damit einver- Das ist, so denke ich, doch etwas anderes als das, standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung was Sie vorhin gesagt haben, Frau Kollegin Rönsch. so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 7 b: Wir kommen zur Abstim- sowie bei Abgeordneten der SPD - Achim mung über die Beschlußempfehlung des Ausschus- Großmann [SPD]: Frau Rönsch hat nur ses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zum Falschmeldungen verbreitet! Aber das kann Raumordnungsbericht 1993 ; das sind die Drucksa- sie gut!) chen 12/6921 und 13/1740. Wer stimmt für diese Be- schlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Frau Kollegin - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Rönsch. Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Liebe PDS angenommen. Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, nichts anderes habe Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ich gesagt. ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Lachen bei der SPD - Dr. Uwe Küster- auf Drucksache 13/4964. Wer stimmt für diesen Ent- [SPD]: Das werden wir im Protokoll genau schließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - nachlesen!) Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bünd- Selbstverständlich muß die Förderung des sozialen nis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der Wohnungsbaus fortgeführt werden, damit Investoren SPD abgelehnt. weiterhin Anreiz haben zu investieren. Tagesordnungspunkt 7 c, Abstimmung über die Es werden in Zukunft noch mehr Ein- und Zwei- Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumord- personenhaushalte auf dem Wohnungsmarkt nach- nung, Bauwesen und Städtebau zum Großsiedlungs- fragen. Es wird also eine Verstetigung der Nachfrage bericht 1994; das sind die Drucksachen 12/8406 und geben, nur nicht mehr auf dem hohen Niveau der 13/1741. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Frak- vergangenen Jahre mit mehr als 600 000 Wohnun- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4965 gen. Es wird ausreichen, wenn es 470 000 Wohnun- vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für gen sind. diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen Ich habe nichts anderes gesagt, als daß sich der der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Op- Wohnungsmarkt beruhigt hat. Genau das steht in der position abgelehnt. Koalitionsvereinbarung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schusses für Raumordnung, Bauwesen und Städte- bau? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Be-

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich schließe die schlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- Aussprache. onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition an- genommen. Wir kommen jetzt zu den Überweisungen, zu- nächst zu denen der Tagesordnungspunkte 7 a, e, f, h Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- und i. Interfraktionell wird Überweisung der Vorla- schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksa- gen auf den Drucksachen 13/4254, 13/4949, 13/3665, che 13/4973. Wer stimmt für diesen Entschließungs- 13/4725 und 13/4837 an die in der Tagesordnung auf- antrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition Der Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des abgelehnt. Altschuldenhilfe-Gesetzes auf Drucksache 13/4949 soll jedoch nicht dem Finanzausschuß, sondern dem Tagesordnungspunkt 7 d: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städ- werden. Der Antrag der SPD zur Anhebung der Frei- tebau zu dem Entschließungsantrag der Fraktion betragsregelungen auf Drucksache 13/3665 soll zu- Bündnis 90/Die Grünen zu dem Bericht der Exper- sätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen wer- tenkommission Wohnungspolitik auf Drucksache 13/ den. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD 4533 Nr. I. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschlie- auf Drucksache 13/4968 soll an die gleichen Aus ßungsantrag auf Drucksache 13/1312 abzulehnen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10149

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Ge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun- genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- desregierung hat der Parlamentarische Staatssekre- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen tär Hauser. gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion ange- Hansgeorg Hauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- nommen. desminister der Finanzen: Sehr geehrter Herr Präsi- Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und dent! Meine Damen und Herren! Städtebau empfiehlt unter Nr. II seiner Beschlußem- (Unruhe) pfehlung auf Drucksache 13/4533 zu dem Bericht der Expertenkommission Wohnungspolitik sowie zur Stellungnahme der Bundesregierung dazu die An- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be- Hauser, warten Sie noch einen Augenblick! Wir wol- schlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltun- len den Freunden Gelegenheit geben, sich zurückzu- gen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen ziehen. Ich bitte allerdings darum, daß dies beschleu- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Op- nigt geschieht, so daß wir weiter verhandeln können. position angenommen. Ich müßte die Sitzung sonst für ein paar Minuten un- terbrechen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache ( [CDU/CSU]: Wir wollen 13/4971. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- dem Herrn Staatssekretär noch die Möglich trag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ent- keit geben, auf die Geburtstagsfeier zu schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti- gehen!) onsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS Ich bitte vor allem deshalb um Ruhe, weil der Herr bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ab- Staatssekretär, wenn ich es richtig sehe, heute Ge- gelehnt. burtstag hat; da hat er Anspruch darauf, daß wir ihm zuhören. Zusatzpunkt 5, Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., der -Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der der SPD und dem Bundesrat eingebrachten Gesetz- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entwürfe zur Änderung des Baugesetzbuchs. Das sind die Drucksachen 13/1733, 13/1736 und 13/2208. Das ist das mindeste. - Herr Kollege Hauser, bitte. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt auf Drucksache 13/4978, die Hansgeorg Hauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- Gesetzentwürfe zusammengefaßt in der Ausschuß- desminister der Finanzen: Ich bedanke mich für die fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Glückwünsche. Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der vom Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung zustim- Kraftfahrzeugsteuerreform geht die Bundesregie- men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- rung einen weiteren pragmatischen und zielorien- gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da- tierten Schritt zur stärkeren Einbeziehung ökologi- mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. scher Aspekte in das Steuerrecht. Dritte Beratung Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Emissionen, die vom Straßenverkehr ausgehen, zu dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- vermindern. Eine in diesem Rahmen wichtige Maß- ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der nahme ist es, die Kraftfahrzeugsteuer für die nach Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. neuestem technischen Stand emissionsarmen und verbrauchsgünstigen Pkws zu senken. Die bisheri- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: gen steuerrechtlichen Maßnahmen zur Förderung schadstoffarmer Pkws werden fortgeführt und um die Erste Beratung des von der Bundesregierung Förderung verbrauchsgünstiger Pkws, sogenannter eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dreiliterautos, ergänzt. stärkeren Berücksichtigung der Schadstoff- emissionen bei der Besteuerung von Personen- Die Steuerbelastung für die Pkws, die bei Ozon- alarm fahren dürfen - das sind jetzt 57 Prozent des kraftwagen (Kraftfahrzeugsteueränderungs- Fahrzeugbestandes -, bleibt unverändert. Pkws mit gesetz 1997 - KraftStÄndG 1997) einem höheren Schadstoffausstoß sollen allerdings - Drucksache 13/4918 — stärker belastet werden. So entsteht ein Anreiz, Alt- Überweisungsvorschlag: fahrzeuge mit einem schadstoffreduzierenden Ab- gassystem nachzurüsten oder auf schadstoffärmere Finanzausschuß (federführend) Fahrzeuge umzusteigen. Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Diese Neuregelung nützt nicht nur der Umwelt. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die verstärkte Nachfrage nach umweltfreundlichen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Kraftfahrzeugen ermöglicht Autoherstellern und Aussprache eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich da- Herstellern von Abgasnachrüstsystemen einen wei- gegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist teren Innovationsschub und dient damit der Stär- das so beschlossen. kung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. 10150 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser Umwelttechnologie ist ein wichtiger und rasch Das Rezept der Opposition, die alle ökologischen wachsender Zukunftsmarkt, der für die exportorien- Fragen mit einem Einstieg in eine ökologische Steu- tierte deutsche Wirtschaft immer bedeutsamer wird. erreform im nationalen Alleingang lösen will, lehnen Deutschland ist bereits bei vielen Produkten der Um- wir ab. Wer das versucht, geht wegen der mit einer welttechnologie Weltmarktführer. Diese Position solchen Reform verbundenen Haushalts- und Ar- wird gestärkt und kann ausgebaut werden. Dies beitsplatzrisiken einen gefährlichen Weg. trägt zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutsch- land bei. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem Entwurf eines Kraftfahrzeugsteuerände- Die ökologische Steuerreform wäre zudem mit der rungsgesetzes setzt die Bundesregierung ihre bereits großen Gefahr eines Anstiegs der Steuerquote und vor über einem Jahrzehnt begonnene wirkungsvolle vor allem der Staatsquote verbunden, Politik (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch (Beifall des Abg. Wolfgang Schulhoff [CDU/ nicht wahr!) CSU]) die wir verringern wollen. Die Ergebnisse einer IWF- Studie zeigen auch für Deutschland deutlich den ne- der zielorientierten Ausgestaltung des Steuerrechts gativen Zusammenhang zwischen der Größe des öf- unter Umweltgesichtspunkten fort. fentlichen Sektors und dem Wirtschaftswachstum. (Beifall bei der CDU/CSU) Der immer wieder vorhergesagte beschäftigungs- Wichtige Beispiele hierfür sind unter anderem die fördernde Effekt einer ökologischen Steuerreform ist steuerliche Begünstigung umweltverträglicherer höchst unsicher. Das hat vor wenigen Tagen das Kraftstoffe und Kraftfahrzeuge oder die Förderung Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsfor- der Kraft-Wärme-Koppelung. Zuletzt wurden im schung in Essen bestätigt. Nach einer vom nord- Rahmen der Neuregelung des Wohneigentumsförde- rhein-westfälischen Wirtschaftsminister in Auftrag rungsgesetzes besondere Ökozulagen für energie- gegebenen Studie würden bei einer progressiven sparendes Bauen eingeführt. Energieabgabe allein in den alten Bundesländern über 400 000 Arbeitsplätze verloren gehen. Mit dieser Politik wird eine umweltorientierte Len- kung im Steuersystem erreicht, ohne durch Radikal- (Elke Ferner [SPD]: Was hat das mit der kuren Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen und ohne Kfz-Steuer zu tun?) den primären Zweck der Steuern, nämlich die allge- Zu hoffen, mit der Verteuerung des Faktors Ener- meine Finanzierung der Staatsausgaben, in Frage zu gie würden sich über den Marktmechanismus quasi stellen. automatisch und simultan neue Arbeitsplätze schaf- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) fen lassen, ist nach Auffassung des RWI nicht nur naiv, sondern wirtschaftspolitisch unverantwo rtlich. Der Bundesverfassungsrichter Professor Kirchhof und viele Experten, beispielsweise der Sachverstän- Ökosteuer-Modellen, die eine Besteuerung der digenrat, warnen zu Recht vor einer Überfrachtung Energie nur beim Endverbraucher vorsehen - so wie des Steuersystems mit Lenkungssteuern. Vergessen es seit kurzem von der SPD zu hören ist - hat das wir nicht: Die zentrale Herausforderung für Politik RWI ebenfalls eine Absage erteilt, da sie ökologisch und Gesellschaft in den nächsten Jahren ist die Si- nichts bringen. cherung und Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeits- Auch die Bundesregierung will eine spürbare Sen- plätze. kung der Lohnzusatzkosten. Eine dauerhafte Sen- (Beifall bei der CDU/CSU) kung kann aber nur durch Konsolidierungsanstren- gungen in den Sozialversicherungssystemen selbst Die Produktions-, Investitions- und Beschäfti- erreicht werden. Eine steuerfinanzierte Reduzierung gungsbedingungen am Standort Deutschland müs- der Arbeitskosten ist nicht der richtige Weg, schon sen verbessert werden, um im verstärkten globalen gar nicht durch neue Ökosteuern. Wettbewerb bestehen zu können. Deshalb - das sei an dieser Stelle gesagt - muß die dritte Stufe der Un- (Beifall bei der CDU/CSU) ternehmenssteuerreform schnellstens verwirklicht werden. Umweltsteuern haben - wie auch vom Sachver- ständigenrat in seinem letzten Jahresgutachten fest- (Beifall bei der CDU/CSU) gestellt - sachlogisch aber auch gar nichts mit der Hier muß jeder Farbe bekennen. Dazu fordere ich notwendigen Senkung von Lohnzusatzkosten zu tun. insbesondere die SPD auf. Was hat übrigens der Rentner davon, daß seine Ener- gierechnung steigt, er aber von den Entlastungen (Detlev von Larcher [SPD]: Aber das muß nicht profitiert? nicht heute sein!) Auf EU-Ebene setzt sich die Bundesregierung wei- Ein investitions- und wachstumsfreundliches Steu- terhin für eine Harmonisierung der Energiebesteue- errecht, das Modernisierungsinvestitionen, die in al- rung unter CO2- und Energiegesichtspunkten ein. ler Regel auch ökologische Vorteile bringen, erleich- Obwohl Deutschland den im Jahre 1992 vorgelegten tert, dient ebenso dem Umweltschutz wie der Schaf- Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission fung der dringend benötigten Arbeitsplätze. für eine EU-weite CO2-/Energiesteuer von Anfang Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10151

Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser an engagiert unterstützt hat, konnte bisher kein Kon- und Arbeitsplätzen Ökosteuern einzuführen halten sens erreicht werden. wir für den falschen Weg. Das eine geht ohne das an- dere nicht. Zielgerichtete und pragmatische Umwelt- Vor diesem Hintergrund wurde die Kommission im politik und Wachstumspolitik sind zwei Seiten einer März 1996 vom Rat für Wirtschafts- und Finanzfra- Medaille. gen aufgefordert, so rasch wie möglich neue Richtli- (Beifall bei der CDU/CSU) nienvorschläge zu unterbreiten. Grundsätzlich unter- stützt die Bundesregierung den von der Kommission angekündigten Ansatz, die harmonisierte Mineralöl- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der steuer unter CO2-/Energiegesichtspunkten ökolo- Kollege Detlev von Larcher, SPD. gisch sinnvoll und wettbewerbsneutral auch auf an- dere Energieträger zu übertragen. Dabei sollten zu- Detlev von Larcher (SPD): Herr Präsident! Meine sätzlich die Steuersätze für Mineralöle, insbeson- lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekre- dere für Kraftstoffe, stärker harmonisiert werden. tär, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zum Geburts- Meine Damen und Herren, Umweltschutz und die tag. Bewahrung der Schöpfung sind hohe Güter und (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) wichtige politische Aufgaben. Ich möchte Ihnen auch ein Geschenk machen, und Wer aber glaubt, ein schonender Umgang mit un- zwar möchte ich Ihnen unseren Antrag zur ökologi- seren Ressourcen und ein besserer Umweltschutz sei schen Steuerreform schenken, aber nur dann, wenn über Ökosteuern und rigides Ordnungsrecht auf Ko- Sie versprechen, ihn wirklich zu lesen, damit Sie sten von Wachstum und Arbeitsplätzen zu erreichen, nicht wieder behaupten, die Steuer- und Abgaben- der irrt. quote würde bei Erfüllung unseres Antrages erhöht werden.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Horst Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle- Friedrich [F.D.P.]: Das ist ja kein Geschenk, gin Ganseforth? wenn er es lesen muß!) Dann bin ich sogar bereit, ein rotes Schleifchen her- Hansgeorg Hauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- umzubinden. desminister der Finanzen: Bitte sehr, Frau Kollegin. (Abg. Wolfgang Schulhoff [CDU/CSU]: Das ist ein Dauergeschenk!) Monika Ganseforth (SPD): Meine Frage bezieht sich auf eine etwas zurückliegende Aussage von Ih- Völlig außerhalb des heutigen Zusammenhangs nen. Sie sprachen die Rentner an, die durch die Öko- haben Sie gesagt, wir müßten Farbe bekennen. Da steuer, die wir vorschlagen, belastet werden. Wie kann ich nur sagen: Rot steht uns gut, sehr gut sogar! sieht das denn bei der CO2-/Energiesteuer aus, die (Beifall bei der SPD) Sie auf EU-Ebene propagieren? Geht die am Rentner vorbei? Sie, Herr Staatssekretär, haben von einem pragma- tischen Schritt gesprochen, den Sie mit der Vorlage des Gesetzentwurfs zu machen gedächten. Sie hät- Hansgeorg Hauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Im Vordergrund, Frau Kol- ten besser von einem Schrittchen sprechen sollen; denn dann hätte ich Ihnen voll zustimmen können. legin Ganseforth, steht dabei eine wettbewerbsneu- trale Steuer. Das Problem, das wir mit einem Allein- Wir finden nämlich, daß Ihr Antrag umweltpolitisch, verkehrspolitisch und finanzpolitisch unzureichend gang auslösen würden, besteht darin, daß wir der In- dustrie eine zusätzliche Belastung auferlegen wür- ist. den. Wenn eine gleichmäßige Belastung erfolgt, wird Zu diesem Ergebnis sind übrigens auch die Sach- der Wettbewerb nicht verzerrt. Deswegen wollen wir verständigen bei der Anhörung des Finanzausschus- einen Alleingang vermeiden und das nur auf EU- ses in der letzten Woche gekommen. Eine ökologisch Ebene regeln. motivierte Reform der Kraftfahrzeugsteuer bleibt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stückwerk, solange sie nicht eingebettet wird in ein Gesamtprojekt ökologische Steuerreform.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hauser, gestatten Sie der Kollegin Ganseforth eine Dazu gehört auch die schrittweise Erhöhung der Mi- weitere Zwischenfrage? neralölsteuer. Tatsächlich ist dieser Gesetzentwurf nichts weiter Parl. Staatssekretär beim Bun- Hansgeorg Hauser, als ein Feigenblatt - ein Feigenblatt, mit dem Sie Ihre desminister der Finanzen: Nein, ich bin fast am Ende jahrelange Blockade einer wirklichen ökologischen meiner Rede. Steuerreform verschleiern wollen.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Also nicht mehr. (Elke Ferner [SPD]: So ist es!) Vor den großen ökologischen Zukunftsfragen kapi- Hansgeorg Hauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- tuliert diese Koalition nämlich. Wer sieht, wie wir- desminister der Finanzen: Auf Kosten von Wachstum kungsvoll beispielsweise die Selbstverpflichtungen 10152 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Detlev von Larcher der Wirtschaft zur Schaffung von Ausbildungsplät- literautos erzielen lassen. Diese Dreiliterautos wer- zen sind - nämlich gar nicht -, der kann doch nicht den - wie allgemein kleinere Pkws mit Otto-Motor - ernsthaft glauben, daß das CO2-Problem mit einer in der vorgesehenen Restlaufzeit der Kraftfahrzeug- Selbstverpflichtung der Industrie gelöst werden steuer den maximalen Steuervorteil von 1 000 DM könnte. Niemand glaubt das, nicht einmal Sie selbst! bei weitem nicht ausschöpfen können. Und weil Sie wissen, daß das niemand glaubt, le- (Elke Ferner [SPD]: So ist es!) gen Sie uns jetzt dieses Reförmchen vor, um hinter- her sagen zu können: Seht her, wir tun doch etwas Der finanzielle Anreiz zum Kauf solcher Fahrzeuge für den Umweltschutz! - Aber dieses Manöver ist zu bleibt deshalb gering, möglicherweise zu gering im durchsichtig, als daß es gelingen könnte. Vergleich zu den Mehrkosten solcher Autos. Die Schadstoff- und CO2-Emissionen sind doch bei Ich wäre froh, wenn Sie mich mit Ihrem Gespräch weitem nicht das einzige ökologische Problem des nicht stören würden. - Der möglichst schnellen Ver- Straßenverkehrs. Dazu gehören genauso die Zer- breitung dieser besonders wenig umweltschädigen- schneidung der Landschaft und der Städte durch im- den Fahrzeuge steht Ihr Gesetzentwurf also eher im mer neue Straßen und viele andere Dinge mehr. Und Wege, als daß er sie fördert. dazu gehört auch, daß diejenigen, die - aus welchen (Elke Ferner [SPD]: Die stehen sich selber Gründen auch immer - nicht über ein Auto verfügen, im Weg!) in dieser automobilen Gesellschaft von Mobilität aus- gegrenzt werden. Sie, meine Damen und Herren Koalitionäre, müssen sich deshalb fragen lassen: Wollen Sie den Absatz (Elke Ferner [SPD]: So ist es!) besonders schadstoffarmer Autos fördern, oder geht Nicht zuletzt hier liegt doch auch ein Grund dafür, es Ihnen vielleicht mehr um den Absatz von Neuwa- daß noch so viele „alte Stinker" unterwegs sind. Das gen allgemein? Als Niedersachse weiß ich eine gute sind doch die Autos derjenigen, die sich eigentlich Automobilkonjuktur natürlich zu schätzen. Aber kein Auto leisten können, die es sich aber auch nicht wenn es darum geht, den ökologisch fortgeschritten- leisten können, keines zu haben. Deshalb glaube- ich sten Stand der Technik durchzusetzen, nicht, daß die empfindlichen Steuererhöhungen für (Zuruf von der SPD: Die wissen doch gar Altfahrzeuge zu einer wesentlichen Beschleunigung nicht, was das ist!) der Bestandserneuerung führen werden. muß sich das entsprechend in den Steuersätzen nie- Es ist überhaupt nicht ausreichend, an Einzelpro- derschlagen. blemen herumzukurieren. Das ist auch im Experten- gespräch am 12. Juni sehr deutlich geworden. Not- (Beifall bei der SPD) wendig ist eine grundsätzliche Umorientierung in Zum zweiten: Laut Begründung des Gesetzent- der Verkehrspolitik, die zu einer Stärkung der öffent- wurfs sind die Veränderungen bis zum Jahr 2000 na- lichen Verkehrsmittel führt. hezu aufkommensneutral. Ich würde gern davon aus- Doch zu einer solchen Umorientierung sind Sie gehen, daß dem seriöse Berechnungen zugrunde lie- nicht fähig. Denn die Merkmale Ihrer Politik sind gen. doch Orientierungsschwäche, Konzeptionsmangel (Elke Ferner [SPD]: Um Gottes willen! Aus und Kleinmut, wie Ihnen Herr Süskind heute mit dem Finanzministerium doch nicht!) Recht bescheinigt. In der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses war (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Chri allerdings nur von Annahmen und Schätzungen die stine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Rede. Was aber ist mit den Jahren 2001 und 2002 Horst Friedrich [F.D.P.]: Man muß nicht alles oder auch, da man Ankündigungen dieser Bundesre- glauben, was in der Zeitung steht! - Chri gierung über Steueränderungen nie trauen darf, stine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es stimmt doch!) (Elke Ferner [SPD]: Wie immer! Das ist doch immer so!) Aber auch im Detail ist der Gesetzentwurf fragwür- dig. Ich will vier Punkte nennen. in den Jahren darüber hinaus? Erstens. Es ist ökologisch wie finanzpolitisch wenig (Monika Ganseforth [SPD]: Nach uns die sinnvoll, die Kraftfahrzeugsteuer für Fahrzeuge zu Sintflut!) senken, die der Norm Euro 2 entsprechen. Dieser Standard muß von allen ab dem 1. Januar 1997 neu- Wenn wir den Trend fortschreiben, ergeben sich im zugelassenen Wagen sowieso verbindlich eingehal- nächsten Jahrtausend Einnahmeausfälle von rund ten werden. Der reduzierte Steuersatz wird damit in 3 Milliarden DM jährlich, erster Linie Mitnahmeeffekte auslösen, die in keinem (Horst Friedrich [F.D.P.]: Da legen wir ja um, vertretbaren Verhältnis zur dadurch ausgelösten Mo- Herr von Larcher!) dernisierung des Fahrzeugbestandes stehen. die nicht durch vorübergehende Mehreinnahmen in Andererseits werden dadurch die ohnehin nicht den nächsten Jahren gedeckt sind. sehr großzügigen Steuervorteile zusätzlich begrenzt, die sich beim Kauf eines Euro-3-Fahrzeugs bezie- Da sind wir schon wieder bei einem der beliebte- hungsweise eines steuerlich gleichgestellten Drei- sten Spielchen dieser Bundesregierung: Steueraus- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10153

Detlev von Larcher fälle zu Lasten der Bundesländer - ganz so, wie Sie rung, umweltpolitisches Handeln durch Symbole zu es ja auch bei der Vermögensteuer vorhaben. ersetzen. (Beifall bei der SPD) (Horst Friedrich [F.D.P.]: Ja, mir kommen die Tränen!) Er läßt wesentliche ökologische Lenkungspotentiale ungenutzt; er ist finanzpolitisch über das Jahr 2000 Damit ist schon jetzt absehbar, daß die Steuersätze hinaus nicht tragbar, und er wird, da er ausschließ- spätestens ab dem Jahr 2001 erhöht werden müssen, lich eine einzelne Steuer mit Öko-Fassade vorsieht, um die Finanzkraft der Länder zu erhalten. nur einen kleinen, wenn auch nicht unwichtigen Wenn Ihnen die Tränen kommen, kann ich das in Ausschnitt der Umweltproblematik des Straßenver- diesem Fall gut verstehen, da Sie wohl an Ihre Politik kehrs berühren. denken. Wir werden den Gesetzentwurf in den Ausschüs- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Gucken Sie sich sen intensiv beraten. doch einmal die Steueraufteilung, die sich (Horst Friedrich [F.D.P.]: Und ablehnen!) zu Lasten des Bundes und zugunsten der Länder verschoben hat, an! - Zuruf von der Das wird Ihnen, Herr Staatssekretär, und Ihnen von CDU/CSU: Der hat keine Ahnung!) den Koalitionsfraktionen die Gelegenheit geben, die von mir genannten Punkte aufzugreifen und entspre- - Ihr, die ihr zwischenruft, habt keine Ahnung! chend zu korrigieren, so daß wir vielleicht doch noch Es ist deshalb auch unredlich, daß Sie sich mit der zu einer einvernehmlichen Lösung kommen könn- Tarifsenkung für Euro-2-Fahrzeuge als Steuersen- ten. kungskoalition zu profilieren versuchen. Denn diese Ich danke Ihnen. Steuersenkung funktioniert nur so lange, wie es eine nennenswerte Zahl von Altfahrzeugen mit erhöhtem (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Steuersatz gibt. Dr. Barbara Höll [PDS]) Zum dritten: Es ist etwas merkwürdig, daß Fahr- zeuge, die noch vor wenigen Jahren als -„bedingt Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die schadstoffarm" steuerlich gefördert wurden, zukünf- Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen. tig dem höchsten Steuersatz unterliegen sollen. Die (Detlev von Larcher: Das Reden in der Gleichbehandlung dieser Fahrzeuge mit solchen ersten Reihe ist furchtbar störend!) ohne jegliche Abgasreduktion ist unter Emissions- aspekten nicht gerechtfertigt. - Herr Kollege von Larcher, wir sind da allzumal Sün- der; ich betone: alle. Noch wichtiger erscheint mir jedoch folgendes: Wenn sich herumspricht, daß Steuervorteile auf diese (Horst Friedrich [F.D.P.]: Der insbesondere!) Weise schon nach ein paar Jahren durch spezielle Steuererhöhungen wieder „einkassiert" werden, Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dann dürfte die Bereitschaft erheblich nachlassen, Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herrn die Kaufentscheidung von steuerlichen, hier also Hauser habe ich bereits gratuliert, ich werde ihm ökologischen, Aspekten beeinflussen zu lassen. aber nicht unseren Ökosteuerentwurf schenken. Ich hoffe, er hat ihn schon gelesen. (Beifall bei der SPD) Sie haben das Thema angesprochen, Sie ruinieren damit das Instrument, das Sie nutzen Ökosteuer deshalb will ich eine Bemerkung machen: Wir wer- wollen. Hier müssen Sie Ihren Entwurf ändern. den selbstverständlich an unseren Vorstellungen von Schließlich viertens: Das grundsätzliche Festhalten einer Ökosteuer festhalten. Wir sind allerdings - das an der Steuerbemessungsgrundlage Hubraum er- muß man ganz ehrlich und offen sagen - derzeit mit scheint zwar aus verwaltungstechnischer Sicht wün- verschiedenen Unternehmen darüber im Gespräch, schenswert, insbesondere vor dem Hintergrund der inwieweit wir spezifische Ausnahmeregelungen, und Absicht, die Kraftfahrzeugsteuer ab dem 1. Januar zwar branchen- und produktspezifisch, brauchen. 2003 auf die Mineralölsteuer umzulegen. Damit wird (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) aber die Chance vertan, weitere ökologische Krite- rien wie beispielsweise den Kraftstoffverbrauch - Selbstverständlich. Wir reden schon lange mit der schon jetzt steuerlich zu berücksichtigen. Eine aus- Wirtschaft. Ich habe immer gesagt: Wir entwickeln schließliche Orientierung auf sogenannte Dreiliterau- unsere Vorstellungen nicht im luftleeren Raum, son- tos ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt reine Symbol- dern wir entwickeln unsere Vorstellungen zusammen politik. mit den Kräften in der Gesellschaft, das sind die So- zialverbände, aber genauso auch die Wirtschaftsun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf ternehmen. von der SPD: Alles nur Symbolpolitik!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sehr rich Eine dynamische Entwicklung hin zu kraftstoffspa- tig!) renden Technologien kann nur angestoßen werden, wenn jede Verbrauchsreduzierung belohnt wird. - So viel Lob bin ich gar nicht gewohnt. Ich fasse zusammen: Der vorliegende Entwurf Nun zur Kfz-Steuer: Wir haben heute das seltsame steht in der unseligen Tradition dieser Bundesregie- Phänomen, daß unter anderen der ADAC und auch 10154 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Christine Scheel BMW unserer Forderung nach Umlegung der Kfz Wir sagen: Hier ist der Lenkungseffekt verfehlt. Steuer auf die Mineralölsteuer zustimmen und damit Wenn wir das Dreiliterauto forcieren und uns einen auch den Entwurf der Bundesregierung kritisieren. Kaufanreiz nur über eine Erhöhung der Mineralöl- steuer vorstellen können, dann, so muß ich sagen, (Horst Friedrich [F.D.P.]: Da waren wir vor käme der Anreiz, den Sie versprochen haben, doch her dran!) wesentlich eher durch eine Erhöhung der Mineralöl- - Wenn Sie sagen: Da waren wir vorher dran, dann steuer zustande als durch die falsche Lenkung, die kommt mir das zupaß. Dann sage ich Ihnen: Ich Sie wieder einmal vornehmen. verstehe nicht, daß die neue Steuersenkungs- und Drittens. Die ökologische Lenkungswirkung muß Steuervereinfachungs-Yuppie-Partei die Abschaf- stark angezweifelt werden, da die Kfz-Steuer einen fung der Kfz-Steuer forciert und dann mit der Koali- Fixkostencharakter hat und die Steuersätze gering tion zusammen eine neue Besteuerung einführt, die sind. Bekannterweise verursachen Pkws die Pro- noch komplizierter ist, anstatt Vereinfachungen vor- bleme während ihres Betriebes und nicht, wenn sie zunehmen. Es ist mir ein Rätsel, daß Sie das als Steu- in der Garage stehen. ervereinfachung und Steuersenkung insgesamt ver- kaufen. Auch die tatsächliche Schadstoffemission der Alt- fahrzeuge ist im Grunde nicht zu ermitteln. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Problem. Das wurde uns letzte Woche von den Spätestens seit der öffentlichen Anhörung in der Experten gesagt. Mir war das bis dahin noch gar vergangenen Woche dürfte uns allen klargeworden nicht so extrem deutlich. Ein Zitat aus dem Kraftfahr- sein, daß die Vorschläge der Bundesregierung so, bundesamt: wie sie in dem Entwurf niedergelegt sind, nicht halt- Für bereits im Verkehr befindliche Fahrzeuge bar sind. Wir wehren uns dagegen, daß dieser Ge- gehe ich davon aus, daß bisher für die Serienpro- setzentwurf als „Ersatz für eine ökologische Steuer- duktion ein entsprechender CO2-Ausstoß nicht reform" - so wird er bezeichnet - vorgelegt werden nachgewiesen werden kann. soll. - Ich frage Sie: Wie wollen Sie bei 40 Millionen Pkws Es gibt einen Kommentar der Bundesregierung zu den CO2-Ausstoß überhaupt ermitteln, den Sie für einer ganz aktuellen EU-Vorlage, die sich auf CO2- die Festlegung der Bemessungsgrundlage brauchen? Emissionen bezieht. Sie nennt sich „eine Strategie der Gemeinschaft zur Minderung der CO2-Emissio- Es gibt auch deswegen Schwierigkeiten, weil mehr nen von Pkw und zur Senkung des durchschnittli- als 20 Prozent der Altfahrzeuge technisch nicht nach- chen Kraftstoffverbrauchs". Dazu sagt die Bundesre- gerüstet werden können und wir bis heute noch gierung, und das muß man sich auf der Zunge zerge- überhaupt keine Regelungen zur Verwertung und hen lassen: Entsorgung von Altfahrzeugen haben. Ein erster Die Kraftfahrzeugsteuer eignet sich (insbeson- Schritt wäre, eine entsprechende Verordnung auf den Weg zu bringen. Dann könnte man den zweiten dere wegen der niedrigen Steuersätze) kaum zur Schritt tun. Aber Sie tun den ersten Schritt praktisch Regelung der CO2-Emissionen. vor dem zweiten. Das kann in der Praxis, meine ich, Das steht eindeutig im Widerspruch zur Argumen- nicht funktionieren. tation, die im neuen Kfz-Steuergesetz nachzulesen ist und die mit der Staffelung der Steuersätze nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - CO2-Emissionen eine ökologische Lenkungswirkung Elke Ferner [SPD]: Das ist immer so! Das verspricht. hat System!) (Detlev von Larcher [SPD]: Wo sie recht hat, Viertens. Man darf nicht vergessen, daß Deutsch- hat sie recht!) land auf Grund der Öffnung des osteuropäischen Raumes zunehmend Transitland wird und daß aus- - Danke, Herr von Larcher. ländische Straßennutzer an den Folgekosten des Verkehrs nicht beteiligt werden. Auch das wäre ein Wir kritisieren an diesem Gesetzentwurf erstens Argument für die sofortige Umlegung der Kfz- auf das sogenannte Verfallsdatum zum 1. Januar 2003. die Mineralölsteuer; denn dann wäre diese Beteili- Danach soll genau das gemacht werden, was Bünd- gung - zumindest beim Durchfahren mit Auftanken, nis 90/Die Grünen heute schon vorschlagen. was irgendwann erforderlich wäre - gewährleistet. ( [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Wir wollen eine verursacherbezogene Steuer. Das - Ja, das ist so. In der Zeit sind 1 500 Finanzbeamte kann nur mit einer Erhöhung der Mineralölsteuer gebunden, die könnten etwas Sinnvolleres betrei- funktionieren. Auch wollen wir Druck ausüben, da- ben, als irgendwelche neuen Sachen auszurechnen. mit die Infrastruktur im ÖPNV verbessert wird. Wir wollen die Automobilindustrie unterstützen. Wir ha- Zweitens zielt der Gesetzentwurf, wie erklärt wird, ben schon vor Jahren einen Hilferuf von BMW aus auf Aufkommensneutralität ab. Das heißt, mehr als Bayern bekommen. BMW hat das Dreiliterauto pro- 11 Millionen Besitzer oder Besitzerinnen älterer Pkws duziert und würde es gern serienweise auf den finanzieren die Steuerersparnis von Neuwagenbesit- Markt bringen. Das gilt mittlerweile auch für andere zern, die sich beispielsweise Autos mit einem 15-Li- Automobilhersteller. Ich möchte hier keine Schleich- ter-Verbrauch leisten können. werbung betreiben. Ich komme aus Bayern, und mir Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10155

Christine Scheel ist gerade eingefallen, daß wir solche Gespräche mit Dann gibt es auch noch die Steuerbefreiungstatbe- BMW schon vor Jahren. geführt haben. stände, und zwar den Anreiz einer Steuerersparnis von maximal 1 000 DM und/oder einer Steuerbefrei- Das Problem ist die fehlende Nachfrage nach die- ung im Zeitraum bis zum 31. Dezember 2002. Bei sen Dreiliterautos. Sie kann nur über eine Erhöhung einem durchschnittlichen Auto mit 1,8 Liter, das der- der Mineralölsteuer geschaffen werden: Die Leute, zeit zugelassen wird, trifft das hervorragend zusam- die relativ viel fahren wollen oder müssen, müssen men. Wer einen größeren Motor hat, bekommt diese auch mehr für das Benzin zahlen. Sie steigen dann 1 000 DM; wer einen kleineren hat, nimmt den vollen eher auf das Dreiliterauto um als bei einer emissions- Zeitraum der Steuerbefreiung in Anspruch. abhängigen Kfz-Steuer. Bei dieser würden sie sich heute vielleicht noch einmal ein Zehn- oder Fünf- Am Ende dieses Zeitraumes steht - über das wird zehnliterauto kaufen. Das wollen wir aus ökologi- hier gar nicht geredet - die Umlegung der Kfz schen Gründen vermeiden. Steuer auf die Mineralölsteuer zum 1. Januar 2003. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn im sowie bei Abgeordneten der PDS) Gesetz, Herr Fried rich?) - Ich würde empfehlen, das Programm der Koalition Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der für mehr Wachstum und Beschäftigung nachzulesen. Kollege Horst Friedrich, F.D.P. (Elke Ferner [SPD]: Wir reden über einen Gesetzentwurf!) Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Dieses Kfz-Steueränderungsgesetz Dort steht es dezidiert. paßt im Hinblick auf das, was die Koalition bereits in Nicht umsonst steht in der Begründung zu diesem der letzten Periode auf den Weg gebracht hat, naht- Gesetz, daß rechtzeitig vor Auslaufen dieses Geset- los in eine Gesetzgebungsreihe: Erhöhung des Pla- zes die entsprechenden Bedingungen zu vereinbaren fonds für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- sind. Das steht dort nicht einfach aus Gnade und setz, Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs, steuer- - Barmherzigkeit, sondern deshalb, weil man dafür liche Gleichstellung dessen, was mit dem öffentli- Grundlagen geschaffen hat. Ich gehe natürlich da- chen Nahverkehr im Gegensatz zum Pkw noch be- von aus, daß diese Koalition zu dem Zeitpunkt in der nachteiligt war. Ich erinnere an die Gesetzgebung Lage ist, das auch umzusetzen. Bei der Qualität der zum Job-Ticket. Gesetzgebung habe ich da keine Bedenken. Ich erinnere auch an die derzeit mit der Bahnre- form zusammengefaßten Beschlüsse zur Regionali- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege sierung, an die Aufstockung der Mittel für den öf- Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- fentlichen Personennahverkehr. In Deutschland legen von Larcher? stand noch nie so viel Geld für den Nahverkehr zur Verfügung wie derzeit. Horst Friedrich (F.D.P.): Bitte sehr. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Das habt doch ihr nicht Bitte. zu verantworten!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose:

Jeder, der etwas anderes behauptet, sollte die Zahlen Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege F riedrich, nachlesen. Sie erwähnten gerade die Steuerklassen. Wären Sie Jetzt kommt ein Kfz-Steueränderungsgesetz, das bereit, darüber nachzudenken, ob die Begünstigung eigentlich drei Teile ersetzen muß. der Euro-2-Fahrzeuge nicht doch im wesentlichen zu Mitnahmeeffekten führen dürfte, anstatt positive Ef- Erstens. Es betrifft den Teil der Fahrzeuge - das fekte zu erzielen? sind ungefähr 10 Prozent des Bestandes -, die für schätzungsweise zwei Drittel der gesamten Emissio- nen verantwortlich sind: Das sind die Altfahrzeuge. Horst Friedrich (F.D.P.): Lieber Herr Kollege Lar- cher, wir haben schon darüber nachgedacht. Wir stel- Ein zweiter Schritt ist: Es belohnt die Verwendun- len den Pkw mit der Euro-2-Norm steuertechnisch in gen von Dieselkraftstoff. Bereits bei der Produktion -die gleiche Systematik wie den Lkw mit der Euro-2 hat Dieselkraftstoff eine deutlich bessere CO2-Bilanz Norm. Auch da haben wir bereits, obwohl steuer- als Ottokraftstoff. Das kann man in allen entspre- technisch vorgeschrieben, die entsprechenden Be- chenden Statistiken nachlesen. lohnungen gegeben. Das muß man im Gleichklang sehen. Ich kann nämlich für einen Pkw nicht flächen- Drittens. Es setzt richtigerweise zunächst da an, deckend eine andere Gesetzgebung machen als für daß man schadstofffreundlichere Fahrzeuge produ- einen Lkw. Das war dazu die Grundlage. ziert. Kollegin Scheel, das ist in Klassen eingeteilt. So kompliziert ist das Ganze gar nicht: Wir haben Euro 3 Liebe Kollegin Scheel, das ist im übrigen auch der und Euro 2 in der gleichen Klasse. Wir haben Euro 1. Grund, warum die Umlegung nicht jetzt sofort er- Außerdem gibt es die Strafsteuern: 20 DM mehr pro folgt. Wir haben nämlich das Problem, daß wir auch derzeit vorhandenem individuellem Steuersatz, ab- noch ein deutsches Verkehrsgewerbe haben, das vor hängig vom Zulassungsdatum. Das kann jeder nach- dem Hintergrund einer Diesel- und Kfz-Steuer sowie lesen. Straßenbenutzungsgebühren international einer be- 10156 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Horst Friedrich stimmten Konkurrenz ausgesetzt ist. Deswegen kann Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie ich nicht die Augen davor verschließen und sagen, eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Scheel? weil es so schön klingt: Wir legen die Kfz-Steuer ein- fach um. Auch ich würde mir das eher wünschen. Ich muß aber im Endeffekt sehen, was innerhalb Euro- Horst Friedrich (F.D.P.): Wenn es der Erhellung pas machbar ist, und muß dann die Beschlüsse fas- dient, bitte. sen. Deswegen ist der Zeitpunkt 1. Januar 2003 der sinnvollere und richtigere. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. (Elke Ferner [SPD]: 2003? Da seid ihr gar nicht mehr im Parlament vertreten!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Unterschied zu Ihnen fordern wir dies nicht nur, Gilt das dann auch für Ihre anderen steuerpolitischen sondern wir setzen es auch in Gesetzgebung um. Vorschläge? Entscheidend ist nicht das, was gefordert wird, son- dern das, was im Gesetzblatt steht. Horst Friedrich (F.D.P.): Liebe Frau Scheel, ich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) weiß nicht, was Sie damit erreichen wollen. Sie wer- den mich nicht aus der Rese rve locken. Herr Kollege, ge- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: (Lachen bei der SPD - Ulrich Hein rich statten Sie auch der Kollegin Scheel eine Zwischen- [F.D.P.]: Er plaudert nicht aus dem Nähkäst frage? chen!)

Horst Friedrich (F.D.P.): Ja, bitte schön, wenn es Betrachten Sie doch einmal die Bewältigung Ihrer denn sein muß. Probleme und die Umsetzung Ihrer Programme, die Sie so blumenreich fordern. Vergleichen Sie das dann einmal mit dem, was die F.D.P. fordert und tat- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es -muß nicht sächlich umsetzt. Es liegen Welten dazwischen. sein; Sie entscheiden das. Bitte, Frau Scheel. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ab und zu haben Sie doch einmal einen F.D.P.-Parteitag, Ich bleibe dabei: Die Neuregelung, die vorgelegt wie man in der Zeitung nachlesen kann. wird - sie wird durch einen bereits jetzt vorliegenden (Horst Fried rich [F.D.P.]: Das läßt sich nicht Entwurf einer Verordnung des Verkehrsministeriums leugnen!) zur Nachrüstung unterstützt und begleitet -, ist ein in sich schlüssiges Vorhaben. Sie greift zunächst da an, Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, haben Sie, wo es notwendig ist, nämlich beim Altfahrzeugbe- ich glaube, schon auf dem vorletzten Parteitag be- stand. Sie ist in den ersten vier Jahren relativ auf- schlossen, daß die Kfz-Steuer sofort auf die Mineral- kommensneutral. Ich gestehe Ihnen dabei gern, Herr ölsteuer umgelegt werden soll. Stimmen Sie mir zu, von Larcher, mathematische Kenntnisse über das daß es Presseerklärungen von Mitgliedern Ihrer hinaus zu, was das Finanzministerium an Daten vor- Fraktion gibt, in denen genau das gleiche steht? Wie legt. Aber ich glaube, auch Sie können nicht mit letz- können Sie das jetzt mit Ihrem Verhalten und dieser ter Sicherheit sagen, wie im Jahr 2001 die Zusam- Zeitschiene vereinbaren? mensetzung des Kfz-Bestandes in Deutschland tat- sächlich ist. Nur wenn Sie die jetzt prognostizieren können, können Sie sagen, wie sich die Steuerent- Horst Friedrich (F.D.P.): Frau Kollegin Scheel, den Sinn Ihrer Frage verstehe ich nicht ganz. Denn die wicklung darstellt. Über die anderen zwei Jahre muß eine Seite ist es, ein Parteiprogramm zu formulieren geredet werden. und Beschlüsse zu fassen, und die andere Seite ist es, Selbstverständlich - das ist ganz klar und schlüs- dafür in der Koalition Mehrheiten zu bekommen und sig - muß, weil die Kfz-Steuer den Ländern zusteht, sie umzusetzen. den Ländern ein entsprechender Ausgleich geboten (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ werden. Das ist vollkommen unstrittig. Wir brauchen NEN]: Sagen Sie es doch: Sie sind umge zur Zustimmung auch die Länder. Wenn ich an be- kippt!) stimmte Forderungen der Länder Bayern und Baden Württemberg im Hinblick auf eine Steuerentlastung - Der Wunsch der F.D.P. war es, dies sofort umzuset- der Pkw mit Dieselantrieb denke - auch das kostet zen. Das hinde rt doch nicht daran, die Realität zu ak- Geld -, wenn ich bestimmte andere Forderungen zeptieren und das zu berücksichtigen, was im Mo- auch von den Ländern im Hinblick auf ökologische ment nicht möglich ist. Anreize im Kfz-Steuerbereich höre, dann frage ich (Elke Ferner [SPD]: Wir fordern es trotz Sie: Was machen Sie denn dann, wenn Sie den Fahr- dem!) zeugpark umgestellt haben, die neueste Technik um- gesetzt haben und das Steueraufkommen sinkt? Fan- - Liebe Elke, zum 1. Januar 2003 ist das Vorhaben gen Sie dann an, die Kfz-Steuersätze für die Fahr- definiert . Was soll das Ganze also? Wir haben es er- zeuge, bei denen Sie sie vorher reduziert haben, da- reicht. Ende der Diskussion! mit die moderne Technik gekauft wird, wieder zu er- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10157

Horst Friedrich höhen, oder beginnen Sie dann mit anderen Überle- Sie verkomplizieren mit Ihrer Vorstellung von gungen? zwölf Steuerklassen die Gesetzgebung weiter, ma- chen sie entgegen Ihrer Äußerung, alles solle, gerade (Detlev von Larcher [SPD]: Das werden Sie im Steuerrecht, einfacher und transparent werden, dann erleben, was wir machen!) für den Laien schier undurchschaubar, und Sie Genau deswegen haben wir vorgeschlagen, die bauen unnötige bürokratische Hürden auf. Das ist Umlegung im Anschluß an diesen Zeitraum zu be- für ein Gesetz, das in sechs Jahren ohnehin wieder ginnen und es auf diesem Wege auszugleichen. abgeschafft werden soll, schon ein erstaunlicher Auf- Ganz zu schweigen ist aber davon, daß die Länder wand. Zudem ist die für das Jahr 2003 geplante Um- von einer dann erfolgenden Erhöhung der Mineralöl- legung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer ökolo- steuer dadurch profitieren, daß sie höhere Umsatz- gisch äußerst kompliziert. Eine Einteilung nach steueranteile kassieren, denn die Mineralölsteuer- Schadstoffklassen entsprechend dem Emissionsaus umsätze sind umsatzsteuerpflichtig, und die Länder stoß hat sich dann erledigt. haben ihren Anteil am Aufkommen der Umsatz- steuer gegenüber dem Bund um die Hälfte aufge- Durch die im Entwurf vorgesehenen Steuerbefrei- ungen für Pkw, die der Euronorm entsprechen, und stockt. für die sogenannten Dreiliterautos erreichen Sie All das muß man zusammenzählen, sehr vernünf- keine Verkehrsvermeidung und damit keine Sen- tig und sachlich untereinander diskutieren. Dann kung von umweltschädigenden Emissionen. wird ein Strich gemacht und gesehen, was auszuglei- chen ist, und das werden wir in aller Regel auch tun. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wie kommen Sie denn zu diesem Schluß?) Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im Zusammen- hang mit der Besteuerung des öffentlichen Personen- Vielmehr - ich denke, es ist wichtig, das zu betonen - nahverkehrs und auch der internationalen Wettbe- bürden Sie dem Verbraucher gleich in mehrfacher werbsfähigkeit des Lkw-Gewerbes ist diese Kfz-Be- Hinsicht Lasten auf. Der Neukauf von Pkw wird for- steuerung der richtige Ansatz. Deswegen werden wir ciert; die Autoindustrie stößt sich gesund. Einkom- sie in den Ausschüssen sehr zügig beraten.- Ich gehe mensschwache Haushalte werden sich ein neues davon aus, die Koalition wird für ihre Vorschläge Auto nicht leisten können. Sie müssen dann entwe- auch die entsprechenden Mehrheiten finden. der ihre gebrauchten Autos umbauen - auch das bringt der Autoindustrie im weitesten Sinne etwas; (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Horst Friedrich [F.D.P.]: Und dem Fahrer Steuerersparnis!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS. denn ein Umbau kostet, wenn er möglich ist, nach den derzeitigen Preisen auf alle Fälle ungefähr 1 200 Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da- DM - oder sie müssen, wenn sie sich das momentan men und Herren! Als erstes, Herr Hauser, auch von nicht leisten können - das Geld muß man im Moment mir herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. An- haben; es genügt nicht, mit einer Steuerersparnis für sonsten muß ich das, was Sie hier vertreten haben, später zu rechnen -, die höheren Steuern zahlen. kritisieren. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Deswegen haben In der Einleitung des Entwurfs des Kraftfahrzeug- die neuen Länder bereits die Kfz-Steuer auf änderungsgesetzes 1997 konstatiert die Bundesre- das Niveau des Westens aufgestockt!) gierung richtig: Vom Straßenverkehr gehen noch im- mer in deutlichem Umfang umweltschädigende Damit werden Niedrigverdienende auf Grund feh- Emissionen aus. Die logische Konsequenz dieser lender Alternativen wieder erheblich diskriminiert - Feststellung wäre nun, ein Gesamtkonzept ökologi- ein Fakt, der unter dieser Regierung nicht neu ist. scher Verkehrsplanung, dessen Ziel die Verkehrsver- meidung und Verkehrsverlagerung ist, vorzulegen. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist schlicht Genau deshalb, Herr Friedrich, nützen alle die Maß- falsch!) nahmen, die Sie jetzt aufgezählt haben, und die die - Nein, das stimmt. Regierung eigentlich schon hätte ergreifen müssen, nichts, weil sie genau diese Richtung nicht einschla- Dazu kommt, daß die Regierung es versäumt hat, gen und dies nicht unterstützen. den Verbleib ausgewechselter Fahrzeuge zu regeln. Die Entsorgung von Altautos in den zu erwartenden Die Regierung denkt eben weder logisch noch und von Ihnen erhofften Dimensionen ist durch die konsequent ökologisch. Ihr Gesetzentwurf könnte Autoschrottverordnung in keiner Weise gedeckt. Das nicht einmal als ein erster Schritt innerhalb eines not- hat der Vertreter der Autoindustrie in der Anhörung wendigen umfassenden Konzeptes verstanden wer- bestätigt. den, mit dem tatsächlich eine ökologische Steuerung erreicht werden könnte. Ihr Entwurf beschränkt sich Versäumt haben Sie es auch, Fragen des ruhenden als erstes auf den motorisierten Individualverkehr. Verkehrs zu berücksichtigen; Mit Steuerbefreiungen für Pkw, deren Schadstoff- grenzwerte der Euro-2-Norm entsprechen, werden (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Sie keine ökologischen Steuerungseffekte erreichen; CSU]: Früher hatten Sie keine Probleme mit das ist Fakt. diesem Verkehr, weil es keine Autos gab!) 10158 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dr. Barbara Höll denn auch ein Auto, das der vielgerühmten Euro- Bevor Sie nicht auch in dieser Richtung einmal et- norm entspricht, verursacht, ohne einen einzigen was getan haben, bevor Sie nicht die Steuerfreiheit Meter gefahren zu sein, Emissionen, sowohl bei sei- von Anhängern einer Vielzahl landwirtschaftlicher ner Herstellung als auch bei seiner späteren Entsor- Betriebe tatsächlich aufgehoben haben, haben Sie gung. Zudem beansprucht die Herstellung jedes Au- noch nicht nachgewiesen, daß es Ihnen mit dem öko- tos wertvolle Ressourcen, auch Landschaftsressour- logischen Umbau tatsächlich ernst ist. Sie haben mit cen; denn ein Auto, das nicht fährt, braucht schließ- Ihrem Vorschlag nur einen Beitrag zu einer weiteren lich Fläche zum Parken. Stärkung der Autoindustrie geleistet. In diesem Sinne denken Sie, meine Damen und Herren von der Die Probleme des ruhenden Verkehrs, die ich eben Regierung und von der Koalition, konsequent: Sie versucht habe aufzuzählen, erhöhen Sie sogar noch denken für die Autolobby. Das ist eine ganz klare Sa- durch Ihren Vorschlag der Einführung von Saison- che. Wir würden uns wünschen, daß Sie die Energie, kennzeichen. Denn nach dem Willen der Bundesre- die Sie dafür einsetzen, für ein Umsteuern in dieser gierung sollen Pkw und Anhänger, die nur einen be- Gesellschaft einsetzen würden. stimmten Zeitraum im Jahr gebraucht werden, auch nur für diesen bestimmten Zeitraum versteuert wer- Ich danke Ihnen. den. Das heißt: Ich kann mir vielleicht ein Cab riolet leisten und fahre damit von vornherein nur im Juni, (Beifall bei der PDS) Juli und August; dann könnte ich ein Saisonkennzei- chen beantragen und zahle dann entsprechend we- niger Steuern. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat Kollege Professor Schulhoff, CDU/CSU. Das fördert auf alle Fälle den Kauf von mehreren Autos. Ein Beispiel dafür gibt es schon - Sie sollten sich vielleicht weltweit informieren -: In Mexiko Wolfgang Schulhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! Stadt wurde durch die Einführung einer ähnlichen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ein- Regelung, die im ersten Moment vielleicht nicht stellung zum Auto hat während der letzten Jahre in schlecht aussieht, erreicht, daß noch mehr -Fahrzeuge weiten Teilen der Bevölkerung eine Veränderung er- gehalten werden. fahren. Bedingt durch ein gestiegenes Umweltbe- wußtsein setzt man sich mit den ökonomischen und Insgesamt muß man sagen, daß Sie mit Ihren Vor- ökologischen Kosten der individuellen Mobilität stär- schlägen nicht dazu beitragen werden, daß die Ozon- ker als früher auseinander, und das ist auch gut so. werte im Sommer abnehmen. Wir werden weiter da- Schließlich ist der Schadstoffausstoß der Autos in mit leben müssen. Es werden vielleicht Autos fahren, Deutschland ein bedeutender Mitverursacher der die weniger Schadstoffe ausstoßen, aber dafür viel Umweltbelastungen. Herr von Larcher, das ist ein mehr Autos. Punkt, bei dem wir wahrscheinlich einer Meinung Ein zusätzliches Problem, auf das bereits Herr von sind, den wir also alle beklagen. Larcher hinwies, ist mit Ihrer Vorstellung, die Kfz (Elke Ferner [SPD]: Das müsen Sie einmal Steuer in sechs Jahren abzuschaffen, verbunden: der Ihren Verkehrspolitikern erzählen! Die Steuerausfall bei den Ländern. Ich muß sagen: Nach sagen immer das Gegenteil!) dem, was wir hier in den letzten Jahren erlebt haben, würde ich mich auf irgendwelche Versprechungen Das Auto ist aus unserem Leben jedoch nicht weg- von seiten der Regierung, daß man das natürlich be- zudenken. Ich weise in diesem Zusammenhang nur rücksichtigen werde, nicht verlassen wollen. auf die volkswirtschaftliche Bedeutung der Auto- mobilindustrie hin. Schließlich ist Deutschland in- (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann nerhalb der Europäischen Union mit einem Anteil [PDS]) von über 30 Prozent nach wie vor der größte Auto- Zudem muß man sagen, daß es wirklich unver- produzent. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt in un- ständlich ist, warum Sie eine Vielzahl von Vorschlä- serem Land vom Auto ab. Die Innovationskraft und gen, die schon auf dem Tisch liegen und die tatsäch- das ökonomische Gewicht machen die Automobil- lich in Richtung Verkehrsvermeidung und Verkehrs- industrie zweifellos zu einer Schlüsselbranche. Ich verlagerung wirken würden, nicht aufgreifen. hoffe nur, daß es auch in Zukunft so bleibt. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Zum Beispiel Tem Hierbei denke ich nicht nur an die Globalisierung polimit!) der Märkte und die Möglichkeit der Produktionsaus- lagerungen, sondern auch an den politischen Druck Ich möchte nur einen nennen: die verkehrsmittel- gegen das Automobil an sich, wie wir ihn heute wie- unabhängige Entfernungspauschale. Das wäre tat- der gesehen haben. sächlich ein Weg, den Fußgänger und die Fußgänge- rin, den Radfahrer und die Radfahrerin und diejeni- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gen, die mit der Bahn zur Arbeit fahren, steuerlich Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]) genauso zu stellen wie die Autofahrerin und den Au- tofahrer. Nur eine Politik, die einen Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie findet, erreicht beide Ziele: (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das haben Sie Schutz der Umwelt und Sicherung des Wirtschafts- doch jetzt schon, Frau Höll!) standorte Deutschland und damit Sicherung der Ar- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10159

Wolfgang Schulhoff beitsplätze und vielleicht die Möglichkeit, neue Ar- auch gerne hier zur Kenntnis. Aber dann dürfen Sie beitsplätze zu schaffen. nicht eine Apokalypse über die jetzige Situation auf- zeichnen, wie Sie es eben getan haben. (Beifall bei der CDU/CSU - Detlev von Lar cher [SPD]: Herr Schulhoff, habe ich heute (Detlev von Larcher [SPD]: Ich? Sie haben etwas gegen das Auto gesagt?) mir nicht zugehört!) Hinzu kommt, daß das Auto heute noch unver- - Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. zichtbares Mobilitätsinstrument ist. Ob wir es wollen oder nicht, eine flexible und moderne Industriege- Wir werden noch viele Möglichkeiten haben, uns sellschaft ist ohne ein Auto einfach nicht vorstellbar. in einzelnen Punkten anzunähern. Der erste Ansatz Gesetzliche Maßnahmen müssen diese Bedeutung ist gestern auf Grund unseres Vorsitzenden und sei- des Automobils in der Gesellschaft berücksichtigen nes hervorragenden Beispiels, das er hier geben und dürfen keine gesellschaftlichen Gruppen hin- wollte, nämlich einmal etwas gemeinsam in einer sichtlich Eigentum und Nutzung von Pkws ausschlie- wichtigen Sache zu machen, offenkundig geworden. ßen. Ich bin jedenfalls bereit, über viele Punkte mit mir reden zu lassen. Aus Sozialverträglichkeitsgründen ist ebenso zu bedenken, daß negative Auswirkungen auf die An- Dennoch bleibt es zweifellos Aufgabe der Politik, forderungen zum Beispiel älterer oder behinderter eine Emissionsreduzierung herbeizuführen. Hierbei Menschen zu vermeiden sind. Wir bewegen uns in sind wir schon seit 1983 ein gutes Stück vorangekom- dieser Frage also zwischen Skylla und Charybdis. men. Sie werden doch bei aller Gegensätzlichkeit, Auf der einen Seite haben wir die umweltschädigen- die hier im Raume herrscht, zugeben müssen, daß den Auswirkungen zu beachten und auf der anderen die Luftqualität in unserem Lande besser geworden Seite den Mobilitätsfaktor des Autos. ist. Die erfolgreiche und sachgerechte Umweltpolitik Bundespräsident Roman Herzog drückte diese Pro- dieser Bundesregierung hat Früchte getragen. Man blematik kürzlich wie folgt aus: kann das doch messen. - Seine Ambivalenz spiegelt sich in der Einstellung Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die der meisten Bürger und Autofahrer wider. Ihre Steuerbefreiung für Kat-Autos. Nur so haben wir große Mehrheit kann sich die Industriegesell- diese einzige bisher bekannte, wirkungsvolle Tech- schaft und die eigene Lebenssituation ohne Auto nik zur Reduzierung von Kraftfahrzeugemissionen nicht vorstellen. Sie möchte es aber gleichzeitig überhaupt verbreiten können. Ein weiteres Beispiel ein bißchen abschaffen, am besten bei den ande- ist die Förderung der Einführung umweltverträgli- ren. cher Kraftstoffe. Nirgends wird so viel geheuchelt wie in dieser Frage. Mit dem vorliegenden Gesetz setzen wir diesen So recht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Das ei- Weg konsequent fo rt . Grundsätzlich stehen uns na- gene Auto wird nicht gesehen, nur das Auto des an- türlich mehrere Maßnahmen zur Verfügung. Vor al- deren. lem die Steuerpolitik und das Ordnungsrecht spielen in der Umweltpolitik eine wichtige Rolle. Doch ist (Detlev von Larcher [SPD]: Warum sagen das Umweltrecht schon heute an einem Punkt ange- Sie uns das heute alles?) langt, an dem es durch seine Komplexität und Zweifellos wird es künftig verstärkt auf eine intelli- Strenge zu einem Standortnachteil für Deutschland gente Nutzung des Autos ankommen. Dazu zählt werden kann. Gerade deshalb müssen wir die Um- auch die Verknüpfung des Individualverkehrs mit weltgesetzgebung praxisorientierter gestalten und den anderen Verkehrsträgern. Eine bessere Integra- von bürokratischen Hemmnissen befreien. beinhaltet das tion der einzelnen Verkehrsmittel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wohl größte umweltpolitische Potential. Jeder Ver- kehrsträger muß dabei solche Bedingungen vorfin- Deshalb möchten wir vermehrt durch marktwirt- den, daß seine spezifischen Vorzüge ausgespielt wer- schaftliche Anreize zu einem umweltverträglichen den können, ohne die Interessen des anderen und Verhalten motivieren. Es muß sich einfach finanziell des Ganzen zu verletzen. auszahlen, natürliche Ressourcen als knappes Gut (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stärker zu schonen. (Detlev von Larcher [SPD]: Richtig!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr von Larcher mit einer Zwischenfrage. - Natürlich. Es gibt viele Punkte, wo wir einer Mei- nung sind. Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Schulhoff, Eine ökonomisch vertretbare Anlastung der exter- darf ich davon ausgehen, daß Sie erwartet haben, nen Kosten ist für uns genauso selbstverständlich daß wir heute alle über das Auto herfallen? Tatsäch- und wahrscheinlich wie für Sie. Nur in der Methode lich haben wir es nicht getan. unterscheiden wir uns. (Detlev von Larcher (SPD): Das stimmt!) Wolfgang Schulhoff (CDU/CSU): Dann müssen Sie sich demnächst klarer ausdrücken. Ich bin froh, das Doch eine großangelegte - jetzt komme ich nämlich zu hören, und nehme das, lieber Herr von Larcher, dazu - ökologische Steuerreform als Radikalkur wird 10160 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Wolfgang Schulhoff von uns abgelehnt. Diese wird es mit uns nicht ge- Effekt ist mir wichtiger als der Mitnahmeeffekt im ben. Einzelfall. (Beifall bei der CDU/CSU) (Elke Ferner [SPD]: Sie geben das wenig Sie gefährdet die Berechenbarkeit staatlicher Finan- stens zu, Herr Schulhoff!) zierung und bedroht die Bürger mit wachsender Für Pkw, die die Euro-2-Norm nicht erfüllen, aber Steuerbelastung. Hier gilt es, die ideologische Spreu bei Ozon-Alarm keinem Verkehrsverbot unterliegen, vom ökonomischen Weizen zu trennen. bleibt es bei den bisherigen Steuersätzen. Für alle anderen Pkw steigt die Steuerbelastung pro 100 Ku- Für diese Aufgabe müssen nach unserer Überzeu- bikzentimeter einheitlich um 20 DM. Erfreulich in gung folgende Grundsätze bedacht werden: diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit, Pkw mit Erstens. Ein umweltpolitischer Lenkungseffekt geregeltem Kat nachzurüsten, und das lohnt sich na- muß gewährleistet sein. Umweltsteuern sollen und türlich auch durch die Steuerbefreiung. können nicht primär zur staatlichen Einnahmebe- Lassen Sich mich nochmals kurz auf den Vorschlag schaffung dienen. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingehen, Frau Scheel, die Kraftfahrzeugsteuer umgehend auf die (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das hat doch gar Mineralösteuer umzulegen. Dies klingt auf den er- keiner vor!) sten Blick sympathisch. Die F.D.P. hat ja auch jahre- Zweitens. Die Finanzierungsfunktion des Steuersy- lang mit diesem Gedanken geliebäugelt. stems muß insgesamt erhalten bleiben. Umweltsteu- Unser Weg, den wir jetzt gemeinsam gehen, ist je- ern sollen Verhaltensweisen beeinflussen. Also sol- doch der bessere. Wir wollen mit unserem Vorschlag len sie einen prohibitiven Effekt erzielen, so daß das die Bemessungsgrundlage der Kraftfahrzeugsteuer Steueraufkommen à la langue sinken muß. für Pkw zur Verbesserung des angestrebten Len- kungseffektes stärker emissionsabhängig ausrichten. (Detlev von Larcher [SPD]: Sie können uns Dies hat entscheidende Vorteile: Bei der Orientie- doch darin zustimmen!) - rung an den Emissionen haben wir die Möglichkeit, Drittens. Der Wirtschaftsstandort Deutschland darf unmittelbar auf die Menge der ausgestoßenen Stick- nicht gefährdet werden. oxide und des Kohlendioxids lenkend Einfluß zu neh- men. Viertens. Eine weitere Steigerung der Abgaben- Eine höhere Mineralölsteuer hätte nur eindeutige quote muß auf jeden Fall vermieden werden. Auswirkungen auf die Höhe der Kohlendioxidemis- Fünftens. Eine unangemessene Komplizierung des sionen. Schadstoffemissionen stehen in keinem di- Steuerrechts darf es nicht geben. rekten Zusammenhang mit dem Kraftstoffverbrauch; lediglich die CO2-Emissionen sind dazu direkt pro- Sechstens. Schließlich dürfen die Verteilungswir- portional. Daher greift unser Vorschlag zunächst kungen von ökologisch orientierten Steuerverände- breiter, und das ist ganz wichtig. rungen keine sozialen Ungerechtigkeiten schaffen. Der Druck auf die Automobilindustrie, neue, emis- In diesen Kontext passen auch die Bestimmungen sionsärmere Kraftfahrzeuge zu entwickeln, steigt. der geplanten Kraftfahrzeugsteuerreform. Denn die Außerdem wird der Vorschlag dafür sorgen, daß alte Kraftfahrzeugsteuer eignet sich grundsätzlich als und die Atmosphäre stark verschmutzende Kraftfahr- wirkungsvolles umweltpolitisches Lenkungsinstru- zeuge die Last der Steuer am stärksten zu spüren be- ment. Wir wollen die Bemessungsgrundlage der kommen und schnell vom Markt verschwinden oder, Kraftfahrzeugsteuer für Pkw zur Verbesserung dieses wie ich eben sagte, nachgerüstet werden. Lenkungseffektes stärker emissionsabhängig aus- Dieser Lenkungseffekt wird bei einer leicht nach- richten. Es wird eine deutliche Spreizung der Steuer vollziehbaren und fühlbaren Differenzierung der eingeführt, die sich an der ab dem 1. Januar 1997 auf Kraftfahrzeugsteuer nach Emissionskriterien schnel- alle neu zugelassenen Fahrzeuge anzuwendenden ler eintreten als mit der erhöhten Mineralölsteuer, Euro-2-Schadstoffnorm orientiert. denn die Preiselastizität der Kraftstoffnachfrage ist Ab dem 1. Januar sollen folgende Regelungen gel- bekanntermaßen sehr gering. ten - ich darf sie wiederholen, damit Sie sehen, wie Wir wollen durch unser Vorhaben schneller als praktikabel das Ganze überhaupt ist -: Für Pkw, die durch eine Verschärfung der Grenzwerte realisieren, die Euro-2-Grenzwerte einhalten, beträgt der Steuer- eine schadstoffärmere Pkw-Flotte im Markt zu ha- satz je angefangene 100 Kubikzentimeter Hubraum ben. Die Kraftfahrzeugsteuer soll mit Hilfe einer 10 DM. Für Dieselfahrzeuge ist ein Steuersatz von schadstofforientierten Klassifizierung deutlich ge- 27 DM zu entrichten. spreizt werden; ich wiederhole mich. Damit findet bereits jetzt ein Vorgriff auf die angestrebte Schad- Pkw, die die Euro-3-Norm schon heute erfüllen, er- stoffnorm auf europäischer Ebene bei der Kraftfahr- halten eine befristete Steuerbefreiung bis zum zeugsteuer statt. Deutschland übernimmt damit wie 31. Dezember 2002, aber höchstens 1 000 DM. Da- schon in der Vergangenheit in Europa wieder eine nach zahlen sie 10 DM Steuern für Benzin- und Vorreiterrolle. 27 DM für Diesel-Kraftfahrzeuge. Herr von Larcher, Sie haben hier den Mitnahmeeffekt angesprochen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich gebe zu: Er kann da sein. Aber der ökologische ordneten der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10161

Wolfgang Schulhoff Erst wenn die „Stinker" von der Straße sind, tagskuchen zu essen; es war ein heftiges Kauen zu könnte in einem zweiten Schritt zur weiteren CO2- bemerken. Vielleicht kriegen wir nachher auch noch Reduzierung eine Umlegung der gesamten Kraft- etwas davon ab. fahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer erfolgen. Herr Friedrich, eines zu Ihnen. Sie haben vorhin Herr Friedrich, Sie haben eben darauf hingewiesen, und das steht ja auch im Gesetz. Natürlich wissen richtigerweise gesagt, daß es noch nie so viele Mittel gegeben hätte wie wir, daß die Kilometerleistung eine wichtige Determi- für den öffentlichen Nahverkehr jetzt. Aber Sie sollten dann vielleicht ehrlicherweise nante des tatsächlichen CO2-Ausstoßes ist. Darin sind wir uns auch einig; wir haben das ja gestern dazusagen, wem Sie das zu verdanken haben, näm- auch schon thematisiert. lich den Beratungen im Bundesrat zum Steuerände- rungsgesetz 1993. Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, daß die schweren Lkw eine EU-rechtliche Sonderregelung (Beifall bei der SPD) haben. Hier brauchen wir also immer noch eine Mög- Sie und die Regierung hätten das doch wohl nicht ge- lichkeit, um zu differenzieren, aber ich bin der Mei- schafft und nicht gemacht. Das muß man jetzt hier nung, das könnten wir auch europäisch in den Griff ehrlicherweise einmal sagen. bekommen. Herr Kollege Schulhoff, mich hat es jetzt doch ein Daher begrüße ich den Vorschlag der Bundesregie- bißchen gewundert, daß Sie eine Attacke gegen ir- rung, rechtzeitig vor dem Ablauf der befristeten gendeinen ominösen Feind geritten haben. Sie ha- Steuerbefreiung am 31. Dezember 2002 einen Be- ben das Auto glühend verteidigt, obwohl kein schluß über die Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer Mensch hier gegen das Auto als solches etwas ge- auf die Mineralölsteuer zu fassen. sagt hat. Sogar die Kollegin Scheel von den Grünen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hat uns dargestellt, daß auch die Grünen inzwischen von BMW flehentlich um Unterstützung gebeten Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und werden. Insofern habe ich das nicht verstanden. Herren von der Opposition: Wir unterscheiden uns Besonders bemerkenswe rt finde ich, daß in dem nur in der Zeitschiene. - Koalitionsentwurf die Euro-3-Norm schon manife- Mit dieser zeitlichen Staffelung in dem von uns stiert ist, obwohl diese Euro-3-Norm überhaupt noch vorgeschlagenen Sinne tragen wir dem Umweltge- nicht genau festliegt. Das ist also eine Spekulation danken am besten Rechnung und schaffen für die für die Zukunft. Aber vielleicht können Sie ja hellse- Steuerzahler eine langfristige Planungssicherheit bei hen, und uns ist da etwas entgangen. der Anschaffung ihrer Lkw. (Beifall bei der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Das geht aber gar nicht bei Ihnen! Da hat kein Steuerzahler Pla Interessant ist, daß der Kollege Hauser - lassen Sie nungssicherheit!) mich den Satz zu Ende sagen, dann können Sie gerne dazwischenfragen - und auch die anderen Lassen Sie mich zum Abschluß nochmals darauf Rednerinnen und Redner der Koalitionsfraktionen hinweisen: Trotz dieser unbestreitbaren Fortschritte mehr - so war mein Eindruck - über die Ökosteuer- für die Umwelt wird es das Automobil - jedenfalls konzepte der Grünen und auch der SPD geredet ha- das Automobil mit Verbrennungsmotor - ohne ben. Das muß wohl daran liegen, daß es zu Ihrem Schadstoffbelastung in absehbarer Zeit nicht geben. eigenen Konzept, das zum Kraftfahrzeugsteuerände- Wollen wir die Vorteile der „Auto-Mobilität" nutzen, rungsgesetz vorliegt, nicht soviel zu sagen gibt. Ich müssen wir auch die damit verbundenen Belastun- denke mir, das muß wohl der Grund dafür sein. gen akzeptieren, die immer noch in Restwerten vor- handen sein werden. Das bleibt eine Gratwande- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ rung. Das neue Gesetz hilft hier aber, diese Wande- DIE GRÜNEN) rung sicher zu bestehen. Auch wenn Sie viel über unser Ökosteuerkonzept Ich bedanke mich. geredet haben, habe ich doch den Eindruck, daß Sie es entweder nicht zu Ende gelesen oder nicht ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) standen haben; das kann ich nicht beurteilen. Denn die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen, sind völlig falsch. Aber wir können das gern noch einmal nach- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Heide Mattischeck, SPD. holen.

Herr Kollege Heide Mattischeck (SPD): Herr Präsident! Meine Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Damen und Herren! Auch ich möchte dem Kollegen Friedrich, bitte. Hauser sehr herzlich zum Geburtstag gratulieren, ge- rade als Wahlkreisnachbarin. Horst Friedrich (F.D.P.): Frau Kollegin Mattischek, sind Sie denn bereit zuzugeben, daß diese Koalition (Beifall) bereits bei den Lkw einmal eine Euronorm, die noch Ich hoffe, daß er noch Gelegenheit haben wird, nicht in dieser Form definie rt war, als Steueranreiz den Geburtstag ein bißchen zu feiern. Ich habe den genommen hat, nämlich die Euronorm 2, mit dem Ef- Eindruck, einige Kollegen seiner Fraktion hatten fekt, daß dann tatsächlich innerhalb eines halben schon Gelegenheit, so etwas Ähnliches wie Geburts- Jahres Aggregate dieser Norm zur Verfügung stan- 10162 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Horst Friedrich den und deswegen spürbar auch im Lkw-Bereich be- setzentwurf zur Änderung der Kfz-Steuer völlig un- reits- Entlastung eingetreten ist, so daß die Euro-3 zureichend. Definition beim Pkw überhaupt keine Sonderheit (Beifall bei der SPD) und schon gar keine Besonderheit ist? Er ist im besten Fall ein ganz kleines, ein wirklich winziges Reförmchen. Während sich die Bundesre- Heide Mattischeck (SPD): Herr Kollege F riedrich, gierung immer weiter von dem Ziel der CO2-Sen- warten wir dies ab. Ich hätte es trotzdem für sinnvol- kung um 25 Prozent bis zum Jahre 2005 verabschie- ler gehalten, klare und feste Definitionen in diesem det, will sich die Regierung ein weiteres Feigenblatt Gesetzentwurf zu haben und nicht das Prinzip Hoff- umhängen, um ihre ökologische Blöße notdürftig zu nung hineinzuschreiben. bedecken. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie (Beifall bei der SPD - Horst F riedrich bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ [F.D.P.]: Lesen Sie einmal den EU-Bericht zu DIE GRÜNEN ) CO2!) Man muß doch sagen, daß das Ziel der Bundesre- Praktischerweise wird dieses Feigenblatt künftig gierung - ich finde, das müssen wir hier immer wie- auch noch von den Ländern finanziert. So kann man der deutlich machen -, die CO2-Abgasmengen bis ja nur die Hoffnung haben, daß der vorgesehene zum Jahr 2005 um 25 Prozent zu senken, in immer Zeitpunkt diese Regierung nicht mehr bet rifft, son- weitere Ferne rückt, auch wenn der Kollege vorher dern daß wir das dann anders machen können. gesagt hat, daß die Luft bei uns immer besser wird. Es ist doch ein offenes Geheimnis, daß die Bundesre- (Beifall bei der SPD - Horst F riedrich gierung dieses Ziel nicht erreichen wird, auch nicht [F.D.P.]: Da war auch der Wunsch der Vater mit diesem Gesetzentwurf. des Gedankens!) (Zuruf von der CDU/CSU: Warten wir mal Natürlich ist es notwendig, die kraftfahrzeugsteu- ab!) erlichen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Reduzierung der verkehrsbedingten Emissionen von Ursache dafür ist die ständig wachsende Straßen- Pkw zu schaffen. Die SPD befürwortet deswegen verkehrslawine mit ihren auch ständig steigenden eine stärkere steuerliche Spreizung zugunsten von CO2-Emissionen. Das Sündenregister der Regierung, verbrauchs- und emissionsärmeren Pkw. Dieses Prin- die dagegen nichts tut, ist relativ lang. Es werden im- zip liegt dem Gesetzentwurf zugrunde, und das ist so mer mehr Güter auf der Straße statt auf der Schiene auch vernünftig. transportiert, und die Pkw-Flotte ist durch ständig steigende Gewichte, nämlich immer größere und im- Die Umgestaltung der Kfz-Steuer für Pkw muß mer schwerere Autos, und steigende Geschwindig- sich an folgenden Kriterien orientieren: Schaffung keiten gekennzeichnet. von deutlichen Anreizen für schadstoffärmere Fahr- zeuge, umweltgerechte Belastung von Fahrzeugen, In der Summe heißt doch das, was die Bundesre- insbesondere von Altfahrzeugen, die nicht der Euro- gierung macht: immer mehr Fahrkilometer und ein 2-Norm entsprechen, Transparenz und Überschau- weiter steigender Kraftstoffverbrauch im Straßenver- barkeit für die Bürgerinnen und Bürger und auch kehr. Steuervereinfachung - dieser Entwurf trägt nicht (Zuruf von der SPD: Genau das!) dazu bei, etwas zu entbürokratisieren, ganz im Ge- genteil - Die Verkehrsprobleme wirken sich bei jedem ein- (Beifall bei der SPD) zelnen Menschen aus: Lärm, Abgase, Sommersmog, verstopfte Innenstädte und Stadtzufahrten und auch und eine aufkommensneutrale Auswirkung auf die verstopfte Autobahnkreuze. Kein Bürger und keine Länder. All diesen Kriterien genügt der Gesetzent- Bürgerin, die sich bei uns nicht über Verkehrsbelästi- wurf in keiner Weise. gungen aktiver oder passiver A rt beschwert. Es ist völlig unverständlich, daß die Bundesregie- Nun kommt als Lösungsvorschlag der Bundesre- rung mit ihrem Minireförmchen zwar künftig eine gierung dieser Gesetzentwurf. Sein Hauptziel ist - so stärkere Differenzierung der Steuersätze nach sagen Sie -, eine „maßvolle umweltorientierte Len- Schadstoffemissionen vorschlägt, was wir durchaus kung zu erreichen". Diese Lenkung wird sehr maß- als positiv bewerten, jedoch auf dem Wege zu einer voll sein; das sehen wir auch so. Wie soll es denn zu ordentlichen Reform stehenbleibt. Dazu haben wir einer wirksameren umweltorientierten Lenkung heute schon einiges gehört. Nur ein Reförmchen ist kommen, wenn alle anderen verkehrspolitischen dieser Entwurf auch deshalb, weil die hubraumbezo- Parameter auf weiteres Wachstum des Straßenver- gene Besteuerung beibehalten wird, obwohl sie für kehrs eingestellt sind, Schadstoffbelastungen und Kraftstoffverbrauch nur bedingt aussagefähig ist. Das Fahrzeuggewicht zum (Beifall bei der SPD) Beispiel ist aussagefähiger, wie ein Vertreter des Um- namentlich die Investitionspolitik mit ihren Kür- weltbundesamtes bei der Anhörung neulich auf- zungen beim Schienenbau? zeigte. Führt doch die Abnahme des Fahrzeugge- wichtes je 100 Kilogramm zu einer Verbrauchsabsen- Gemessen an den Notwendigkeiten einer umwelt- kung um 0,6 Liter Kraftstoff. Aber vielleicht wäre das orientierten Verkehrspolitik ist der vorliegende Ge- ja zu wirkungsvoll gewesen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10163

Heide Mattischeck Die Bundesregierung hat eine ganz große Chance sich die Zähne daran ausbeißen. Mehr kann ich aus vertan, mehr und Entscheidendes zur generellen Zeitgründen dazu nicht sagen. Kraftstoffverbrauchsabsenkung zu tun. Es reicht Also noch einmal, zum Schluß: Ein Modell für eine nicht aus, irgendwelche Steuergeschenke für die An- schaffung von Kleinstwagen auszuschütten. Dadurch emissions- und verbrauchsabhängige Kfz-Steuer wird nur Zweitwagenförderung betrieben. sollte sich auf einige wenige Kriterien beschränken und möglichst durchschaubar für die Bürgerinnen Mit den überproportionalen Steuersenkungen für und Bürger sein. Der Gesetzentwurf der Bundesre- Diesel-Pkw bei Erfüllung der Euro-2-Norm will die gierung ist eine vertane Chance. Ein konsequenter Bundesregierung dem Gesetzentwurf sozusagen ein und mutiger Entwurf hätte ein Einstieg in eine ökolo- Kuckucksei beilegen. Aus umweltfachlichen Grün- gisch orientierte Besteuerung von Kraftfahrzeugen den ist die Steuersenkung für Diesel-Pkw nicht ge- überhaupt sein müssen. Wer aber eine wirk liche Re- rechtfertigt. Die Euro-2-Grenzwerte, die ab 1. Januar duzierung der CO2-Emissionen und der Schadstoffe 1997 für alle Neuzulassungen obligatorisch einzuhal- im Abgas erzielen will, muß auch beide Komponen- ten sind, sind für Diesel schwächer als für Pkw mit ten als Bemessungsgrundlage heranziehen. Ottomotoren. Der Summengrenzwert für Kohlenwas- serstoff und Stickoxid liegt für Ottomotoren bei Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Finanz- und 0,5 Gramm pro Kilometer. Dieselmotoren bekommen Verkehrspolitikerinnen und -politiker der SPD-Frak- einen Schmutzrabatt; ihr Grenzmaß liegt bei tion werden den Gesetzentwurf sorgfältig beraten. 0,7 Gramm pro Kilometer. Hinzu kommen bei Diesel Wir werden entsprechend unserer Kritik Änderungs- Pkw die Partikelemissionen, die als karzinogen und vorschläge machen, damit aus Ihrem Reförmchen mutagen eingeschätzt werden. Langfristig müssen vielleicht noch etwas Vernünftiges wird. für alle Antriebskonzepte wieder gleiche Emissions- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Bar grenzwerte gelten, wie es auch in der Vergangenheit bara Höll [PDS]) immer selbstverständlich war. Während bisher immer Konsens darüber bestand, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die daß vergleichbare Benzin- und Diesel-Pkw- bei glei- Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung cher Jahresfahrleistung eine in etwa gleiche Jahres- des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/4918 an die steuerbelastung als Summe von Kfz-Steuern und in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Mineralölsteuer haben, soll jetzt davon abgewichen Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der werden. Künftig soll bei gleicher Jahresfahrleistung Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. der Diesel-Pkw steuerlich bessergestellt werden als der Benziner, wenn die Euro-2-Grenzwerte erfüllt Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis c sowie sind. Zusatzpunkt 6 auf: Das ist nicht überzeugend. Nach Auffassung der 9. Innovationsdebatte Automobilindustrie selber steckt auch im Ottomotor das entsprechende Potential zur Kraftstoffeinspa- a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- rung. neten Josef Holle rith, Christian Lenzer, Kurt (Beifall bei der SPD) J. Rossmanith, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Es ist unverständlich, warum das nun verschüttet Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Horst werden soll. Friedrich, Dr. Karlheinz Guttmacher, weite- Nachgerade zum Lachen ist die angekündigte Ab- rer Abgeordneter und der Fraktion der schaffung der Kfz-Steuer zum Jahre 2003. Ich ver- F.D.P. weise auf meine Ausführungen zur Regierungszeit Stärkung und Förderung innovativer klei- vorhin. - Das ist wohl ein Zugeständnis an die F.D.P., ner und mittlerer Unternehmen die diese Forderung zum Kardinalproblem der Steu- - Drucksachen 13/3542, 13/4673 - ervereinfachung gemacht hat. Da könnte ich mir an- deres vorstellen. b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Zur Sache muß, ganz im Ernst, noch gesagt wer- Berichts des Ausschusses für Bildung, Wis- den - ich verhehle das nicht -, daß auch für die SPD senschaft, Forschung, Technologie und die Abschaffung der Kfz-Steuer und ihre Umlegung Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuß) auf die Mineralölsteuer einen gewissen Charme hat. - zu dem Antrag der Abgeordneten Horst (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Aha!) Kubatschka, Dr. Peter Glotz, Volker Jung (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und Schließlich ist ja richtig, daß fahrende Fahrzeuge er- der Fraktion der SPD heblich größere Probleme bereiten als stehende. Trotzdem - auch das ist vorhin von meinem Kollegen Energieforschung schon ausgeführt worden - erzeugen auch stehende - zu dem Antrag der Abgeordneten Si- Fahrzeuge bereits eine Reihe von Umweltbelastun- mone Probst, Elisabeth Altmann (Pom- gen. melsbrunn), Antje Hermenau, weiterer Die Bundesregierung weiß natürlich auch, daß eu- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- ropapolitisch die Voraussetzungen für die Abschaf NIS 90/DIE GRÜNEN fung der Kfz-Steuer nicht gegeben sind. Sie würde Energie für die Zukunft 10164 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose - zu dem Antrag der Abgeordneten Chri- Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsan- stian Lenzer, Hans-Otto Schmiedeberg, trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann, Dr. Karl- heinz Guttmacher und der Fraktionen In der Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt der CDU/CSU und F.D.P. möchten folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Ra- Forschung zur Sicherung der Energie- chel, Hollerith, Schmiedeberg, für die SPD Hoff- versorgung und für ein besseres Klima mann, Fischer, Kubatschka, Richter, für Bündnis 90/ Die Grünen Probst, Wolf, für die F.D.P. Laermann, für - Drucksachen 13/1424, 13/1935, 13/3610, die PDS Bierstedt und für die Bundesregierung die 13/4210 – Parlamentarische Staatssekretärin Yzer *). Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. - Berichterstattung: Dann ist die Aussprache geschlossen. Abgeordnete Hans-Otto Schmiedeberg Horst Kubatschka Darf ich die Kollegen, die sich im Mittelgang auf- Simone Probst halten, bitten, Platz zu nehmen! Sonst habe ich kei- Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann nen Überblick bei der Abstimmung. - Herr Kollege Wolfgang Bierstedt Mahlo, Sie machen es uns leichter, wenn Sie sich zu Ihrer Fraktion setzen. Sonst zähle ich Sie zu den Grü- c) Beratung der Beschlußempfehlung und nen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das recht ist. des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungs- Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuß) punkt 9 a: Abstimmung über den Entschließungs- antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf - zu dem Antrag der Abgeordneten Chri- Drucksache 13/4961. Wer stimmt für diesen Ent- stian Lenzer, Thomas Rachel, Dr. Martin schließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Mayer (Siegertsbrunn), weiterer Abge- - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen - ordneter und der Fraktion der CDU/CSU der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion ge- sowie der Abgeordneten Dr.-Ing. Karl gen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen abge- Hans Laermann, Dr. Karlheinz Guttma- lehnt. cher, Horst Friedrich und der Fraktion Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über die der F.D.P. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technik- Rolle Deutschlands in der internationa- folgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der len Raumfahrt SPD zur Energieforschung, Drucksache 13/4210. Der Ausschuß empfiehlt unter a, den Antrag auf Drucksa- - zu dem Antrag der Abgeordneten Lothar che 13/1424 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Fischer (Homburg), Dr. Peter Glotz, Tilo schlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Braune, weiterer Abgeordneter und der - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion der SPD Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD Zur Zukunft der deutschen und euro- und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die päischen Raumfahrt Grünen angenommen. - Drucksachen 13/3497, 13/3974, 13/4609 - Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technik- Berichterstattung: folgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Abgeordnete Thomas Rachel Bündnis 90/Die Grünen zur Energie für die Zukunft Lothar Fischer (Homburg) auf Drucksache 13/4210. Der Ausschuß empfiehlt un- Simone Probst ter b, den Antrag auf Drucksache 13/1935 abzuleh- Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann nen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wolfgang Bierstedt Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluß- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak- ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Tilo tionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Braune, Dr. Edelbert Richter, Wolfgang Grünen und gegen einige Stimmen der SPD sowie Thierse, weiterer Abgeordneter und der Frak- bei einigen Stimmenthaltungen der SPD angenom- tion der SPD men. Neue Akzente bei der Förderung der Indu Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, strieforschung in den neuen Ländern Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technik- folgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen - Drucksache 13/4967 - der CDU/CSU und F.D.P. betreffend Forschung zur Sicherung der Energieversorgung und für ein besse- Überweisungsvorschlag: res Klima, Drucksache 13/4210. Der Ausschuß emp- Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, fiehlt unter c, den Antrag auf Drucksache 13/3610 Technologie und Technikfolgenabschätzung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft *) Die Redetexte werden als Anlage 2 in einem Nachtrag zu Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung diesem Bericht abgedruckt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10165

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- lage auf Drucksache 13/3336 an die in der Tagesord- schlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die angenommen. Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 9 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, For- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b schung, Technologie und Technikfolgenabschät- auf: zung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Rolle Deutschlands in der internatio- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung nalen Raumfahrt, Drucksache 13/4609. Der Aus- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur schuß empfiehlt unter a, den Antrag auf Druck- Reform des Kindschaftsrechts (Kindschafts- sache 13/3497 anzunehmen. Wer stimmt für diese rechtsreformgesetz - KindRG) Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthal- - Drucksache 13/4899 - tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Überweisungsvorschlag: Stimmenm der Koalitionsfraktionen gegen die Sti Rechtsausschuß (federführend) men der Opposition angenommen. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technik- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita folgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der Grießhaber, Marieluise Beck (Bremen), Volker SPD zur Zukunft der deutschen und europäischen Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Raumfahrt, Drucksache 13/4609. Der Ausschuß emp- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fiehlt unter b, den Antrag auf Drucksache 13/3974 Gesetzliche Neuregelung des Kindschafts- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- rechts lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- - Drucksache 13/3341 - schlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- - Überweisungsvorschlag: tionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen von SPD bei Stimmenthaltung Rechtsausschuß (federführend) der PDS angenommen. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Detlev von Larcher [SPD]: Ganz neue Kon In dieser Debatte, die ich hiermit eröffne, möchten stellation!) folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Falk, Pofalla, Göt- Zusatzpunkt 6: Der Antrag der Fraktion der SPD zer, für die SPD von Renesse, für Bündnis 90/Die zu neuen Akzenten bei der Förderung der Industrie- Grünen Grießhaber, für die PDS Lüth und für die forschung in den neuen Ländern auf Drucksache 13/ Bundesregierung Bundesministerin Nolte und Bun- 4967 soll an die in der Tagesordnung genannten Aus- desminister Schmidt-Jortzig.*) Ist das Haus damit schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einver- einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die De- standen? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- batte geschlossen. sungen so beschlossen. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: lagen auf den Drucksachen 13/4899 und 13/3341 an Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Andres, Christel Deichmann, Gabriele Fogra- vor. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann scher weiterer Abgeordneter und der Fraktion sind die Überweisungen so beschlossen. der SPD Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Bericht des Beauftragten der Bundesregie- rung für Aussiedlerfragen Erste Beratung des von den Fraktionen der - Drucksache 13/3336 - CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte Innenausschuß (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - Drucksache- 13/4947 Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: In dieser Debatte, die ich hiermit eröffne, möchten folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Finanzausschuß Protokoll geben: für die CDU/CSU Kors, für die SPD Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Lörcher, für Bündnis 90/Die Grünen Özdemir, für die F.D.P. Stadler, für die PDS Jelpke und für die Bundes- In dieser Debatte, die ich hiermit eröffne, möchten regierung Parlamentarischer Staatssekretär Waffen- folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu schmidt *). Ich gehe davon aus, daß das Haus einver- Protokoll geben: für die CDU/CSU Susset, für die standen ist. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die SPD Mascher, für Bündnis 90/Die Grünen Höfken, Debatte. für die F.D.P. Heinrich, für die PDS Maleuda und für

*) Die Redetexte werden als Anlage 3 in einem Nachtrag zu *) Die Redetexte werden als Anlage 4 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. 10166 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose die Bundesregierung der Parlamentarische Staatsse- Wir sind damit leider schon am Schluß unserer kretär Kraus.*) Ist das Haus einverstanden? - Das ist heutigen Tagesordnung. der Fall. Dann schließe ich die Debatte. (Beifall) Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Ge- setzentwurfs auf Drucksache 13/4947 an die in der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es destages auf Freitag, den 21. Juni 1996, 9 Uhr ein. anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Sitzung ist geschlossen. *) Die Redetexte werden als Anlage 5 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. (Schluß der Sitzung: 22.56 Uhr)

Berichtigung

Nachtrag zum Plenarprotokoll 13/110, Seite 9873:

Die Anlage 14 ist wie folgt zu ersetzen:

Erklärung der Abgeordneten Maria Eichhorn (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unzulässige Ver- schärfung des Schwangeren- und Familienhilfe- änderungsgesetzes des Bundes vom 21. August 1995 durch das Bayerische Schwangerenbera- tungsgesetz und das Bayerische Schwangeren- hilfeergänzungsgesetz - Drucksache 13/4858 - am 13. Juni 1996

Ich habe an der Abstimmung teilgenommen und mit Nein gestimmt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10167*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordneter) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Rehbock-Zureich, Ka rin SPD 20. 6. 96 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Dr. Rexrodt, Günter F.D.P. 20. 6. 96 Scharping, Rudolf SPD 20. 6. 96 Belle, Meinrad CDU/CSU 20. 6. 96 Scheelen, Bernd SPD 20. 6. 96 Blunck, Lilo SPD 20. 6. 96 Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 20. 6. 96 Gysi, Andrea PDS 20. 6. 96 90/DIE GRÜNEN Horn, Erwin SPD 20. 6. 96 Steindor, Marina BÜNDNIS 20. 6. 96 Kanther, Manfred CDU/CSU 20. 6. 96 90/DIE GRÜNEN Kolbow, Walter SPD 20. 6. 96 Thieser, Dietmar SPD 20. 6. 96 Michels, Meinolf CDU/CSU 20. 6. 96 Wieczorek-Zeul, SPD 20.6.96 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 20. 6. 96 Heidemarie

Nachtrag zum Plenarprotokoll 13/113

Deutscher Bundestag

Nachtrag zum Stenographischen Bericht

113. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Inhalt:

- Anlage 2 Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 9 a, b, c und Zusatztages- ordnungspunkt 11 (a - Entwurf eines Ge- ordnungspunkt 6 (Innovationsdebatte) setzes zur Reform des Kindschaftsrechts; Thomas Rachel CDU/CSU 10169* A b - Antrag: Gesetzliche Neuregelung des Kindschaftsrechts) Jelena Hoffmann SPD 10170* D , Bundesministerin BMFSFJ 10188* D Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 10171* C CDU/CSU 10189* C Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann F.D.P. ... 10172* B Margot von Renesse SPD 10190* D Wolfgang Bierstedt PDS 10173* C Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Josef Hollerith CDU/CSU 10174* C NEN 10192* A Lothar Fischer (Homburg) SPD 10175* C Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 10193* A Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundes DIE GRÜNEN 10177* A minister BMJ 10194* A Hans-Otto Schmiedeberg CDU/CSU . 10178* B Heidemarie Lüth PDS 10195* A Horst Kubatschka SPD 10179* D CDU/CSU 10195* C Dr. Edelbert Richter SPD 10180* C Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU 10197* A , Parl. Staatssekretärin BMBF 10181* C

Anlage 5 Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 14 (Entwurf eines Geset- ordnungspunkt 10 (Antrag zum Bericht zes zur Änderung des Gesetzes über die des Beauftragten der Bundesregierung Alterssicherung der Landwirte) für Aussiedlerfragen) Egon Susset CDU/CSU 10198* A Eva-Maria Kors CDU/CSU 10183* B Ulrike Mascher SPD 10199* B Christa Lörcher SPD 10184* B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10186* C Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 10200* B Dr. F D P. 10187* A Ulrich Heinrich F.D.P. 10200* D Ulla Jelpke PDS 10187* D Dr. Günther Maleuda PDS 10201* B Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staats sekretär BMI 10188* B Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär BMA . 10201* D

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10169*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 2 Erstens. Wir begrüßen die von Bundesforschungs- minister Dr. Jürgen Rüttgers durchgesetzte Entschei- Zu Protokoll gegebene Reden dung auf der ESA-Ministerkonferenz in Toulouse zur zu Tagesordnungspunkt 9a, b, c Beteiligung der Europäer am Bau der internationalen und Zusatztagesordnungspunkt 6 Raumstation. Dauerhafte Forschung unter den Be- (Innovationsdebatte) dingungen der Schwerelosigkeit erbringt neue Er- kenntnisse in der Grundlagenforschung und vielfäl- tige Chancen zur Entwicklung neuer wettbewerbsfä- Thomas Rachel (CDU/CSU): Der Wirtschaftsstand- higer terrestrischer Produkte in den Zukunftsberei- ort Deutschland befindet sich in einem durchgreifen- chen Informationstechnologie, Verkehr, Energie, Me- den Veränderungsprozeß. Im globalen Wettbewerb dizin, Automatisierungs- und Robotik-Systeme sowie sind Wachstum und dauerhafte Beschäftigung nur Werkstoffe. mit Innovationen bei Produkten und Prozessen mög- lich. Innovation ist der Schlüssel zu neuen Arbeits- Zweitens. Die Koalition unterstützt die Weiterent- plätzen. wicklung der Ariane 5-Rakete. Das Scheitern des er- sten Testfluges der neuen Generation der Ariane Unsere Exporterfolge werden allerdings weitge- 5-Rakete war ein bitterer Rückschlag. Trotzdem: Mit hend mit reifen oder auslaufenden Produkten erzielt. uns wird es keinen Ausstieg aus der Raumfahrt ge- Nur rund 15 % der deutschen Industriewarenausfuh- ben! ren entfallen auf Produkte der Spitzentechnologie. Zum Vergleich: In den USA sind es 30 %, in Japan In Kenntnis dessen, daß die Erprobung einer 19 %. Wir setzen also zu wenig auf die Spitzentech- neuen Trägerraketen-Generation aufgrund ihrer nik, mit der die Produkte von morgen gemacht wer- Komplexität mit einem Risiko verbunden ist, war ent- den. Zugespitzt formuliert: Wir leben aus der Ver- schieden worden, vor Beginn der kommerziellen gangenheit. Vermarktungsphase der Ariane 5 zwei sogenannte Qualifikationsflüge durchzuführen. Wer dies kriti- Ein Hochlohnland wie Deutschland kann nur dann siert, dem rufe ich zu: Hätten wir nicht den Mut zum hohe Löhne zahlen, wenn es Produkte mit hoher Start der Ariane 1 und der folgenden Generationen Wertschöpfung herstellt. Eine besonders hohe Wert- aufgebracht, hätten wir es nicht geschafft, daß die schöpfung hat die Raumfahrt. Die Luft- und Raum- Ariane 4 heute rund 60 % des kommerziellen Rake- fahrtindustrie ist die mit Abstand forschungsintensiv- tenstartmarktes erobert hat. ste Branche. Die Luft- und Raumfahrtindustrie steckt Der FuE-Aufwand in Höhe von 1,5 Milliarden DM 27 % ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung für Ariane 1 bis 4 wird bis zum Produktionsende zu und überragt damit die sonstige Volkswirtschaft mit dem mehr als fünffachen Umsatz geführt haben. einem FuE-Aufwand von 3 bis 5 % bei weitem. Ariane sichert rund 2 000 hochqualifizierte Arbeits- plätze in der deutschen Raumfahrtindustrie, und das Wenn wir über Innovation reden, reden wir von Raumfahrt. ist gut so. Drittens. Angesichts des verschärften weltweiten Wenngleich die Raumfahrtbranche keine so große Wettbewerbs kann es nicht hingenommen werden, Umsatz- und Beschäftigtengröße aufweist, so besitzt daß bis heute wegen Streitigkeiten auf europäischer sie dennoch strategische Bedeutung für die Zukunfts- Ebene keine Raketenstart-Abkommen zwischen chancen einer Industrienation. Denn Raumfahrt Europa auf der einen und Rußland und China auf der weist überdurchschnittliche Wachstumsperspektiven anderen Seite zustande gekommen sind. auf und besitzt zugleich ein hohes Technologie- potential mit Wirkung in andere Wirtschaftsbereiche Viertens. Das deutsche Know-how zur Erdbeob- hinein. Sie ist eine Schlüsselbranche, auf die eine achtung soll in die militärischen Aufklärungssatel- moderne Volkswirtschaft an der Schwelle zum liten einfließen. 21. Jahrhundert nicht verzichten kann. Fünftens. Wir fordern die klare Umsetzung des Die Raumfahrt ist eine Querschnittstechnologie. Raumfahrtübertragungsgesetzes, entsprechend dem „Die Mischung macht's." Schlüsseltechnologien wie auch die anderen Ministerien die Möglichkeiten der Mikro- und Opto-Elektronik, Software-Technologie, Raumfahrt nutzen und die DARA mit der Projekt- neue Hochleistungswerkstoffe und Energietechnik durchführung beauftragen sollen. werden zusammengeführt, um die hochkomplexen Sechstens. Kleine und mittlere Unternehmen sol- Raumfahrtsysteme bauen, betreiben und nutzen zu len verstärkt berücksichtigt werden. Bundesminister können. Gerade in der Verzahnung dieser Technolo- Rüttgers hat Wort gehalten; denn die kleinen und giefelder innerhalb eines einzigen Industriezweiges mittleren Raumfahrtfirmen erhalten beim europäi- liegt das enorme Potential. Das macht Raumfahrt zu schen Raumstationsbeitrag und bei den Ariane 5-Fol- einer „Königsdisziplin der Technologieentwicklung". geaktivitäten einen Auftragsanteil von 25 %. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen aus CDU/ Wir bedauern, daß es durch den Widerstand der CSU und F.D.P. den Antrag zur „Rolle Deutschlands SPD-Fraktion nicht gelungen ist, einen gemeinsa- in der internationalen Raumfahrt" dem Parlament men Antrag zur Raumfahrt über die Parteigrenzen vorgelegt. hinweg einzubringen. Die SPD hat die einmalige 10170* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Chance verspielt, daß sich rund 80 % des Parlaments dung verstanden. Währenddessen haben andere das mit einer gemeinsamen Position hinter die Raumfahrt eigentliche Geschäft mit den Produkten aus der klas- stellen. sischen Raumfahrt, nämlich raumfahrtgestützte Dienstleistungen gemacht. Das Folgegeschäft, das Das letztliche Beharren der SPD auf der Forderung sich z. B. aus dem Betrieb eines (Telefon-)Satelliten nach einem „5. Weltraumprogramm" ist unsinnig, ergibt, ist im allgemeinen um den Faktor 20 größer weil mit der Toulouse-Entscheidung die wesentli- als die Erlöse aus Entwicklung und Bau des Satel- chen Weichenstellungen im Bereich der Raumfahrt - liten. Das eigentliche Geschäft mit der Raumfahrt Raumstationsbeteiligung, Ariane 5, Wissenschafts- findet heute außerhalb der Raumfahrt-Industrie statt. programm - getroffen wurden. Wer über diese von uns unterstützten Raumfahrtvorhaben hinaus ein Muß das so bleiben? Marktorientierung bedeutet, 5. Weltraumprogramm mit zusätzlichen Aktivitäten daß die Angebotspalette der deutschen Raumfahrtin- von seiten des Bundes veranstalten will, muß, um dustrie aus dem Kerngeschäft heraus auf den Bet rieb glaubwürdig zu sein, dessen zusätzliche Finanzie- solcher Systeme und entsprechende Dienstleistun- rung aus dem Bundeshaushalt aufzeigen. Diesen Be- gen ausgeweitet wird. weis ist die SPD-Opposition bis heute schuldig ge- blieben. Wir brauchen ein Umdenken. Die Entscheidungen zur Raumstation, Ariane 5 und den Aufklärungssatel- Daß sich die Raumfahrt-Branche, wie die SPD in liten geben der Industrie einen Übergangszeitraum ihrem Antrag behauptet, bei Umsatz und Aufträgen auf hohem Niveau, den sie nun zum verträglichen, in einer „Krise" befände, widersp richt den Fakten: aber notwendigen Umsteuern ihrer Kapazitäten in Mit der Entscheidung von Toulouse und dem Richtung kommerzieller Raumfahrtmärkte nutzen deutsch-französischen Beschluß über die militäri- muß. Wir werden diese eigenverantwortlichen Kom- schen Aufklärungssatelliten verfügt die deutsche merzialisierungsanstrengungen der Unternehmen Raumfahrtindustrie über ein Auftragspolster von beobachten und notfalls als Politik einfordern. rund 6 Milliarden Mark für die nächsten zehn Jahre! Die Bundesregierung ist der verläßliche Partner der Heute umfaßt die zivile kommerzielle Raumfahrt Raumfahrtbetriebe und ihrer Arbeitnehmer. ein weltweites Marktvolumen von jährlich 43 Mil- liarden Mark. Für die Bereiche satellitengestützte Der Entschließungsantrag der Grünen ist ein Gru- Telekommunikation, Erderkundung sowie satelliten- selkatalog zur Diffamierung der Raumfahrt. Die Fun- gestützte Ortsbestimmung und Navigation wird in damentalkritik der Grünen an der Tätigkeit unserer den nächsten zehn Jahren ein globales Marktvolu- Astronauten ist eine Ohrfeige für die gelungene in- men von rund 200 Milliarden Mark erwartet. Hier ternationale Kooperation im Weltall. Wir sind stolz können neue Märkte erobert und hochwertige Ar- auf den deutschen Astronauten Thomas Reiter, der beitsplätze geschaffen werden. Denn es gilt: „Wer mit seinen russischen Kollegen in der Raumstation Raumfahrt kann, kann alles!" Mir medizinische Forschung betrieben hat. Nicht kalter Krieg, sondern Zusammenarbeit unter höch- ster technologischer Herausforderung ist das Kenn- Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): Wie Honig auf zeichen bemannter Raumfahrt im Jahr 1996. die Seele fließen die Wörter aus der Antwort der Bun- desregierung auf die Große Anfrage, die wir jetzt dis- Automaten können zwar den Menschen als Labo- kutieren. Ich zitiere: „Die Volkswirtschaft der Bun- ranten in der Raumstation unterstützen, aber nicht desrepublik Deutschland ist in hohem Maße mittel- ersetzen. Dies haben die Grünen bis heute nicht ver- ständisch geprägt. Erfolgreiche innovative kleine standen. Die kognitiven, kreativen und feinmotori- und mittlere Unternehmen sind daher Voraussetzung schen Fähigkeiten des Menschen sind nicht durch und Garant für wirtschaftlichen Erfolg und für mehr Roboter nachzubilden. Wachstum und Beschäftigung." Und weiter heißt es: Auch die Raumfahrtindustrie in Deutschland muß „Ein wichtiges Element zur Standortverbesserung ist sich angesichts knapper finanzieller Ressourcen ver- die Stärkung der Leistungs- und Innovationsfähig- ändern. Wichtiges Anliegen unseres Antrages ist, keit innovativer KMU und die Steigerung technolo- daß sich die Raumfahrtbranche stärker an kommer- gieorientierter Unternehmensgründungen." ziellen Gesichtspunkten orientiert. Wir brauchen Doch wenn man sich mit der Realität auseinander- mehr Marktnähe in dieser hochpolitischen Branche. setzt, kommt der Verdacht auf, daß die Bereiche For- Denn heute ist die deutsche Raumfahrtindustrie zu schung, Entwicklung und Bildung Stiefkinder dieser 70 % von der Durchführung öffentlicher Aufträge Regierung sind und das Wort Innovation nur ein Mo- und Forschungsprogramme abhängig. Sie darf sich debegriff ist. aber gerade nicht auf dem staatlichen Auftragsvolu- men ausruhen. Die Zahlen sprechen für sich: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Prozent des Brutto- Auf dem privatwirtschaftlichen Markt akquiriert sozialprodukts lagen 1992 in Deutschland bei die deutsche Raumfahrtindustrie nur 30 % ihres Auf- 2,5 Prozent, in Frankreich bei 2,4 Prozent, in Schwe- tragsvolumens. Das ist zu wenig. den bei 2,9 Prozent, in Japan bei 3,0 Prozent und in Was ist die Ursache? den USA bei 2,8 Prozent. 1994 sind die Ausgaben der Bundesrepublik sogar erstmals unter das Niveau Die deutsche Raumfahrtindustrie hat sich in erster Frankreichs gefallen. Ähnlich verhält es sich mit der Linie als Entwickler innovativer Prototypen und Ein- Wachstumsrate der industriellen Aufwendungen im zelsysteme vor allem für wissenschaftliche Anwen- Bereich Forschung und Entwicklung: In den Jahren Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10171'

1989 bis 1992 verzeichnete Frankreich einen Zu- für die Innovationskraft in den neuen Bundeslän- wachs von 5,5 Prozent, Deutschland 0,03 Prozent. dern. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Den Forschungsabteilungen der Bet riebe, die zu Anfrage wird nun festgestellt, daß gerade dieser Be- einer Keimzelle der Innovationskraft in der regiona- reich durch die deutsche Industrie nur unzureichend len Wirtschaft werden könnten, fehlen Geld und Auf- abgedeckt wird. Die Regierungskoalition fragt sich träge, um Grundlagenforschung und die Entwick- mit der Großen Anfrage selber, welche verfehlte In- lung von neuen Ideen zu finanzieren. Der Anteil der novationspolitik sie in den letzten Jahren gemacht Aufträge aus der Industrie liegt im Durchschnitt bei hat. Da muß man feststellen, daß mit ihrer Politik 35 Prozent. Der Grund dafür ist, daß die meisten Be- Deutschland auf dem globalen Markt nicht wettbe- triebe in Ostdeutschland Westunternehmen gehören, werbsfähig sein kann. und diese lasten mit Produktentwicklungen erst ein- mal ihre Heimatabteilungen aus. Wo bleiben nun die neuen, jungen, technologie- orientierten Unternehmen, die die Regierung fördern Wir fordern daher eine stärkere Unterstützung von will? Welche Reformen müssen bei Forschungsein- innovativen Jungunternehmern in den neuen Län- richtungen und Hochschulen erfolgen, damit ein dern. Neben der Bereitstellung von Risikokapital Transfer von Wissen in wirtschaftliche Anwendun- müssen die Unternehmensgründung vom Gesetzge- gen erfolgt? Wie kann Industrieforschung in den ber vereinfacht sowie Ausbildungsangebote und Ma- neuen Bundesländern wieder aufgebaut werden - nagementkurse für Existenzgründer zur besseren nachdem sie erst von dieser Regierung abgewickelt Vorbereitung geschaffen werden. worden ist? Wie kann die Abwanderung von Wissen und Wissenschaftlern in andere Länder mit besseren Wir haben ein „Zukunftsministerium", einen „Zu- Bedingungen für technologieorientierte Unterneh- kunftsminister". Wenn man an die Zukunft denkt, mensgründungen gestoppt werden? Und nicht zu- hat man Visionen, Zukunftsentwürfe; man malt sich letzt: Wie kann der Koalitionsbeschluß, mehr Geld ein Bild der Erneuerung unserer Gesellschaft durch für mittelständische Forschung und Entwicklung die Anwendung neuer Verfahren und Techniken. Wo auszugeben, überhaupt umgesetzt werden? sind diese Visionen, meine Damen und Herren der Regierungskoalition? Alles das vermisse ich bei Ih- Die Leistungs- und internationale Wettbewerbsfä- nen. higkeit unserer Wirtschaft hängt wesentlich von der Vielfalt und Innovationsfähigkeit des Mittelstandes Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ab, nur wurde diesem Bereich in der wirtschafts- und Innovation - diese Debatte bestätigt einfach, daß die innovationstheoretischen Forschung keine Rolle ein- Koalition Erneuerung doch eher scheut wie der Teu- geräumt. Nötig ist eine grundlegend neue Ausrich- fel das Weihwasser. Ich habe eher den Eindruck, daß tung der Technologiepolitik: Sie muß weg von einer dieser wunderschöne Begriff mit verfehlten Konzep- angebotsorientierten Forschung und hin zu einer tionen gefüllt wird. nachfrage- und ergebnisorientierten Forschung kom- men. Entscheidend ist die Orientierung am Bedarf Es ist gar nicht hämisch gemeint, wenn ich in die- der Industrie. Nur wenn es einem kleinen oder mitt- sem Zusammenhang an das Feuerwerk erinnere, das leren Unternehmen gelingt, neue Produktideen zur uns die Ariane 5 beschert hat. So ein Desaster ist ja Marktreife zu bringen, existierende Produkte weiter- wirklich ärgerlich, aber sicherlich auch ein Anlaß, zuentwickeln und sich bei der Produktion moderner nochmals die Raumfahrtpolitik zu überdenken, ins- Technologien zu bedienen, kann es sich auf Dauer besondere auch die Motivation und Sinnhaftigkeit, auf dem Markt behaupten und eine Wertschöpfung mit der dieses Geschäft betrieben wird. erzielen. Man muß sich hier sehr genau ansehen, was der Dazu benötigen die Unternehmen Rahmenbedin- Motor für diese Politik ist: ob es wissenschaftliche gungen und nicht von der Regierung bereitgestellte Neugier ist - in den Bereichen Astronomie, Physik Töpfchen. Es muß endlich erreicht werden, mehr Ri- oder auch Philosophie und Theologie - oder ob es sikokapital zur Verfügung zu stellen. Es muß haften- darum geht, eine Branche wie die Luft- und Raum- des Eigenkapital auf Zeit bereitgestellt werden. fahrtindustrie in absolutem Starrsinn in einer Form am Leben zu halten, die jetzt schon zum Scheitern Besonders in Ostdeutschland ist die Situation von verurteilt ist. innovativen, zukunftsorientierten Unternehmen in einem desolaten Zustand, da sie besonders in diesen Es ist an der Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden. Und Regionen mit speziellen Problemen konfrontiert sind: dazu gehört auch die bemannte Raumfahrt. Es gibt Der Betrieb muß seine Wettbewerbsfähigkeit auf den keinen Grund - wirklich keinen rational nachvoll- überregionalen Märkten unter Beweis stellen und ziehbaren Grund -, an der bemannten Raumfahrt gleichzeitig - technologisch bedingt - einen über- festzuhalten. Denn sie reden doch immer von Hoch- durchschnittlichen Kapitalbedarf aufweisen. technologie. Dann begreifen Sie doch auch endlich, daß wir in einem Zeitalter angekommen sind, in dem Die Industrieforschung ist drastisch zurückgefal- man eine automatische Kamera ins Weltall schicken len, die Innovationsförderung entspricht nur zu muß, um Bilder zu erhalten, und keinen Fotografen! 2,5 Prozent den Aufwendungen in Westdeutschland. Bei einem weiteren Ausbleiben oder gar Rückgang Die bemannte Raumfahrt mit ihren dazugehörigen der Fördermittel wäre ein weiterer Abbau von Stel- Prestigeprojekten ist so kostenträchtig, daß die Ge- len unvermeidlich. Dies hätte verheerende Folgen fahr besteht, für andere Wissenschaftsmissionen kein 10172* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Geldsetzt zur Verfügung werden. zu haben. Das Man hat gilt es ja jetzt vor bei allem für die neuen Bun- der Explosion der Ariane gesehen: Für den Ersatz desländer, wie die Debatte über den „Aufbau Ost" der Cluster-Satelliten ist kein Geld da, aber an der heute vormittag ebenfalls gezeigt hat. Es gilt, Prio ri Ariane 5 wird unverändert festgehalten. -täten und logischerweise dann auch Posterioritäten zu setzen. Ich verweise in diesem Zusammenhang Wir setzen auf zivile Projekte und auf die umsich- auch auf die Koalitionsvereinbarung, nach der eine tige Nutzung der unbemannten Raumfahrt. Kommu- überproportionale Steigerung der Mittel für For- nikationstechnik, moderne Klima- und Umweltfor- schung und Entwicklung mittelfristig umzusetzen ist. schung durch Satelliten, Sonden zur Erforschung des Deshalb begrüße ich, daß die Bundesregierung die- Weltalls - hier lohnt sich das Engagement, hier kann ses Prinzip im Haushalt 1997 und in der mittelfristi- man wirklich optimistisch „der Sonne entgegen" ver- gen Finanzplanung berücksichtigen will. künden und eine Bruchlandung hoffentlich vermei- den. In Übereinstimmung mit den Antworten der Bun- desregierung darf ich aber auch darauf hinweisen, Die Raumfahrtindustrie hat ein unglaublich großes daß gerade den KMU weit nachhaltiger und wir- Know-how in den Bereichen Langlebigkeit, War- kungsvoller durch eine Verbesserung von Rahmen- tungsfreiheit und Energieeffizienz. Nutzen Sie doch bedingungen außerhalb unmittelbarer finanzieller diese Kompetenz endlich auch für andere Bereiche, Zuwendung geholfen werden kann. KMU haben Pro- in denen nicht allein der Staat der Kunde ist, sondern bleme bei der Informationsbeschaffung, bei der Um- die sich vermarkten lassen: Kommunikationstechnik, setzung von Informationen über Forschungsergeb- Robotik, Meß- und Regelungstechnik und nicht zu- nisse in konkrete Entwicklungen, in marktfähige letzt Energietechnik. Um zum Beispiel den Markt für Produkte, sie müssen oft Schwellenängste zur Ko- Energieeffizienz zu öffnen, müssen entsprechende operation mit wissenschaftlichen Institutionen über- staatliche Rahmenbedingungen gesetzt werden, al- winden. Sie sollten zur stärkeren Zusammenarbeit lem voran die Ökosteuer. mit den Fachhochschulen motiviert werden, diese In diesem Zusammenhang möchte ich zum Schluß sind praxisnäher orientiert, deren Potentiale in ange- auch noch zwei Sätze zur Energieforschung sagen, wandter Forschung und Entwicklung sind deshalb die wir ja in einer öffentlichen Ausschußsitzung aus- zu verstärken. führlich debattiert haben. Sie betreiben eine ver- KMU haben Probleme, einen Überblick über die fehlte Politik, die immer weiter auf Nukleartechnolo- Vielzahl der Förderprogramme von Ländern, Bund gie setzt. Kernfusion kann kein Projekt sein, das hin- und EU zu gewinnen. Unterschiedliche Antragsver- sichtlich unserer akuten Problemlagen für eine zu- fahren, der bürokratische Aufwand, die Langwierig- künftige Energieversorgung taugt. Setzen Sie statt keit der Verfahren, das alles wirkt gerade bei KMU dessen auch in der Energieforschung auf echte Inno- eher abschreckend. Die von Bund und Ländern be- vation, legen Sie dafür Ihr technokratisches For- reitgestellten Förderfibeln können gewiß den interes- schungsverständnis ab und begeben sich auf einen sierten Unternehmen einen systematischen Über- Weg, auf dem die gesellschaftswissenschaftlichen blick geben. Ich denke aber in Übereinstimmung mit Aspekte eine ebenso große Rolle spielen wie techni- der Antwort der Bundesregierung, daß dies allein sche Effizienzkriterien. Nur dann ist es glaubwürdig, nicht ausreichend ist. Ich begrüße deshalb, daß die von Zukunftsfähigkeit zu sprechen. Bundesregierung einen Forschungsauftrag „Mittel- standförderung in Deutschland - Konsistenz und Dr.-Ing. Karl-Heinz Laermann (F.D.P.): Die Antwort Transparenz sowie Ansatzpunkte für Verbesserungs- der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Koa- möglichkeiten" vergeben hat. Ich erwarte, daß litionsfraktionen „Stärkung und Förderung innovati- Schlußfolgerungen dahin gehend gezogen und um- ver kleiner und mittlerer Unternehmen" (KMU) be- gesetzt werden: Flurbereinigung, d. h. Zusammen- legt, daß die Bundesregierung sich der Bedeutung fassung der Programme, Vereinheitlichung, Verein- der kleinen und mittleren Unternehmen in dem fachung und Entbürokratisierung der Verfahren. Strukturgefüge der Wirtschaft sehr wohl bewußt ist und aus dieser Erkenntnis heraus eine Vielzahl von Bei dem Stichwort „Entbürokratisierung" sollten Maßnahmen und Aktivitäten durchführt bzw. einge- wir uns, besonders im Hinblick auf Existenzgründer, leitet hat, um insbesondere die Innovationsfähigkeit auch mit den oft unverständlichen Schwierigkeiten der KMU zu stärken, um die Nachteile dieser Unter- vor Ort befassen; Kleinigkeiten, mögen manche sa- nehmen gegenüber Großunternehmen auszuglei- gen, aber sie sind mindestens lästig, wirken demoti- chen. vierend. Das Wohnzimmer darf z. B. nicht in einen gewerblich genutzten Raum umfunktioniert werden, In vielfältiger Weise werden, als wichtiges Anlie- ein Mitarbeiter, auch eine Halbtagskraft, erfordert ei- gen der Forschungs- und Technologiepolitik, Hilfen gene Sozialräume, eine eigene Toilette. Und dann, und Anreize gegeben, um vorhandene Hemmnisse meine Damen und Herren, muß man sich mit der in der weiteren Entwicklung der KMUs zu überwin- Frage auseinandersetzen, ob es denn bei der Förde- den. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Unter- rung von Forschung und Entwicklung, bei Hilfen stützung, um Fördermittel für Forschung und Ent- zum Transfer und zur Innovation belassen werden wicklung zur Existenzgründung, obwohl auch diese kann. Da haben Jungunternehmer aus eigener Sub- essentiell wichtig und unverzichtbar sind. Hier darf - stanz ein High-Tech-Produkt entwickelt, das den ich sage dies mit aller Deutlichkeit - bei aller Würdi- Bremsweg von Kraftfahrzeugen mit ABS weiter ver- gung der knappen finanziellen Ressourcen in den öf- kürzt - mit hervorragenden Test- und Prüfungsergeb- fentlichen Haushalten der Rotstift nicht weiter ange- nissen. Aber deutsche marktführende Unternehmen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10173* der Automobilbranche tun sich schwer, das Produkt Wolfgang Bierstedt (PDS): Die seitens der Regie- anzunehmen; ausländische Unternehmen bekunden rungskoalition gestellte Große Anfrage und die dar- ihr Interesse - das bringt gewiß keine Arbeitsplätze auf von der Bundesregierung gegebene Antwort in Deutschland. gehen in ihren grundsätzlichen Anliegen, zumindest in den Überschriften, von der besonderen volks- Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, daß die wirtschaftlichen Bedeutung von innovativen kleinen Probleme der KMU anders, viel differenzierter sind und mittleren Unternehmen aus. Dabei steht die als die von Großunternehmen. Ich bin deshalb skep- Unterstützung und Förderung kleiner und mittle- tisch, ob ihre Situation, ihre Interessen im Rat für For- rer innovativer Unternehmen und ihre bessere schung, Technologie und Innovation beim Bundes- finanzielle Ausstattung im Mittelpunkt der Aus- kanzler angemessen vertreten werden. Bei der Be- führungen. Technologieintensive KMU sollen nach deutung, die wir und die Bundesregierung richtiger- dem Verständnis der Regierung stärker gefördert weise den KMU zumessen, sollten auch Vertreter werden. kleiner und mittelständischer Unternehmen diesem Rat angehören. Lassen Sie mich jedoch einige inhaltliche Beden- Die vorliegenden Anträge zur Energieforschung ken anmelden. sind ausführlich im Ausschuß für Bildung, Wissen- Nach unserem Innovationsverständnis muß man schaft, Forschung und Technologie beraten, die Be- aufhören, an den „End of pipe" -Technologien her- schlußempfehlung bereits in der erweiterten öffentli- umzudoktern und vorrangig Prestigeobjekte oder chen Ausschußsitzung am 28. Februar '96 beschlos- Hochrisiko-Technologien zu fördern. Man kann auch sen worden. Ich verweise insoweit auf meine damali- nicht versuchen, den Eindruck zu erwecken, als gen Ausführungen und wiederhole hier nur die Prin- wenn die kleinen und mittleren Unternehmen schon zipien: Erstens: Ideologiefreie Betrachtung und Ein- irgendwie die Technologien des 21. Jahrhunderts schätzung der Forschungs- und Entwicklungspoten- umsetzen werden. tiale aller Energieformen. Wir unterstellen allen Ener- gietechnologien ein stetiges Entwicklungspotential. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Anteil der Zweitens: Die Energieforschung muß neu ausgerichtet originären Forschungsausgaben dieser Bundesregie- werden. Die Mittel müssen dahin fließen, wo mit ge- rung rückläufig ist. Neue, für die ökologische und so- ringstem Einsatz die größte zusätzliche CO2-Einspa- ziale Zukunftssicherung bestimmte Forschungen rung erreicht wird. Drittens: Energietechnologien, die werden auf das gröblichste vernachlässigt. Es ist zu im Markt sind, sollen von den Energieversorgungsun- befürchten, daß die Formulierungen in der Einlei- ternehmen weiterentwickelt werden. tung der Großen Anfrage der Regierungskoalition auf Drucksache 13/3542, Abstriche bei der Förde- Abschließend noch ein Wort zur Raumfahrt, weil rung in nichtinnovativen oder nur in geringem Maße nicht zuletzt dank einiger unqualifizierter Äußerun- innovativen Bereichen zu machen, gerade diese Be- gen auch von Abgordneten dieses Hauses nach dem reiche treffen wird. Fehlstart der ersten ARIANE 5 am 4. Juni dieses Jah- res hier Verwirrung entstanden ist: Auf der ESA-Kon- Neben der Investitionsförderung und den Eigenka- ferenz in Toulouse wurde der deutsche Finanzbeitrag pitalhilfen ist die Forschungsförderung das dritte für alle Aktivitäten bis zum Jahr 2000 auf ca. große Standbein der gewerblichen Wirtschaftsförde- 1,8 Milliarden DM festgeschrieben. Hieran hat sich rung. nichts geändert. Die kommerzielle Raumfahrt ist we- der krisengeschüttelt noch defizitär - und dies in er- Bekanntlich schätzt die Bundesregierung die mit- -ster Linie wegen der sehr erfolgreichen ARIANE-4 telständischen Unternehmen der Bundesrepublik Trägertechnologie. Allein die ARIANE 4 hat bis nicht nur als Wachstumsfaktor und Arbeitsplatzbe- heute fast zehnmal mehr Mittel in die Bundesrepu- schaffer, sondern auch als potenten Lehrlingsausbil- blik durch Gewinne oder Industrieaufträge zurück- der. Erfolgreiche innovative kleine und mittlere Un- fließen lassen, als die Bundesrepublik für die Ent- ternehmen werden daher als Garant für wirtschaftli- wicklung dieses Trägersystems ausgegeben hat. Ziel chen Erfolg, Wachstum und Beschäftigung betrach- der ARIANE 5 ist es, diese Situation für die Zukunft tet. Die Bundesregierung hat auch richtig erkannt, fortzuschreiben. Wer angesichts des bedauerlichen daß diese KMU im Innovationsprozeß unter größen- Fehlstarts nun in Spott, Hohn oder Zweifel ausbricht, spezifischen Nachteilen leiden. Hierzu zählen die kennt weder die Herausforderungen dieser Techno- fehlenden Möglichkeiten der Risikostreuung von Ka- logie noch die Leistungsfähigkeit unserer Industrie, pitalinvestitionen, geringe Forschungskapazitäten Techniker und Wissenschaftler in diesem Technolo- und Nachteile bei der Beschaffung von Fremd- und giefeld. Statt Unsicherheit zu verbreiten, müssen wir Eigenkapital. Diese Einschätzung gilt besonders für uns auf den nächsten Schwerpunkt unserer Welt- die ostdeutschen KMU. Richtiges Erkennen ist das raumaktivitäten konzentrieren und überzeugende eine, aber Handeln ist das Entscheidende. Denn Nutzungskonzepte für das geplante Weltraumlabor diese KMU werden auch in den nächsten Jahren gemeinsam mit Industrie und Wissenschaft erarbei- nicht in der Lage sein, den notwendigen Investitions- ten. Zur praktischen Nutzungsvorbereitung gehört bedarf aus eigenen Mitteln zu finanzieren. In dieser dabei auch ein Bericht über die Perspektiven der nicht neuen Erkenntnis hatte das Bundesministerium deutschen Weltraumforschung, der neben den wis- für Wirtschaft und das Bundesministerium für Bil- senschaftlich-technischen Möglichkeiten auch Aus- dung und Forschung eine Reihe von notwendigen kunft gibt über die Limitationen und Kosten, die sich Förderprogrammen aufgelegt, AFO, AWO, ZFO, für den einzelnen ergeben. TOU, BJTU usw. 10174* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

All diesen Projekten ist eines gemeinsam: Bis auf Die Förderung darf nicht isoliert für die verschiede- das AWO-Programm sind sie bereits alle ausgelau- nen Phasen des Reproduktionsprozesses erfolgen, fen, ohne daß die innovativen KMU in den NBL nun sondern muß in einem prozeßübergreifenden Kon- einen wesentlichen Beitrag, wenn ich die früheren zept von der Forschung über die Investition und die Erwartungen mit den tatsächlichen Ergebnissen ver- Produktion bis zur Markteinführung eingebettet wer- gleiche, für den selbsttragenden Aufschwung Ost lei- den. sten konnten. Bei aller Anerkennung von punktuell beachtlichen Erfolgen, es ist einfach noch zu wenig. Die PDS mißt der weiteren Entwicklung der Luft- Dafür gibt es vielfältige Ursachen: und Raumfahrtindustrie eine nicht unwesentliche Be- deutung bei. Allerdings sind wir nicht bereit, die ho- Die Forschungsförderung für die NBL wurde im hen Ausgaben für die militärische Forschung auch Konzept „Aufbau Ost" erheblich unterschätzt. Der nur im Ansatz für gerechtfertigt zu empfinden. Einigungsvertrag sah keine qualifizierten Regelun- gen zur Fortdauer der Industrieforschung vor. Ein In der Energieforschung vertreten wir die Auffas- konsistentes Förderkonzept für die neuen Bundes- sung, daß die Förderung insbesondere alternativer länder war nicht vorhanden. Vielmehr wurden die in Energiequellen stärker beachtet werden muß. Inso- ihren Ursprüngen bis in die 70er Jahre zurückrei- fern unterstützen wir den diesbezüglichen Antrag chenden überholten Förderprogramme des BMWi der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. und des BMFT wieder aus der Kiste geholt, ohne die Die Forschungsförderung im allgemeinen und da- spezifischen Bedingungen des Transformationspro- bei die Förderung der Vorsorgeforschung im beson- zesses in den neuen Bundesländern ausreichend zu deren betrachten wir als für den Erhalt unseres Ar- berücksichtigen. beits- und Lebensstandortes unverzichtbar. Dies müßte sich auch in der zukünftigen Haushaltspla- Die Forschungsförderung der gewerblichen Wi rt nung 1997 niederschlagen, wenn Ihre zweifelsfrei im -schaft in den NBL ist insgesamt ein Beispiel für eine Ansatz richtige Analyse nicht bloße Absichtserklä- Politik des ständigen „Nachlegens" von Program- rung bleiben soll. men und Mitteln. Kaum eine Förderung ist so zer- splittert, bürokratisch und diskretionär wie die ge- genwärtig praktizierte Forschungsförderung. Allein Josef Hollerith (CDU/CSU): Die Antwort der Bun- auf Bundesebene wurden 14 Förderprogramme mit desregierung auf die Große Anfrage der Koalitions- zahlreichen Unterprogrammen und sehr unterschied- fraktionen zur „Stärkung und Förderung innovativer lichen Schwerpunkten angeboten. Manche gute Idee kleiner und mittlerer Unternehmen" - Drucksache von Wissenschaftlern oder Forschern verschwand 13/3542 - zeigt eine bemerkenswerte Vielfalt und In- ungenutzt in der Grauzone der Programme, weil sich tensität in den Maßnahmen zur Förderung kleinerer die Ministerialbürokraten scheuten, eine gewisse und mittlerer Unternehmen auf. Besonders beach- großzügige Auslegung der vorgelegten Texte zuzu- tenswert ist, daß in 1995 rund 50 Prozent der Gesamt- lassen. Die Beanspruchung der Mittel war und ist mit förderung der zivilen Forschung und Entwicklung einem großen Verwaltungsaufwand verbunden. Die- der Ministerien Wirtschaft und Forschung an kleine sen Aufwand, der häufig nur auf Kosten der eigentli- und mittlere Unternehmen geflossen sind. Wichtige chen Aufgaben oder durch Inanspruchnahme von Maßnahmen dabei sind die Intensivierung des Tech- Fremddienstleistungen zu realisieren ist, konnten nologietransfers, die Schaffung eines erfinder- und und können sich viele KMU nicht leisten. Das heißt, innovationsfreundlichen Klimas in Deutschland, die es erhielten nicht die Unternehmen die angebotenen Mobilisierung von mehr Beteiligungskapital für Fördermittel, die sie dringend benötigten, sondern in kleine Technologieunternehmen, die Förderung der Regel die Unternehmen, die sich am besten im marktnaher Forschung und Unterstützung in der Förderdschungel auskannten bzw. besonderes Perso- Markteinführungsphase und mehr Transparenz bei nal beschäftigten, das dazu in der Lage war. Auch den mittelständischen Fördermaßnahmen. hierdurch wurden und werden in der Regel ostdeut- sche und kleine Unternehmen benachteiligt. Über die erfreulich breit angelegten Aktivitäten der Bundesregierung hinaus besteht weiterer Hand- Für die PDS muß die Innovationspolitik für die lungsbedarf. Viele Menschen in unserem Lande ha- KMU in den neuen Bundesländern langfristig ange- ben noch nicht begriffen, daß wir im internationalen legt werden, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben soll. Wettbewerb nur mit neuen Produkten hoher We rt Die auf Einzelförderung ausgerichtete Unterstützung -schöpfung am Hochkostenstandort Deutschland innovativer KMU hilft im Osten nicht weiter und überleben können. Wir brauchen dafür ein bessers sollte auf einem wirtschafts-, struktur- und beschäfti- Innovationsklima und eine höhere Technikakzeptanz gungspolitischem Gesamtkonzept aufgebaut wer- bei allen Verantwortlichen und Meinungsbildnern in den. Bei der Förderung von KMU müssen außerdem unserer Gesellschaft. Ich denke dabei vor allem an die Größenverhältnisse dieser Betriebe in Ost- und die Tarifpartner, die Politiker und auch die Träger der Westdeutschland beachtet werden. In den neuen öffentlichen Meinung. Wir haben gute Beispiele. Ich Bundesländern gibt es ein anderes Verständnis von denke hierbei an die Telekommunikation, wo wir in KMU, weil in der Mehrzahl nur Klein- und Kleinstbe- Deutschland durch eine Anstoßförderung des Bun- triebe nach dem Kahlschlag übriggeblieben sind. Da- desforschungsministers und die Markterschließung mit hat sich eine insgesamt ungünstige Betriebsgrö- durch die Telekom mit dem Mobilfunk einen Milliar- ßenstruktur entwickelt, die nicht dauerhaft wettbe- denmarkt öffnen und sogar international einen Stan- werbsfähig ist. dard setzen konnten. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10175*

Ein schwierigeres Feld der Akzeptanz bilden die Erfordernissen der Praxis fokussiert würde und sich Gen- und Biotechnologie. Wir laufen hier Gefahr, zugleich berufliche Einstiegschancen öffnen würden. durch ideologisch verblendete Eiferer Milliarden- Die bevorstehende Reform des Hochschulrahmenge- märkte und damit neue Arbeitsplätze im nächsten setzes erschließt uns dieses Handlungsfeld. Jahrhundert zu verpassen. Ich habe die Hoffnung, daß die Mehrzahl der Verantwortlichen das Negativ- Ich schließe mit der Anerkennung für die bisher beispiel der 70er Jahre noch vor Augen hat, als mit geleisteten Anstrengungen seitens der Bundesregie- der Diskussion vom „Chip als Jobkiller" durch die rung und lade Sie, meine sehr verehrten Damen und Gewerkschaften und Teilen der SPD ganze Industrie- Herren von der Opposition, herzlich ein, die notwen- zweige bei uns kaputtgeredet bzw. am Entstehen ge- digen Veränderungen auch in den Bundesländern hindert wurden. gemeinsam zu gestalten. Wenn wir über positives Innovationsklima disku- tieren, muß auch der Zusammenhang mit den Bedin- Lothar Fischer (Homburg) (SPD): Die vorliegenden gungen für Forschung - und hier auch mit Spezial- Anträge könnten ein Signal für die Raumfahrtindu- themen, wie dem des übertriebenen Tierschutzes - strie und die Wissenschaft darstellen. Zum ersten hingewiesen werden. Wir dürfen uns nicht wundern, Mal wurden von SPD und Koalitionsfraktionen For- wenn Firmen, deren Freilandversuche gentechnisch derungen formuliert, die im wesentlichen in die glei- veränderter Pflanzen von Verrückten zerstört wer- che Richtung zielen. Das ist gut so. Gerade nach dem den, ihre künftigen Aktivitäten ins Ausland verla- Gezerre und den dauernden Streckungen bei den gern. Ähnliches gilt für medizinische Forschung und Raumfahrtprogrammen bedarf dieser Sektor einer daraus folgende Innovationen, wenn Professoren als gewissen Kontinuität. Tierschänder zu Unrecht gebrandmarkt werden. Wir begrüßen deshalb die Einigung von Toulose, Ein zweites wichtiges Handlungsfeld gesellschaft- wenn auch für uns noch einige Fragen offen sind. licher Veränderung und damit der Wiedergewinnung Wie sieht es mit den Betriebskosten aus? Wie wird si- internationaler Wettbewerbsfähigkeit betrifft die Ri- chergestellt, daß diese nicht ausufern? Wer wird das sikobereitschaft in Deutschland. Bei uns wird Sicher- kontrollieren, lediglich die Agenturen - also ESA und NASA - oder, was wir fordern, die Regierungen, da- heitsdenken überbetont und Bereitschaft zum Wag- nis einschließlich des gelegentlich damit verbunde- mit eine parlamentarische Kontrolle gewahrt bleibt? nen Scheiterns tendenziell bestraft. Dies gilt für die Lassen Sie mich etwas Wasser in den Wein gießen Verwaltung ebenso wie für die Managementetagen. und auf die Unterschiede in den beiden Anträgen Ein mit Zeitvertrag angestellter Manager wird im eingehen: Die SPD fordert die Erarbeitung eines 5. Zweifel den sicheren ausgetretenen Pfad gehen, nationalen Weltraumprogramms. Festlegungen im wenn er bei einem Scheitern eines neuen Projektes Raumfahrtbereich scheint die Regierung zu fürchten eher Gefahr läuft, die Verlängerung seines Vertrages wie der Teufel das Weihwasser. Ist doch das 4. Pro- aufs Spiel zu setzen. Der Beamte, der öffentlich ange- gramm bereits 1986 ausgelaufen. Seitdem hat die prangert wird, weil ein mögliches Ermessen zugun- DARA das BMBF ein um das andere Mal mit Entwür- sten des Antragstellers genutzt wurde, wird im Zwei- fen versorgt. Was war mit denen? Waren sie nicht fel auf Nummer Sicher gehen und eine „sichere" An- realistisch genug? Soll der Raumfahrtetat als finan- wendung des Rechtes leisten. zielle Manövriermasse mißbraucht werden, um die real eingetretenen Etat-Kürzungen im Bereich Bil- Solange in unserer Gesellschaft nicht die Wagemu- dung und Forschung aufzufangen? Warum lehnt tigen, die sich als Unternehmer selbständig machen, Herr Minister Rüttgers ein neues Weltraumpro- die als Erfinder Neuland betreten und mehr leisten gramm immer noch ab, obwohl in Toulouse - endlich - als die tarifliche Wochenarbeitszeit, nicht ebenso als wichtige Eckpunkte gesetzt wurden? Vorbilder und Helden unserer Zeit in der Öffentlich- keit bewertet werden wie die Stars im Sport und Die SPD fordert, daß die Ziele der deutschen Showgeschäft, werden wir das Potential des „Roh- Raumfahrtpolitik in Zusammenarbeit mit Wissen- stoffes Geist" nicht genügend heben können. Diese schaft, Industrie und Gewerkschaften festgesetzt Mentalität der Risikoscheu zieht sich hin bis zum werden. Die Geschichte des sogenannten ESA-Lang- fehlenden Risikokapital. Im Unterschied zu Amerika, zeitplans ist uns eine Lehre. Europa hatte sich mit wo die NASDAQ, eine elektronische Börse, Milliar- dem Ziel der europäischen Autonomie im Weltraum den von Dollars jungen Unternehmen zur Verfügung maßlos übernommen. Folge: Programme wurden erst stellt, ist diese Verfahrensweise bei uns nur unzurei- gestreckt, dann gestrichen oder so modifiziert, daß chend vorhanden, allenfalls wenn staatliche Bürg- von den ursprünglichen Plänen kaum noch etwas üb- schaftsprogramme helfen. rigblieb. Es wäre interessant, von Herrn Rüttgers ein- mal zu erfahren, was das den Steuerzahler gekostet Ein drittes Handlungsfeld bilden die Hochschulen. hat. Planungssicherheit war für die Unternehmen Wir müssen Anreizsysteme schaffen, daß sie sich ver- und die Beschäftigten lange Zeit ein Fremdwort. Das stärkt innovativen mittelständischen Unternehmen und die Tatsache, daß in der deutschen Raumfahrtin- öffnen. Beide würden davon profitieren. Wenn die dustrie von 1990 bis 1994 gut 15 Prozent der Arbeits- Forschung in den Hochschulen verstärkt zum Markt plätze weggefallen sind, rechtfertigen nach unserer hin orientiert werden würde, könnten kleinere Unter- Auffassung den Begriff Krise. nehmen kostengünstig Geräte und Forschungs- potential nutzen. Schließlich hätten auch die Studen- Erforderlich ist das 5. Weltraumprogramm, um ten einen Vorteil, da ihre Ausbildung stärker an den endlich einmal festzulegen, was wir im Weltraum 10176* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 eigentlich wollen. Ist der Staat nur dazu da, in Hard- bar: Raumfahrttechnologie kann andere Industriebe- ware zu investieren, also in Raumstationen, Träger reiche befruchten. Der erforderliche Technologie- oder Satelliten, wobei für deren Nutzung kaum noch transfer muß jedoch organisiert werden. Hier gibt Mittel vorhanden sind? Beschaffungsprogramme bzw. gab es erhebliche Versäumnisse von seiten der also, die zum Selbstzweck verkommen, auf denen Bundesregierung. Erst seit 1994 ist dieses eine ausge- sich allenfalls ein paar Unternehmen ausruhen kön- wiesene Aufgabe der DARA. Gab es vorher nichts zu nen. Oder geht es nicht vielmehr darum, die Raum- transferieren? fahrt als Hilfsmittel zur Lösung irdischer Probleme aufzufassen bzw. das Wissen der Menschheit voran- Der „Zukunftsminister" sollte weniger von Zu- zubringen? kunft reden, er sollte sie endlich gestalten und so seine Pflicht für die Sicherung des Standortes Die SPD hält deshalb eine breite Zieldiskussion für Deutschland erfüllen. Alle Welt redet jetzt vom Bünd- unumgänglich. Eine Forderung, mit der wir nicht al- nis für Arbeit. Zwei Grundvoraussetzungen hierfür lein dastehen. Auch die Indust rie und die dortigen werden jedoch selten angesprochen: das Bündnis für Betriebsräte sehen das so. Lassen Sie mich in diesem Bildung und das Bündnis für Forschung. Herr „Zu- Zusammenhang aus einem B rief der Gesamtbetriebs- kunftsminister", demontieren sie das nicht! ratsvorsitzenden der DASA, Frau Lüllmann, zitieren: „Bei dem sogenannten nationalen Anteil am Raum- Lassen Sie mich einen weiteren Unterschied in den fahrtbudget ist keine langfristig ausgerichtete Politik beiden Anträgen benennen: Wir fordern, daß aus zu erkennen. Durch diesen Schlingerkurs wurden öf- dem Etat des BMBF keine Mittel zur Finanzierung fentliche, aber auch Firmenmittel verwendet." Und des Aufklärungssystems Helios/Horus zur Verfügung das, obwohl gerade sie immer vollmundig die Förde- gestellt werden. Im Gegensatz zu anderen Ministe- rung der KMU im Munde führen. Sie wissen genauso rien hat das BMBF bereits seit 1978 Technologien, gut wie ich: Gerade am nationalen Programm partizi- die als Ausgangsbasis für ein militärisches Erd- pieren die KMU. beobachtungssystem dienen können, mit zirka 1,2 Milliarden DM gefördert. Das Bundesverteidi- Das Raumfahrtprogramm ist aus einem weiteren gungsministerium investierte von 1989 bis 1994 kärg- Grund nötig: Wir müssen verhindern, daß das natio- liche 25 Millionen DM. Der Etat des BMBF kann nale Raumfahrtprogramm zum Steinbruch des- BMBF doch nicht ernsthaft zum Selbstbedienungsladen für wird. Die Entscheidungen von Toulouse werden den andere Ressorts verkommen. Etat auf Jahre prägen. Jedoch, die Bedeutung der in- ternationalen Raumstation ist überwiegend eine au- m Selbstverständlich sollte jedoch ebenso sein: Ko ßenpolitische. Die deutsche Raumfahrtindustrie wird men die Verteidigungspolitiker zu dem Ergebnis, dadurch nicht konkurrenzfähiger werden. Von wirt- daß ein solches Aufklärungssystem für die Bundes- schaftlichem Interesse sind vielmehr abgestufte Trä- wehr benötigt wird und finanzierbar ist, muß es in gersysteme und Satelliten. Angesichts der allgemei- Europa entwickelt und hergestellt werden. Mit nen Spardebatte ist zu befürchten, daß die Regierung ERS 1 und 2 hat Deutschland bereits entsprechendes gerade diesen Bereich weiter zusammenstreicht, daß Know-how erworben, auf dem zielgerichtet aufge- die erforderlichen finanziellen Mittel umgewidmet baut werden kann. werden, um den Betrieb der Raumstation auf rechtzu- Nun ein Punkt, der uns allen Sorge bereitet. Es ist erhalten, um sie zu rechtfertigen. noch nicht lange her, daß wir die DARA gegründet Eine Entwicklung, die aus zwei Gründen fatal haben. Wir waren uns einig, daß die DARA sämtliche wäre: Erstens. Die Wettbewerbsfähigkeit der deut- Managementaufgaben übernehmen sollte. Und schen Raumfahrtindustrie geriete in Gefahr, und das, heute? Die DARA ist im wesentlichen ein Wurmfort- obwohl die Bundesregierung die Einschätzung hat, satz des BMBF, der immer mehr verkümmert. Die Ge- daß die aktive Teilhabe an diesem Markt und die schäftsführung schmilzt zusammen, die Belegschaft Vermeidung von Abhängigkeiten von vitalem Inter- ist verunsichert und zum Teil demotiviert. Herr Mi- esse für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist. nister Rüttgers, es wäre höchste Zeit, daß sie hier endlich eine Klärung herbeiführen. Sei es, daß der Wie ist die Situation? Im Bereich der Träger wird Geist des Raumfahrtübertragungsgesetzes endlich sich der Wettbewerb extrem verschärfen. Die sich an- erfüllt wird - wenn Sie das nicht allein schaffen, wen- bahnende Allianz zwischen den USA und Rußland, den Sie sich doch an Ihren Kanzler; soll er das zur die chinesische Dumping-Politik sowie die fehlenden Chefsache machen! -, sei es, daß wir gemeinsam europäischen Träger für Kleinstsatelliten werden die über eine Neustrukturierung des deutschen Raum- Konkurrenzfähigkeit von Europa empfindlich treffen. fahrtmanagements nachdenken. Eins dürfte uns al- Im Satellitenbereich hat Europa einen erheblichen len klar sein: So, wie die Situation jetzt ist, kann es Nachholbedarf, wenn es im globalen Wettbewerb auf Dauer nicht weitergehen. mithalten will. Das gilt insbesondere für die wirt- schaftlich interessanten Kommunikations- und Navi- Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich möchte gationssatelliten. Hier muß über Aufholstrategien ge- mich beim Kollegen Rachel für die kollegiale Zusam- sprochen werden. menarbeit bedanken. Für die Betroffenen wäre es wichtig gewesen, wenn sich Koalition und SPD auf Zweitens. Entwicklungen in der Raumfahrt haben einen Antrag geeinigt hätten. Der Wille war dazu eine breite Wirkung. Ich will nicht das Hohe Lied von vorhanden. Leider trug die Zusammenarbeit keine den Spin-offs singen. Hiermit wurde in der Vergan- Früchte. Der Verlauf der Antragsberatung offenbarte genheit von Regierung und Raumfahrtlobby genü- ein merkwürdiges Parlamentsverständnis der Koali- gend Schindluder get rieben. Dennoch ist unbestreit- tion: Sowohl die Forderung nach einem 5. Welt- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10177* raumprogramm als auch die Weigerung, Mittel aus täts- und Innovativitätsvorsprünge hohe Preise und dem Etat des BMBF für das Projekt He lios/Horus zur überdurchschnittliche Gewinne erzielt werden konn- Verfügung zu stellen, wurde von Ihnen - in privaten ten. Gesprächen - geteilt. Ersteres wurde sogar in einem ersten Antragsentwurf gefordert. Die Basis dieser Erfolgsstrategie steht zunehmend auf wackligen Füßen. Einerseits sieht sich die bun- Was passiert? Herrn Minister Rüttgers kommen die desdeutsche Wirtschaft in den einstigen Zukunfts- Forderungen ungelegen, und sang- und klanglos märkten der Vergangenheit in erster Linie als logi- verschwinden sie in den Papierkörben der Koalition. sche Folge von Produktlebenszyklen und der Ausrei- Die Regierung als Kontrollorgan der Fraktionen - das fung von Märkten mit dem Low-cost-Wettbewerb mit haben sich die Väter des Grundgesetzes sicher nicht den mitteleuropäischen Nachbarstaaten Polen, so vorgestellt. Tschechien, Slowakei sowie den asiatischen Staaten wie Indien konfrontiert. Im Zuge der europäischen Meine Damen und Herren von der Koalition, bei Einigung geraten bundesdeutsche Unternehmen allem Verständnis für Ihre Zwänge: Sie sollten ein- auch auf den inländischen Märkten unter den zuneh- mal darüber nachdenken, ob diese Nibelungentreue menden Konkurrenzdruck ausländischer Anbieter. der Sache dient. Mehr Rückgrat dürfte manchmal Andererseits ist - als Ergebnis von zentralen Ver- besser sein. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen säumnissen in der Wirtschaftspolitik - der Anschluß der Koalition: Stimmen Sie unserem Antrag zu! an die Zukunftsmärkte von morgen verpaßt worden. Eine zukunftsweisende Perspektive für die Bun- Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE desrepublik als hochentwickeltes Industrieland kann GRÜNEN): Das bundesrepublikanische Wirtschafts- nur darin liegen, eine Innovationsstrategie zu verfol- modell steht vor den größten Herausforderungen der gen. Nur in innovativen Bereichen haben bundes- Nachkriegszeit: deutsche Firmen, vor allem die kleinen und mittleren Die dauerhafte Arbeitslosigkeit in der Bundesrepu- Unternehmen, überhaupt noch die Chance, Markt- blik hat ein Ausmaß erreicht, das den sozialen Frie- anteile hinzuzugewinnen. den gefährdet und die sozialen Sicherungssysteme- Im Bereich der Innovationsförderung liegen auch sowohl hinsichtlich der Finanzierbarkeit als auch der im Zeitalter der Globalisierung noch völlig unausge- Legitimation schon heute an die Grenzen der Belast- schöpfte Chancen für die Wirtschaftspolitik der hoch- barkeit gebracht hat. entwickelten Länder: So kann die Bundesrepublik Die Globalisierung der Märkte verschärft den in- beispielsweise zum Testmarkt für Energiespartech- ternationalen Wettbewerb und erhöht den Anpas- nologien werden. Angesichts der ökologischen Her- sungsdruck auf die bundesdeutschen Unternehmen. ausforderungen steht zu erwarten, daß diese Techno- Diese sehen sich dem gleichzeitigen Wettbewerbs- logien perspektivisch auch zunehmend im Ausland druck von High-Tech-Standorten wie Japan und den nachgefragt werden. In dem Maße, wie die Inlands- USA und Low-cost-Standorten wie den osteuropäi- nachfrage zum Tragen kommt, wachsen die Chan- schen Nachbarstaaten ausgesetzt. cen, daß diese Produkte wettbewerbsfähig werden und im Ausland abgesetzt werden können. Die ökologische Herausforderung wächst. Die Kli- makatastrophe bedroht die Grundlagen unseres Im Bereich der Umweltschutztechnologien hat die Wirtschaftens und vor allem die der zukünftigen Ge- Bundesrepublik nach wie vor komparative Standort- nerationen. Angesichts dieser Herausforderungen vorteile. Die mit Innovationen verbundenen Beschäf gewinnt die heute zu führende Innovationsdebatte tigungspotentiale sind bekannt. eine neue Qualität. Auf der politischen Tagesordnung steht: Die hier vorliegende Antwort der Bundesregierung Erstens: die Schaffung von Anreizen für ökologisch zeigt, daß die Innovationsdebatte in die falsche Rich- orientierte Innovationen. tung weist und nicht mittelstandsfreundlich ist. Die Bundesregierung ist verhaftet im High-Tech-Prestige- Dies bedeutet vor allem eine steuerliche Entla- projekte, sie fördert im wesentlichen die Großindustrie. stung ökologisch orientierter Investitionen und eine dienstleistungs- und kundenorientierte Vereinfa- Eine Wirtschaftspolitik, die nicht in Frage der öko- chung und Beschleunigung von Patent- und Geneh- nomischen Wettbewerbsfähigkeit mit der der ökolo- migungsverfahren. gischen Zukunftsfähigkeit verbinden kann und um- gekehrt, ist selbst nicht zukunftsfähig. Zweitens: die Neuausrichtung staatlicher For- schungs- und Technologiepolitik. Eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik muß sich die Aufgabe stellen, für eine Effizienzrevolution die Ziehen Sie endlich einen Schlußstrich unter die notwendigen Rahmenbedingungen zu setzen und Förderung überholter Großtechnologien! darüber hinaus eine ökologische Aufbruchstimmung Drittens: die Verbesserung der Rahmenbedingun- zu erzeugen. Es darf nicht ständig vergessen werden, gen für Existenzgründungen. daß im Zeitalter der Globalisierung der Märkte auch die wirtschaftlichen Probleme global sind. Vor allem muß die Eigenkapitalbasis von Existenz- gründungen und jungen Unternehmen verbessert Die Bundesrepublik hat bislang davon profitiert, werden. Dazu gehört, die Rahmenbedingungen für daß für deutsche Produkte und Leistungen auf den einen funktionierenden privaten Risikokapitalmarkt Weltmärkten aufgrund ihrer Produktivitäts-, Quali- zu schaffen und eine Börse für junge Unternehmen 10178* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 in Deutschland zu etablieren. Die Landesbürg- Das größte Potential liegt im Bereich der Einspa- schaftsbanken müssen für p rivates Risikokapital ge- rung von Energie und der Erhöhung der Effizienz bei öffnet werden. Innovative Existenzgründungen soll- der Energienutzung und der Energieerzeugung. Auf ten durch eine fünfjährige Steuerbefreiung unter- allen Stufen der Prozeßkette von der Gewinnung stützt werden. über die Umwandlung bis hin zur Nutzung konnten Viertens: der ökologische Umbau des Steuer- in den letzten Jahren deutliche Fortschritte bezüglich systems. der Energieeffizienz erreicht werden. Umweltschädliche Subventionen müssen abge- Die Energieintensität unserer Volkswirtschaft, also baut werden. Eine ökologisch-soziale Steuerreform, der Energieverbrauch je Einheit volkswirtschaftli- die den Faktor Umwelt angemessen belastet und den cher Wertschöpfung, konnte seit 1973 um fast Faktor Arbeit entlastet, ist überfällig. 30 Prozent reduziert werden. Damit hat praktisch eine Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Fünftens: Auf der politischen Tagesordnung steht Stromverbrauch stattgefunden. eine Bildungs- und Qualifikationsoffensive, es sind neue Ausbildungsfelder zu entwickeln, und das Bil- Die Förderung moderner Technologien im Bereich dungssystem ist stärker interdisziplinär auszurichten. der Kraftwerkstechnik bewirkt eine Erhöhung des Wirkungsgrades dieser Anlagen, so daß der CO2- Sechstens: die gründliche Kurskorrektur in der Ausstoß drastisch reduziert wird. Allein durch den Subventionspolitik. Ersatz eines herkömmlichen Kohlekraftwerkes durch ein modernes Gas- und Dampfkraftwerk verringert Subventionen an altindustrielle Krisenbranchen, sich der CO2-Ausstoß um annähernd 50 Prozent. die vor allem Großunternehmen zugute kommen, sind zurückzuführen. Die weitere Nutzung der Kernenergie ist nach wie vor politisch umstritten. Mit einem Anteil von Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der 30 Prozent an der Stromerzeugung der Bundesrepu- SPD: Mit Entsetzen habe ich heute morgen der FAZ blik Deutschland ist allein aus klimapolitischen entnommen, daß Sie darauf setzen, die Bergbauhil- Gründen die Option Kernenergie aufrechtzuhalten. fen unverändert fortzuführen. Ich weiß nicht, wohin Es ist notwendig, daß die Kernenergie auch langfri- der Weg geht, auf dem Sie sich befinden, ich kann stig Bestandteil des Energieversorgungsmixes der Sie nur auffordern, kommen Sie wieder in die Reali- Bundesrepublik ist. In nahzu allen Industrienationen tät zurück! der Welt wird die Kernenergie genutzt. In Osteuropa und im asiatischen Raum wird die Nutzung der Kern- Hans-Otto Schmiedeberg (CDU/CSU): For- energie weiter ausgebaut. schungspolitik ist Teil der Wirtschaftspolitik. Die For- schung und die Entwicklung im Energiebereich er- Wenn wir auf die Definition internationaler Sicher- fordern sehr lange Zeiträume. Sie werden ohne ge- heitsstandards Einfluß nehmen wollen, dann müssen sellschaftliche Akzeptanz und ohne ausreichende Si- wir auf diesem Gebiet über das nötige Know-how cherheit für Erprobung und Einsatz ihre Planungs- verfügen. Dieses erreichen wir nicht nur durch den grundlage verlieren. vorbildlichen Betrieb von Kernreaktoren, sondern vor allem durch eine unabhängige Sicherheitsforschung, Für den Wirtschaftsstando rt Deutschland ist eine die frei von kommerziellen Interessen ist. Im Rahmen verläßliche und berechenbare Energiepolitik von exi- des Forschungsprogramms wurde deshalb ein ent- stentieller Bedeutung. Eine zukünftige Energiepoli- sprechender Beitrag in Form einer Nachwuchsförde- tik der Bundesrepublik Deutschland orientiert sich rung aufgenommen. Gefördert werden zirka 150 an den Leitlinien Wirtschaftlichkeit, Versorgungssi- junge Wissenschaftler über einen Zeitraum von cherheit und Umweltverträglichkeit. 10 Jahren. Die Sicherung des Wirtschaftsstando rtes Deutsch- Mittelfristig und langfristig geht es um den Ausbau land und der Klimaschutz sind somit als Einheit zu der erneuerbaren Energien. Die Einsatzchancen der begreifen. Zum einen geht es um die Entwicklung erneuerbaren Energien liegen im Bereich der Bereit- neuer Energietechniken, welche die Klima- und Um- stellung von Wärme (Solarthermie, Wärmepumpen, weltprobleme - auch zukünftiger Generationen - be- Biomasse) und Strom (Wind, Müll, Photovoltaik). Der wältigen. Andererseits geht es um die Erschließung praktische Anteil der erneuerbaren Energien an der neuer Märkte im Energiebereich mit innovativen Deckung des Primärenergiebedarfs ist noch sehr ge- Produkten und Anlagen und damit um die Schaffung ring. Er liegt derzeit bei annähernd 2 Prozent. neuer Arbeitsplätze. Das technisch nutzbare Potential der Wasserkraft Diese Ziele, die Reduzierung des Kohlendioxidaus- ist in Deutschland zu 90 Prozent ausgeschöpft. Da stoßes und die Sicherung des Technologiestandortes diese Technik ohnehin als erforscht bzw. als entwik- Deutschland, sind Schwerpunkte des 4. Programms kelt gilt, sind auch die Ausgaben relativ bescheiden „Energieforschung und Energietechnologien". (1 Million DM). Die Ausnutzung der restlichen 10 Prozent wird große Schwierigkeiten bereiten, da Der Auswahlprozeß für Technologien, die in die beim Bau großer Wasserkraftwerke die Belange des weitere Forschungsförderung einbezogen werden, Gewässer-, Landschafts- und Naturschutzes beachtet orientiert auf drei Zeitabschnitte. Kurzfristig geht es werden müssen. um die Förderung solcher Technologien, die mit je- der aufgewandten Mark eine möglichst hohe CO2- Das Potential der Windenergie liegt zur Zeit mit Reduktion erzielen. über 90 Prozent im Küstenbereich. Die rasante Ent- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10179* wicklung der Windenergie von kleinen Anlagen bis geren Zeitraum von ihrer Erforschung bis zur Markt- zu den jetzigen Anlagen mit einer Leistung bis zu durchdringung. 1 MW hatte zu Beginn der Förderung (1989) kaum jemand vorhergesehen. Zunächst führten die anfäng- Das Programm „Wegbereitungsprogramm Photo- lich hohen Investitions- und Betriebskostenzu- voltaik 2005" orientiert sich auf die Senkung der Ko- schüsse des BMBF zu einem raschen Zuwachs der sten durch Erhöhung der Wirkungsgrade sowie die Windkraftanlagen. Seit 1991 wird p rivaten Betrei- Verbesserung in der Fertigungstechnik. Neuartige bern durch das Stromeinspeisungsgesetz ein staat- Solarzellen sowie die Dünnschicht- Solarzellen, die lich garantierter Preis von annähernd 17 Pfennig je Verwendung von amorphem Silizium und Kupfer-In- kWh gezahlt. dium-Selenid versprechen zukünftig eine höhere Energieausnutzung. Jedoch wird es noch 10 Jahre Ein repräsentatives Beispiel soll ihre Wirtschaft- dauern, bis solarer Strom vergleichbar billig werden lichkeit verdeutlichen: Eine rund 80 m hohe Wind- wird. Siemens schätzt, daß die Stromerzeugungsko- kraftanlage mit einer Leistung von 0,5 MW kostet in- sten bis zum Jahr 2010 auf etwa 60 Pfennig je kWh klusive Nebenkosten rund 1 Million DM. An wind- gesenkt werden können. Bis dahin werden sich Pho- günstigen Standorten (4,5 m/s) erhält der Betreiber tovoltaikanlagen nur als kleine und kleinste Strom- als Vergütung annähernd 200 000 DM pro Jahr. versorgungsanlagen in Nischenmärkten rentieren. Selbst bei einer Fremdfinanzierung zu 100 Prozent inklusive Wartung, Versicherung und Reparaturen Trotz der zur Zeit noch hohen Investitionskosten betragen die jährlichen Kosten rund 160 000 DM, das sind photovoltaische Anlagen bereits heute in son- heißt, dem Betreiber verbleiben pro Jahr 40 000 DM nenreichen Entwicklungsländern besonders gefragt. staatlich garantierter Gewinn. Wenn Sie bedenken, In Gebieten, die fernab von Verkehrs- und Stromnet- daß die windgünstigen Standorte in Mecklenburg zen liegen, ist es bereits heute kostengünstiger, pho- Vorpommern und Schleswig-Holstein Windge- tovoltaische Anlagen im Verbund mit Dieselgene- schwindigkeiten bis zu 6 Meter/Sekunde garantie- ratoren für die Stromerzeugung zu nutzen. Dieser ren, dann ist die rasante Entwicklung des Ausbaus positive Kosteneffekt ergibt sich einerseits aus den von Windenergieanlagen nachvollziehbar. hohen Finanzierungskosten für die Erschließung die- - ser Gebiete, und andererseits bewirkt die höhere und Diese Entwicklung wirft in den norddeutschen Kü längere Sonneneinstrahlung eine intensive Nutzung stenländern jedoch schon Probleme im Bereich Land- der Energiequelle Sonne. schaftsschutz hervor. Moderne Windenergieanlagen In Kooperation mit Entwicklungs- und Schwellen- haben eine Höhe von bis zu 82 Metern. Über 1 000 ländern und im Rahmen des ELDORADO-Pro- solcher Anlagen sind bereits in Schleswig-Holstein gramms des BMBF wurden rund 3 000 kleine Photo- gebaut worden. In vier Jahren wird es do rt voraus- voltaikanlagen für Demonstrationszwecke gebaut. Es sichtlich doppelt so viele Anlagen geben. Eine ähnli- ist deshalb von besonderer Bedeutung, dieses im Ok- che Tendenz zeichnet sich in Mecklenburg-Vorpom- tober auslaufende Programm fortzuführen, da hier- mern ab. Während anfangs die Windmühlen noch als mit Entwicklungshilfe, Umweltschutz und die Förde- Sehenswürdigkeit galten, kann man heute im Be- rung des Exports von KMU in effizienter Weise mit- reich der nordfriesischen Küste den massiven Eingriff einander verbunden sind. in das Landschaftsbild erkennen. In Bereichen, wo man zu einem Viertel vom Fremdenverkehr lebt, ist dies eine gefährliche Entwicklung. Horst Kubatschka (SPD): Die Probleme des 21. Jahrhunderts lauten: Wasser, Energie, Arbeit. In Aber nicht nur in das Landschaftsbild, sondern meinem Beitrag möchte ich mich mit Fragen der auch in die Strompreise greift ein weiterer Ausbau Energieforschung und damit auch mit dem Arbeits- der Windkraftanlagen ein. Bei der derzeitigen Ent- platzproblem auseinandersetzen. wicklung werden wir im Jahre 2010 in Mecklenburg Vorpommern einen Anteil von 10 Prozent Windener- Forschung und Entwicklung legen die Grundla- gie haben. Dies führt zu einer Strompreiserhöhung gen, um die zukünftigen Energie- und Arbeitspro- von ca. 2 Prozent. Eine Verteilung dieses „Wind- bleme zu lösen. Im Energiebereich müssen die Pro- pfennigs" auf ganz Deutschland verschiebt dieses bleme langfristig angegangen werden. Ein heute ge- Problem lediglich in die Zukunft. Natürlich ist die bautes Kohlekraftwerk mit hohem Wirkungsgrad Gestaltung von Strompreisen primär keine Frage der produziert Jahrzehnte. Forschungspolitik. Die Energieforschung muß sich neu orientieren. Es Am Rande dieser Debatte möchte ich aber nicht geht nicht nur um Versorgungssicherheit, sondern versäumen, zumindest auf diese negativen Ten- auch um Umwelt- und Klimaverträglichkeit. Sonst er- denzen bei weiterem Ausbau der Windkraft in Nord- reichen wir keine nachhaltige Entwicklung. deutschland hinzuweisen. Eine Überarbeitung des Stromeinspeisungsgesetzes ist deshalb dringend er- In Zukunft muß die Entwicklung des Bruttosozial- forderlich. produktes vom Energiebedarf entkoppelt werden. Bei uns sind dafür die Anfänge gemacht. Es muß Solarer Strom kostet derzeit annähernd 1,80 DM je aber weltweit erreicht werden. Das heißt, wir müssen kWh. Es ist illusorisch zu glauben, daß durch massive forschen, um Energie einzusparen, eine rationellere finanzielle Unterstützung ein schneller technologi- Energieverwendung zu erreichen. Unsere Kohle- scher Durchbruch zu erzwingen ist. Wie jede Tech- kraftwerke brauchen z. B. einen bedeutend besseren nologie so braucht auch die Photovoltaik einen län- Wirkungsgrad. 10180* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

In weiter Zukunft wird die Erde nur noch mit er- Die Kernergie ist keine Zukunftstechnologie. neuerbarer Energie auskommen müssen. Dafür müs- Warum nicht? sen wir jetzt durch Forschung die Grundlage schaf- 1. fen, sonst werden unsere Enkel und Urenkel dieses Die Entsorgungsfrage ist nicht gelöst. Ziel nicht erreichen. Zudem schaffen diese erneuer- 2. Die Sicherheitsfrage ist nicht gelöst und wird baren Energieträger Arbeitsplätze mit Zukunft. auch in Zukunft nicht gelöst werden können. Ein aktuelles Beispiel positiver Art: Durch die ra- 3. Die Kernenergie ist nicht weltweit einsetzbar. sante Entwicklung der Windkraft seit Anfang der Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre Ener- 90er Jahre sind bis 1995 rund 5 000 Arbeitsplätze in gieforschungspolitik zu überdenken. Deutschland neu geschaffen worden. Samt Zuliefe- rung und Service kommt man sogar auf 10 000. Al- In der näheren Zukunft heißt das Konzept: Ener- lein in Deutschland erreicht die mittlerweile instal- giesparen, höhere Energieeffizienz, ein Energiemix lierte Windkraftleistung 1 000 Megawatt - ein Atom- ohne Kernenergie. kraftwerk. In weiter Zukunft heißt aber die Lösung: erneuer- Auch der Export deutscher Windkraftanlagen ver- bare Energien, die jetzt gefördert werden müssen. zeichnet deutliche Zuwachsraten. Dies war nur mög- Damit werden wir die Energieprobleme des lich, weil eine Ordnungs- und Markteinführungspoli- 21. Jahrhunderts angehen, gleichzeitig werden tik der Windkraft den Weg geebnet hat. Doch seit ge- durch neue Innovationen mehr Arbeitsplätze, zu- raumer Zeit kriselt es. Hoffentlich hält dieses Mal die kunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen. Einigung beim § 35 Baugesetzbuch. Dr. Edelbert Richter (SPD): Bekanntlich kommt es Das Beispiel Windkraft lehrt uns, neben For- sehr darauf an, die richtigen Fragen zur richtigen schungsförderung muß auch Markteinführung ge- Zeit zu stellen. Das haben die Koalitionsfraktionen macht werden. Wenn dies die Bundesregierung nicht getan, und dafür gebührt ihnen Dank. will, wird sie weitere Desaster erleben. Ich nehme an, daß sie gute Gründe hatten, die Re- Ein Beispiel negativer Art: die Photovoltaik. Über gierung danach zu fragen, wie es denn um die Stär- eine Milliarde DM Fördermittel flossen. Einen Groß- kung und Förderung innovativer kleiner und mittle- teil davon bekamen die Konzerne Daimler-Benz, rer Unternehmen bestellt sei. Wenn selbst die mit der RWE und die Muttergesellschaften der ASE. Man Regierung so innig verbundenen Koalitionsfraktio- kassiert, und dann gingen die Solarzellenhersteller nen auf diesen Gedanken kommen, dann muß in die- ins Ausland; in Deutschland: Arbeitsplätze - Fehlan- sem Bereich doch etwas faul sein. zeige. Es fehlte ein Markteinführungsprogramm. Und in der Tat gelingt es der Regierung auch nicht, Dies ist um so verhängnisvoller, als jetzt mit Förder- diese Vermutung in ihrer Antwort zu entkräften! In- geldern ein neuer Weltrekord bei der Entwicklung sofern könnte man ihr ebenfalls fast dankbar sein. kostengünstiger Dünnschicht-Solarzellen mit gerin- Ich kann wegen der Kürze meiner Redezeit nur an gem Materialverbrauch, einfachem Herstellungsver- einigen wenigen Punkten zeigen, wo etwas faul ist: fahren und einem Wirkungsgrad von 14 Prozent ge- lang. Und der Strom aus Sonne hat eine Zukunft. Er 1. Unter Punkt 2 fragen die Koalitionsfraktionen: muß eine Zukunft haben. Wir müssen den Weg berei- In welchem Umfang beabsichtigt die Bundesregierung, die in ten. der Koalitionsvereinbarung beschlossene, überproportionale Steigerung der Mittel für Forschung und Entwicklung mittelfri- Die Bundesregierung sollte auch den Mut aufbrin- stig umzusetzen, und in welchem Maße werden KMU davon gen, andere - heute unkonventionelle - Energieträ- profitieren? ger wie z. B. Holz zu fördern. Schwachholz haben wir Die Antwort, das Prinzip der überproportionalen in Mengen. Holz und Kraft-Wärme-Kopplung wären Steigerung sei im Bundeshaushalt 1996 schon be- ein Beitrag. rücksichtigt worden, ist eine glatte Lüge. Schon vor Jahresfrist war die versprochene Steigerung im Er- Im Energieforschungsprogramm der Bundesregie- gebnis ein Zuwachs von mageren 0,6 Prozent. Inzwi- rung werden die erneuerbaren Energien zwar mit schen hat Minister Rüttgers selber eingestanden, über einer Milliarde bis zum Jahr 2000 gefördert, den 1996 310 Millionen DM einzusparen. Die Kürzung gleichen Betrag bekommt aber auch die Kernener- wird „im Vollzug" umgesetzt; das hat den Vorteil, gieforschung. Auch für die Fusionsforschung steht daß man nicht sagen muß, wo man spart. ein ähnlicher Betrag zur Verfügung.

2. Unter Punkt 4 wird die Bundesregierung danach Übrigens: Die Kernenergie wurde von 1958 bis gefragt, welche Konsequenzen sie aus dem Rück-

1992 mit 50 Milliarden DM gefördert. Wahrlich eine gang des Anteils der Forschungsausgaben am BIP fürstliche Förderung. Und die Koalition geht diesen zieht. Antwort: Durch das Sparprogramm der Regie-

Weg weiter! Sie zementiert ihre kernenergiefreundli- rung würden die Unternehmen von Kosten entlastet che Politik; der Grundstein für einen strahlenden Irr- und könnten daher wieder mehr für FuE aufwenden. weg in die nukleare Sackgasse wird durch falsche Das ist in doppelter Hinsicht Unsinn: Erstens haben Schwerpunktsetzung in der Energieforschungspoli- die hohen Gewinne des letzten Jahrzehnts die Unter- tik gelegt. Die Kernenergie blockiert Mittel, die bei nehmen keineswegs daran gehindert, ihre For- den erneuerbaren Energien besser aufgehoben wä- schungsetats gerade zusammenzustreichen. Also ren. werden auch künftig noch höhere Gewinne sie wohl Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10181* nicht daran hindern! Zweitens hat das Vertrauen der Geld für sein Ressort herauszuschlagen, das ist be- Bundesregierung in die Wirtschaft überhaupt etwas kanntlich die Stärke des Ministers nicht. Rührendes. Statt dessen sollte sie angesichts der Zu- rückhaltung der Wirtschaft in der Forschungsförde- Cornelia Yzer Parl. Staatssekretärin beim Bundes- rung lieber gegensteuern. Denn staatliche Förderung minister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und hat erwiesenermaßen eine erhebliche Anstoßwir- Technologie: Wer einmal das Prädikat „Weltklasse" kung. Ein Bericht des Weißen Hauses vom November erreicht hat, der muß um so stärker kämpfen, um 1995, der sich kritisch mit den rückläufigen Aufwen- weiterhin an der Spitze mithalten zu können. Diese dungen für FuE in Amerika auseinandersetzt, findet Erfahrung aus dem Leistungssport hat auch für die in einer Analyse der letzten 30 Jahre keine Anhalts- Bereiche Wirtschaft und Forschung uneinge- punkte dafür, daß die Industrie mehr für FuE ausgibt, schränkte Gültigkeit. In jüngster Zeit wird uns immer wenn der Staat sich zurückhält und auf sie „ver- bewußter, daß Deutschland die „Regionalliga" droht, traut". Der Staat muß vielmehr antizyklisch in FuE wenn wir uns nicht zu dringend notwendigen Refor- investieren. men durchringen. 3. Die Frage 10 bezieht sich auf die Förderung der Im Mittelpunkt unserer Anstrengungen muß das Industrieforschung in den neuen Bundesländern. In Verhältnis zur Forschung und Entwicklung, zur Inno- der Antwort ist zunächst davon die Rede, daß die In- vation und Technik stehen. Wir leben in einer Zeiten- dustrieforschung in den neuen Ländern sich „stabi- wende. Der Zug der Zeit fährt vielen Menschen viel lisiert" habe und daß der starke Abbau durch den zu schnell. Da gibt es den Soziologen Ulrich Beck, „strukturellen Anpassungsbedarf" bedingt gewesen der uns deshalb empfiehlt, die Bremse zu ziehen. Ich sei. Solche Sprachregelungen erinnern mich an bin ganz sicher: Er wird die Bremse nicht finden. Die DDR-Zeiten. In eine klare Sprache übersetzt heißt Grünen rufen uns zu: Alles aussteigen! Die SPD „stabilisiert": Der Personalabbau geht nicht weiter, fragt: Wo ist denn eigentlich der Zug? Mit Stoppen weil wir auf einem Tiefpunkt von 15 Prozent des ehe- und Aussteigen kann man diesem Land und seinen maligen Personalbestands angekommen sind. Und Menschen keine Zukunftsperspektiven geben. statt von „strukturellem Anpassungsbedarf" zu re- den, wäre es schön, wenn die Bundesregierung ein- Wir alle wissen, daß Deutschland ein Land mit ho- mal ihre Mitverantwortung für den so weitgehenden hen Kosten ist und daß diese nicht weiter steigen Zusammenbruch der ostdeutschen Industriefor- dürfen. Wir wissen, daß die Arbeitskosten gesenkt schung einräumen würde. werden müssen: durch weniger Steuern, durch einen Umbau des Sozialstaates, durch Leistungsanreize Aber lassen wir die Vergangenheit. In bezug auf und weniger Reglementierung. Flexibilisierung darf die Gegenwart und Zukunft spricht die Bundesregie- kein Schlagwort bleiben. Nicht Einheitskonfektion, rung von weiterer, allerdings degressiver Förderung sondern Maßanzug ist das Modell der Zukunft. und von einer Reduktion der Maßnahmen. Letztere ist in der Tat schon in vollem Gange. Sieht man von Neue Arbeitsplätze entstehen nur durch Innovatio- den gesamtdeutschen Programmen ab, so sind von nen und nicht, wie die SPD meint, indem man die Ar- ehemals sieben auf Ostdeutschland bezogenen Pro- beitsämter mehr beschäftigt. Innovationen verschaf- grammen schon jetzt nur noch drei übriggeblieben fen uns Wettbewerbsvorteile. Ich denke, Sie alle wis- (AWO, PFO, MVI). Zwar werden für 1997 zwei neue sen das: Bringt man eine Halbleitergeneration nur Programme in Aussicht gestellt, deren Installierung sechs Monate vor der Konkurrenz auf den Markt, hängt jedoch vom Finanzminister ab, wie mir auf dann spart man soviel ein wie durch eine 25pro- eine schriftliche Anfrage hin bestätigt wurde. Ich zentige Reduzierung der Lohnkosten. Auch hier gilt sage hier ausdrücklich, daß die SPD-Fraktion seit der Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft der Markt. 1990 gegen diesen Umgang mit dem Zukunftspoten- Der Anfang Mai vorgelegte Bundesforschungsbe- tial der neuen Bundesländer Einspruch erhoben hat richt ist sozusagen eine Inventur unserer Zukunftsfä- und das auch heute wieder tut. Ich verweise auf den higkeit. Der Forschungsbericht zeigt, daß sich die Antrag zur Förderung der ostdeutschen Industriefor- Anteile der Forschungsaufwendungen an den Ge- schung, der dem Plenum vorliegt. samtausgaben verschoben haben: Der Anteil der Wirtschaft war in den letzten Jahren rückläufig, der 4. Gern hätte ich noch etwas zu den Punkten 14 ff., Anteil von Bund und Ländern ist gewachsen. Die also zu Patentwesen und Erfinderförderung gesagt, Wirtschaft finanziert heute 60,3 Prozent der FuE-Aus- besonders zu der entsprechenden Initiative von Mi- gaben; 1989 waren es 63,7 Prozent, 1991 61,4 Prozent. nister Rüttgers. Aber dazu ist nicht die Zeit. Nur eine Der Anteil von Bund und Ländern liegt jetzt bei Frage möchte ich gern noch loswerden: Wie kommt 39,4 Prozent; 1989 35,8 Prozent, 1991 38,1 Prozent. es eigentlich, daß nach Aussage der Bundesregie- rung eine steuerliche Förderung von Erfindern nicht Bei allem Verständnis für den Blick auf die Kosten- notwendig ist, nach Aussage von Minister Rüttgers struktur in Unternehmen darf nicht vergessen wer- dagegen das Anliegen geprüft werden soll? Ist der den: Zukunftsperspektiven dürfen nicht wegrationa- Minister etwa kein Mitglied der Regierung? Oder lisiert werden. Erfreulich ist daher die deutliche FuE- weiß die Regierung nicht, was sie will? Aber die Er- Mittelsteigerung bei den kleinen und mittleren Un- klärung ist vielleicht ganz einfach: Das Patentkon- ternehmen. Diese sind im Zeitraum von 1991 bis zept des Ministers stammt vom 10. Mai und kostet 1994 um rund 12 Prozent gestiegen. Der Rückzug des Geld. Die hier behandelte Antwort der Regierung Mittelstandes aus Forschung und Entwicklung ist stammt vom 22. Mai, und bis dorthin hatte sich schon also gestoppt. Kleine und mittlere Unternehmen er- herausgestellt, daß er das Geld nicht bekommt. Denn wirtschaften im Schnitt höhere Anteile ihres Umsat- 10182* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 zes mit neu eingeführten Produkten als Großunter- können, ist die Fraunhofer-Gesellschaft mit der Deut- nehmen. Ihnen kommt eine Pionierrolle als Träger schen Bank und dem Sparkassen- und Giroverband des Strukturwandels und bei der Erschließung neuer eine Kooperation eingegangen. Banken und Spar- Wachstumsmärkte zu. kassen wird damit das technische Know-how für die Beurteilung der neuen Technologie zur Verfügung Die Stärke der kleinen und mittleren Unternehmen gestellt. Die jetzt gestartete Patentinitiative ist ein im Wettbewerb hängt entscheidend davon ab, ob es weiterer wesentlicher Eckpfeiler unserer Innovati- ihnen gelingt, sich in Wertschöpfungsketten zu inte- onsstrategie. Es geht um Patente. Patente machen grieren und ihre Innovationsaktivitäten in Netzwer- Wissen zu Wirtschaftsgütern. Sie sind die Boten zwi- ken mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen schen Wissenschaft und Wirtschaft. zu entwickeln. Die Bundesregierung hat das Ausga- benprofil der Forschungsförderung in den letzten Unser Patentkonzept sieht im wesentlichen vor: Jahren deshalb deutlich zugunsten kleiner und mitt- Verbesserung der Rahmenbedingungen für Patente; lerer Unternehmen geschärft. Rund 56 Prozent der Beseitigung von Patenthemmnissen im deutschen In- Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwick- novationssystem; Verbesserung der Patentsituation lung in der Wirtschaft gehen heute an kleine und an den Hochschulen; optimale Patentstrategien bei mittlere Unternehmen. Gemessen daran, daß der An- den außeruniversitären Forschungseinrichtungen; teil der KMUs an den FuE-Aufwendungen der Wi rt verstärkte Nutzung von Patenten und Patentinforma- -schaft zirka 14 Prozent beträgt, ist das eine ein- tion; ab 1997 spezielle Fördermaßnahmen für kleine drucksvolle Zahl. So fördern wir die Zusammenarbeit und mittlere Unternehmen. kleiner und mittlerer Unternehmen bei anspruchsvol- len Forschungsaufgaben, deren Auftragsvergabe an Die Bedeutung von Erfindern für die Zukunft unse- Forschungseinrichtungen und den Personalaus- rer Gesellschaft muß stärker ins öffentliche Bewußt- tausch auf Zeit zwischen KMU und Forschungsein- sein dringen. Insbesondere kleine und mittlere Un- richtungen. ternehmen werden wir bei der ersten Patentanmel- dung durch Beratung, Recherchen und die Bezu- In Deutschland gehen nach wie vor zirka schussung der Patentierungskosten unterstützen. 50 Prozent der Hochschulabsolventen in den öffentli- chen Dienst. Aber keine 15 Prozent gründen ein Un- In Forschungseinrichtungen und Hochschulen set- ternehmen. Das muß sich ändern. Wir brauchen eine zen wir uns auf internationaler und europäischer neue „Kultur der Selbständigkeit". In der BLK für Ebene für die Wiedereinführung der Neuheitsschon- Bildungsplanung und Forschungsförderung haben frist ein. Denn Wissenschaftler streben nun einmal wir uns am Montag gemeinsam mit den Ländern dar- nach Veröffentlichungen, weil sie das Renommee über ausgetauscht, ob und wie wir die „Kultur der schaffen. Wissenschaftliches Erfolgsstreben darf aber Selbständigkeit" in die Hochschulen hineintragen nich Innovationshemmnis sein. können und wollen. Überzeugende Beispiele aus Ein wesentlicher Grundgedanke unserer Innovati- dem Ausland, vor allem aus den USA, zeigen, daß onspolitik besteht da rin, den Dialog zwischen For- die Neigung, eine selbständige Karriere zu starten, schungseinrichtungen und Wirtschaft zu verstärken nicht eine unbeeinflußbare Schicksalsgegebenheit und durch gemeinsame Arbeit in Projekten das Ent- für einzelne, sondern durchaus über Ausbildung mit- stehen von innovativen Netzwerken zu fördern. Das zugestalten ist. Gebot der Stunde ist es, insbesondere in Deutschland vorhandene exzellente Forschungs- das bei vielen Studenten vorhandene Kreativitäts- potential muß besser genutzt werden. Leitprojekte potential freizusetzen statt einzuschnüren. sind dazu ein adäquates Mittel. Auch die Wirtschaft muß sich fragen lassen, ob Ein modernes Forschungs- und Innovationssystem das Beispiel der Stiftungslehrstühle in den USA für ist lösungsorientiert, meist branchenübergreifend Entrepreneuer-Ship nicht ein deutliches Signal setze, und fast immer interdisziplinär angelegt. Es zeichnet daß Eigenvorsorge für künftige Unternehmergene- sich durch eine enge Verbindung zwischen Grundla- rationen wesentlich ist. Gründungsangebote an deut- genforschung und industrieller Entwicklung und schen Hochschulen waren in der Vergangenheit nur durch einen starken Einfluß der Anwender und schüchterne Versuche. Nachfrager aus. Leitprojekte könnten ein Bindeglied Wir wissen, daß eine Unternehmensgründung min- zwischen der Technologieentwicklung im vorwettbe- destens vier weitere Arbeitsplätze nach sich zieht. werblichen Bereich und ihrer Transmission in pro- Richtig ist, daß wir dafür einen funktionsfähigen pri- blemorientierte Lösungen werden. Leitprojekte zie- vaten Risikokapitalmarkt brauchen. Mit Freude stelle len auf Systemlösungen für gesellschaftlich relevante ich jetzt fest, daß sich diese Erkenntnis mittlerweile Aufgabenstellungen. Sie sollen die Technologiefüh- auch bei den Grünen breitgemacht hat. Allerdings rerschaft am Weltmarkt für die beteiligten Unterneh- wird Kapital wohl kaum an der Infobörse zu mobili- men beinhalten und damit auch Ansätze für die sieren sein. Schaffung neuer Arbeitsplätze bieten. Im Programm der Bundesregierung für mehr Ein Paradebeispiel bei unseren Leitprojekten ist Wachstum und Beschäftigung ist ein Maßnahmenpa- der Bio-Regio-Wettbewerb. Wir geben damit biowis- ket geschnürt, das Existenzgründern und kleinen senschaftlich orientierten Forschungseinrichtungen und mittleren Unternehmen einen besseren Zugang aus Wissenschaft und Wirtschaft, Innovationskapital- zu Risikokapital ermöglicht. Damit junge Technolo- gebern, Banken, kommunalen Fördereinrichtungen, gieunternehmen nicht leer ausgehen, wenn Banken Genehmigungsbehörden und anderen einen Anreiz, bei einem Kreditantrag das Risiko nicht abschätzen regional zusammenzuarbeiten. Das materielle und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10183* intellektuelle Potential soll effizienter genutzt, Unter- Alle Deutschen, die sich nach gründlicher Überle- nehmensneugründungen angeregt und Deutschland gung entschließen bzw. entschlossen haben, in die als Investitionsstandort auch für ausländische Unter- Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln, sind nehmen attraktiver werden. Eine internationale Jury herzlich willkommen. Und ich füge ausdrücklich wählt im Herbst drei Regionen mit dem überzeu- hinzu: Sie sind ein Gewinn für unser Land. Unstrittig gendsten Bio-Regio-Konzept aus, die dann Priorität ist dabei, daß die Integration der Aussiedler in unse- bei der Vergabe von Fördermitteln meines Hauses er- rer Gesellschaft für ein harmonisches Zusammenle- halten. Internationalität ist heutzutage Pflicht. Wir ben von größter Wichtigkeit ist. Und da dies natür- müssen den Forschungsstandort Deutschland noch lich wie immer auch mit Geld zu tun hat, sind trotz besser für den internationalen Wettbewerb rüsten. schwieriger Haushaltslage auch in diesem Jahr rund Denn wenn die Forschung geht, dann wandern über 3,2 Milliarden DM für schulische und außerschuli- kurz oder lang auch andere Arbeitsplätze ins Aus- sche Maßnahmen, für Integrationshilfen im Jugend- land ab. Dies gilt auch umgekehrt. Wo die Produk- und Erwachsenenbereich in den Haushalt einge- tion hinwandert, folgen nicht selten auch Forschung stellt. und Entwicklung nach. Trotz der breiten Palette von Integrationshilfen ma- Unsere Antwort auf die Globalisierung muß eine terieller und sozialer Art verkennen wir nicht, daß es vierfache sein: gerade auch in der letzten Zeit zu Schwierigkeiten bei der Integration gekommen ist. Sie sind unter an- Erstens. Wenn Unternehmen dort hingehen, wo sie derem auch durch einen verstärkten Zuzug von Aus- das beste Know-how erhalten, dann müssen wir die- siedlern in bestimmte Regionen und Kommunen ent- ses Know-how bieten, damit sie zu uns kommen. standen. Andere Regionen wie zum Beispiel die Zweitens. Ausländische Wissenschaftler müssen in neuen Bundesländer fanden leider nur wenig Zu- Deutschland optimale Arbeitsbedingungen vorfin- spruch bei den Aussiedlern. den. Unsere Hochschulen müssen sich international öffnen, um attraktiv für den wissenschaftlichen Obwohl es menschlich verständlich ist, daß die Nachwuchs zu sein. Aussiedler zu den bereits hier lebenden Verwandten und Bekannten ziehen wollen, mußte eine Lösung Drittens. Wir müssen unsere Forschungseinrich- gefunden werden, die eine gegenseitige Akzeptanz tungen weiter zu internationalen Forschungszentren ermöglicht. ausbauen. Mit der verstärkten Beratungskapazität in den Auf- Viertens. Wir müssen unsere Verbindungen rund nahmelagern und dem am 1. März dieses Jahres in um den Globus ausbauen. Das Asien-Pazifik-Kon- Kraft getretenen Wohnortzuweisungsgesetz sind In- zept des BMBF war hierzu ein wichtiger Schritt. strumente zur gleichmäßigen Verteilung der Aus- siedler auf alle Bundesländer geschaffen worden. Die Die Dinge lassen sich nicht isolieren. Und deshalb von Bund, Ländern und Gemeinden beabsichtigte ist eine Politik, die Kosten senkt und bürokratische Entlastungswirkung ist bereits spürbar. Sehr wichtig Hemmnisse für Unternehmen abbaut, gut für die For- ist dabei aber auch, daß die Aussiedler wissen, daß schung. Deshalb ist eine Politik, die gute Forschung dies keine Maßnahmen gegen sie sind, und ich bin fördert und fordert und Netzwerke für Innovationen froh darüber, daß die übergroße Mehrheit der Aus- stärkt, auch eine Politik, die Deutschland als Stand- siedler dies auch so sieht. ort attraktiv macht und Beschäftigung sichert. Ein weiteres Integrationshemmnis - auch dies kann und will niemand bestreiten - sind die man- gelnden deutschen Sprachkenntnisse der in letzter zeit aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutsch- Anlage 3 land kommenden Landsleute - und dies gilt insbe- sondere für die jüngere Generation und für die nicht- Zu Protokoll gegebene Reden deutschen Ehepartner. zu Tagesordnungspunkt 10 (Antrag zum Bericht des Beauftragten Nun mag man über die Kürzung bei den Sprach- der Bundesregierung für Aussiedlerfragen) kursen in Deutschland lamentieren; viel wichtiger und wirksamer sind hier die Maßnahmen der Bun- desregierung, die bereits angelaufen sind und nicht Eva -Maria Kors (CDU/CSU): Seit Inkrafttreten des unerwähnt bleiben dürfen, nämlich mehr Deutsch- Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes am 1. Januar 1993 lehrer in den Herkunftsländern selbst einzusetzen kommen jährlich zirka 220 000 Aussiedler zu uns in und so das Netz zur Vertiefung der in der Familie er- die Bundesrepublik Deutschland. Während es in den worbenen rudimentären deutschen Sprachkennt- Jahren zuvor sehr viel mehr waren, ist derzeit eine nisse enger zu knüpfen und dann auch durch deutlich abnehmende Tendenz zu verzeichnen. Sprachtests die vorhandenen Kenntnisse bereits in Hauptziel unserer Aussiedlerpolitik ist immer gewe- den Herkunftsgebieten zu überprüfen. Ich bin sicher, sen und wird auch in Zukunft bleiben, den Deut- daß diese Maßnahme die Integration hier in Deutsch- schen im Osten und Südosten Europas, die noch land wesentlich erleichtern wird. heute von einem Kriegsfolgenschicksal betroffen sind, die freie Entscheidung zu ermöglichen, ob sie in Neben diesen Integrationshilfen für Aussiedler in ihrer heutigen Heimat bleiben wollen oder nach Deutschland fördert die Bundesregierung als zweites Deutschland aussiedeln möchten. ebenso wichtiges Standbein ihrer Aussiedlerpolitik 10184* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 sowohl gewerbliche Projekte - wie zum Beispiel die Der Altenbericht gibt uns einen guten Überblick Einrichtung von Metzgereien und Bäckereien - als über die Situation der Älteren in unserer Gesell- auch die kulturellen Begegnungsstätten, die ebenso schaft, der Situation bezüglich Finanzen, Wohnen, wichtig sind wie die Verbesserung der Wirtschafts- Mobilität, sozialer Dienste und Kontakte (unter- strukturen. schieden nach den Menschen in den östlichen und den westlichen Bundesländern). Erschreckend darin Die Förderungsmaßnahmen für deutsche Sied- zum Beispiel die Tatsache, daß die durchschnittliche lungsschwerpunkte in Rußland sind ebenfalls ein Rente von Frauen im Westen unseres Landes immer wichtiger Aspekt unserer Aussiedlerpolitik. So sind noch nicht einmal die Hälfte derjenigen der Männer diese Siedlungsschwerpunkte für jene eine Über- beträgt. Und dann gibt es Kollegen in diesem Hause, gangslösung, die trotz Aufnahmebescheid die Ent- die ernsthaft darüber nachdenken, trotz millionen- wicklung im Herkunftsland abwarten; und sie sind fach fehlender Arbeitsplätze das Renteneintrittsalter vor allem für jene eine Zukunftschance, die in Ruß- für Frauen hinauszuschieben oder ihnen die Rente land bleiben wollen oder auf Grund der Gesetzes- zu kürzen?! lage überhaupt nicht aussiedeln können. Daß dies die richtige Aussiedlerpolitik ist, zeigt sich auch Der Neunte Jugendbericht hatte als Schwerpunkt darin, daß rund 185 000 Deutsche, die bereits im Be- die Jugend im Osten Deutschlands, und das war bit- sitz eines Aufnahmebescheides sind, die Entwick- ter nötig: Die nicht ausreichend aufgebauten Ju- lung in Rußland abwarten. Über 90 000 Personen ha- gendhilfestrukturen in den östlichen Bundesländern, ben den Aufnahmebescheid bereits länger als ein das mangelhafte Angebot an Ausbildungsplätzen, Jahr. Aus Gesprächen mit Aussiedlern und Betreuern die dramatisch gesunkene Geburtenquote haben De- weiß ich, daß Familien zum Beispiel aus Kasachstan fizite und Perspektivlosigkeit deutlich gemacht, die in die deutschen Siedlungen ziehen wollen. aufgearbeitet und abgebaut werden müssen. Und In der Kürze der Zeit konnte ich nur einige wenige wenn bei der Diskussion des Berichts von manchen Details der Aussiedlerpolitik der Bundesregierung Seiten immer wieder die Situation im Westen als er- und der sie tragenden Koalitionsfraktionen darlegen. strebenswertes Vorbild herausgestellt wurde, dann Fest steht, daß diese Aussiedlerpolitik erfolgreich ist müssen wir dem leider entgegensetzen: Wir wissen und mit großer Sensibilität gestaltet wird. An dieser nicht erst seit heute, daß es auch bei uns große Pro- Stelle möchte ich vor allem dem Aussiedlerbeauf- bleme mit der Bereitstellung von genügend Berufs- tragten der Bundesregierung, dem Parlamentari- und Freizeitmöglichkeiten für unsere jungen Men- schen Staatssekretär Waffenschmidt, einmal herzlich schen gibt. danken für seinen unermüdlichen Einsatz für die Aussiedler und für das dadurch wachsende Ver- Diese drei Beispiele mögen genügen, um zu ver- ständnis zwischen Aussiedlern und Einheimischen. deutlichen, daß diese Berichte durchaus ihren Sinn haben und daß es an uns in diesem Hause liegt, wel- Ich bin mir sicher, daß dies auch in Zukunft so sein che Konsequenzen wir daraus ziehen, um die Situa- wird, und ich bin mir auch sicher, daß der ge- tion der Betroffenen zu verbessern. Und es liegt na- wünschte und geforderte jährliche Bericht seitens türlich auch an den Betroffenen selbst und deren der Bundesregierung gern erstellt werden wird. Verbänden, ihre Interessen, Wünsche und politi- schen Forderungen zu artikulieren und gemeinsam mit uns an deren Realisierung zu arbeiten. Christa Lörcher (SPD): Im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und hier im Plenum haben wir einen Familienbericht, einen Altenbericht, Warum jetzt auch noch ein Bericht zu Aussiedlerin- einen Jugendbericht diskutiert, ferner den Auslän- nen und Aussiedlern? Familien, Kinder, Jugendliche, derbericht und viele andere detaillierte Informatio- im Erwerbsleben stehende Menschen, aber auch sol- nen über Menschen, die bei uns leben, über ihre che nach einem langen arbeitsreichen Leben wollen wirtschaftliche und soziale Situation, über berufliche zu uns oder leben schon seit einiger Zeit bei uns - oft und gesundheitliche Probleme, über Chancen und eine vor langem getroffene Entscheidung, ein lang- Perspektiven. Und jetzt auch noch ein Bericht über wieriger bürokratischer Weg bis zur Realisierung Spätaussiedler/Spätaussiedlerinnen und ihre Fami- und ein radikaler Wandel in der Lebenssituation lien, ihr Leben im Ausreiseland und ihre Lebenssi- nach der Ausreise. Jahrelanges, jahrzehntelanges tuation bei uns, ihre Chancen auf dem Wohnungs- Hoffen, Bangen, Planen - dann für rund 220 000 und auf dem Arbeitsmarkt? Ein weiterer Bericht, der Menschen jährlich der tatsächliche Wechsel von ei- mit viel Aufwand erstellt, in den parlamentarischen nem Leben dort zu einem Leben hier. Gremien zur Kenntnis genommen und dann zu den Akten gelegt wird? Über das Leben in den Ausreiseländern wissen wir wenig. „Zehn verschiedene Nationalitäten in einem Der Familienbericht hat uns wesentliche Erkennt- Dorf mit 2 300 Einwohnern, davon 600 Schülern, sind nisse über den Wandel von Familienstrukturen gege- keine Seltenheit", schreibt Dr. Sigrid Tschöpe- ben, über die materielle und soziale Situation von El- Scheffler über ihre Erfahrungen bei einem offiziellen tern und von Alleinerziehenden, über das, was Kin- Besuch in Sibirien in „Ost-West-Dialog", 96/03, der heute in diesen Strukturen lernen oder auch Seite 10. Über die Entscheidung und Realisierung nicht lernen, zum Beispiel soziale Kompetenz. Eine des Wechsels und die damit verbundenen finanziel- der wichtigsten Botschaften im fünften Familienbe- len, organisatorischen und psychosozialen Probleme richt ist, daß soziale Fähigkeiten heute in den Fami- und Schwierigkeiten wissen wir ebenfalls wenig. lien nicht in genügendem Ausmaß vermittelt werden. Über die Situation der hier seit kurzem oder länge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10185*

rem lebenden Aussiedlerinnen und Aussiedler wis- Sie fordert deshalb: „Aussiedler und Aussiedlerin- sen wir etwas mehr, aber sicher nicht genug. nen brauchen Starthilfen, um ihre Werte in unsere Gesellschaft einbringen zu können" und stellt fest: Ich möchte ein Beispiel zum Leben von Aussiedler- „Es lohnt sich, in die Aus- und Fortbildung junger familien bei uns anführen: In einem Gebäudekom- Aussiedler und Aussiedlerinnen zu investieren und plex sechs Kilometer von der nächsten Stadt, zwei Ki- sie nach Eignung und Neigung zu fördern." So lometer vom nächsten Dorf entfernt, begrenzt von ei- Helga Hülkenberg, ebenfalls in „Zukunft der Sozial- ner Straße auf der einen Seite, Wald auf allen ande- arbeit", Seite 72. ren Seiten, leben Hunderte von Menschen - die Zah- len schwanken sehr stark -, die vor Tagen, Monaten, Dies waren punktuelle Beispiele, die die Notwen- Jahren aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion digkeit einer gründlichen Analyse der Lebenssitua- gekommen sind. Der Kindergarten im Dorf wurde tion von Aussiedlerinnen und Aussiedlern mit ihren von zwei Gruppen behelfsmäßig auf fünf Gruppen Familien verdeutlichen sollen und Hinweise auf den erweitert, die Grund- und Hauptschule hat rund Handlungsbedarf geben. 50 Prozent Aussiedlerkinder mit sehr unterschiedli- chen Deutschkenntnissen. Für die Jugendlichen gibt Inzwischen liegt auch der zweite Bericht der Be- es kaum Angebote, ihre Sprachkenntnisse sind man- auftragten der Bundesregierung für die Belange der gelhaft, ihre Chancen für eine Ausbildung oder Ar- Ausländer über die Lage der Ausländer in der Bun- beit gering. desrepublik Deutschland vor, in dem viele Daten und Informationen zur Situation der ausländischen Bevöl- Die Polizei sagt, sie sei fast täglich im Haus; ein Be- kerung bei uns stehen, zum Beispiel auch die klare such im Untersuchungsgefängnis der nahegelege Unterrepräsentation von ausländischen Jugendli- nen Stadt ergibt, daß die dort arbeitenden Beamten chen in der beruflichen Bildung, obwohl viele von ih- bedauern, nicht Russisch zu können, da sie bei den nen seit ihrer Geburt hier leben und Deutsch spre- vielfältigen Problemen Dolmetscher zu Rate ziehen chen wie eine Muttersprache. Ähnlich wie im Aus- müssen und dies jeweils Zeit und Geld kostet. Ich länderbericht soll auch der von der SPD-Fraktion ge- nehme an, daß viele Kolleginnen und Kollegen von wünschte Bericht des Beauftragten der Bundesregie- - ähnlichen Situationen in ihrer Region berichten kön- rung für Aussiedlerfragen Daten und Analysen zu- nen. sammenstellen, damit politische Schlußfolgerungen gezogen werden können. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialar- beit hat bei einer Tagung in Königswinter vor ziem- Einige Fakten zur Zuwanderung aus den osteuro- lich genau zwei Jahren, nämlich vom 15. bis zum päischen Ländern liegen uns vor, so zum Beispiel fol- 17. Juni 1994, eine Fülle von Problemen aufgezeigt: gende: die Schwierigkeiten für eine Integration bei der lan- gen Verweildauer in Übergangswohnheimen; die be- Von 1984 bis 1987 gab es etwa eine Verdopplung sonderen Schwierigkeiten für junge Ehepaare, bei der Zuzugszahlen von rund 40 000 auf rund 80 000, denen ein Partner/eine Partnerin eine andere Staats- danach einen Anstieg auf rund 400 000 im Jahr 1990 angehörigkeit hat - geschätzte Zahl: rund 40 Prozent und mit dem Aussiedleraufnahmegesetz sowie dem binationale Ehen bei den jetzt kommenden Aussied- Kriegsfolgenbereinigungsgesetz die seither quotierte lern und Aussiedlerinnen -; die mangelhaften Zuzugsregelung von zirka 220 000 Aussiedlerinnen Deutschkenntnisse vieler junger Aussiedlerinnen und Aussiedlern jährlich; das sind rund 2,3 Millionen und Aussiedler, die Schulabschlüsse und die Chance Menschen in den letzten zwölf Jahren. auf eine berufliche Ausbildung erschweren; die Enge von Wohnungen und Umgebung, die oft in großem Über ihre Alters- und Familienstruktur, über Aus- Gegensatz zu der räumlichen Weite des früheren Le- reiseländer und Aufnahmeregionen sowie schulische bens steht - das Heimweh von Kindern und Jugend- Vorbildung gibt es Informationen; aber wieviel wis- lichen bezieht sich meist auf Landschaft und Sozial- sen wir über die beruflichen Vorkenntnisse, über die umgebung -; die Bedeutung von Geld und von Sta- Schwierigkeiten der Verwendung von beruflichen tussymbolen in der hiesigen Gesellschaft, zu der Qualifikationen aus einem anderen Lande, über die junge Aussiedlerinnen und Aussiedler wenig Zu- Verweildauer in Sammelunterkünften, über Arbeits- gang haben; die besonderen Schwierigkeiten von losigkeit, Wohnungsprobleme und gesundheitliche Mädchen und jungen Frauen, die oft passiv auf diese Belastungen - physische und psychische - durch all Situation reagieren, während männliche Jugendliche diese Schwierigkeiten? Gibt es eine Evaluation zu sich eher zu Cliquen zusammenschließen mit Ten- den Folgen der gekürzten Sprachkurse; das heißt, denzen zu aggressiven und kriminellen Handlungen. welche Lernerfolge gab es vorher, welche gibt es jetzt, und wie wirkt sich der Unterschied in den Ich zitiere: Sprachkenntnissen auf die Berufs- und Integrations- chancen der Menschen hier aus? Aufgrund der Wohnsituation und dem „ange- schlagenen" Selbstbewußtsein der Spätaussied- Es gibt auch bemerkenswerte Daten zur Bereitstel- ler und -aussiedlerinnen sind Übergangswohn- lung finanzieller Mittel für Aussiedlerinnen und Aus- heime „empfindliche" Territorien, zu der die siedler, zum Beispiel das Eingliederungsprogramm; „rote Mafia" leichten Zugang hat. Maximum 95 Millionen DM in den Jahren 1991 und 1992, dann im letzten Jahr die Aussage der Parla- So Helga Hülkenberg in „Zukunft der Sozialarbeit", mentarischen Staatssekretärin Frau Dempwolf, sie Fachtagung in Königswinter 1994, Seite 72. werde sich „für eine Verstetigung des Haushaltsan- 10186* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 satzes von 60 Millionen DM einsetzen". Ich zitiere gehören nicht nur Nahrung, Kleidung, Wohnung, dazu Brigitte Mies-van Engelshoven: sondern auch Integration und Perspektiven. Das ist eine große Aufgabe. Ich freue mich, wenn wir heute Sparmaßnahmen auf allen Ebenen führen dazu, gemeinsam einen kleinen Schritt zur Lösung dieser daß der Anteil der Sozialhilfeempfängerinnen Aufgabe tun. unter den AussiedlerInnen stetig wächst. Hier- mit werden die Kommunen zunehmend finan- ziell belastet. ... Daß hiermit einer positiven Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein Grundeinstellung zu Staat und Gesellschaft und Bericht löst sicherlich keine Probleme, aber hilft viel- einer positiven Lebensplanung und -perspektive leicht, diese zu erkennen. Und Erkenntnis ist manch- der Boden entzogen werden kann, ist offensicht- mal der erste Schritt zur Besserung. Diese ist ange- lich, scheint aber politisch in Kauf genommen zu sichts der Situation von Aussiedlerinnen und Aus- werden. siedlern in der Bundesrepublik Deutschland drin- gend geboten. Denn in den letzten Jahren hat die Nachzulesen in: Jugend-Beruf-Gesellschaft, 33. So- zialanalyse, Bonn 1995, Seite 6. Bundesregierung die Augen vor den Problemen ihrer einstigen Lieblingsmigranten verschlossen. Entsprechendes läßt sich auch über den Garantie- fonds sagen, dessen Mittel 1991 am höchsten waren Über 90 Prozent der Aussiedler kommen seit dem und jetzt etwa die Hälfte dieser Summe betragen - Jahr 1993 aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen und das, obwohl die Probleme nicht kleiner, sondern UdSSR, davon etwa zwei Drittel aus Kasachstan und laufend größer werden. Integration ist kein Automa- anderen mittelasiatischen Gebieten. Viele dieser tismus: oben eine Münze herein, unten das ge- Menschen fühlen sich als Deutsche, doch sprechen wünschte Produkt heraus. Oft sind jahrelange An- die wenigsten von ihnen die deutsche Sprache in strengungen nötig, um einer Familie, einem Kind ausreichender Weise. Traf dies für die Aus- und oder Jugendlichen die Chancen für ein aktives und Übersiedler in den achtziger Jahren, zumeist aus Po- selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. len und Rumänien, noch zu, verfügt der überwie- gende Teil der heutigen Zuwanderer aus der ehema- Es gibt also einige abrufbare Fakten und Daten zur ligen Sowjetunion kaum über ausreichende Sprach- Zuwanderung von Aussiedlerinnen und Aussiedlern; kenntnisse, benötigen über 80 Prozent einen Sprach- aber über die Menschen, die zu uns kommen, wissen kurs, um einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. An wir wenig. In der Enquete-Kommission „Demogra- die 40 Prozent sind mit Ehepartnern mit einer ande- phischer Wandel" wurden zu Beginn dieser Legisla- ren Nationalität verheiratet. turperiode Schwerpunkte für die Fortsetzung der Ar- beit gesetzt: Es wurden die Bereiche Wirtschaft und Die Integrationsvoraussetzungen haben sich ver- Arbeitsmarkt, soziale Systeme und Dienste sowie Mi- schlechtert, die Integrationshilfen wurden ver- gration und Integration gewählt, wobei Experten und schlechtert: Statt der neuen Situation Rechnung zu Abgeordneten gleichermaßen bewußt war, daß Zu- tragen, wurden die alten Konzepte fortgeschrieben, wanderung und die Tatsache, wie wir alle damit um- ja die Maßnahmen zurückgeschraubt. Zur „bewähr- gehen, eine Überlebensfrage für unsere Gesellschaft ten Integrationspolitik des Bundes" gehören seit und unsere Demokratie ist. Innerhalb des Schwer- 1994 die Kürzungen von Eingliederungsleistungen punktbereichs Migration und Integration werden die und die Reduzierung der Dauer von Sprachkursen Untersuchungen gegliedert nach den Gruppen Ar- von 18 über 10 auf 6 Monate. Mit der Verschlechte- beitsmigranten und -migrantinnen, Aussiedler und rung der Eingliederungshilfen und dem repressiven Aussiedlerinnen, Asylsuchende und Flüchtlinge. Ansatz bei der Wohnortzuweisung werden Geschei- tertenkarrieren vorprogrammiert. Freiheitsbeschrän- Ein jährlicher Bericht des Beaufragten der Bundes- kungen von hier legal lebenden Individuen lassen regierung für Aussiedlerfragen ist ein erster Schritt, sich aus der Sicht von Bündnis 90/Die Grünen in kei- um grundlegende Kenntnisse über die Lebenssitua- nem Fall rechtfertigen, ebenso wenig wie Sünden- tion von Aussiedlerinnen und Aussiedlern mit ihren bockstrategien, in denen Minderheiten die Schuld Familien in den Ausreiseländern und bei uns zu er- für Fehlentwicklungen in diesem Land in die Schuhe halten. Auf dem Hintergrund gesicherter Fakten ist geschoben werden. politisches Handeln von uns gefordert. „Es kommen Kinder und Jugendliche, die kein Wort Deutsch spre- Ich habe den dringenden Verdacht, daß die Bun- chen", ist die Überschrift eines Artikels der Vorsit- desregierung zu ihrer immer vorgetragenen Lebens- zenden des Ausschusses für Familie, Senioren, lüge, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Ein- Frauen und Jugend, Edith Niehuis, in der „Frank- wanderungsland, noch eine zweite gesellen will. furkter Rundschau" vom 18. März 1996. „Eine Bun- Ebenso wie die Behauptung, die hier geborenen Kin- desrepublik, die trotz steigender Anforderungen an der von Einanderern und Einwanderinnen, die längst die Integration die finanziellen Mittel kürzt, ist nicht zu Inländern geworden sind, seien Ausländer, ja Gä- nur inkonsequent, sondern auch verantwortungslos ste, immer wiederholt und dadurch ja nicht richtiger gegenüber den Betroffenen und gefährdet auf Dauer wird, wird in bezug auf die Aussiedlerinnen und den sozialen Frieden", schreibt sie und begründet Aussiedler an der Vorstellung festgehalten, die Men- damit die Notwendigkeit massiver Förderprogramme schen, die heute aus der ehemaligen Sowjetunion zu für junge Aussiedlerinnen und Aussiedler. uns kommen, seien, weil deutschstämmig, auch der deutschen Sprache mächtig und seien ohne Pro- Die Menschen, die zu uns kommen, haben das bleme in ein deutsches Umfeld zu integrieren. Diese Recht auf ein menschenwürdiges Leben hier. Dazu Selbsttäuschung versperrt ihnen den Blick auf die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10187*

Probleme: die Wohnungsnot, die lange Verweildauer teilung auf mehr Kommunen zu erzielen, hat sich of- in den Übergangsheimen, die Vermittlungsschwie fenkundig bereits eingestellt. Dieses Beispiel zeigt, rigkeiten in Arbeit oder Lehre, die Isolationspro- daß der in dem vorliegenden Antrag gewünschte Be- bleme und Rückzugstendenzen. richt des Beauftragten der Bundesregierung in der Zukunft eine geeignete Grundlage für notwendige Wir müssen hier endlich zu neuen Konzepten der aktuelle Reaktionen des Gesetzgebers werden Zuwanderung und Integration finden. Die Aussiedle- könnte. Im übrigen wird ein solcher Bericht eine will- rinnen und Aussiedler haben einen Anspruch auf kommene Gelegenheit sein, immer wieder auch die Rechtssicherheit und - wie übrigens alle Zuwande- Grundsätze der bewährten Aussiedlerpolitik der rer - auf vernünftige Eingliederungshilfen. Das Bundesregierung darzustellen und eine öffentliche Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1992, dem auch Diskussion darüber auszulösen. die SPD zugestimmt hat, und das Bundesvertriebe- nengesetz stehen nach unseren Vorstellungen mittel- Der Bericht des Beauftragten für Aussiedlerfragen fristig zur Disposition. Die Vorzüge eines humanen wird vor allem ein parlamentarisches Forum dafür Einwanderungsgesetzes wären Transparenz und Ver- bieten, immer wieder klarzustellen, daß die sich aus läßlichkeit für die Antragstellenden sowie solide Pla- Art. 116 Grundgesetz ergebenden Rechte von der nungsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutsch- Bundesrepublik Deutschland beachtet werden. Die land. Darüber muß in einem ruhigen und sachlichen bekannte Formel „Das Tor bleibt offen" muß gewahrt Klima verhandelt werden. Die Aussiedlerinnen und bleiben. Aussiedler werden dabei mit Sicherheit auch in Zu- kunft eine bedeutende Rolle spielen - nicht zuletzt Unabhängig davon vertritt die F.D.P. bekanntlich auch auf Grund der Diskriminierung dieser Men- die Auffassung, daß die Zuwanderung nach Deutsch- schen in den GUS-Staaten sowie auf Grund der viel- land künftig in einem Gesamtkonzept gesetzlich ge- fältigen verwandtschaftlichen Beziehungen, die be- regelt werden sollte. Es liegt in unserem Interesse, in reits zu Menschen in Deutschland bestehen. die Zuwanderung steuernd einzugreifen. Ein derarti- ges Gesetz würde auch Aussiedler betreffen, wobei deren Recht aus Art. 116 Grundgesetz, wie schon DE Max Stadler (F.D.P.): Die F.D.P.-Fraktion- schlägt oben betont, unangetastet bleiben würde. Der im vor, den Antrag an die zuständigen Ausschüsse zu SPD-Antrag geforderte Bericht des Beauftragten der verweisen. Dort kann gemeinsam mit den Antrag- Bundesregierung für Aussiedlerfragen könnte auch stellern im Detail überlegt werden, in welcher Form diese von der F.D.P. initiierte Diskussion befruchten. und unter welchen Kautelen ein Bericht des Beauf- tragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen Insgesamt sind wir daher gegenüber dem geplan- abgegeben werden soll. ten Vorhaben aufgeschlossen. Wir werden in den Ausschußberatungen gerne daran mitarbeiten, eine Die Koalitionsfraktionen haben zwar jüngst im In- Form der Berichtspflicht zu finden, die von einer nenausschuß eine Initiative gestartet, das Berichts- Mehrheit dieses Hauses mitgetragen werden kann. wesen zu „durchforsten". Nicht jeder Bericht der bei seiner Einführung sinnvoll gewesen ist, ist heute noch notwendig. Wir haben im Innenausschuß vor al- Ulla Jelpke (PDS): Die PDS wird dem hier vorlie- lem eine Überprüfung der Zeitintervalle für die Be- genden Antrag der SPD zustimmen. In der Tat ist es richte veranlaßt. Denn mit der Erstellung der Be- nötig, die Lebenssituation der Aussiedler und Aus- richte ist viel Arbeitsaufwand verbunden, der nur ge- siedlerinnen in jährlichen Berichten darzulegen und rechtfertigt ist, wenn von uns Parlamentariern die Er- „integrative, zukunftsorientierte Wege für Problemlö- kenntnisse aus den Berichten auch tatsächlich ver- sungen" aufzuzeigen. wendet werden und in die konkrete politische Arbeit Die zurückliegenden Monate haben diese Notwen- einmünden. digkeit in beschämender Weise gezeigt. Sie haben Hinsichtlich der Situation der Aussiedler erscheint aber auch gezeigt, daß eine umfassende Darstellung es allerdings sehr wohl hilfreich, wenn der Beauf- der Lebenslage der Aussiedler und Aussiedlerinnen tragte der Bundesregierung in relativ kurzer zeitli- nicht unbedingt eine Garantie dafür ist, Politiker und cher Abfolge eine Momentaufnahme zur Lage ver- Populisten daran zu hindern, Minderheiten zum Sün- mittelt. Es hat sich zu Beginn dieses Jahres gezeigt, denbock für die bestehenden beschissenen Verhält- daß die sich wandelnde Situation der Aussiedler An- nisse in diesem Land zu machen, sie für Wohnungs- laß zu gesetzgeberischen Maßnahmen gegeben hat. not, Rentenlöcher, Arbeitslosigkeit verantwortlich zu Es hatte sich herausgestellt, daß die Zuweisung von machen. Wohnorten für neu in die Bundesrepublik kommende Aussiedler nicht hinreichend beachtet worden war. Man kann ja beispielsweise SPD-Politikern wie La- Dies hatte zu einer einseitigen Belastung einzelner fontaine und Scharping nicht Unwissenheit über die Regionen geführt. Daher haben wir durch gesetzge- Lebenssituation der Aussiedler und Aussiedlerinnen berische Maßnahmen, die gerade uns Liberalen im unterstellen, sondern man muß davon ausgehen, daß Hinblick auf die grundrechtlich garantierte Freizü- sie gezielt und kalt kalkulierend die fehlende Inte- gigkeit nicht leicht gefallen sind, der Zuweisung ei- gration dieser Personengruppe für ihre häßliche nes Wohnortes mehr Nachdruck verliehen. Kampagne vor den Landtagswahlen nutzten, um mit der Schürung von Sozialneid auf Stimmenfang zu ge- In der Folgezeit hat sich diese seit 1. März 1996 hen. Scharping und Lafontaine wußten was sie taten. geltende Regelung bewährt. Der gewünschte Effekt, Man kann aber von der Hoffnung ausgehen, daß eine bessere Integration von Aussiedlern durch Ver- mehr Wissen über die Lebenssituation der Aussiedler 10188* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

und Aussiedlerinnen in der bundesdeutschen Bevöl- den Bestimmungen des Bundesvertriebenen- und kerung dazu führen kann, Politiker von einem derar- Flüchtlingsgesetzes zu behandeln sind. Vor dem Hin- tigen Treiben abzuhalten. tergrund der Zuständigkeiten des Beauftragten der Besonders die Aussiedler und Aussiedlerinnen Bundesregierung für Aussiedlerfragen sollte Nr. 3 des sind ja in der Bundesrepublik Deutschland lange Antrages ersatzlos gestrichen werden. Jahre als Objekte im Kalten Krieg mit dem War- In Nr. 2 sieht der Antrag die Beschreibung und Bewer- schauer Pakt benutzt und dargestellt worden. Als tung der Lebenssituation der Spätaussiedler auch in der Angehörige „unterdrückter deutscher Minderhei- Bundesrepublik Deutschland vor. Es sollen außerdem ten" hatte man sie als Teil des Kampfes gegen die integrative, zukunftsorientierte Wege zu Problemlösun- Staaten des Ostblocks genutzt und sie damit gleich- gen für den Integrationsbereich aufgezeigt werden. zeitig mit dem entsprechenden Staatsbürgerschafts- Wie Sie wissen, sind die Zuständigkeiten im Aus- recht nach Deutschland gelockt. Bei ihnen wurden siedlerbereich zwischen dem Bund auf der einen und Hoffnungen auf ein beschütztes und wohlhabendes Ländern und Kommunen auf der anderen Seite ge- Leben in Deutschland geweckt. nau abgegrenzt. Das Schwergewicht bei der Einglie- Als die Grenzen fielen und die Aussiedler und derung von Spätaussiedlern in Deutschland liegt bei Aussiedlerinnen ungehindert hierher reisen konnten, Ländern und Kommunen. Diese Aufgabenverteilung da wurden sie plötzlich zum Problem. Plötzlich er- sollte auch bei der Festlegung des Inhalts eines kannte man, daß es sich um Menschen handelte, die neuen Berichtes berücksichtigt werden. Entspre- versorgt und integriert werden mußten. Diese Men- chend wird auch bei anderen Berichten verfahren schen wurden nun zum Problem. (Sport, Verfassungsschutz, Datenschutz etc.). Zu die- Da führte man mit einemmal Einreisequoten ein und sen Fragen wird in den Ausschußberatungen noch denkt darüber nach, mit neuen härteren Quoten die im einzelnen zu sprechen sein. Einreise weiter zu stoppen. Da strich man die Maßnah- Zusammenfassend begrüße ich damit die Einfüh- men zur Integration radikal zusammen, so das Einglie- rung einer Berichtspflicht für den Beauftragten der derungsgeld, so die Sprachkurse von 15 Monaten auf Bundesregierung für Aussiedlerfragen, halte aber sechs Monate, so die Mittel für Umschulungen und be- eine Überarbeitung des vorgeschlagenen Berichts- umfanges für unverzichtbar. rufsbildende Maßnahmen, so ersann und beschloß- man ein unmenschliches Wohnortezuweisungsgesetz, das die Freizügigkeit für die Aussiedler und Aussiedlerin- nen zum Teil einschränkt und aufhebt. Auch ohne Bericht über die Situation der Aussiedler Anlage 4 und Aussiedlerinnen in diesem Land weiß man ei- Antwort gentlich schon heute: Es fehlen Wohnungen, Arbeit, Zu Protokoll gegebene Reden und die Mittel für die Integrationsmaßnahmen dürfen zu Tagesordnungspunkt 11 nicht gekürzt, sondern müssen aufgestockt werden. (a - Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts; Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim b - Antrag: Gesetzliche Neuregelung Bundesminister des Innern: Als Beauftragter der des Kindschaftsrechts) Bundesregierung für Aussiedlerfragen begrüße ich grundsätzlich die Anregung, dem Hohen Hause ge- Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Se- genüber regelmäßig einen Bericht zu erstatten. Die nioren, Frauen und Jugend: Der Gesetzentwurf der Vorlage eines solchen Berichtes eröffnet die Möglich- Bundesregierung zur Reform des Kindschaftsrechts keit, regelmäßig und mit breiter Öffentlichkeit über ist familien- und jugendpolitisch wichtig und not- diesen wichtigen Politikbereich zu sprechen. Gerade wendig. Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum diese Regelmäßigkeit, losgelöst von tagesaktuellen gesellschaftspolitischen Hintergrund machen, in den Anlässen, die der Breite des Themas nicht immer ge- sich dieses Reformwerk einfügt. recht werden, entspricht der Bedeutung des Aufga- benbereiches, der viele Menschen in Deutschland Ehe und Familie spielen für die Lebensplanung der und in den Ausreiseländern betrifft. meisten Menschen in unserem Land eine herausra- gende Rolle. Besonders für das Aufwachsen von Kin Eine solche Berichtspflicht würde im übrigen mei- dern bildet die Ehe den bestmöglichen Rahmen. Dies ner seit Jahren geübten Praxis, möglichst viele Infor- ist auch die Meinung der weit überwiegenden Mehr- mationen an einen möglichst großen Interessenten- heit der Bevölkerung. Für sie stehen Ehe und Familie kreis zu geben, noch weiter verstärken. für Verläßlichkeit und Vertrauen, für menschlichen So sehr ich jede Intensivierung der Unterrichtung Halt und gelebte Solidarität. Dies entspricht im übri- begrüße, möchte ich mich aber ebenso deutlich gegen gen auch den Befunden der Familienstatistik. Trotz ei- einige Vorstellungen wenden, die dem Antrag zu- nes Anstiegs der Zahl nichtehelicher Lebensgemein- grunde liegen. Das gilt insbesondere für Nr. 3 des An- schaften, trotz konstant hoher Scheidungszahlen trages. Nach diesem Vorschlag soll der Bericht des Be- wachsen immer noch 86 % aller minderjährigen Kin- auftragten der Bundesregierung darstellen, wie Mi- der bei ihren miteinander verheirateten Eltern auf. grationspolitik als Querschnittsaufgabe gestaltet wer- Das darf uns jedoch nicht darüber hinweg täuschen, den soll. Dies kann nicht Aufgabe eines Aussiedlerbe- daß bei mehr als der Hälfte aller Ehescheidungen - auftragten sein. Dies ist das Amt anderer. Bei Spätaus- häufig auch mehrere - minderjährige Kinder betroffen siedlern und Angehörigen der deutschen Minderhei- sind, 1994 alleine 135 318. Für sie bedeuten Trennung ten in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa handelt es und Scheidung der Eltern einen massiven Einschnitt sich um deutsche Staats- oder Volkszugehörige, die in ihr Leben. Und auch Kinder, die außerhalb einer gemäß Art. 116 des Grundgesetzes in Verbindung mit Ehe geboren werden, dürfen wegen der Lebensent- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10189*

Scheidung ihrer Eltern keine Nachteile erleiden. ben. Sie, Frau von Renesse, sprachen hier das letzte Nichteheliche und eheliche Kinder sollen die gleichen Mal von 90prozentiger Übereinstimmung. Ich bin Bedingungen für ihre Entwicklung erhalten. Deshalb sicher, daß auch in den wichtigen restlichen beseitigen wir mit unserem Gesetzentwurf noch be- 10 Prozent der Gesetzentwurf der Bundesregierung stehende Ungleichbehandlungen von nichtehelichen eine gute Lösung darstellt und daß die bevorstehen- und ehelichen Kindern. den Beratungen dieses Ergebnis bestätigen werden, Elternschaft ist nicht aufkündbar. Eltern bleiben wenn sie sich an zwei Grundsätzen orientieren, die Eltern. Unser Ziel muß es sein, daß sie in der Erzie- mir hier wichtig sind: Alle Kinder haben ein Recht hung ihrer Kinder Partner bleiben können, auch auf bestmögliche Rahmenbedingungen für die Ent- wenn sie als Paar auseinandergehen. Kinder haben wicklung ihrer Persönlichkeit. Eine wesentiche Vor- ein Recht auf beide Eltern. Die Beziehung zu beiden aussetzung hierfür ist der regelmäßige Kontakt und Eltern ist die beste Voraussetzung, um selbst bezie- Umgang mit beiden Eltern. Eltern sind erfahrungsge- hungsfähgig zu werden. mäß die besten Garanten für das Wohlergehen ihrer Kinder. Deshalb sollten wir ihnen auch im Konflikt- Konsequenterweise erleichtert eine zentrale Rege- fall zunächst zutrauen, für sich und ihre Kinder eine lung unseres Gesetzentwurfs Paaren die Beibehal- ihrer Lebenssituation angemessene Lösung zu fin- tung der gemeinsamen elterlichen Sorge über die den. Ehescheidung hinaus. Auch nicht miteinander ver- heiratete Eltern können in Zukunft die gemeinsame elterliche Sorge übertragen bekommen, wenn sie Ilse Falk (CDU/CSU): Nicht erst seit der Verab- beide das wünschen. Väter nichtehelicher Kinder sol- schiedung des vorliegenden Entwurfs zur Reform des len ein Umgangsrecht mit ihren Kindern erhalten. Kindschaftsrechts im Kabinett - seitdem allerdings Damit wollen wir ein Signal setzen für die Verant- wieder verstärkt - steht ein Thema im Mittelpunkt wortung beider Eltern, der Mutter und des Vaters, für der Diskussion: das Sorgerecht - ob gemeinsame das Wohlergehen ihrer Kinder. Sorge oder Alleinsorge - ob nur mit ausdrücklicher Erklärung beider Eltern oder als Fortschreibung des „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli- Elternrechts nach Art. 6 GG - ob auf Antrag - hier che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen oblie- scheiden sich die Gemüter. gende Pflicht", heißt es im Grundgesetz. Diese Pflicht, diese Verantwortung ist nicht davon abhängig, ob El- Ich spreche hier nicht vom gemeinsamen Sorge- tern miteinander verheiratet sind, ob sie zusammenle- recht für Eltern nichtehelicher Kinder - das ist un- ben. Daher wollen wir Eltern ermutigen, diese ge- strittig -, sondern vom Sorgerecht nach Scheidung. meinsame Verantwortung auch dann gemeinsam Der Gesetzentwurf geht davon aus, daß mit einer wahrzunehmen, wenn sie getrennte Wege gehen. Na- Scheidung weder das Recht noch die Pflicht der El- türlich können und wollen wir sie dazu nicht zwingen. tern zur gemeinsamen Sorge für ihr Kind bzw. ihre Es gibt Fälle, in denen die faktischen Verhältnisse ein- Kinder endet, und schreibt deshalb diese gemein- fach dagegen sprechen und in denen für das Kind eine same Sorge als gegeben fort. Jede andere Form des klare Zuweisung zu einem Elternteil die bessere Lö- Sorgerechts ist zu beantragen und vom Familienge- sung darstellt. Maßstab für eine solche Entscheidung richt zu entscheiden. Hinter dieser Formulierung kann aber nur das Wohl des Kindes sein. steht die sicher richtige Erkenntnis, daß für das Kin- deswohl beide Eltern von großer Bedeutung sind. Wenn sich Eltern zur Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge entschließen, soll ihre Kooperations- Als Familienpolitikerinnen verschließen wir uns bereitschaft im Lebensalltag auch nicht überfordert dem natürlich mitnichten. Wir formulieren nur etwas werden. Deshalb ist es mir wichtig, daß der Elternteil - anders, indem wir sagen und damit eine vielfache in den meisten Fällen ist dies die Mutter -, bei dem Forderung aus der Praxis aufnehmen: Die Wahrneh- das Kind lebt, alle Fragen, die sich im Lebensalltag mung der gemeinsamen Sorge ist für die Kinder das stellen, allein entscheiden kann und nur bei grund- beste, wenn - und das ist für uns unverzichtbar - -sätzlichen Fragen auf Zustimmung des anderen mit beide Eltern dieses auch wollen und dieses in einer sorgeberechtigten Elternteils angewiesen ist. gemeinsamen Erklärung deutlich machen. Kinder dürfen nach Trennung und Scheidung der Das heutige Recht - in seinen Auswirkungen für Eltern nicht unnötig aus ihrem vertrauten Umfeld eheliche wie für nichteheliche Kinder - regelt in erster herausgerissen werden und wichtige Bezugsperso- Linie die Beziehung der Eltern untereinander, und nen verlieren. Zukünftig sollen daher auch Großel- zwar weitgehend unabhängig davon, ob die Eltern tern und Geschwister sowie Pflege- und Stiefeltern konsensfähig sind oder nicht und worin vor allem eine ein Recht auf Umgang erhalten, wenn dies dem Wohl optimale Lösung aus Kindessicht liegt. Die Sorge- des Kindes dient. rechtsentscheidung für eheliche Kinder wird auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen den El- Schließlich halte ich die Verbesserung des Bera- tern gefällt. Wohnungs- und Hausratsaufteilung, Zu- tungsangebots der Jugendhilfe, die in dem Gesetz- gewinnausgleich und Unterhaltsregelung sind wohl entwurf vorgesehen ist und die auch der Bundesrat der ungünstigste Rahmen für eine tragfähige Ent- noch einmal unterstrichen hat, für einen wichtigen scheidung über das Wohl und die Zukunft des Kindes. Schritt, um Eltern zu befähigen, ihre persönlichen Insofern ist die Entscheidung, die Sorgerechtsrege- Konflikte in einer Weise zu lösen, die die negativen lung aus dem sogenannten Zwangsverbund der Ehe- Folgen für ihre Kinder minimiert. scheidung herauszunehmen, zu begrüßen. Die langjährigen Diskussionen um dieses schwie- Der Versuch im neuen Gesetzentwurf, eine Regel- rige Kapitel der Gesellschafts- und Rechtspolitik und fallentscheidung zu vermeiden - indem offenbar an- auch frühere Debatten hier im Deutschen Bundestag dere Sorgerechtsmodelle gleichberechtigt offenste- haben gezeigt, daß wir in den allermeisten Punkten hen -, um damit Konflikten zwischen den Ehepart- zu einer gemeinsamen Linie zusammengefunden ha- nern um das Kind vorzubeugen, ist jedoch insofern 10190* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 unbefriedigend, als dadurch überhaupt kein Anlaß fragen zu provozieren, die im Laufe der Zeit mit Si- mehr gegeben ist, über die Ausgestaltung der elterli- cherheit vielfältigen Veränderungen unterworfen chen Sorge nachzudenken. Es ist sogar der Fall sind. Das Gespräch und die Suche der Eltern nach denkbar, daß im Rahmen eines Scheidungsverfah- Lösungen über für das Kind lebenswichtige Ent- rens gar nicht zur Sprache kommt, ob minderjährige scheidungen läßt sich nicht für alle Zukunft durch Kinder vorhanden sind. die Endgültigkeit des schriftlich Niedergelegten er- Konflikte, die sich aus der veränderten Konstella- setzen. tion der Familie durch eine Trennung der Eltern Machen wir uns also nichts vor. Das neue Kind- zwangsläufig ergeben, werden damit möglicher- schaftsrecht kann das Kindeswohl nicht verordnen, es weise auf unbestimmte Zeit verschoben oder führen kann nur ein Bewußtsein dafür schaffen, daß Eltern- zu einem Dauerstreit um kindliche Angelegenheiten. verantwortung nicht auflösbar ist. Das gilt für die, die Damit wird weder dem Kindeswohl noch den Rech- zusammenleben, verheiratet oder unverheiratet sind, ten des Kindes ausreichend entsprochen. ebenso wie für die, die sich getrennt haben. Eine Dis- Wir setzen uns daher dafür ein, daß das Gesetz in- kriminierung der gemeinsamen wie auch der alleini- sofern eine Präzisierung erfährt, daß die Sorgerechts- gen Sorge im öffentlichen Bewußtsein führt allenfalls entscheidung nicht durch einen gewissen Automatis- zu einer Polarisierung der Fronten, trägt aber in kei- mus zustande kommt, sondern aufgrund einer reflek- nem Einzelfall zur Konfliktlösung bei. Die steigende tierten Entscheidung der Eltern. Elterliche Verant- Zahl von Gerichtsentscheidungen in einzelnen Ge- wortung und Fürsorge beginnen mit der Geburt ei- richtsbezirken, die eine gemeinsame elterliche Sorge nes Kindes und sind nicht kündbar wie ein Mietver- nach Scheidung ermöglichen, ist ein eindeutiger Be- trag. Deshalb lassen sie sich auch nicht verordnen weis dafür, daß Eltern sehr wohl in der Lage sind, sich und in Muster pressen. Die Entscheidung, ob die ge- auch in einer schwierigen persönlichen Situation über meinsame Sorge immer die beste Lösung für eine be- die Zukunft ihres Kindes Gedanken zu machen und friedigende Eltern-Kind-Beziehung ist, müssen zual- die Entscheidung zur Gemeinsamkeit in der Erzie- lererst die Eltern untereinander erörtern. Sie sollte hung auch vor Gericht zu vertreten. Diese positive dann vom Gericht respektiert werden, es sei denn, es Entwicklung sollte bei den Gerichten und allen mit sprächen gewichtige Gründe dagegen. Soweit die El- Familiensachen befaßten Instanzen zu der Erkenntnis tern nicht zu einer übereinstimmenden Lösung in der führen, daß nur die bewußt bekundete Elternerklä- Lage sind, kann eine qualifizierte Beratung vermit- rung dem Kindeswohl dient, nicht das eine oder an- teln und eine am Kindeswohl orientierte Entschei- dere Regelfallmodell. dung herbeiführen. Der Gesetzentwurf sieht daher vor, daß die Fami- Margot von Renesse (SPD): Heute bin ich zutiefst liengerichte bereits im Frühstadium des Scheidungs- glücklich, daß wir mit der parlamentarischen Sachar- verfahrens auf die Möglichkeit der Beratung durch beit an der Reform des Kindschaftsrechts endlich - das Jugendamt oder die freien Träger der Jugend- endlich! - anfangen dürfen. Damals, als ich im Som- hilfe hinweisen sollen. Hier wird in den Beratungen mer 1991 den Rohentwurf zu dem schrieb, was 1992 zu prüfen sein, wieweit die Pflichten und Chancen und 1995 als Reformentwurf der SPD in den Bundes- aus dem KJHG zu verdeutlichen und zu stärken sind. tag eingebracht wurde, ahnte ich als parlamentari- Denn in allen Gesprächen und Diskussionen wird scher Neuling noch nicht, wie schwierig der Diskus- klar, wie wertvoll diese Beratungstätigkeit der Ju- sionsprozeß in der eigenen Fraktion und Partei, mit gendämter sowohl für die betroffenen Eltern als auch Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen sein und für die Familiengerichte ist. Manche Richter treffen wie lange Zeit unsere eigene Meinungsbildung brau- keine Entscheidung, ohne daß eine Stellungnahme chen würde. Noch weniger wußte ich, daß ein von des Jugendamtes vorliegt. Hier liegt also ein wichti- der Opposition eingebrachter Antrag, mochte er ger Ansatzpunkt, die Konsensfähigkeit der Eltern zu noch so sinnvoll und plausibel sein, keinen zuständi- stärken. Nur so ist es möglich, eine tragfähige Eltern- gen Ausschuß beschäftigen werde, bevor nicht auch Kind-Beziehung zu fördern, die weder zu ständigem die Mehrheit oder die Regierung ein eigenes Kind Streit über Alltagsangelegenheiten führt noch ein El- geboren hatte. Aber so ist das nun einmal. Heute ist ternteil dauerhaft ausklammert. die Regierung niedergekommen, und wir dürfen nun Eben weil man nicht so tun kann, als ob nach einer endlich an die Arbeit. Freude über Freude! Trennung alles beim alten bleibt, muß es einen Zeit- Auch bin ich nach wie vor zufrieden, daß der Regie- punkt geben, an dem die Eltern unabhängig von ih- rungsentwurf in Anlage, Thematik und Behandlung rer Beziehung über das künftige Leben ihres Kindes vieler Einzelfragen weitgehend unseren Vorstellun- nachzudenken haben. Wir stellen uns daher vor, daß gen entspricht. Es macht eine kleine Oppositionsab- am Gesetzentwurf zwar materiell-rechtlich nichts geordnete schon glücklich, wenn das Justizministe- verändert wird, wohl aber in der Zivilprozeßordnung, rium mit seinen Spezialisten, seiner Fachkommission indem dort verankert wird, daß im Zusammenhang aus leuchtenden Namen und viel Zeit, die man sich des Verfahrens die unmittelbare Zukunft der Kinder genommen hat, in der Bewe rtung des Reformbedarfs zu erörtern ist. Das heißt, der „Entscheidungsver- weitgehend zu denselben Ergebnissen kommt wie bund" würde, wie im Entwurf vorgesehen, entfallen, sie, ja, mitunter ihre Vorschläge erkennbar aufgreift. ein „Verhandlungsverbund" aber erhalten bleiben. Nun müßte nach den Gesetzen oppositioneller Reden Die von verschiedenen Seiten geäußerte Forde- das kommen, was an grundsätzlicher Kritik verbleibt. rung nach Aufstellung eines Sorgerechtsplanes Nun müßte davon die Rede sein, daß es nach wie vor schießt nach unserer Auffassung allerdings über das zwei gewichtige Unterschiede im Zugang zu dem Ziel der elterlichen Einigung über die Kindessorge Thema „Familie im Recht" gibt, die unseren Entwurf weit hinaus: Es ist unsinnig und kontraproduktiv, die von dem der Regierung trennt, nämlich unsere Vorstel- Auseinandersetzung zwischen den Eltern in Detail- lung von der Rolle des staatlichen Wächteramts, wenn Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10191* es um die Entwicklungsinteressen von Kindern geht, Ich selber habe eine Mutter gehabt, die mir all dies und von der Rechtssubjektivität des Kindes, seiner ma- unter schwersten Bedingungen vorgelebt hat. Nach teriell- und verfahrensrechtlichen Stellung. Krieg und Flucht trug sie allein die Verantwortung für Nur soviel dazu: Wir betrachten beides im Regie- vier kleine Kinder als geschiedene Frau, ohne Unter- rungsentwurf als zu schwach entwickelt und werden haltsleistungen und ohne soziale Hilfen. Ihr verdan- darüber mit Ihnen einiges zu streiten haben. Sie mö- ken meine Geschwister und ich unsere physische und gen Ihre Haltung in diesen beiden Punkten „liberal" soziale Existenz mehrfach. Als älteste Tochter war ich nennen - wir halten uns da lieber an die Verfassung, - fast zwangsläufig und weit über mein kindliches die in grundsätzlichen Fragen immer noch der beste Verständnis - Gesprächspartnerin und Zeugin für ihr Ratgeber ist. Leid und ihre Anstrengungen, es zu überwinden. Ich erlebte mit, wie in ihren Wunden, die sich nie ganz Zu dem öffentlich am heißesten diskutierten Punkt, schlossen, die Perle der Großmut und der Güte wuchs. der Sorgerechtsregelung nach Trennung und insbe- Sie söhnte uns mit dem abwesenden Vater aus und be- sondere Scheidung, halten wir darum an dem fest, grüßte und förderte bei uns auch die Eigenschaften, was wir schon 1992 vorgeschlagen haben: Die obli- die ersichtlich sein Erbteil waren. So konnte sie uns gatorische richterliche Sorgerechtsentscheidung bei loslassen und uns trotzdem auf den Wegen begleiten, jeder Scheidung von Eltern minderjähriger Kinder die wir gingen. Es ist mir wichtig, daß meine Arbeit an muß entfallen. Eine richterliche Entscheidung zum der Kindschaftsrechtsreform von ihr begleitet und ge- Sorgerecht kann es nur geben, wenn mindestens ein billigt wurde, solange sie das konnte. Elternteil, das Jugendamt oder das Kind dies bean- tragen oder das Gericht von sich aus eine Entschei- Natürlich war ich auch Zeugin von gelegentlichen dung zur Wahrung des Kindeswohls für erforderlich Zusammenbrüchen und blinder Verzweiflung, gebo- hält. Bis hierhin stimmt der Regierungsentwurf mit ren aus grausamster Überforderung. Natürlich weiß uns überein; aber dann wird's bei uns anders. Wir ich längst auch bei mir und meinen Geschwistern die wollen es nämlich damit - wie inzwischen auch der Folgen der Defizite einzuordnen, die aus unserer va- Bundesrat - nicht sein Bewenden haben lassen. terlosen Kindheit und Jugend entstanden. Aber ge- rade darum weiß ich den Vorteil zu schätzen, den Wir wollen sicherstellen, daß im Scheidungsverfah- Kinder und ihre Mütter durch den väterlichen Part- ren die möglicherweise konfliktträchtigen- Fragen ner gewinnen können, wenn er zu gewinnen ist. Es zum weiteren Aufenthalt, dem Umgangsrecht und fehlt unseren Kindern weniger an mütterlichen der Pflichtenverteilung zwischen den Eltern erörtert Frauen als an väterlichen Männern, die Verantwor- werden und das Ergebnis festgehalten wird. Das ist tung, Kompetenz und zärtliche Fürsorge auf männli- dem staatlichen Wächteramt geschuldet. Der Gesetz- che Weise miteinander verbinden. Welche Mannsbil- geber darf nicht einfach übersehen, daß der elterli- der beherrschen unsere Gesellschaft: der Typ zwi- che Scheidungskonflikt im Leben der Kinder eine schen 19 und 35 Jahren, der Motorenfanatiker, der Krise darstellen kann, durch die ihre Entwicklungsin- Internet-Surfer, der Technik-Freak, der erfolgreiche teressen nicht die gebührende Beachtung finden. Broker, aber weniger der reife Erwachsene, der Ver- Darum wollen wir sicherstellen, daß im Schei- antwortung und Zuneigung für andere lebt. Die gro- dungsverfahren über die Kinder gesprochen wird. ßen Vaterbilder der Bibel, der Literatur aller Völker, Eine solche nur verfahrensrechtliche Regelung bela- die für ihre Söhne und Töchter die Welt öffneten und stet scheidungswillige Eltern nicht mehr als getrennt wohnlich machten, scheinen entthront. Väterlichkeit lebende Unverheiratete mit gemeinsamer elterlicher als reife Männlichkeit ist ein Defizit in dieser Gesell- Sorge, weil ihnen kein erhöhtes materiellrechtliches schaft; und sie leidet darunter nicht anders als unsere Risiko aufgebürdet wird, die Elternstellung einzubü- Kinder, die sich in jedem Kindergarten in Trauben ßen. Denn nur dann verlieren Eltern nach unserem um einen einzelnen jungen Zivi scharen. Vorschlag die elterliche Sorge durch richterliche Ent- Mein eigener Vater verdrängte sein väterliches scheidung, wenn beide Eltern dies wollen oder wenn Versagen hinter dem konservativen Glaubensbe- es zum Wohle des Kindes angezeigt ist. Dies gilt für kenntnis, daß Kinder zur Mutter gehörten, daß er nur verheiratete Eltern ebenso wie für unverheiratete, um der Konfliktvermeidung willen auf jede Bemü- wenn sie gemeinsam sorgeberechtigt sind. hung um uns, seine Kinder, verzichtet habe. Wie Wir muten verheirateten Eltern, die alleine für ihre viele getrennte und geschiedene Väter vermied er rechtliche Trennung ein geregeltes Verfahren vor Ge- die Berührung mit uns, als wir ihn brauchten, damit richt haben, im Gegensatz zu unverheirateten ledig- er sich unseren Fragen stellte. lich zu, in diesem Verfahren etwas darüber zu sagen, Unser Recht muß Kindern Gerechtigkeit widerfah- was sie konkret mit ihren Kindern vorhaben. Das hal- ren lassen. Sie haben vor allem ein Recht auf Vater ten wir - im Gegensatz zum Regierungsentwurf - für und Mutter, unabhängig von deren Familienstand. notwendig, wenn das Wächteramt des Staates für Kin- Ich weiß wohl, daß dies mit Schmerzen verbunden der nicht völlig aufgegeben werden soll. Darüber wer- sein kann, mit Auseinandersetzung, mit Konflikten. den wir sicher zu diskutieren haben. Das halte ich nicht für eine Katastrophe, da Spannun- Aber mir ist heute nicht nach Streit mit Ihnen zu- gen zur Realität des Lebens gehören wie Einver- mute. Es geht bei unserem Beratungsgegenstand um ständnis und Harmonie. Anderes gilt nur, wenn Kinder und ihre Familien. Ihnen wünschen wir müt- Eltern, die selber damit nicht leben können, ihre terliche Mütter und väterliche Väter, das heißt, zuge- Kinder überfordern. wandte Erwachsene, die ihre Kinder lieben, weil sie Der Gesetzgeber muß zuallererst Partei sein für die da sind. Liebe heißt nicht die Abwesenheit von Kon- Kinder. Darum muß er Partei sein für Eltern, wenn sie flikten, auch nicht die dauernde Fehlerlosigkeit, aber elterlich, das heißt, zum Wohl ihrer Kinder, handeln. emotionale Sicherheit, Verläßlichkeit und erwach- Er muß auf seiten der Eltern stehen, die es besonders sene Verantwortung. schwer haben, so auch, wenn sie ihre Kinder ohne 10192* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 den anderen Elternteil erziehen müssen. Ihnen muß Erziehung Ausdruck zu geben. Es muß klargestellt er Sand aus dem Getriebe nehmen, so etwa mit der werden, daß Kinder gewaltlos zu erziehen sind und alleinigen Rechtsmacht für den Alltag, den sie von was dies auch unterhalb von strafrechtlich relevan- Gesetzes wegen, nicht erst durch Richterspruch ha- ten Tatbeständen bedeutet. ben sollen. Aber er darf ihnen nicht zugestehen, die Realität des Kindes zu verdrängen, das stets einen Die Bundestagsgruppe von Bündnis 90 hat dazu Vater und eine Mutter hat. Er muß auch die getrennt schon in der letzten Wahlperiode einen Antrag ein- lebenden und geschiedenen Eltern, die nicht in gebracht, dessen wesentliche Forderung wir in unse- Haushaltsgemeinschaft mit ihren Kindern leben, in rem Antrag zur Reform des Kindschaftsrechts über- die Verantwortung gegenüber ihren Kindern binden. nommen haben. Diese Verantwortung heißt zunächst: volle Unter- Was ist denn so schwer daran, § 1631 Abs. 2 BGB haltsverpflichtung, aber auch personale Zuwendung folgendermaßen neu zu fassen: „Kinder sind gewalt- und Auseinandersetzung. Nicht zuletzt um dieses frei zu erziehen. Maßnahmen, auch solche zum deutlich zu machen, wollen wir das Umgangsrecht Zwecke der Erziehung, die die körperliche, geistige des Kindes, das der Regierungsentwurf ausdrücklich oder seelische Integrität oder Identität des Kindes ablehnt. Elterliche Verantwortung ist unkündbar. Wo verletzen, sind unzulässig." getrenntlebende Eltern diesem Anspruch ihrer Kin- Was macht Ihnen an dieser Formulierung solche der gerecht werden wollen, muß dafür im Recht Angst, daß Sie in ihrem Entwurf schreiben müssen, ich Raum geschaffen werden. zitiere: „über das weitere Vorgehen wird noch entschie- Der Gesetzgeber hat Partei zu ergreifen für die el- den werden". Dazu war doch wirklich genug Zeit! terlich Handelnden, die als Pflege-, Adoptiv- oder Stiefeltern (die Sprache sollte ein angemesseneres Die Ermöglichung der gemeinsamen Sorge auch Wort dafür finden!) Kindern das geben, was die leib- für nichteheliche Lebensgemeinschaften ist für die lichen Eltern nicht geben können. Sie brauchen ei- zunehmende Zahl von Kindern, die in solchen Le- nen rechtlich geschützten Raum dafür, was sie für die bensgemeinschaften aufwachsen, ein längst überfäl- ihnen anvertrauten Kinder tun. liger und begrüßenswerter Fortschritt, auch wenn wir bei der konkreten Ausgestaltung anders verfah- Der Gesetzgeber muß sich Platz schaffen für das ren würden. staatliche Wächteramt, wenn Eltern die Interessen- ih- rer Kinder verkennen, übergehen oder mit Füßen tre- Ein Punkt, bei dem Sie sich souverän über die Dis- ten. Wo dies geschieht oder zu geschehen droht, sind kussion der letzten Monate und die Bedenken zahl- die Kinder wirksam zu schützen. Wenn er dem elterli- reicher Verbände hinwegsetzen, ist die Regelung der chen Konflikt begegnet, darf das Gesetz auf die Frage gemeinsamen Sorge nach Trennung oder Scheidung. nicht verzichten: „Und was ist mit euren Kindern?" Ob Eine automatische gemeinsame Sorge in diesen Si- er dann allerdings regelnd eingreift, muß davon ab- tuationen wird ganz einfach der gesellschaftlichen hängig sein, ob und wieweit die Eltern in der Lage Situation nicht gerecht. Was spricht denn dagegen, sind, ihre Spannungen autonom zu bewältigen. daß Eltern, die sich einig sind, diese Auffassung in einem gemeinsamen Antrag dokumentieren? Es muß In meinem Beruf als Familienrichterin habe ich viel hier doch darum gehen, die Situation für Kinder, die Leid und viel Versagen, aber auch viel Liebe, Verant- die Hauptleidtragenden einer Trennung sind, so zu wortung und Kompetenz von Eltern gesehen. Ich klären, daß sie nicht noch mehr leiden. habe - mitunter mühsam - gelernt, mich nicht zum Richter über das Leben anderer zu machen. Auch Aber auch hier bleiben Sie der Perspektive des El- mein privates Leben als Mutter und Ehefrau ist von ternrechts verhaftet. Wenn Sie das Kind in den Mittel- Versagen nicht frei. Neben allen Eltern, die ihre Kin- punkt Ihrer Überlegungen stellen würden, dann müßte der lieben, stehe ich als Kollegin. In dieser Haltung auch Ihnen an einer klaren Regelung gelegen sein. freue ich mich aufrichtig auf unsere streitige Zusam- Auch Ihre Begründung, warum Sie kein eigenes menarbeit an der Kindschaftsrechtsreform, die den Antragsrecht des Kindes wollen, zeigt, daß es Ihnen Kindern zugute kommen soll. mehr um die Regelung von Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen geht als um die Interessen Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von Kindern. Wohl alle hier im Hause sind sich im Prinzip einig, daß Natürlich sind für die Erziehung und Entwicklung eine Reform des Kindschaftsrechts das Interesse der des Kindes in erster Linie die Eltern verantwortlich. Kinder in den Mittelpunkt zu stellen hat. Wir begrü- Aber bei Trennung oder Scheidung geht es doch ßen deshalb, daß jetzt endlich ein umfassender Ent- nicht um normalen Alltag, sondern um Konflikte. wurf der Bundesregierung vorliegt, der die rechtliche Und wir meinen, daß Kinder dabei durchaus das Situation von Kindern in vielen Punkten verbessert. Recht haben sollten, ihre ureigensten Interessen Aber der Perspektivwechsel weg vom Elternrecht selbst zu vertreten. hin zu einem kindzentrierten Recht ist Ihnen leider Mit der Einführung eines Verfahrenspflegers ge- nicht vollständig gelungen. Ich will dafür einige Bei- stehen Sie ja auch zu, daß dieses Interesse legitim ist. spiele benennen: Warum bleiben Sie dann auf halbem Wege stehen? Obwohl es schon jahrlang diskutiert wird, können Zum Umgangsrecht: Wo, bitte schön, ist die Kind- Sie sich immer noch nicht dazu durchringen, Kindern zentriertheit Ihres Entwurfs, in dem es heißt (§ 1684 endlich ein Recht auf gewaltfreie Erziehung zuzuge- und 1685): „Jeder Elternteil hat das Recht auf Umgang stehen. mit dem Kind" bzw.: „Großeltern und Geschwister ha- Natürlich erklärt § 1631 BGB entwürdigende Erzie- ben ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser hungsmaßnahmen für unzulässig. Das reicht aber dem Wohl des Kindes dient"? Wir wollten doch alle die nicht aus, um dem Recht des Kindes auf gewaltfreie Rechte von Kindern stärken und nicht ein Durchein- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10193* ander von konkurrierenden Umgangsanträgen her- Leistungspflicht, die ohne jede Chance der Mitver- aufbeschwören, die das Kind belasten. antwortung für das Kind als besonders verletzend Das Umgangsrecht muß ein Recht des Kindes sein. Da empfunden wurde und wird. kann es übrigens durchaus passieren, daß das jeweilige Nicht das Recht der Frau, der Mutter oder des Va- Kind mit ganz anderen Personen Umgang pflegen will ters soll im Mittelpunkt stehen, sondern das Wohl des als mit denen, die Sie aufgeführt haben. Sie brauchen Kindes und seine Rechte. Das Kind wurde vom Vater diese Begrenzung, um die Flut der Umgangsansprüche, gezeugt, von der Mutter geboren. Es hat ein Anrecht die sie schaffen, eindämmen zu können. Wenn Sie vom auf beide Eltern. Der Staat ist daher gehalten, die Re- Interesse des Kindes ausgegangen wären, hätten Sie gelungen der Elternschaft nach einer mißlungenen diese Schwierigkeiten nicht gehabt. Ehe so zu gestalten, daß die Chance für das Kind, Meine Damen und Herren, das neue Kindschafts- den innigen Kontakt zu beiden Eltern zu erhalten recht bringt eine ganze Menge Verbesserungen. Ich bzw. wiederzugewinnen, nicht vereitelt wird. Natür- erinnere nur an Regelungen zur Gleichstellung von lich haben Eltern während und nach der Scheidung ehelichen und nichtehelichen Kindern. oft gravierende Kommunikationsprobleme. Die Kin- Trotzdem: Dieser Entwurf wird dem Anspruch ei- der sollen aber möglichst wenig dafür gestraft wer- ner kindzentrierten Reform nicht gerecht. Ich hoffe, den, daß die Eltern unfähig waren, ein harmonisches daß wir in den weiteren Beratungen noch Gelegen- Familienleben aufrechtzuerhalten. Wir stehen daher heit haben werden nachzubessern. mit Nachdruck hinter dem Konzept der gemeinsa- men elterlichen Sorge, von der nur auf Antrag eines Elternteils abgewichen werden soll. Hildebrecht Braun (Augsburg)Zum 1. Januar (F.D.P.): 1980 wurde letztmalig das Recht der elterlichen Sorge Das Gesetz legt den Eltern nach der Scheidung neu geregelt. Mögen 16 Jahre in der Geschichte eines dringend nahe, die gemeinsame elterliche Verant- Volkes eine kurze Zeitspanne sein, so hat sich doch in wortung trotz aller persönlichen Schwierigkeiten ge- unserem Land in dieser Zeit eine Menge getan. Grund- meinsam zu tragen. Dies zwingt zu mehr Disziplin, legende Ansichten und Einsichten im Bereich des Kind- zu mehr Toleranz, sicherlich zu Selbstüberwindung, schaftsrechts haben sich verändert, nicht zuletzt nach aber eben im Interesse der gemeinsamen Kinder. Dies ist gut so. der Wiedervereinigung. Es war daher dringend- nötig, das Kindschaftsrecht zu ändern. Es gibt schon diverse Untersuchungen, die stati- Betrüblich ist, daß die gesellschaftspolitisch beson- stisch eine unerwartet hohe Quote der erfolgreichen ders wichtigen Änderungen in diesem Gesetzent- Durchführung der gemeinsamen elterlichen Sorge wurf der Bundesregierung nicht durch den Gesetz- belegen, zum Beispiel zwei Untersuchungen des all- geber, sondern durch das Bundesverfassungsgericht gemeinen Sozialdienstes in München über mehrere angestoßen werden mußten. Hätte dieses Gericht Jahre. Leider liegen die Ergebnisse der neuen Unter- nicht gehandelt, so gäbe es diesen Gesetzentwurf, suchung von Professor Fthenakis, die er im Auftrage der den Kindern die gemeinsame elterliche Sorge des Familienministeriums durchführte, erst in zwei auch für die Zeit nach der Scheidung der Eltern nach bis drei Wochen vor. Sie werden bestätigen, daß die Möglichkeit erhalten soll, bis heute nicht. Ebenso Bewertung der gemeinsamen elterlichen Sorge auch wichtig ist, daß das Bundesverfassungsgericht auch nach Jahren durch die Kinder, die beiden Eltern und nicht verheirateten Paaren erst die Chance auf ein die Großeltern zumeist sehr positiv ist. gemeinsames Sorgerecht eröffnet hat. Die Rechtspre- Kurz: Wir werden durch die Praxis ermutigt, den chung wirkt prägend auf das Denken des Volkes. Sie Schritt zu mehr gemeinsamer Sorge nach Scheidungen, vollzieht nicht nur bereits mehrheitlich eingetretene aber auch bei unverheirateten Eltern weiter zu gehen. Einstellungsänderungen nach. Wäre es anders, so hätte es der nachhaltigen Aufforderungen des Ver- Mitte 1994 bis Mitte 1995 lag der Ausspruch zu- fassungsgerichts zu gesellschaftlichem Fortschritt im gunsten gemeinschaftlicher elterlicher Sorge nach Kindschaftsrecht nicht bedurft. Scheidung bereits bei zirka 17 Prozent bundesweit. Über 20 Prozent lag die Rate im Saarland, in Baden Mag der Weg, der zur Reform geführt hat, auch be- Württemberg, Hamburg, Schleswig-Holstein und fremden, das Ergebnis der Bemühungen vieler tau- send engagierter Bürgerinnen und Bürger ist gut: Hessen. Die Rechtsprechung folgt somit erkennbar nicht parteipolitischen Linien. Im neuen Kindschaftsrecht steht das Wohl des Kin- des im Mittelpunkt. Darüber freue ich mich als Mit- Besonders niedrige Raten des Ausspruchs der ge- glied der Kinderkommission des Deutschen Bundes- meinsamen elterlichen Sorge finden wir in den tages ganz besonders. neuen Bundesländern, in Mecklenburg-Vorpommern mit 5,8 Prozent, Thüringen mit 7 und Sachsen mit Bisher wurden und werden Kinder nur allzu oft im 9,3 Prozent. Machtkampf der Eltern, oft auch der Großeltern, in- strumentalisiert. Der Gesetzentwurf will dieser fata- Fast noch wichtiger als die neuen Regelungen im len Tendenz soweit wie möglich entgegenwirken. Fall der Scheidung sind diejenigen für nicht verhei- Die häufig beobachtete Alternative: „Entweder Du ratete Paare: Während im Westen 1994 12,4 Prozent zahlst mehr oder Du verlierst den Kontakt zu Deinem der Kinder nichtehelich zur Welt kamen, lag die Rate Kind" soll es möglichst nicht mehr geben. im Osten bei 41,4 Prozent. In den neuen Bundeslän- Nur allzu häufig führte die früher selbstverständli- dern beträgt der Anteil der nichtehelichen Lebensge- che Übertragung der elterlichen Sorge auf einen El- meinschaften mit Kindern schon mehr als 50 Prozent. ternteil, meist die Mutter, zu einer schnell eintreten- Mit der Abschaffung der gesetzlichen Amtspfleg- den Entfremdung zwischen dem Kind und dem Va- schaft zugunsten der alleinerziehenden Mütter und ter. Der Prozeß wurde verstärkt durch die Reduzie- mit der Möglichkeit der gemeinsamen elterlichen rung der Vater-Kind-Beziehung auf die finanzielle Sorge und dem Umgangsrecht auch des nichteheli- 10194* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 chen Vaters sind auch hier die Weichen richtig ge- dort, wo die Eltern im Interesse ihrer Kinder koopera- stellt worden. tionsbereit und kooperationsfähig sind.

In-den 60er Jahren hat der DGB eine Werbekampa- Man darf an diese Kooperationsfähigkeit freilich gne unter dem Motto geführt: „Der Mensch im Mittel- keine zu großen Anforderungen stellen. Deshalb punkt." Der Ansatz war und ist richtig. Wir haben ihn sieht der Entwurf vor, daß die Eltern nur bei grund- jetzt konkreter gefaßt: „Das Kind im Mittelpunkt." sätzlichen Fragen Übereinstimmung erzielen müs-

Dieser Tendenz werden wir auch weiter folgen. sen. Mit dieser Form der gemeinsamen Sorge wird Dauerstreit der Eltern auf Kosten der Kinder weitge- hend vermieden. Falls Streit dennoch nicht vermeid- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der bar ist oder auch nur zu befürchten steht, wird kein Justiz: Die Reform des Kindschaftsrechts ist eines der Elternteil gehindert, im Scheidungsverfahren oder zu wichtigsten rechtspolitischen Vorhaben der Bundes- einem späteren Zeitpunkt einen Antrag auf Zuwei- regierung in dieser Legislaturperiode. Nach langer sung der Alleinsorge zu stellen. und gründlicher Vorbereitung kann ich Ihnen heute

den entsprechenden Gesetzentwurf vorstellen. Ich Die gemeinsame Sorge ist also durchaus nicht

möchte dies zum Anlaß nehmen, mich bei meiner rechtlicher Regelfall, wie immer wieder behauptet Amtsvorgängerin, Sabine Leutheusser-Schnarren- wird. Der Entwurf trennt lediglich zwei Dinge, die berger, für ihr Engagement bei eben dieser Vorberei- nicht zusammengehören, nämlich den häufig so ent-

tung zu bedanken. brennenden „Kampf um die Kinder" und den „Kampf um das Geld". Der derzeitige Zwangsver- Wir sind uns alle einig, das zeigen auch die Anträge bund im Scheidungsverfahren zwischen beiden der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Aspekten führt dazu, daß der Streit um das Sorge- Grünen, daß das geltende Kindschaftsrecht dringend recht mit dem Streit um materielle Werte in oft unan- reformbedürftig ist. Frau Kollegin von Renesse, als wir genehmer Weise verquickt wird. im vergangenen Jahr über den Antrag Ihrer Fraktion Auch nach dem Entwurf wird dies in zahlreichen berieten, haben sie 90 Prozent Übereinstimmung mit Fällen so bleiben, weil viele Elternteile einen Antrag der Bundesregierung gesehen. Ich denke, wir sollten auf Alleinsorge im Scheidungsverfahren stellen wer- auch in den letzten 10 Prozent Einigkeit erzielen, um bei diesem wichtigen Vorhaben einen möglichst brei- den und der richterliche Entscheidungsverbund dann erhalten bleibt. Mir ist aber wichtig, daß Eltern ten - auch gesellschaftlichen - Konsens zu erzielen. zumindest die Möglichkeit erhalten, den „Kampf um Das wichtigste Ziel unserer Reform ist der Abbau das Geld" auszufechten, ohne ihn mit einem „Kampf der rechtlichen Unterschiede zwischen ehelichen um die Kinder" verquicken zu müssen. Im Interesse und nichtehelichen Kindern. Wir schlagen deshalb der Kinder möchte ich hieran festhalten. vor, bereits die Einordnung in Kategorien „ehelich" und „nichtehelich" aufzugeben. Kinder von nichtver- Unsere Reform will auch die Rechte der Kinder ver- heirateten Eltern sind längst keine statistische Aus- bessern. Wir alle wissen, daß das Umgangsrecht den nahmeerscheinung mehr. In den neuen Bundeslän- Eltern vor allem im Interesse ihrer Kinder gewährt wird. Deshalb soll im Gesetz hervorgehoben werden, dern wurden im Jahr 1994 41,4 Prozent der Kinder daß dem Wohl des Kindes - also nicht dem Wohl der nichtehelich geboren. Die Diskriminierung dieser Eltern - regelmäßig der Umgang mit beiden Eltern- Kinder und ihrer Eltern muß ein Ende haben. teilen dient. Dieser Satz soll die Leitnorm des Um- Ein entscheidender Schritt zur Gleichstellung von gangsrechts werden. Kindern verheirateter und nichtverheirateter Eltern ist, daß auch nichtverheiratete Eltern die Möglichkeit er- Der Bundesrat schlägt darüber hinaus die Einfüh- rung eines eigenen, einklagbaren Umgangsrechts halten, gemeinsame Inhaber der elterlichen Sorge zu des Kindes vor. Ich halte dies für einen gutgemein- werden. Dies bedeutet nicht, daß die gemeinsame Sorge unterschiedslos und ohne weitere Voraussetzun- ten, aber wenig praktikablen Vorschlag. Soll wirklich das Kind gegen seinen Vater und andere nahe Ange- gen gelten soll. Weil lediglich ein Viertel der Kinder hörige vor Gericht ziehen? Ist ein solcher erzwunge- nicht miteinander verheirateter Eltern mit beiden Eltern ner Umgang pädagogisch sinnvoll, oder wird er nicht zusammenlebt, soll die gemeinsame Sorge von Eltern, die schon bei der Kindesgeburt nicht miteinander ver- doch nur formal ausgeführt? Soll im Weigerungsfall vollstreckt werden? heiratet sind, von einer Sorgeerklärung beider Eltern abhängig sein. Daneben soll die Schaffung eines recht- Realistischer ist der Weg der Bundesregierung, bei lichen Bandes zwischen Vater und Kind diesem auch dem sich das Kind an das Jugendamt wenden kann,

über Krisen der Beziehung seiner Eltern hinweg beide wenn die umgangsberechtigten Personen den Kontakt

Elternteile erhalten. Zudem ermöglicht es den Eltern zu ihm vernachlässigen. Hier ist auch die Schwelle weit gleichmäßige Teilhabe am Leben ihrer Kinder. niedriger als bei einem Gerichtsverfahren.

Einer der Hauptstreitpunkte ist die Regelung der Mit der obigen Leitnorm ist zugleich ein weiterer gemeinsamen Sorge geschiedener Eltern für ihre wichtiger Punkt angesprochen: das Umgangsrecht

Kinder. Für Kinder ist die Scheidung ihrer Eltern eine des Vaters, der mit der Mutter nie verheiratet war schmerzliche Erfahrung mit oft langwierigen Folgen. und auch nicht mit ihr zusammenlebt. Auch der Um-

Alle politischen Kräfte wollen deshalb möglichst viel gang mit ihm gehört in der Regel zum Wohl des Kin-

Engagement beider Eltern für ihre Kinder auch nach des, denn Kinder brauchen nun einmal ihren Vater der Scheidung erhalten. als zweite Bezugsperson beim Heranwachsen und

zur eigenen Identitätsfindung. Die gemeinsame Sorge geschiedener Eltern erhält dem Kind nicht nur beide Elternteile, was für seine Gerade im Hinblick auf die Stellungnahme des

Entwicklung von großer Bedeutung ist, sondern si- Bundesrates sehe ich mit viel Optimismus auf die vor chert auch ein Höchstmaß an Kontinuität in der Er- uns liegenden Debatten. Im Interesse der betroffenen ziehung. Gemeinsame Sorge funktioniert aber nur Kinder sollte der Deutsche Bundestag diese Reform Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10195* intensiv, aber auch zügig beraten und dann mit mög- ßenden Bemühungen um Gleichstellung von eheli- lichst breiter Mehrheit verabschieden. chen und nichtehelichen Kindern wird dies deutlich. Für nicht möglich halten wir es, über Kindschafts- Heidemarie Lüth (PDS): Da haben wir sie nun, die recht zu befinden, ohne den Begriff Kindeswohl zu 1. Lesung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung definieren, so daß er tatsächlich im politischen und über die Reform des Kindschaftsrechts - als Drucksa- juristischen Gebrauch zur Grundlage von Entschei- che am Montag ausgereicht. Angemahnt wird die dungen gemacht werden kann. Notwendigkeit einer Reform seit langem von Ver- Die Hauptkritik richtet sich auf den Umstand, daß bänden, Vereinen, Juristinnen und Juristen, Müttern durchgängig dem Art. 12 der UN-Kinderkonvention und Vätern, Kindern und Jugendlichen an Runden nicht entsprochen wird. Er stellt bekanntlich folgendes Tischen der Jugend, die hierzu über einen hohen heraus: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fä- Sachverstand verfügen. Auch die Bundesregierung hig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht hat dies in regelmäßigen Abständen betont. Unter zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Ange- diesem Blickwinkel eine notwendige, längst überfäl- legenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die lige Angelegenheit. Meinung des Kindes angemessen und entsprechend An der Ernsthaftigkeit und dem tatsächlichen politi- seinem Alter und seiner Reife." Die vorgeschlagenen schen Willen, dies auch parlamentarisch im gebotenen Regelungen zum Sorgerecht, zum Umgangsrecht, zum Maß zu behandeln, sind Zweifel aber doch wohl ange- Adoptionsrecht usw. usf. belegen dies. sagt. Nähme man eigene Erklärungen der Koalition und Angemahnt sind eine gründliche Beratung des auch von Frau Ministerin Nolte ernst, dann wären Zeit- Entwurfs insgesamt und in seinen Einzelheiten sowie punkt und Fernsehzeit der Beratung zwei wesentliche Anhörungen von Sachverständigen und Betroffenen Eckpunkte für den Einstieg in die Diskussion. Aber weit - eigentlich eine breite öffentliche Diskussion. gefehlt! Andererseits verweist die Einordnung dieses Grundlage dafür können sein erste Stellungnahmen Tagesordnungspunktes in die Skala der Entscheidun- von Verbänden. Als Optimistin hoffe ich auf das Ein- gen zum Paket der sozialen Grausamkeiten, wie ernst holen von Sachverstand. Als Realistin weiß ich, in es den „Sagern" des Bundestages mit dem Willen einer welchem Umfang eben dieser Sachverstand in der tatsächlichen Reform rechtlicher Bestimmungen- zum Regierungskoalition Berücksichtigung finden wird. Kindschaftsrecht ist. Wer die Anhebung des Kindergel- des dem Finanzbeil des finanziell abgesicherten Jung- familienvaters Waigel ausliefert, braucht diese morali- Ronald Pofalla (CDU/CSU): Innerhalb der Reform sche Verpflichtung auch nicht. des Kindschaftsrechts beschäftigen wir uns heute mit Ich kann in etwa erahnen, was Kollegin Leutheus- deren gewichtigstem Teilabschnitt, nämlich dem ser-Schnarrenberger bewegt, wenn sie sieht, wie Kindschaftsrechtsreformgesetz. Zahlreiche Diskus- qualifiziert der Entwurf, der vorwiegend ihrem Enga- sionen, Expertengespräche, schriftliche Stellungnah- gement für Rechtsfragen von Kindern und Jugendli- men und Betroffenheitsbekundungen haben in den chen zu verdanken ist, behandelt wird. Nun verbie- letzten Monaten gezeigt, daß dieses Thema uns alle tet es sich doch eigentlich von selbst, dieses Thema angeht. Es geht hier nicht um irgendein Spezialge- und diese Gesetzgebung zur parteipolitischen Profi- setz, dessen Umsetzung vom Großteil der Bevölke- lierungsdiskussion verkommen zu lassen. rung etwa gar nicht wahrgenommen würde oder im Dschungel politischer Berichterstattung untergeht. In der 1. Lesung halten wir es für notwendig, fol- Vielmehr handelt es sich um einen Gesetzentwurf, in gende Überlegungen herauszustellen: Eine Reform dessen Mittelpunkt das Wohl des Kindes steht und des Kindschaftsrechts ist längst überfällig und somit der daher alle gesellschaftlichen Gruppen gleicher- parlamentarischer Handlungsbedarf dringend ange- maßen bet rifft. sagt. Verkrustungen und Realitätsferne sind im Ge- setzgebungsverfahren zu überwinden, um gesell- Das Lebensmodell der nichtehelichen Lebensge- schaftliche Realitäten in diesem Lande zur Kenntnis meinschaften wird in unserer Gesellschaft in zuneh- zu nehmen, europäischen Erfordernissen Rechnung mendem Maße der Ehe bewußt vorgezogen und zu tragen, die UN-Kinderkonvention auszugestalten, größtenteils auch anerkannt. Demgegenüber nimmt die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Zahl der Scheidungen in Deutschland immer aufzunehmen und Handlungszwang sechs Jahre mehr zu. Betroffen hiervon und leider auch leidtra- nach der vollzogenen Angliederung der DDR an die gend sind in erster Linie stets die Kinder. Im erstge- BRD auf diesem Gebiet nachzukommen. nannten Fall deshalb, weil sich unverheiratete Paare zwar bewußt für Kinder entscheiden, diesen aber bis- Die größte Gefahr, so ist der Gesetzentwurf kon- her auf Grund überkommener Moralvorstellungen struiert, besteht meines Erachtens darin, daß die an und einer dementsprechenden Gesetzeslandschaft gedachten Reformen in ordnungspolitischen Maß- oftmals der Makel der Illegitimität anhaftete. Im nahmen steckenbleiben, sozialpolitische Überlegun- zweitgenannten Fall hatten die Kinder bislang stets gen zum Kindeswohl außen vor bleiben und alles darunter zu leiden, daß mit der Trennung, die eigent- darauf zugeschnitten ist, konservative Vorstellungen lich nur zwischen den Eltern vollzogen werden sollte, zur Ehe, Familie letztendlich gewissermaßen durch in der Regel der komplette Sorgerechtsentzug eines eine „Umwidmung" von Ehe auf andere Formen fa- Elternteils einhergeht. miliärer Bindungen zu zementieren, den Männern das Recht auf Umgang mit Kindern nach dem Motto In beiden Fällen bestand für den Gesetzgeber vor „Den Vätern das Recht, den Müttern die Pflicht und dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Be- Verantwortung" gesetzlich festzuklopfen. Die dingungen dringender Handlungsbedarf. Chance, tatsächliche emanzipatorische Ansätze für Aus eben diesem Grunde entspricht der vorliegende Mütter und Väter verbindlich auszugestalten, wird Gesetzentwurf auch den Vorgaben, die das Bundesver- durchgängig vergeben. Bei allen im Kern zu begrü- fassungsgericht in den vergangenen Jahren zu der Ge- 10196* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Samtproblematik in verschiedenen Entscheidungen ge- besserung des Umgangsrechts des nichtehelichen troffen hat. Demnach sollen die Rechte nichtehelicher Vaters kommen. Darüber hinaus soll für den Fall, daß Kinder den Rechten ehelicher Kinder angeglichen wer- die Kindesmutter aus rechtlichen oder tatsächlichen den. Sicherlich sind wir uns auch alle darin einig, daß Gründen der Sorge um das Kind nicht nachkommen dies dringend erforderlich ist. kann, der ledige Vater als subsidiär sorgeberechtigt Nicht zuletzt gibt auch das Grundgesetz dem Ge- in Betracht kommen, wenn dies dem Kindeswohl setzgeber in Art. 6 Abs. 5 auf, die gleichen Bedingun- ausdrücklich dient. Insgesamt bestand angesichts gen für die leibliche und seelische Entwicklung ehe- dieser überfälligen Regelungen im Rechtsbereich licher und nichtehelicher Kinder zu schaffen. nichtehelicher Kinder Konsens. Die erste Angleichung bezieht sich in diesem Zu- Weitaus leidenschaftlicher wurde die vergleichbare sammenhang auf das Abstammungsrecht, welches Regelung im Bereich des Sorgerechts für Kinder ge- im Gesetzentwurf für eheliche und nichteheliche schiedener Eltern diskutiert. Der vorliegende Gesetz- Kinder im Rahmen der natürlichen Gegebenheiten entwurf will das Kind nämlich von vornherein nicht weitestgehend vereinheitlicht wird. Für den Fall, daß zum Streitgegenstand des Scheidungsverfahrens schon vor der Geburt eines Kindes ein Scheidungs- werden lassen. Aus diesem Grunde soll der Familien- verfahren anhängig war und ein Dritter die Vater- richter nicht mehr von Amts wegen bei einer Schei- schaft unter Zustimmung der Kindesmutter und ihres dung auch über die Zuweisung des Sorgerechts ent- bisherigen Ehemannes anerkennt, soll die Vater- scheiden. Der Gesetzentwurf sieht hierzu vielmehr schaftsvermutung auf seiten des früheren oder des vor, daß eine richterliche Entscheidung über die Sorge Noch-Ehemannes eingeschränkt werden. Zur Stär- nur dann ergehen soll, wenn mindestens ein Elternteil kung der Rechte der Mutter soll ihre Zustimmung für dies bei der Scheidung oder auch später ausdrücklich ein Vaterschaftsanerkenntnis erforderlich sein. beantragt. Für alle übrigen Fälle soll die gemeinsame Insgesamt soll hierdurch das Abstammungsrecht Sorge der Regelfall sein. Allenfalls bei einer Gefähr- des Bürgerlichen Gesetzbuches auch modernisiert dung des Kindeswohls soll hier jederzeit eine Ent- werden, da es insoweit noch an überkommene Mo- scheidung von Amts wegen möglich sein. ralvorstellungen anknüpft. Ein Bedürfnis für die her- Bei einem speziell zu diesem Punkt durchgeführten kömmliche Vaterschaftsvermutung ist in der aufge- Expertengespräch haben sich hierzu diverse Spielar- klärten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr ten herauskristallisiert. Insbesondere die Bedeutung vorhanden. des Antragserfordernisses für die Alleinsorge war Auch bezüglich der Definition, wer Mutter eines nicht unumstritten. Im Ergebnis dürfte sich das An- Kindes ist, enthält der Gesetzentwurf erstmals eine tragserfordernis für die Alleinsorge jedoch entgegen Klarstellung: Die Mutter eines Kindes soll demnach den geäußerten Befürchtungen kaum als ein Hinder- stets diejenige Frau sein, die das Kind geboren hat. nis für die Frauen darstellen. Dieser Verdacht wird Was vordergründig vielen als scheinbar selbstver- schon dadurch widerlegt, daß bereits die meisten ständlich erscheinen wird, muß angesichts der Mög- Scheidungsanträge ohnehin von Frauen eingereicht lichkeiten moderner Fortpflanzungsmedizin festge- werden. Warum also sollten sie sich dann andererseits schrieben werden. Der nach deutschem Recht unzu- scheuen oder davon abhalten lassen, verbunden hier- lässigen Leihmutterschaft soll auf diese Weise auch mit gegebenenfalls auch den Antrag auf Alleinsorge die familienrechtliche Grundlage entzogen werden. zu stellen? Eine Benachteiligung oder die Gefahr, daß Dem ausdrücklichen Auftrag des Bundesverfas- Frauen unter Druck gesetzt werden könnten, diesen sungsgerichts folgend, wird schließlich auch das Recht Antrag nicht zu stellen, dürfte damit entfallen. Bedau- des Kindes auf Kenntnis seiner genetischen Abstam- erlicherweise wird wahrscheinlich eher derjenige Fall mung gestärkt. Es enthält auch nach Eintritt der Voll- auftreten, daß eine Frau dahin gehend beeinflußt oder eingeschüchtert wird, erst gar keinen Scheidungsan- jährigkeit die grundsätzlich auf zwei Jahre befristete Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten. Der Lauf die- trag zu stellen. Dies zu vermeiden oder gesetzlich ab- ser Frist beginnt mit Kenntnis solcher Umstände zu lau- zuwenden ist aber wiederum nicht Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfs. fen, die Zweifel an der Vaterschaft wecken. Entfallen soll künftig die derzeit noch mögliche Der Gegenstand der gemeinsam auszuübenden Anfechtung der Vaterschaft durch die Eltern des Sorge beschränkt sich auf wichtige Entscheidungen Scheinvaters. Daneben ist auch weiterhin für den Er- in der Entwicklung des Kindes. Bezüglich der Maß- zeuger eines Kindes keine Anfechtung der Vater- nahmen, die das tägliche Leben betreffen, entscheidet schaft vorgesehen. derjenige Elternteil, welcher die dauernde Betreuung des Kindes übernommen hat. Das Bedürfnis dieser Wesentlicher Regelungsschwerpunkt des Reform- neuen Regelung liegt darin begründet, den schwer- gesetzes ist schließlich der Bereich der elterlichen wiegenden staatlich angeordneten automatischen Sorge. Dieser zentrale Punkt wurde im Rahmen des Sorgerechtsentzug bei einem der Elternteile nicht län- Reformgesetzes erwartungsgemäß am heftigsten dis- ger hinnehmen zu wollen. An Stelle der Gefahr der kutiert. Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil soll Für nichteheliche Kinder wird nach Vorgabe des hierdurch dem Umstand Rechnung getragen werden, Bundesverfassungsgerichts erstmals zugelassen, daß daß trotz Beendigung der ehelichen Gemeinschaft die die Eltern die gemeinsame Sorge für ihr Kind erlan- Elterneigenschaft bestehen bleibt. Um jedoch ande- gen können; hierfür genügt künftig eine überein- rerseits zu vermeiden, daß bezüglich ganz alltäglicher stimmende und öffentlich beurkundete Erklärung Entscheidungen ein Konsens zwischen beiden Eltern- beider Elternteile. Sollte dies jedoch dem Willen der teilen nicht gefunden werden kann, gilt für diesen Be- nichtverheirateten Mutter widersprechen, wird es reich die Alleinsorge. Maßnahmen des täglichen Le- eine gemeinsame Sorge auch nicht geben. Im Inter- bens können hierdurch nicht verschleppt, blockiert esse des Kindes soll es aber jedenfalls zu einer Ver- oder gar sabotiert werden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10197*

Insgesamt war jedenfalls den diversen Vorschlä- mählich aber immer heftigerer Kritik geworden. Die gen zur Ausgestaltung elterlicher Sorge für Kinder Phalanx der Kritiker reicht von den radikalen Femini- geschiedener Paare gemeinsam, daß das Kindeswohl stinnen bis hin zu katholischen Frauenverbänden. im Vordergrund zu stehen habe und daß das vorlie- Die Zusammensetzung der Gegnerschaft läßt ver- gende Konzept der gestärkten Elternverantwortung muten, daß Frauen in dieser Frage ihre angestamm- in vernünftiger Weise Rechnung trage. ten und ureigensten Rechte bedroht sehen. Befaßt Des weiteren sieht der Entwurf als verfahrens- man sich mit den Argumenten, die von Frauenver- rechtliche Neuerungen vor, die weitgehend zersplit- bänden gegen die gemeinsame Sorge vorgebracht terte Zuständigkeit zwischen Familien- und Vor- werden, so verstärkt sich der Eindruck der Ideologi- mundschaftsgericht künftig neu zu ordnen. Alle Ver- sierung dieses Themas. Bei den feministischen Ultras fahren über die elterliche Sorge und das Umgangs- ist die Absicht, Männer vom Sorgerecht für ihre Kin- recht, alle auf Ehe und Verwandtschaft beruhenden der auszugrenzen mit dem Ziel, sie ihren Kindern zu Unterhaltsklagen, die Abstammungsverfahren sowie entfremden und zu diesem Zweck notfalls auch zu Streitigkeiten um Betreuungsunterhalt fallen dem- unlauteren Mitteln zu greifen, ganz offenkundig. nach in die Zuständigkeit der Familiengerichte. Solche Motive können und dürfen freilich nicht für Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir uns die Regelung der elterlichen Sorge maßgebend sein. insgesamt bislang redlich bemüht haben, unsere Entscheidend sind nicht die Interessen von Mutter zahlreichen Diskussionen von einer Sachlichkeit be- oder Vater, entscheidend ist allein das Wohl des Kin- stimmen zu lassen, die dem Thema und seinem des, das im Mittelpunkt aller Überlegungen und Re- Hauptanliegen angemessen war. Das hier vorlie- gelungen zu stehen hat. gende Ergebnis kann sich meiner Ansicht nach im Ich bin der festen Überzeugung, daß die gemein- Hinblick auf die Anforderungen des jederzeit unver- same Sorge beider Eltern für ihr Kind, das ja auch zichtbaren Kindeswohls sehen lassen. nach der Scheidung ihr gemeinsames Kind bleibt, grundsätzlich dem Kindeswohl am Besten dient. Au- ßerdem wird dadurch die elterliche Verantwortung Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit dem vorlie- genden Entwurf soll das deutsche Kindschaftsrecht für die gemeinsamen Kinder unterstrichen und insti- grundlegend umgestaltet werden. Die Novellierung tutionalisiert. ist schon aus zwei Gründen notwendig: Zum einen Mit der Herausnahme der Sorgerechtsregelung besteht in einigen Punkten ein entsprechender Auf- aus dem Zwangsverbund soll erreicht werden, daß trag des Bundesverfassungsgerichts, zum anderen das Kind von vornherein nicht zum Streitgegenstand muß in diesem Bereich die Rechtseinheit in Deutsch- des Scheidungsverfahrens wird. Bei einer Gefähr- land vollständig herbeigeführt werden. Im übrigen dung des Kindeswohls ist aber auch künftig jederzeit geben auch geänderte gesellschaftliche Rahmenbe- eine Entscheidung von Amts wegen über die elterli- dingungen Anlaß zur Reform. che Sorge möglich. Dieses vernünftige Konzept trägt Der fast 500 Seiten starke Gesetzentwurf enthält der gestärkten Elternverantwortung Rechnung. unter anderem Regelungen zum Abstammungsrecht, Um einigen berechtigten Bedenken zu begegnen, Umgangsrecht, Namensrecht und Adoptionsrecht so- sollte der Entwurf in dieser Frage allerdings nachge- wie eine Reihe verfahrensrechtlicher Regelungen. bessert werden: auch weiterhin soll das Familienge- Die erbrechtliche Gleichstellung nichtehelicher mit richt - insbesondere wenn kein Sorgerechtsantrag ehelichen Kindern ist in einem gesonderten Gesetz- vorliegt - verpflichtet sein, die Ausgestaltung der el- entwurf enthalten, der bereits den Ausschüssen zur terlichen Sorge im gerichtlichen Scheidungsverfah- Beratung überwiesen worden ist. ren zu erörtern und sodann umfassend über die rechtlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten und die Ein Schwerpunkt des Kindschaftsrechtsreformge- daraus resultierenden Folgen, sowie über be- setzes ist zweifellos die Neuregelung der elterlichen stehende Hilfs- und Beratungsangebote zu informie- Sorge, weswegen ich diese auch in den Mittelpunkt ren. Gerichtlich dokumentierte Sorgepläne lehnen meiner Ausführungen stelle. Mit dem vorliegenden wir allerdings ab. Entwurf soll künftig die gemeinsame Sorge beider Eltern stärker rechtlich verankert werden. Für nicht- Außerdem sollten die Alleinentscheidungsbefug- eheliche Kinder wird dies entsprechend einer Vor- nisse im Alltag, die demjenigen Elternteil einge- gabe des Bundesverfassungsgerichts auf gemeinsa- räumt werden, bei dem das Kind gewöhnlich lebt, im men Antrag beider Eltern hin möglich gemacht. Für Gesetz konkreter benannt werden als dies in § 1687 eheliche Kinder sieht der Entwurf im Falle der Schei- Abs. 1 BGB-E bislang der Fall ist. dung vor, daß die Sorgerechtsregelung aus dem Die verbreitete Befürchtung, die gemeinsame Sorge Zwangsverbund herausgenommen werden soll, der könne schon deshalb nicht funktionieren, weil ständig Familienrichter also nicht mehr wie bisher von Amts Meinungsverschiedenheiten der Eltern um Randfragen wegen im Rahmen der Scheidung über das Sorge- der Erziehung auftreten könnten, könnte damit meines recht entscheiden soll. Etwas anderes soll nur gelten, Erachtens weitestgehend ausgeräumt werden. wenn mindestens ein Elternteil bei der Scheidung Denjenigen, die der gemeinsamen elterlichen oder später ausdrücklich eine richterliche Entschei- Sorge ablehnend gegenüberstehen, gebe ich zu be- dung hierüber beantragt. denken, daß Eltern auch nach ihrer Trennung auf der Während die meisten anderen Vorschläge in dem Partnerebene für ihre gemeinsamen Kinder grund- Gesetzentwurf weitgehend auf Zustimmung in der sätzlich verantwortlich bleiben. Die Entscheidung, Öffentlichkeit und bei Verbänden gestoßen sind und einem Elternteil die Alleinsorge zu übertragen, be- sich auch mit der SPD in vielen Punkten Überein- deutet zugleich das rechtliche Abschneiden dieser stimmung abzeichnet, ist die Neuregelung der elter- Verantwortung gegenüber dem anderen Elternteil, lichen Sorge Gegenstand zunächst moderater, all- mit anderen Worten einen Entzug des Sorgerechts. 10198* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Dieser ist aber außerhalb des Scheidungsverfahrens Anscheinend haben die betroffenen Landwirte die nur bei massivem Elternversagen möglich. Allein die Frist zur Vorlage des Einkommensteuerbescheides Scheidung kann kein Grund für einen dera rtigen vielfach aus Unkenntnis nicht eingehalten. Mögli- Eingriff sein. cherweise beruht dieses Versäumnis auch auf ver- Es bleibt zu hoffen, daß das Reformvorhaben - na- spätet zugegangenen Zuschußbescheiden und nicht türlich nach Auswertung der sicherlich stattfinden- hinreichend aussagekräftigen Formularen. den Anhörung - zügig verabschiedet und umgesetzt Sogar der Gesamtverband der landwirtschaftlichen werden kann. Alterskassen hat eingeräumt, ein Teil des versicherten Personenkreises habe die Regelungen entweder nicht verstanden oder einfach nicht beachtet. Dann muß doch wohl die Aufklärung zum Teil unzureichend ge- wesen sein. In jedem Fall dürfen die offensichtlichen Anlage 5 Anlaufprobleme des Agrarsozialreformgesetzes den Zu Protokoll gegebene Reden betroffenen Beitragszahlern nicht angelastet werden. zu Tagesordnungspunkt 14 Wenn der Gesamtverband der Alterskassen gel- (Entwurf eines Gesetzes tend macht, es habe den Alterskassen nach Veröffent- zur Änderung des Gesetzes lichung des Agrarsozialreformgesetzes bis zum Zeit- über die Alterssicherung der Landwirte) punkt des Inkrafttretens nur eine kurze Vorberei- tungszeit zur Verfügung gestanden, trifft dies nich zu. Egon Susset (CDU/CSU): Durch die Agrarsozialre- Tatsache ist, daß die Agrarsozialreform im Bundesge- form 1995 ist das Beitragszuschußrecht in der Alters- setzblatt am 5. August 1994 veröffentlicht worden ist. sicherung der Landwirte (ALG) zum 1. Januar 1995 Hinzukommt, daß der Deutsche Bundestag das Re- umfassend neu geregelt worden. Verwaltung und formgesetz bereits am 19. Mai 1994 verabschiedet und Landwirte hatten sich auf eine Vielzahl neuer Rege- der Bundesrat bereits am 10. Juni 1994 zugestimmt lungen der landwirtschaftlichen Alterssicherung und hat. Spätestens dann konnten die landwirtschaftli- insbesondere des Zuschußrechts einzustellen. chen Alterskassen die Umsetzung des Gesetzes zum Dazu gehört auch die Verpflichtung der Landwirte,- 1. Januar 1995 vorbereiten. Immerhin standen ihnen bei der Beantragung des Bundeszuschusses zur Al- fast 7 Monate an Vorbereitungszeit zur Verfügung. terssicherung den jeweils aktuellen Einkommens- steuerbescheid spätestens zwei Monate nach seiner Tatsache ist aber auch: Wenn die Alterskassen die Ausfertigung der landwirtschaftlichen Alterskasse Zuschüsse schnell bewilligt haben, ist das Problem (LAK) vorzulegen. verspätet eingereichter Einkommensbescheide auch recht schnell aufgetreten. Dagegen ist das Problem Daß ein Teil der Versicherten die sehr kurz bemes- noch nicht aufgetreten bei den Alterskassen, die die sene Vorlagefrist versäumt hat, ist nicht unverständ- Zuschüsse noch bearbeiten und noch nicht bewilligt lich. Allerdings hat das Fristversäumnis gravierende haben. Konsequenzen: Fazit kann nur sein: Die schnelle Bewilligung von Erstens. Der gesamte Beitragszuschuß ruht vorn Zuschüssen darf nicht zum Nachteil eines Teils der Zu- Beginn des Monats an, in dem der Einkommenssteu- schußberechtigten führen. Denn es ist zwischen zwei erbescheid hätte vorgelegt werden können, bis zum Personenkreisen zu unterscheiden: einmal denjeni- Ablauf des Monats, in dem er vorgelegt wird. gen, denen aufgrund des neuen Einkommensteuerbe- Zweitens. Die LAK'en müssen von Landwirten, die scheides ein niedrigerer Zuschuß zu gewähren ist, bislang einen Zuschuß zum Alterskassenbeitrag er- und denjenigen, denen aufgrund des neuen Einkom- halten und die die Zwei-Monatsfrist versäumt haben, menssteuerbescheides ein höherer Zuschuß zusteht. den Zuschuß für die Monate zurückfordern, in denen Gerade dem letztgenannten Personenkreis würden der Anspruch auf Zuschußgewährung ruht. erhebliche Nachteile entstehen, da der Zuschuß zu- Diese einschneidenden Folgen sind auf jeden Fall rückzuzahlen wäre, wenn dies nicht gesetzlich korri- dann untragbar, wenn sich durch den aktuellen Ein- giert würde. Daher müssen die Anlaufprobleme des kommenssteuerbescheid die Höhe des Beitragszu- Agrarsozialreformgesetzes praxisgerecht gelöst und schusses nicht ändert oder wenn sich sogar ein hö- für die betroffenen Landwirte einschneidende Här- herer Zuschuß für den Landwirt ergibt. Daher muß ten vermieden werden. nachgebessert werden. Mit dieser Zielsetzung sieht die vorliegende Geset- Nach einer schriftlichen Umfrage bei den LAK'en zesänderung folgendes vor: haben im Bundesdurchschnitt rund 9 % der Zuschuß berechtigten - rund 30 000 Landwirte - die Vorlage- Die kurze gesetzliche Frist für die Vorlage des frist versäumt, Einkommensteuerbescheides wird für eine Über- gangszeit ausgesetzt. Diejenigen Beitragszu- Regional bestehen zwischen den LAK'en erhebli- schußempfänger, die die Zwei-Monatsfrist zur che Unterschiede. So sind überproportional viele Vorlage des Einkommenssteuerbescheides ver- Fälle der Fristversäumnis in den Geschäftsbereichen säumt haben, sollen für einen begrenzten Zeit- der LAK Niederbayern/Oberpfalz sowie der LAK raum - nämlich für die Jahre 1995 und 1996 - so Oberbayern festgestellt worden, weil dort die Zu- gestellt werden, als hätten sie den Einkommens- schüsse bereits bewilligt worden sind. steuerbescheid innerhalb von zwei Monaten Bei einigen Alterskassen ist die Bearbeitung der nach seiner Ausfertigung vorgelegt. Die Konse- Zuschußanträge noch nicht abgeschlossen. Allein bei quenz ist: Je nach neuerer Einkommenshöhe der größten Alterskasse Hannover waren es vor wird ein niedrigerer oder ein höherer Beitragszu- einem Monat noch 14 000 Fälle, in Kiel 7 000 Fälle. schuß für die Zukunft gewährt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10199*

Auf die Rückforderung der wegen Fristversäum- wirkungspflicht eine Ordnungswidrigkeit oder erhält nis gezahlten Beitragszuschüsse wird verzichtet. keine Leistungen. Die von den Beitragszahlern bereits vorgenom- Mir ist im Sozialrecht keine Fallkonstellation gegen- menen Rückzahlungen werden erstattet. wärtig, in der Fristversäumnis, Nichtvorlage von we- Die Nachbesserung führt nicht dazu, daß Land- sentlichen Unterlagen völlig folgenlos bleibt. Mir ist al- wirte auf Grund des aktuellen Einkommenssteuerbe- lerdings noch sehr wohl in Erinnerung, wie die Diskus- scheides unberechtigt erhaltene Unterstützung be sion am 20. September 1995 im Ausschuß für Arbeit und halten können. Trotz gegenteiliger Berichte in den Sozialordnung abgelaufen ist, als wir einen Antrag der Medien eröffnet die Gesetzesänderung keine Amne- PDS beraten haben, um etwa 30 000 Sozialrentnern die stie, sondern sorgt dafür, daß die Beitragszuschüsse, Rückzahlung von Sozialzuschlägen zu erlassen, die sie wie vom Gesetzgeber gewollt, einkommensabhängig erhalten haben, weil die BfA nicht in der Lage war, vor den Landwirten gewährt werden. Daher entstehen der Zahlung zu prüfen, ob Ehepaare einen doppelten - gegenüber den bei der Agrarsozialreform veran- und damit zu hohen - Sozialzuschlag ausgezahlt be- schlagten Kosten keine Mehraufwendungen. kommen. Die Rentner hatten diese Beträge zwischen Für die Alterssicherung belief sich der Haushalts- 100 DM und 3 000 DM verbraucht und erhebliche Pro- ansatz für 1995 auf insgesamt 3,95 Milliarden DM. bleme bei der Rückzahlung. Tatsächlich verbraucht wurden 3,89 Milliarden DM. Der Hinweis auf die vollständige Veränderung der Somit wurden tatsächlich nicht alle für 1995 vorgese- sozialen Sicherung, das vollständige neue System henen Mittel verbraucht. des Rentenrechts, ja die völlige Veränderung aller Der Haushaltsansatz für 1996 beläuft sich auf rund Lebensumstände hat nichts daran geändert, daß die 4,15 Milliarden DM. Darin sind die Haushaltsmittel ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen nach dem in Höhe von 30 Millionen DM enthalten, die den Bei- Willen der Regierungsfraktionen die Rückzahlung tragszahlern auf Grund ihrer Einkommenslage zuste- leisten mußten, weil sie ausdrücklich auf die mögli- hen, wenn das formale Fristversäumnis „geheilt" che Rückzahlung hingewiesen worden waren, weil wird. Dafür müssen keine zusätzlichen Haushaltsmit- sie teilweise ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachge- tel bereitgestellt werden. kommen waren, ihr sonstiges Einkommen der Ren- tenversicherung mitzuteilen, und weil ein Teil der Verwundert hat mich die Verhaltensweise- der SPD. Obwohl aus den Reihen der Opposition wiederholt Rentnerinnen und Rentner bereits eine Rückzahlung Zusagen gemacht worden sind, der von uns für not- vorgenommen hatte. wendig gehaltenen Regelung nicht im Wege zu ste- Jetzt haben wir einen Gesetzentwurf der Fraktionen hen, sieht dies in der Praxis anders aus. Ich appel- der CDU/CSU und F.D.P., der sich mit der Rückforde- liere an die Opposition, im Interesse der betroffenen rung von jeweils durchschnittlich 1 000 DM bei etwa Beitragszahler dieses Thema nicht zu einer partei- 30 000 Landwirten befaßt. Hier wurden Einkommen- politischen Konfrontation zu mißbrauchen. Eine ver- steuerbescheide nicht vorgelegt, obwohl der Staatsse- antwortliche Lösung kann nur im Konsens erreicht kretär im Arbeitsministerium, Herr Hecker, auf die werden. Stimmungsmache unter dem Stichwort Frage eines bayerischen Kollegen sehr anschaulich be- „Amnestie für 30 000 Bauern" schadet der Sache. schrieb, wie auf Vordrucken, Informationsblättern und Im Hinblick auf die Anlaufschwierigkeiten des Merkblättern auf die Bedeutung der zwei Monate lau- Agrarsozialreformgesetzes werden wir die bis Ende fenden Vorlagefrist hingewiesen wurde. 1996 befristete Aussetzungsregelung auf den Weg Auch in Zeitschriften der landwirtschaftlichen bringen. Sozialversicherungsträger mit den schönen Namen Für die Zukunft muß Vorsorge getroffen werden, daß „Sicher Leben", „Guter Rat", „Sicherheit für Haus bei der Beantragung von Zuschüssen zu den Beiträgen und Hof", in Pressemitteilungen und in Vortragsver- der landwirtschaftlichen Alterssicherung der aktuelle anstaltungen wurde auf die Änderungen beim Bei- Einkommensstand zugrunde gelegt wird. Zu diesem tragszuschuß hingewiesen, also auch auf die Notwen- Zweck sollte der Einkommenssteuerbescheid von den digkeit der Vorlage des Einkommensteuerbescheides. Finanzämtern im Wege der Amtshilfe unmittelbar den Auch die Bauernverbände und Steuerberater haben Alterskassen zugeleitet werden. Sollte dies aus Grün- im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Mitglieder bzw. den des Datenschutzes nicht möglich sein, dann muß Kunden auf die einschlägigen Regelungen des Bei- zumindest die Möglichkeit eines Datenabgleichs mit tragszuschußrechts aufmerksam gemacht. den Finanzämtern eröffnet werden. Dies wäre eine Alle diese Informationen beziehe ich aus Ant- zweckmäßige Verfahrensweise, um in Zukunft die jetzt worten des Staatssekretärs im Arbeitsministerium, entstandenen Probleme auszuschließen. Herrn Hecker, auf Anfragen von Bundestagsabge- Die jetzige Nachbesserung ist für uns eine letzte ordneten. Um mich wirklich sachkundig zu machen, Möglichkeit, zugunsten der Zuschußberechtigten re- habe ich mich dann noch in das Protokoll einer Anhö- gelnd einzugreifen. Davon müssen der Gesamtver- rung des Landwirtschaftsausschusses vom 22. Mai band, die Alterskassen und die Landwirte selbst aus- 1996 vertieft. - Auch hier sehr plastische Beschrei- gehen. bungen, wie einzelne Alterskassen versucht haben, ihre Mitglieder zu informieren: Ulrike Mascher (SPD): Das Sozialrecht der Bundes- Jedem Beitragsbescheid sei seitens der Alters- republik kennt in einer ganzen Reihe von Gesetzen - kassen ein „leuchtender" Aufkleber mit dem zum Beispiel im Arbeitsförderungsgesetz, im Recht Hinweis beigefügt worden, diesen auf das Rük- der Krankenversicherung - Regelungen, die bei der kenschild des Ordners, in welchem die Steuerer- Versäumnis einer Frist für den Betroffenen empfindli- klärung abgelegt werde, aufzukleben. Dieser che Folgen haben: Der Anspruch auf Krankengeld Aufkleber habe den Zweck verfolgt, in Erinne- entfällt, er begeht wegen einer Verletzung der Mit- rung zu rufen, daß vor Abheften des Steuerbe- 10200* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

scheids eine Kopie davon der Alterskasse zuzu- wahrgenommen, da die Formulare und Merkblätter leiten sei. nicht eindeutig formuliert und aussagekräftig sind Trotzdem gibt es rund 30 000 Fälle von Fristversäum- oder aber die Zuschußbescheide verspätet zugingen. nissen. Aber die Regierungsfraktionen halten es ange- Die Beratung durch Alterskassen und Bauernver- sichts der Vielzahl neuer gesetzlicher Regelungen der bände hat nur ungenügend auf diese Frist aufmerk- landwirtschaftlichen Alterssicherung, angesichts der sam gemacht und die Bedeutung der Fristeinhaltung Fülle der Formulare und Anträge für notwendig, die nicht ausreichend dargestellt. Die Vielzahl neuer ge- Rechtsfolgen der Fristversäumnis, der Nicht-Vorlage setzlicher Regelungen hat sowohl die Möglichkeiten der Einkommensteuerbescheide auszusetzen! der Beratung zur Agrarsozialreform als auch einen Interessant ist, daß in der Anhörung des Landwirt- Teil der Betroffenen offensichtlich überfordert. schaftsausschusses ein Vertrer der Landwirtschaftli- Diese Mängel sind bereits seit Ende Februar diesen chen Alterskassen dargestellt hat, daß es schon 1986 Jahres bekannt. Der bayerische Bauernverband hat und 1987 bei den Beitragszuschußregelungen bereits Anfang März 1996 gefordert, die Vorlagefrist Schwierigkeiten gegeben hat. Die meisten Versi- auf 6 Monate zu verlängern und eine klare Verwal- cherten seien auch damals ihrer Mitwirkungspflicht tungsanweisung zu erwirken. Eine Dienstanweisung nicht nachgekommen; deshalb habe der Bundesrech- reicht jedoch nicht aus, sondern es muß eine zustim- nungshof angesichts eines Rückforderungsvolumens mungspflichtige Gesetzesänderung erzielt werden. von zirka 130 Millionen DM eine „scharfe Ruhens Die Bundesregierung hat es versäumt, rechtzeitig vorschrift" gefordert. eine entsprechende Initiative einzuleiten. Erst als der Ein Vertreter einer anderen LAK wird noch deut- Druck durch die Bauernverbände immer dringlicher licher: wurde und sich der Kreis der Betroffenen vergrö- Er bedankt sich, zu den Auswirkungen eines ßerte, wurde eine Gesetzesänderung bzw. eine Ver- Paragraphen Stellung nehmen zu können, der längerung der Fristen zur Bäuerinnen-Rente auf den im Volksmund „der Paragraph für die Schlitzoh- Weg gebracht. Dabei ist nun eine Übergangsfrist bis ren" genannt werde: Der Name komme daher, Ende 1996 vorgesehen, die den tatsächlichen Ein- daß dieser Paragraph es einem Landwirt durch kommensverhältnissen unabhängig von der Fristver- geschicktes Taktieren ermögliche, den höchst- säumnis Rechnung trägt und die aktuellen Rückfor- möglichen Zuschuß zu erreichen. - derungsfälle einbezieht. Geht es also wirklich um die Aussetzung von Rück- Die offensichtlichen Probleme in der Umsetzung, forerungen für Landwirte, die von Anträgen und For- die vielen Änderungen und die wenig erprobten mularen überfordert sind? Wenn ich mir noch einmal Strukturen haben zu erheblichen Anlaufschwierig- die ostdeutschen Rentner vor Augen führe, denen keiten bei der Umsetzung der Agrarsozialreform nun weder Steuerberater noch leuchtende Aufkleber geführt. Die derzeitige Problemlage führt bedauer- die notwendigen Hinweise gegeben haben, dann licherweise dazu, daß die Gesetzesänderung die wird es schwierig - auch unter dem Gesichtspunkt letzte bleibende Möglichkeit zur Lösung darstellt. der gerechten Behandlung aller Bürger und Bürge- Bündnis 90/Die Grünen enthalten sich daher bei der rinnen -, der hier vorgeschlagenen Regelung zum Abstimmung zu dieser Fristverlängerung. Nutzen und Frommen der Landwirte zuzustimmen. Welche Unterschiede sollen einen Verzicht auf die Ulrich Heinrich (F.D.P.): Wir beraten heute in erster Rückzahlung von Zuschüssen bei Landwirten recht- Lesung den Koalitionsentwurf zur Änderung des Ge- fertigen gegenüber den ostdeutschen Rentnern und setzes über die Alterssicherung der Landwirte. Die Rentnerinnen bei der Rückzahlung von zu hohen Gesetzesänderung ist wegen erheblicher Anlauf- Sozialzuschlägen? schwierigkeiten bei der Gewährung des Beitragszu- schusses notwendig geworden. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach Die betroffenen über 30 000 Landwirte haben zwar den vollzogenen wichtigen Korrekturen des Agrarso- ordnungsgemäß ihren Antrag auf Beitragszuschüsse zialreformgesetzes hat sich gezeigt, daß das Gesetz eine gestellt, allerdings haben sie es versäumt, ihre aktu- Verbesserung gegenüber dem alten Recht ist bzw. ge- ellen Einkommenssteuerbescheide fristgerecht nach- genüber dem, was bei Fortführung des alten Rechts zu zureichen. erwarten gewesen wäre. Schließlich wurde damit die ei- Weil diese Zweimonatsfrist nicht eingehalten genständige Sicherung der Bäuerinnen im Rahmen der wurde, kommen die Beitragszuschüsse zum Ruhen, Alterssicherung der Landwirte verwirklicht. und bereits ausgezahlte Mittel werden zurückgefor- Das Gesetzeswerk ist jedoch mehr als kompliziert dert. Dies ist völlig unabhängig von dem neuen Steu- und nicht jedem - vor allem den Versicherten - auf erbescheid; selbst wenn der aktuelle Einkommens- den ersten Blick verständlich, so daß die Undurchsich- steuerbescheid den gewährten Beitragszuschuß be- tigkeit in den vergangenen Monaten bei vielen Versi- stätigen oder sogar zu einem höheren Zuschuß be- cherten zu einer Fristenversäumung geführt hat. Da- rechtigen würde, muß der betroffene Landwirt bei von sollen insgesamt über 30 000 Landwirte und Überschreiten der Frist sämtliche Zuschüsse zurück- Landwirtinnen betroffen sein, gegen die Rückforde- zahlen. rungsbescheide über gezahlte Beitragszuschüsse von Für die zuschußberechtigten Landwirte waren der- insgesamt rund 30 Millionen DM erlassen wurden. artige Bestimmungen trotz der klaren Information Das Gesetz sieht vor, daß spätestens zwei Kalender- durch die Landwirtschaftlichen Alterskassen in ihrer monate nach der Ausfertigung der Einkommenssteu- Tragweite nicht erkennbar. Die große Zahl der be- erbescheinigung diese bei der Landwirtschaftlichen troffenen Landwirte macht dies sehr deutlich. Alterskasse vorgelegt werden muß. Viele Landwirte Klarstellen möchte ich an dieser Stelle, daß in der haben diese Frist jedoch übersehen bzw. nicht bewußt Regel durch das nicht fristgerechte Einreichen der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10201*

Bescheide die Landwirte sich selbst geschadet haben Die Bauern werden aber vor allem die Kaufkraft- und keine Vorteilnahme vorliegt. Das wird auch verluste durch das Sparpaket der Regierung beim durch all die Betriebe deutlich, für die der Einkom- Absatz ihrer Produkte zu spüren bekommen. Der menssteuerbescheid überhaupt nicht zuschußrele- Verdrängungswettbewerb wird sich weiter beschleu- vant ist. Bei diesen „§ 13 a-EStG-Betrieben" berech- nigen, mit der Folge: Die Anzahl der Einzahler in die net sich nämlich deren Einkommen nach dem „kor- Kassen der Alterssicherung wird noch schneller zu- rigierten Wirtschaftswert". Die Landwirte sahen kei- rückgehen, der Zuschuß des Staates wird wachsen. nen direkten Zusammenhang - den es auch nicht Damit schließt sich der Teufelskreis des Sparens. gibt - zwischen Einkommenssteuerbescheid und Zu- Schon 1995 mußte der Haushalt um über 55 Millionen schußregelung. DM aufgestockt werden, weil mehr Bauern als erwar- Außerdem sollte die besondere Situation in der Land- tet durch Stillegungs- und Extensivierungsmaßnah- wirtschaft nicht vollkommen ausgeblendet werden: men ihren Arbeitsplatz verloren haben. Kein anderer Bereich unserer Gesellschaft ist dera rtig Die vorliegende Gesetzesänderung ist vor allem von bürokratischen Reglementierungen überzogen. eine Hilfe für die westdeutschen Bauern. Sie erhalten Zudem wurde erst zu Beginn des Jahres mit der Novelle einen wesentlich höheren Zuschuß zur Rentenver- der Agrarsozialreform ein ganzes Paket neuer Regelun- sicherung als die in der gesetzlichen Rentenversi- gen mit zahlreichen Fristen eingeführt. cherung erfaßten. Sie zahlen im Extremfall nur Eins macht die heutige Debatte sehr deutlich: Wir 16 Prozent des Beitrages wie in der gesetzlichen Ren- müssen uns verstärkt dem Thema Deregulierung tenversicherung. Die westspezifischen staatlichen und Bürokratieabbau in der Landwirtschaft zuwen- Sozialleistungen betragen fast 400 DM pro Hektar. den. Wir haben heute einen Verwaltungs- und Büro- Wir stellen sie nicht zur Disposition, denn sie sind kratieaufwand erreicht, den immer mehr Landwirte auch ein Instrument zur sozialen Abfederung des nicht mehr bewältigen können. Strukturwandels in der Landwirtschaft. Die aktuellen Probleme mit den Einkommenssteu- Die Bauern in Ostdeutschland ermitteln bekannt- erbescheiden sind deshalb auch nur ein Symptom; die lich ihren Anteil am Betriebsergebnis im wesent- Ursache ist in erster Linie die EU-Agrarpolitik, die ins- lichen über die Lohnregelung. Ihre Alterssicherung gesamt zu einer ausufernden Bürokratie geführt hat. erfolgt deshalb über die gesetzliche Rentenversiche- Abschließend läßt sich festhalten, daß der Koaliti- rung mit geringeren staatlichen Zuschüssen. Ich sage das deshalb, weil die Sparpolitik der Regierung dar- onsentwurf mit der vorgeschlagenen befristeten auf gerichtet ist, bei der zukünftigen Agrarförderung Übergangsregelung bis Ende 1996 gerechtfertigt ist. erhebliche Einschnitte in Ostdeutschland vorzuneh- Insgesamt werden nur die Mittel an die zuschußbe- men. rechtigten Landwirte fließen, die der Gesetzgeber für diesen Zweck bereitgestellt hat. Es sind keine zusätz- Wir fordern, den Willen der Bauern zum Wirtschaf- lichen Gelder erforderlich. ten in den unterschiedlichen Gemeinschaftsunter- nehmen zu akzeptieren und gerechte, den differen- Die vorgeschlagene Übergangsregelung entschärft zierten Bedingungen in Ost und West entsprechende eine sozialpolitisch nicht gewollte Verschlechterung Lösungen zu suchen. der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Wir brauchen keinen Umbau des Sozialstaats, wie er von der Regierung betrieben wird. Wir müssen Dr. Günther Maleuda (PDS): Die Abgeordneten- den Sozialstaat erneuern und den Lebensstandort gruppe PDS hat dem Gesetz über die Alterssicherung Deutschland für alle menschenfreundlich gestalten. der Landwirte zugestimmt. Der vorliegende Entwurf zur Änderung dieses Gesetzes berührt den Inhalt des Gesetzes nicht. Er soll nur dazu beitragen, die Schwie- Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- rigkeiten bei seiner Umsetzung zu beheben. nister für Arbeit und Sozialordnung: Nach Auskunft der Landwirtschaftlichen Alterskassen haben Land- Weniger als 10 Prozent der anspruchsberechtigten wirte in bislang rund 30 000 Fällen die neuesten Landwirte sind davon betroffen. Sie sind zwar ihrer Steuerbescheide nicht fristgerecht vorgelegt. Verantwortung in terminlicher Hinsicht nicht voll ge- Unbestritten ist, daß an diese Fristversäumnisse recht geworden, die Schuldfrage ist aber nur schwer Rechtsfolgen geknüpft sind, die wesentlich strenger zu klären. Sei, wie es sei: Wir unterstützen die Ziel- setzung des Änderungsentwurfes. sind als üblicherweise in anderen Bereichen. Denn gibt ein Landwirt seinen neuesten Steuerbescheid Allerdings verhehlen wir nicht unsere prinzipielle später als zwei Kalendermonate nach seiner Ausferti- Ablehnung der durch die Bundesregierung und das gung bei der Alterskasse ab, dann muß er nach gelten- Parlament betriebenen Klientelpolitik. dem Recht auch den bereits erwähnten Beitragszu- Sie hat dazu geführt, daß die soziale Gerechtigkeit schuß zurückzahlen. Dies gilt völlig unabhängig da- in diesem Lande verkommen und durch Ellenbogen- von, ob tatsächlich ein höherer oder ein niedrigerer politik ersetzt worden ist. Sie erreicht gegenwärtig Anspruch auf einen Zuschuß als bisher bestanden ihren Höhepunkt mit der Bezeichnung „Programm hatte. Dementsprechend sind zum Teil schon Rückfor- für Wachstum und Beschäftigung" für ein Programm derungsbescheide an die Landwirte versandt worden. der sozialen Grausamkeiten, das auch die Bauern Diese Regelungen sind für viele Landwirte etwas nicht verschont. völlig Neues, das nicht von heute auf morgen ange- Trotz branchenspezifischer Alterssicherung ist die nommen wurde. Rentenentwicklung für die Landwirte an die in der Außerdem ist unbestritten, daß seit der Agrarso- gesetzlichen Rentenversicherung geknüpft. Damit ist zialreform die Landwirte mit vielen neuen Vorschrif- klar, daß sie in den nächsten Jahren mit der Inflati- ten und Formularen konfrontiert worden sind, bei de- onsentwicklung nicht Schritt halten wird. nen eine Vielzahl von Fristen zu beachten waren. 10202* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996

Wir wollen den erheblichen Anlaufschwierigkeiten Denn: Nach unserer vorgesehenen Übergangsrege- gerecht werden, die sich bei der Umsetzung der Re- lung darf der Landwirt nur dann bereits gewährte gelungen zum Beitragszuschuß für die Alterssiche- Zuschüsse behalten, wenn er hierauf nach seinem rung der Landwirte ergeben haben. Deshalb sieht neuesten Steuerbescheid auch tatsächlich einen An- unser heutiger Gesetzentwurf eine Übergangsrege- spruch hat und nach derzeitigem Recht diesen An- lung bis Ende 1996 vor. Kommt es in dieser Zeit zu spruch nur deshalb nicht durchsetzen kann, weil er einer Fristversäumung, dann führt dies nicht automa- die Zweimonatsfrist versäumt hat. tisch zum zeitweiligen Ruhen des gesamten Zuschus- ses. Statt dessen wird der Zuschuß neu berechnet auf Hingegen wurden die Sozialzuschläge für die ost- der Basis des verspätet vorgelegten Einkommensbe- deutschen Rentner zurückgefordert, weil wegen wei- scheides und damit auf der Basis der tatsächlichen terer zu berücksichtigender Einkommen tatsächlich Einkommensverhältnisse. nur ein Anspruch auf einen geringeren Zuschlag be- Diese Übergangsregelung hebt aber die geltende standen hatte. Es liegt auf der Hand, daß hier eine und strengere Regelung nicht auf. Sie setzt sie nur Amnestie nicht in Betracht kommen konnte. vorübergehend aus. Darüber sind sich die Koalitions- fraktionen mit der Bundesregierung und den Vertre- Und bei der jetzt vorgesehenen Übergangsrege- tern des Berufsstandes und des Gesamtverbandes lung gewähren wir in vergleichbaren Fällen auch der Landwirtschaftlichen Alterskassen einig. keine Amnestie: Landwirte, die laut neuestem Steu- erbescheid keinen oder nur einen geringen An- In der Presse wird diese Übergangsregelung als spruch auf Zuschußzahlungen haben, müssen auch ungerechtfertigte Amnestie kritisiert und mit ande- im Rahmen der Übergangsregelung die Zuschüsse ren Vorgängen verglichen wie zum Beispiel mit der entsprechend ganz oder teilweise zurückzahlen, die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Sozialzuschläge für die Zeit nach Fristablauf bereits gewährt waren. gegenüber ostdeutschen Rentnern. In diesen Fällen hatte die Bundesregierung keine Amnestie gewährt. Daher gehe ich davon aus, daß auch die SPD-Frak- Auch der Kollege Schreiner hat hierzu bereits Fragen tion und der Bundesrat der geplanten Neuregelung an die Bundesregierung gestellt. zustimmen können und der bisher gefundene Kon- Aber, um ein Bild aus der Landwirtschaft zu neh- sens im Bereich der Alterssicherung der Landwirte men: Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. auch künftig bestehen bleibt.