Plenarprotokoll 14/4

Deutscher

Stenographischer Bericht

4. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

I n h a l t :

Nachträgliche Glückwünsche zu den Geburts- Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 144 A, 153 A tagen der AbgeordnetenUlrike Mascher, Wolfgang Behrendt und Werner Lensing .... 131 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS ...... 146 D Erweiterung der Tagesordnung...... 131 B (Aachen) SPD...... 149 B, 153 C Absetzung der Punkte 5 und 8 von der Tages- Rainer Brüderle F.D.P...... 154 A ordnung...... 131 B Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 155 A Tagesordnungspunkt 3: CDU/CSU...... 156 D Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und Peter Dreßen SPD ...... 157 D PDS Adolf Ostertag SPD...... 159 B Bestimmung des Verfahrens für die Be- rechnung der Stellenanteile der Frak- Karl-Josef Laumann CDU/CSU...... 161 B tionen (Drucksache 14/21)...... 131 C Tagesordnungspunkt 6 (in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 1): Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Erste Beratung des von den Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetz- Einsetzung von Ausschüssen (Drucksa- lichen Krankenversicherung (Drucksache che 14/22)...... 131 C 14/24) ...... 162 A Tagesordnungspunkt 1: Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/ CSU ...... 162 A Fortsetzung der Aussprache zurRegie- rungserklärung des Bundeskanzlers ...... 131 D , Bundesministerin BMG...... 163 D Dr. Hermann Kues CDU/CSU...... 131 D Dr. Dieter Thomae F.D.P...... 167 B Walter Riester, Bundesminister BMA ...... 135 C Rudolf Dreßler SPD...... 168 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU...... 138 B Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/ CSU...... 171 A Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P...... 139 D Dr. PDS ...... 172 D Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN...... 141 D Wolfgang Zöller CDU/CSU ...... 174 A II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Gudrun Schaich-Walch SPD...... 175 D Ina Lenke F.D.P...... 186 A Wolfgang Zöller CDU/CSU...... 176 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 187 B CDU/CSU ...... 178 A Petra Bläss PDS...... 189 B Ausschußüberweisung Maria Eichhorn CDU/CSU...... 190 C Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU .... 179 C Hildegard Wester SPD...... 192 A Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ...... 182 A Nächste Sitzung ...... 194 C Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/ CSU...... 182 D Anlage Hubert Hüppe CDU/CSU...... 184 A Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 195 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 131

(A) (C)

4. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident : Liebe Kolleginnen! Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 4 auf: Liebe Kollegen! Ich wünsche Ihnen einen guten Mor- 3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, gen. Die Sitzung ist eröffnet. CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich und PDS zunächst der Kollegin Ulrike Mascher, dem Kollegen Bestimmung des Verfahrens für die Berech- Wolfgang Behrendt und dem KollegenWerner Len- nung der Stellenanteile der Fraktionen sing, die im Oktober jeweils ihren 60. Geburtstag feier- ten, nachträglich die besten Grüße und Wünsche des – Drucksache 14/21 – Hauses aussprechen. 4. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, (Beifall) CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Einsetzung von Ausschüssen (B) (D) Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste – Drucksache 14/22 – vorliegenden Punkte zu erweitern: Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. , Dr. , Ich bitte diejenigen, die dem interfraktionellen Antrag zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Dr. und der Fraktion der PDS: Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 14/21 zu- Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Mecklenburg-Vorpommern dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen. – Drucksache 14/25 – Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten PetraEinsetzung von Ausschüssen auf Drucksache 14/22. Pau, , Heidemarie Lüth, weiterer Ab- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- geordneter und der Fraktion der PDS: gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.

Abschaffung des Flughafenverfahrens (§ 18 a Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: AsylVfG) Fortsetzung der Aussprache zur Regierungs- – Drucksache 14/26 – erklärung des Bundeskanzlers ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die bara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, heutige Aussprache bis 14 Uhr dauern. – Ich höre keinen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Besteuerung von Luxusgegenständen Wir kommen zunächst zum Themenbereich Arbeit und Soziales. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat – Drucksache 14/27 – der Kollege Dr. Hermann Kues. Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c und 8 abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstan- Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Herr Präsident! den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahrenLiebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester, wir so. ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit eine glückliche Hand 132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Dr. Hermann Kues (A) im Interesse der Menschen und im Interesse der Sache. gelderhöhung. Diese Kindergelderhöhung – das gebe ich (C) Ich glaube, die Menschen bei uns im Lande haben zuzu – wären immerhin 60 DM. Dann hätte er also 10 DM Recht einen Anspruch darauf, daß wir als Opposition Ih- mehr. re Politik nicht nur deshalb kritisieren, weil sie von Ih- nen kommt. Genauso wird von uns erwartet, daß wir Das müssen Sie aber zusammenführen mit der Dis- nicht sagen, etwas sei nur deshalb richtig, weil es vonkussion um die Ökosteuer. Alles, was ich gehört und uns kommt. gelesen habe, läuft darauf hinaus, daß die Kindergeld- erhöhung um 60 DM durch die Einführung der Öko- Der Bundeskanzler hat gestern in der Regierungser- steuer – er bezahlt mehr für Benzin, bezahlt mehr für klärung einen relativ eindeutigen Maßstab genannt: Die- Gas usw. – überkompensiert wird. Das heißt: Auf der nen die vorgesehenen Regelungen dazu, das Hauptziel einen Seite geben Sie ihm 60 DM mehr, auf der anderen zu erreichen, nämlich dieArbeitslosigkeit abzubauen? ziehen Sie ihm 50 DM ab und dann noch einmal 60 DM. Diese Frage ist für uns die Meßlatte; daran werden wir Für den Arbeitnehmer wird das also nicht nur ein Null- festhalten. summenspiel, sondern er bezahlt im Endeffekt drauf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Das ist nach meiner festen Überzeugung sozial unge- ordneten der F.D.P.) recht. Ich sage Ihnen ganz offen: Was ich bislang von Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und von anderen Vertretern der Regierung gehört habe, erweckt bei mir den Eindruck, daß Sie sich einerseits um Ich glaube, daß Sie zu sehr aus der Sicht derer den- klare Aussagen drücken und daß Sie andererseits in den ken, die sich beim System befinden, nicht aus der Sicht Punkten, in denen Sie konkret werden, in die falschederer, die außerhalb stehen, die in den Arbeitsmarkt Richtung laufen. Wer an einer wichtigen Weggabelung hinein wollen. in die falsche Richtung läuft, der gerät nach meiner (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Wer hat sie denn da Überzeugung auf den Holzweg. Alle Maßnahmen muß rausgeschmissen?) man danach bewerten, ob sie dem Ziel dienen, mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen, und ob sie für Was Sie vorhaben, ist eine grobe Ungerechtigkeit im diejenigen gedacht sind, die am Rande stehen und keine Bereich der Rente, beim Verteilen der Lasten zwischen Möglichkeiten haben, ihre Fähigkeiten in den Wirt-den Generationen. schafts- und Arbeitsprozeß einzubringen. Sie werden auch den Herausforderungen desdemo- Soziale Leistungen haben immer auch eine finanzielle graphischen Wandels nicht gerecht. Denn es ist doch Seite. Sie müssen nämlich bezahlt werden. Die Arbeit- unbestritten, daß auf Grund der Veränderung des Alters- (B) nehmerinnen und Arbeitnehmer haben nichts davon,aufbaus immer mehr Junge für immer mehr Alte auf-(D) wenn ihnen mit der einen Hand etwas gegeben wird,kommen müssen. was ihnen mit der anderen Hand wieder genommen wird. Und was das große Problem ist: Sie schieben grund- legende Entscheidungen vor sich her. Sie sagen, etwa im Ich will das am Beispiel derRentendiskussion ein Rentenbereich, nicht, wir ändern den bisherigen Ansatz, wenig konkretisieren. Es hört sich ja gut an, wenn Sie sondern Sie setzen die Rentenreform lediglich aus. Sie sagen: Arbeitnehmer können ab 60 Jahre in Rente ge- können im Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute hen, die Altersbezüge steigen kräftig, finanzielle Abzüge nachlesen und auch von anderen Fachleuten, etwa Bert gibt es nicht, es werden Arbeitsplätze für Jugendliche Rürup, dem Finanzwissenschaftler, SPD-Mitglied, hö- freigemacht. Nur: Wer bezahlt eigentlich die Realisie- ren, daß die Einschnitte um so massiver und problemati- rung dieser Versprechen? scher werden, je später Sie die Entscheidungen fällen. ( [CDU/CSU]: Das ist die Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Rede ist von Tariffonds. Wenn Sie genauer hin- Was Sie tun, ist dies: Sie kaufen sich Zeit. Sie tragen sehen, werden Sie feststellen – das sagen auch die Ge-nicht Verantwortung für die Zukunft. Das ist keine werkschaften –, daß mindestens zweistellige Milliarden- nachhaltige Politik. Das ist kurzfristige Politik, die auf beträge notwendig sind. Belastet werden die aktiven Ar- Beifall setzt und nicht auf wichtige Entscheidungen. Das beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Betriebe. kritisieren wir. Das heißt, mögliche Lohnerhöhungen fallen geringer aus. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Wenn Sie bringen immer das Argument, das müsse aus ein Facharbeiter 5 000 DM brutto verdient und eineSteuern finanziert werden, es müsse einen Zuschuß aus Lohnerhöhung von 4 Prozent in Aussicht steht – das wä- dem Bundeshaushalt geben. Dazu muß man darauf re ja ein Wort –, bekäme er 200 DM mehr. Wenn Siehinweisen: Jede vierte Mark des Bundeshaushalts fließt jetzt sagen, 1 Prozent dieser Lohnerhöhung – das steht ja bereits heute in den Rententopf. Nach der letzten Erhö- zur Diskussion – solle in den sogenannten Tariffondshung des Bundeszuschusses gehen auch Fachleute da- eingezahlt werden, würden ihm von diesen 200 DMvon aus, daß im Grunde genommen nicht mehr von ver- wieder 50 DM abgezogen. Jetzt werden Sie sagen: Aber sicherungsfremden Leistungen aus der Rentenkasse ge- wenn er zwei Kinder hat, bekommt er ja eine Kinder-sprochen werden kann, weil derartige Leistungen, für Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 133

Dr. Hermann Kues (A) Kriegsopfer beispielsweise, immer mehr abgebaut wer- Maße unsozial, sondern auch ungerecht und geht auf die (C) den, so daß auch dort für Sie im Grunde keine Möglich- Knochen derjenigen, die keine Arbeit haben und außen keit mehr gegeben ist. vor sind. Sie weisen darauf hin, wie Sie an diegeringfügigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Beschäftigungsverhältnisse herangehen. Auch da habe ordneten der F.D.P.) ich den Verdacht, daß es Ihnen nicht in erster Linie dar- Herr Arbeits- und Sozialminister, wenn Sie mutig wä- um geht, diese Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen, ren, dann würden Sie sich an den Niederlanden ein Bei- sondern daß Sie dort offensichtlich Geld für die Sozial- spiel nehmen. Ich wohne an der niederländischen Gren- kassen suchen, das Sie anderweitig leichtfertig ausge- ze, beobachte die Maßnahmen in den Niederlanden sehr ben. intensiv und habe sie für mich ausgewertet. Dort hat (Beifall bei der CDU/CSU) man Anfang der 80er Jahre zwischen der Regierung und den Tarifparteien ein Bündnis für Arbeit geschmiedet. Es ist im übrigen ein absolutes Novum, daß Versiche- rungsbeiträge erhoben werden sollen, hinter denen keine (Lachen bei der SPD) Leistungen stehen. Dazu paßt am besten die Feststel- Das hat positive Wirkungen auch auf dem Arbeitsmarkt lung: Sie wollen abkassieren. entfaltet, und zwar dadurch, daß all das auf den Tisch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gekommen ist, was zu mehr Beschäftigung führen kann. ordneten der F.D.P.) Ich nenne Ihnen die Punkte: Das erste waren und sind verantwortungsvolle Lohnabschlüsse, das zweite Spar- In der Rentenversicherung werden mit Minibeiträgenbemühungen der öffentlichen Haushalte – davon sind volle Ansprüche geschaffen, gleichzeitig aber nur mini- Sie weit entfernt –, male Rentenansprüche aufgebaut. Das geht in die fal- sche Richtung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Ich will noch einmal auf den Kern zurückkommen. Das Entscheidende ist doch, daß wir nicht fragen dürfen: das dritte Veränderungen im sozialen Sicherungsnetz, „Was sind wohlklingende Maßnahmen?“, sondern daß das vierte eine weitgehende Deregulierung und das wir fragen müssen: „Welche Maßnahmen sind hilfreich fünfte – angesichts dieses Punktes merken Sie, daß Sie für die Belebung der Wirtschaft sowie für die Sicherung von diesen Maßnahmen weit entfernt sind und die fal- und Schaffung von neuen Arbeitsplätzen?“. Denn dieses schen Signale setzen – eine Senkung der Steuer- und Hauptziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Abgabenlast.

(B) Wir haben Gott sei Dank seit Oktober dieses Jahres Das ist das Konzept der Niederlande. Wenn Sie mit(D) einen beachtlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit zu diesem Konzept antreten würden, hätten wir vor Ihnen verzeichnen. Die Zahl der Arbeitslosen war in diesem Respekt und würden uns damit entsprechend auseinan- Oktober im Vergleich zum Oktober 1997 um 400 000dersetzen. niedriger. Wenn man die Zahl der Erwerbstätigen an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sieht, so ist das Ergebnis noch interessanter: Von 1983 ordneten der F.D.P.) bis 1990 haben wir einen Anstieg der Zahl der Beschäf- tigten um 3 Millionen gehabt. 1990 sind wir erstmals Daß wir auf dem Arbeitsmarkt eine Trendwende ha- wieder bei über 34 Millionen Beschäftigten. ben, bestreitet im Moment eigentlich niemand mehr. Diese Trendwende droht allerdings an einer Gruppe Das heißt also, der konjunkturelle Aufschwung, für vorbeizugehen: den Langzeitarbeitslosen. Hierzu habe den wir verschiedene Maßnahmen ergriffen hatten, ist ich, Herr Minister Riester, etwas Interessantes in der mittlerweile auch beim Spätindikator Arbeitsmarkt an- „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gelesen. Es war gelangt und hat dort kräftige Spuren hinterlassen. Es be- zwar etwas versteckt in deren „Magazin“ vom 6. No- streitet heute keiner mehr, daß es zur Sicherung undvember 1998, aber ich habe es gelesen. Man kann dort Schaffung von Arbeitsplätzen strukturelle Verbesserun- nachlesen, welchen Stellenwert Rotgrün dem Problem gen unserer Wirtschaft gibt. Das alles kommt nicht von beimißt, daß an etwa 1 bis 2 Millionen Menschen die ungefähr, sondern hat etwas damit zu tun, daß wir den Trendwende am Arbeitsmarkt vorbeizugehen droht. Da Mut gehabt haben, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, haben Sie die Katze aus dem Sack gelassen. Da haben den Arbeitsmarkt nachhaltig zu regeln und die sozialen Sie auf die Frage „Was wollen Sie mit denen machen, Sicherungssysteme zukunftssicher zu machen. die nicht qualifizierbar sind?“ geantwortet: (Beifall bei der CDU/CSU) Ich konzentriere mich lieber auf die vielen Men- Bei uns hat es dafür – ich wiederhole das – einen einzi- schen, die man qualifizieren kann, als auf die weni- gen Grund gegeben, nämlich, einen Beitrag zum Abbau gen, bei denen alle Bemühungen fruchtlos bleiben. der größten Ungerechtigkeit zu leisten: daß Menschen (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hört! keine Teilhabe am Wirtschafts- und Arbeitsprozeß ge- Hört!) währt wird. Ich sage ausdrücklich: Unsozialer kann man diese Wenn Sie nun versuchen, das Rad zurückzudrehen, Menschen nun wirklich nicht fallenlassen. um zwei oder drei besonders werbewirksame Wahlver- sprechen einzuhalten, dann ist das nicht nur in hohem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Dr. Hermann Kues (A) Sie haben dies gerechtfertigt mit den Worten – ich Ich kann bei Ihnen nicht den geringsten Ansatz er-(C) habe das Interview dabei, Sie können es gleich nachle- kennen, daß Sie in eine andere Richtung gehen. Wir ha- sen –: ben für eine Dezentralisierung der Arbeitsmarktpoli- tik gekämpft und haben sie auch durchgesetzt. Aber gut. Wie viele mögen es sein? Vielleicht fünf Prozent der Erwerbsbevölkerung. Ich habe ja ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sagt: Wir haben 34 Millionen Erwerbstätige in ordneten der F.D.P.) Deutschland. Wissen Sie eigentlich, wie viele Ein- zelschicksale diese 5 Prozent sind, Dazu hört man von Ihnen nichts. Das hat etwas damit zu tun, daß Sie eine andere Gesellschaftsphilosophie haben. (Zurufe von der SPD) Sie haben einen zentralistischen Ansatz. Sie erhoffen die Sie mit solchen Worten locker ins Abseits schieben? sich mehr Lösungen von der Zentrale, ob aus Bonn oder aus Nürnberg. Wir setzen auf Dezentralisierung, wir set- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zen auf die Phantasie der Regionen, weil wir meinen, ordneten der F.D.P.) daß man den Menschen damit mehr helfen kann. Wir Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Herr Andres hat brauchen in der Arbeitsmarktpolitik einen regionalen in der „NOZ“ vom 30. Oktober ebenso – denn darumMaßanzug. Der muß für den ländlichen Raum anders geht es ja auch bei dieser Gruppe – Beschäftigungsmög- aussehen als für den Ballungsraum. Wir brauchen keine lichkeiten im Niedriglohnbereich geleugnet. Es gibt 1 zentralistischen Lösungen, wie Sie sie nach wie vor an- bis 2 Millionen Menschen, die kaum in der Lage sind, peilen. am Markt ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sie und ihre Familien leben können. Deswegen muß man ordneten der F.D.P.) über solche Dinge wieKombilohn – oder wie immer man das nennt – nachdenken, weil nur solche Instru- Es muß eine einfache Regel gelten: Das Beste ist, mente auf die Schwächsten der Schwachen am Arbeits- wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit fin- markt zugeschnitten sind. det. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Lachen und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ich könnte das mit weiteren Zitaten belegen. Ich fin- GRÜNEN und der PDS) de, diese Denkweise ist technokratisch. Sie ist für mich erschreckend. Ich mache mir um die Starken nicht allzu Dafür müssen Sie die volkswirtschaftlichen Rahmenbe- große Sorgen – deren Arbeitslosigkeit geht in über-dingungen schaffen. Sie laufen genau in die falsche schaubaren Zeiträumen zu Ende. Den Langzeitarbeitslo- Richtung. Das merkt man, wenn man sich Ihre Steuerre- (B) sen fehlt es meistens auch nicht in erster Linie an derform ansieht. (D) materiellen Ausstattung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich sage aber auch: Es ist zuwenig – das ist vielleicht ordneten der F.D.P.) ein typisches Phänomen des Wohlfahrtsstaates –, Lang- zeitarbeitslosen lediglich Geld zu geben. Vielmehr müs- Eine zweite Regel ist: Wer auf dem ersten Arbeits- sen wir uns einfallen lassen, wie wir Langzeitarbeitslo- markt keine Arbeit findet, für den tritt die Versicherung sen wieder eine Lebensperspektive geben, wie wir sieein – nach den Regeln einer Versicherung. Deshalb sage wieder teilhaben lassen können, so daß sie ihre Qualifi- ich auch ganz deutlich: Wir sind der Meinung, daß die kation und ihre Fähigkeiten wieder einbringen können. großen Lebensrisiken – Alter, Krankheit, Arbeitslosig- Darum kümmern Sie sich überhaupt nicht. keit, Unfall und Pflege – von derSolidargemeinschaft abgesichert werden müssen. In dem Punkt unterscheiden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir uns zumindest vom Bundesfinanzminister. Wir ordneten der F.D.P. – Widerspruch bei der wollen, daß die großen Risiken von der Solidargemein- SPD) schaft abgesichert werden, so daß sich ein Arbeitneh- Das ist eine Frage des Grundansatzes. Hier geht esmer, der 20 oder 30 Jahre lang eingezahlt hat, auch dar- um die Verwirklichung vonBeteiligungsgerechtigkeit auf verlassen kann, eine entsprechende Leistung heraus- – nicht Verteilungsgerechtigkeit, sondern Beteiligungs- zubekommen. gerechtigkeit –, die sich von der Würde des Menschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- herleitet. Es geht darum, die Menschen einzubeziehen. ordneten der F.D.P.) In diesem Sinne kann man auch sagen: Wenn man das Ziel hat, dies zu verwirklichen, und Veränderungen vor- Das ist ein ganz wichtiger Stabilisator in einer Wirt- nimmt, dann können Veränderungssperren, wie Sie sie schafts- und Arbeitswelt, die sich für den einzelnen un- aufbauen, durchaus auch unmoralisch sein. geheuer stark verändert, in der er sich neuen Herausfor- derungen stellen muß. Wenn wir das von ihm erwarten, Ich habe nie verstanden, daß ein durchschnittlicherdann muß es Stabilisatoren geben. Dazu zählen die gro- Arbeitslosenhilfebezieher mit 27 Jahren bei ßen uns Sicherungssysteme. 1 250 DM an Arbeitslosenhilfe erhält. Der Staat wendet 1 850 DM dafür auf, daß man ihm lediglich Geld gibt, Wir sagen aber auch: Es gibt kleine Risiken, die jeder anstatt für ihn auch Arbeit zu organisieren. selbst tragen muß. Wieder auf die Arbeitslosigkeit bezo- gen, bedeutet das: Wenn das Sozialversicherungssystem (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS für ihn nicht eintritt, dann muß er Geld bekommen, aber 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 135

Dr. Hermann Kues (A) auch die Chance zur Gegenleistung erhalten. Wir müs- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der(C) sen es so organisieren, daß er eine Gegenleistung erbrin- Redner, der bereits am Rednerpult steht, der Bundesmi- gen kann, daß nicht nur ausgezahlt wird, sondern daß die nister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester. Fähigkeiten, die er hat, abgerufen werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damit haben wir im Bereich der Sozialhilfe angefan- Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- gen; die Kommunen haben hier exzellente Erfahrungen zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- gesammelt. Das muß auch im Bereich des Arbeitsmark- men und Herren! Eine kurze Vorbemerkung: Herr tes umgesetzt werden. Von Ihnen höre ich dazu nichts. Dr. Kues, ich habe gemerkt, daß Sie nach 16 Jahren Re- Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Sie haben ein an- gierung sehr schnell in der Opposition angekommen deres Gesellschaftsbild. Sie wollen die Dinge zentra-sind. listisch durch den Staat lösen lassen. Wir wollen das nicht. Wir wollen weniger Staat und dezentrale Lösun- (Beifall bei der SPD) gen, letztlich menschengerechte Lösungen. Ich bin gerne bereit – ich denke, das ist auch sehr wich- (Beifall bei der CDU/CSU) tig –, über meine Arbeit zu streiten. Es ist aber etwas verfrüht, dies nach 14 Tagen zu machen. Wenn wir uns unseren Sozialstaat insgesamt ansehen, dann können wir feststellen, daß dieser von Widersprü- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen gekennzeichnet ist. Noch nie in der Geschichte der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Bundesrepublik wurde soviel Geld für soziale Leistun- Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Und was gen und für sozialen Ausgleich ausgegeben. Aber noch soll man in der Debatte machen?) nie wurde soviel über zwischenmenschliche Kälte ge- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die neue klagt, über so viele vereinsamte und verhaltensgestörte Bundesregierung hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Kinder. Sie will nicht länger den Mangel der Arbeit verwalten, (Lachen bei der SPD) sondern einen neuen Reichtum an Perspektiven schaf- fen. Sie will sich daran messen lassen – der Bundes- Das alles zeigt, daß es im Kern nicht um die Quantität, kanzler hat dies gestern nicht zum erstenmal betont –, ob sondern um die Qualität unseres Zusammenlebens geht. es ihr gelingt, durch verläßliche und vernünftige Rah- Da müssen wir ansetzen. menbedingungen neue Arbeit, neue Ausbildung zu mobilisieren. Daran will auch ich meine Arbeit messen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lassen. (B) ordneten der F.D.P.) (D) Ich bin mir wie alle anderen Regierungsmitglieder Wir müssen Strukturen und Anreizsysteme so gestal- bewußt: Das ist kein leichtes Versprechen, sondern eine ten, daß soziale Leistungen zur Übernahme von Eigen- verantwortung befähigen, und dies belohnen. Denn nur schwere Aufgabe. wenn die Bereitschaft vorhanden ist, sich um andere zu Rund 4,3 Millionen Menschen, Frauen und Männer, kümmern, ohne gleich nach dem Staat und der Gesell- Junge und Alte, waren im Jahre1998 arbeitslos. Die schaft zu rufen, kann Solidarität wachsen. Wir dürfenZahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs- die Verantwortung nicht weiter auf den Staat delegieren, verhältnisse ist seit 1991 permanent zurückgegangen. weil wir damit den Sozialstaat hoffnungslos überfordern. Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen, die leichte Erholung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in Westdeutschland dürfen uns nicht zufriedenstellen. Wenn jeder zehnte in Deutschland nach Arbeit sucht, der F.D.P.) dann muß das für uns Ansporn sein zu neuen Anstren- Wenn die Kraft der Wirtschaft verlorengeht, helfen auch gungen. Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosig- noch so viele soziale Rechte und Ansprüche nicht. Ein keit gerade in den neuen Bundesländern istaktive Ar- gutes Beispiel dafür war die DDR; sie hat uns dies ge- beitsmarktpolitik weiterhin unverzichtbar, und sie ist zeigt. für viele Arbeitslose die einzige Hoffnung, wieder in re- guläre Arbeit zu kommen. Dafür wollen wir sorgen. (Zurufe von der SPD) Wir wollen ferner dafür sorgen, daß die Arbeits- Ich sage Ihnen, Herr Minister: Sie werden scheitern, marktpolitik wieder verläßlich wird. Deshalb werden wir wenn Sie nicht den Mut haben, Veränderungen vorzu- die Berg- und Talfahrt in der Arbeitsmarktpolitik been- nehmen, die nicht bei jedem und überall gleich auf Be- den und eine Verfestigung auf dem notwendig hohen geisterung stoßen. Sie können das nicht finanzieren, und Niveau erreichen. die Gesellschaft wird dadurch nicht menschlicher. Herr Minister, haben Sie mehr Mut, und drücken Sie sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht um Sachverhalte. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P. – Bundesminister Walter Damit werden endlich Kontinuität und Verläßlichkeit in Riester tritt an das Rednerpult – Michael Glos die Arbeitsmarktpolitik einkehren. Ich bin mir darüber [CDU/CSU]: Es ist üblich, daß man zuerst im klaren, daß die Instrumente der aktiven Arbeits- aufgerufen wird!) marktpolitik nicht immer nur zusätzliche Beschäfti- 136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Bundesminister Walter Riester (A) gungseffekte auslösen, sondern teilweise auchMitnah- der qualifizierte Angebote bekommt, erwarten wir, daß (C) meeffekte. Darum werden wir die arbeitsmarktpoliti-er sie auch annimmt. schen Instrumente auf ihre Zielgenauigkeit untersuchen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und auch, wo notwendig, neu justieren. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Wir müssen uns besonders für die Menschen einset- Abg. Marita Sehn [F.D.P.]) zen, denen schon am Anfang ihres Berufslebens alle Meine Damen und Herren, ich will nach einem Jahr Chancen verbaut sind. Immer mehrjunge Menschen Rechenschaft ablegen: was aus diesem Programm ge- finden keine Ausbildung, keinen Arbeitsplatz. Der Ar- worden ist, was wir erreicht haben, wo wir Erfolge hat- beitsmarkt übersieht sie; die Straße hält sie fest. Fast ei- ten – und wo nicht – und wo die Ursachen dafür liegen. ne halbe Million junger Menschen sind zwischenzeitlich Politik muß wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen. arbeitslos gemeldet. Diese Zahl wird noch größer, wenn man die jungen Menschen einbezieht, die erwerbslos (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] sind, die sich aber gar nicht mehr als arbeitslos melden. [CDU/CSU]: Was heißt denn „wieder“?) Hunderttausende nehmen an Bildungsveranstaltungen teil und warten teilweise in Warteschleifen auf den Zu- Das setzt Transparenz und Rechenschaft voraus. gang zum Arbeitsmarkt. Das macht mir große Sorgen. Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen, das Ich denke, diese Menschen brauchen vor allem Unter- der Transparenz und das der Glaubwürdigkeit bedarf: stützung. Da reichen keine einfachen Willensbekundun- die gesetzliche Rentenversicherung. Sie ist in Mißkre- gen. Wir müssen uns mehr einfallen lassen, damit diese dit geraten, sie hat an Glaubwürdigkeit verloren. Ich jungen Frauen und Männer eine Chance in dieser Ge-will, daß die Rentenversicherung wieder zukunftssicher, sellschaft haben. armutsfest und verläßlich wird. Eine gute Berufsausbildung ist immer noch der be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ste Schutz vor Arbeitslosigkeit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir stehen in PDS) der Rentenversicherung vor großen Herausforderungen. Wir kennen die demographische Entwicklung. Von den arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren sind in Westdeutschland 60 Prozent ohne Berufsausbildung; (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] in Ostdeutschland sind es 40 Prozent. Wir tragen Ver- [CDU/CSU]: Aha!) antwortung für sie, und wir werden uns dieser Verant- Sie fordert entschlossenes Handeln. (B) wortung stellen. Wir haben uns verpflichtet, ein Sofort- (D) programm für 100 000 junge Menschen aufzulegen, und Zugleich gilt: Die Menschen haben ein Anrecht dar- zwar für diejenigen, die die geringsten Chancen haben. auf, daß wir mit ihrem Vertrauen und ihrer Zukunftsvor- Sie sollen die Möglichkeit haben, ausgebildet zu wer-sorge verläßlich umgehen. Darum werden wir in einem den; sie sollen Arbeit und Beschäftigung finden, und sie ersten Schritt die Rentenniveauabsenkung der alten sollen da, wo es für sie notwendig ist, zusätzliche Mög- Bundesregierung bis zum Jahr 2000 aussetzen. lichkeiten der Weiterqualifizierung erhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wer noch keine Ausbildungsstelle hat, braucht oft- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der mals Orientierung und Training, muß sich zurechtfinden PDS) lernen. Dabei können wir helfen. Wer dennoch keine betriebliche Berufsausbildungsstelle vermittelt be-Gleiches gilt für diejenigen, die nicht mehr durch eigene kommt, für den werden wir versuchen, über Ausbil-Kraft ihren Lebensunterhalt verdienen können und auf dungsverbünde und außerbetriebliche Ausbildungsplätze Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten angewiesen Überbrückungsmöglichkeiten zu schaffen. sind. Menschen, die existentiell auf unser Sicherungs- system angewiesen sind, um im Alter in Würde zu Wessen Ausbildung nicht ausreicht, um sich auf dem leben, wären sonst der Gefahr ausgesetzt, in Sozialhilfe Arbeitsmarkt zu bewähren, dem müssen wir eine zu-zu rutschen. sätzliche Qualifikation ermöglichen. Das müssen wir so gestalten, daß die Jugendlichen dieses Angebot auch an- Natürlich stellt sich dabei die Frage der Gegenfinan- nehmen – durch eine vernünftige Kombination von Pra- zierung. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag ein- xis und Theorie. deutig festgelegt, daß wir den Rentenversicherungsbei- trag bei 20,3 Prozentpunkten stabilisieren wollen. Aber Demjenigen, der keine Beschäftigung finden kann,wir gehen einen Schritt weiter. Wir werden den Renten- müssen wir den Weg in die Arbeit erleichtern, wo erfor- versicherungsbeitrag spürbar und dauerhaft durch den derlich, auch durch ABM, wo notwendig, zeitlich befri- Einstieg in die ökologische Steuer- und Abgabenreform stet über Lohnkostenzuschüsse. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Der Erfolg eines solchen Programms wird von unse- [CDU/CSU]: Haben Sie doch noch gar nicht!) rem gemeinsamen Engagement abhängen, wird von der um 0,8 Prozentpunkte senken. aktiven Mithilfe der Arbeitsämter bestimmt sein und vor allem auch von der Bereitschaft der jungen Menschen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS selbst. Dort müssen wir nachhaltig einfordern: Von dem, 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 137

Bundesminister Walter Riester (A) Meine Damen und Herren, ich sichere Ihnen heute zu, licht, zu akzeptablen Bedingungen früher aus dem Ar-(C) daß ich dieses Niveau auch im Rahmen der Renten-beitsleben auszuscheiden. strukturdiskussion verteidigen werden. Jede Mark, die aus Ökosteuern eingenommen wird, wird umgesetzt in (Zuruf von der F.D.P.: Auf Kosten unserer die Absenkung der Lohnnebenkosten. Kinder!) Ich begrüße diesen Vorschlag ausdrücklich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir entlasten mit diesem Schritt, und zwar bereits im Ich biete den Arbeitgebern und Gewerkschaften an: Las- nächsten Jahr und auf Dauer, Beschäftigte und Betriebe sen Sie uns über einen solchen Fonds im Rahmen eines um 11 Milliarden DM und fördern Beschäftigung. Wir Bündnisses für Arbeit und Ausbildung sprechen. helfen, die Akzeptanz der Rentenversicherung wieder zu Dieser Tariffonds kann nicht nur ein Beispiel für ge- erhöhen, und sorgen dafür, daß soziale Gerechtigkeit als lebte Subsidiarität sein, sondern er kann darüber hinaus konstitutives Element unseres Sicherungssystems erhal- auch deutlich machen, daß das Zusammenwirken von ten bleibt. Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik mehr leisten ( [CDU/CSU]: Was heißt denn kann als die Entscheidung im Parlament allein. das in der Praxis?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir mildern die Belastungen, die dem Sozialversiche- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rungssystem durch allgemeine Aufgaben aufgebürdet Es war einzusehen, daß aus der Warte der Rentenkas- worden sind, indem wir die Kindererziehungszeitensen – isoliert betrachtet – dasRenteneintrittsalter her- dauerhaft neu durch Steuermittel finanzieren. Verspro- aufgesetzt werden mußte. Ich verstehe die Zwänge. Aber chen worden ist das oft – wir machen es! die Entlastung der Rentenkassen hat erhebliche Proble- me auf dem Arbeitsmarkt geschaffen, wird das auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS weiter tun, Probleme, die sich in der betrieblichen 90/DIE GRÜNEN) Wirklichkeit inzwischen deutlich bemerkbar machen: Zugleich wissen wir alle: Wir müssen einen zweiten für die älteren Beschäftigten, für die jungen Menschen, Schritt tun, eine wirkliche Strukturreform der Renten-die vor der Türe stehen, und für die Arbeitgeber glei- versicherung angehen. Das will ich schon 1999 auf den chermaßen. Man hat mit diesem Schritt das Problem nur Weg bringen. Geredet worden ist auch darüber in derumverteilt. Vergangenheit viel; wir müssen jetzt zukunftsfähige Lö- Wir werden durch diese Entscheidung in den näch- (B) (D) sungen entwickeln, den Wandel in den Erwerbsbiogra- sten fünf Jahren – ich befürchte, daß die Dramatik in der phien aufnehmen. Bevölkerung noch gar nicht ganz angekommen ist – eine (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ihr Lebensarbeitszeitverlängerung derjenigen bekommen, macht es doch rückgängig!) die im Betrieb sind, und zwar um rund 10 Prozent. Ich weise darauf hin: Das Volumen übersteigt die tarifliche Nur wenn wir diesen Prozeß aufnehmen, wenn wir uns Arbeitszeitverkürzung der Gewerkschaften in den 80er darauf konzentrieren, werden wir die Glaubwürdigkeit und 90er Jahren. Das löst Probleme aus. Den Problemen in der Rentenversicherung wiederherstellen können. müssen wir uns stellen. (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sprüche! Ly- Insofern halte ich den Vorschlag der Gewerkschaften, rik!) mit der Tarifpolitik an dieses Problem heranzugehen und Lösungen anzubieten, für exzellent. Das ist – ich wie- Ich sage aber auch: Wir werden dabei nicht mit demderhole es – gelebte Subsidiarität. Füllhorn durch das Land ziehen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Nicht alles Wünschenswerte wird machbar sein. Aber nur indem wir das Machbare ernsthaft angehen, werden Ich denke, das ist ein trefflicher Beweis dafür, daß Pro- wir dem Wünschenswerten näherkommen. bleme nicht verschoben werden dürfen, sondern ange- gangen und gelöst werden müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wie bei der Rente!) Der Bundeskanzler hat gestern dasVier-Säulen- Zweitens. Wenn Regierung, Arbeitgeber und Ge- Modell angesprochen: Betriebliche Altersversorgung, werkschaften zu dieser Lösung beitragen – und zwar stärkere Teilhabe der Beschäftigten am Produktivver- nicht nur, weil ein gemeinsames Interesse sie eint –, mögen und Eigenvorsorge müssen unsere gesetzliche dann ist das die beste Grundlage für ein Bündnis für Rentenversicherung unterstützen und ergänzen. In die- Ausbildung und Arbeit. sem Sinne halte ich es für einen konstruktiven und muti- gen Vorschlag der Gewerkschaften, einenTariffonds (Michael Glos [CDU/CSU]: So eine schwache aufzubauen, der es denjenigen, die es wollen, ermög- Vorstellung!) 138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Bundesminister Walter Riester (A) Das gilt auch für die Frage der Ausbildung, die sichFrage. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob mich meine (C) nicht nur in der quantitativen Frage erschöpft. Das gilt Erinnerung trügt wenn ich darauf verweise, daß der Herr für attraktive, flexible Arbeitszeiten, die mehr Beschäf- Bundeskanzler gestern in seiner Regierungserklärung tigung ermöglichen, und das gilt für die Mobilisierung unter anderem den Begriff Einpackhilfe gebraucht hat. neuer Beschäftigung. (Zustimmung bei Abgeordneten der Ich will Ihnen ein Beispiel alter Debatten, alter Lö- CDU/CSU) sungsansätze für diesen Bereich notwendiger neuer Be- schäftigung für Menschen mit geringer Qualifikation nennen. In der alten Debatte, die ich seit 10, 15 Jahren Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- kenne, wird so argumentiert: Wir haben Arbeit und Be- zialordnung: Wenn Sie mir zugehört hätten, Herr Abge- darf genug – allerdings nicht für 50,50 DM, sondern für ordneter Schäuble, 8,30 DM. In der Hoffnung, Lohn abzusenken,Kombi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lohnmodelle anzubieten, liegt das nicht einzulösende des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Versprechen, daß sich dann der Arbeitsmarkt entwickeln würde. und sich nicht auf Ihren Diskussionsbeitrag vorbereitet hätten, dann hätten Sie genau gehört, daß ich exakt das Nun bin auch ich der Auffassung, daß es eine dergesagt habe: Wir müssen ein breites Spektrum von An- größten Herausforderungen ist, daß wir viele Menschen geboten für Menschen mit geringer Qualifikation ent- mit geringen Qualifikationen haben – vor allem diewickeln und dürfen sie nicht auf immer wieder die glei- stecken im Bereich der 1,35 Millionen Langzeitarbeits- chen Beispiele reduzieren. losen –, für die wir zuwenig Arbeitsplätze haben. Aber ich möchte an diese Frage anders herangehen, etwas sy- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS stematischer. 90/DIE GRÜNEN) (Michael Glos [CDU/CSU]: Machen Sie uns Das können die Menschen von uns erwarten. keine Angst!) (Michael Glos [CDU/CSU]:Ihr untergrabt die Ich möchte, daß wir nicht immer nur die gleichen Bei- Autorität dieses Bundeskanzlers schon am er- spiele des Schuhputzers, des Kofferträgers, des Fenster- sten Tag!) putzers, des Spargelstechers hören, sondern einmal auf- Ich will aber auch klarstellen: Wir werden die Fehl- listen, welche Bereiche produktionsnaher und persönli- entwicklungen, Ihre Entscheidungen beim Kündigungs- cher Dienstleistungen zu entwickeln sind. schutz und bei der Lohnfortzahlung, innerhalb der näch- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sten Wochen korrigieren. (B) (D) GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn wir das mit Wirtschafts- und Arbeitnehmerver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der tretern klar aufzeigen, kommt der zweite Schritt: Dann PDS – Walter Hirche [F.D.P.]: Auch das ko- müssen wir Angebote zur Qualifizierung entwickeln. stet wieder Arbeitsplätze!) Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß,Das gilt auch für die geringfügig Beschäftigten, bei de- wenn wir das systematisch angehen, auch die dritte Fra- nen wir uns im übrigen in der Definition des Problems ge, der nicht ausgewichen werden darf, nämlich ob wir mit der ehemaligen Regierung relativ einig waren. Nur, dafür eigene Lohnniveaus, ob wir dafür eine Kombinati- man muß dieses Problem auch angehen. Ich weiß, daß on mit der Sozialversicherung brauchen, von den Tarif- das nicht bequem ist. Wir werden uns der Herausforde- vertragsparteien angegangen wird. rung stellen, weil wir wissen: Es geht im Kern nicht, Herr Abgeordneter Kues, um die Liquiditätsverbesse- (Beifall bei der SPD) rung, sondern darum, wieder Ordnung am Arbeitsmarkt zu entwickeln. Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Bundesmini- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ster, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Dr. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Schäuble? PDS) Es geht aber auch – das ist schon ein ernst zu neh- Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- mendes Problem – darum, den Erosionsprozeß in den zialordnung: Bitte. Finanzstrukturen unserer sozialen Sicherungssysteme zu stoppen. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) desminister, nachdem Sie sich gerade gegen diese ArtDenn kein Sicherungssystem der Welt hält es aus, wenn von Beschäftigung ausgesprochen haben – – die Belastungen steigen und immer mehr Menschen die (Widerspruch bei der SPD) Solidargemeinschaft verlassen. – Doch. Sie haben doch gerade gegen Kofferträger, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schuhputzer usw. gesagt, diese Art von Beschäftigung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der gebe es nicht. Wo sind denn diese Jobs? – das war Ihre PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 139

Bundesminister Walter Riester (A) Da wir uns in der Analyse in der Vergangenheit einig Ich denke, daß die Bevölkerung – (C) waren, erwarte ich, daß in diesen Fragen, zumindest (Unruhe bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin wenn man es ernst meint mit der Stabilisierung und der [F.D.P.]: Da hätten Sie sich einmal sehen sol- Sicherung der Systeme, eine Zusammenarbeit möglich len!) ist. – danke; die Vorstellung wird live im Fernsehen über- (Beifall bei der SPD) tragen – Wir werden diese Maßnahmen auch mit Blick auf ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bündnis für Ausbildung und Arbeit angehen; denn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) würden wir ein solches Bündnis mit diesen Fragen bela- uns an diesen Grundprinzipien einer verläßlichen Politik sten, dann bestünde die Gefahr, daß aus solchen Gesprä- messen wird. Daran, nämlich an den klaren Aussagen, chen Nebenregierungen entwickelt werden. Genau das werde auch ich mich in der Zukunft messen lassen. wollen wir nicht. Wir wollen das Bündnis nicht mit Ent- scheidungen überfrachten, die korrigiert werden müssen (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie halt et- und für die wir einen ganz klaren Wählerauftrag haben. was, was zuhörenswert ist!) (Beifall bei der SPD) Darüber, Herr Abgeordneter Kues, will ich mit Ihnen in Zukunft gerne streitig diskutieren. Lassen Sie uns gemeinsam die Stärken und die Kräf- Danke schön. te, die unser Land noch immer hat, wieder zusammen- führen und fruchtbar in neue Lösungen einbinden. Ich (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bin fest davon überzeugt: Den Weg ins 21. Jahrhundert beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei werden wir nur dann mit den Menschen gehen können, Abgeordneten der PDS) wenn wir mit den gesellschaftlichen Kräften fair, kon- struktiv und handlungsorientiert bei den Lösungen von Vizepräsident Rudolf Seiters: Liebe Kolleginnen Problemen zusammenarbeiten. Das setzt allerdings ein und Kollegen, ich schlage vor, daß wir uns darauf ver- politisches Grundverständnis voraus, das in den letzten ständigen, daß wir jedem Redner zuhören, egal, ob er Jahren in Vergessenheit geraten schien. Politik mußMinister ist oder nicht. wieder verläßlich sein; Das Wort für die F.D.P. hat die Kollegin Dr. Irmgard ( [CDU/CSU]: Wo waren Schwaetzer. denn die Gewerkschaften?)

(B) Politik muß wieder das Vertrauen der Menschen gewin- Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Präsident! (D) nen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit den Ver- sprechungen in der Sozialpolitik hat die neue Koalition (Beifall bei der SPD) die Wahl gewonnen. Aber was waren das für Verspre- Verläßlichkeit und Vertrauen sind der Humus, aufchungen? Sie waren doch sehr widersprüchlich. Die ei- dem Reformen gedeihen können, Reformen, die wirnen erwarten von Ihnen die Wiederherstellung der alten brauchen, um den Strukturwandel, in dem wir stehen, Zustände, die anderen – das ist die von Ihnen besonders bewältigen und gestalten zu können. umworbene Neue Mitte – erwarten von Ihnen, Herr Bundeskanzler, Modernisierung, die zweifellos nicht (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Alles heiße mit der Bewahrung der alten Zustände einhergehen Luft! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: kann. Das liegt schon in dem Wort „Modernisierung“. Heiße Luft? Höchstens lauwarme!) Ihre Regierungserklärung ist auf Grund dieses Spa- Die Menschen werden nur bereit sein, den Strukturwan- gats notwendigerweise sehr blaß gewesen. Die Kom- del mutig anzugehen, wenn sie Vertrauen in die Politik mentierung in der Presse heute, Herr Bundeskanzler, haben und wenn sie wissen, daß sie sich wieder auf so- kann Sie auch nicht gefreut haben. ziale und gerechte Politik verlassen können. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Aber uns hat es ge- freut!) (Beifall bei der SPD) – Uns gibt es Chancen. – Denn längst haben die Wähler Folgendes ist wesentlich für unseren Weg in dasden engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft, nächste Jahrtausend: Mut zur Innovation, FlexibilitätWettbewerb und Arbeitsmarkt sowie Wirtschaftskraft und Mobilität sind unverzichtbare Bestandteile einerund sozialer Sicherung erkannt. modernen, zukunftsgewandten Gesellschaft und Wirt- schaft. Herr Bundeskanzler, Sie haben Modernisierung an- gekündigt. Nun müssen den Worten Taten folgen. Des- (Unruhe bei der CDU/CSU) wegen kann ich Ihnen nur sagen: Setzen Sie die Moder- nisierung endlich durch! Das ist aber keine Aufforde- – Hoffnung gibt es vielleicht auch dann, wenn die Op- rung an die Opposition; die hat das längst begriffen. Das position zuhört, wenn der Minister spricht. kann nur an Ihre eigenen Reihen gerichtet sein. (Beifall bei der SPD – Lachen bei der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- CDU/CSU und der F.D.P.) ten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) 140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Dr. Irmgard Schwaetzer (A) Leistung und Eigenverantwortung – das waren die und Sozialversicherung unterworfen wird, ist ebenfalls (C) Begriffe, die Sie, Herr Bundeskanzler, gestern reichlich mit Nein zu antworten. gebraucht haben. Diese Begriffe sind Begriffe der Zu- (Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Erika kunft; das ist gar keine Frage. Im übrigen sind wir uns Steinbach [CDU/CSU]) einig, daß Leistung in allen Schichten der Gesellschaft erbracht wird und nicht auf irgendeine Einkommenska- Meine Damen und Herren, diese Regelung wird zum tegorie begrenzt ist. Das ist völlig selbstverständlich.Bumerang für Frauen. Das ist das Letzte an Frauen- Von den Begriffen Leistung und Eigenverantwortung ist freundlichkeit, was man sich überhaupt nur ausdenken in den von Ihnen angekündigten Korrekturgesetzen al- kann. lerdings nichts zu sehen. Ihre ersten Taten sind die Rolle rückwärts. Sie haben sie im Wahlkampf angekündigt. (Beifall bei der F.D.P.) Aber paßt denn die Rücknahme aller Gesetze, die die Frauen, die einen Zuverdienst zum Familieneinkommen Überforderung des Staates zurückdrängten und den Ar- anstreben – aus welchen Gründen auch immer –, werden beitsmarkt immerhin so belebt haben, daß heute 400 000 dazu in der Zukunft seltener die Chance bekommen, als Arbeitslose weniger als vor einem Jahr zu verzeichnen sie sie heute haben. Gegen Krankheit sind sie abgesi- sind, zu Leistung und Eigenverantwortung? Ich sage Ih- chert; zu einer eigenen Alterssicherung reichen die Mi- nen: Das paßt nicht dazu. nibeiträge sowieso nicht aus. Aber darum geht es Ihnen ja auch gar nicht. Sie glau- (Beifall bei der F.D.P.) ben, ein neues Abkassiermodell für die überforderten Sie müssen sich die Frage stellen, ob die Maßnahmen Sozialversicherungen gefunden zu haben. Das ist weder in den Korrekturgesetzen zum Erreichen des von Ihnen sozial noch gerecht. Und daran wollen Sie sich doch selbst gesetzten Ziels, die Arbeitslosigkeit abzubauen, messen lassen! geeignet sind. Alleine die Entwicklung auf dem Ar- (Beifall bei der F.D.P. – Walter Hirche beitsmarkt in den letzten Monaten muß Ihnen doch [F.D.P.]: Ein Schlag gegen den Arbeitsmarkt schon sagen, daß Sie dieses Ziel damit nicht erreichen ist das!) werden. Deswegen wünsche ich mir von Ihnen, daß Sie doch noch einmal darüber nachdenken – denn die Ge- Im Umgang mit Geld sehen wir insgesamt wieder das setze werden erst in der nächsten Woche eingebracht – alte SPD-Problem: Es wird bereits ausgegeben, bevor es und wenigstens diesen Unfug lassen. da ist. Die Diskussion über dieÖkosteuer zeigt das wieder einmal ganz deutlich. Die Ökosteuer und die Es bleibt die Frage – auch die kann man sich stellen –, vielgepriesene Senkung der Beiträge zur Rentenversi- ob es denn klug ist, all das zurückzunehmen. Tony Blair (B) cherung führen doch nicht zu einer Entlastung der Sozi- (D) hat es jedenfalls anders gemacht. Er hat sorgfältig ver- alversicherungen oder des Staates insgesamt. Das ist mieden, die Entscheidungen seiner konservativen Vor- nichts anderes als eine Umfinanzierung, anstatt zu spa- gänger zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu- ren. rückzunehmen. Die Erkenntnis, daß Flexibilisierung des Arbeitsmarktes Voraussetzung für Investitionen inDas schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern nur Deutschland ist, ist auch unter Sozialdemokraten nicht mehr Staat. unbekannt. Gestern habe ich in der „Süddeutschen Zei- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- tung“ in einem Feature ein Zitat gefunden, das ich Ihnen ten der CDU/CSU) einmal vorlesen will: Das hat im übrigen der neue Wirtschaftsminister Müller Also referiert sie ..., daß sie ... eine starke Flexibili- gestern in der „FAZ“ unumwunden zugegeben, als er sierung des Arbeitsmarktes für notwendig hält,gesagt hat, daß die Ökosteuer schlicht als Finanzie- wenn deutsche Unternehmen mehr investieren ...rungsquelle gebraucht wird. sollen. Die Veränderung der Lohnfortzahlung im Krank- Wer dieses Feature gelesen hat, wird wissen, daß das ei- heitsfall war ein Signal für die Veränderungsfähigkeit in ne Aussage von Christa Müller, der Beraterin des SPD- Deutschland. Mit der Rücknahme geht auch die Zuver- Vorsitzenden, ist. Aber warum glaubt er ihr bloß nicht? sicht auf Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit verlo- (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Weil er den ren. So schaffen Sie „Gewerkschaftsdeutschland“, aber Frauen gar nicht glaubt!) nicht Modernität. Die Frage, ob es etwa Investitionen ermutigt, wenn die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Lockerung des Kündigungsschutzes zurückgenommen ten der CDU/CSU) wird, kann man nur mit Nein beantworten. Mit Staunen stellen wir fest, wie schlecht die SPD (Beifall bei der F.D.P.) 16 Jahre Opposition genutzt hat. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Auf die Frage, ob es denn das Angebot von Teilzeit- arbeit fördert, wenn jetzt die „mehr als geringfügig Be- Ihr neuer Geschäftsführer Schreiner sagt ja auch ganz schäftigten“ mit einem Einkommen von maximalklar, daß Sie das Instrumentarium der Opposition be- 300 DM im Monat erfunden werden und jede Ver-herrschen: Dagegensein, Blockieren, Vertagen. – Das ist dienstmark darüber dem zupackenden Griff von Steuer übrigens nicht unsere Auffassung von Opposition. – Da- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 141

Dr. Irmgard Schwaetzer (A) bei haben Sie nichts Konkretes zum Beispiel für die Zu- besitzen, neben dem Dienstleistungsbereich andere Be- (C) kunft der Alterssicherung entwickelt. schäftigungsmöglichkeiten. Aber anpacken muß man das Problem. Das war mit den Gewerkschaften bisher (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) nicht möglich. Wir werden Ihnen unser Bürgergeldmo- Der Bundeskanzler hat gestern vier Säulen benannt, dell, das eine Brücke in den Arbeitsmarkt auch für die- auf denen die Alterssicherung beruhen soll. Das sind jenigen schafft, die keine Qualifikation haben oder aus diejenigen Säulen, die seit vielen Jahren von der F.D.P. Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht errei- formuliert worden sind. Nur, von der SPD habe ich das chen können, immer wieder vorhalten. bisher noch nicht gehört. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P.) ten der CDU/CSU) Eine Konkretisierung steht auch aus; das hat der Ar- beitsminister gerade zugegeben. Also haben Sie Ihre Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin Opposition in der Tat nicht genutzt. Die vier SäulenSchwaetzer, kommen Sie bitte zum Ende. sind: die Sicherheit derer, die heute Rente beziehen; die Berücksichtigung der Jungen, die nicht überfordert wer- den dürfen; private Vorsorge; betriebliche Alterssiche- Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Ich komme zum rung. Schluß. In diesen Zusammenhang paßt einfach nicht die Dis- Opposition als Immer-Dagegensein ist nicht unser kussion, die Rente mit 60 wieder auf die Tagesordnung Ansatz. Da, Herr Bundeskanzler, wo in Ihren eigenen zu nehmen. Reihen Modernisierung durchzusetzen ist, werden wir ein Dialogpartner für Sie sein, und wir werden die Inter- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) essen der Bürger zur Richtschnur unseres Handelns ma- chen. Ich wünsche mir auch mit Ihnen, Herr Bundesar- Eine Rente mit 60 ist nicht ohne Abschläge an der Ren- beitsminister, viele interessante Gespräche. Ich wünsche tenhöhe zu finanzieren. Das hat bereits 1996 zur Rück- nahme der damaligen Regelung geführt, übrigens unter mir, daß wir auch in der Sozialpolitik, was Modernisie- rung anbetrifft, einem Konsens wieder näher kommen Zustimmung der Gewerkschaften. Wer das heute mit ei- als in der Vergangenheit. nem Tariffonds verändern will, Herr Riester, der muß sich einfach sagen lassen, daß ein Tariffonds nicht ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- lebte Subsidiarität, sondern nur ein neues Zwangskol- ten der CDU/CSU) lektiv mit ungewissem Ausgang für die Jungen ist.

(B) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat für(D) ten der CDU/CSU) Bündnis 90/Die Grünen Frau Dr. Thea Dückert. Herr Bundesarbeitsminister, wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, daß Sie versuchen, einen Be- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): griff wie Subsidiarität, der für die Zukunft der Bürgerge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich heute sellschaft von ungeheurer Wichtigkeit ist, umzudefinie- morgen die beiden Reden von Herrn Kues und von Mi- ren und damit abzuwerten. nister Riester angehört habe, ist mir zum wiederholten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Male klargeworden, warum Sie, meine Damen und Her- ten der CDU/CSU) ren von der CDU, die Wahl verloren haben. Wenn Sie jetzt den Demographiefaktor in der Ren- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tenversicherung wieder zurücknehmen wollen, aber und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der gleichzeitig ankündigen, daß Sie die Probleme derDe- PDS) mographie kennen, dann kann ich Sie nur fragen: War- Angesichts Ihrer Bilanz von Langzeitarbeitslosigkeit um tun Sie das denn jetzt, warum verunsichern Sie die und sozialen Problemen den Vorwurf zu erheben, daß alten Menschen, und warum verunsichern Sie die Bei- Rote oder Grüne etwa die Schicksale von Langzeitar- tragszahler? Sie führen sie nur an der Nase herum! beitslosen nicht ernst nähmen, ist geradezu lächerlich. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das läßt ten der CDU/CSU) sich doch belegen!) Wir werden Ihre Vorschläge zum Abbau Ju- der – Nein, Herr Kollege Kues; aber es läßt sich belegen, gendarbeitslosigkeit sorgfältig prüfen. Wenn sie eindaß Sie einen Berg von mehr als 4 Millionen Arbeitslo- Stück Modernisierung bringen, dann werden wir Siesen hinterlassen und zu verantworten haben. An diesem auch unterstützen. Aber wir werden Sie nicht aus derProblem werden wir ansetzen; wir werden eine vernünf- Verantwortung entlassen, den vielen Langzeitarbeitslo- tige Beschäftigungspolitik betreiben. sen eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen. Natür- lich, Herr Riester, besteht Dienstleistung nicht nur aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einpacken oder Koffer tragen. Es gibt auch für diejeni- und bei der SPD) gen, die – aus welchen Gründen auch immer – jetzt Ich sage Ihnen noch eines: Es ist eine Scheindebatte, langzeitarbeitslos sind und eine geringe Qualifikationwenn Sie hier darüber rechten, ob es zentrale oder de- 142 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Dr. Thea Dückert (A) zentrale Instrumente zur Arbeitsmarktpolitik gibt. Es bescheidenen Schritt der ökologischen Steuerreform tat- (C) geht darum, Lösungen zu finden, anstatt hier schein-sächlich ein neues strukturpolitisches Instrument einge- ideologische Diskussionen zu führen. Wir werden diese führt werden. Lösungen anbieten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES sowie bei Abgeordneten der SPD) 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Herr Schäuble, um es noch einmal deutlich zu ma- Meine Damen und Herren, als Bundestagsneuling ha- chen: Wir werden die Prognose, zu der Sie sich verstie- be ich gestern bei den Debattenbeiträgen der Opposition gen haben, nämlich daß unter unserer Regierung die So- doch merkwürdige Assoziationen gehabt. Ich habe mich zialabgaben steigen, nicht erfüllen. nämlich an einen Ausspruch von Mao Tse-tung erinnert gefühlt, was beim Hören von Reden der CDU ja eigent- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wartet lich nicht naheliegt. Dieser Ausspruch lautet: Es herrscht mal ab! Heute ist der 11. November! Wir wer- eine große Unordnung unter dem Himmel. den schon sehen!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des – Ja, Herr Schäuble, rufen Sie schön dazwischen. Sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der haben hier gestern mit Zeitungsausschnitten hantiert. SPD) Auch ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Damit meine ich, daß in Ihren Reihen UnordnungSchauen Sie sich einmal die Auflistung über die jähr- herrscht. Sie können sich offenbar nicht einigen, ob die liche Höhe der Sozialabgaben an. Im Jahre 1982 lagen neue Bundesregierung nach 14 Tagen bereits die Zu-sie bei rund 34 Prozent. Ich stelle hier die Preisfrage: kunft der Bundesrepublik verspielt hat oder schon in die Wo liegen sie heute? Ich stelle hier die Preisfrage: Wel- Starre der Untätigkeit verfallen ist. An diesem Punktche Regierung hat in den letzen 16 Jahren regiert? Wenn müssen Sie sich einmal entscheiden. Sie diese Fragen beantworten, sollten Sie erkennen, daß Sie mit Ihrer falschen Prognose über die Absichten der Sie kritisieren hier, daß wir nicht schon in der ersten, rotgrünen Koalition eigentlich nur Ihre schwarze Ver- sondern erst in der fünften Plenarsitzung ein umfassen- gangenheit in Sachen Sozialpolitik in der Bundesrepu- des Artikelgesetz einbringen, dessen Ziel es ist, mit der blik Deutschland beschreiben. ersten Stufe der ökologischen Steuerreform die Sozial- abgaben um 0,8 Prozent zu senken. Aber ich halte dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für einen deutlichen Hinweis, daß wir nicht nur schnell, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sondern auch effektiv sind, daß wir in der Lage sind, PDS) schon mit diesem ersten Schritt nicht nur zu korrigieren, (B) (D) sondern auch neue Wege bei der Bewältigung ökologi- Ich sage Ihnen auch, daß genau diese Art von Reali- scher und sozialer Probleme einzuschlagen. tätsverdrehung zum Verlust des Vertrauens in Ihre Poli- tik geführt hat. Auch die verbrämte Art von Herrn Kues (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigt, daß Sie mit Ihrer Politik die individuelle und ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) sellschaftliche Dynamik von Massenarbeitslosigkeit, die Meine Damen und Herren, schneller geht es dochArbeitsplatznot der Jugendlichen und die Probleme der nicht. Die Stäbe am Kanzleramt wackeln ja noch, und sozialen Ausgrenzung, mit denen wir uns jetzt auseinan- schon wird für den 1. Januar 1999 die erste Stufe derdersetzen müssen, nicht ernst genommen haben. ökologischen Steuerreform sowie eine Sozialabgaben- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sie laufen in senkung angekündigt. Ich erwähne dies aber auch des- die falsche Richtung!) halb noch einmal, weil ich als Koalitionspartnerin in ei- ner rot-grünen Koalition in freundlicher Ergänzung der Noch schlimmer ist, daß Sie Angebote zu einer Ver- Regierungserklärung hier hinzufügen muß, daß dieänderung von Politik, die auch historisch betrachtet neu ökologische Steuerreform nicht nur das Ziel hat, die So- waren, zum Beispiel dasBündnis für Arbeit, ausge- zialabgaben zu senken, sondern insbesondere ein In-schlagen haben. Sie haben noch einen draufgesetzt, in- strument zu einer ökologischen Modernisierung derdem Sie die Abschaffung des Kündigungsschutzes, die Wirtschaft und zu einer Weichenstellung ist, die, wieReduzierung von Arbeitsrechten und die Kürzung von uns Dänemark zeigt, beschäftigungspolitisch positiveSozialleistungen als Beschäftigungspolitik verkauft ha- Effekte hat. ben. Wir werden und müssen hier nachbessern. (Walter Hirche [F.D.P.]: So einfach ist das al- Wir haben jetzt zunächst einmal zwei ganz zentrale les nicht!) und aktuelle politische Herausforderungen zu meistern. Die erste betrifft die Ausbildungsplatznot der Jugendli- – Herr Hirche, es ist doch wirklich erstaunlich: In Dä- chen. Das Sofortprogramm zur Schaffung von 100 000 nemark wurde eine ökologische Steuerreform einge- Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche muß führt, und seit 1993 hat sich dort die Arbeitslosigkeit natürlich sofort umgesetzt werden. In diesem Zusam- halbiert. menhang ist es aber auch außerordentlich wichtig, noch Meine Damen und Herren, es geht also nicht alleineinmal deutlich zu machen, daß es dabei nicht nur dar- um ein schnelles Nachbessern von Fehlern und Ausput- um geht, gesellschaftlichen Sprengstoff zu beseitigen. zen der Hinterlassenschaft der alten Regierung, sondern Wir müssen uns vielmehr noch einmal sehr deutlich ma- am 1. Januar 1999 wird mit diesem ersten und zunächst chen, daß die junge Generation in der Bundesrepublik Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 143

Dr. Thea Dückert (A) ein Anrecht auf moderne und sichere Ausbildung und Damit junge Leute eine Chance haben, muß die Sozi- (C) auf Sicherung ihrer Zukunft hat. alpolitik mehrere Generationen umfassen. Wir müssen uns verdeutlichen, daß die Standardrente auch für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN junge Generation heute zu einer unerreichbaren Fiktion und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der geworden ist. So richtig und wichtig es ist, vier Säulen PDS) in das Rentensystem einzuziehen, so klar muß auch sein, daß wir die demographischen Entwicklungen nur dann Deswegen werden wir als Grüne, wenn unsere Ge- in den Griff bekommen werden, wenn wir die Rentner- sellschaft – auch die Wirtschaft gehört dazu – diesen generation ausgewogen an den Auswirkungen der de- Ausbildungsauftrag nicht ausfüllt, nicht fackeln, über mographischen Verschiebungen beteiligen. eine Umlage dafür zu sorgen, daß das Ausbildungsplatz- angebot erweitert wird. Wir werden es sehen; vielleicht Generationenfragen sind sehr komplizierte Fragen. läuft es anders. Aber die Situation kann sich auch soSie werden noch komplizierter, wenn sie mit vom An- entwickeln, daß das notwendig wird. satz her spannenden, neuen beschäftigungspolitischen Ansätzen diskutiert werden. Ich erinnere an den Vor- Die zweite Herausforderung ist das Bündnis für Ar- schlag des Bundeskanzlers für eineFondslösung für beit. Herr Kollege Riester hat schon richtig gesagt, daß eine volle Rente ab 60. Auch Herr Riester hat es vorhin es hier vor allen Dingen auf ein Umdenken und ein Zu- noch einmal erwähnt. Er will das unterstützen. Dieser sammenführen der gesellschaftlichen Gruppen Vorschlag an- kommt eigentlich vom DGB. Wir müssen kommt. Das wird ein sehr schwieriger Prozeß sein, der hier sehr, sehr sorgfältig diskutieren. Es ist eine gute von außerhalb und auch durch die Arbeitsmarktpolitik Idee, Arbeit zwischen den Generationen zu verteilen. hier im Parlament flankiert werden muß. Wir werdenAber solche Modelle haben immer auch weitere Aspek- Rahmengesetze brauchen, die Arbeitszeitverkürzungte. Der eine ist der beschäftigungspolitische Aspekt, die und Überstundenabbau als zentrale Elemente von Be- Umverteilung. VW hat in dieser Richtung ein interes- schäftigungspolitik verankern, um Umverteilung vonsantes Modell entwickelt, in dem für ausscheidende älte- Arbeit möglich zu machen. Es wird ein schwieriger Pro- re Arbeitskräfte Jugendliche nachvollziehbar neu einge- zeß werden, darüber eine Diskussion hinzubekommen stellt und beschäftigt werden. Eine solche Verbindung und in den Köpfen der Leute die Erkenntnis reifen zuist im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang sehr lassen, daß diese Umverteilung von Arbeit zwischen den schwierig herzustellen. Ich sage dies nur als Merk- Generationen und zwischen den Geschlechtern funktio- posten. niert. Nur dann kann auch begriffen werden, daß wir mittlerweile in einer Welt leben, in der der über 40 Jahre vollbeschäftigte männliche Arbeitnehmer nicht mehr der Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, ich (B) Normalfall ist. muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Schluß. Ich bin fast fertig. Wir haben es mit unsteten Erwerbsbiographien zu Auch eine Fondslösung kommt nicht ohne den Ein- tun. Wir müssen sie in der Sozialpolitik absichern, damit satz von Steuern aus. auch Elemente des Bündnisses für Arbeit, beispielsweise Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung, zum Beispiel (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) von den Frauen und den Jugendlichen überhaupt gelebt – Na klar, denn bei diesem Vorschlag ist ein Teil steuer- werden können. frei gestellt. – Wir müssen darüber diskutieren, ob und wie dabei die Lasten zwischen den Generationen gerecht Meine Damen und Herren, hier vorne zu stehen ist für verteilt werden können. mich ein bißchen neu. Ich hatte vergessen, daß die Uhr rückwärts läuft. Deswegen werde ich jetzt ein bißchen (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das bezah- schneller reden. len alles die jungen Arbeitnehmer!) (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der Diese Frage müssen wir in der Koalition und mit Ihnen CDU/CSU) offen diskutieren. Angesichts dessen, was Herr Riester vorhin vorgetra- Bei uns läuft die Uhr eigentlich vorwärts. gen hat, bin ich wohlgemut, daß wir zu einem sehr kon- Ich möchte noch auf einen ganz zentralen Punkt zustruktiven, produktiven und nach vorne gerichteten neu- sprechen kommen: die Arbeitsmarktpolitik, das Problem en Konzept der Sozial- und Rentenpolitik kommen wer- der Normal- bzw. unstetigen Beschäftigung. Ich hatteden. Ich danke Ihnen. dies eben schon genannt. Diese Veränderungen in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Gesellschaft – unstetige Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten andere demographische Entwicklungen –, führen dazu, der PDS) daß wir in der Sozialpolitik einen neuen Generationen- vertrag diskutieren und entwickeln müssen. Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat für die (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Eine ganz CDU/CSU-Fraktion der Abgeordnete Karl-Josef Lau- neue Erkenntnis!) mann. 144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

(A) Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Präsident! Lieber Herr Riester, wenn Sie die Sozialversicherung (C) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter gegen die Vorstellungen von Lafontaine und gegen die Herr Arbeitsminister Riester, Sie haben eben gesagt, Sie Blütenträume der Grünen verteidigen, werden Sie uns an fänden es nicht so gut, daß Herr Kues in seiner Rede die Ihrer Seite haben, denn wir stehen nahe bei den Arbeit- Oppositionsrolle eingenommen und kritisiert habe. nehmern. Die Grünen und auch die Toskana-Fraktion Ihrer Partei dagegen sind mit ihrem Steuerprinzip weit (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat von den Arbeitnehmern entfernt. Wir werden also sehr er gar nicht gesagt!) gespannt sein, was wir auf diesem Gebiet in den näch- Sie können von uns natürlich nicht erwarten, daß wir so- sten Jahren erleben. zusagen in ewiger Anbetung verharren. Wir müssen uns Ein weiterer Punkt, der mir in der jetzigen Diskussion selbstverständlich mit dem auseinandersetzen, was der große Sorge bereitet, ist: Wenn wir das Sozialversiche- Bundeskanzler und Sie für den Bereich der Sozialpolitik rungsprinzip wollen, dann müssen wir bei der Beitrags- in den nächsten Jahren vorschlagen. bezogenheit bleiben und dürfen nicht immer mehr Steu- ergelder in die Systeme der Sozialversicherung hinein- Wir haben allen Grund, uns mit Ihrer Politik ausein- pumpen, weil dadurch die Sozialversicherung immer anderzusetzen, denn wenige Wochen nach der Bundes- mehr der Beliebigkeit der Haushaltspolitik unterworfen tagswahl haben wir – damit hatte ich im Falle eines wird. SPD-Wahlsieges nun wirklich nicht gerechnet – eine große Sozialstaatsdebatte, weil ein sehr wichtiger Mann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – in Ihrer Partei, immerhin Ihr Bundesvorsitzender und Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr Finanzminister, das Sozialversicherungsprinzip in die- richtig!) sem Lande in Frage stellt. Das ist ein einzigartiger Vor- gang. Ich warne sehr davor, einen solchen Weg über ein be- stimmtes Maß hinaus zu gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Während unserer Regierungszeit, lieber Herr Kollege Ich hätte es einmal erleben wollen, was bei Ihnen losRiester, haben wir denBundeszuschuß zur Rentenver- gewesen wäre und – vor allen Dingen – was Sie, Herrsicherung auf einen Höchststand gebracht. Fast jede Riester, in den letzten Tagen in Frankfurt in der IG-vierte D-Mark des Bundeshaushaltes geht heute in die Metall-Zentrale veranlaßt hätten, wenn ein ähnlichRentenversicherung – ein Höchststand. Ich bin ganz si- wichtiger Mann in der CDU, zum Beispiel unser Vorsit- cher, daß wir damit die versicherungsfremden Leistun- zender, Herr Schäuble, einen solchen Vorschlag ge-gen in einem ganz starken Maß berücksichtigt haben. macht hätte. Die Rentenfinanzierung an eine Ökosteuer zu hängen, (B) die doch den Sinn haben soll, daß mit der Energie spar- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) samer umgegangen wird – eigentlich müßten die Ein- nahmen aus dieser Ökosteuer auch immer geringer wer- Im übrigen bin ich in diesem Jahr 25 Jahre Mitglied der den, wenn sie einen Sinn haben soll –, ist nicht die ver- gleichen Gewerkschaft wie Sie. Ich kenne mich also in läßliche Finanzierung, die wir in der Rentenversicherung dieser Gewerkschaft aus. brauchen. In dieser Sozialstaatsdebatte geht es um die Grund- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sätze unseres Sozialstaates. Ich bin ein Politiker, der die Sozialversicherung für richtig hält. Ich will, daß Arbeiter Ich glaube vielmehr, daß wir weiterhin auf Beitrags- durch Beiträge klare Rechtsansprüche haben, wenn sie bezogenheit setzen müssen. Das bedeutet auch unange- arbeitslos werden. Ich will, daß die Menschen, die pfle- nehme Entscheidungen. Denn allgemeine staatliche gebedürftig sind, durch Beiträge klare Rechtsansprüche Aufgaben, die über die Beiträge zur Rentenversicherung haben, wenn der Pflegefall eintritt. Ich will nicht, daßfinanziert werden, gehören immer wieder auf den Prüf- der Fleißige sein Häuschen verkaufen muß, bevor erstand. Es muß geprüft werden, ob sie nicht über einen eine staatliche Leistung erhält, und daß der, der seinanderen Weg finanziert werden können. Ansonsten wür- Geld in der Toskana ausgegeben hat, vom Staat vonde ich mir große Sorgen machen. vornherein unterhalten wird. Sie sagen, Sie wollen die Rentenversicherung armuts- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- fest machen. Lieber Herr Riester, wir sollten uns doch wie der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD] – bitte über den einen Punkt einig sein: daß unser Renten- Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wo er recht versicherungssystem für fast alle Menschen in Deutsch- hat, hat er recht!) land das Problem der Altersarmut erfolgreich bekämpft hat. Ich kenne kein Alterssicherungssystem in der Welt, Darüber werden wir natürlich schon wenige Wochendas so erfolgreich war wie unseres. nach der Bundestagswahl miteinander streiten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie werden nicht nur die Sozialflügel in meiner Partei, sondern auch die gesamte CDU/CSU-Fraktion als einen Darauf sollten wir stolz sein. Das sind Gemeinsamkei- großen Kämpfer für dieses Versicherungsprinzip ten, in die wir eigentlich immer gehabt haben. Deutschland erleben. Sicherlich muß uns noch etwas einfallen, wie wir ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schämte Altersarmut wirksamer bekämpfen können. Es ordneten der F.D.P.) ist immer ein Problem, wenn jemand, der eine ganz Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 145

Karl-Josef Laumann (A) kleine Rente hat, aus Scham nicht zum Sozialamt gehen Grund der steigenden Lebenserwartung durch den medi- (C) mag. Das können wir statistisch ganz schwer erfassen. zinischen Fortschritt – es ist ja auch sehr schön, daß das Da bin ich, weil wir die Menschen lieb haben, für jeden so ist – verlängert. Wir sind der Meinung, daß die Hälfte Vorschlag sehr dankbar, damit wir auch in diesem Be- der Kosten, die diese Lebensverlängerung in der Rente reich etwas Vernünftiges finden. letzten Endes verursacht, von der Rentnergeneration sel- ber getragen werden soll, die andere Hälfte von den Sie sagen dann, die Rente müsse verläßlich sein. Wis- Jungen. Hebeln Sie dieses Instrument nicht unvorsichti- sen Sie, durch das Aussetzen der demographischengerweise aus! Denn wir brauchen den Generationenver- Formel erreichen Sie, daß die Rente im Juni um 0,3 bis trag in der Rente, sonst ist das System auf die Dauer ka- 0,4 Prozent stärker steigen wird, als wenn wir die Wahl putt, weil die Menschen in die innere Emigration gehen gewonnen hätten. Das bedeutet 6 DM mehr Rente imwerden. Monat bei einer Rente von 2 100 DM; das ist die durch- schnittliche Rente bei der LVA in Münster nach 45 Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sicherungsjahren. Sehr verehrter Herr Riester, die SPD hat im Wahl- (Zuruf von der SPD: Wer hat die?) kampf ein Programm für Lehrstellen für 100 000 Ju- gendliche angekündigt, und Sie setzen es jetzt um. Eine Die Rentner werden dann vielleicht noch einmal 5 oder gute Sache! In bezug auf die Lehrstellensituation gibt es 6 DM mehr bekommen, wenn Sie die Senkung der Sozi- regional große Unterschiede. Das wissen sicherlich auch alabgaben um 0,8 Prozent durchsetzen, weil dann ja 0,4 Sie. Im Münsterland, wo ich herkomme, gibt es noch Prozent auch auf die Rentenerhöhung gehen. Das sind sehr viele freie Lehrstellen. Wenn Sie heute eine Firma dann zusammen vielleicht 12 oder 13 DM. besuchen, werden Sie erleben, daß dort für einen Büro- (Zuruf von der SPD: Es wird immer mehr!) beruf hundert Bewerbungen vorliegen; sucht die Firma aber einen Schlosser oder Klempner, dann wird es en- Gleichzeitig belasten Sie aber jeden Rentnerhaushalt ger. Auch das ist wahr. Also werden wir versuchen müs- mit einer Summe zwischen 40 und 50 DM mehr im Mo- sen, daß wir jedenfalls nicht am Ausbildungsmarkt vor- nat für Heizöl, für Gas, für Benzin und für Strom durch bei etwas machen, was später der Arbeitsmarkt nicht die Ökosteuer. realisiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Das werden die Leute durch einen niedrigeren Steuer- Ich bin aber dafür, etwas zu tun, wenn es regionale Pro- satz und die Kindergelderhöhung nicht kompensierenbleme gibt. können, weil ja in der Regel im Rentenalter, wenn es Unsere ganz große Sorge muß folgendem Punkt gel- (B) sich nicht gerade um Grüne handelt, keine Kinder mehr (D) auf der Steuerkarte stehen. ten: 10 bis 15 Prozent unserer jungen Menschen verlas- sen nach zehn Jahren das allgemeinbildendeSchulsy- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stem und haben in diesen zehn Jahren nicht soviel ge- Bei den Arbeiterfamilien ist das in der Regel nicht so.lernt – das liegt auch an vielen sozialen Faktoren –, daß Sie werden also große Probleme bekommen, auch insie in der Lage sind, eine ganz normale Ausbildung zu diesem Bereich zu sagen, wir hätten die Renten zu weit beginnen. abgesenkt, wenn Sie den Rentnerhaushalt mit derÖko- (Dr. [CDU/CSU]: Das ist der steuer stärker belasten, als Sie ihn mit den 6 DM weni- Punkt!) ger Rentenbeitrag durch die Rücknahme der demogra- phischen Formel entlasten können. Wir sollten erst einmal mit den Ländern darüber spre- chen, was man im Schulsystem verbessern kann, damit (Beifall bei der CDU/CSU) das nicht so weitergeht. Herr Riester, auch eine andere Sache macht mir ganz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) große Sorge – und deswegen können wir nicht in Anbe- tung verharren, sondern müssen das hier aussprechen –: Ich habe mir in den acht Jahren als Mitglied des Sozi- daß Sie die Grundlage der Rentenversicherung zerstören alausschusses des Deutschen Bundestages viele überbe- werden, wenn Sie nicht die Interessen der jüngeren Ge- triebliche Einrichtungen angeschaut. Das ist ja keine neration, meiner Generation, die jetzt aktiv im Arbeits- neue Erfindung. ABH und ähnliche Dinge machen wir ja leben steht, mit den Interessen der Älteren in Einklang heute auch. Arbeiten und Lernen miteinander zu verbin- bringen. den ist im übrigen eine gute Maßnahme. Ich habe mich manchmal gefragt: Warum setzen wir mit diesen Maß- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) nahmen erst dann an, wenn das Kind schon lange in den Es ist doch in jeder Familie so – ich bin noch in einer Brunnen gefallen ist, wenn die jungen Leute viele Jahre Großfamilie aufgewachsen –, daß die Älteren Rücksicht der Demotivation in einer theoretisch geprägten Schule nehmen müssen auf die Jüngeren und daß wir Jüngeren hinter sich haben? auf die Älteren Rücksicht nehmen. So ist es auch in die- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr sem Verhältnis. Welche Leistung kann ich den Men- gut!) schen abverlangen? Da haben wir uns in der Koalition nach langem Überlegen – das ist uns doch nicht leicht- Wir müssen hier eher ansetzen. Es nützt nichts zu gefallen – gesagt: Die Rentenlaufzeiten werden auf schimpfen. Familienstrukturen sind heute zum Teil ver- 146 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Karl-Josef Laumann (A) ändert. Kinder haben es dann schwerer, wenn sie auster oder Mütter – haben durch unsere Politik, durch das, (C) schwierigen sozialen Strukturen kommen. Wir müssen was Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Norbert früher ansetzen, als wir dies mit dem betreffenden Pro- Blüm hier in den letzten Jahren im Streit erreicht haben, gramm des Bundes tun können. Dies ist eine ganz wich- wieder eine Perspektive. Auf diese Zahl bin ich schon tige Frage für die Länder. Herr Schröder – im Gegensatz ein wenig stolz. zu vielen von uns – hätte uns das ja in Niedersachsen acht Jahre lang vormachen können. Aber auch dort ist (Beifall bei der CDU/CSU) nichts passiert. Sehen Sie zu, daß Sie es im Bereich der sozialen Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) cherungssysteme nicht mit den Ausgaben übertreiben. Wenn es am Ende wieder zu einer höheren Inflation Ich glaube, daß wir so in diesem Bereich Probleme lö- kommt, sind die kleinen Leute die Gelackmeierten. Ei- sen. nen Kaufkraftverlust könnten sie trotz der Rentenerhö- Am Ende wird es dann jedoch immer noch eine Rest- hungen nicht ausgleichen. gruppe geben, die wir durch Qualifizierung möglichst Noch ein Satz zur Rente und zur demographischen kleinhalten müssen. Aber man wird nicht jeden Men-Formel. Ihre Maßnahmen im Rentenbereich kosten uns schen Gott weiß wohin qualifizieren können. Das wird im nächsten Jahr 900 Millionen und im Jahr darauf 2,4 auch in der Praxis so sein. Für diese Menschen müssen Milliarden DM. Betrachten Sie einmal den Aspekt der wir Arbeit finden. Ich will, daß derjenige, der acht Stun- Erwerbsunfähigkeit. Ich weiß, daß das, was wir da ent- den am Tag arbeitet, davon leben kann. Ich habe ein sol- schieden haben, sehr schwerwiegend ist. Vergessen ches Menschenbild. sollte man aber nicht, daß es natürlich im Rahmen der Aber es kommt immer wieder vor, daß manche Men- Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe An- schen dies auf dem Arbeitsmarkt nicht erreichen kön-rechnungen gibt. Wenn Sie unsere Entscheidungen zu- nen, weil keiner bereit ist, für ihre Leistungen sovielrücknehmen, werden Sie dafür 4 bis 5 Milliarden DM Geld zu bezahlen. Ich habe einen ganz konkreten Fallbenötigen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das finanzieren aus meinem Wahlkreis vor Augen, und zwar ein Mäd- wollen, wenn Sie gleichzeitig die Beiträge senken. Nach chen, das lernbehindert ist und mit viel Liebe der Eltern acht Jahren im Sozialausschuß weiß ich, daß es in die- die Prüfung als Hauswirtschafterin soeben bestandensem Bereich nicht das Sterntalermädchen gibt, das das hat. Ich bekomme sie nun nirgendwo unter, weil jedes Geld, das vom Himmel kommt, auffängt. Sie können nur Altenheim Tariflohn zahlen muß und sie nun eben ein- das ausgeben, was Sie haben. Ich bin gespannt, Herr mal sehr langsam arbeitet. Es wäre doch viel besser, wir Riester, wie Sie es bewerkstelligen wollen, daß man mit bekämen sie irgendwo in der Küche unter, wo sie einer geringeren Beiträgen mehr bezahlen kann. (B) Arbeit nachgehen könnte, sie bekäme vielleicht den hal- Schönen Dank. (D) ben Lohn und wir würden die andere Hälfte des Lohnes zahlen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. [CDU/CSU]: Riester, der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Adam Riese! – Klaus Lennartz [SPD]: Alles In diesem Fall wird folgendes passieren: Wenn wir nicht Worte für das Protokoll! Herr Kollege, tut mir bald eine Stelle für dieses Mädchen, das ich ganz kon- leid!) kret vor Augen habe, finden, werden die Eltern irgend- wann sagen müssen: Das Kind muß in die Behinderten- werkstatt. Das kostet dann jeden Monat richtig Geld. Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat für die Fraktion der PDS Frau Dr. Heidi Knake-Werner. Für die Grenzfälle zwischen Beschäftigung in einer Behindertenwerkstatt und einer auf dem normalem Ar- beitsmarkt – das müßte jedem, der denken und fühlen Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident! kann, klar werden; eine Lösung wird durch die Kompli- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bun- ziertheit der Welt schwerer – müssen wir eine Lösungdeskanzler hat hier gestern vorgetragen, daß er sich und finden. Wir sollten gemeinsam im Sozialausschuß dar- seine Regierung am Umgang mit der Massenarbeitslo- über nachdenken, was man da tun kann. Ich glaube, daß sigkeit messen lassen will. Er hat die Verringerung der unsere Idee eines Kombilohnes eine tolle Sache ist. Arbeitslosigkeit auch zum wichtigsten Ziel seiner Regie- rungsarbeit erklärt. Herr Bundeskanzler, Sie können sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- darauf verlassen: Wir werden Sie daran messen. ordneten der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Das klingt ja wie eine Lassen Sie mich ganz zum Schluß einen weiteren Drohung!) Aspekt ansprechen. Man sollte jetzt nicht die Bilanzen verfälschen. Wir haben in Deutschland sehr niedrige Aber wenn Sie sich in diesem Ziel selbst ernst neh- Zinsen. Wir haben kaum noch eine Inflationsrate. Wis- men, dann verlangt das eben, vieles ganz anders zu ma- sen Sie eigentlich, daß Rentner und Arbeiter die Profi- chen als die alte Regierung und nicht nur einiges besser teure sind? Ein Prozent mehr Inflation bedeutet einenzu machen. Nach meinem Verständnis verlangt das, jetzt Verlust von Kaufkraft in Höhe von 18 Milliarden DM. energisch Pflöcke einzusetzen für mehr Beschäftigung Die Wirtschaft springt an. Wir haben 400 000 Arbeitslo- und dies nicht dem Ergebnis von Konsensgesprächen zu se wenige als vor einem Jahr. 400 000 Menschen – Vä- überlassen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 147

Dr. Heidi Knake-Werner (A) Ich will Ihre Hoffnung auf einBündnis für Arbeit beitsmarktpolitik mehr zu sagen hat, als Norbert Blüm (C) nicht trüben, obwohl nach meinem Geschmack zu viele schon wußte. Die vielbeschworene Brückenfunktion der daran teilnehmen werden, die sogar die alte Bundesre- aktiven Arbeitsmarktpolitik hat bisher nicht funktioniert. gierung bei Deregulierung und Sozialabbau vor sichSie wird auch zukünftig nicht funktionieren. Das werden hergetrieben haben. Wenn aber ein Bündnis für Arbeit, wir spätestens dann merken, wenn die sogenannten dann erwarte ich von einer rotgrünen Regierung, daß sie Wahl-ABM am Ende dieses Jahres auslaufen und viele mit einem eigenen Konzept zur Beschäftigungspolitik in Frauen und Männer gerade in Ostdeutschland um eine die Gespräche hineingeht und daß nicht schon das Ge- weitere Hoffnung betrogen sind. spräch selbst zum Konzept erklärt wird. Die vom Bun- deskanzler genannten Vorleistungen für diese Gespräche Wir brauchen die Verstetigung der aktiven Arbeits- – wie die Steuerreform, die Senkung der Lohnnebenko- marktpolitik, um dauerhaft Arbeitsplätze in einem öf- sten und das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig- fentlich geförderten Beschäftigungssektor zu schaffen. keit, so gut und richtig ich das finde – reichen mir anMillionen Frauen und Männer könnten hier in sozialen, dieser Stelle nicht. kulturellen und ökologischen Projekten Arbeit finden. Das sind Arbeiten, die jetzt brachliegen, aber für den Haben wir es in der Bundesrepublik und in den ande- notwendigen sozialen und ökologischen Umbau unserer ren kapitalistischen Industrieländern wirklich damit zu Industriegesellschaft unverzichtbar sind. tun, daß Arbeit zu teuer ist und billiger gemacht werden muß? Erinnern Sie sich doch an die Debatten in den Schauen Sie doch einfach einmal nach Ostdeutsch- letzten Jahren, die wir hier gemeinsam geführt haben. land. Dort sind mit öffentlich geförderter Beschäftigung, mit AB-Maßnahmen, mit Strukturanpassungsmaßnah- Haben wir es nicht vielmehr mit tiefgreifenden Um- men eine neue Infrastruktur, neue soziale und kulturelle brüchen der Arbeitsgesellschaft zu tun, die dazu führen, Angebote entstanden, gibt es erschwingliche Beratung daß die Arbeit in den großen produzierenden Bereichen und Dienstleistung sowie Jugendarbeit – Daueraufga- und in den traditionellen Dienstleistungssektoren – auf ben, die bisher leider an der mangelnden Kontinuität Teufel komm raus – weiter wegrationalisiert wird? Ha- kranken. Das wollen wir durch eine Verstetigung in ei- ben wir es darüber hinaus nicht damit zu tun, daß sichnem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ändern. der Staat zunehmend aus seiner Verantwortung für öf- fentliche Dienstleistungen, für Bildung und für Kultur (Beifall bei der PDS) zurückgezogen hat, was mit einem Abbau von Beschäf- Natürlich werden das überwiegend Projekte sein, die tigung verbunden war? Ist es nicht so, daß unter der Re- sich nicht rechnen; da macht sich niemand Illusionen. gierung Kohl viel über die Dienstleistungsgesellschaft Aber diese Projekte werden auch dem Wirtschaftsstand- geredet worden ist, aber immer mehr öffentlicheort Deutschland nutzen. Mehr noch – und das ist uns (B) Dienstleistungen abgebaut wurden? Ich erwarte hier Ihre wichtig –: Sie sind für den Lebensstandort Deutschland (D) Alternativen zur Umkehr dieser Tendenz. unverzichtbar, und das wollen wir befördern. Den Unternehmern die Lohnnebenkosten um 0,4 Pro- (Beifall bei der PDS) zent zu senken wird all diese Probleme nicht lösen. Wenn Sie wirklich die kleinen Unternehmen und die ar- Meine Damen und Herren, die Regierung bekommt beitsintensiven Handwerksbetriebe entlasten wollen,die Unterstützung der PDS immer dann, wenn sie die dann folgen Sie unserem Vorschlag: Berechnen Sie die Rücknahme der größten sozialpolitischen Grausamkei- Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber zukünftig ten der Vorgängerregierung vorhat. Was die Erwerbstä- nach der Wertschöpfung, nicht mehr nach der Lohn-tigen anbetrifft, so haben Sie sich auch eine ganze Men- summe. ge vorgenommen, bis hin – das will ich als kleine ironi- sche Anmerkung hinzufügen – zur Beibehaltung der Re- (Beifall bei der PDS) gelung bezüglich des Jahreswagens. Herr Bundeskanz- Daraus wird wirkliche Entlastung für diese Betriebe und ler, die Kollegen von Daimler und VW werden es Ihnen werden möglicherweise auch die von Ihnen gewünsch- danken. ten Beschäftigungseffekte entstehen. Weniger zufrieden werden allerdings die Betriebsräte Ich bin zutiefst beunruhigt, daß mit Blick auf dassein, die Sie mit Ihrer Absicht der Besteuerung vonAb- Bündnis für Arbeit in der Regierungserklärung keinfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen schok- Wort zum Überstundenabbau und kein Wort zurAr- kieren. Hier langen Sie gleich zweimal zu, wenn Sie beitszeitverkürzung vorkommt, daß nichts dazu gesagt nicht sofort die bestehenden Regelungen im SGB III zu- wird, wie die Tarifverhandlungen, die zweifelsohne den rücknehmen; das wissen Sie genau. Dann nämlich wer- Kern dieses Bündnisses bilden, mit sinnvollen gesetzli- den Sie die Abfindung nicht nur auf das Arbeitslosen- chen Rahmenbedingungen begleitet werden sollen. Wer geld anrechnen, sondern sie zusätzlich noch besteuern. Massenarbeitslosigkeit ernsthaft bekämpfen will, wird Damit ist der Schutzgedanke von Abfindungen bei be- um eine Novellierung des Arbeitszeitgesetzes nicht her- triebsbedingten Kündigungen flöten. Dagegen werden umkommen. Wir werden darum entsprechende Initiati- wir auftreten. ven vorschlagen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts oder nichts Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte auch er- Gutes von der neuen Regierung zu erwarten haben all wartet, daß die Regierung Schröder zur aktivenAr- diejenigen, die ohne Arbeit sind. Ich gebe aber un- 148 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Dr. Heidi Knake-Werner (A) umwunden zu: Im Verpacken sind Sie besser als die alte und nur jenen Leistungen zukommen lassen will, die ab- (C) Regierung. Wo Ihre Vorgänger noch von sozialer Hän- solut nichts mehr haben. Das ist nicht nur unsozial, son- gematte und nationalem Freizeitpark schwadronierten, dern vor allem frauenfeindlich, wie wir aus der Praxis spricht der Bundeskanzler Schröder vom sozialen Netz, der heutigen Bedürftigkeitsprüfungen längst wissen. Das das zum Trampolin werden müsse. Jede und jeder soll in ist eben nicht Zielgenauigkeit von sozialen Leistungen; ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern können. das ist nichts anderes als Stammtischlogik. Ein wunderschönes Bild, und wer wollte das nicht? Aber (Beifall bei der PDS) warum federn sie heute eigentlich nicht? Weil die so- zialen Sicherungssysteme sie in der berühmten Sozial- Wir wollen auch, daß die schlimmsten Verschärfun- staatsfalle festhalten, oder weil sie zu sehr im Besitz-gen für Arbeitslose im SGB III zurückgenommen wer- standsdenken verhaftet und unflexibel sind? Das sind die den, und dazu gehört für uns zuallererst die Zumutbar- Argumentationsmuster von gestern. Welches aber sind keitsregelung, die binnen kürzester Zeit jede Qualifika- Ihre? Von Armut, von sozialer Ausgrenzung habe ich in tion entwertet. Dazu gehören Vorschriften zur Melde- Ihrer Regierungserklärung nichts gehört. pflicht und zur Beschäftigungssuche – alles Maßnah- men, mit denen man Arbeitslose drangsaliert, statt sie zu Natürlich sind wir uns einig in dem Vorschlag, Arbeit fördern. Vor kurzem waren wir uns darin mit SPD und statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Die Frage ist nur: Bündnisgrünen noch sehr einig. Welchen Weg wollen Sie da gehen? Ich muß gestehen: Was diesbezüglich der Kollege Arbeitsminister hier Wir unterstützen natürlich IhrSofortprogramm für vorgetragen hat, macht mich nicht froh. Das riecht doch 100 000 arbeitslose Jugendliche. Wir könnten hier sehr nach Kombilohn, nach weiterer Ausweitung vonvielleicht einen Schritt weiter sein, wenn Sie in der Niedriglohnsektoren, nach Beibehaltung bestehenderletzten Legislaturperiode unserem diesbezüglichen An- Formen von Zwangsarbeit, wie wir sie heute haben.trag zugestimmt hätten. Wenn es aber darum geht, jun- Diesen Weg wollen wir nicht. Hier werden wir entspre- gen Menschen eine wirkliche Perspektive zu geben, chenden Gegendruck entfalten. dann reicht es nicht aus, sie auszubilden; dann muß auch dafür gesorgt werden, daß sie über die Übernahme in ein (Beifall bei der PDS) Arbeitsverhältnis für mindestens ein Jahr den Fuß in die Wir haben wie viele Erwerbslose erwartet, daß SieTür des Erwerbslebens bekommen. die schlimmsten Verschärfungen des Arbeitsförderungs- (Beifall bei der PDS) rechts im SGB III zurücknehmen. Leider Fehlanzeige! Noch vor wenigen Monaten haben wir hier gemeinsam In diesem Zusammenhang über die Chancen und der alten Regierung vorgeworfen, daß sie statt der Ar-Notwendigkeiten eines Generationenvertrages nachzu- beitslosigkeit vor allen Dingen die Arbeitslosen be-denken, halten wir für dringend geboten. Formen des (B) (D) kämpft. Sie sind auf dem besten Wege, in das gleicheflexiblen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben – freiwillig Fahrwasser zu geraten. Der Eindruck entsteht, daß Sie und sozial gesichert – sind hier ebenso wichtig wie die hier an neoliberaler Kontinuität festhalten, und er ver- generelle Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wie sie jetzt stärkt sich, wenn man die von losge- in der Diskussion ist. tretene Diskussion zur Pflege - und Arbeitslosenversi- cherung hinzunimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierung hat die Rücknahme der Sozialkürzungen der Kohl-Ära bei Ich will ja dem SPD-Parteivorsitzenden nicht unrecht der Rente angekündigt. Die Absenkung des Rentenni- tun. Natürlich ist es erlaubt und notwendig, über die Zu- veaus ist heute schon häufig genannt worden. Wir unter- kunft der sozialen Sicherungssysteme nachzudenken,stützen das, auch wenn uns nicht gefällt, daß das nur insbesondere dann, wenn durch die enge Koppelung an ausgesetzt werden soll. Wir meinen aber, die Erhöhung die Erwerbsarbeit ihre Finanzierung immer unsicherer des Renteneintrittsalters für Frauen und für Schwerbe- wird, weil immer weniger Männer und Frauen – für sie hinderte gehört auch unbedingt zurückgenommen. Auch galt das ja ohnehin nie – kontinuierliche Erwerbsverläu- zurückgenommen gehören – darüber ist hier noch gar fe haben. Die Auflösung der Regelmäßigkeit der Nor-nicht gesprochen worden – die Regelungen, in den malarbeitsverhältnisse, die ungerechte Verteilung von Spargesetzen der Kohl-Regierung mit denen Anrech- bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und nungszeiten für Ausbildung zusammengestrichen wor- Frauen machen in der Tat eine solche Diskussion not- den sind. Gerade auch hier werden Frauen doppelt be- wendig, und hier würden wir gern mittun. trogen, weil viele von ihnen die Bildungsoffensive der ersten sozialliberalen Koalition genutzt haben, um sich Das Problem bei Oskar Lafontaine ist auch nicht die über den zweiten Bildungsweg zu qualifizieren. Sie Frage der Steuerfinanzierung. Auch wir wollen sie; wir heute dafür mit Rentenabstrichen zu bestrafen, halten haben das selber mit unserem Pflegeassistenzgesetz und wir für absolut unzumutbar. mit einer Vorlage zur Grundsicherung vorgeschlagen. Wir wollen ebenfalls die Renten- und Arbeitslosenversi- (Beifall bei der PDS) cherung von Kosten entlasten, die gesamtgesellschaft- lich zu tragen sind und die nicht allein auf die abhängig In diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den pre- Beschäftigten übergewälzt werden dürfen. Fatal an der kären Beschäftigungsverhältnissen, zur Scheinselbstän- Diskussion von Oskar Lafontaine finde ich, daß er diedigkeit, zu 620-DM- und 520-DM-Jobs. Sie haben un- Bedürftigkeitsfrage mit hineingebracht hat sere Unterstützung immer dann, wenn Sie diese endlich sozialversicherungspflichtig machen und den massen- (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Jawohl!) haften Ausstieg aus der Solidargemeinschaft eindämmen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 149

Dr. Heidi Knake-Werner (A) wollen. Wir haben allerdings erhebliche Zweifel, daßGerechtigkeitsdefizit in diesem Lande, das unter ande-(C) der Weg, den Sie einschlagen, der richtige ist, weil wir rem dazu geführt hat, daß die Wählerinnen und Wähler fürchten – darin sind wir uns einig mit der stellvertre-sie abgewählt haben, tenden DGB-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer –, daß die bei 300 DM angesiedelte Bagatellgrenze zu hoch ist. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: So was wie Sie fordert förmlich dazu heraus, Arbeitsverhältnisse Sie wollten die auch nicht!) weiter aufzusplitten. zu beseitigen. Mit Beginn des Jahres 1999 werden wir dieerste Vizepräsident Rudolf Seiters: Kollegin, kommen Stufe der Steuerreform in Kraft setzen, die vor allen Sie bitte zum Schluß. Dingen die Normalverdiener entlastet und die Ernst macht mit der finanziellen Förderung von Familien. Fa- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Ich komme gleich milien mit zwei Kindern werden 100 DM mehr in der zum Schluß. Wir haben auch kein Verständnis dafür,Tasche haben. daß Sie die Arbeitgeber statt zu der bisherigen Pauschal- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS steuer nun zu Sozialversicherungsbeiträgen verpflichten, 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hermann Kues den Geringstverdienerinnen ab 300 DM monatlich aber [CDU/CSU]: Stimmt doch einfach gar nicht! auch den Sozialversicherungsbeitrag für die Rente und Sie müssen zuzahlen!) die Lohnsteuer aufbürden wollen. Das ist nicht unser Konzept. Wir wollen, daß die Arbeitgeber bis zum Exi- – Diese Regierung redet nicht nur von der Senkung der stenzminimum der Beschäftigten beide Anteile der So- Lohnnebenkosten, Herr Dr. Kues, sondern sie senkt sie zialversicherungsbeiträge bezahlen, weil wir diese Ar- tatsächlich. Sie stabilisiert die Rentenbeiträge nicht nur, beitsverhältnisse zugunsten regulärer Arbeitsverhältnisse sie senkt sie um 0,8 Prozent. Sie wissen: Wären Sie an unattraktiv machen wollen. der Regierung geblieben, hätten wir die Rentenbeiträge erhöhen müssen. Das ist Fakt. Ein letztes Wort an den Kollegen Arbeitsminister. Ich muß, Herr Minister Riester, eine tiefe Enttäuschung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten loswerden: Wenigstens von Ihnen hätte ich erwartet, daß des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie es nach 16 Jahren Kohl, nach 16 Jahren des Abbaus von Gewerkschaftsrechten als eine Ihrer ersten Initiati- Diese Regierung sichert Arbeitnehmerrechte, nach- ven begreifen – sozusagen als Ihr Herzblut –, eine In-dem diese in den letzten Jahren Zug um Zug abgebaut itiative zu starten, die den Abbau von Gewerkschafts-worden sind. Man spürt das draußen in den Diskussio- nen: Zum erstenmal seit vielen Jahren zucken die Men- (B) rechten zurücknimmt, und den Vorschlag machen, das (D) vollständige Streikrecht der Gewerkschaften wiederschen bei der Erwähnung des Begriffs Reform nicht durchzusetzen mehr zusammen – weil sie nicht wissen, was jetzt wie- der auf sie zukommt –, sondern setzen ihre Hoffnung in (Beifall bei der PDS) eine positive Politik. Ich sage Ihnen: Wir werden diese positive Politik umsetzen. durch die Wiedereinführung des alten § 116 AFG. Auch hier können Sie eine Initiative unsererseits erwarten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Ich bedanke mich. 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der PDS) Die Hoffnung richtet sich darauf, daß manches von dem, was Sie gemacht haben, demnächst eingeleitet wird, wie sonst die Märchen eingeleitet werden: „Es war Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die einmal . . .“ Es wäre auch schön, wenn wir „Es war ein- SPD-Fraktion hat die Kollegin Ulla Schmidt. mal ...“ zu dem sogenannten Wachstums- und Beschäf- tigungsförderungsgesetz von 1996 sagen könnten. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Präsident! Liebe (Beifall bei der SPD) Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich nicht wun- dern, wenn ich, entgegen allen Kassandrarufen heuteWie im Märchen hatten Sie uns versprochen, daß Ar- morgen, sage: Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Re- beitsplätze geschaffen werden, zum Beispiel durch gierung. Hier zu stehen, zur Regierungserklärung zu re- Aufweichung des Kündigungsschutzes und durch Ein- den und zu wissen, daß ich nach vielen Jahren im Par- schnitte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Tat- lament endlich das, wofür ich jahrelang gestritten habe, sache ist jedoch, daß allein die Kürzung der Lohnfort- wofür ich bei den Frauen und Männern in diesem Land zahlung im Krankheitsfall zwar die Unternehmen um geworben habe, mit dieser Regierung auf den Weg brin- Milliardenbeträge entlastet hat, aber dafür keine Ar- gen kann, das tut gut. Wir sind auf dem richtigen Weg. beitsplätze geschaffen hat. Das ist ungerecht, Herr Dr. Kues. Diese Ungerechtigkeit werden wir beseitigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich verstehe, daß es Ihnen im Moment anders geht. Diese Regierung ist kaum 14 Tage im Amt, und bereits Als ob diese Ungerechtigkeit ein Beweis für die positive jetzt hat sie Vorleistungen erbracht, um das bestehende Wirkung der alten Bundesregierung sei, werden wir 150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Ulla Schmidt (Aachen) (A) heute den ganzen Morgen davor gewarnt, diese und an- versicherungspflicht. Viele, die diesem Bundestag(C) dere Schandtaten endlich abzuschaffen. schon länger angehören, werden sich vielleicht daran erinnern, daß 1997 unsere ehemalige Kollegin Babel in Frau Kollegin Schwaetzer, Sie sagen, die rotgrüneihren Pressemitteilungen und hier im Plenum stolz ver- Regierung mache eine Rolle rückwärts; ich lasse jetztkündet hat, daß die F.D.P. zum fünftenmal die geringfü- einmal beseite, ob Sie die Rolle rückwärts nicht viel-gigen Beschäftigungsverhältnisse als die Errungenschaft leicht mit einer Hechtrolle verwechseln. Haben Sie alle des Sozialstaates verteidigt hat. denn nicht begriffen, daß der Souverän, das Volk, Sie abgewählt hat, weil er nicht wollte, daß es in diesem (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Jürgen Lande so weitergeht, weil er wollte, daß sich etwas ver- Koppelin [F.D.P.]: So hat sie das nie gesagt!) ändert? – Sie hat gesagt: als letzte Freiheit im Unternehmertum. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Ich habe die Zitate hier. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht hier nicht – wie Sie es angesprochen haben – um die Frage von Abkassieren Sie können in Ihren Reden doch nicht so tun, als wäre oder Füllen von Kassen. das alles nicht geschehen. Wenn die Wählerinnen und Wähler ein „Weiter so“ gewollt hätten, dann säßen Sie (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Doch!) heute auf der Regierungsbank und nicht die SPD und die Grünen. Es wäre wirklich zu kurz gedacht, wenn wir so argu- mentieren würden. Im Gegensatz zu Ihrer Politik basiert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS unsere Politik darauf, daß wir die Erosion des Sozial- 90/DIE GRÜNEN) staates, daß wir Wettbewerbsverzerrungen und Sozial- Der Widerspruch zwischen Ihren offiziellen Reden dumping nicht billigend in Kauf nehmen werden. und den persönlichen Erfahrungen der Menschen war (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einfach zu groß geworden, zum Beispiel bei der Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hauptung, die Kürzung der Lohnfortzahlung habe mit dazu beigetragen, daß die Krankenstände abgesenktWir werden es nicht zulassen, daß 5,3 Millionen Arbeit- wurden. Abgesehen davon, daß das einzige Mittel, um nehmerinnen aus ihrer Erwerbstätigkeit keine eigene so- Krankenstände wirklich abzusenken, ist, daß in Betrie- ziale Sicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheits- ben motiviert wird und daß krankmachende Bedingun- fall und kein Mutterschaftsgeld erhalten. Was an dieser gen am Arbeitsplatz beseitigt werden müssen. Art von Arbeitsverhältnissen frauenfreundlich ist, Kol- (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS legin Schwaetzer, darüber würde ich mich gerne mit Ih- (D) 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten nen unterhalten; um das nachvollziehen zu können, bin der PDS) ich wahrscheinlich nicht intelligent genug. Das ist in vielen großen Betrieben geschehen. Unbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten streitbar ist doch, daß die Belegschaften durch vorzeitige des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Verrentung dauernd verjüngt wurden, daß die stetig PDS) steigende Zahl der geringfügig Beschäftigten das Volu- Sie haben das nicht nur in Kauf genommen. Durch men der Krankheitstage gesenkt hat. 520-/620-DM- Ihre Politik haben Sie viele Arbeitgeber geradezu er- Arbeitsverhältnisse sind sozial ungerecht und diszipli- muntert, statt existenzsichernder Vollzeitarbeitsplätze nieren schon allein deswegen, weil die Not der Beschäf- und Teilzeitarbeitsplätze sozial ungeschützte Arbeits- tigten sie dazu zwingt, ihre Arbeit trotz Krankheit zu verhältnisse zu schaffen. Es war ja auch sehr verlok- verrichten. Ich sage Ihnen ganz klar: Ein Ruhmesblatt kend, mit der indirekten Subventionierung von Lohnko- für den Sozialstaat, wie Sie es heute immer gesagt ha- sten sich leichten Herzens Wettbewerbsvorteile ver- ben, ist das wahrlich nicht. schaffen zu können. Damit haben Sie zugelassen, daß Darüber hinaus führte dieses Gesetz zu massiver Un- die Unternehmer und Arbeitgeber, die ihre sozialen gerechtigkeit bei den Beschäftigten. Diejenigen, dieVerpflichtungen erfüllt haben, die ihre Arbeitnehmerin- durch starke Gewerkschaften und Tarifverträge abgesi- nen und Arbeitnehmer sozial abgesichert haben, immer chert sind, erhalten eine 100prozentige Lohnfortzahlung; höhere Lohnnebenkosten aufgebürdet bekamen, genauso andere, die nicht so abgesichert sind und zumeist zuwie die Beschäftigten selbst, weil immer weniger in die denjenigen gehören, die am wenigsten verdienen, wer- sozialen Kassen eingezahlt und dadurch für die, die ein- den für Krankheiten bestraft. Deshalb sage ich Ihnengezahlt haben, alles teurer geworden ist. ganz klar: Ich bin froh, daß diese Bundesregierung mit einem ihrer ersten Schritte diese Ungerechtigkeit besei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tigen wird. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das müßte eigentlich Ihrer Philosophie von Wettbe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der werbsfähigkeit ganz enorm widersprechen. PDS) Deshalb haben wir versprochen, diesen Mißstand zu Die zweite Frage ist dieEinbeziehung der unge- beseitigen. Wir werden die Geringfügigkeitsgrenze auf schützten Beschäftigungsverhältnisse in die Sozial- monatlich 300 DM festsetzen. Wir werden die Privile- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 151

Ulla Schmidt (Aachen) (A) gierung der geringfügigen Nebenbeschäftigung beseiti- Herr Kollege Laumann, (C) gen, (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja!) (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie werden damit Sie haben ja recht, daß dieSolidargemeinschaft davon die Schwarzarbeit fördern!) lebt, daß jeder und jede nach seinen bzw. ihren Mög- weil niemand einsehen wird, warum der Facharbeiter, lichkeiten Beiträge leistet und dadurch individuelle Ri- der Überstunden ableistet, mit seinen Löhnen voll in die siken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität Sozialversicherung zahlt, während der andere, der neben durch Rechtsansprüche abgesichert sind. Aber wenn Sie einem sozialpflichtigen Arbeitsverhältnis eine Nebenbe- einmal ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, daß doch schäftigung hat, nicht in die Sozialversicherungskassen genau Sie – nicht Sie persönlich, sondern Sie mit Ihrer einzahlt; das untergräbt auf Dauer den Sozialstaat und Bundestagsfraktion, als Sie noch in der Regierung waren – die Solidarität. es gewesen sind, die durch die immer stärkere Abwäl- zung der Lasten auf diejenigen, die tatsächlich bedürftig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind, auf die Kranken, auf die Arbeitslosen, auf die Al- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) leinerziehenden, auf die Frauen, genau diese Rechtsan- Wir werden die Arbeitgeber verpflichten, ihren Beitrag sprüche ausgehöhlt haben und damit einen der Grund- zur Sozialversicherung für Tätigkeiten ab 300 DM zusätze unseres Sozialstaates – daß wir keine Entwicklung leisten. zu einem karitativen Wohlfahrtsstaat, sondern einen Sozialstaat mit einklagbaren Rechtsansprüchen wollen – Wir werden Ausnahmen bei der Saisonbeschäftigung aufheben wollten. zulassen; sie bleibt sozialversicherungsfrei. Damit er- halten wir die Flexibilität überall dort, wo sie gebraucht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird. Das macht deutlich: Wir werden nicht die gering- der PDS) fügige Beschäftigung abschaffen. Es geht uns nicht um Deshalb sehen Sie mich auf Ihrer Seite, wenn es darum ihre Beseitigung, sondern um die Beseitigung des Miß- geht, diese Rechtsansprüche beizubehalten und auch zu brauchs und der Flucht aus der Sozialversicherung. Ge- verwirklichen. Denn ich sage Ihnen ganz klar: Bei aller nauso werden wir den Skandal der Scheinselbständigkeit Notwendigkeit, über die Zielgenauigkeit von Soziallei- beseitigen. stungen und über die Effizienzsteigerung auch der Lei- (Beifall bei der SPD) stungssysteme zu streiten, ist der Erhalt dieser Rechtsan- sprüche für mich die Basis, auf der alle Reformen auf- Kolleginnen und Kollegen, ich muß hier noch einmal gebaut werden müssen; denn sie allein schaffen Freiheit, etwas klarstellen, was offensichtlich bei einigen von Ih- und mit ihnen wird die Würde des Menschen respektiert. (B) nen falsch angekommen ist. Ich höre heute morgen im- (D) mer etwas von sozialer Ungerechtigkeit, die mit unserer Die heute vom Bundesarbeitsminister angekündigte Politik verbunden ist. Verstärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist im übrigen ein Weg in diese Richtung. Wir kehren das be- (Zuruf von der CDU/CSU: Leider!) stehende Verhältnis von aktiver zu passiver Leistung Mir klangen die Ohren; ich dachte immer, Sie reden von Zug um Zug um. Damit machen wir nicht nur die In- Ihrer Politik. strumente staatlicher Arbeitsmarktpolitik effizienter; vielmehr konzentrieren wir die finanzielle Leistung vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS rangig auf Investitionen in die menschliche Arbeitskraft. 90/DIE GRÜNEN) Das ist auf Dauer eben nicht nur sinnvoller, vielmehr ist Ich sage Ihnen ganz klar: Der Unterschied ist, daß wir es auch billiger, und es entspricht unserer sozialdemo- mit unserer Politik und mit der gestrigen Regierungser- kratischen Auffassung von Sozialpolitik. Sie ist dadurch klärung des Bundeskanzlers Schröder endlich Abschied gekennzeichnet, daß durch staatliche Rahmenbedingun- nehmen von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung in gen nicht nur Türen geöffnet werden müssen; vielmehr dieser Gesellschaft, von der Ausgrenzung und Entsoli- soll es durch die Förderung der eigenständigen Existenz- darisierung gegenüber Sozialhilfeempfängern, von der sicherung den Menschen ermöglicht werden, auf eige- Ausgrenzung und Entsolidarisierung gegenüber den Ar- nen Füßen durch diese Türen zu gehen und den Weg beitslosen, von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung selber zu bestimmen, den sie gehen wollen. gegenüber Alleinerziehenden, gegenüber Frauen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gegenüber den Jugendlichen in unserem Land. Sie reden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der immer von sozialen Ungerechtigkeiten und sehen gar PDS) nicht, daß es Ihre Politik der letzten Jahre gewesen ist, die zu genau diesen Ungerechtigkeiten geführt hat. Das ist die Basis, auf derFreiheit geschaffen wird. Das ist die Basis, mit der die Würde des Menschen re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS spektiert wird. Deshalb stehen wir für eine andere Poli- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten tik, eine Politik, die gerecht die Lasten und Chancen der PDS) verteilt, eine Politik, die die Erwerbsarbeit verteilt, eine Für all die, von denen ich jetzt gesprochen habe, galtPolitik, die Chancengleichheit in Bildung und in Kultur nicht mehr das Prinzip, daß alle, und zwar auch die mit durchsetzt, eine Politik, die die Benachteiligung der Ge- den stärkeren Schultern, für diejenigen in unserer Ge-schlechter überwindet und die Zukunftsperspektiven für sellschaft einstehen, die in Not geraten sind. junge Menschen schafft. 152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Ulla Schmidt (Aachen) (A) Ohne Gerechtigkeit, ohne Solidarität und ohne so-ner Fraktion für die Beantwortung dieser Fragen eintre- (C) ziale Sicherheit ist Demokratie auf Dauer nicht lebens- ten. fähig. Sie kann auch nicht mehr so blühen, wie wir es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alle wollen. Deshalb ist unsere Politik ein Beitrag zur des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verfestigung der Demokratie und der demokratischen Strukturen in unserem Lande. Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen. Wenn es darum geht, jungen Menschen eine Perspektive (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu geben, dann geht es auch darum, daß die jungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frauen in der Erwerbstätigkeit die gleichen Chancen Ein letzter Punkt. In seiner Regierungserklärung hat wie die jungen Männer erhalten. der Bundeskanzler gestern auf das Versagen der alten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundesregierung angesichts der horrendenJugendar- beitslosigkeit hingewiesen. Ich muß Ihnen, Kolleginnen Junge Frauen wollen einen Beruf erlernen, der ihren Fä- und Kollegen, einmal ehrlich sagen: Ich habe Ihre Re- higkeiten und Kompetenzen angemessen ist und sie fi- aktionen gestern überhaupt nicht verstanden, als Sie bei nanziell unabhängig macht. Die jungen Frauen können der Regierungserklärung so laut gelacht haben. sicher sein, daß wir bei unseren politischen Vorstellun- gen und in der Gesetzgebung darauf achten werden, daß ( [CDU/CSU]: Gestern, das war das auch umgesetzt wird. Das ist nicht nur eine Frage eine bodenlose Frechheit!) von Demokratie – wie es die Gleichstellung der Ge- Es ist doch unbestreitbar, daß es Ihnen nicht gelungen schlechter eben ist –, sondern auch eine Frage der Zu- ist, den dramatischen Verlust von Ausbildungsplätzen kunftsfähigkeit des Sozialstaates. aufzuhalten. Auch bestreitet niemand mehr ernsthaft, Wenn wir wissen, daß die lebenslange Erwerbsbio- daß die hohe Jugendarbeitslosigkeit die Integration jun- graphie für Männer in der Zukunft nicht mehr so sein ger Menschen gefährdet. Deshalb war Ihr Lachen fehl wird, wie sie es in der Vergangenheit war, sondern sich am Platz. Es entspricht doch auch dem christlichen Bild derjenigen der Frauen anpaßt, dann entspricht es dem vom Menschen, daß er sich selber ernähren kann. Wenn Sozialstaatsgebot, dafür zu sorgen, daß junge Frauen ih- dem so ist, dann springen Sie doch einmal über Ihren re Existenz genauso wie junge Männer sichern können Schatten. Warum begrüßen Sie es hier nicht, daß wir ein und daß in den sich wandelnden Welten – auch in der Programm zur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen Berufswelt, die von Phasen der Weiterbildung, der Ar- für junge Frauen und Männer auflegen? beitslosigkeit und des Wiedereinstiegs gekennzeichnet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sein wird – in einer Familie immer einer der Partner in 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Lage ist, die Existenz der Familie zu sichern. Wer (B) (D) der PDS) das nicht sicherstellt, der zielt darauf ab, daß diese Risi- ken der Erwerbsbiographien in Zukunft immer durch Es geht nicht nur darum, daß wir damit die Jugendar-staatliche Leistungen aufgefangen werden. Auch das beitslosigkeit bekämpfen; es geht auch darum, daß wir würde den Sozialstaat sprengen, und auch das werden dadurch das Fundament unserer Gesellschaft, Freiheit, wir nicht mitmachen. Denn der Sozialstaat der Zukunft Toleranz und Demokratie, verteidigen, indem wir jun- verlangt, daß junge Frauen und Männer gleiche Chancen gen Menschen wieder eine Chance in dieser Gesellschaft haben, damit die Familien gleiche Chancen haben. geben und ihnen eine Perspektive eröffnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Ein weiterer Punkt, Herr Kollege Laumann, betrifft 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten das, was Sie über die Bedingungen für Kinder, die hier der PDS) aufwachsen, gesagt haben. Haben Sie denn einmal dar- über nachgedacht, wie diese Gesellschaft eigentlich in Ich glaube, daß Frauen und Männer in diesem Lande zehn Jahren aussehen soll? Wenn wir zulassen, daßVeränderungen wollen. Sie erwarten von uns zu Recht, mehr als 10 Prozent einer Generation den Weg in dendaß wir neue Maßstäbe setzen; sie erwarten, daß Solida- ersten Arbeitsmarkt oder zu einer Ausbildung nicht fin- rität und Gerechtigkeit wieder eine Bedeutung erlangen. den, dann stellt sich die Frage, wie diese Menschen über Sie sind bereit, sich den Anforderungen des Jahre hinweg in das Erwerbsleben integriert werden21. Jahrhunderts zu stellen, verlangen aber, daß es dabei sollen. Sie werden doch der Erwerbsarbeit entwöhnt. gerecht zugeht. DieseGerechtigkeit – auch bei Ent- scheidungen unter finanziellen Zwängen – ist das, was (V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- ich den Menschen in diesem Lande von dieser Stelle aus mer) zusage. Dazu werden wir, liebe Kolleginnen und Kolle- Wer will mit mir denn noch über die Zukunftschan- gen, mit dieser Regierung an unserer Seite einen guten cen für Familien reden, wenn wir nicht die Bedingungen Schritt nach vorne machen. Das ist gut für Deutschland, dafür schaffen, daß junge Frauen und Männer durch Si- das ist gut für die Familien, und das ist gut für die Men- cherung ihrer eigenen Existenz auch Bedingungen fürschen, die in Deutschland leben. eine partnerschaftliche Erziehung ihrer Kinder und für Vielen Dank. ein Leben ohne Sorge für die nachwachsende Genera- tion schaffen können. Das müßte Ihnen doch zu denken (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS geben. Das entspricht doch auch dem christlichen Men- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten schenbild. Deshalb müßten Sie jetzt eigentlich mit mei- der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 153

(A) Vizepräsidentin Dr. : Zu einer Kurz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin (C) intervention erteile ich jetzt dem Kollegen Laumann das Schmidt. Wort. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Kollege Lau- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Frau Kollegin mann, ich bin für einen Wertekonsens und auch für ei- Schmidt, Sie haben mich persönlich angesprochen. Sie nen christlichen Wertekonsens, wenn er in dieser Ge- haben gesagt, daß Sie einen Wohlfahrtsstaat sellschaft sein soll – aber dann bitte einen ehrlichen. (Klaus Lennartz [SPD]: Sozialstaat!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mit Rechtsansprüchen wollen und daß wir nach Ihrer Ich möchte auf ein paar Dinge eingehen, die Sie an- Meinung in den letzten Jahren zu viele Kürzungen vor- gesprochen haben. Ich habe nicht davon gesprochen, daß genommen hätten. ich den Sozialstaat zu einem Wohlfahrtsstaat weiterent- (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Da hat sie recht!) wickeln will. Ich habe gesagt: Ich persönlich halte es für eine Errungenschaft des Sozialstaates, daß wir wirklich Dazu möchte ich einfach einmal anmerken, daß wir nach die Absicherung individueller Risiken durch die ge- meiner tiefen Überzeugung in derSozialpolitik das setzliche Sozialversicherung und die daraus erwachsen- Ganze nur gerecht und bezahlbar gestalten können, den Rechtsansprüche gewährleisten. Das verhindert, wenn wir soziale Leistungen mitEigenverantwortung daß das eintreten kann, was Sie als Beispiel genannt ha- verbinden. ben – daß man in Zeiten, in denen man in individuelle (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!) Notlagen gerät oder individuelle Risiken austragen muß, Deswegen haben wir in der letzten Wahlperiode zumsofort alles, was man erspart oder für das Alter oder zur Beispiel gesagt: Außer beim Vorliegen bestimmter so- Existenzsicherung der Familie beiseite gelegt hat, ein- zialer Voraussetzungen – Sozialklausel, Überforde-bringen muß, ehe man Empfänger von staatlichen Lei- rungsklausel – gibt es im Gesundheitssystem Zuzahlun- stungen wird. gen. Das war richtig, denn die Leute müssen mit den (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sagen Sie Leistungen des Gesundheitssystems sparsam umgehen. das Herrn Lafontaine! Das müssen Sie mit La- Daß es richtig war, sehen wir jetzt auch an Ihrem Re- fontaine besprechen!) formentwurf: Wenn Sie bei den Zuzahlungen eine Mark wegnehmen, dann ist das, gemessen an der Ankündi-Das unterscheidet sich eben von dem, was ein karitativer gung, sie abzusenken, eher eine Lachnummer. Wohlfahrtsstaat ist, weil der karitative Wohlfahrtsstaat immer nur bei der Bedürftigkeit ansetzt und die Bedürf- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum haben tigkeitsprüfung voraussetzt. (B) Sie das nicht gemacht?) (D) (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das macht doch Sie werden Eigenverantwortung mit Sozialleistungen Lafontaine!) verbinden müssen. Das ist richtig und wird an einem Beispiel deutlich: Wenn ich vier Wochen zur Kur fahre, Ich habe nur darauf hingewiesen, daß Sie bei allem, muß ich dafür als Eigenverantwortungsteil eine Woche worin wir beide uns wahrscheinlich einig sind, mit Ihrer Urlaub einbringen. Nur so kann das doch funktionieren. Politik – mit der Sie immer mehr Belastungen, die durch Sie müssen immer eine Lösung finden, bei der die wirk- individuelle Lebensrisiken entstehen, auf die Betroffe- lich Bedürftigen die Leistung bekommen, aber diejeni- nen selber verlagert haben, mit der Sie dazu beigetragen gen, die sie nicht unbedingt brauchen, sie nicht mithaben, daß aktivierende Maßnahmen, zum Beispiel in Leichtigkeit erwerben können. Sie sind gut beraten,der Arbeitsmarktpolitik, nicht entwickelt wurden; viel- wenn Sie an diesem Weg festhalten. mehr haben Sie auf passive Leistungen gesetzt, die in Noch ein Wort zu der Geschichte mit denJugend- der Summe irgendwann zuviel werden, so daß man radi- lichen. Wir springen in der Debatte viel zu kurz, wenn kal kürzen muß und eigentlich immer weniger Rechtsan- wir glauben, man könne durch ein Programm das Pro- sprüche übrigbleiben – das Prinzip des Sozialstaates blem, daß 10 bis 15 Prozent der Jugendlichen nach zehn doch untergraben haben. Diese Behauptungen erhalte Jahren Schule nicht ausbildungsfähig sind, lösen. Dieses ich weiterhin aufrecht. Problem hat ganz viele Ursachen. Das hängt mit Eltern- Wenn Sie glauben, mit unserem Programm „100 000 häusern zusammen. Das hängt mit Sozialverhalten zu- Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ würden wir sammen. Das hängt mit der Art, wie die Schule organi- zu kurz springen, dann sage ich Ihnen eines: Ich springe siert ist, zusammen. Dazu habe ich heute vieles gesagt. lieber einmal zu kurz als überhaupt nicht. Das ist der Ich glaube, wir sollten das einmal vernünftig anpacken, Gegensatz zu dem, was Sie seit Jahren gemacht haben. um die Probleme schon dann zu lösen, wenn Menschen im Alter von Kindern oder Jugendlichen sind. Am be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sten würden wir das Problem lösen – davon bin ich 90/DIE GRÜNEN) überzeugt; man muß diese Ansicht nicht teilen –, wenn Ich bin nicht der Meinung, daß wir mit diesem Pro- wir in unserer Gesellschaft wieder stärker zu einemgramm alles lösen können; aber für jeden einzelnen, der christlichen Wertekonsens finden würden. einen dieser 100 000 Arbeitsplätze erhält, bedeutet dies, Danke schön. eine Perspektive in dieser Welt zu haben. Das ist es mir wert, vielleicht zu kurz zu springen, aber nicht immer (Beifall bei der CDU/CSU) 154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Ulla Schmidt (Aachen) (A) stehenzubleiben oder rückwärts zu gehen, wie Sie es– Das mag sein. Aber vielleicht kann man auch in der(C) gemacht haben. Regie die Lautstärke herunterdrehen. Das ist jedenfalls in Rheinland-Pfalz möglich. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Die 620-DM-Verträge werden von Ihnen verteufelt. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Wenn Sie die Pauschalbesteuerung aufheben und statt der PDS) dessen eine Sozialversicherungspflicht einführen, be- deutet das, daß Sie umetikettieren, aber in der Sache nichts verändern. Wir brauchen in der Tat – das gilt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nicht nur für den Biergarten; dort leuchtet es selbst dem jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. Dümmsten ein – ein Stück Flexibilität, weil die Besteue- rung und Reglementierung überdreht ist. Andernfalls er- Rainer Brüderle (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine reichen Sie nur eines: Sie werden die Schwarzarbeit in Damen und Herren! Die größte Ungerechtigkeit ist Ar- Deutschland nachhaltig fördern. Aber das ist keine Ar- beitslosigkeit. Der Bundeskanzler hat zu Recht als Maß- beitsmarktförderung. stab, als Meßlatte für sein Handeln die Fortschritte am (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Arbeitsmarkt gewählt. Genau daran werden wir ihn ten der CDU/CSU) messen. Er hat gestern in seiner Regierungserklärung beim Höhenflug über viele Politikfelder einige freund- Wo fängt die Scheinselbständigkeit an? Ist ein Exi- liche Worte für den Mittelstand gefunden. Er hat richtig stenzgründer, der gerade einen Kunden hat, schon erkannt: Kleine und mittlere Unternehmen sind am ehe- scheinselbständig? Oder der Handelsvertreter? Da wer- sten in der Lage, neue Arbeitsplätze zu schaffen. den Sie eine Fülle von fast nicht lösbaren Abgrenzungs- problemen bekommen. Aber genau dieser Mittelstand wird mit dem, was Sie auf den Weg bringen, benachteiligt. Sie machen aus der Das, was als Abbau von Einstellungshemmnissen für Neuen Mitte, die mit dem Lockvogelangebot „Stoll-den Mittelstand auf den Weg gebracht wurde – das Ge- mann“ umworben war, eine „verratene Mitte“; denn der genteil von gut ist ja gut gemeint –, nämlich die Mittelstand wird durch diese Politik abgestraft. Schwelle beim Kündigungsschutz von zehn auf fünf Mitarbeiter abzusenken und die Einschränkungen bei (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- der Lohnfortzahlung wieder aufzuheben, wird dazu füh- ten der CDU/CSU) ren, daß beim Mittelstand nicht mehr Arbeitsplätze ent- Es fängt schon bei der Psychologie an. Ich meine nicht stehen, sondern die Ängste zunehmen. Sie zwingen den nur den Fehlstart der Regierung, sondern auch das un- Mittelstand in andere Wege hinein, lösen damit aber (B) sinnige Gequatsche mit der Infragestellung der Unab-nicht die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. (D) hängigkeit der Notenbank. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ten der CDU/CSU) Das löst nämlich bei den kleinen und mittleren Unter- Nun soll es eine Wunderwaffe geben: die Inszenie- nehmen das Gefühl aus: Die wollen uns ans Geld. In ei- rung eines Bündnisses für Arbeit. Das wird dann so nem solchen Klima werden nicht mehr Investitionenablaufen: Die Regierung teilt heute schon mit, was an getätigt, nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Eher führt Kröten zu schlucken ist. Das hat jeder hinzunehmen; da es zu einem Bankenförderprogramm für Luxemburg und gibt es gar keinen Dialog. Dann wird darüber geredet, die Schweiz anstatt zu einem Arbeitsmarktprogramm für was an zusätzlichen Kröten geschluckt werden kann. Deutschland. Aber, meine Damen und Herren: Durch einen Gipfel (Beifall bei der F.D.P.) von Funktionären entstehen keine Arbeitsplätze. Das Konzept der Steuerpolitik umfaßt zunächst Ver- (Beifall bei der F.D.P.) schlechterungen, verzögerte Ausgleichsmaßnahmen und Ökosteuermaßnahmen, die ein klares Abkassiermodell Arbeitsplätze entstehen nur, indem jemand Geld in die sind. Abkassieren hat in Deutschland einen neuenHand nimmt, investiert, vielleicht schlaflose Nächte hat, Namen: Öko! Alles, was „öko“ ist, bedeutet Mehrbe-weil er hohe Risiken eingeht, und dann ein Ergebnis er- lastung. zielt, das sich rechnet. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P.) Diese neue Steuerpolitik bringt keine Verbesserungen in So etwas bekommen Sie nicht durch Funktionärstreffen der Ökologie, sondern lediglich Belastungen in derhin. Das werden Sie auch nicht durch eine Theaterinsze- Ökonomie und führt dazu, daß Arbeitsplätze gefährdet nierung hinbekommen. Davon erwarte ich wenig, zumal werden und verlorengehen. Sie auch noch die falschen Rahmenbedingungen ge- schaffen haben. Nun möchte ich auf die Arbeitsmarktprobleme und auf die Instrumente eingehen, die hier zur Debatte ste- Sie müssen dem Mittelstand eine wirkliche Chance hen. geben, damit er seine Leistungskraft entfalten kann, da- mit er neue Ideen verwirklichen und neue Produkte auf (Ernst Schwanhold [SPD]: Warum schreien den Markt bringen kann. Dann wird er auch neueAr- Sie so? Hier sind die Mikrophone besser als in beitsplätze schaffen können. Aber allein schon das Rheinland-Pfalz!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 155

Rainer Brüderle (A) Klima, das Sie dadurch schaffen, daß Sie durch leicht- flossenen Regierungsfraktionen, Sie erlauben, daß wir(C) fertiges Gerede die in den Deutschen tiefverwurzeltesolche Danaergeschenke lieber zurückweisen. Angst vor Geldentwertung, vor Inflation auslösen, ver- hindert und zerstört Arbeitsplätze, statt daß solche ent- Die neuen Jobs, die die Aufweichung des Kündi- stehen. gungsschutzes, die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gar die Abschaffung der Vermögen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- steuer gebracht hätten, vermag ich nicht zu sehen, wohl ten der CDU/CSU) aber den Verlust an sozialer Gerechtigkeit und an be- trieblicher und gesellschaftlicher Demokratie. Eben des- Der eingeschlagene Weg ist falsch. Sie müssen einen halb wollen wir diese völlig ungeeigneten und unge- anderen Weg einschlagen. Die Dinge werden nicht da- rechten Gesetze umgehend rückgängig machen. durch richtig, daß man Rezepte wiederholt, die sich schon früher als falsch erwiesen haben. Ich will hier Die neue Regierung wird zu einem neuenBündnis keinen Streit über Angebots- und Nachfragepolitik füh- für Arbeit einladen, um so die gesellschaftlichen Kräfte ren; aber ein Vulgärkeynesianismus wird die Lösung mit mit dem zentralen Ziel zu bündeln, die Erwerbslosigkeit Sicherheit nicht sein. zu vermindern. Ich glaube, dieser sicherlich schwierigen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Veranstaltung können alle aus diesem Hause nur viel Er- ten der CDU/CSU) folg wünschen, aber auch mehr als das: Wir können die politischen Rahmenbedingungen dafür so sorgfältig wie irgend möglich setzen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Das erste Bündnis für Arbeit, das der IG-Metall- jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach. Vorsitzende Zwickel initiiert hatte, ist daran gescheitert, daß die alte Bundesregierung den Gewerkschaften über Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her- und die Aufweichung des Kündigungsschutzes faktisch ren! Die neue Regierung hat dieBekämpfung der Ar- den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Diese Brüskierung beitslosigkeit ganz oben auf die politische Tagesord-der Gewerkschaften werden wir mit der Rücknahme die- nung gesetzt. Gerade um diesem gesellschaftlichenser Gesetze vor Einstieg in das Bündnis für Arbeit aus Grundübel zu Leibe zu rücken, war einPolitikwechsel der Welt schaffen; wir werden damit erst die Vorausset- längst überfällig. Zu diesem Politikwechsel gehört auch, zungen für Gespräche in Augenhöhe herstellen. Herr Brüderle, der ökologische Umbau, den die alte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regierung bis zuletzt verschlafen hatte. In diesem Um- sowie bei Abgeordneten der PDS) (B) bau steckt ein riesiges neues Arbeitsplatzpotential; die- (D) ser innovative Bereich muß endlich erschlossen werden. Ich wünsche mir, daß in diese Gespräche wie in unse- Die Massenarbeitslosigkeit, die während der Regie- re zukünftige Politik auch die Erwerbslosen einbezogen rung Kohl unglaubliche Ausmaße angenommen hat,werden. Erwerbslose dürfen nicht nur Objekte von Poli- reißt die Gesellschaft auseinander. Für die Betroffenen tik sein, sondern müssen aktiv daran beteiligt werden. ist sie eine unerträgliche Belastung. Sie treibt die So-Wir müssen mit ihnen und mit den Gewerkschaften zu- zialkassen an den Rand des Konkurses. Sie schafft ein sammen sicherstellen, daß die Interessen der Arbeitslo- gesellschaftliches Klima von Angst und Konkurrenz. Sie sen nicht ins Hintertreffen geraten. vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich. Der Kanzler hat gestern vom Ende der Stagnation und Eben deshalb müssen und werden wir der Bekämp- der Sprachlosigkeit und von einer Republik des Diskur- fung der Arbeitslosigkeit Priorität einräumen. Daß wir ses gesprochen. Wir sollten dies für die kommenden das gesellschaftliche Ziel, für alle, Frauen wie Männer, Jahre zu einer der Leitlinien unserer Politik machen. eine existenzsichernde Teilhabe an Erwerbsarbeit mög- Ich glaube, die Arbeitsloseninitiativen werden uns lich zu machen, nicht von jetzt auf gleich erreichen kön- dabei unterstützen, indem sie uns fordern und ihre An- nen, wissen wir alle. Aber man muß das Ziel, diesen An- liegen in der Öffentlichkeit unüberhörbar vertreten. Das spruch der Gesellschaft an sich selbst, klar formulieren, wird nicht immer die pure Harmonie sein, aber es wird um den Weg und die einzelnen Schritte dorthin an die- uns sicher auf Trab halten. sem Ziel messen zu können. Das Bündnis für Arbeit ist kein Verschiebebahnhof Unsere Politik wird sich am Zugewinn von Beschäf- zur Politikvermeidung. Zu den Aufgaben der Politik, die tigung orientieren und an sozialer Gerechtigkeit, nicht sie nicht abgeben kann und darf, gehört die Setzung von an Ausgrenzung, sondern an Integration der Gesell-fairen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Geradezu schaft. explodiert ist in den letzten Jahren die Zahl nicht abgesi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cherter Beschäftigungsverhältnisse, die billig und flexi- sowie bei Abgeordneten der PDS) bel die Produktionsspitzen abfangen: Scheinselbständig- keit, Werkverträge, Beschäftigung unterhalb der Gering- Nun behaupten Vertreter der vergangenen Bundesre- fügigkeitsgrenze. All das sind keine Randphänomene gierung, wie gestern zum Beispiel Herr Schäuble, daßmehr. doch alles längst auf dem richtigen Weg und geradezu ein Geschenk der alten an die neue Bundesregierung Inzwischen sind mehr als 1 Million Menschen von gewesen wäre. Meine Damen und Herren aus den ver- Scheinselbständigkeit betroffen. In 620- bzw. 520-DM- 156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Annelie Buntenbach (A) Jobs arbeiten mehr als 5,6 Millionen Menschen, die Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist das (C) meisten von ihnen Frauen, die so kaum eine Chance ha- Programm für 100 000 Ausbildungs- und Arbeitsplätze ben, einen eigenständigen Zugang zu sozialer Absiche- ein wirklich guter Anfang. Außerdem hoffe ich, daß rung aufzubauen. über die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wie sie jetzt unter dem Stichwort „Rente ab 60“ diskutiert wird, auf Seit 1992 hat die Zahl dieser Jobs um 25 Prozent zu- dem Arbeitsmarkt wieder mehr Platz für Jugendliche genommen. Gleichzeitig sind 2 Millionen reguläre Be- sein wird. Allerdings zeigen die Erfahrung der letzten schäftigungsverhältnisse aus der Statistik verschwunden. Jahre mit den unzähligen Appellen an die Arbeitgeber Immer mehr abgesicherte Beschäftigung ist in Minijobs und auch der Blick nach Nordrhein-Westfalen, wo mei- unterhalb der Sozialversicherungspflicht zerlegt worden, nes Erachtens der sogenannte Ausbildungskonsens in- weil die Arbeitgeber die Kosten für die Sozialversiche- zwischen gescheitert ist, daß um dieAusbildungsplatz- rung sparen wollen. umlage früher oder später kein Weg herumführen wird. Wir haben auf diese fatale Entwicklung in den letzten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahren immer wieder aufmerksam gemacht und zahllose und bei der PDS) praktische Vorschläge auf den Tisch dieses Hauses ge- legt. Die alte Bundesregierung hat sie die ganze ZeitIch hätte es mir früher gewünscht. Aber klar ist doch, blockiert, so daß sie erst jetzt in die Praxis umgesetztdaß für die Jugendlichen der erste Kontakt mit dem Er- werden können – mit der Zielsetzung, jede Beschäfti-werbsleben nicht darin bestehen darf, daß ihnen die Tür gung in die Sozialversicherung einzubeziehen. vor der Nase direkt wieder zugeschlagen wird. Nun habe ich schon gestern und heute wieder gehört (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – auch in der Öffentlichkeit wird es von Lobbygruppen sowie bei Abgeordneten der PDS) zum Teil so diskutiert –, daß Sie, meine Damen und Herren von der christlichen Fraktion und der freidemo- Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, der kratischen Fraktion, schon den Würgegriff des Staates in den nächsten Jahren gesellschaftspolitisch von ganz an der Gurgel der freien Wirtschaft spüren. Lassen Sie zentraler Bedeutung sein wird:die Verkürzung der sich versichern, es handelt sich bei dem Artikelgesetz, Arbeitszeit und die Umverteilung von Arbeit.. Ich will das wir nächste Woche einbringen werden, nicht um ei- auch sagen, warum das so wichtig ist. Hier kann erstens nen Anfall von Regulierungswut, sondern um die längst auch kurzfristig ein großes Arbeitsplatzpotential mobi- überfällige verbindliche Festlegung von gesellschaftli- lisiert werden, auf das wir bei der Bekämpfung der Ar- chen Grundregeln, weil ohne diese Regeln immer allein beitslosigkeit auf keinen Fall verzichten können. Zwei- der Stärkere profitieren wird. tens ist mit Arbeitszeitverkürzung untrennbar immer (B) auch die Verteilungsfrage verbunden, nicht nur die nach (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Verteilung von Arbeit und Zugang zu sozialen Si- sowie bei Abgeordneten der PDS) cherungen, sondern auch die nach der Verteilung des ge- sellschaftlichen Reichtums. Last but not least geht es Wir wollen den jetzigen Wildwuchs von 620-DM-dabei auch um eine Neuverteilung von bezahlter und bzw. 520-DM-Jobs eindämmen, um auch die aktuelleunbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern und um Verzerrung des Wettbewerbs geradezurücken. Jetzt ha- den selbstverständlichen Zugang von Frauen zu einer ei- ben ausgerechnet diejenigen Arbeitgeber, die sich zugenständigen sozialen Sicherung. Gerade hier haben wir Lasten der Allgemeinheit aus der sozialen Verantwor- noch ein gutes Stück Arbeit und ein gutes Stück gesell- tung ziehen, einen großen Wettbewerbsvorteil gegen-schaftliche Debatte vor uns. über jenen Arbeitgebern, die sozial abgesichert, damit aber auch teurer beschäftigen. Ebenso werden doch auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, noch die belohnt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- bei der SPD und der PDS) nehmer mit der Drohung des Jobverlustes aus der Sozi- alversicherungspflicht in die Scheinselbständigkeit ab- drängen. Für die Stärkeren bedeutet Freiheit von Sozial- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat versicherung die Befreiung von Verantwortung und von jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer. teuren Pflichten. Die Stärkeren können ihre Interessen auch so per Ellenbogen durchsetzen. Aber solidarische Johannes Singhammer (CDU/CSU): Sehr geehrte Absicherungen sind gerade für die Schwächeren in die- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- ser Gesellschaft unverzichtbar. Das ist keineswegs,ren! Wer in den vergangenen 16 Jahren meistens nur da- Kollege Laumann, mit der Entlassung aus Eigenverant- gegen war, der tut sich schwer, einen Zukunftsentwurf wortung zu verwechseln. Aber für die Schwächeren be- vorzulegen. deutet eine funktionierende Absicherung ein Stück Frei- heit, nämlich Freiheit von Angst und Unsicherheit bei (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Schwan- den großen, individuell nicht zu bewältigenden Lebens- hold [SPD]: Ihr wart immer dabei und habt nie risiken Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Es ist Teil Verantwortung gehabt!) unserer politischen Verantwortung, die Grundregeln so Statt Aufbruch und exakte Aussagen herrscht in Ihrem festzulegen und durchzusetzen, daß wir uns, wenn esProgramm schwammige Zaghaftigkeit. denn um die Tellerwäscher geht, nicht die Millionäre zum Maßstab nehmen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 157

Johannes Singhammer (A) Es ist eben schwierig: Wer lange in der Mechanik des Ohne Not hat diese Bundesregierung in den ersten(C) Ablehnens und Blockierens ausgebildet worden ist, hat Tagen ihrer Amtszeit eine verhängnisvolle Verunsiche- Schwierigkeiten, im Rahmen der Umschulung vomrung ausgelöst. Wissen Sie, was Sie bei 1,7 Millionen Bremserhäuschen in die Lokomotive zu klettern. Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen, die gespart haben, die Versicherungsbeiträge (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- eingezahlt haben und die viele Jahre auf die Einführung ordneten der F.D.P.) der Pflegeversicherung gewartet haben, angerichtet ha- Herr Arbeitsminister Riester, wir respektieren denben? Nun muß der Facharbeiter Angst haben, daß nach Auftrag und die Chancen, welche die Wähler der neuen 45 Jahren, in denen er sich für ein kleines Häuschen Regierung in Deutschland gegeben haben. Pawlowsche krummgelegt hat, sein Erspartes verloren ist, wenn seine Reflexe, nämlich alles abzulehnen, was die Regierung Frau zum Pflegefall wird. vorschlägt – das war in der Vergangenheit nicht unüb- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist doch lich –, werden Sie mit uns nicht erleben. Aber wir wer- Quatsch!) den die Menschen in unserem Land alarmieren, wenn eine erkennbar falsche Richtung eingeschlagen wird. Wer als Pflegefall ohnehin in einer schwierigen Lebens- situation ist, dem darf man eine programmierte Unsi- Der Bundesfinanzminister, Oskar Lafontaine, will die cherheit nicht zusätzlich aufbürden. Wer das tut, handelt Arbeitslosenversicherung und die Pflegeversicherung nicht sozial, handelt nicht gerecht, sondern verbreitet so- schleifen oder ganz abschaffen. Was heißt das? Staatli- zialen Eishauch. che Almosen sollen rechtskräftig erworbene Versiche- rungsansprüche ersetzen – Fürsorge mit Mottenpulver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ul- geruch statt zukunftsgerichtete Eigenverantwortung. rich Heinrich [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Durch eine neue Bürokratie sollen ständige Einkom- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen? mensprüfungen erfolgen. Niemand kann dann sicher sein, welche Almosenhöhe die öffentlichen Kassen ge- rade zulassen. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ja, wenn er Wer sich noch daran erinnert, mit welcher Vehemenz die richtige Frage stellt. vor Jahresfrist in der Debatte – 50 Prozent Fachkräfte, Pflegeschlüssel – gestritten worden ist, der weiß: Wer Peter Dreßen (SPD): Herr Kollege Singhammer, ich (B) damals den Gedanken ausgesprochen hätte, die Pflege- (D) versicherung abzuschaffen, der wäre sofort politisch ge- will Sie eigentlich nur fragen, an welcher Stelle der Re- steinigt worden. Heute schlagen Sie als Vertreter Ihres gierungserklärung Sie das gehört haben, worüber Sie Bereiches diese Überlegungen vor. Der neue Bundes-jetzt geredet haben. Ich habe in der gestrigen Regie- kanzler, der gerade nicht anwesend ist, ist sich selberrungserklärung des Bundeskanzlers überhaupt nichts nicht im klaren, ob er nun applaudieren oder abwiegeln davon gehört, daß an der Pflegeversicherung gerüttelt soll. werden soll. Können Sie mir in diesem Punkt Auskunft geben, an welcher Stelle der Regierungserklärung eine (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ram- entsprechende Aussage zu finden ist? sauer [CDU/CSU]: So ist es!) In der „Berliner Zeitung“ vom 26. Oktober 1998 steht – ich zitiere –: Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ich wäre sehr froh, wenn ich von seiten der Regierung – der Bundes- Der Parteichef habe seine Initiative kürzlich imarbeitsminister und weitere Minister sind ja anwesend – SPD-Präsidium angedeutet und mit dem künftigen erfahren könnte, wie die Pläne nun tatsächlich aussehen. Kanzler Gerhard Schröder abgesprochen, verlautete Der Bundesfinanzminister verkündet dies, und der Herr aus der Umgebung Lafontaines. Schröder war zu- Bundeskanzler äußert sich mal so und mal so. Es wäre nächst der einzige, der im verblüfften Publikum ap- sehr interessant, zu erfahren, wie die Meinung tatsäch- plaudierte. lich ist. Vielleicht erfahren wir sie heute noch. In der „Bild am Sonntag“ von dieser Woche fährt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Gerhard Schröder eine neue Linie. Dort heißt es – ich ordneten der F.D.P. – Dr. Hermann Kues zitiere –: [CDU/CSU]: Völliges Durcheinander in der Regierung!) Ich rate zu ganz vorsichtigem Umgang mit der Pflegeversicherung. Die Ankündigungen von Mitgliedern dieser Bundes- regierung sind sehr viel weitgehender. Sie kündigen Wir raten nicht nur zum vorsichtigen Umgang mit dernämlich einen Systemwechsel in der Sozialpolitik an: Pflegeversicherung. Wir sagen: Hände weg von derAufkündigung des Versicherungsprinzips und Verkür- Pflegeversicherung! zung des Sozialstaats auf eine bloße Almosenverteilung – Systemfürsorge und Bittsteller. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (Adolf Ostertag [SPD]: Quatsch!) 158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Johannes Singhammer (A) Genau das wollen wir nicht. Wir wollen, daß der Staat zu einer Belastung von 301 DM. Soweit das Finanzmi- (C) auf die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit nisterium. Das nenne ich Umverteilung nach unten. anderer Rücksicht nimmt. Wir verstehen soziale Ge- rechtigkeit weitergehend auch als durchgehendes Ord- (Beifall bei der CDU/CSU) nungsprinzip unserer Gesellschaft mit Eigenverantwor- Während sonst überall die Altersgrenze in den Indu- tung und echter Solidarität. Wer dieses Ordnungsprinzip strieländern für den Eintritt in die Rente erhöht wird, jetzt zur Diskussion stellt – und das ist geschehen –, der verspricht nun die neue Bundesregierung, den Stein der wird die enormen Herausforderungen in der Rentenver- Weisen und die Quadratur des Kreises neu erfunden zu sicherung und auf dem Arbeitsmarkt nicht meistern,haben: Rente zum Nulltarif und das auch noch früher! weil er die Solidarität der Leistungsfähigen mit den we- Wer nicht zur Kenntnis nehmen will, daß immer längere niger Leistungsfähigen beschädigt. Ausbildungszeiten, immer kürzere Erwerbsbiographien (Beifall bei der CDU/CSU) und – Gott sei Dank – ein immer höheres Lebensalter bei Gesundheit und Rentenbezug auch bezahlt werden Diese rotgrüne Bundesregierung steht unter einemmüssen, sagt nicht die Wahrheit und handelt intellektuell ungeheuren Erwartungsdruck, den sie selbst gezielt her- unredlich. Die Wahrheit heißt Umverteilung zu Lasten beigeführt hat und dem sie jetzt nicht standhalten kann. der kommenden Generationen. Sie haben den Eindruck erweckt, jeder soll mehr in der Tasche haben. Das einzige, was Sie noch nicht verspro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – chen haben, ist, daß in Deutschland die Zahl der Regen- Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die Konsequenz ist tage verringert wird. doch, daß wir länger arbeiten müssen und nicht weniger!) Die Regierungserklärung hat dabei einen uralten, ver- staubten roten Faden wieder aufgenommen.Umvertei- Und das lassen Sie mich auch noch sagen: Wer in lung heißt das Zauberwort statt echter volkswirtschaftli- dieser Diskussion den Eindruck erweckt, ältere Arbeit- cher Zugewinn. Umverteilung schafft aber nur Arbeits- nehmer seien leichter wegzudrücken, dem fehlt es zu- plätze in der Bürokratie und bewegt nichts auf dem Ar- dem an Respekt vor der Lebensleistung und der Lebens- beitsmarkt. erfahrung der Älteren. Mit 60 zählt man nicht zum alten Eisen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Im Gegenteil: Umverteilung bedeutet Arbeitsplatzge- SPD) fährdung. Umverteilung der Arbeit von Älteren auf Jün- gere. 60jährige, so wollen Sie es, sollen an ihrem620-DM-Jobs. Es ist interessant, zu sehen, wie sich Schreibtisch und an der Werkbank Platz machen kön-Versprechungen vor der Wahl mit dem, was Sie jetzt in (B) (D) nen. Ohne finanzielle Einbußen soll dies geschehen. Ar- Ihrem Regierungsprogramm angekündigt haben, vertra- beitnehmer und Arbeitgeber sollen bei Beiträgen undgen. Da gab es zum Beispiel auf dem Innovationskon- Lohnzusatzkosten entlastet werden. Das klingt gut. Aber greß der SPD in Dortmund im Oktober 1997 die Aussa- wer bezahlt denn das? Das Ausland garantiert nicht! ge des jetzigen Bundeskanzlers, er wolle diese Jobs auf höchstens 10 Prozent in einem Unternehmen begrenzen. Geldquelle Nummer eins soll der Tariffonds werden, Im gleichen Jahr schrieb Oskar Lafontaine im Informa- statt Lohnnebenkosten eine lohnbezogene Umlage. Un- tionsdienst der SPD „Intern“ – ich zitiere –: „Ein Weg ter dem Strich für die Arbeitnehmer und die Betriebewird die Befreiung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber keine Entlastung, sondern nur ein anderer Name für die von Sozialversicherungsbeiträgen für geringbezahlte gleichen Abzüge. Fragen Sie bei Norbert Blüm nach,Arbeiten sein.“ Was steht nun in Ihrer Regierungserklä- welche Erfahrungen mit der Frühverrentung in bezugrung? Sie sprechen dort von einer Grenze von 300 DM, auf das Arbeitsplatzthema gemacht wurden! Die Er-von der an Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden wartungen, damit neue Arbeitsplätze zu schaffen, wer- müssen. den sich nicht erfüllen. Nun gebe ich zu, daß auch wir uns bei der Diskus- Dafür wird die Ökosteuer, die eine reine Zusatzsteuer sion, wie wir eine optimale Lösung finden, sehr schwer- ist, ebenfalls zur Gegenfinanzierung eingeführt. Das be- getan haben. Aber eines muß ich hinzufügen: Das, was deutet – darauf ist hingewiesen worden –: Der Arbeit-Sie jetzt vorhaben, nämlich daß Sie diese zusätzlichen nehmer soll für die tägliche Warmdusche 50 PfennigEinnahmen in Höhe von 2,1 Milliarden DM in Form ei- mehr zahlen, und für Familien mit Kindern und fürner Gegenfinanzierung mit anderen Entlastungen ver- Rentner wird ein warmes Wohnzimmer im Winter teu- rechnen wollen, wird nicht aufgehen, weil Sie damit im rer. Nach eigenen Berechnungen des Finanzministeri-Versicherungsbereich ein Zweiklassensystem schaffen, ums, nicht des „Bayernkurier“ und zwar zum einen eine nur geringe Rentenanwart- (Michael Glos [CDU/CSU]: Der rechnet bes- schaft und zum anderen keinen Schutz im Falle einer ser als das Finanzministerium!) Erwerbsminderung. Die Folge wird ein massenhaftes Abdriften in die Schwarzarbeit sein. Die geplanten – der hätte es besser gemacht, richtig –, hat die soge-Mehreinnahmen werden sich als Luftbuchungen erwei- nannte Steuerreform für einen Vierpersonenhaushalt mit sen. einem Jahreseinkommen von 70 000 DM brutto folgen- de Auswirkungen: Bei der Rentenversicherung ergibt (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr! – Ul- sich eine Ersparnis von 280 DM, die Energiesteuer führt rich Heinrich [F.D.P.]: So wird es sein!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 159

Johannes Singhammer (A) Für uns ist der Mensch Mitte und Maß einer zu-an, wir werden in den nächsten Jahren ganz andere De-(C) kunftsgerechten Sozialpolitik. Unter sozialer Gerechtig- batten führen müssen. Darauf freue ich mich und – da- keit verstehen wir nicht eine unablässige Umverteilung von gehe ich aus – sicherlich auch die neue Mehrheit in als Heilsversprechen, sondern die Befähigung der Men- diesem Parlament. schen in unserem Land, aus eigener Kraft ihre Fähig- (Beifall bei der SPD) keiten und Möglichkeiten zu entfalten. Eine sozial ge- rechte Politik sollte so eingerichtet sein, daß sie nicht Meine Damen und Herren, gestern hat der neue Op- das Übel, dem sie begegnen will, verewigt, sondernpositionsführer – dazu gratuliere ich Herrn Schäuble Heilung von den Wurzeln her anstrebt. Deshalb wollen ausdrücklich – in seiner Rede ausgeführt, er und die wir die Eigenverantwortung fördern. Jeder, der von der ehemalige Regierung würden ein wohlbestelltes Haus Gemeinschaft eine Leistung erwartet, muß auch selbst hinterlassen. im Rahmen seiner Möglichkeiten eine Leistung für die Gemeinschaft erbringen. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wo ist denn dieses wohlbestellte Haus? Wenn ich mir ordneten der F.D.P.) den sozial- und den finanzpolitischen Bereich anschaue, dann muß ich feststellen, daß in den letzten Jahren in die Dabei dürfen wir nicht diejenigen vergessen, denen auf Stützmauern unseres sozialen Rechtsstaates erhebliche Grund von Behinderungen oder Handicaps eine umfas- Breschen geschlagen worden sind. Die alte Regierung sende Teilhabe nicht möglich ist. Ihnen muß zuallererst hat ständig in einer einseitigen, neoliberalen Angebots- geholfen werden. Diese Mitmenschen haben unsere ganz politik soziale Schutzrechte abgebaut und das soziale besondere Solidarität. Netz der Bundesrepublik grobmaschiger gemacht. Auf die versprochenen Arbeitsplätze, wie Sie das hier im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Plenum 16 Jahre lang immer wieder beschworen haben, ordneten der F.D.P.) haben die Menschen vergeblich gewartet. Die alte Bun- Nur Umverteilung von Arbeitsplätzen, Umverteilungdesregierung hat die Massenarbeitslosigkeit kurzerhand von Alt auf Jung bzw. von Jung auf Alt, Umverteilung zum Problem der Arbeitslosen erklärt. Sie hat die von der rechten in die linke Hosentasche, schafft weder Lohnersatzleistungen zusammengestrichen und kräftig mehr soziale Gerechtigkeit noch mehr Arbeitsplätze,an der Zumutbarkeitsschraube gedreht. Als wenn zu- weil die Leistungsbereitschaft auf der Strecke bleibt. sätzlicher Druck auf arbeitslose Bedürftige das zentrale Problem von rund 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Richtig!) lösen könnte! Wir wissen: Es ist durch diese Politik Wir brauchen in Deutschland weder eine Koalitionnicht gelöst worden. (B) noch ein Bündnis für Umverteilung, sondern ein Bünd- (D) Die Folgen der Politik sind überall sichtbar. Seit 1992 nis für mehr Leistungsbereitschaft, für mehr Ermutigung sind rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen und für mehr echt verstandene Solidarität. – auch wenn Sie gegenwärtig davon reden, was im letz- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten Jahr im Zusammenhang mit dem Rückgang der Ar- beitslosigkeit aufgebaut worden sei; (Walter Hirche [F.D.P.]: Stimmt das denn Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nicht?) jetzt der Abgeordnete Adolf Ostertag. darauf komme ich noch zu sprechen. 2,5 Millionen ver- lorene Arbeitsplätze seit 1992, und die registrierte Ar- Adolf Ostertag (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr beitslosigkeit nahm in den letzten vier Jahren um verehrten Damen und Herren! Endlich haben wir hier in 21 Prozent zu. Wo ist denn da ein wohlbestelltes Haus diesem Parlament eine neue Mehrheit, eine neue Regie- hinterlassen worden? rung und auch einen neuen Arbeitsminister. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In dem Zeitraum einer Legislaturperiode sind die Das muß man zu Beginn dieser neuen Legislaturperiode Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik um 24 Prozent noch einmal deutlich hervorheben, wenn man über Sozi- gekürzt worden. Das, was Sie vor der Wahl noch ge- alpolitik spricht. macht haben, war wirklich nur ein ABM-Strohfeuer, Denn ich erinnere mich sehr genau an meinen ersten mehr nicht. Wir sind nicht dagegen gewesen, aber wir Debattenbeitrag in diesem Parlament vor acht Jahrenhaben es immer als Strohfeuer gebrandmarkt. Wir wer- zum Thema Arbeitsmarktpolitik. Das betraf eine Kon- den die Arbeitsmarktpolitik sowohl finanziell als auch in troverse mit dem damaligen Arbeitsminister, Herrnder Umsetzung auf eine solide Basis bringen. Blüm. Gleichzeitig hat die Unordnung auf dem Arbeitsmarkt (Peter Dreßen [SPD]: Wo ist denn der?) in der Tat katastrophale Ausmaße angenommen. Die 620-DM-Jobs, die Scheinselbständigkeit und die ille- Es ging, wie in den letzten acht Jahren ständig, um Kür- galen Beschäftigungsverhältnisse sind nach wie vor zungsabsichten, die auch durchgesetzt wurden, um eine auf dem Vormarsch. Hier gibt es die ersten Ansatz- Novellierung des Arbeitsförderungsrechts. Ich nehmepunkte für unser konkretes Handeln. 160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Adolf Ostertag (A) Erinnern Sie sich an die Debatten, als es um dasgut einem Jahr dieses Parlament ständig bewegt. Der(C) Schlechtwettergeld auf dem Bau ging, als es um dieKanzler hat sich als letzter davon verabschiedet, als Entsenderegelung ging? Da haben Sie doch ständiglängst niemand, auch aus seiner eigenen Fraktion, mehr versucht, nur kleine Reparaturen vorzunehmen, mit der daran glaubte. Folge, daß die Arbeitslosenversicherung mehr zahlen Mit leeren Sprüchen konnte die Regierung Kohl auch mußte und die Bauarbeiter auf die Straße gesetzt worden bei den Menschen in diesem Land nicht mehr landen. sind. Ihre Taten waren etwas anderes als das, was Sie ver- ( [SPD]: Sehr wahr!) sprachen. Deswegen haben Sie am 27. September die Quittung bekommen. Sie haben das, was die Opposition damals an Vorschlä- gen eingebracht hat, nicht begriffen. Heute stellen sich die neuen Oppositionsredner hier hin und wollen kaum etwas davon wissen, was sie über Die Sozialhilfe, die schon lange nicht mehr allein der 16 Jahre lang getan haben. Das ist schon dreist, das ist Überwindung besonderer Notlagen dient, ist zum Le-schon ziemlich unverfroren. bensschicksal von immer mehr Menschen geworden. In- zwischen sind fast 40 Prozent der Menschen, die von (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Angela Sozialhilfe leben, Kinder. Die junge ehemalige Fami- Marquardt [PDS]) lienministerin hat das wohl nur aus den Wolken gese- Als Herr Kues hier gesprochen hat, habe ich mir die hen, wenn sie mit der Flugbereitschaft unterwegs war. Frage gestellt: Wo ist eigentlich Geißler? Wo ist ein Stück Wahrhaftigkeit in der Politik, die man von einer (Beifall bei der SPD) christlichen Partei wahrlich verlangen kann? Sie wollte nicht wahrhaben, wieviel Armut es bei Kin- (Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: dern und bei Familien in diesem Land gibt. Geißler ist in der Verbannung!) Sie haben nicht einmal – Herr Singhammer, dasHerr Kues wirft uns vor, wir wollten abkassieren. richte ich auch an Sie – die wenigen zwischen Ihrer und Wer hat denn in den letzten Jahren abkassiert? Vor allen unserer Partei verabredeten Korrekturen bei derPflege- Dingen: Wo ist abkassiert worden in diesem Land? Herr versicherung in der letzten Legislaturperiode Kues mit sagte, den Zahlungen stünden keine Leistungen durchgebracht, weil der Koalitionspartner blockiert hat. gegenüber. Wenn Sie die Politik meinen, die Sie betrie- Daher, glaube ich, ist es sehr scheinheilig, dieses Thema ben haben, dann haben Sie allerdings recht; dem muß heute auf die Tagesordnung zu bringen. Sie haben nicht ich voll zustimmen. Sie haben auch gesagt, Ihre Regie- einmal die kleinsten Korrekturen gemacht, und nunrung habe den Mut gehabt, den Arbeitsmarkt nachhaltig bringen Sie plötzlich Forderungen ein. zu regeln. Wie zu regeln? Was haben Sie denn geregelt? (B) (D) (Walter Hirche [F.D.P.]: Wir haben gespart, Ich habe eben einige Punkte genannt. Sie haben deregu- Sie wollen Geld ausgeben!) liert und Unordnung geschaffen: Wir haben 5,6 Millio- nen 620-DM-Jobs, wir haben 1 Million Scheinselbstän- Es ist zu fragen: Wo soll man dieses wohlbestelltedige, wir haben 100 000 illegal Beschäftigte. Ist es das, Haus vorfinden, wenn man insbesondere die Sozialpoli- was Sie geregelt haben in diesem Land? Wildwuchs ist tik in diesem Land betrachtet? Mir scheint, die ehemals entstanden, und gegen den müssen wir angehen. Regierenden haben die gesellschaftlichen Realitäten aus (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Heidi den Augen verloren. Schön reden, schlecht handeln – Knake-Werner [PDS]) das war doch die Devise von Helmut Kohl und seinen Ministern, wenn es um die Sozialpolitik ging. Frau Schwaetzer hat hier davon gesprochen, daß die Interessen der Bürger zum Maßstab der Politik gemacht (Beifall bei der SPD) werden sollten. Meinen Sie Ihre Klientelpolitik, die Sie Als das „Bündnis für Arbeit“ von Klaus Zwickel, bisher betrieben haben? Zu den 620-DM-Jobs ist bereits dem IG-Metall-Vorsitzenden, vorgeschlagen wurde,etwas gesagt worden. Sie haben nicht für diese gingen Sie zum Schein darauf ein. Das Ergebnis war ei- 5,6 Millionen Menschen, die einen solchen Job haben ne schöne Absichtserklärung, die schon kurze Zeit spä- und von denen 70 Prozent Frauen sind, etwas in diesem ter, nach der gewonnenen Landtagswahl, nur noch Ma- Parlament getan, Sie haben nur für Ihre Klientel, die Ar- kulatur war. Statt dessen bekamen die Gewerkschaften beitgeber, etwas getan; und diese betreiben durch diese und die Arbeitnehmer das 50-Punkte-Programm serviert Jobs eine wirklich üble Ausbeutung. – deutlicher gesagt: ins Gesicht geschlagen. Auf die (Beifall bei der SPD – Lachen bei der ausgestreckte Hand wurde in der Tat mit einem Horror- CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Hermann katalog geantwortet. Kues [CDU/CSU]: Klassenkämpfer!) Die Bündnisvereinbarung vom Januar 1996 diente An Herrn Laumann möchte ich auch noch einige nur dazu, vom ehemaligen Arbeitsminister ständig wie Worte richten, denn er hat sich hier zum großen Kämp- eine Monstranz vor sich her getragen zu werden. Siefer für dasVersicherungsprinzip aufgespielt. Herr wurde aber nicht umgesetzt, was eigentlich die Aufgabe Laumann, ich empfehle Ihnen, die Koalitionsvereinba- der Regierung gewesen wäre; sie hat es lange genug ver- rung zu lesen. Dann werden Sie erfahren, was darin sprochen. steht. Ebenso war es mit der Halbierung der Arbeitslosig- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da haben wir schon keit bis zum Jahr 2000. Dieses Thema hat noch bis vor nachgeguckt! Da finden wir gar nichts!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 161

Adolf Ostertag (A) Ich glaube nicht, daß sich diese Regierung vom Versi- diese Idee für ganz richtig hält. Ihr Finanzminister erhält (C) cherungsprinzip verabschiedet. Ich empfehle Ihnen also großes Lob von der deutschen Arbeitgeberseite. Das noch ein bißchen Lektüre für die nächsten Tage, bevor sind Dinge, zu denen ich den Gewerkschaftsflügel der wir im Ausschuß in die Einzelheiten gehen. SPD in den letzten Tagen überhaupt nicht vernommen habe. Meine Damen und Herren, diese Regierung und diese neue Mehrheit im Parlament treten an, um das angeblich (Beifall bei der CDU/CSU) wohlbestellte Haus hinsichtlich einer ganzen Reihe von Punkten innerhalb der Sozialpolitik instand zu setzen. Die wesentlichen Punkte sind hier genannt worden; dar- Adolf Ostertag (SPD): Herr Laumann, vor Jahren ist auf möchte ich nicht mehr eingehen. Herr Blüm mit einem langen Besenstil herumgelaufen und hat Plakate mit der Aufschrift „Die Rente ist sicher“ Wir haben im Wahlkampf millionenfach Scheckkar- geklebt. ten verteilt und die Menschen gebeten: Heben Sie die gut auf! Darauf stehen neun gute Gründe, uns zu wäh- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist sie len. – Diese sind zum Teil schon genannt worden, zum ja auch!) Beispiel das Programm zur Bekämpfung der Jugendar- Ihre Fraktion hat hier über Jahre hinweg eine Verun- beitslosigkeit, die Rücknahme der sozialen Grausam-sicherung bei den Menschen heraufbeschworen. keiten gegenüber Millionen von Arbeitnehmern beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung und das (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das ist „Bündnis für Arbeit“. Einen Punkt, den zehnten, haben keine Antwort!) wir sozusagen schon abgehakt. Letzten Endes hat dies dazu geführt, daß Sie die Renten gekürzt haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Das, was unser Parteivorsitzender auf dem Parteitag als eine Aufforderung an die Partei zu diskutieren ein- gebracht hat, ist eigentlich nicht zu verwerfen, sondern Adolf Ostertag (SPD): Der hieß nämlich: Helmut ein Angebot – – Kohl. Nun ist er nicht mehr Kanzler, und darauf sind wir stolz. Von daher bin ich der Meinung, daß wir das, was (Zurufe von der CDU/CSU) wir uns vorgenommen haben, anpacken können. Diese – Ja natürlich. Überlegen Sie doch einmal, was Ihr jetzi- Koalitionsfraktionen werden die Regierung dabei mitger Parteivorsitzender, als er es noch nicht war, in Ihre kritischer Solidarität begleiten. Ich glaube, die Men- (B) Partei eingebracht hat, zum Beispiel minimale Ansätze(D) schen im Land können sich darauf verlassen, daß es ei- einer ökologischen Steuerreform. Aber er durfte noch nen Aufbruch gibt und daß wir das, was wir versprochen nicht einmal darüber diskutieren. haben, auch einlösen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir werden in der Partei darüber diskutieren; auch das gehört zur Wahrhaftigkeit.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, (Zuruf des Abg. Karl-Josef Laumann der Kollege Laumann wollte eine Zwischenfrage stellen. [CDU/CSU]) Es handelt sich nunmehr um eine Nachfrage. Möchten – Ich bin jetzt dran, Herr Laumann. Sie diese noch beantworten? (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Ja, sagen Sie mal was!) Adolf Ostertag (SPD): Selbstverständlich. Man muß die Behandlung politischer Themen durch- halten. Sie werden mitbekommen haben, daß wir im Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vor sieben, acht Jahren, als die SPD ihre ersten Positionspapiere zur Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Lieber Kollege Pflegeversicherung eingebracht hatte, heftig darüber ge- Adi Ostertag, ich freue mich, daß Sie mich loben, weil stritten haben, ob man die Pflegeversicherung aus Steu- ich die Idee der Sozialversicherung kämpferisch vertre- ermitteln finanzieren soll oder ob man sie als ein Versi- te. Ich habe schließlich nicht geglaubt, daß ich das hier cherungssystem ausgestaltet. Das wissen Sie genauso einmal tun muß. wie ich; also seien Sie nicht so scheinheilig. Ich möchte Sie einmal um Ihre Meinung fragen. Was (Beifall bei der SPD) halten Sie denn in diesem Zusammenhang von den Mei- nungsäußerungen des Herrn Lafontaine, bei der Pflege Damit ist die und der Arbeitslosigkeit das Bedürftigkeitsprinzip einzu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aussprache zu diesem Themenkomplex beendet. führen? Wo sind denn Ihre kraftvollen Erklärungen zu diesem Thema? Auch Sie wissen doch, daß Ihr Wirt- Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärung schaftsminister, Herr Müller, das alles befürwortet und nun mit dem Thema Gesundheit fort. 162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Bereich sind. Es werden 500 Milliarden DM umgesetzt, (C) allein 270 Milliarden DM in der gesetzlichen Kranken- Erste Beratung des von den Fraktionen SPDversicherung. Deswegen muß nach unserer Auffassung und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten jede gesetzliche Änderung wohlüberlegt sein. Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Soli- darität in der gesetzlichen Krankenversiche- Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern gesagt – ich rung zitiere das –: Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für eine – Drucksache 14/24 – qualitativ hochwertige Versorgung aus. – Glauben Sie Überweisungsvorschlag: das wirklich selbst? Ausschuß für Gesundheit (federführend) (Bundeskanzler Gerhard Schröder: Ein netter Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Kerl! Er guckt mich an!) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wenn Sie an die Überalterung der Bevölkerung, die me- dizinisch-technische Entwicklung, die Multimorbidität, Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der die Erwartungshaltung der Bevölkerung denken, dann Kollege Wolfgang Lohmann das Wort. werden Sie leicht einsehen: Alles das wird auch auf Dauer mehr Geld kosten. Wenn Sie dann sagen, daß Sie Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): das sektoral oder global budgetieren wollen, dann führen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- Sie – Ihr zweiter Satz in diesem Zusammenhang lautete: ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich ja Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenver- um eine verbundene Debatte. Deswegen darf ich viel-sicherung ist der richtige Weg, sondern die Rationalisie- leicht noch einen Satz an meinen Vorredner richten.rung – die gesetzliche Krankenversicherung in die Ra- Herr Kollege Ostertag, ich finde, es ist ein großartiger tionierung. Auftakt zu dem vom Bundeskanzler angekündigten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und „Bündnis für Arbeit“, wenn Sie hier unverhohlen Be- der F.D.P.) griffe wie „Ausbeutung durch die Arbeitgeberschaft“ in den Raum stellen. Da kann man für die demnächst lau- Ich will ein paar Beispiele nennen; für mehr Beispiele fenden Verhandlungen nur viel Vergnügen wünschen. reicht die Zeit heute nicht. Beginnen will ich mit dem Krankenhausnotopfer. Ist es denn die alte Regierung (Adolf Ostertag [SPD]: Nicht durch „die“! Sie gewesen, die daran schuld hat, daß bis auf die rühmliche müssen zuhören!) Ausnahme Bayerns alle Bundesländer die Instandhal- tungskosten nicht mehr übernommen haben? Die Kran- (B) – Ja, ich habe zugehört. (D) kenkassen konnten es ebenfalls nicht bezahlen. Die Sie haben die Frage gestellt: Wo ist denn das wohlbe- Krankenhäuser saßen zwischen den Stühlen. Wir haben stellte Haus? – Die kann ich Ihnen beantworten. Dieses das Problem beseitigt. Die Einführung des Notopfers der wohlbestellte Haus finden Sie im Bereich der Gesund- berühmten 20 DM ist uns schwergefallen, aber es mußte heitspolitik. sein. Denn die Substanz der Krankenhäuser durfte nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – weiter verrotten; und das nur deswegen, weil die Bun- Widerspruch bei der SPD) desländer nicht mehr bereit waren, diese Kosten weiter zu tragen – bis auf Bayern, wohlgemerkt. In der Gesundheitspolitik heißen sechs Jahre Bundesmi- nister : sechs Jahre Beitragssatzstabilität, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Jetzt wollen Sie das Festzuschußsystem beim Zahn- der F.D.P.) ersatz wieder einführen. Das soll soziale Gerechtigkeit sein? Früher war es doch so: Diejenigen, die sich einen keine weitere Steigerung der Belastung der Arbeitsko- höherwertigen Zahnersatz leisten konnten, verursachten sten, die weitere Zur-Verfügung-Stellung des medizi-einen wesentlich tieferen Griff in die Sozialkasse, weil nisch Notwendigen, aber auch das Einfordern von mehr es ja eine prozentuale Bezuschussung gab. Wer gesagt Eigenverantwortung, die ja Ihr Bundeskanzler immerhat, ich habe nicht so viel, bei mir darf die Versorgung auf seine Fahnen geschrieben hat. nur 4 000 DM kosten, der verursachte Kosten von Nun hat ja, Frau Ministerin – Sie sprechen gleich –, 2 000 DM. Wer sagte, mir können Sie deutlich besseren jeder das Recht auf 100 Tage Schonzeit. Ich muß jetzt Zahnersatz machen, der dann 8 000 DM kostete, der be- schon ein wenig das vorwegnehmen, was Sie gleich sa- kam aus der Sozialkasse 4 000. Das heißt, diejenigen, gen werden. Das weiß man ja so in etwa! die es sich leisten konnten, bekamen auch eine bessere Versorgung. Ist das soziale Gerechtigkeit? Wir meinten, (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nein. Deswegen haben wir Festzuschüsse auf hohem Ni- NEN]: Hellseherische Fähigkeiten!) veau eingeführt. Damit kam das, was medizinisch not- Ich meine sehr wohl, die Schonzeit müßte man Ihnenwendig ist, allen zugute. gewähren. Zudem ist im Bereich der Gesundheitspolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine lange Einarbeitungszeit unverzichtbar, weil die Problematik so schwierig ist. Es geht immerhin um über Sie haben uns nun über mehrere Jahre diffamiert mit 4 Millionen Menschen, deren Arbeitsplätze in diesem der berühmten Frage der Zuzahlung bei Arzneimitteln. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 163

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (A) Sie haben den Menschen eingeredet, die Zuzahlung sei mazeutischen Versorgung, wirklich die Schularbeiten(C) von Übel, das habe mit Eigenverantwortung nichts zugemacht wurden: Preissenkung um 5 Prozent, Einfüh- tun. Und was kommt dabei heraus? Statt 9, 11 undrung von Festbeträgen – all das hat dazu geführt, daß die 13 DM sollen es jetzt 8, 9 und 10 DM sein. Es wirdUmsätze der gesetzlichen Krankenversicherung noch demnächst in den Apotheken ein „Sturm des Jubels“heute unter den Umsätzen von 1992 liegen. Das haben losbrechen, weil für das Arzneimittel nicht mehr 9, son- Sie anscheinend übersehen, oder Sie wollen es nicht se- dern 8 DM zugezahlt werden müssen. Diese für den ein- hen. In seiner ideologischen Verblendung sieht auch zelnen marginale Entlastung macht in der Summe fürHerr Ostertag dies nicht. die gesetzliche Krankenversicherung rund 1 Milliarde Schließlich sollen – ich habe es eben schon gesagt – DM aus. Wir fragen Sie, wie Sie dies gegenfinanzieren ausgerechnet die Geringverdiener die Finanziers Ihrer wollen. Wahlgeschenke werden. Das Krankenhausnotopfer soll gestreckt oder abge- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: So ist es!) schafft werden. Somit fehlen rückwirkend für das Jahr 1998 880 Millionen DM. Oder wollen Sie – denn zurDie „Hannoversche Allgemeine“ schreibt schon heute Gegenfinanzierung ist unter anderem vorgesehen, diemorgen: Statt von einem Notopfer für Krankenhäuser 620-Mark-Jobs sozial- und krankenversicherungspflich- wird man künftig von einem „Notopfer von Geringver- tig zu machen – die Beitragszahler rückwirkend zur So- dienern“ sprechen. zialkasse bitten? Das wäre ja etwas ganz Neues; bis jetzt habe ich nichts derartiges gelesen. Also fehlen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Ministerin, zumindest für dieses Jahr 880 Millio- der F.D.P.) nen DM. Ich fasse zusammen: Ihr Erstlingswerk, Frau Fischer Zum Arzneimittelbudget: Ich habe immer geglaubt, – auch wenn ich persönliche Sympathie für Sie nicht be- Herr Kollege Dreßler, nach dem Gesundheitsstrukturge- streiten kann –, ist nicht gelungen. Denn Ihre Formulie- setz, nach der dreijährigen Budgetierung – später wurde rungsvorschläge für das Gesetz, das ich jetzt hier kriti- sogar ein viertes Jahr angehängt – hätten alle, auch Sie, siere, gefährden die Beitragssatzstabilität und damit die neue Regierung, eingesehen, daß Budgetierung, vor auch die Arbeitsplätze in diesem Bereich sozialer allem die sektorale Budgetierung, ins Elend führt. Ange- Dienstleistungen. Neue werden damit nicht geschaffen. sichts der dynamischen Entwicklung im Gesundheitsbe- Die qualitativ hochwertige Versorgung wird nicht mehr reich kann Budgetierung nicht der Gedanke der Zukunft gewährleistet sein, wenn Sie nicht noch nachbessern. sein. Sie kehren dennoch dahin zurück. Spätestens imDas ist ja eines der beliebtesten Worte – vielleicht sogar Herbst nächsten Jahres werden Sie sich mit der FrageUnworte – des Jahres 1998: Wir müssen noch nachbes- sern. Aber Vertrauen in unsere solidarische gesetzliche (B) der Rationierung auseinandersetzen müssen. Das ist gar (D) keine Frage. Krankenversicherung schaffen Sie damit nicht. Leider kein guter Start. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dann werden all die auf der Matte stehen, denen Sie entweder abverlangen, Leistungen zu erbringen, ohne dafür Geld zu bekommen, oder denen Sie die Leistun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat gen, die sie vorher bekommen haben, entziehen wollen. jetzt die Ministerin Andrea Fischer. Das wird die Folge Ihrer Politik sein. Aber Sie müssen die Wahlgeschenke, die Sie ver- Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit: sprochen haben, schnell umsetzen – zumindest noch an- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die neue fangs. Später, wenn Sie die Strukturreform angehen, von Opposition sucht offensichtlich noch nach ihrer Rolle: der Sie gesprochen haben, werden Sie hoffen, daß man- Gestern hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU uns ches in Vergessenheit geraten sein wird. Nichtstun vorgeworfen. Andere aus Ihren Reihen sagen, das, was wir bislang vorgeschlagen hätten, sei irgendwie Wer sind nun die Finanziers dieser Versprechungen falsch. und Wahlgeschenke? Erstens sind es dieLeistungser- bringer. Budgetierung heißt: Fallbeil herunter, keine (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das wenige, müde Mark mehr! All das, was wir überwunden glaub- was ihr macht, ist auch noch falsch!) ten, wird wiederkommen. Das gilt zum Beispiel für den – Das ist eine sehr diplomatische Formulierung, Herr dramatisch verfallenden Punktwert: Die freien BerufeRepnik. Aber es hilft alles nichts: Ich finde, es hat werden gezwungen, ihre Leistungen zu einem Zeitpunkt durchaus etwas Nickeliges, wie Sie darüber reden. zu erbringen, an dem sie gar nicht wissen, was sie später dafür bekommen werden, weil der Punktwert inzwi- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES schen verfallen ist. 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ingrid Matt- häus-Maier [SPD]: „Nickelig“! Sehr gut!) Zweitens soll die pharmazeutische Industrie zah- len: Die Festbeträge sollen gesenkt werden. Mit einem Ich halte fest: Das, was wir machen, machen wir Federstrich werden Erträge abgeschöpft. Sie haben an- rasch, insbesondere in der Gesundheitspolitik. Wir wol- scheinend nicht gemerkt, Frau Ministerin, daß nach dem len mit diesemVorschaltgesetz die Bedingungen für Gesundheitsstrukturgesetz in diesem Bereich, der phar- eine große Gesundheitsreform schaffen, die Legitima- 164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Bundesministerin Andrea Fischer (A) tion für die gesetzliche Krankenversicherung wiederher- chen darf: Das Bundesgesundheitsministerium verfügt(C) stellen und das Preis-Leistungs-Verhältnis ins Lot brin- über viele ausgesprochen kompetente Mitarbeiter, mit gen. Wir werben für Solidarität in der gesetzlichenderen Hilfe ich und die Fraktionen der Bündnisgrünen Krankenversicherung, die wir erreichen wollen, indem und der SPD in den letzten Tagen an diesem Entwurf wir die Belastungen gleichmäßiger verteilen, als das in gearbeitet haben. Tun Sie nicht so, als könnten Sie die den letzten Jahren geschehen ist. Tatsache, daß ich bislang keine anerkannte Gesund- heitsexpertin gewesen bin, zum wohlfeilen Argument (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen das Gesetz nehmen. Das halte ich für ein Argu- und bei der SPD – Zuruf von der F.D.P.: Wo ment, das Ihrer nicht würdig ist. denn?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wäre ich an Ihrer Stelle: Mir würde es auch nicht ge- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der fallen, wenn eine neue Regierung käme und etliche von PDS) den Dingen, worum die alte Regierung lange gerungen hat, einfach wieder rückgängig machen würde. Zum Wir haben hier einen handwerklich soliden Entwurf formvollendeten Hinnehmen einer Niederlage gehörtvorgelegt, der durch die Zusammenarbeit der beiden aber, zu erkennen, warum man eine Niederlage einstek- Koalitionsfraktionen entstanden ist. Wir haben uns in ken mußte. Ihre Gesundheitspolitik hat zu dieser Nie-der Beratung dieses Gesetzentwurfes im äußersten Maße derlage beigetragen. Dafür haben Sie die Quittung be- beschränkt, nämlich auf genau das, was in den Koaliti- kommen. onsverhandlungen als die notwendigsten Maßnahmen, die bis Ende dieses Jahres durchgeführt werden sollen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN festgelegt worden war: Wiederherstellung derSolidari- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tät und Gewährleistung von Beitragssatzstabilität. Die PDS) Beitragssatzstabilität ist von sehr großer Bedeutung. Die Es war ganz offenkundig, daß sehr viele Menschenwirklich sehr begrüßenswerte und unmittelbar notwen- im Land den Eindruck hatten: Das, was ich für die Ver- dige Senkung der Rentenversicherungsbeiträge durch sicherung zahlen muß, stimmt nicht mit dem überein,die Steuerreform soll und wird von den Krankenversi- was man mir dafür gibt, vor allen Dingen dann nicht,cherungsbeiträgen nicht aufgefressen, nicht negativ be- wenn ich bedenke, wofür ich zusätzlich zahlen muß, sei einträchtigt werden. Deswegen ist die Stabilität der Bei- es in Form eines Notopfers, sei es in Form von Arznei- tragssätze in der GKV auch bei diesem Vorschaltgesetz mittelzuzahlungen, sei es im Hinblick auf das Drama,ein ganz wichtiges Ziel. das sich dieses Jahr in den Zahnarztpraxen abgespielt hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Her- (B) (D) Ich finde, ein Punkt, den man unter symbolischen Ge- mann Kues [CDU/CSU]: Wenig Beifall!) sichtspunkten nicht geringschätzen sollte, war die Bot- schaft: Alle, die nach 1978 geboren sind, werden nie Viele, die mir in den letzten Tagen gratuliert haben, wieder in ihrem Leben Zahnersatz über die gesetzliche haben mich vor diesem Amt gewarnt. Da fielen die be- Krankenversicherung bekommen. – Wir können vieleindruckendsten Worte, von denen das „Haifischbek- darüber reden, Herr Lohmann, daß die Möglichkeitenken“ fast noch eines der harmlosen ist. Gleichwohl wür- der Prophylaxe verbessert worden sind und daß es Sinn de ich nach den ersten Erfahrungen sagen: Diese War- macht, diese in Zukunft durch Anreizsysteme noch ver- nungen waren alle weit untertrieben. stärkt zu berücksichtigen; aber Sie können den jungen (Heiterkeit) Leuten nicht vermitteln, daß eine Generation noch alles bekommt und die Generationen, die danach kommen,Mir sind inzwischen schon wirklich beachtlich viele nicht mehr. Fehdehandschuhe hingeworfen worden, noch bevor überhaupt ein Gesetzentwurf vorlag. Sie dürfen sicher (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein: Die nehme ich alle auf, versehe sie mit Namen und und bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lü- lege sie schön fein in einen Schrank. Wie Sie mich ken- denscheid] [CDU/CSU]: Irgendwann muß nen, gehe ich keinem Streit aus dem Weg. man doch anfangen!) Trotzdem, ganz im Ernst: Ich setze weiterhin auf Das mag für Sie bitter sein. Aber die Wählerinnen und Dialog und darauf, daß es dem deutschen Gesundheits- Wähler haben einer Gesundheitspolitik, die sie als ent- wesen nicht gut tut, wenn alle weiterhin in den Gräben, solidarisierend und als privatisierend empfunden haben, die sie sich seit Jahrzehnten gegraben haben, sitzen blei- die rote Karte gezeigt. Deswegen meine ich, Sie sollten ben und von vornherein mit großen Kanonen schießen. diese Niederlage tapfer annehmen und zugeben, daß wir hier einiges machen müssen. Das ist nicht einfach nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das wohlfeile Bedienen von Wahlversprechen; dahinter und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der steckt vielmehr eine andere Logik: Wir wollen in der PDS) Gesundheitspolitik neue Wege gehen. Ich bin ganz fest davon überzeugt, daß es im deutschen Natürlich ist es ein ehrgeiziges Vorhaben – HerrGesundheitswesen sehr viele Menschen gibt, die bereit Lohmann, da haben Sie völlig recht –, einen solchen Ge- sind, sich auf einen solchen Dialog einzulassen, die be- setzentwurf innerhalb weniger Tage vorzubereiten. Aber reit sind zu Reformen, die unter der Zielsetzung des wenn ich meinem Vorgänger dieses Kompliment ma-Gemeinwohls stehen und nicht unter der Zielsetzung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 165

Bundesministerin Andrea Fischer (A) „Ich will am Ende mehr haben“. Auf diese Menschenstabilität sehr ernst. Wir führen auch noch andere Bela- (C) setze ich, sie lade ich zu Reformen ein. stungen zurück, die die Versicherten zum Teil noch gar nicht gespürt haben, weil sie erst im nächsten Jahr in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kraft getreten wären: die Dynamisierung der Zuzahlun- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der gen, die Psychotherapeutenzuzahlungen, die Koppelung PDS) der Beitragssatzerhöhung einer Kasse an eine Zuzah- Ich glaube, die, die mir jetzt diese Fehdehandschuhelungserhöhung. Die Entscheidungen über die Einfüh- hingeworfen haben, gibt es auch in vielen der Verbände. rung dieser Regelungen in der gesetzlichen Krankenver- Ich kann nur sagen: Es hat einen Vorteil, nicht schonsicherung bedürfen dringend einer Korrektur. lange in irgendeinem dieser Gräben gesessen zu haben. Nun haben Sie gesagt, dasKrankenhausnotopfer Vor diesem Hintergrund freue ich mich auf das Ge-hätten auch Sie nicht gern eingeführt. Trotzdem könnten spräch mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten.wir es jetzt nicht abschaffen. – Herr Lohmann, wenn an Vielleicht ist es ja doch möglich, da einen neuen Stildiesem Krankenhausnotopfer irgend etwas zu lernen einzuführen. war, dann dies: daß Sie da ganz offensichtlich den Bo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen überspannt hatten. Es ging zum Schluß gar nicht und bei der SPD) mehr um die 20 DM. Vielmehr hatten die Leute die Fa- xen dicke davon, noch einmal zahlen zu müssen, obwohl Ich will am Anfang einmal darstellen, was überhaupt sie jeden Monat fast 14 Prozent Beiträge zahlen. in dem von Ihnen schon jetzt inkriminierten Gesetz steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Ja, wir wollen die Zuzahlungen zurückführen, insbe- sondere die für Arzneimittel. Da haben wir wieder die Wir haben an diesem Punkt die Krankenkassen auf berühmte Frage: Ist das nun viel oder wenig? Da kann unserer Seite. Es ist ja nicht so, daß nur Sie rechnen man sagen – ich vermute, die PDS wird das gleich tun –: könnten, Herr Lohmann, die Krankenkassen aber nicht. Das ist aber ein kleiner Schritt; ihr müßt sie viel weiter Wir haben die Kassen bei diesem Vorhaben auch des- zurückführen. Die CDU sagt: Wenn ihr unsere Zuzah- wegen auf unserer Seite, weil sie diejenigen waren, die lungen nur so wenig zurückführt, waren sie wohl nicht den Ärger abbekommen haben, der eigentlich die alte so schlimm. Bundesregierung hätte treffen müssen. Die Krankenkas- sen haben feststellen können, daß das Verhältnis von (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aufwand und Geld, das man dadurch tatsächlich in die NEN]: Daß du einmal das Kind in der Mitten Kassen bekommt, nicht mehr angemessen ist und daß bist!) damit die Verwaltungskosten für diese Maßnahme ein (B) (D) – Ich bin nicht das Weltkind in der Mitten. VielmehrAusmaß erreicht haben, das diese Maßnahme einfach geht es um Beitragssatzstabilität; davon habe ich gerade sinnlos erscheinen ließ. Es stellt sich also die Frage, ob gesprochen. das Geld, das Sie für 1998 buchhalterisch eingeplant ha- ben, überhaupt in die Kassen gekommen wäre. Deswe- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Es geht ums gen weise ich Ihren Vorwurf zurück. Prinzip! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es ist doch nicht so, als könnten wir das Geld in der ge- Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Wer zahlt es setzlichen Krankenversicherung drucken. – Entschuldi- jetzt?) gung, eine Entlastung der Versicherten um gut 800 Mil- lionen DM ist nicht nichts. Wenn man gleichzeitig Bei- Wir haben auch Privatisierungselemente in der ge- tragssatzstabilität will, muß man darauf achten, daß man setzlichen Krankenkasse zurückgenommen. Nun gilt ja sich bei der Rückführung der Zuzahlungen in einemPrivatisierung per se als modern. Gleichwohl muß man Rahmen bewegt, der insgesamt für das System vertret- dazu sagen: Der Sinn einer gesetzlichen Krankenversi- bar ist. Ich finde, das haben wir getan. cherung besteht darin, Solidarität zu organisieren, näm- lich die zwischen Kranken und Gesunden, die zwischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Alten und Jungen, die zwischen Familien mit Kindern und bei der SPD) und ohne Kinder und die zwischen Leuten mit hohen Noch dazu können wir für uns in Anspruch nehmen, und niedrigen Einkommen. In diesem Sinne bekenne ich daß sich die überproportionale Entlastung bei den gro- mich dazu, ausgesprochen altmodisch zu sein. ßen Packungen besonders zugunsten von chronisch Die Wirkung dieser Privatisierungselemente will ich Kranken und Älteren auswirkt. Dazu kommt, daß wirhier nur an dem Punkt der Kostenerstattung beim Zahn- die Befreiungsregelung für die chronisch Kranken deut- ersatz deutlich machen. Sie hat ganz offensichtlich nicht lich verbessert haben. Das halte ich nun wirklich für ein dazu geführt, daß es den Versicherten besser ging, daß gelungenes Beispiel zielführender Sozialpolitik, die wir sie besser versorgt worden wären und daß sie mehr Ver- anstreben. trauen zu ihren Ärzten gewonnen hätten, im Gegenteil: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Umsatzrückgang in den Zahnarztpraxen von und bei der SPD) 30 Prozent bis zum Teil 40 Prozent spricht eine beredte Sprache, was mit diesen Privatisierungselementen beim Ich könnte mir auch weitergehende Rückführungen Zahnersatz angerichtet worden ist. Wenn wir das jetzt vorstellen. Aber wir nehmen das Ziel der Beitragssatz- auf das Prinzip der Sachleistung zurückführen wollen, 166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Bundesministerin Andrea Fischer (A) dann wollen wir damit Frieden zwischen den Zahnärzten erwecken hier die ganze Zeit den Eindruck, als würden (C) und den Versicherten herstellen. Wir wollen den Versi- wir den Leuten etwas wegnehmen. Das ist doch über- cherten wieder Klarheit darüber geben, was sie beimhaupt nicht wahr. Zahnersatz erwartet und wie es funktioniert. Dies ist ei- Wir haben zusätzlich – weil wir nicht geschichtsver- ne sehr wichtige Maßnahme zur Stärkung der Solidarität gessen sind und weil wir die Erfahrungen mit der Bud- in der gesetzlichen Krankenversicherung. getierung, die wir hinter uns haben, nicht vergessen ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben – hochdifferenzierte Regelungen für jeden der ein- und bei der SPD) zelnen Sektoren gefunden. Alle diejenigen, die sich jetzt auch aus Interessensgründen darüber beklagen, fordere Vor dem Hintergrund der Debatte, die wir heuteich auf: Schauen Sie sich genau an, was dort steht. Wir schon über die Pflegeversicherung hatten und in der so haben uns die Situation in den einzelnen Bereichen – sei emphatisch die Sozialversicherung verteidigt wurde – es das Krankenhaus, sei es die ambulante Versorgung – man muß sich ja im Moment an vieles gewöhnen; aber jeweils ganz genau angeschaut und eine dafür jeweils die Pflegeversicherung gehört jetzt zu meinen Zuständig- passende Regelung gefunden. Das ist unser Angebot, keiten –, höre ich dann den Vorwurf, daß wir dieGe- auch an die Leistungserbringer, von denen immer be- ringverdiener in die Sozialversicherung einbeziehen hauptet wird, daß wir ihnen einfach nur noch in die Ta- wollten. Das sei ein Abkassieren zugunsten der ausge- sche greifen wollten. bluteten Kassen der Sozialversicherung. Ich glaube, da müssen Sie, meine Damen und Herren, Ihr Verhältnis ( [F.D.P.]: Die spielen Sie doch zur Sozialversicherung noch einmal ein bißchen klären. gegeneinander aus!) Es ist doch nicht wahr: Wir kassieren doch nicht ab, wir Wir begrenzen die Zuwächse der Ausgaben. Das ist et- stecken uns das Geld doch nicht in die eigene Taschewas anderes als wegnehmen. Ich glaube, daß es sehr und hauen damit nach Mallorca ab. richtig ist, wie wir das gemacht haben, nämlich maßvoll (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ und differenziert. Daß wir auf Dauer nicht eine sektora- CSU]: Das wäre ja auch noch schöner!) le, sondern eine globale Begrenzung wollen, ist auch klar. Aber mit dieser Art der Wortwahl erwecken Sie diesen Eindruck. Wir reden hier über Solidarität. Eine Sozial- Aber Sie wissen sehr gut, daß es dafür Bedingungen versicherung ist darauf angewiesen, daß die Menschen braucht, die wir erst noch schaffen müssen. sich an ihr beteiligen. Natürlich kann mir jeder einzelne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen: Wenn ich keinen Beitrag zahle, geht es mir bes- und bei der SPD) ser, weil ich ja mehr Geld in der Tasche habe. Aber das (B) Free-Rider-Prinzip in der Sozialversicherung funktio- Meine abschließenden Worte zu Pflegeversicherung (D) niert nur für das Individuum gut. Es funktioniert nichtund Krankenversicherung will ich aus Zeitgründen in für das Kollektiv. Eine Sozialversicherung, aus der sich einem sagen. Was die Art und Weise angeht, in der Sie immer mehr Menschen verabschieden, bedeutet, daß die darüber reden, was es an Debatten über die Pflegeversi- Beiträge für diejenigen, die in ihr bleiben, ständig stei- cherung in den letzten Wochen gegeben habe: Mit Ver- gen. laub, Sie haben uns immer vorgeworfen, wir seien re- formunwillig; Sie sind sogar schon diskussionsunwillig! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN PDS) und bei der SPD) Der Finanzminister hat einige vollkommen richtige Deswegen finde ich es berechtigt, wenn wir sagen: Eine Fragen aufgeworfen, nämlich die Frage nach dem Ver- Sozialversicherung funktioniert nur, wenn wir uns alle hältnis zwischen steuerfinanzierten und versicherungsfi- nach unserer Leistungsfähigkeit daran beteiligen. nanzierten, an den Arbeitskosten ausgerichteten Sozial- Jetzt noch einige Worte zu dem, was Sie geradesystemen, die Frage nach dem Verhältnis zwischen so- schon gesagt haben – das ist mir inzwischen auch schon zialversicherungsrechtlich und staatlich definierten An- reichlich untergekommen –, zur Frage der Ausgabenbe- sprüchen und auch die Frage, ob wir eine zielgenauere grenzung in den verschiedenen Sektoren des Ge-Sozialpolitik brauchen. Ich halte diese Fragen für be- sundheitswesens im nächsten Jahr. Herr Lohmann, das rechtigt. Ich glaube, daß wir sie nicht mit einem Sy- darf doch wohl nicht wahr sein, daß Sie sich hier hin-stemwechsel beantworten können, weil sich die Dinge in stellen und so tun, als würden wir den Leuten Geld weg- der Sozialpolitik viel langsamer und schwerfälliger be- nehmen. Wir begrenzen im nächsten Jahr die Zuwächse wegen lassen. Aber eine solche Debatte muß man doch in den einzelnen Sektoren. Das ist doch etwas völlig an- führen. deres als die Behauptung, daß wir den Leuten etwas (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ wegnehmen würden. Was erzählen Sie denn hier? Wir CSU]: Aber der Minister sagt, wir sollten begrenzen die Zuwächse der Umsätze in den verschie- ruhig sein, wenn er spricht!) denen Sektoren des Gesundheitswesens auf die zu er- wartende Lohnsteigerung des nächsten Jahres. Sie als Ich meine das auch im Hinblick auf diegesetzliche Freunde des freien Wirtschaftens müßten das dochKrankenversicherung. Dazu sage ich abschließend klasse finden. Welche andere Gruppe in dieser Gesell- noch einmal in eigener Sache: Ich weiß um all die vielen schaft hat sozusagen garantierte Umsatzzuwächse. Sie großen Reformversuche, die es im Gesundheitswesen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 167

Bundesministerin Andrea Fischer (A) gegeben hat. Glauben Sie nur nicht, daß ich, bloß weil nicht erhalten bleiben. Es wird zur Rationierung und(C) ich auf diesem Feld neu bin, so tun würde, als hätte es letztlich auch wieder zu Wartezeiten kommen. das alles nicht gegeben, und daß ich das alles völlig un- Sie sagen den chronisch Kranken, Sie nähmen sie von befangen mache. Ich wehre mich aber gegen den Defä- tismus, der zum Teil von denjenigen ausgeht, die all die- den Zuzahlungen und den vielen Belastungen aus. Die alte Koalition hatte die Ein-Prozent-Regelung. Ihre Ver- se Versuche schon hinter sich haben und gesehen haben, einbarung ist aber viel brutaler: Sie führen beispielswei- wie schwierig das ist. Ich tue das nicht, weil ich naiv Arzneimittelbudget und eine Anfängerin bin, sondern ich wehre mich ein-se rigoros das und das Heilmittel- budget wieder ein. Wenn Sie das tun, bedeutet das, daß fach gegen die Art von Defätismus, weil jedes Sozialsy- chronisch Kranke schlechter behandelt werden, weil bei stem – die gesetzliche Krankenversicherung, die Pflege- versicherung, die Rentenversicherung, was auch im-innovativen Produkten gespart wird. mer – ständig verändert werden muß. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Ich sage es sehr deutlich: Beispielsweise die Krebskran- CSU]: Aber nicht dauernd in der Richtung!) ken und die chronisch Kranken wie Aids-Infizierte und andere sind durch das Arzneimittelbudget massiv betrof- Die Welt ändert sich: Die Arbeitswelt ändert sich, die fen. Dies werden Sie den chronisch Kranken recht bald Verhältnisse im Gesundheitswesen haben sich deutlich verändert. Eine Reform ist also immer wieder notwen- deutlich sagen müssen. dig. Ich bin der Auffassung, daß es dabei keine Tabus (Zuruf von der SPD) geben darf. – Lesen Sie nach, was Arzneimittelbudget bedeutet. Wir In diesem Sinne lade ich alle, denen daran liegt, daß hatten den Mut, zu den Richtgrößen überzugehen. Bei wir die Zukunft unserer gesetzlichen Krankenversiche- Richtgrößen können wir die unterschiedlichen Patien- rung sichern und ausbauen, in die Reformwerkstatt zu tengruppen genau differenzieren. Wir können bei den einem offenen Dialog ein, der nicht aus den Gräben her- Richtgrößen genau sagen: Hier sind Krebspatienten, hier aus, sondern auf gleicher Augenhöhe geführt wird. sind Aids-Patienten. Beim Arzneimittelbudget werden Sie dies nicht machen. (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der SPD sowie des Ein anderer entscheidender Punkt beim Arzneimittel- Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) budget: Sie führen wieder die Globalhaftung der Ärzte ein, und zwar in einem KV-Bereich. Sie treffen diejeni- gen, die Arzneimitteltherapie vernünftig betreiben, und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat andere, die großzügig damit umgehen. Halten Sie das in (B) jetzt der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae. einer modernen medizinischen Versorgung für einen(D) (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sinnvollen Weg? Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden NEN]: Der hat's jetzt aber schwer! – Lachen gegen die Wand laufen. bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Frau Präsidentin! Mei- Ein weiterer wichtiger Punkt: Sie glauben, Sie könn- ne sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzent- ten das Arztbudget fixieren. Haben Sie auch darüber wurf knebelt sowohl die Patienten als auch die Lei-nachgedacht, wie das Arztbudget in den neuen Bundes- stungserbringer. Das werde ich Ihnen jetzt sehr deutlich ländern aussieht? Haben Sie eine Differenzierung? – sagen. Nein! Wenn Sie sich um die Situation in den neuen Bundesländern wirklich gekümmert hätten, dann hätten (Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD Sie, Frau Minister, dieses Budget für Ärzte in West und und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ost nicht in gleichem Umfang fixiert; denn dies ist nicht Mit diesem Gesetzentwurf täuschen Sie diePatien- tragbar. ten. Sie glauben, Sie könnten den Patienten mit diesem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Gesetzentwurf entgegenkommen. Letztlich werden die ten der CDU/CSU) Patienten sehr bald merken, daß sie von Ihnen getäuscht werden. Sie wollen und werden mit diesem Budget die Freibe- ruflichkeit massiv beeinflussen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Denn es müssen 2 Milliarden DM eingespart werden.Sie werden es schaffen, daß viele Ärzte durch die Fixie- Wo wird eingespart? In verschiedenen Bereichen: bei- rung des Arztbudgets nicht überleben. Vielleicht ist das spielsweise im ambulanten Bereich, im Krankenhausbe- auch gewollt; denn es handelt sich um eine ideologische reich, im zahnärztlichen Bereich, im Bereich des Arz-Frage. Vielleicht wollen Sie die Freiberuflichkeit zu- neimittelbudgets und bei den Heil- und Hilfsmitteln.rückfahren. Vielleicht wollen Sie das Krankenhaus mas- Was bedeutet das? Sie sagen den Bürgern, sie bekämen siv stärken. Wenn man die Ausnahmeregelungen, die die volle Leistung. Aber das Geld bleibt knapp. DasSie für das Krankenhaus fixiert haben, sieht, dann muß heißt: Das Leistungs- und Qualitätsniveau, mit dem wir man glauben, daß Sie die Freiberuflichkeit zurückfah- das Gesundheitswesen bisher organisiert haben, wirdren, den freiberuflichen Arzt beseitigen, das Geschehen 168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Dr. Dieter Thomae (A) stärker in das Krankenhaus verlagern und letztlich das Wenn wir nämlich heute die Regierungserklärung des(C) Krankenhaus für die ambulante Versorgung öffnenBundeskanzlers debattieren und zugleich in erster Le- wollen. Ich sage Ihnen: Hier werden wir massiven Wi- sung Gesetzentwürfe einbringen, die die Ankündigun- derstand leisten; dies werden wir nicht akzeptieren. gen aus der Regierungserklärung bereits umsetzen wol- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- len und sollen, dann beweist die neue Koalition damit, ten der CDU/CSU) daß die Glaubwürdigkeit von Regierungsarbeit bei ihr wieder einen besonderen Rang erhält, meine Damen und Ich höre immer – auch in der Erklärung Ihres Kanz- Herren. lers –: Wir wollenLeistung belohnen. Wenn man die Formulierung im Budget der Zahnärzte sieht, so stellt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS man eindeutig fest: Wer fleißig ist, der wird bestraft, 90/DIE GRÜNEN) seine Honorare werden massiv abgesenkt. Entweder Sie entscheiden sich und sagen: „Wir wollen, daß Leistung Wir demonstrieren ganz einfach: Ankündigungen folgen belohnt wird“, dann müssen Sie dies auch in allen Be- Taten. reichen durchziehen, oder Sie müssen sagen: „Wir ma- Die Koalitionsfraktionen haben sich für das kom- chen Flickwerk“, dann weiß jeder, woran er ist. In dermende Jahr die Durchführung einer grundlegenden Re- Gesundheitspolitik ist Flickwerk auf den Weg gebracht form unseres Gesundheitswesens, insbesondere der ge- worden. Es ist so enttäuschend, daß Sie ein Konzept auf setzlichen Krankenversicherung, vorgenommen. Wir den Weg bringen, das uralt ist und aus der Mottenkiste werden dabei zum ursprünglichen politischen Reform- kommt. Das ist Planwirtschaft in höchster Potenz. begriff zurückkehren. Während die alte Regierung aus (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- CDU/CSU und F.D.P. unter Reformen im wesentlichen ten der CDU/CSU) die Erhöhung von Belastungen für die Menschen nach dem Motto „weniger Leistungen für mehr Geld“ ver- Sie werden damit scheitern. Sie glauben, Sie könnten standen hat, mit der Budgetierung die Beitragssatzstabilität sichern. Ich sage Ihnen: Sie werden sie nicht sichern. Die Pati- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das stimmt doch enten werden recht bald merken, daß sie von Ihnen nicht gar nicht!) ehrlich behandelt werden – um mich zurückhaltend aus- zudrücken. Sie haben im Wahlkampf in verschiedenen macht die neue Koalition es wieder richtig: Wir werden Bereichen die Unwahrheit gesagt. dafür sorgen, daß es den Menschen nach den Reformen besser geht, daß die Systeme besser funktionieren und (Widerspruch bei der SPD) leistungsfähiger werden als zuvor. Ich nenne nur ein Thema, den Kur- und Rehabilita- (B) tionsbereich. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa (D) Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Was haben Sie nicht alles versprochen, was Sie in diesem Bereich ändern würden! Nichts haben Sie ge- Meine Damen und Herren, eine grundlegende Reform macht! Sie sind doch viel zu feige, dies zurückzuneh-hat Vorbedingungen, die erfüllt werden müssen. Soll sie men, weil Sie es nicht finanzieren können. sorgfältig vorbereitet werden, benötigt sie Zeit. Es ist ja (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- geradezu eine Lachpille, Kollege Thomae, wenn Sie hier ten der CDU/CSU) nach 14tägiger Amtszeit der neuen Bundesregierung er- klären, wir hätten Ihr Schlachtfeld im Rehabilitationsbe- Ich erinnere daran, wie Sie durchs Land gezogen sindreich noch nicht korrigiert. Seien Sie ganz beruhigt: Das und in den Kurorten und im Reha-Bereich Versprechun- wird mit den Betroffenen ordnungsgemäß strukturpoli- gen gemacht haben, die Sie überhaupt nicht halten kön- tisch in dieser Reform auf den Weg gebracht. Dann nen. Wenn ich eine solche Politik machen würde, dann können Sie wieder hier stehen und die Wut über den würde ich mich als F.D.P.-Mann schämen, weil ich vor verlorenen Groschen Ihrer Macht im Plenarsaal des der Wahl etwas versprochen hätte, was ich nach derDeutschen Bundestages zum Ausdruck bringen. Wahl überhaupt nicht hätte halten können. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – GRÜNEN und der PDS) Lachen bei der SPD – Bernd Reuter [SPD]: Als F.D.P.-Mann würde ich mich auch schä- Herr Thomae, nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir mit men!) dem Versprechen eines Politikwechsels angetreten sind. Diesen Politikwechsel werden wir praktizieren. Das Wort hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Mit diesem Ge- jetzt der Abgeordnete Rudolf Dreßler. setz?)

Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! MeineDaß das eine Korrektur Ihrer unseligen Gesetze bedeu- Damen und Herren! Nichts kennzeichnet glaubwürdige tet, ist jedem Deutschen, der uns gewählt hat, klar, nur Politik erfolgreicher als die auf die Ankündigung un-Ihnen nicht. Aber uns hat die Mehrheit gewählt! Neh- mittelbar folgende politische Maßnahme. men Sie das einmal zur Kenntnis. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 169

Rudolf Dreßler (A) Angesichts der dynamischen Problemlage im Ge-setze vorangestellt, aber es galt: Das Ausmaß der zwin- (C) sundheitswesen ist Politik, wie ich glaube, dazu ver-genden Vorabkorrekturen war durch das Ausmaß der pflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß in der Zeit zwischen Fehlentscheidungen der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung der Vorbereitung der Reform und dem Inkrafttreten der vorgegeben. Zugespitzt formuliert: Hätten die Herren Reform den Krankenkassen die Ausgaben nicht davon- Kohl, Seehofer und Gerhardt sich nicht auf den Weg der laufen, das heißt, dieKrankenkassenbeiträge stabil Zertrümmerung der sozialen Krankenversicherung be- bleiben. Das ist eine unserer grundsätzlichen Vorbedin- geben, wäre vieles von dem nicht notwendig gewesen. gungen. Zum zweiten müssen die von der alten Koaliti- on begangenen politischen Fehler, die zu gravierenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ungerechtigkeiten für die kranken Menschen geführt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang haben, vorab korrigiert werden. Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Ach du großer Gott!) Die neue Koalition erfüllt beide Vorbedingungen für eine Gesundheitsreform. Mit dem heute vorliegenden Auch in der Gesundheitspolitik, Herr Lohmann, hat Vorschaltgesetz sorgen wir dafür, daß die Ausga-die neue Koalition keine gute Erbschaft angetreten. benentwicklung bis zum Wirksamwerden der Strukturre- Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, an form unter Kontrolle bleibt, das heißt, daß die Ausgaben welchen Grundsätzen sich SPD und Bündnis 90/Die nicht stärker wachsen als die Einnahmen. Die Beitrags- Grünen in ihrer Gesundheits- und Sozialpolitik orientie- sätze zur Krankenversicherung werden also, Kollegeren werden. Es heißt dort, daß unsere Sozialsysteme auf Thomae und alle anderen Schreier der Opposition, stabil den Prüfstand gestellt werden müssen. Das bedeutet, sie bleiben. Ich unterstreiche: stabil bleiben. Anstatt sichauf ihre solidarischen Wirkungen zu überprüfen, auf darüber zu freuen – das ist doch Ihre Forderung –, mä- Wirkungen, die die Vorgängerkoalition nicht nur arg keln Sie hier herum. strapaziert, sondern sogar Schritt für Schritt ausgehöhlt Wir sorgen zweitens dafür, daß die unerträglich ho- und beseitigt hat. Wir wollen zukünftig wieder eine hen Zuzahlungen erträglicher gestaltet werden. Daß wir Krankenversicherung, die paritätisch finanziert ist und Ihren ganzen Unsinn nicht auf einmal zurücknehmenallen unabhängig von ihrer Brieftasche den gleichen können, ist ja selbst demjenigen klar, der nur mit einem Schutz im Krankheitsfall bietet. japanischen Taschenrechner arbeitet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) PDS) Aber daß hier eine Umkehr Ihrer Politik erfolgt – weg Wir wollen – nun sage ich ein großes Wort – dieEi- (B) von den Erhöhungen, hin zu geringeren Zuzahlungen –, genverantwortung stärken, (D) das ist das politische Signal, Dieter Thomae. Ich wie- ( [F.D.P.]: Wie paßt das zu- derhole: Hier findet ein Politikwechsel statt. Daß er Ih- sammen?) nen nicht paßt, weil Sie die Zuzahlungen weiter erhöhen wollten, ist uns klar. Aber wir werden sie herunterdrük- aber nicht dadurch, daß es, wie CDU/CSU und F.D.P. es ken, wie wir es versprochen haben. getan haben, einer immer größeren Anzahl von Men- schen erlaubt wird, sich den sozialstaatlichen Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS pflichtungen zu entziehen und sich klammheimlich aus 90/DIE GRÜNEN) den Sozialsystemen zu verabschieden. Meine Damen und Herren, der aus dem Amt geschie- (Zuruf des Abg. Wolfgang Lohmann [Lüden- dene Gesundheitsminister Horst Seehofer hat 1995, also scheid] [CDU/CSU]) vor drei Jahren, in diesem Hause folgendes ausgeführt: Ich halte eine höhere Selbstbeteiligung im deutschenNein, wir wollen, daß endlich wieder alle, Herr Loh- Gesundheitswesen nicht mehr für verantwortbar undmann, ihre Verantwortung für das gemeinsame Ganze möglich. – Herr Seehofer, das, was Sie den Menschen wahrnehmen. Nachdem Sie während der Regierungszeit vor drei Jahren versprochen, aber nie gehalten haben,Ihrer Partei den Menschen seit Jahren einreden wollten, verwirklicht diese neue Bundesregierung bereits nachEigenverantwortung hieße: heraus aus den Systemen, 14 Tagen mit ihrem ersten Gesetz! wird die neue Koalition wieder zum Normalzustand zu- rückkehren, denn Eigenverantwortung heißt für uns: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS hinein in die Systeme. 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Des weiteren korrigieren wir vorwegstrukturelle 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Sei- Fehlentscheidungen der alten Koalition. Alle Elemente fert [PDS]) der privaten Versicherungswirtschaft, wie zum Beispiel Selbstbehalte, Beitragsrückgewähr und Kostenerstat- Oder wollen Sie, Herr Lohmann, weiter ernsthaft den tung, werden ebenso beseitigt wie die Koppelung einer Leuten einreden, daß der, der 14 000 DM im Jahr zur Erhöhung der Zuzahlung an Beitragssatzerhöhungen. Es Alterssicherung in die Rentenkasse zahlt, der 10 000 gilt: Vor den Wahlen hat die SPD das versprochen; nach DM im Jahr zur Sicherung der gesundheitlichen Versor- den Wahlen lösen wir es ein – solide finanziert und bei gung in die Krankenkassen zahlt, der 5 000 DM im Jahr stabilen Beiträgen in der Krankenversicherung. Wirzur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit in die Kassen hätten gerne etwas weniger umfangreiche Vorschaltge- der Bundesanstalt zahlt und 600 DM im Jahr zur Absi- 170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Rudolf Dreßler (A) cherung gegen Pflegebedürftigkeit in die Pflegekassenahmebasis durch Zusammenstreichen der Ausgaben(C) zahlt, keine Eigenvorsorge gegen die Wechselfälle des hinterherzukürzen, mit dem Erfolg, daß jede Kürzungs- Lebens betreibe? runde die Notwendigkeit der nächsten schon in sich trug, weil eben die Ursachen nicht ausgeräumt wurden. Man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS stelle sich bitte einen Augenblick ein Automobilunter- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten nehmen vor, dem Monat für Monat weniger Räder zu- der PDS – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: geliefert werden und das diesem Problem nicht etwa Hat er nie gesagt!) damit Herr zu werden versucht, sich neue Räder zu be- In Wahrheit haben Sie das doch auch nie gemeint,schaffen, sondern damit, daß es Schritt für Schritt ent- sondern die Unsinnigkeit Ihrer Forderung sollte nur Ihr sprechend den weniger zugelieferten Rädern die Auto- Bestreben verdecken, den finanziell etwas Besserge-mobilproduktion absenkt, bis dann irgendwann Schluß stellten zu erlauben, ihre eigenen gruppeninternen Siche- ist. rungssysteme aufzubauen, um nicht mehr für die ande- Das wäre wohl auch nach Meinung der heutigen Op- ren eintreten zu müssen. Herr Lohmann, Klientelismus position absurd. Aber genau diese Absurdität haben Sie nennt man so etwas. bei den Gesetzgebungen, die Sie zu verantworten haben, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) praktiziert. Weil eine Politik nach diesem Muster in der Tat absurd ist, wird die neue Koalition auch damit Das heute eingebrachte Gesetz beweist – die Struk-Schluß machen. Unsere Botschaft lautet daher: Die turreform im Gesundheitswesen wird es im nächstenFlucht aus der Sozialversicherung wird gestoppt. Jahr beweisen –, daß wir damit Schluß machen. Nicht die Extratour, Herr Lohmann, sondern das Füreinander- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS einstehen wird bei uns wieder zum gesellschaftspoliti- 90/DIE GRÜNEN) schen Normalfall. Wir beginnen damit bei der Beseitigung des Mißbrauchs (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS der geringfügigen Beschäftigung. Der entsprechende 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Christa Gesetzentwurf wird nächste Woche zur Beratung anste- Luft [PDS]) hen. Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, daß Nur ein kleiner Hinweis für die Kolleginnen und die neue Koalition auch im Gesundheitswesen Kollegen die der CDU/CSU und F.D.P., weil Sie immer sa- strukturellen Defizite beseitigen wird. gen, das sei ganz schlimm, der Untergang des Abend- landes stehe bevor: Die seit 50 Jahren bekanntlich Im Gegensatz zu CDU/CSU und F.D.P. verleugnen kommunistisch regierte Schweiz und das seit 50 Jahren (B) wir das zentrale Strukturproblem der Sozialversicherung bekanntlich kommunistisch regierte Holland nehmen für (D) und damit auch der Krankenversicherung nicht. Wie in jede verdiente Mark Sozialbeiträge, und das freie allen entwickelten Industriestaaten verschiebt sich auch Deutschland läßt 6 Millionen geringfügig Beschäftigte in Deutschland das Verhältnis des Einsatzes der volks- und über eine Million Scheinselbständige zu. Eine sol- wirtschaftlichen Produktionsfaktoren Kapital und Ar-che Politik, weiter praktiziert und verstetigt, muß die beit: Der Einsatz von Kapital steigt relativ an, der Ein- Systeme zur Explosion bringen. Das haben Sie in Kauf satz von Arbeit geht relativ zurück. Die Finanzierung genommen. Wir tun das nicht, wir beenden diesen Un- unserer Sozialsysteme ist aber ausschließlich an densinn; so einfach ist das. Auch hier ein Politikwechsel. Faktor Arbeit, also den schrumpfenden Faktor, gebun- den. Ein ständig wachsender Teil unserer Volksein- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE kommen steht also zur Finanzierung der Systeme nicht GRÜNEN und der PDS) mehr zur Verfügung. Die weiteren besonders für die Krankenversicherung Das bedeutet im Umkehrschluß, daß auf in den diesem Zusammenhang relevanten Fragen, etwa die schrumpfenden Teil eine relativ wachsende Finanzie-unterschiedliche Behandlung der Beitragspflicht bei den rungslast entfällt. Nirgendwo wird dies deutlicher als im verschiedenen Einkommensarten, werden als Bestandteil Gesundheitswesen. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der Strukturreform beantwortet werden. Denn diese Ko- am Volkseinkommen liegt seit Jahren stabil bei zirka 10 alition hat im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin begriffen, Prozent. Gleichwohl steigen die Krankenversicherungs- daß ohne eine Lösung dieser Probleme die Sozialversi- beiträge. cherung nicht zukunftsfähig gemacht werden kann. Deshalb wiederhole ich die daraus logisch zwingende (Abg. Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Konsequenz, und zwar so lange, bis es den Damen und [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- Herren der heutigen Opposition aus den Ohren heraus- frage) kommt: Meine Damen und Herren, unsere Sozialversi- CDU/CSU, vor allem aber die F.D.P. vertreten seit ge- cherung hat ein Einnahmeproblem und kein Ausgabe-raumer Zeit die Auffassung, unsere Sozialsysteme seien problem. nicht die Systeme für möglichst viele oder gar für alle, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sondern für einen definierbaren Kreis der darauf Ange- GRÜNEN und der PDS) wiesenen. Die alte Koalition hat mit ihrer Politik den widersin- nigen Versuch unternommen, einer schrumpfenden Ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege – – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 171

(A) Rudolf Dreßler (SPD): Mit Verlaub, meine Damen 4 000 DM Mieteinnahmen oder Dividendenerträge hat,(C) und Herren, was sollte das denn sein? Eine Krankenver- dann muß man schon fragen, ob diese Einnahmen nicht sicherung nur für Bedürftige, für Alte und Kranke oder zusätzlich zu seinem Einkommen alsBemessungs- eine Pflegeversicherung nur für Arme oder Pflegebe-grundlage für die Krankenversicherung berücksich- dürftige? Vor allem aber: Wie sollte sich das jemals fi- tigt werden müssen. Dieses Prinzip wird in anderen nanzieren? Wie soll es funktionieren, wenn die zu kurz hochindustrialisierten Ländern, die Sie pausenlos als Gekommenen oder in Not Geratenen die Folgen ihrerMusterländer anpreisen, schon lange praktiziert, nur im Not selbst finanzieren, präziser gesagt: untereinanderfreien Deutschland nicht, weil Sie sich 16 Jahre lang aufteilen müßten? Auch dies wäre doch völlig absurd. nicht darum gekümmert haben. Diesen Sachverhalt wollen wir überprüfen. Ich nehme an, Herr Lohmann, Sie haben eine Zwi- schenfrage. Bitte. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ja. Anders ausgedrückt: Ich habe angekündigt, daß wir uns diesen Themen widmen müssen – Herr Lohmann, Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): wenn Sie zugehört haben, wissen Sie das –, weil das Normalerweise wird das Wort von der Präsidentin er-Mißverhältnis der Entwicklung der Produktionsfaktoren teilt. Kapital und Arbeit die Politik in der Zukunft dazu zwingt, diese Fragen zu beantworten und ihnen nicht auszuweichen. Ihre Einschätzung, es handele sich um Rudolf Dreßler (SPD): Ich bitte um Nachsicht. ein Ausgabenproblem – deshalb haben Sie die Leistun- gen gekürzt –, war falsch. Nein, Herr Lohmann, es geht bei unserem Sozialversicherungssystem empirisch be- Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): legbar um die von mir aufgezeigte Problematik der Ein- Wenn man anderswo nichts mehr zu sagen hat, ist das nahmeverluste. Zur Lösung dieses Problems gehört in vielleicht auch so möglich. erster Linie, die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wieder- (Widerspruch bei der SPD) herzustellen, wie es Walter Riester heute morgen bereits angekündigt hat.

Rudolf Dreßler (SPD): Herr Lohmann, ich hatte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mich bei der Präsidentin bereits entschuldigt. Ich weiß DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht, ob Sie das zur Kenntnis genommen haben. PDS) (B) (D) Auch wir wissen, daß der sehr gut verdienende Ange- Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): stellte die Folgen eines Skiunfalls ebenso privat bewälti- Sie können das mit beantworten. Sie haben gerade ge- gen könnte. Aber, Herr Thomae, wir wollen ihn in der sagt, die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Sozialversicherung halten, damit Herr und Frau Durch- Einkunftsarten soll im weiteren Verlauf Ihre besondere schnittsverdiener die Folgen ihres häuslichen Unfalls zu Aufmerksamkeit finden. Habe ich es richtig in Erinne- für sie erschwinglichen Krankenversicherungsbeiträgen rung, daß Sie in den Wahlkampfpapieren zunächst da- abwickeln können. Das ist der entscheidende Unter- von gesprochen haben, die Beitragsbemessungsgrenze schied: Wir brauchen den Gutverdienenden in der So- und möglicherweise auch die Versicherungspflichtgren- zialversicherung; eine Sozialversicherung, die nur Be- ze fallen lassen oder zumindest nach oben setzen zudürftige und Kranke kennt, ist keine Sozialversicherung, wollen, und daß Sie dann von dem heutigen Ministersondern bloße Caritas. Müntefering mit einer weiteren Stellungnahme, daß an dieser sogenannten Friedensgrenze nichts geändert wird, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zurückgepfiffen worden sind? GRÜNEN und der PDS – Zuruf von der F.D.P.)

Rudolf Dreßler (SPD): Herr Lohmann, ich bitte auch – Na also, wenn Sie in diesem Punkt zustimmen, dann in diesem Punkt vorab um Nachsicht, wenn ich sage: Sie kommen wir vielleicht doch noch zueinander. haben ein Problem. (Heiterkeit bei der SPD – Dr. Dieter Thomae Wir brauchen den Gutverdienenden als Nettozahler, [F.D.P.]: Sie auch!) als denjenigen, der durch seine Beitragszahlungen das System für die weniger Starken zu finanziell erschwing- Ihr Problem besteht darin, daß Sie die Zusammenhänge lichen Bedingungen überhaupt tragbar macht. Wir wol- der Sozialversicherungssystematik – Beitragsbemes-len kein amerikanisches System, wir wollen kein pri- sungsgrenze, Sozialversicherungspflichtgrenze und Ein- vates System, in dem 30 Prozent der Bevölkerung nicht kommen des Mitgliedes – schon seit längerer Zeit offen- versichert sind, weil sie die Beiträge nicht mehr bezah- sichtlich durcheinanderbringen. Es geht hier nicht umlen können. die Beitragsbemessungsgrenze. Herr Lohmann, es geht um etwas ganz anderes: Wenn ein Arbeitnehmer(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Bauen Sie 4 000 DM im Monat verdient, dann ist er Mitglied in der doch nicht dauernd einen Popanz auf! Das will Krankenversicherung. Wenn er darüber hinaus noch doch kein Mensch von uns!) 172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Rudolf Dreßler (A) Selbst die private Krankenversicherungswirtschaft hat präsentiert hat, wird niemanden bei der Opposition über- (C) doch begriffen, daß sie nur auf der Basis einer breit an- raschen. Deshalb will ich hier festhalten: Wir wollen die gelegten und leistungsfähigen sozialen Krankenversi-Arzneimittelpositivliste, die Liste verschreibungsfähi- cherung prosperieren kann. Die neue Mehrheit wird mit ger Präparate, und wir werden sie in diesem Hause auch der Strukturreform im nächsten Jahr dafür sorgen, daß durchsetzen, meine Damen und Herren. sie leistungsfähig bleibt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Wir sind uns sicher: Ohne eine dauerhafte Orientie- 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Sei- rung der gesamten Krankenversicherungsausgaben an fert [PDS]) dem Wachstum der Gesamteinnahmen wird die Stabili- An der Beachtung eines zweiten Grundsatzes führt tät des Systems nicht zu gewährleisten sein. Wir wollen bei der vor uns liegenden Reform kein Weg vorbei. deshalb im Rahmen der Strukturreform einGlobal- Niemand sollte sich der Illusion hingeben, als sei das budget einführen, das diese Orientierung sicherstellt. Zu Mengenproblem im Gesundheitswesen, also die Zahl der entscheiden, wie dieses Globalbudget ausgefüllt und Anbieter, für die Krankenkassenausgaben über ein Bud- welcher Versorgungsbereich mit wieviel Finanzmitteln get steuerbar. Weiter steigende Ärzte- und Zahnärzte- ausgestattet werden soll, muß Aufgabe vertraglicher zahlen und die steigende Zahl von Betten in Kranken- Vereinbarungen unter den Betroffenen, also Aufgabe der häusern führen logischerweise zu weiter steigenden Selbstverwaltung, sein. Krankenkassenausgaben und damit auch Beiträgen – Herr Thomae, natürlich wissen auch wir, daß es ele- auch bei einem Budget. Hier gilt es, die Binsenweisheit gantere Formen der Kostensteuerung als die jetzt durch zu beachten, die jede Köchin und jeder Koch kennt: das Vorschaltgesetz wieder eingeführtesektorale Aus- Einen überschäumenden Topf bekämpft man dadurch, gabenbeschränkung gibt. daß man die Flamme kleiner stellt, aber nicht dadurch, daß man den darauf liegenden Deckel festerzurrt. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist gut!) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Wir wissen aber auch, daß nichts so schnell und so CSU]: Nein, Sie schütten Wasser darauf!) durchgreifend wirkt wie eine strikte Ausgabenvorgabe für Ärzte, Zahnärzte, Pharmaindustrie und Krankenhäu- Die Probleme, die im Rahmen einer Strukturreform ser, um die Beiträge stabil zu halten. Wir wissen vor al- im Gesundheitswesen gelöst werden müssen, sind lem: Die sektorale Ausgabenbegrenzung schafft ideale schwierig. Das wissen auch wir. Aber wir werden sie Voraussetzungen dafür, daß sie im Rahmen eineranpacken. Diese Koalition wird ernst machen mit der Strukturreform in ein Globalbudget übergeleitet werden Strukturreform. Die Versicherten sollen wissen: Unser kann. Ziel ist die qualitativ einwandfreie und angemessene (B) Gesundheitsversorung für alle, ohne Blick auf die Dicke (D) Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen: Mitte derder Brieftasche. Und die Interessengruppen des Gesund- 70er Jahre hat der damals für die Krankenversicherung heitswesens müssen auch wissen: Das Ende der heiligen zuständige Bundesminister Walter Arendt in diesemKühe ist gekommen. Hause darauf hingewiesen, daß die ständige Zunahme der Zahl von zugelassenen Kassenärzten die gesetzli- Schönen Dank, meine Damen und Herren. che Krankenversicherung alsbald – so sagte er – vor er- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall hebliche Probleme stellen werde. Damals nahmen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei 36 000 Kassenärzte an der Versorgung teil. Heute sind der PDS) es deutlich über 110 000 – also fast dreimal soviel, trotz sogenannter Bedarfsplanung und sogenannter Niederlas- sungssperre. Die Folgen für die finanzielle Leistungsfä- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat higkeit der Krankenversicherung einerseits und für eine jetzt die Abgeordnete Ruth Fuchs. angemessene Vergütung über die unterschiedlichen Arztgruppen hinaus andererseits sind unübersehbar. Dr. Ruth Fuchs (PDS): Frau Präsidentin! Meine Ich sage Ihnen: Die Situation wird unhaltbar. Wenn Damen und Herren! Die neue Koalition, die ihre Vor- das Angebot die Nachfrage bestimmt, kann ein solches stellungen in der Gesundheitspolitik in zwei Stufen ver- Sozialversicherungssystem nicht funktionieren. Darum wirklichen will, legt heute als ersten Schritt einen Ge- muß hier politisch entscheidend etwas getan werden. setzentwurf zur Stärkung der Solidarität in der gesetzli- chen Krankenversicherung vor. Nicht nur vom Namen Im Gegensatz zur alten Bundesregierung ist die neue her klingt das schon wesentlich besser als alles Bisheri- Koalition entschlossen, das Problem einer vernünftigen ge. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß auch im Ge- Steuerung der Angebotskapazitäten im Gesundheits- setzentwurf selbst der Wille zur Abkehr von einer auf wesen im Rahmen der Strukturreform aufzugreifen. Es Deregulierung und Privatisierung des Gesundheitsrisi- kann eben nicht so weitergehen wie bisher, und deshalb kos gerichteten Politik und zurWahrung eines solida- werden wir dazu eine Lösung präsentieren. Diese Lö-rischen Gesundheitssystems zum Ausdruck kommt. sung wird sich auf alle Sektoren der Versorgung bezie- hen müssen, wenn sie Erfolg zeitigen will, also nicht nur Wir gehen davon aus, daß die beabsichtigten Rück- auf Ärzte und Zahnärzte, sondern auch auf die Kranken- nahmen von Leistungskürzungen und Zuzahlungen das häuser und die Zahl der pharmazeutischen Produkte.Signal dafür sind, daß es künftig auch im Gesundheits- Daß zu letzterem die Koalition bereits einen Vorschlag wesen wieder sozial gerechter zugehen soll. Es ist auch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 173

Dr. Ruth Fuchs (A) zu begrüßen, daß Dinge aufgehoben bzw. ausgesetztJahre, den Sie natürlich nicht verursacht haben, wird in(C) werden sollen, deren Sinnhaftigkeit bis heute nieman- seiner Massivität – ob man es wahrhaben will oder dem ernsthaft zu vermitteln war. Ich denke beispielswei- nicht – noch nicht einmal annähernd zurückgenommen. se an das Notopfer Krankenhaus oder an den unseligen Bei allem Wissen um die unvermeidliche Begrenztheit Automatismus zwischen Beitragssteigerungen einererster Maßnahmen ist festzustellen: Von dieser Koali- Krankenkasse und der Höhe der Zuzahlungen für ihretion müssen mehr und mutigere Schritte erwartet wer- Mitglieder. den. (Beifall bei der PDS) Selbstverständlich ist es nur konsequent – um auch das mit Erleichterung zu erwähnen –, wenn die system- Jetzt, liebe Frau Ministerin Fischer, werde ich Ihnen fremden Elemente privater Versicherungen wie Kosten- eine Freude bereiten. Sie haben ja bereits in Ihrer Rede erstattung oder Beitragsrückgewähr zurückgenommen vermutet, daß die PDS das sagen wird. Deshalb will ich werden. Sie hätten über kurz oder lang die finanzielledies ganz deutlich wiederholen. Für die PDS bleibt es Substanz des Solidarausgleichs empfindlich ausgehöhlt. dabei: Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen in einem solidarischen Krankenversicherungssystem sind unso- Ohne Frage sind die in der Koalitionsvereinbarungzial; sie sind sogar medizinisch kontraproduktiv und aus genannten Bestandteile für die im zweiten Schritt vorge- unserer Sicht bei einem effektiven Ressourceneinsatz sehene Strukturreform im Gesundheitswesen wie besse- völlig unnötig. Sie müssen vollständig zurückgenommen re Zusammenarbeit von Hausärzten, Fachärzten undwerden. Krankenhäusern, die Neuordnung der ambulanten und (Beifall bei der PDS) stationären Vergütungssysteme sowie des Arzneimittel- marktes zweckmäßig und zielführend. Sofortmaßnahmen über die Unterstützung der Wei- terbildung in der Allgemeinmedizin hinaus verlangt un- Wer allerdings die Kompliziertheit dieser Aufgabeserer Auffassung nach der offene Skandal, daß ausgebil- und die Stärke des neoliberalen Zeitgeistes kennt, derdete und hochmotivierte junge Ärztinnen und Ärzte in weiß, daß auch die neue Regierung keineswegs vor gra- zunehmender Zahl generell keine Chance zurFach- vierenden Fehlentscheidungen gefeit ist. arztweiterbildung und damit zur selbständigen Aus- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) übung ihres Berufes erhalten. Besonders dringlich sind die Einrichtung und Finanzierung entsprechender Stellen Ganz entscheidend wird deshalb sein, in welcher Weise, in den Krankenhäusern und natürlich auch im ambulan- mit welchen Einzelschritten und vor allem auch mitten Sektor. Hier steht auch der Bund in der Verantwor- welcher Konsequenz diese Vorhaben umgesetzt werden. tung, die notwendige Abhilfe zu schaffen. Meine Damen und Herren, uns fällt auch auf, daß (V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto (B) (D) Maßnahmen zur finanziellen Stärkung der Solidarge- Solms) meinschaft der Versicherten, die von den heutigen Regierenden vor der Wahl ins Auge gefaßt wurden, Darüber hinaus müssen wir ebenfalls an die besonde- schon in den Koalitionsvereinbarungen nicht mehr auf- re Existenzlage derniedergelassenen Ärzte in Ost- tauchen. Das betrifft zum Beispiel die Entlastung der ge- deutschland erinnern. Angesichts der bestehenden Ver- setzlichen Krankenversicherung von ausgewählten und gütungsunterschiede zwischen Ost und West und des exakt definierbaren versicherungsfremden Leistungenanhaltenden Honorarverfalls bei gleichen Betriebskosten wie dem Mutterschaftsgeld oder die Zurücknahme jener wird die Situation für viele Ärzte immer bedrohlicher. Verschiebebahnhöfe, mit deren Hilfe die Rentenversi- Wir meinen, daß hier vor allem im Interesse der medizi- cherung und die Arbeitslosenversicherung vor Jahrennischen Versorgung der Menschen in den neuen Bun- auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung entla- desländern sofort etwas getan werden muß. stet wurden. Politischen Willen vorausgesetzt, gäbe es also durchaus Instrumente zur Gegenfinanzierung wei- (Beifall bei der PDS) tergehender Sofortmaßnahmen. Alles in allem hat sich die Koalition in der Gesund- (Beifall bei der PDS) heitspolitik viel Richtiges und Anspruchsvolles vorge- nommen. Die Umsetzung wird nicht leicht sein. Denn Dies verlangt allerdings – das scheint noch Ihr Pro-aus Erfahrung weiß man: Weder heftige Anfeindungen blem zu sein – eine entsprechende Finanz- und Steuer- noch gekonnte Versuche der Vereinnahmung durch be- politik. Es engt schon von vornherein die Spielräumestimmte Lobbygruppen werden ausbleiben. Aus unserer auch in der Gesundheitspolitik ein, daß die Koalition es Sicht kann ich sagen – und das wird bis auf weiteres nicht gewagt hat, den wirklich Reichen in diesem Land gelten –: Läßt die Koalition ihren Absichten auch die einen etwas größeren Beitrag zur Bewältigung von Ge- entsprechenden Taten folgen, wird sie von seiten der meinschaftsaufgaben abzuverlangen. PDS eine konstruktiv-kritische Begleitung erfahren. (Beifall bei der PDS) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich sage das auch deshalb, weil bei aller Richtigkeit (Beifall bei der PDS) der im Vorschaltgesetz enthaltenen Maßnahmen festzu- halten ist, daß das Gros der Zuzahlungen und Selbstbe- teiligungen bei Medikamenten, Krankenhausaufenthal- Vizepräsident Dr. : Als ten und anderen medizinischen Leistungen bestehen-nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang bleibt. Mit anderen Worten: Der Sozialabbau der letzten Zöller, CDU/CSU. 174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

(A) Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Präsident! Mei- wollten den hohen Arzneimittelverbrauch etwas ein- (C) ne sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin,grenzen. Wenn man jetzt aber die Spreizung verringert zunächst etwas Positives: Wir halten es für sinnvoll, daß und die Zuzahlungen auf 8 DM, 9 DM und 10 DM fest- im Gesundheitsministerium nun auch die Pflegeversi-legt, wie wollen Sie es dann jemandem erklären, wenn cherung mit bearbeitet wird. er für eine Mark mehr die doppelte Menge bekommt? Ich habe die Befürchtung, daß wir eine Mengenauswei- Aber gestatten Sie mir auch eine kurze Anmerkung tung in diesem Bereich bekommen werden. zur Arbeitsweise der neuen Mehrheit. Dazu, daß am Montag früh rund 120 Seiten und drei Stunden später 64 (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Austauschseiten ins Büro geschickt wurden, und dann gestern früh der Gesetzentwurf vorlag, muß ich doch sa- Eines, sehr geehrte Frau Ministerin, möchte ich gen: Ich glaube, man sollte bei einem so diffizilen The- gleich richtigstellen. Sie haben hier etwas Unwahres ge- ma wie der Gesundheit doch etwas sorgfältiger vorgehen sagt. Sie haben den Kollegen Lohmann dafür kritisiert, und unser System nicht zum Spielball unseriöser Wahl- daß er hier die Meinung verbreitet habe, Sie würden den versprechungen werden lassen. Leistungserbringern etwas wegnehmen. Sie verneinen das und sagen, Sie würden den Leistungsempfängern (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der zusätzlich zum Beispiel noch den Zuwachs zur Grund- SPD: Das hat Sie in den letzten acht Jahren lohnsumme geben. aber nicht gestört!) Sie sollten Ihren Text einmal genau lesen: Sie schrei- Auf den ersten Blick scheint sich die Gesundheitspo- ben auf Seite 65 als Basis das Budget von 1996 vor. Sie litik der neuen Regierung in der Rücknahme derSeeho- müssen einmal erklären, wie ein Budget von 1996 im ferschen Reformansätze zu erschöpfen. Bei näherer Jahre 1999 mehr sein soll. Mit Zahlen müssen Sie bei Betrachtung zeichnet sich jedoch – wie auch Sie, Herr mir vorsichtig sein. Kollege Dreßler, gesagt haben – nicht nur ein Politik- wechsel, sondern auch ein Systemwechsel ganz deutlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ab. Im übrigen sage ich klipp und klar: Ich halte sozial- In einem stimmen wir mit Ihnen überein: Wenn man verträgliche Zuzahlungen für wesentlich gerechter als die richtigen Schritte machen will, muß man eine saube- Ausgrenzungen und Rationierungen teurer Operationen. re Analyse betreiben. Wir stimmen auch darin mit Ihnen Diese werden bei der Budgetierung unweigerlich kom- überein, daß die letzten Reformen nicht etwa deswegen men. notwendig waren, weil die Qualität unseres Gesund- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wartezeiten!) heitswesens nicht gestimmt hätte. Vielmehr waren sie (B) notwendig, weil wir ein Finanzierungsproblem haben. Der uns vorgelegte Gesetzentwurf beeinflußt den(D) Wir sind uns auch mit den Sachverständigen einig, daß Krankenhausbereich in drei Punkten: erstens hinsichtlich dieses Finanzierungsproblem kein Ausgabeproblem,Notopfer, zweitens hinsichtlich Budgetierung und drit- sondern ein Einnahmeproblem war. tens durch Ihre Zielvorgabe der monistischen Finanzie- rung. Es ist schon sehr seltsam, wie Sie nun mit weniger Einnahmen die Mehrausgaben in den Griff bekommen Statt die Ursache desNotopfers , nämlich daß die wollen; denn wir werden Mehrausgaben haben – allein Länder die Instandhaltungskosten der Krankenhäuser wenn ich den medizinischen Fortschritt sehe, alleinnicht mehr bezahlen wollen, zu beseitigen, streichen Sie wenn ich die höhere Lebenserwartung sehe. ersatzlos die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversi- cherung um knapp 1 Milliarde DM. Es wäre doch viel Deshalb noch einmal: Ihr Geheimnis wird es sein,sinnvoller gewesen, die übrigen Länder auf das positive wie man mit weniger mehr bezahlen will. Beispiel des Landes Bayern zu verweisen, das nach wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vor die Instandhaltungskosten der Krankenhäuser be- zahlt. Deshalb brauchen die Bürger in Bayern dieses In dem vorliegenden Entwurf wird dokumentiert, daß blödsinnige Notopfer auch nicht zu erbringen. die von Ihnen gemachten Wahlversprechungen so ein- fach nicht zu halten sind, weil sie nicht finanzierbar (Beifall bei der CDU/CSU) sind. Sie haben noch großmundig versprochen: Sobald Dieses Notopfer war doch auch nur deswegen notwen- wir an der Regierung sind, werden wir die Erhöhung der dig, weil sich die übrigen Länder aus ihrer Verantwor- Zuzahlung von 5 DM rückgängig machen. Im Kranken- tung gestohlen haben. hausbereich haben Sie sie belassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nichts geän- dert!) Der zweite Punkt: Mit derBudgetierung im Kran- kenhausbereich bestrafen Sie all die Krankenhäuser, die Im Kur- und Reha-Bereich haben Sie sie belassen. Imin den letzten Jahren wirtschaftlich gearbeitet haben. Arzneimittelbereich haben Sie die Zuzahlung in einem Fall zum Beispiel von 9 auf 8 DM reduziert. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!) In dem Punkt appelliere ich auch an Sie, Herr Dreß- Sie bestrafen auch die Krankenhäuser, die es auf Grund ler. Wir haben diese Spreizung damals beschlossen, weil ihrer guten Qualität der Leistung zu Fallzahlsteigerun- wir eine Mengenbegrenzung vornehmen wollten; wirgen gebracht haben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 175

Wolfgang Zöller (A) Ich befürchte, daß wir erleben werden, daß Ende Meine sehr geehrten Damen und Herren, in Ihrem so- (C) nächsten Jahres wieder Operationen verschoben werden genannten Vorschaltgesetz wird wieder einmal deutlich, mit der Begründung: Die Budgetgrenze ist erreicht. welch unterschiedliche Systeme sich gegenüberstehen. Sie wollen mehr Staat und somit automatisch mehr Bü- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So kommt rokratie. Wir setzen auf Selbstverwaltung und Eigenver- es!) antwortlichkeit. Sie wollen vorschreiben, zu welchem Dabei war ich der festen Überzeugung, daß wir dieseArzt man gehen muß. Eventuell wollen Sie demnächst unsinnige Diskussion in diesem Hause nicht mehr hätten noch vorschreiben, wie oft man zum Arzt gehen darf. führen müssen. Dann aber wird es heißen: Privatpatien- Sie wollen vielleicht auch noch vorschreiben, was der ten ja, gesetzlich Krankenversicherte nein. Arzt verordnen darf. (Rudolf Dreßler [SPD]: Wo steht das denn?) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist Zweiklassenmedizin!) – Das steht alles drin. Lesen Sie sich das einmal durch! In diesen anderthalb Tagen, die ich zur Verfügung hatte, Ich sage Ihnen klipp und klar: Eine starre Budgetierung habe ich das sehr genau gelesen. Das ist der Weg in die führt unweigerlich zur Zweiklassenmedizin. Staatsmedizin und gefährdet unser hochleistungsfähiges (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gesundheitssystem, das wir bis heute haben. Diese Bud- getierung wird zudem wirtschaftlich sinnvolle Wachs- Herr Kollege Dreßler, eines hat mich nachdenklichtumseffekte im Dienstleistungsbereich Gesundheitswe- gestimmt. Sie sind doch auch für eine Gleichbehandlung sen drastisch einschränken. derer, die Mitglied in der gesetzlichen Krankenversiche- rung sind. Was aber haben Sie gemacht? Unsere Rege- Wer will, daß wir unsere Qualität der medizinischen lung hatte vorgesehen, daß sich jeder Versicherte auch Versorgung sichern, daß die Finanzierbarkeit ohne wei- als Privatpatient behandeln lassen kann und daß die ge- tere Beitragssatzanhebungen gewährleistet und niemand setzlichen Krankenversicherungen den Betrag abrech- wegen seiner finanziellen Situation von medizinisch nen, der in der Satzung festgeschrieben ist. Dieses Pri- notwendigen Leistungen ausgeschlossen wird, der muß vileg lassen Sie jetzt nur noch für diejenigen gelten, die den Mut haben, sich zu mehr Eigenverantwortlichkeit zu mehr als 6 300 DM monatlich verdienen. Es ist schonbekennen. seltsam, daß sich ausgerechnet die SPD (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Dies ist wesentlich schwieriger, als unseren Bürgern mehr und immer mehr zu versprechen. Vor allen Dingen als erstes auf ihre Fahnen schreibt: Für Leute mit 6 300 aber ist dies ehrlicher. (B) DM und mehr machen wir eine Sonderregelung in der (D) gesetzlichen Krankenversicherung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche uns allen Gesundheit und mehr Mut zur Ehrlichkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Schaffung von Trans- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) parenz! – Rudolf Dreßler [SPD]: Das haben wir doch 1993 vereinbart!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Das ist zumindest für mich sehr zweifelhaft. nächste Rednerin spricht Frau Gudrun Schaich-Walch von der SPD-Fraktion. (Rudolf Dreßler [SPD]: Wir haben diese Re- gelung 1993 zusammen gemacht! Wir gehen nur auf die Vereinbarungen von 1993 zurück, Gudrun Schaich-Walch (SPD): Herr Präsident! sonst nichts!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Zöller, diesen Mut zur Ehrlichkeit hätten Sie vielleicht in der letzten – Entschuldigung, das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Wir Legislaturperiode, als Sie noch an der Regierung waren, haben diese Möglichkeit allen gegeben; das ist der gra- zeigen sollen. Dann wäre uns manches erspart geblie- vierende Unterschied. Gleiche Rechte für alle. ben. (Walter Hirche [F.D.P.]: Und Transparenz!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Sie aber privilegieren die Besserverdienenden. Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) Der letzte Punkt: Wer jetzt im Krankenhausbereich Der zweite Punkt: Wenn Sie sich fürchten, Herr Zöl- die monistische Finanzierung fordert, daß also dieler, macht mich das ganz unruhig. Deshalb will ich et- Kassen nicht nur den Betrieb, sondern auch die Kosten was zur Finanzierung sagen. der Einrichtungen bezahlen müssen, muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß dadurch die Einsparmaßnahmen Wir werden die Einbeziehung der geringfügig Be- zur Stabilisierung des Beitragssatzes ad absurdum ge-schäftigten haben; wir werden die Aussetzung desDe- führt werden, mographiefaktors in der Rentenversicherung haben und damit Mehreinnahmen bekommen. (Rudolf Dreßler [SPD]: So ein Quatsch!) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] daß dies unweigerlich zu höheren Beitragssätzen führt. [CDU/CSU]: Irrweg!) 176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Gudrun Schaich-Walch (A) Hinzu kommen Mehreinnahmen für die gesetzliche entsteht? Das wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht er-(C) Krankenversicherung durch die Wiedereinführung der wähnt. Lohnfortzahlung. (Walter Hirche [F.D.P.]: Alles schädlich für Gudrun Schaich-Walch (SPD): Erstens einmal muß den Arbeitsmarkt!) auch schon jetzt Krankengeld gezahlt werden. Zweitens möchte ich dazu sagen, daß wir davon ausgehen, daß die Ich nenne noch etwas, was Sie vorhin bedauert ha- Mehreinnahmen zur Erhöhung der Krankengeldleistun- ben: Es gibt natürlich die Absenkung derFestbeträge im Arzneimittelbereich, und auch dadurch ergeben sich gen ausreichen, zumal wir ja sehen konnten, daß die Zahlen der Krankschreibungen allgemein und auch der Mehreinnahmen im Bereich der gesetzlichen Kranken- langfristigen Krankschreibungen in der letzten Zeit versicherung. glücklicherweise sehr stark rückläufig gewesen sind. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Was sagen denn (Zuruf von der F.D.P.: Milchmädchenrech- die Länderwirtschaftsminister dazu?) nung!) – Die machen dieses Gesetz nicht. Sie werden hinterher mit uns darüber reden. Wir werden ja sehen, wie weit wir kommen. Ich denke, es sollte eigentlich möglich sein, daß wir Sie, Herr Zöller, haben gesagt, daß das alles so uns in diesem Hause darauf verständigen, daß der kran- furchtbar schnell gekommen sei. Sie wußten das; das alles stand in unserem Wahlprogramm, und es stand in ke Mensch und die für ihn notwendige Hilfe im Mittel- punkt der Gesundheitspolitik zu stehen haben und daß unseren Gesetzentwürfen der letzten Legislaturperiode. danach erst das Einkommen der Ärzteschaft und der Also haben wir nichts eingeführt, was unbillig, neu oder unverständlich für Sie wäre. Pharmaindustrie Berücksichtigung finden kann. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind im Wahlkampf mit Versprechungen vor- Mir scheint auch, daß die Haltung der Oppositionsichtig gewesen. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir bereit, unsere gemachten Versprechungen auch einzulösen, und ganz stark von der Sorge um die Einkünfte im Gesund- wir tun es sehr schnell. Wir tun es deshalb sehr schnell, heitsbereich geprägt ist. weil wir verhindern wollen, daß die ungerechten gesetz- (Walter Hirche [F.D.P.]: Um die Arbeitsko- lichen Maßnahmen, die Sie in der letzten Legislaturperi- sten!) ode beschlossen haben, die aber clevererweise erst nach der Wahl in Kraft treten sollten, die Menschen zusätz- (B) Ich möchte Ihnen sagen: Die Krankenversicherung ist lich belasten. Wir verteilen in diesem Land nicht belie- (D) erst einmal dazu da, daß die Kranken ordentlich versorgt big Wohltaten an diejenigen, die sie gar nicht brauchen, werden, und dann erst ist sie dazu da, daß diejenigen, die wie Sie immer suggerieren wollen, sondern wir sorgen an diesem System teilhaben, ihr entsprechend gerechtes letztendlich nur dafür, daß Ungerechtigkeiten, die Sie Einkommen erhalten. verursacht haben und für die Sie die Quittung des Wäh- lers bekommen haben, beseitigt werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zöller? Wir machen aus der Krankenversicherung wieder das, was sie sein sollte, nämlich Hilfe im Krankheitsfall – Gudrun Schaich-Walch (SPD): Ja. und das solidarisch finanziert. (Beifall bei der SPD) Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Frau Kollegin Herr Lohmann, Sie haben auf die sechs Jahre erfolg- Schaich-Walch, Sie haben gerade gesagt, Sie erhofften reiche Gesundheitspolitik von Herrn Seehofer verwie- sich Mehreinnahmen zum Beispiel durch die Wiederein- sen, führung der Lohnfortzahlung. Das ist auch in den Er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) läuterungen zu dem Gesetzentwurf so vorgesehen. Aber Sie haben dabei etwas vergessen: Möchten Sie das bitte die von vielen gebrochenen Versprechungen, was die zur Kenntnis nehmen Zuzahlungen betrifft, gekennzeichnet ist. (Zuruf von der SPD: Frage! – Gegenruf der (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Walter Abg. Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ Hirche [F.D.P.]: Beitragssatzstabilität!) CSU]: „Möchten Sie bitte zur Kenntnis neh- Die Belastung der Patientinnen und Patienten hat sich in men“, Fragezeichen!) diesen letzten sechs Jahren verdreifacht. 1998 erreichte – ich stelle eine Frage; das ist schon richtig –, daß mitsie ein Finanzvolumen von 20 Milliarden DM. Allein für der Wiedereinführung der Lohnfortzahlung natürlich ei- Arzneimittel zahlen Versicherte heute das Fünffache an ne erhebliche Mehrbelastung der gesetzlichen Kranken- Zuzahlungen gegenüber den Jahren 1991 und 1992. Bei versicherung durch höhereKrankengeldforderungen jedem sechsten Arzneimittel zahlen die Versicherten den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 177

Gudrun Schaich-Walch (A) vollen Apothekenpreis. Was ist das denn anderes als ei- benkontrolle brauchen, um für das nächste Jahr ver-(C) ne ausgegrenzte Leistung?, frage ich Sie hier. nünftig planen zu können. (Beifall bei der SPD, BÜNDNIS 90/DIE Es ist ja auch nicht so, daß etwas gestrichen wird. Die GRÜNEN und der PDS – Walter Hirche werden alle nicht des Hungers sterben, sie erfahren alle [F.D.P.]: Sie kommen noch zur Rationierung noch Zuwachs aus ihren verschiedensten sektoralen wie in England!) Budgets. Das Krankenhaus kommt dabei, Herr Zöller, noch relativ gut weg. Sie wissen ganz genau, daß die in Wir sind jetzt an dem Punkt, daß wir feststellen müs- 1998 einen Zuwachs von 5 Prozent verzeichneten. Das sen, daß ein Rentnerehepaar, das 2 400 DM netto hatbleibt ihnen erhalten; auf diesem Budget wird aufge- und chronisch krank wird, nach den jetzigen Regelungen setzt. etwa einen Zuzahlungsbeitrag von einer gesamten Monatsrente zu leisten hat. Dazu sagen wir: Das ist so- (Walter Hirche [F.D.P.]: Das hat er ja gerade zial ungerecht; das ist ausschließlich eine Bestrafung gesagt: Schieflage!) von kranken und alten Menschen. – Er hat das Krankenhaus aber bedauert. Wir werden das deshalb ändern. Wir streichen für die Ein weiterer, ganz wichtiger Punkt, glaube ich, ist, chronisch Kranken, die ein Jahr lang die Grenze der daß wir die bisherige Begrenzung aus dem Risikostruk- Zuzahlungen überschritten haben, die Zuzahlungen im turausgleich zwischen Ost und West aufheben. Ich bin zweiten Jahr vollständig. Das Krankenhausnotopfer wird der festen Überzeugung, daß das ein guter Beitrag dazu wegfallen. Die von Ihnen geplante Dynamisierung der ist, die Sozialmauer ein Stück einzureißen, und daß wir Zuzahlungen, die kommen sollte, wird wegfallen, eben- auf einem guten Weg zu einheitlichen Lebensbedingun- so wie die Zuzahlung in Höhe von 10 DM bei jedemgen für uns alle in dieser Bundesrepublik Deutschland Arzt für psychisch Kranke. sind. Das sind, Frau Fischer, im ersten Ansatz zwar nur 2 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Milliarden DM. Aber wenn wir das weiter seriös finan- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zieren wollen, dann brauchen wir erst den nächsten Schritt, nämlich den der Strukturreform, bevor wir wei- Echte Strukturveränderungen in der Leistungserbrin- tere Zuzahlungen abbauen können. Denn im Gegensatz gung, die wir im nächsten Jahr angehen werden, die das zur Opposition sind wir der Überzeugung, daß es in die- Ziel der Qualitätsverbesserung und der Wirtschaftlich- sem System durchaus Wirtschaftlichkeitsreserven gibt. keit haben, sind allerdings – das muß klar sein – mit Be- sitzstandswahrung nicht zu haben. Integrative neue Ver- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa sorgungskonzepte, die für mehr Qualität und Wirt- (B) Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schaftlichkeit sorgen, haben Umverteilungen zur Folge. (D) Jetzt möchte ich noch einmal zu dem Bereich desDas Geld wird der Leistung folgen müssen. Zahnersatzes kommen. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Wenn wir diese Strukturschritte angegangen sind, Was die Zahnärzte zur Zeit machen, ist Jammern aufsind natürlich noch nicht alle Probleme der gesetzlichen hohem Niveau. Krankenversicherung gelöst. Das Einnahmeproblem muß angegangen werden. (Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Bei 30 Prozent Letztendlich ist – so sehe ich das – Gesundheitspoli- Umsatzrückgang?) tik mehr als GKV-Politik. Es gilt, sich um den gesund- heitlichen Verbraucherschutz zu kümmern, Patienten- – Sie beklagen einen Umsatzrückgang. Aber warum?rechte zu stärken, berufsrechtliche Fragen der Heilberu- Weil Sie ein Gesetz geschaffen haben, bei dem man zum fe, die Verbesserung der ärztlichen Ausbildung, den Re- Teil Privatpatient werden konnte. ha-Bereich, Drogenpolitik und nicht zuletzt die sozial- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES rechtsstaatliche Entwicklung Europas in Angriff zu 90/DIE GRÜNEN) nehmen. Wir hoffen auf kooperative Partnerschaft, und wir hoffen, daß sich die, die im Gesundheitswesen tätig Ich kann es Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mitsind, auch als Anwälte der Patientinnen und Patienten meinem Zahnersatz bis zum nächsten Jahr gewartet hät- verstehen und nicht nur als Sachwalter ihrer eigenen In- te, statt es dieses Jahr machen zu lassen, hätte ich 600teressen. DM gespart. Das wird auch bei anderen so sein. Auf dieser Basis sind wir jederzeit und immer zu ei- Hinzu kommt: Die Verunsicherung wird beendet. Die nem offenen Dialog bereit, der durchaus auch die Inter- Krankenkasse wird sich wieder genau anschauen, was essenslagen derer, die im Gesundheitswesen arbeiten abgerechnet wird, nach Qualität und nach Wirtschaft-und dort verdienen, berücksichtigen wird. lichkeit. Und auch Jugendliche werden ihren Anspruch auf Zahnersatz behalten. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD)

Sie sagen, uns laufen die Kosten weg. Aber gleich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als zeitig sind Sie ganz empört darüber, daß wir eineAus- nächster Redner hat der Kollege Ulf Fink von der gabenkontrolle einführen. Wir werden diese Ausga-CDU/CSU-Fraktion das Wort. 178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

(A) Ulf Fink (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehrrem eigenen Gesetzentwurf zur gesetzlichen Kranken-(C) verehrten Damen und Herren! Die Regierungskoalition versicherung mit 1,3 Milliarden DM bis 1,4 Milliar- legt heute einen ersten Gesetzentwurf im Gesundheits- den DM an. bereich vor. Es ist anerkanntermaßen nicht die große (Walter Hirche [F.D.P.]: Reine Luftbuchun- Gesundheitsreform, sondern es ist ein Vorschaltgesetz. gen!) Warum diese große Eile? Dazu kann ich nur sagen: Sie wissen ja noch nicht (Rudolf Dreßler [SPD]: Weil wir es verspro- einmal, wie Sie diesen Gesetzentwurf für die geringfü- chen haben!) gigen Beschäftigungsverhältnisse ausgestalten wollen. Das geht zwischen Kanzler und Arbeitsminister offenbar Die Regierungskoalition begründet diese große Eile da- noch hin und her: ob Pauschbesteuerung oder nicht, ob mit, daß die Grundlage der gesetzlichen Krankenversi- Rente oder nicht, ob Krankenversicherung oder nicht. In cherung, die Solidarität, auf das schwerste gefährdet sei. diesem Gesetzentwurf aber schreiben Sie: Diese Versi- Ich erinnere mich, daß SPD und Grüne, als wir die Zu- cherungspflicht für geringfügige Beschäftigung bringt zahlungen für Arzneimittel und dergleichen erhöht ha- 1,3 Milliarden DM mehr. – Das ist eine Luftnummer ben, dieses in der Tat als zutiefst unsozial bezeichnetsondergleichen. haben. Sie haben gesagt: ein Anschlag auf die Grundfe- sten unseres Gesundheitswesens. Ich finde, Heinz Schmitz hat das im „Handelsblatt“ vom 9. November sehr gut beschrieben: Deswegen habe ich in dieses Vorschaltgesetz ge- schaut, um festzustellen, was verändert worden ist. Was Sieht man genauer hin, so fordern Bundeskanzler muß ich feststellen? Die Zuzahlungen sind bei den gro- Gerhard Schröder (SPD) und seine Minister nach ßen Arzneimitteln um 3 DM, bei den mittleren Arznei- Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer nun eine mitteln um 2 DM und bei den kleinen Arzneimitteln um noch größere Autorität der Deutschen heraus: genau 1 DM vermindert worden. Die Zuzahlung im Adam Riese, den Altmeister des Rechnungswesens. Krankenhausbereich ist gar nicht vermindert worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch die Zuzahlung im Kurmittelbereich ist nicht ver- mindert worden. Die Zuzahlungen für Heilmittel sindIn der Tat: Höhere Sozialleistungen und niedrigere Bei- ebenfalls nicht vermindert worden. Ich habe auch nichts träge gleichzeitig zu beschließen – das geht auch bei ei- davon gelesen, daß Sie die Veränderung beim Kranken- ner rotgrünen Regierung nicht auf. geld rückgängig machen wollen. (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer (Rudolf Dreßler [SPD]: Chronisch Kranke [CDU/CSU] – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist (B) werden ganz befreit!) die Verwechslung von Plus und Minus!) (D) Es kann sein, daß Sie eine andere Einschätzung des Thema Krankenhausnotopfer. Es ist erfreulich, Solidaritätsprinzips haben. Sie sagen vielleicht: Daswenn die Versicherten nichts mehr bezahlen müssen. Solidaritätsprinzip war doch nicht so stark beeinträch- Die Frage ist aber: Wer bezahlt denn nun die Instand- tigt. Vor den Wahlen konnte man bei Ihnen aber etwas haltungen im Krankenhaus? Wer bezahlt notwendige ganz anderes lesen. Reparaturen im Operationssaal? Wer bezahlt die In- standhaltung des Fahrstuhls? – In Art. 5 Abs. 3 Satz 6 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ihres Gesetzentwurfes steht die Antwort. Niemand be- Rudolf Dreßler [SPD]: Falsch!) zahlt mehr, überhaupt niemand. Das heißt, die Instand- Da haben Sie plakatiert: „Wir machen nicht alles anders, haltungskosten sollen ab 1999 nicht mehr pflegesatzfä- aber vieles besser.“ Jetzt muß es, glaube ich, heißen:hig sein. Wer bezahlt dann für die Instandhaltungen, für Wir machen nicht alles besser und vieles auch überhaupt die Reparaturen? nicht anders. Eine wirkliche Leistung wäre es gewesen, wenn es (Zustimmung bei der F.D.P.) Ihnen im Unterschied zur alten Regierungskoalition ge- lungen wäre, die eigentlich Verantwortlichen, nämlich Eine wichtige Zielsetzung des vorliegenden Gesetz- die Länder, zur Zahlung dieser Kosten zu veranlassen. entwurfes ist nach Ihren eigenen Aussagen, daß dieBei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung stabil bleiben sollen. Diese Zielsetzung ist absolut richtig.Bayern zahlt ja. Aber die anderen Länder zahlen nicht. Auch wir sind der Meinung, daß steigende Beitragssätze Manche hatten sogar die Hoffnung, daß Ihnen mit einer Gift für Arbeitsplätze wären. Die Frage ist aber: Errei- rotgrünen Mehrheit im Bundestag und einer rotgrünen chen Sie dieses Ziel mit Ihrem Gesetzentwurf? Haben Mehrheit im Bundesrat das möglich würde, was uns Sie für die Mehrausgaben und die Mindereinnahmennicht möglich war. eine echte, seriöse Gegenfinanzierung? Was müssen wir aber nun sehen? Sie versuchen nicht Wir müssen feststellen, daß nach Ihrer eigenen finan- einmal, die Länder, wie es sich gehört, zur Finanzierung ziellen Begründung im nächsten Jahr fast 2 Milliar-dieser Kosten heranzuziehen. Das läßt nun in der Tat den DM an Mindereinnahmen und Mehrausgaben ent-wenig Gutes für die angekündigte große Gesundheitsre- stehen werden. Gegenfinanziert wird im wesentlichenform erahnen. Wenn Sie sich selbst in einer so eindeuti- nur durch die Versicherungspflicht für geringfügige Be- gen Frage nicht an die Länder heranwagen, wie wollen schäftigung. Diese Gegenfinanzierung geben Sie in Ih- Sie denn dann die Schlüsselfrage des Gesundheitswe- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 179

Ulf Fink (A) sens lösen, nämlich die Kostenentwicklung im Kranken- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich (C) hausbereich? schließe die Aussprache. Es ist doch dieser Bereich, der kostenmäßig aus dem Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- Ruder gelaufen ist. Es sind nicht, wie Sie immer wieder entwurfes auf Drucksache 14/24 an die in der Tagesord- vorgeben, die Kosten für die Ärzte. Denn die hatten frü- nung aufgeführten Ausschüsse, jedoch nicht an den her einen Anteil von 20 Prozent an den Krankenkassen- Haushaltsausschuß, vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- ausgaben, jetzt nur noch von 18 Prozent. Der von Ihnen weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so viel geschmähte Arzneimittelbereich nahm früher 15 die Überweisung so beschlossen. bis 17 Prozent der Krankenkassenausgaben in Anspruch, jetzt nur noch etwas über 13 Prozent. Nein, es ist der Wir kommen zum Themenbereich Familie, Senioren, Krankenhausbereich mit über 34 Prozent der gesamten Frauen und Jugend. Krankenkassenausgaben, der weit überproportional ge- wachsen ist. Ich nenne Ihnen einmal die Vergleichszah- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat len. Anteil des Krankenhausbereichs an den Kranken-die Kollegin Hannelore Rönsch von der CDU/CSU- kassenausgaben 1960: 17,5 Prozent, Anteil des Kran-Fraktion das Wort. kenhausbereichs an den Krankenkassenausgaben 1970: 25 Prozent, jetzt – ich wiederhole es – über 34 Prozent. Das A und O jeder Gesundheitsreform ist, daß auch der Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Krankenhausbereich seinen Beitrag zur Kostendämp-Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lie- fung leistet. be Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern hatten wir die Gelegenheit, zwei Stunden lang dem Bundeskanzler bei An den sektoralen Budgets kann man genau sehen,seiner Regierungserklärung zuzuhören. mit wem Sie es gut und mit wem Sie es weniger gut meinen. Im Krankenhausbereich sind Sie mit dem Bud- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sehr an- get relativ großzügig. Mit dem ärztlichen Bereich mei- strengend) nen Sie es schon sehr viel weniger gut. Mit den Zahn- ärzten meinen Sie es gar nicht gut. Bei den Arzneimit- Natürlich haben diejenigen, die für Familien-, Senioren-, teln schlagen Sie einmal so richtig zu. Frauen- und Jugendpolitik zuständig sind, mit besonde- rem Interesse gehört, welchen Stellenwert dieses Mini- Ob Sie, Frau Fischer, sehr glaubwürdig sein werden, sterium für den neuen Bundeskanzler hat: Zwei Stunden will ich bezweifeln. Denn in Ihrem Gesetzentwurf steht, Beliebigkeit und zwei Stunden wenig zu diesem Thema. was mit denen geschieht, die sich nicht an die Budgetie- rung gehalten haben. Was steht nämlich in Art. 14 Ihres (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Haben Sie (B) Gesetzentwurfes? Da steht, daß bei all denjenigen, die nicht zugehört?) (D) die Budgets überzogen haben, also denjenigen, die sich Frau Ministerin Bergmann, ich wünsche Ihnen für die eben nicht an die Budgets gehalten haben, keine Sank- nächsten vier Jahre sehr viel Kraft und vor allem Durch- tionen erfolgen. Sie haben eine Generalamnestie in das setzungsvermögen. Sie werden uns an Ihrer Seite haben, Gesetz geschrieben. Wie sollen sich die Leute daran wenn es gilt, für den Personenkreis zu kämpfen, für den halten, wenn diejenigen, die sich am schlechtesten ver- Sie verantwortlich sind. Sie werden uns auch immer halten haben, am ehesten in den Genuß einer Amnestie dann an Ihrer Seite haben, wenn es darum geht, die In- kommen? teressen Ihres Ministeriums gegenüber denen zu vertre- (Beifall bei der CDU/CSU – Walter Hirche ten, die die Arbeit, die dort geleistet wird, mit „Gedöns“ [F.D.P.]: Das ist eine neue Moral!) abtun. Fragen Sie uns, wir werden Ihnen helfen. Frau Fischer, Sie haben am Donnerstag vergangener (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Woche vor Journalisten erklärt, Sie wollten die Akteure in der Gesundheitspolitik für einen gemeinwohlorien- Es ist heute schon mehrfach gesagt worden, daß in tierten Reformprozeß gewinnen. Sie haben weiter ge-den unterschiedlichen Ministerien ein gut bestelltes sagt, das Gesundheitssystem sei auf einen fairen Interes- Haus übergeben wird. senausgleich angewiesen. Ja, Frau Fischer, was Sie sa- gen, ist richtig. Genau so sollte man es machen. Aber (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Vor allem in was die Regierungskoalition hier vorgelegt hat, atmet der Frauenpolitik!) einen ganz anderen Geist. Ich möchte das auch für das Ministerium für Familie, Frau Ministerin, wenn Sie Erfolg haben wollen, den Senioren, Frauen und Jugend ausdrücklich wiederholen. wir Ihnen im Interesse unseres Gesundheitswesens wün- Denn man merkt, daß hier die Abrißbirne herausgeholt schen, dann müssen Sie sehr aufpassen, daß sich in der werden soll und daß Leistungen, die in den vergangenen Regierungskoalition nicht die Kräfte durchsetzen, dieJahren und Jahrzehnten unserer Bevölkerung zugute ge- eine uralte Politik verfolgen. Sie müssen sehr aufpassen, kommen sind, auf einmal gar nicht mehr erwähnt wer- daß die alten Ressentiments aus der sozialdemokrati-den. Da so vieles vergessen wird, will ich Ihnen sagen, schen Mottenkiste nicht fröhliche Urständ feiern. Noch was dieses Ministerium für die Generationen, die nun haben Sie Zeit dazu. Ihnen anvertraut sind, in den vergangenen 16 Jahren geleistet hat – oft gegen den Widerstand der SPD, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) manchmal auch auf der Grundlage von Gesetzentwürfen 180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (A) der SPD, die sie zwar immer in der Schublade hatte,Es ist vollkommen egal, welchen Bereich Sie betrachten, (C) aber nie selbst verwirklichen konnte. ob Strom oder Gas: Es sind immer die Familien, die es betrifft. (Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: Und womit wollen Sie den Rest Ihrer Redezeit (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ füllen?) DIE GRÜNEN]: 2 700 DM pro Familie!) Nehmen Sie zum Beispiel das Benzin. Mit Sicherheit Ich nenne als erstesErziehungsgeld und Erzie- wird der Schulbus für die Familie teurer werden. Die hungsurlaub. Wer sich noch ein bißchen erinnern kann, Bäckereien als die energieintensivsten Betriebe werden wird doch wohl noch wissen, daß die Umsetzung vonsich auch ihre Gedanken machen und die Energiever- Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch immer ein teuerung auf die Preise für das Brot umlegen. Das soll Wunsch von Ihnen gewesen ist. Sie hatten dafür nur nie den Familien an gar keiner Stelle wehtun? Sie haben eine Mark in der Tasche. Ich werde an anderen Stellen doch hoffentlich auch einmal die Berechnungen ange- noch darauf zurückkommen. stellt, über die man momentan in allen großen Tages- zeitungen nachlesen kann, bevor Sie an solche Reform- Ich nenne die Anerkennung der Kindererziehungs- und der Pflegezeiten in der Rente, eine Leistung, dievorhaben herangehen; denn hier wird Ihnen ja von den Wirtschaftswissenschaftlern vorgerechnet, daß die Kin- ganz besonders den Frauen zugute gekommen ist. dergelderhöhung durch die Ökosteuer aufgezehrt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben die Einkommen- Ich nenne die Freistellung von der Berufstätigkeit bei steuerreform dabei vergessen!) Krankheit der Kinder, die Verbesserung der Bedingun- gen für Teilzeitarbeit, den Rechtsanspruch auf einenDazu müssen Sie sich – das muß ich Ihnen sagen – Kindergartenplatz, den wir gemeinsam erkämpft haben – schon einmal vorher Ihre Gedanken machen. es hat lange genug gedauert – und die Wiedereinführung Im Bildungsbereich haben wir Programme zur Heran- des Kinderfreibetrages sowie die sukzessive Erhöhung führung von Mädchen und Frauen an moderne Techno- des Kindergeldes. logien und weit angelegte Initiativen wie „Frauen in Gestern wurde uns angekündigt – es wurde in derMännerberufen“ aufgelegt. Wir haben Art. 3 des Grund- Regierungserklärung wirklich nur über Monetäres ge-gesetzes geändert und die staatliche Verpflichtung fest- sprochen –: Das Kindergeld wird erhöht, so wie es vor geschrieben, „die tatsächliche Durchsetzung der Gleich- der Wahl versprochen wurde. Wir freuen uns mit Ihnen berechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern und Benachteiligungen zu beseitigen. (B) für die Familien. Auch hier werden wir an Ihrer Seite (D) stehen und dafür kämpfen. Denn wir mußten in diesem (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Hause schon einmal erleben, daß eine Familienministe- DIE GRÜNEN]: Haben Sie das auch umge- rin – das war das letzte Mal, als Sie regiert haben – setzt?) nämlich , eine Kindergelderhöhung ange- kündigt hat, die dann auch tatsächlich unmittelbar vor– Ja, aber selbstverständlich; in allen Lebensbereichen der Wahl umgesetzt wurde. Aber bereits ein Jahr später haben wir es umgesetzt. mußte Frau Fuchs die Wahlversprechen wieder einkas- (Lachen bei der SPD) sieren. Ich habe vier Jahre ein Ministerium geleitet, und die- (Zuruf von der SPD: Wir haben jetzt 16 Jahre ses Ministerium für Familie und Senioren war das Mi- Kohl hinter uns!) nisterium, das gerade im höheren Dienst den höchsten Frauenanteil hatte. Nun sind Sie gefragt. Liebe Kolle- Die Familien haben das Nachsehen gehabt. Wir werden ginnen aus der SPD-Fraktion, ich hätte mir schon ge- Ihnen, Frau Ministerin, zur Seite stehen, aber Ihnen auch wünscht, daß Sie Ihrem Kanzler wenigstens etwas mehr sehr auf die Finger schauen, damit die Familien nichtüber Frauenpolitik in sein Redemanuskript geschrieben wieder betrogen werden. hätten;

(Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Haben wir!) davon stand an keiner Stelle etwas. Die Familien werden zumindest dann betrogen, wenn ich mir Ihre Vorschläge zur Ökosteuerreform betrachte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist unglaublich, daß die Familien durch eineKinder- Für uns heißt Familienpolitik auch, daß wir die Fa- gelderhöhung mehr Geld in die eine Tasche bekom-milien mit Preisstabilität in die Lage versetzen, für ihr men, was ihnen durch die Ökosteuerreform wieder aus Geld tatsächlich etwas zu bekommen. Im Moment haben der anderen Tasche gezogen wird. wir eine Inflationsrate von 0,7 Prozent. Die Familien behalten das in der Tasche, was sie tatsächlich erarbei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – ten. Auch in diesem Punkt werden wir darauf achten, Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE daß das in Zukunft so bleibt. GRÜNEN]: Dann müssen Sie aber auch sa- gen, was sie über die Einkommensteuerreform Frau Kollegin, einige Punkte liegen mir auch noch wieder hereinbekommen!) sehr am Herzen. Bisher habe ich Äußerungen von Ihnen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 181

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (A) dazu immer nur in Presseinterviews gelesen. DeshalbEs mag sein, daß Ihnen das Wort ,,Toleranz“ fremd ist.(C) will ich doch noch einige Anmerkungen zum Stellen-Sie werden erleben: Wir werden Toleranz in der Oppo- wert der Familien machen. Es mag nämlich sein sition, – also in der Rolle, die wir jetzt haben, immer wie- persönlich habe ich Sie dazu noch nicht gehört –, daßder einfordern. Sie verkehrt zitiert worden sind. Ich will Ihnen unsere Positionen zum Stellenwert der Familie in der Gesell- Ein Weiteres, sehr verehrte Frau Ministerin, das mir schaft einmal deutlich darstellen. Für uns bleiben diein Ihren Interviews aufgefallen ist: Sie haben sich fast Familien die wichtigste Einheit in unserer Gesellschaft; ausschließlich auf die berufstätige Frau konzentriert. Ich denn sie vermitteln die Werte und die Verhaltensweisen, erwarte von Ihnen Respekt auch vor anderen Lebens- ohne die eine freie und solidarische Gesellschaft nicht entwürfen. Wenn sich Frauen in der alten Bundesrepu- möglich ist. blik dazu entschieden haben, ihre Arbeitsleistung in der Familie zu erbringen und Kinder zu erziehen, dann hat (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Davon das auch Ihren Respekt und Ihre Anerkennung verdient. hat man aber in den 16 Jahren nicht sehr viel gemerkt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dazu haben wir über 16 Jahre die Grundlagen geschaf- Ich bitte Sie, in der Zukunft mit Ihren Aussagen hierzu fen, und dazu haben wir über 16 Jahre gestanden. ein wenig vorsichtiger zu sein. (Zuruf von der SPD: Das sehen die Familien Ich will noch ganz kurz zum seniorenpolitischen Teil aber ganz anders! Sonst hätten Sie die Wahl kommen. Ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung an- nicht verloren!) geschaut. Es scheint hier wenig Widersprüche zu unse- rer Politik zu geben, und darüber bin ich ausgesprochen Jetzt gibt es aber offensichtlich Auflösungserscheinun- froh. Denn ich denke, gerade unsere ältere Generation gen – auch bei Ihnen in der SPD. Wenn Sie sich einmal hat es nicht verdient, in die Mühlen der Politik zu gera- die Statistiken anschauen, dann sehen Sie, daß immerten. Ich empfehle Ihnen – dieser Rat muß gestattet sein –, noch 80 Prozent der jungen Männer und Frauen in einer daß Sie den Bundesaltenplan weiter ausbauen. Ich habe Familie leben, heiraten und Kinder haben wollen. 1993 die Institution der Seniorenbüros ins Leben geru- fen, und wir haben mittlerweile 114 in der Bundesre- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hindert publik Deutschland. Gerade in der letzten Woche hat sie doch niemand!) eine große Veranstaltung stattgefunden, an der auch ich Für uns gilt es, die Familie weiterhin auch ideell zu teilgenommen habe. Die älteren Menschen nutzen die stärken. Wir stimmen Ihrer Definition im Koalitionsver- 114 Seniorenbüros; sie treffen sich dort und bringen ihre trag „Familie ist, wo Kinder sind“ nicht zu. Fähigkeiten ein. Ich bitte Sie, den Bundesaltenplan fort- (B) zuschreiben und die Seniorenbüros zu unterstützen. Bis- (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) her waren im Haushalt 30 Millionen DM veranschlagt. Ich denke, daß Sie hierfür noch ein Stück mehr einfor- Für uns ist Familie grundsätzlich: Mann, Frau, Kinder. dern müssen. (Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) SPD: Das gibt's doch nicht!) Gerade 1999 – es ist das Internationale Jahr der Se- Alle anderen Lebensformen sind Ausnahmeerscheinun- nioren – bietet die beste Gelegenheit, die Solidarität gen, die wir schützen und tolerieren. zwischen den Generationen verstärkt einzufordern: (Lachen und Widerspruch bei der SPD) Denn auch durch die von Ihnen mitverursachte Diskus- sion um die Rentenversicherung ist ein Stück dieser So- – Warum sind Sie so aufgeregt? Können Sie diese Posi- lidarität von jungen zu alten Menschen verlorengegan- tionen nicht mehr ertragen? gen. Hier ist es Ihre Aufgabe, zur Versöhnung beizutra- gen. (Ingrid Holzhüter [SPD]: So verlogen nicht!) Für Ihre Arbeit wünsche ich Ihnen Kraft und die Wir werden die nächsten vier Jahre sehr ausführlich Standfestigkeit, sich der Männerwelt – das hat sich ge- darüber diskutieren. Von uns können Sie Toleranz ge- stern in der Regierungserklärung sehr deutlich gezeigt – genüber anderen Lebensformen erwarten. Ich erwarte zu widersetzen, aber auch von Ihnen Toleranz. (Walter Hirche [F.D.P.]: Aber wir gehören (Abg. Christina Schenk [PDS] meldet sich zu doch auch zur Familie!) einer Zwischenfrage) so daß wir das Wort „Gedöns“ für die Arbeit, die Sie – Zwischenfragen von der PDS werde ich mit Sicherheit leisten, nie mehr hören. nicht zulassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zurufe von der PDS: Das ist Toleranz! – Und Sie erwarten Toleranz?) – An dieser Stelle verstehe ich Ihre Aufregung nicht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächste Rednerin hat die Bundesministerin Christine (Lachen bei der PDS) Bergmann das Wort. 182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

(A) Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Ich beginne mit dem ThemaFamilienpolitik. Sie (C) milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!können doch nicht über das hinwegsehen, was wir im Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe FrauMoment zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation Rönsch, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihreder Familien tun. Sie haben das mit Recht angemahnt. freundlichen Wünsche. Ich weiß sie durchaus zu schät- Wir haben gesagt: Wir werden das Kindergeld ab 1999 zen, auch wenn ich nicht allen Ihren Empfehlungen fol- auf 250 DM erhöhen. – Wenn ich an das denke, was Sie gen werde. Auch dafür haben Sie sicher Verständnis. sich an Verbesserungen der Familien- und Frauenpolitik der letzten Jahre auf Ihre Kappe geschrieben haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann fällt mir beim Kindergeld ein, daß Erhöhungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der häufig durch die Opposition gegen Ihren Widerstand er- Abg. Christina Schenk [PDS]) zwungen worden sind. Sie können ziemlich sicher sein, daß ich mich in der (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der Männerwelt ganz gut durchsetzen kann. Das habe ich F.D.P.) schon zeitig gelernt. Ich bin mit drei Brüdern groß ge- worden. Das hat mir im späteren Leben immer sehr ge- 2002 werden wir das Kindergeld auf 260 DM erhöhen. holfen, Wir werden Familien steuerlich beträchtlich entla- (Walter Hirche [F.D.P.]: Die Nützlichkeit von sten. Für eine durchschnittlich verdienende Familie mit Familie zeigt sich da!) zwei Kindern soll schrittweise eine steuerliche Entla- stung von 2 700 DM erreicht werden. Dies ist, denke egal von welcher Seite der Widerstand kam. Ich werde ich, ganz wirksam, auch wenn wir uns alle immer noch das eine oder andere zu diesem Thema noch sagen. mehr vorstellen. Zu Ihrer Behauptung vom gut bestellten Haus komme (Beifall bei der SPD) ich noch, wenn ich auf die einzelnen Themen eingehe. Zum Teil haben Sie hierzu schon eine Vorlage auf dem Ich sehe leider, daß einiges neu zu beackern und zu be- Tisch. stellen ist, damit es im Interesse von Familien, von Frauen, von Jugend und Senioren in diesem Lande ein Frau Rönsch, Sie haben auch dasErziehungsgeld Stück weitergeht. Frau Rönsch, Sie haben sicherlichund den Erziehungsurlaub angesprochen. Wir haben nicht immer genau hingehört: Der Kanzler hat einigevereinbart, daß wir beim Erziehungsgeld schrittweise die Dinge zur Frauenpolitik sehr detailliert angesprochen. Einkommensgrenzen anheben wollen. Das steht schon Darüber können wir noch reden. lange an; darüber haben wir schon mehrfach geredet. Wenn wir über Familien-, Frauen-, Jugend- und Se- (Beifall bei der SPD – Abg. Hannelore Rönsch (B) niorenpolitik sprechen, müssen wir uns auch darüber im [Wiesbaden] [CDU/CSU] meldet sich zu einer (D) klaren sein, daß wir dann vor allen Dingen auch über das Zwischenfrage) Thema Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sprechen. – Ja, gerne. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau neten der F.D.P.) Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Genau das haben wir heute sehr ausgiebig getan. – Sie nicken. Das ist so. Arbeitslosigkeit ist häufig die Ursa- che sozialer Probleme in den Familien. Arbeitslosigkeit Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- ist die Ursache der Armut von Alleinerziehenden, und milie, Senioren, Frauen und Jugend: Aber sicher. Ausbildungsplatzmangel ist die Ursache der Perspektiv- losigkeit von Jugendlichen. Wir haben dieses Thema auf Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau den obersten Platz unserer Liste gesetzt, weil wir viele Ministerin, die Genehmigung für eine Zwischenfrage gesellschaftspolitische Probleme mit lösen können,gibt immer nur der Präsident. Deshalb habe ich noch wenn es uns gelingt, kräftig anzupacken. einen Augenblick gezögert. Unsere Vorstellung von mehrMenschlichkeit und (Zurufe von der SPD: Wir sind hier doch nicht sozialer Gerechtigkeit meint eine Gesellschaft, in der in der Schule! – Oberlehrerin!) die Familien mit Kindern gut aufgehoben sind, in der die Gleichstellung von Mann und Frau nicht nur auf dem– Ich habe das nur zum Einstieg gesagt, und es war auch Papier steht und rechtlich fixiert ist, sondern auch wirk- überhaupt nicht böse gemeint. Würden Sie nicht immer lich gelebt wird. Sie beinhaltet ein Land, das seiner Ju- so verkniffen reagieren, hätten Sie das vielleicht auch gend eine Zukunft gibt und den älteren Menschen einen zur Kenntnis genommen. Platz in seiner Mitte einräumt. Wir reden nicht nur dar- (Weitere Zurufe von der SPD) über – das ist der Unterschied –, sondern wir tun dafür auch etwas. – Es ist ja nun wirklich schlimm: Sie haben immer noch die Oppositionsstimmung drauf. Gewöhnen Sie sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten doch einmal ans Regieren, und seien Sie entspannter! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer Einiges haben wir schon auf den Tisch gelegt. [CDU/CSU] – Heiterkeit bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 183

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (A) Frau Ministerin, ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern Fa- (C) sich jetzt auch an die sozialdemokratischen Bundeslän- milien sind. der wenden, damit diese endlich ebenso wie die von der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE CDU und der CSU regierten Bundesländer ein eigenes GRÜNEN und der PDS) Erziehungsgeld finanzieren. Sie haben die Alleinerziehenden ausgeschlossen; das hat (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mir weh getan. Das sind für uns Familien. In Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg wird ein (Walter Hirche [F.D.P.]: Das hat sie nicht ge- eigenes Landeserziehungsgeld gezahlt. In Rheinland- tan! Das muß man fairerweise sagen!) Pfalz gab es das einmal, eingeführt durch die CDU. Es Damit gehen wir durchaus nicht gegen den Art. 6 des ist dann aber durch die von der SPD geführte Regierung Grundgesetzes vor. Wir wollen auch in gar keiner Weise abgeschafft worden. Sehen Sie Möglichkeiten, auf die – ich lebe selber seit 35 Jahren in einer Ehe, die mir viel von der SPD regierten Bundesländer Einfluß zu nehmen, gibt – gegen eheliche Lebensgemeinschaften vorgehen. damit es auch dort zur Entlastung der Eltern ein Lan- Wir tragen nur der Realität Rechnung. Es ist einfach so, deserziehungsgeld gibt? daß viele Menschen in diesem Land anders zusammen- (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das können Sie leben. mit Ja oder Nein beantworten!) Für uns zählen – ich sage Ihnen das, weil Sie immer so sehr auf den Wertbegriff abstellen – Fürsorge fürein- ander und Verantwortung zwischen den Generationen. Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Diese Werte wollen wir politisch unterstützen, und diese milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, ich kann dieWerte werden eben auch in unterschiedlichen Familien- lange Frage in der Tat knapp beantworten: Das werdeformen gelebt. Das ist die Realität; sie müssen wir ein- ich nicht tun. Sie haben mich ja gerade dafür gescholten, fach zur Kenntnis nehmen. Aber mit der Realität haben daß für mich die Erwerbsarbeit für Frauen so im Vor-Sie sich ja schon manchmal schwergetan. dergrund steht. Ich werde nichts unterstützen, das Frau- en noch länger vom Arbeitsmarkt fernhält, weil ich (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE weiß, welche Konsequenzen das hat. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Wenn wir über Erziehungsurlaub reden, müssen wir GRÜNEN und der PDS – Widerspruch bei der natürlich auch darüber reden, wie wir ihn weiterentwik- CDU/CSU) keln wollen. Wir wollen diesen Erziehungsurlaub zu einem Elternurlaub umwandeln, damit wirklich eine (B) War das klar genug? partnerschaftliche Erziehung in dieser Gesellschaft(D) möglich wird. Wir wollen ein Konto, von dem beide (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Wollen Sie Kin- Elternteile, Vater und Mutter, Erziehungszeiten abrufen dergartenplätze für Kinder ab zwei Jahre?) können, und einen Anspruch auf Teilzeitarbeit einfüh- Wir waren bei der Anhebung der Einkommensgren- ren, damit beide Elternteile Kindererziehung und Be- zen beim Erziehungsgeld. Dies halte ich nun wirklichrufsarbeit miteinander vereinbaren können. Damit wird für sehr wichtig. Sie wissen, daß hier seit zwölf Jahren auch die Sorge darüber, wie man auf den Arbeitsmarkt nichts passiert ist. Wir werden schrittweise wieder dafür zurückkommt, geringer. Wir wollen die Wahlfreiheit sorgen, daß die Mehrzahl der Familien ein Erziehungs- fördern. Eine partnerschaftliche Teilhabe an Familie und geld bekommt. Beruf von Müttern und Vätern ist ein vernünftiges Mo- dell. Dazu werden wir demnächst einen Gesetzesentwurf (Zurufe von der CDU/CSU) vorlegen. Vielleicht können wir dem auch gemeinsam zustimmen. – Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben auch ganz klar gesagt – auch das spielt in Wir wollen auch eine Arbeitswelt, die familien- und der Debatte ja eine Rolle –, daß wir den Splittingvorteil frauenfreundlicher ist. Dafür werden wir sorgen. Ich la- der Ehepaare kappen wollen. Es ist durchaus zu vertre- de alle Tarifpolitiker ein, das Ihre dazu zu tun. ten, daß man bei den höheren Einkommen zugunsten der Familien mit Kindern umverteilt. Das ist nämlich aus meiner Sicht Familienpolitik, und das ist auch nicht ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau kniffen. Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Hüppe? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Weil Sie es ebenfalls ansprachen, sage auch ich klar, milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja. Ich halte mich welches unser Familienbegriff – es ist auch der meinige – jetzt an die Form. Bitte. ist. Wir definieren Familie weiter, als Sie es tun. Das wird der Realität einfach mehr gerecht. Familie wird (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die De- heute in vielfältiger Form gelebt. Damit respektieren batte muß doch nicht noch mehr verlängert wir, daß Alleinerziehende oder auf Dauer angelegte werden!) 184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

(A) Hubert Hüppe (CDU/CSU): Frau Ministerin, vor Das war nicht nur ein schlechter Stil, sondern schon fast (C) dem Hintergrund Ihrer Aussage, daß ein Landeserzie-frauenfeindlich. hungsgeld für das dritte Jahr nicht notwendig ist, frage (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ich Sie, ob Sie dann auch konsequenterweise einen GRÜNEN und der PDS – Widerspruch bei der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist zweiten Lebensjahr einführen und den Erziehungsurlaub doch Ernstnehmen der Position!) von drei auf zwei Jahre kürzen wollen. – Ja, das ist so. – Wenn sich kompetente Frauen zu har- ten Themen wie zum Beispiel zur Geldpolitik äußern, Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich will den Erzie- finde ich das sehr gut. Von mir aus könnte es ruhig noch hungsurlaub nicht kürzen. Das ist ganz klar. Zu demmehr kompetente Frauen in diesen Bereichen geben. Thema Kinderbetreuung kommen wir noch. Wir haben Das gilt auch für Frauen von Bundesministern. nicht zuviel, sondern zuwenig Kinderbetreuungsein- (Zuruf von der CDU/CSU: Warum hat denn richtungen. dann nicht Frau Müller diesen Job übernom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS men?) 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Denen können wir kein Rede- oder Berufsverbot ertei- der PDS) len. Herr Glos, der sich ja in dieser Weise geäußert hat, Wir brauchen vor allen DingenKinderbetreuungsein- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schäuble richtungen auch für Kinder unter drei Jahren und für auch!) Schulkinder, wenn wir wollen, daß Frauen und Männer Kindererziehung mit Erwerbsarbeit verbinden könnenhat, wie ich glaube, auch bei den Frauen seiner eigenen und dieses auch gesellschaftlich akzeptiert wird. In den Fraktion nicht viel Zustimmung bekommen. neuen Bundesländern gibt es noch eine bedarfsgerechte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Versorgung, die Standard für ganz Deutschland werden sollte. Das wird nicht ganz einfach sein, aber ich hoffe Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein- auf Unterstützung in diesem Hause und von vielen ande- mal auf das Thema „gut bestelltes Haus“ und darauf zu- ren gesellschaftlichen Gruppen. rückkommen, wie es mit der Gleichberechtigung der Geschlechter aussieht. Sie wissen, daß wir – das hat (Iris Gleicke [SPD] [an die CDU/CSU ge- auch der Kanzler gestern sehr deutlich ausgeführt – ein wandt]: Wir werden ja sehen, wie Sie abstim- Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ starten wollen. Da- men!) zu gehört ein ordentlichesGleichstellungsgesetz , das (B) Meine Damen und Herren, wir haben über das Thema diesen Namen auch verdient, ein effektives Gleichstel- (D) Erziehungsurlaub geredet. Ich möchte noch einmal auf lungsgesetz, das auch für den Bereich der Privatwirt- einen für mich wichtigen Schwerpunkt eingehen; Frau schaft Anwendung findet. Dazu gehören arbeitsrechtli- Rönsch, Sie haben das angesprochen; auch das ist ge-che Regelungen, wie Benachteiligungsverbote und die sellschaftliche Realität. Wir zwingen nicht Frauen, die verbesserte Absicherung der Teilzeitarbeit. Dazu gehört sich lieber um Erziehungsarbeit kümmern wollen, in die auch die bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge an Erwerbsarbeit hinein; aber wir gehen davon aus, daßsolche Unternehmen, die Frauen fördern. Das soll ein Frauen und Männer das gleiche Recht auf Erwerbsarbeit Anreiz zur beruflichen Gleichstellung sein. Dazu gehört haben, und wollen, daß sie dieses Recht in dieser Gesell- auch, daß Frauen grundsätzlich die Hälfte der Ausbil- schaft auch wahrnehmen können. dungsplätze in den zukunftsträchtigen Berufen bekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men. Wir wissen, dafür ist einiges zu tun. Man kann der PDS) zum Beispiel Anreizsysteme schaffen. Auf diesem Ak- ker ist durchaus noch einiges zu bestellen. Wir wollen Dazu gehört zum einen der Ausbau von Kinderbe-Frauen gezielt unterstützen, die in die Selbständigkeit treuungseinrichtungen; das setzt den gleichberechtigten gehen. Auch die Förderung von Frauen in Lehre und Zugang zum Arbeitsmarkt und auch eine gesellschaftli- Forschung muß vorangebracht werden. Aber das ist bei che Akzeptanz des Anspruchs von Frauen auf der Er- Wissenschaftsministerin mit Sicherheit in guten werbsarbeit voraus. Hier sehe ich bei uns in Deutschland Händen. einen großen Nachholbedarf, gerade auch im Vergleich zu unseren Nachbarländern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Ich wurde eben aufgefordert, mich in der Männerwelt der PDS) gut durchzusetzen. In diesem Zusammenhang will ich einmal sagen, was mir bei der gestrigen Debatte sehrWir werden auch die Verschlechterungen im Arbeitsför- unangenehm aufgefallen ist: Offensichtlich ist die Ak- derungsgesetz wieder rückgängig machen. Wir wußten zeptanz von kompetenten Frauen auch hier nicht allseits immer, was eigentlich passiert, hatten aber leider nicht verbreitet. Es gab gestern ein paar Hiebe auf Christadie Mehrheiten, um das zu verhindern. Müller, bei denen ich mich fragte, was das eigentlich Meine Damen und Herren, auch das Thema „Gewalt soll. gegen Frauen“ ist ein Schwerpunkt unserer Regierungs- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Macho- politik. Ich denke, daß wir da gemeinsam handeln kön- Schäuble!) nen. Dieses Thema muß stärker in das öffentliche Be- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 185

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann (A) wußtsein rücken. Wir müssen neue Initiativen entwik- bei uns lebenden ausländischen Jugendlichen richten.(C) keln, die Gewalt vorbeugen, die Frauen mehr SchutzWir müssen auch diesen jungen Menschen eine berufli- und Hilfe gewähren, wie zum Beispiel die vereinfachte che Perspektive schaffen, damit sie eine Zukunft in un- Zuweisung der Ehewohnung in den Fällen, in denenserem Lande haben. Gewalt ausgeübt wird. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- GRÜNEN und der PDS) neten der F.D.P.) Dazu gehört natürlich auch die Bekämpfung des Meine Damen und Herren, die Seniorenpolitik ist hier Frauenhandels. Hier können wir in der Kontinuität der schon angesprochen worden. Ich denke, hier werden wir Arbeit bleiben. Es ist schon eine ganze Menge passiert. die wenigsten Konflikte miteinander haben, obwohl Im Bereich der nationalen Arbeit und der internationalen auch hier noch viel zu bestellen ist. Politik für ältere Zusammenarbeit muß aber mehr erfolgen. Menschen muß wieder in den Vordergrund kommen, Beim Thema „Gewalt“ müssen wir natürlich auch auf aber nicht nur verbal. das Thema „Jugendpolitik“ zu sprechen kommen. Leider Es geht wirklich darum, die Mitspracherechte und ist das so. Ein Schwerpunktthema dieser Legislaturperi- Mitbeteiligung älterer Menschen, die schon jetzt viele ode wird die Stärkung derKinderrechte, der Schutz wichtige Aufgaben übernehmen, im Rahmen der Inte- von Kindern vor Gewalt, Mißbrauch und sexueller Aus- gration in die Gesellschaft zu stärken. Wir müssen den beutung sein. Auch hier können wir an vieles anknüp- Menschen, die immer früher aus dem Arbeitsleben aus- fen, was schon gelaufen ist. Aber es müssen auch neue scheiden und nur schwer wieder hineinfinden, wenn sie Punkte hinzukommen; denn die Stärkung von Kinder- zum Beispiel mit 55 arbeitslos geworden sind, eine neue rechten und der Schutz vor Gewalt fängt schon bei der Perspektive in der Gesellschaft geben, zumal die Gesell- Erziehung an. Es ist unbestreitbar, daß zwischen der er- schaft ihre Mitarbeit dringend braucht. In diesem Be- lebten Gewalt von Kindern und Jugendlichen und der reich werden wir einiges auf den Weg bringen. Ausübung von Gewalt ein enger Zusammenhang be- steht. Deswegen ist es für uns logisch und richtig, daß Wir müssen im Bereich der rechtlichen Regelungen wir das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehungeine ganze Menge tun. Es liegt viel auf dem Tisch: das auch gesetzlich verankern. Hierfür bitte ich ebenfalls um Heimgesetz, die Heimmindestbauverordnung, das The- Unterstützung. ma ambulante Dienste, das Thema Altenpflegeausbil- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dung. Wie Sie wissen, ist die Diskussion zum Thema GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Altenpflegeausbildung – in diesem Zusammenhang (B) neten der F.D.P.) muß man deutlich sagen: jedes Land hat eine eigene Re- (D) gelung; wir müssen aber eine bundeseinheitliche Rege- Sie alle wissen genau, daß wir damit nicht Elternlung erreichen – in den letzten Jahren immer wieder dar- kriminalisieren wollen, sondern daß es einfach daruman gescheitert, daß sich die Bundesregierung von der geht, ein gesellschaftliches Leitbild zu formulieren, das Bayerischen Staatsregierung, die eine bundeseinheitliche der Gewalt von vornherein keine Chance gibt. KinderAusbildung nicht wollte, bremsen ließ. dürfen gar nicht lernen, daß Gewalt ein Mittel der Kon- fliktbewältigung ist, sondern müssen andere Formen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Erziehung erleben. 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Lei- der!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Es ist richtig, in diesem Bereich ein Gesamtpaket zu neten der F.D.P.) schnüren und ein ordentliches Strukturgesetz zu entwer- fen, in dem all diese angesprochenen Novellierungen Das war im übrigen auch eine Empfehlung des leider enthalten sind und in dem eine Leitlinie für eine moder- nur sehr einseitig diskutiertenZehnten Kinder- und ne, zukunftsorientierte Altenpolitik festgeschrieben Jugendberichtes der Sachverständigen. Ich kündige wird. hier an, daß ich mich mit den Sachverständigen noch einmal zusammensetzen werde. Wir werden darüber diskutieren, wie wir Kinderrecht stärken, wie wir Kin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau derarmut in der Gesellschaft besser bekämpfen können. Ministerin, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen. Das ist kein Thema, das man sozusagen in einem Vier- teljahr erledigen kann. Ich bitte, weil ich davon ausgehe, daß es unser aller Anliegen ist, auch hier um Ihre Mitar- Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- beit. milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, ich komme zum (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Schluß. GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- neten der F.D.P.) Die zentralen Leitlinien unserer Politik sind die Be- kämpfung von Armut, die Durchsetzung der tatsächli- Wenn wir über die gesellschaftliche Integration von chen Gleichstellung von Frauen und Männern, die Äch- jungen Menschen reden, muß sich unser Blick auch auf tung und Bekämpfung jeder Form von Gewalt und so- die jungen Aussiedlerinnen und Aussiedler und auf die zialer Ausgrenzung. Ich bitte Sie dabei um Ihre Unter- 186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann (A) stützung. Viele Menschen im Lande warten darauf, daß Die zögerliche Senkung des Eingangssteuersatzes bei(C) auf diesem Feld endlich wieder Politik stattfindet. der Lohn- und Einkommensteuer durch die Regierung schafft für die Familien keine wesentliche Entlastung. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte auf die Steuerklasse V eingehen, die mich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schon immer aufgeregt hat. Hinzuverdienende Frauen in PDS) Familien werden sich bei Ihnen bedanken, daß sie mit der Steuerklasse V weiterhin weniger im Portemonnaie haben. Unsere Steuerreform hätte das Problem mit ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als löst. nächste Rednerin hat die Kollegin Ina Lenke von der F.D.P.-Fraktion das Wort. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir brauchen drittens nicht Ihre, sondern eine andere Ina Lenke (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen Reform der sozialen Sicherungssysteme. Es kann doch und Herren! Ganz zu Anfang möchte ich bemerken: Mir wirklich nicht sein, daß eine Seniorin über ihre Zahlung ist aufgefallen, daß Kanzler Schröder kein sehr großes der Ökosteuer nun zum zweitenmal in die Rentenkasse Interesse an diesem Bereich der Politik hat. einzahlt. Das wollen wir nicht. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU – Uwe Hiksch [SPD]: Das Auch das Kabinett ist nur sehr schwach vertreten. ist ja lächerlich, was Sie sagen!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ich komme zu einem Punkt, der Sie sicher wieder Zuruf von der SPD: Das hätten Sie einmal der aufregen wird, aber das freut mich. Es geht um die620- alten Regierung sagen sollen!) DM-Arbeitsverhältnisse. Die F.D.P. will nicht, daß sie Herr Hombach, es freut mich, daß wenigstens Sie anwe- abgeschafft werden. send sind. Vielleicht können Sie unsere Interessen ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- genüber dem Kanzler vertreten und ihm mitteilen, was ten der CDU/CSU) wir gesagt haben, denn er hat sicherlich keine Zeit, das Protokoll zu lesen. Im Bundestagswahlkampf haben viele von Ihnen bei den Bürgern und Bürgerinnen den Eindruck erweckt, hier sei Liberale Frauen haben im Bundestag stets für dieein ordentlicher Rentenanspruch zu realisieren: Ein Jahr Verbesserung der Lebensverhältnisse von Familien,monatlich 620 DM gleich 6 DM Altersrente im Monat Frauen, Jugendlichen und Senioren gestritten. Ich nenne (B) ist wirklich viel zuwenig. Das Ergebnis Ihres Handelns (D) nur einige Erfolge liberaler Politik in der letzten Legis- wird auch sein, daß diese Arbeitsplätze – auch das sind laturperiode: die Änderung des § 218, Verbesserungen Arbeitsplätze – verschwinden werden. im Kindschaftsrecht, Verbesserungen beim Familienla- stenausgleich, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Und vor allen Dingen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Arbeitsplätze für Frauen!) ten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich will mich recht kurz die strafrechtliche Verfolgung der Vergewaltigung in fassen, denn ich habe nur noch zwei Minuten. der Ehe. Dafür steht unsere Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ganz besonderer Weise. Ein weiterer Kritikpunkt ist die von Ihnen angespro- chene Scheinselbständigkeit von Frauen. Sie stellen (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]) Prüfkriterien auf, an denen Sie Scheinselbständigkeit messen wollen. Existenzgründerinnen werden hiervon Die letzte Legislaturperiode, in der ich leider nochbesonders betroffen sein. nicht Mitglied des Bundestages war, hat eine Entlastung für Familien von 16 Milliarden DM erbracht. Daher (Zurufe von der SPD: Oh!) müssen Sie von der Regierungsbank nicht so sehr wei- Die Frauen beginnen ihre Selbständigkeit im kleinen nen. Wir haben etwas für die Familien getan. Rahmen als Unternehmerinnen ohne zusätzliches Perso- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nal, vielleicht mit einem Kunden, vielleicht für einen ten der CDU/CSU) Auftraggeber und mit geringem Startkapital. Wenn Sie jetzt auch noch mit den Belastungen aus dem Sozialver- Für eine erfolgreiche Frauen- und Familienpolitiksicherungsbereich kommen, dann, denke ich, werden brauchen wir in der Bundesrepublik Grundvorausset-viele Frauen wieder abspringen und das gar nicht ma- zungen. Die Grundvoraussetzungen sind die, für die die chen. F.D.P. im Bundestagswahlkampf gekämpft hat: Wir brauchen erstens eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, Dann ganz kurz zu Ihrem Versprechen: 100 000 Ar- die Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft. beits- und Ausbildungsplätze. Der Ministerpräsident Schröder hat in Niedersachsen eine miserable Unter- Wir brauchen zweitens eine wirklich große Steuerre- richtsversorgung hinterlassen. form und kein Reförmchen. (Walter Hirche [F.D.P.]: So ist das: Schulden (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) en masse!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 187

Ina Lenke (A) Das heißt, wir brauchen erst eine gute Schulausbildung, Es waren die Frauen, die die Regierung Kohl abge-(C) erst dann können Sie mit diesem Programm erfolgreich wählt haben. Sie gaben der rotgrünen Regierung einen sein. Vertrauensvorschuß, und sie erwarten von uns nun zu Recht einen Politikwechsel. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich komme zu dem Ak- tionsprogramm „Frau und Beruf“. Knackpunkte sind „Ein neuer Aufbruch in der Frauenpolitik“ – so ist ein hier für mich dasGleichstellungsgesetz mit verbindli- Kapitel im Koalitionsvertrag überschrieben. Das ist für chen Regelungen für die private Wirtschaft, die gesetzli- uns keine Leerformel: Zum ersten mal in der Geschichte che Quotierung der Ausbildungsplätze – das verstehe ich dieser Republik wird es ein Gleichberechtigungsgesetz überhaupt nicht – 50:50, die Bindung der öffentlichennicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern auch für Auftragsvergabe an frauenfördernde Maßnahmen. die Privatwirtschaft geben, ein Gesetz, das Frauen den (Walter Hirche [F.D.P.]: Eine Erdrosselung gleichen Zugang zur Erwerbsarbeit sichert und Mädchen des Mittelstandes!) die Hälfte der Ausbildungsplätze garantiert. Endlich wird Ernst gemacht, Frau Rönsch, mit der Umsetzung Ich war im Niedersächsischen Landtag. Frau Dückert, der Grundgesetzänderung von 1994, wonach der Staat wir beide haben festgestellt, daß es nicht geht. Nunverpflichtet ist, die Nachteile zu beseitigen. wollen wir mal sehen, ob es im Bundestag geht. Ich ha- be da keine Hoffnung, und das freut mich. Ich sage Ih- Keine konservative Mehrheit wird mehr blockieren, nen: Nicht mit meiner Stimme und auch nicht mit dendaß per Gesetz für Unternehmen Anreize zur Frauenför- Stimmen unserer Fraktion werden Sie diese wirtschafts- derung geschaffen werden, indem die Vergabe der öf- feindlichen Dinge durchbringen. fentlichen Aufträge an frauenfördernde Maßnahmen ge- bunden wird. Keine konservative Mehrheit wird mehr (Beifall bei der F.D.P. – Wilhelm Schmidt verhindern, daß Frauen und Männer endlich einen [Salzgitter] [SPD]: Das wollen wir auch gar Rechtsanspruch auf Arbeitszeitreduzierung während des nicht!) Erziehungsurlaubs erhalten. ABM und Weiterbildung Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion wird werden mit der Erziehung von Kindern vereinbar sein, sich im Bereich Frauen, Familie, Senioren und Jugend und von der alten Bundesregierung eingeführte frauen- besonders engagieren: Verbesserungen der Betreuungs- diskriminierende Regelungen, zum Beispiel betreffend möglichkeiten für Kinder, eigenständige Alterssicherung Pendelzeiten von zweieinhalb Stunden bei einer Ar- für Frauen, Förderung der Familie, aber auch Abbau der beitszeit von vier Stunden, werden zurückgenommen. (B) Diskriminierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D) Die rechtliche Gleichstellung von schwulen und lesbi- bei der SPD und der PDS) schen Lebensgemeinschaften wollen wir ebenfalls. Ich will mich einsetzen für die soziale Absicherung vonFür Ihren Vorschlag, Frau Bergmann, Kinderbetreu- Prostituierten und endlich – endlich! – für die Einfüh- ungskosten für erwerbstätige Eltern wieder steuerlich rung von RU 486. Ich hoffe, zumindest da sind wir uns absetzbar zu machen – also Babysitter- statt Dienstmäd- einig. chenprivileg –, finden Sie bei den Bündnisgrünen offene Türen. Recht herzlichen Dank. Da ich gerade beim Loben bin – eigentlich mache ich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- das gar nicht so oft –, schließe ich den Kanzler einfach ten der CDU/CSU) einmal mit ein. Seine gestrige Ankündigung, ein Schul- und Betreuungssystem zu schaffen, das die Lebenswirk- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das war lichkeit moderner Familien und Alleinerziehender be- die Jungfernrede von Frau Lenke. Vielen Dank. rücksichtigt, zeigt, daß auch in diesem Punkt endlich mehr für Vereinbarkeit von Familie und Beruf getan Als nächste Rednerin hat die Kollegin Irmingardwird. Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE PDS) GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch im Gewaltbereich zeigt sich der Paradigmen- Darauf haben die Frauen der Republik lange warten wechsel. Gewalt von Männern an Frauen wird nicht müssen: auf den Paradigmenwechsel in der Frauenpoli- länger als Frauenproblem abgetan, sondern als Problem tik. Schluß mit Politikersatz durch Modellprojekte und der inneren Sicherheit angesehen. Broschüren! Schluß mit der Heim und Herdpolitik, mit der Ehefrau als Zuverdienerin! Statt dessen heißen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stichworte materielle Unabhängigkeit, gleichberechtig- und bei der SPD) ter Zugang zur Erwerbsarbeit und gerechte Verteilung der Familienarbeit zwischen Männern und Frauen. Das heißt, Frauen und Kinder werden bei Gewalt in der Familie nicht mehr nur in das Frauenhaus flüchten kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nen, sondern die Täter werden die Ehewohnung verlas- bei der SPD und der PDS) sen müssen. 188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Für Opfer von Frauenhandel wird es ein Zeuginnen- Für uns versteht es sich von selbst, daß die Sozialhilfe(C) schutzprogramm und einen besseren rechtlichen Schutz generell erhöht werden muß und daß auch die Unter- durch die Erweiterung der entsprechenden Definition im haltssätze für Kinder nicht weiter unter dem Existenz- Strafrecht geben. Wir dürfen nicht länger zulassen, daß minimum liegen dürfen. Aber das heißt auch, daß das die Rechtlosigkeit der Opfer zum besten TäterschutzGeld in Zeiten knapper Kassen umverteilt werden muß. wird. (Walter Hirche [F.D.P.]: Es muß gespart wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, wenn man neue Arbeitsplätze haben und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der will!) PDS) Doch bekanntlich gibt es in den Köpfen der „old Auch die rechtliche und soziale Diskriminierung des boys“ zuweilen andere Prioritäten. Da will einer nur ältesten Gewerbes der Welt wird zu Beginn des dritten Verteidigungsminister werden, wenn er seine Eurofigh- Jahrtausends endlich beseitigt. Ich freue mich sehr, daß ter behalten darf. Im Rahmen der Steuerreform werden die F.D.P. hier auf unserer Seite ist. die Steuervergünstigungen für Jahreswagen als Lieb- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lingskind des Kanzlers dann doch von der Streichliste und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der genommen. F.D.P. und der PDS) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Aber es gibt auch Punkte, angesichts deren wir den 90/DIE GRÜNEN sowie bei der PDS) Koalitionsvertrag weiterentwickeln müssen. Nicht ak- Ich finde, liebe Kolleginnen, hier müssen die Frauen des zeptabel ist für uns, daß die Verfolgung auf Grund des Parlaments fraktionsübergreifend Stärke beweisen. Wir Geschlechts immer noch nicht generell als Asylgrundmüssen deutlich machen, was gesellschaftlich notwen- anerkannt wird. Es wäre für die Bundesregierung eindig ist und wenn es sein muß, müssen wir den Männern guter Start gewesen, Frauen, die im Krieg Vergewalti- ihre Lieblingsspielzeuge einfach auch einmal wegneh- gung oder Zwangsabtreibung erlitten haben oder wegen men. anderer frauenspezifischer Verfolgung wie zum Beispiel genitaler Verstümmelung aus ihrer Heimat flüchten, ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES nerell politisches Asyl zu gewähren, wie es andere 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Beifall bei Staaten tun. der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wieso eine Steigerung des Wehretats statt Kinderbe- sowie bei Abgeordneten der SPD – Beifall bei treuungseinrichtungen, statt Hilfsprogrammen für Opfer der F.D.P. und der PDS) (B) von Menschenhandel, statt einer Erhöhung des Erzie-(D) Daß ausländische Ehefrauen hier nicht sofort ein vomhungsgeldes? Ehemann unabhängiges Aufenthaltsrecht erhalten und Ich komme zur Jugendpolitik. Auch die letzten etwas Opfer von Menschenhandel bisher nur – ich muß leider positiveren Zahlen auf dem Lehrstellenmarkt dürfen aus den Koalitionsverhandlungen zitieren – „gegebenen- nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieBekämpfung falls“ eine Duldung bis zum Ende des Gerichtsverfah- der Jugendarbeitslosigkeit eine der größten Herausfor- rens erlangen können, entspricht nicht bündnisgrünenderungen ist. Hier hat die alte Bundesregierung versagt. Vorstellungen. Wir dürfen die Jugendlichen nicht allein lassen, gerade Auch die Subventionierung des Trauscheins darf kei- die nicht, die durch wenig qualifizierte Abschlüsse, ihre ne Zukunft haben. Wir brauchen keine Eheförderung;Herkunft oder eine Behinderung benachteiligt werden. wir brauchen Familienförderung. Warteschleifen mit schlechten Qualifizierungsmaßnah- men müssen der Vergangenheit angehören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Wir werden die Herausforderung annehmen und be- rufliche Chancen für Jugendliche schaffen. Das Sofort- Die vorgesehene Kappung des Ehegattensplittings, die programm der neuen Regierung, mit dem 100 000 neue erst im Jahre 2002 greifen soll, ist mit 2 Milliarden DM Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden, ist äußerst bescheiden ausgefallen. Denn statt eine Art Ehe- hier ein erster Schritt. Wir werden besonders darauf geld von mehr als 42 Milliarden DM im Jahr zu zahlen, achten, daß auch junge Frauen zu ihrem Recht auf eine müssen Familien mit Kindern viel höher direkt finanziell gute Ausbildung kommen. entlastet werden, damit Kinder eben nicht das Armutsri- siko Nummer eins bleiben. Aber wir brauchen nicht nur Veränderungen in der Jugendpolitik, sondern wir sehen auch Reformbedarf in Die Erhöhung des Kindergeldes um 40 DM ist si- der Politik für ältere Menschen. Nur zwei Stichworte: cherlich ein guter Anfang. Sozialhilfebezieher und -be- Wir werden nicht nur mehr Mitbestimmungsrechte für zieherinnen haben davon allerdings überhaupt nichts.ältere Menschen in Heimen verankern, sondern auch die Die Regelsätze für Kinder entsprechend der Kindergeld- Defizite bei der Heimaufsicht beheben. Auch der Alten- erhöhung anzupassen hätte 150 Millionen DM gekostet. pflegeberuf – die Frau Ministerin hat es eben angespro- Das ist weniger als der Preis für einen Eurofighter. chen –, für den es in jedem Bundesland eine andere (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Ausbildung gibt, wird kein Durchlauferhitzer mehr blei- 90/DIE GRÜNEN sowie bei der PDS) ben, in dem die Pflegekräfte wegen Überlastung, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 189

Irmingard Schewe-Gerigk (A) schlechter Arbeitsbedingungen und Burn-out verständli- zu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt zu(C) cherweise kaum mehr etwas hält. machen. Mit einer bundeseinheitlichen Regelung werden wir (Beifall bei Abgeordneten der PDS) die Pflegeausbildung auf eine gemeinsame Grundlage Aber eben daran wird sich die Gesamtpolitik der neuen stellen und auch die Qualitätsstandards verbessern. Auch Regierung zukünftig messen lassen müssen. Nach der hier werden wir die Blockade der alten Bundesregierung gestrigen Regierungserklärung des neuen Bundeskanz- aufheben. lers bleibt für mich noch ein bißchen offen, welchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Platz die Frauen in der „Neuen Mitte“, beim „Zukunfts- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der bündnis“, bei der „neuen Zivilität und Partnerschaft“ PDS) und beim „modernen Chancenmanagement“ tatsächlich haben werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in den nächsten vier Jahren dafür sorgen, daß der Koalitions- Die Gleichstellung der Geschlechter muß von vorn- vertrag mit Leben erfüllt wird. Während der Verhand- herein in allen Politikbereichen sowie in Gesetzen und lungen haben wir körbeweise Zuschriften von Verbän- Maßnahmen verankert und umgesetzt werden. Nach wie den, Initiativen und Gewerkschaften erhalten. Vielevor bleibt die Umsetzung der Aktionsplattform der wichtige Forderungen finden sich im Koalitionsvertrag 4. Weltfrauenkonferenz in Peking und des Überein- wieder, aber alles haben wir nicht durchsetzen können. kommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminie- Darum brauchen wir die kritische Begleitung aller ge- rung der Frau Meßlatte sämtlicher politischer Entschei- sellschaftlichen Gruppen. Wir wollen nicht länger Poli- dungen; denn Frauenrechte sind Menschenrechte, ohne tik gegen Menschen, wir wollen Politik mit Menschen Wenn und Aber. machen. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Die Regierung Kohl hat die soziale Spaltung der Ge- der SPD) sellschaft betrieben. An Rotgrün ist es jetzt, dies zu ver- Lassen Sie mich im folgenden an vier Punkten exem- ändern. plarisch zeigen, daß die PDS viele frauenpolitische An- sätze der neuen Bundesregierung unterstützt, sie uns Ich danke Ihnen. aber gleichzeitig in einigen Punkten nicht weit genug (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gehen, weil sie letztlich zu wenig an patriarchalen bei der SPD und der PDS) Strukturen rütteln. Erstens. Zu Recht werden die berufliche Integration und der Aufstieg von Frauen in Unternehmen und Ver- (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das (D) Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss von der PDS-waltung in den Mittelpunkt gestellt. Auch wir halten ein Fraktion. effektives Gleichstellungsgesetz, das auch für die Pri- vatwirtschaft verbindliche Regelungen zur Frauenförde- rung festschreibt, die Korrektur der frauendiskriminie- Petra Bläss (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin- renden Regelungen im Arbeitsförderungsrecht, die vor- nen und Kollegen! Ja, es waren vor allem Frauen, dierangige Vergabe öffentlicher Aufträge an frauenfreund- am 27. September der neoliberalen Regierungskoalition liche Unternehmen, die Durchsetzung des Grundsatzes und einer in die Sackgasse geratenen konservativen„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie die fünfzigpro- Frauen- und Familienpolitik eine klare Absage erteiltzentige Quotierung aller Ausbildungsplätze für das, was haben. Zu groß war am Ende der Ära Kohl die Kluftso schnell wie möglich angepackt und vor allem durch- zwischen dem Pochen auf traditionelle Werte, den gera- gesetzt werden muß. Offen aber bleibt gerade angesichts de hier zu gern gehaltenen Sonntagsreden und der All- der Erfahrungen massiven Widerstands der Front der tagserfahrung von Millionen von Frauen in diesemDeregulierer und Standortpolitiker bei diesbezüglichen Land. Vorstößen auf Länderebene, in welchem Maße es tat- Die anhaltende Frauenerwerbslosigkeit und -dequali- sächlich durchzusetzen ist, gleichberechtigungspoliti- fizierung, die wachsende Zahl ungeschützter Beschäfti- schen Druck auf die Wirtschaft zu nehmen. gungsverhältnisse, die Frauendiskriminierung im Ar- Vorrangig auf den Ausbau von Haushaltsdienstlei- beits- und Sozialrecht, die fehlende eigenständige Exi- stungen und privaten Dienstleistungsagenturen zu setzen stenzsicherung und Anerkennung der Lebensleistung im halten wir im übrigen nicht für den Königsweg; denn Alter, völlig unzureichende Bedingungen für die Ver-hier besteht tatsächlich die Gefahr, geschlechtshierarchi- einbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft sowiesche Arbeitsteilung weiter zu zementieren. die Tatsache, daß es immer noch ein Armutsrisiko in (Beifall bei der PDS) diesem reichen Land ist, Kinder zu haben, machen den politischen Handlungsbedarf deutlich und die großenDie eigentliche Herausforderung aber – da kann und Erwartungen an einen rotgrünen Kurswechsel gerade in muß eine geschlechtsspezifische Sichtweise wesentliche der Frauen- und Familienpolitik verständlich. Impulse geben – bleibt im Zeitalter der Globalisierung und des Wandels der Arbeitsgesellschaft eine radikale Der Anspruch, für einen neuen Aufbruch in der Frau- Neuaufteilung der Arbeit, sowohl der bezahlten als auch enpolitik und für eine sichere Zukunft der Familien zu der unbezahlten. sorgen, findet ebenso die Unterstützung der PDS wie das Anliegen, die Gleichstellung von Mann und Frau wieder (Beifall bei der PDS) 190 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Petra Bläss (A) Zweitens. Ohne eigenständige Existenzsicherung grünen Regierung – ich bedaure das sehr – das Recht auf (C) von Frauen wird es keine Chancengleichheit der Ge- Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper abgespro- schlechter geben. Ein wesentlicher Schritt dazu, abgese- chen. hen von den 30 bis 40 Milliarden DM, die hier zu holen (Beifall bei der PDS – Zuruf von der CDU/ wären, ist die Individualbesteuerung. Nicht einmal als CSU: Was ist mit den Kindern?) halbherziger Einstieg in den Ausstieg kann die Ankün- digung zur geplanten Einschränkung des Ehegattensplit- Hier liegt der eigentliche politische Handlungsbedarf – tings ab dem Jahre 2002 gewertet werden. Damit verab- schieden sich im übrigen SPD und Grüne von ihren ei- genen frauenpolitischen Forderungen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin, kommen Sie bitte allmählich zum Schluß. (Beifall bei der PDS) Während bei anderen steuerrechtlichen Vorstellungen europäische Normalität eingefordert wird, zementiert Petra Bläss (PDS): – ja, ich bin sofort fertig –, aber Rotgrün in der Frage der Ehegattenbesteuerung die pa- auch die Chance, mit neuen Mehrheiten einen Straf- triarchale Sonderrolle Deutschlands. rechtsparagraphen dorthin zu befördern, wo er hinge- hört: auf den Müllhaufen der Geschichte. Die PDS sieht keinen Grund, die Ehe an sich steuer- rechtlich zu bevorzugen. Wir wollen das Leben mit Kin- (Beifall bei der PDS) dern fördern und sozialrechtliche Ansprüche individuali- sieren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das (Beifall bei der PDS) Wort hat als nächste Rednerin die Kollegin Maria Eich- Drittens. Die Rahmenbedingungen für dieVerein- horn von der CDU/CSU-Fraktion. barkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft endlich grundlegend zu verbessern und europäischen Standards anzupassen ist überfällig. Auch wenn wir die zugegebe- Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine nermaßen spärliche Anhebung des Kindergeldes und der Damen und Herren! Die Aussage des jetzigen Bundes- Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld und diekanzlers vor einigen Wochen über den Aufgabenbereich Schaffung eines gesetzlich garantierten Teilzeitan-von Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik – spruchs begrüßen, sehen wir noch keine ausreichendeer hat sie als „sonstiges Gedöns“ bezeichnet – war wohl Bedingung, um hier den notwendigen Paradigmenwech- wirklich ernst gemeint. Denn die Regierungserklärung sel zu schaffen und überholte Strukturen wirksam anzu- dazu war sehr deutlich: nur sehr wenige und dann noch (B) (D) gehen. unverbindliche Aussagen. Die PDS fordert, die Rahmenbedingungen für eine Frau Ministerin, ich habe heute die Regierungserklä- wirkliche Wahlmöglichkeit von Frauen und Männernrung nochmals nachgelesen, weil ich dachte, ich hätte zwischen Beruf und Kindererziehung gesetzlich festzu- vielleicht das eine oder andere überhört. Es finden sich schreiben. Wir haben bereits in der letzten Legislaturpe- dazu nur ganz wenige Sätze – leider. Kein Wort zum riode einen konkreten Vorschlag gemacht, an dem wir Stellenwert der Familie, dafür aber wurde das Ziel in der weiterarbeiten werden. Koalitionsvereinbarung genannt, daß alle auf Dauer an- gelegten Lebensformen künftig Anspruch auf Schutz (Beifall bei Abgeordneten der PDS) und Rechtssicherheit haben. Soll das die neue Familien- politik sein? Viertens und letztens. Auch wenn sich weder in der Regierungserklärung noch in der Koalitionsvereinba- (Zurufe von der PDS: Ja!) rung ein Wort zu einem weiteren frauenpolitischen Dau- erbrenner findet – das ist sicher kein Zufall –, noch eine Wir lehnen dieses gesellschaftspolitische Experiment als kurze Anmerkung: Die letzte Entscheidung des Bundes- indiskutabel ab. verfassungsgerichts zu § 218 zielt eindeutig auf die (Beifall bei der CDU/CSU) Wiederherstellung der Rechtssicherheit im Bund. Die Ablehnung des frauenfeindlichen bayerischen Sonder- Ganz bewußt haben die Väter und Mütter des Grund- weges ist ein wichtiges und notwendiges Signal. gesetzes Ehe und Familie in Art. 6 unter den besonde- ren Schutz des Staates gestellt. Wir werden daran fest- (Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie der halten und dafür kämpfen, daß sie die tragenden Leitbil- Abg. Ina Lenke [F.D.P.]) der unserer Gesellschaft bleiben und die notwendige Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es staatliche Unterstützung weiter erhalten. Denn nicht zu- in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor mit ei- letzt wegen der demographischen und sozialen Heraus- nem äußerst restriktiven Abtreibungsrecht zu tun haben. forderungen wird die Solidarität innerhalb der Familie auf Dauer noch stärker gefordert sein. Noch immer steht der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch. Insofern geht die Debatte um die Zu- Die Ankündigungen der neuen Bundesregierung aus lassung der Abtreibungspille RU 486 am eigentlichendem Wahlkampf werden nur halbherzig erfüllt. Ich be- Problem vorbei. Solange nämlich Frauen unter der Ku- grüße natürlich die Erhöhung des Kindergeldes. ratel des § 218 stehen, wird ihnen auch unter einer rot- (Zurufe von der SPD: Ah!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 191

Maria Eichhorn (A) Wenn Sie, Frau Ministerin Bergmann, jedoch noch zu tung ungeborenen Lebens wird doch, so wie bisher über (C) Ihren Schlußfolgerungen aus dem Zehnten Jugendbe-dieses Thema diskutiert wird, nur verharmlost. richt stehen, müßten Sie eigentlich besonderen Wert darauf legen, daß das Kindergeld gerade für Mehrkin- (Widerspruch bei der SPD) derfamilien stärker erhöht wird. Ihr Versprechen, Fami- Erst recht eignet sich diese Diskussion nicht zur frauen- lien mehr zu fördern, werden Sie jedoch nicht einhalten, politischen Profilierung. wenn die Kindergelderhöhung durch Veränderungen beim Ehegattensplitting gegenfinanziert wird. Dies be- (Christina Schenk [PDS]: Doch, sehr!) deutet lediglich Umverteilung und die Bestrafung der Frauen, die wegen der Kindererziehung auf eine Er- In Ihrer Koalitionsvereinbarung beschreiben Sie den werbstätigkeit verzichten. sogenannten Aufbruch in der Frauenpolitik. Eine neue Programmatik kann ich jedoch nicht erkennen. Ich bin Ich vermisse auch eine klare Aussage in der Koali-angesichts der vielfältigen Kritik an unserer Gleichbe- tionsvereinbarung zur Anhebung derEinkommens- rechtigungspolitik positiv überrascht, daß Sie in vielen grenze für die Gewährung des Erziehungsgeldes bzw. Punkten genau unseren Weg fortführen wollen. Das des Elterngeldes, wie Sie es nennen. Daß dieses Ziel für zeigt doch, daß wir den richtigen Weg beschritten hat- Sie keinerlei Priorität hat, Frau Bergmann, ist aus Ihren ten. Daß manches Ziel nicht gleich vollständig erreicht Ausführungen sehr deutlich geworden. Wenn Sie daswird, ist eine leidvolle Erfahrung, die Sie, verehrte Kol- dritte Jahr Erziehungsgeld vorhin grundsätzlich in Frage leginnen von der Regierungskoalition, jetzt bereits bei gestellt haben, dann zeigt das Ihre wahre Einstellung.der Vergabe der Ämter selbst erleben. Zwischen An- Wir erwarten jetzt von Ihnen, daß Sie das tun, was Sie spruch und Wirklichkeit kann schnell eine Lücke entste- vorher in der Opposition immer eingefordert haben,hen. Solange es in Zeiten der Opposition nur um verbale nämlich die Einkommensgrenzen sofort anzuheben. Beteuerungen zur Machtbeteiligung von Frauen ging, waren SPD und Grüne stets sehr freigiebig. Wenn es (Hanna Wolf [München] [SPD]: Das ist ja aber tatsächlich um die Besetzung von Positionen geht, wirklich kühn!) dann zeigt sich, wie schwierig es sein kann, die Theorie Was die Weiterentwicklung der Kinderbetreuungs- in der Praxis durchzusetzen. möglichkeiten angeht, so sind in erster Linie die Bun- Tatsächlich neu ist Ihr Ziel, Gleichberechti- ein desländer gefordert. Wir erwarten von der neuen Regie- gungsgesetz für die private Wirtschaft auf den Weg zu rung auf Grund ihrer engen politischen Bindung zu vie- bringen. Wir wissen alle um die damit verbundenen len Ländern jetzt Fortschritte. Dabei können Sie sich die Probleme. Ich bin gespannt, ob Sie dieses Vorhaben unionsregierten Länder ruhig zum Vorbild nehmen, zum durchsetzen werden. Wir hoffen, daß sich die Frauen- (B) Beispiel Bayern. (D) und Jugendministerin im Bündnis für Arbeit das not- (Beifall bei der CDU/CSU) wendige Gehör verschaffen wird, damit die Frauen- förderung in den Unternehmen weitere Impulse erhält. Wenn ich jedoch in diesen Tagen lese, daß Niedersach- Gleiches gilt natürlich für die Schaffung von Ausbil- sen die Zuschüsse für die Kindergärten binnen zwei Jah- dungsplätzen. Für uns bleibt es ein besonderes jugend- ren um über 60 Millionen DM kürzen will, so muß ich politisches Anliegen, die Beschäftigungsmöglichkeiten feststellen: Sie tun das genaue Gegenteil von dem, was benachteiligter junger Menschen zu verbessern. Sie ankündigen. (Beifall der Abg. [CDU/ Die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs- CSU] und Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]) kosten für alle Familien – nicht nur für Alleinerziehen- de – wäre wichtig. Aber ich frage: Ist das Als eine im Sommer die Pornohändlerringe im Internet Wunschvorstellung, die Sie, Frau Ministerin, in einem aufgedeckt wurden, war das Entsetzen groß. Weiterer Interview geäußert haben, oder werden Sie diese Vor- Handlungsbedarf wurde von allen Seiten angemahnt. stellung im Rahmen der Steuerreform auch unterbringen Deshalb bin ich jetzt doch sehr verwundert, daß diese können? Regierung zum Jugendmedienschutz keinerlei Aussage trifft. Der Schutz von Kindern vor Gewalt muß ein ju- Nachdem zwei Vorrednerinnen das ThemaRU 486 gendpolitischer Schwerpunkt bleiben. Vor allem kommt angesprochen haben, eine deutliche Stellungnahme von es darauf an, daß die nationalen Schutzvorschriften mir. Ich bin gegen die politische Auseinandersetzung,durch internationale Vereinbarungen flankiert werden. weil damit der fatale Eindruck erweckt wird, daß esDie Weichen dafür hat die bisherige Bundesregierung wichtiger ist, über Abtreibungsmethoden zu reden, statt gestellt. Wir fordern die neue Bundesregierung auf, im das gesellschaftliche Bewußtsein für denSchutz des nächsten Jahr die deutsche EU-Präsidentschaft zu nut- ungeborenen Lebens zu fördern. zen, um auf europäischer und internationaler Ebene zu klaren Ergebnissen in diesem Bereich zu kommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Die immer wieder hochstilisierte Frage der Einführung von RU 486 verkehrt die Absicht, für den Schutz des Frau Ministerin, Sie haben die gewaltfreie Erziehung ungeborenen Lebens zu sorgen, ins Gegenteil. Die Tö- angesprochen. Wir sind natürlich für gewaltfreie Erzie- 192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Maria Eichhorn (A) hung, aber wir sind gegen die Kriminalisierung der El- die Rahmen für die Menschen zu stecken, in denen sie(C) tern. Dagegen wehren wir uns. zu leben wünschen. Das haben sie uns durch die Art, wie sie leben, sehr deutlich gemacht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Ulla Schmidt [Aachen] (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [SPD]: Diese Argumentation habe ich noch DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nie gehört!) PDS) Meine Damen und Herren, die Wählerinnen und Die Bürger haben am 27. September Rotgrün ge- Wähler werden die Arbeit von Rotgrün nicht mehr wie wählt, weil sie sich in erster Linie gewünscht haben, daß bisher an Worten, sondern jetzt an Taten messen. Wirdie Arbeitslosigkeit massiv bekämpft wird. Ich kann werden Ihre Politik in dieser Legislaturperiode kritisch der neuen Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und begleiten. Jugend nur recht geben, wenn sie sagt, daß der Abbau der Arbeitslosigkeit der Schlüssel zu einer erfolgreichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Politik in unserem Bereich ist. ordneten der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin hat die Kollegin Hildegard Wester von Vor allem viele Frauen haben ihre Hoffnung in eine der SPD-Fraktion das Wort. rotgrüne Koalition gesetzt und dies durch ihre Stimmab- gabe dokumentiert. Viele junge Menschen sind diesem Beispiel gefolgt. Wir freuen uns sehr darüber und sehen Hildegard Wester (SPD): Herr Präsident! Meinein diesem erwiesenen Vertrauen eine Bestätigung und Damen und Herren! Am 27. September dieses JahresAnerkennung unserer Arbeit auch in den vergangenen haben die Bürgerinnen und Bürger sehr deutlich ge-Legislaturperioden. macht, daß sie einenPolitikwechsel wünschen. Dieses Ereignis hat unter anderem dazu geführt, daß wir gestern (Beifall bei der SPD) die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Schröder Wir nehmen diesen Auftrag an, zumal wir gut vorbe- zur Kenntnis nehmen durften – wir natürlich sehr er-reitet sind. Wir haben in der SPD-Bundestagsfraktion freut. Ich höre aber, daß einige Kolleginnen hier imumfangreiche Vorarbeiten geleistet, die die neue Regie- Hause wesentliche Kapitel vermissen, die sich mit der rung jetzt umsetzen kann. Die Vereinbarungen im Ko- Stellung der Frau in der Gesellschaft beschäftigen, alitionsvertrag, die Regierungserklärung des Bundes- was bei uns natürlich auf völliges Unverständnis stößt. kanzlers und das, was wir eben von der Ministerin (B) Denn ich lese sehr wohl – und habe das auch gehört –, Bergmann gehört haben, zeigen, daß wir ernst machen(D) daß Herr Schröder sehr Wesentliches zu dieser Position wollen und daß wir jetzt endlich zur Tat schreiten. gesagt hat. Aber ich kann sehr gut nachvollziehen, daß Sie damit nicht sehr einverstanden sind; denn es hat sehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des viel mit Ihrem Rollenverständnis zu tun. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deshalb sagen wir der Bundesregierung, insbesondere Frau Ministerin Bergmann, unsere Unterstützung bei ih- Herr Schröder hat nämlich eindeutig Chancen- die rer Arbeit zu. gleichheit für Frauen in Beruf und Familie eingefordert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) PDS) Das dürfte nicht so besonders auf Ihr Einverständnis Wir wissen genau, daß gerade Frauen große Erwar- stoßen. tungen an uns haben. Sie haben sich in ihrer Mehrheit (Widerspruch bei der CDU/CSU) schon sehr lange von dem veralteten Familienbild verab- schiedet, das noch immer in vielen konservativen Sonn- Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem machen,tagsreden herumgeistert. Sie haben sich anders entschie- was Frau Eichhorn gesagt hat. Ich habe nirgendwo ge- den. Wir werden dem Rechnung tragen. hört – weder in der Regierungserklärung noch in irgend- einer Rede vorher, noch in irgendeiner Äußerung einer Gesellschaftlicher Konsens und soziale Gerechtigkeit unserer Kolleginnen oder eines unserer Kollegen –, daß sind ohne Gleichstellung der Geschlechter nicht denk- wir gegen den Schutz der Familie im Grundgesetz sind. bar. Deshalb werden wir den Stillstand der vergangenen Jahre beenden und entsprechend dem Verfassungsauf- (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: trag die Position der Frauen im Berufsleben stärken. Lesen Sie einmal die entsprechenden Proto- kolle nach!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden natürlich dafür streiten. Wir haben aber nicht die Einstellung, daß Einelternfamilien irgendwel- Mit einem Gleichstellungsgesetz werden wir endlich che Ausnahme- oder Randerscheinungen oder sogar ex- auch die Privatwirtschaft zur Frauenförderung ver- perimentelle Lebensformen sind. Vielmehr nehmen wir pflichten. Unsere Vorstellungen dazu liegen seit Jahren die Lebenswirklichkeit so, wie sie ist, und versuchen,vor. Sie sind bereit, eingebracht zu werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 193

Hildegard Wester (A) Der Amsterdamer Vertrag hat Klarheit geschaffen,„Elterngeld und Elternurlaub für Mütter und Väter“ vor- (C) daß Frauenförderung im Einklang mit europäischemgelegt haben. Recht steht. Wir werden auch die europarechtlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Vorgaben einbeziehen und die Lohngerechtigkeit zwi- 90/DIE GRÜNEN) schen Männern und Frauen herstellen. Es darf nicht da- bei bleiben, daß die bestausgebildete Frauengeneration Der Erziehungsurlaub wird zu einem Elternurlaub mit ein Drittel weniger verdient als ihre männlichen Kolle- einem Erziehungszeitkonto umgewandelt, so daß beide gen. Elternteile die Chance auf Teilzeit haben. Die Wahl- möglichkeiten werden für beide Elternteile erweitert, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und damit wird eine Voraussetzung für eine partner- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schaftliche Kindererziehung geschaffen. Darüber hinaus PDS) wollen wir Wege finden, wie Elternurlaub auch für Vä- Es darf auch nicht dabei bleiben, daß Frauen überwie- ter attraktiv gemacht werden kann. Auch Männer haben gend auf schlechter gesicherten Arbeitsplätzen sitzen. Es ein Recht auf Rollenwandel. ist ein Märchen, daß Frauen nur ein bißchen hinzuver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dienen wollen und dankbar wären, wenn sie wenigstens DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der in geringfügiger Beschäftigung statt in sozial gesicher- F.D.P. und der PDS – Walter Hirche [F.D.P.]: ten Teilzeitberufen arbeiten könnten. Das ist neue Toleranz!) An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zu der – Davon sollten Sie lernen. neuen Kollegin aus der F.D.P.-Fraktion machen: Mir ist Wenn Frauen oder Männer sich entschieden haben, einfach unerklärlich, wie die Bekämpfung vonSchein- ihre Kinder allein zu erziehen, oder die Umstände es selbständigkeit und die Einbeziehung vongeringfügi- nicht anders ermöglichen, werden wir dazu beitragen, gen Beschäftigungsverhältnissen in die Sozialversiche- ihre Situation zu erleichtern. Dazu gehört nicht nur die rungspflicht die Existenzgründung von Frauen verhin- Erhöhung des Kindergeldes. dern oder erschweren sollten. Natürlich ist es uns ein Hierzu eine Bemerkung: Wir erhöhen dasKinder- Anliegen, Existenzgründungen zu fördern. Das ist ein geld deutlich, natürlich auch für Eltern mit mehr als wesentlicher Bestandteil unserer Politik zur Bekämp- zwei Kindern. Denn jede Familie, die mehr als zwei fung der Arbeitslosigkeit und unserer Politik der Frauen- Kinder hat, also drei oder vier oder fünf Kinder, hat na- förderung. türlich auch ein erstes und ein zweites Kind. Sonst geht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das rechnerisch nicht. So wird auch da die Erhöhung DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der bemerkbar werden. (B) PDS) (Beifall bei der SPD – Walter Hirche [F.D.P.]: (D) Es ist gut, daß die neue Regierung dies unmittelbar Zum erstenmal wird Adam Riese akzeptiert!) aufgreift und den Mißbrauch bei den geringfügigen Be- Es gehört aber nicht nur die Erhöhung des Kindergel- schäftigungen beseitigen will. Ich habe mit Genugtuung des dazu; Alleinerziehende brauchen endlich auch be- gehört, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regie-darfsdeckende Unterhaltssätze für ihre Kinder. rungserklärung auch den Abbau der Pauschalbesteue- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des rung bei geringfügiger Beschäftigung angekündigt hat. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eines muß klar sein: Die Neuregelung bei der geringfü- gigen Beschäftigung darf nicht nur dazu dienen, die So- Dabei ist die finanzielle Ausstattung nur ein Teil ei- zialkassen mit Beiträgen zu füllen. Sie muß auch denner erfolgreichen Kinder- und Jugendpolitik. Die Mini- vielen gering beschäftigten Frauen in Ost und Weststerin wird die Diskussion über den Zehnten Kinder- mehr soziale Gerechtigkeit und mehr soziale Sicherheit und Jugendbericht aufnehmen und Handlungsschritte bringen. aus den Empfehlungen der Sachverständigen ableiten. Das begrüßen wir sehr, weil sich die Auseinanderset- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zung über diesen Bericht bisher im Wegleugnen der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Armut erschöpft hat. Wir haben den Sozialabbau zu Lasten der Frauen immer wieder kritisiert. Auch die damit verbundenen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Hoffnungen müssen eingelöst werden. Zu einer Politik, Kollegin, kommen Sie allmählich zum Schluß, bitte. die auf Gleichheit und Partnerschaftlichkeit ausgerichtet ist, gehört eine Gestaltung der Arbeitswelt, die es Frauen und Männern erleichtert, Familie und Erwerbstätigkeit Hildegard Wester (SPD): Aufbruch in der Kinder- miteinander zu vereinbaren. Wir werden dazu mit fami- und Jugendpolitik bedeutet nicht nur, die Förderschwer- liengerechten flexiblen Arbeitszeiten für Frauen undpunkte des Kinder- und Jugendplanes zu überarbeiten. Männer Raum schaffen. Dies muß Gegenstand bei den Er bedeutet auch, Kinderrechte gesetzlich zu verankern Gesprächen des Bündnisses für Arbeit sein. Denn dort und die politische Teilhabe von Jugendlichen zu fördern sitzen die Hauptakteure zusammen. und ihnen mit dem Bündnis für Arbeit und Ausbildung Perspektiven am Arbeitsplatz zu eröffnen. Wir werden die dringend notwendige Runderneue- rung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs Es reicht eben nicht, weder in der Kinder- und Ju- durchsetzen, wie wir sie bereits mit unserem Konzeptgend- noch in der Seniorenpolitik, zu der ich jetzt aus 194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998

Hildegard Wester (A) Zeitgründen nicht mehr komme, hohle Worte und Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die (C) sprechungen bei Sonntagsreden zu besonderen Anlässen heutige Sitzung liegen keine weiteren Wortmeldungen von sich zu geben. Frau Nolte hat die Quittung dafür be- vor. kommen, daß sie sich mit symbolischer Politik begnügt hat. Nun ist es Zeit, Taten folgen zu lassen. Bevor ich die Sitzung schließe, teile ich mit, daß der heute morgen eingesetzte Ausschuß für Fremdenverkehr ( [CDU/CSU]:Den Taten und Tourismus auf Grund einer interfraktionellen Ver- Worte folgen zu lassen!) einbarung den Namen „Ausschuß für Tourismus“ tragen Es ist Zeit für eine Politik, die den gesellschaftlichensoll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich gehe davon Zusammenhalt stärkt, die Chancengleichheit herstelltaus. Dann ist das so beschlossen. und das partnerschaftliche Zusammenleben in ihren Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Mittelpunkt stellt. destages auf morgen, Donnerstag, den 12. November Ich bedanke mich. 1998, 9 Uhr ein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Sitzung ist geschlossen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS) (Schluß der Sitzung: 14.45 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 195

(A) (C) Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 11.11.98 Bulling-Schröter, Eva PDS 11.11.98 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 11.11.98 Hartnagel, Anke SPD 11.11.98 Homburger, Birgit F.D.P. 11.11.98 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 11.11.98 Kanther, Manfred CDU/CSU 11.11.98 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 11.11.98 Nolting, Günther Friedrich F.D.P. 11.11.98 Otto (Frankfurt), F.D.P. 11.11.98 Hans-Joachim Polenz, Ruprecht CDU/CSU 11.11.98 Reichard (Dresden), CDU/CSU 11.11.98 Christa Schütze (Berlin), CDU/CSU 11.11.98 Diethard W. Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 11.11.98 DIE GRÜNEN Vaatz, Arnold CDU/CSU 11.11.98 Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 11.11.98 DIE GRÜNEN Wieczorek-Zeul, SPD 11.11.98 (B) Heidemarie (D)