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Dr. Hermann Otto Solms FDP 4991D Norbert Gansel SPD 5053 a Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4998 B Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 5056 B Dr

Dr. Hermann Otto Solms FDP � 4991D Norbert Gansel SPD � 5053 a Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 4998 B Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA � 5056 B Dr

Plenarprotokoll 12/60

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

60. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 4973 A Namentliche Abstimmung 5035 D

5043 D Tagesordnungspunkt II: Ergebnis Fortsetzung der zweiten Beratung des Einzelplan 05 von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest- Geschäftsbereich des Auswärtigen Am- stellung des Bundeshaushaltsplans für tes (Drucksachen 12/1405, 12/1600) das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz Ernst Waltemathe SPD 5036 A 1992) (Drucksachen 12/1000, 12/1329) Dr. Klaus Rose CDU/CSU 5038 A

Einzelplan 04 Dr. Sigrid Hoth FDP 5039 D Geschäftsbereich des Bundeskanzlers Dr. PDS/Linke Liste . . . 5041D und des Bundeskanzleramtes (Drucksa- Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 5045 D chen 12/1404, 12/1600) Friedrich Vogel (Ennepetal) CDU/CSU . 5048 D Hans-Ulrich Klose SPD 4973 B Dr. SPD 5050 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . 4983 B Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 5051 D Dr. FDP 4991D Norbert Gansel SPD 5053 A () Bündnis 90/GRÜNE 4998 B Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 5056 B Dr. PDS/Linke Liste 5002 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 5007B Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers Dr. , Bundeskanzler 5007 C der Verteidigung (Drucksachen 12/1414, SPD 5017 C 12/1600) Dr. FDP 5021 A in Verbindung mit Ernst Waltemathe SPD 5021 B Einzelplan 35 CDU/CSU 5021 D Verteidigungslasten im Zusammenhang Gerlinde Hämmerle SPD 5026 B mit dem Aufenthalt ausländischer Streit- kräfte (Drucksachen 12/1428, 12/1600) CDU/CSU 5028 B Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 5059A, 5069 D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 5031A Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD . . . . 5061 C Ortwin Lowack fraktionslos . . . 5033D, 5034 B Hans-Gerd Strube CDU/CSU 5062 C FDP 5034 B Andrea Lederer PDS/Linke Liste 5064 C II Deutscher — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. , Mittwoch, den 27. November 1991

Carl-Ludwig Thiele FDP . . . . 5066B, 5072D Werner Zywietz FDP 5094 A Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 5066D, 5076D PDS/Linke Liste 5095 C Erwin Horn SPD 5067 B Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 5096 C SPD 5069 D Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 5097D Günther Friedrich Nolting FDP . . . 5070 C Dr. Ingomar Hauchler SPD 5098 C Dr. CDU/CSU 5071 D Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu Stefan Schwarz CDU/CSU 5072 A Drucksache 12/1647 5100A Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 5073A Dr. , Bundesminister Abstimmung über Einzelplan 23 5110B BMVg 5075 D Einzelplan 31 Carl-Ludwig Thiele FDP 5078 A Geschäftsbereich des Bundesministers Erwin Horn SPD 5080 A für Bildung und Wissenschaft (Drucksa- Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu chen 12/1425, 12/1600) 5104 B Drucksache 12/1649 5102A Einzelplan 30 Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu Geschäftsbereich des Bundesministers Drucksache 12/1650 5108A für Forschung und Technologie (Druck- sachen 12/1424, 12/1600) Abstimmung über Einzelplan 14 5108A Dr. Emil Schnell SPD 5104 B Tagesordnungspunkt IV: Dietrich Austermann CDU/CSU 5110 C Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelüber- Dr. PDS/Linke Liste . . 5113D sicht 15 zu Petitionen (Wehrforschung Werner Zywietz FDP 5115C — Jäger 90 —) (Drucksache 12/451) Dr. Emil Schnell SPD 5117C, 5121A Siegrun Klemmer SPD 5080 C Dr. , Bundesminister Walter Kolbow SPD 5082 C BMFT 5118A Georg Janovsky CDU/CSU 5083 B Josef Vosen SPD 5119B, C Günther Friedrich Nolting FDP 5084 A Katrin Fuchs (Verl) SPD 5084 B Nächste Sitzung 5122 D Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 5085 C Anlage 1 Zusatztagesordnungspunkt: Beratung der Beschlußempfehlung des Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 5123* A Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Anlage 2 Zweiten Gesetz zur Änderung des Fünf- ten Buches Sozialgesetzbuch (Drucksa- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten chen 12/1154, 12/1363, 12/1387, 12/1392, Frau Dr. , Gerhart Rudolf Baum, 12/1526, 12/1660) Dr. , Wolfgang Lüder (alle FDP) zur Abstimmung über den Änderungs- Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU . . . . 5086 B antrag der Fraktion der SPD zu Einzelplan 14 Dr. Peter Struck SPD 5087 A — Drucksache 12/1649 — 5123* C Dr. Bruno Menzel FDP 5087 D Dr. PDS/Linke Liste . . 5088 B Anlage 3

Einzelplan 23 Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel- plan 31 — Geschäftsbereich des Bundes- Geschäftsbereich des Bundesministers ministers für Bildung und Wissenschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 12/1421, 12/1600) Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . . 5123* D Helmut Esters SPD 5088 D Hinrich Kuessner SPD 5125* B Dr. Peter Struck SPD 5090 C Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink FDP . . 5127* C Dr. Christian Neuling CDU/CSU 5091 B Dr. , Bundesminister BMBW 5128* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4973

60. Sitzung

Bonn, den 27. November 1991

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, dern an meinen Vorgänger im Amt, an Hans-Jochen liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- Vogel, wende. net. Wir kennen ihn alle, wir von der sozialdemokrati- Ich komme gleich zur Verlesung der Mitteilung: schen Opposition natürlich noch ein bißchen besser Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta- als die Damen und Herren der Regierungsfraktionen. gesordnung um die Beratung der Beschlußempfeh- Sie haben ihn zumeist als Gegner erlebt, und das trägt lung des Vermittlungsausschusses zur Änderung des nicht unbedingt dazu bei, in den Kategorien von Sym- Fünften Buches Sozialgesetzbuch zu erweitern. Der pathie zu denken. Ein leichter, angenehmer Gegner Zusatzpunkt soll nach Tagesordnungspunkt IV aufge- ist er Ihnen nie gewesen. Aber trösten Sie sich: Auch rufen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich uns hat er bisweilen harsch auf den Weg politischer sehe keinen Widerspruch. Dann haben wir es so be- Tugend zurückgeführt. Manch einer hat unter der schlossen. Fuchtel seines unerbittlichen Wiedervorlagesystems Wir setzen die Haushaltsberatungen fort. gelitten. Ich rufe auf: Gleichwohl haben wir ihn nicht nur respektiert. Wir Zweite Beratung des von der Bundesregierung mögen ihn so, wie er ist. Wir wissen, was wir ihm zu eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über danken haben. die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für (Anhaltender Beifall bei der SPD) das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) Wir wissen es — und die Menschen auch, vor allem — Drucksachen 12/1000, 12/1329 — die in den östlichen Bundesländern. Er war ihr über- zeugter Anwalt und wird es bleiben. Beschlußempfehlung und Bericht des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuß) (Beifall bei der SPD) Einzelplan 04 Meine Damen und Herren, ich hoffe, das ganze Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Haus kann mir zustimmen, wenn ich sage: Der Parla- Bundeskanzleramtes mentarier Vogel war nicht nur ein Kärrner der Opposi- — Drucksachen 12/1404, 12/1600 — tion, sondern er war und ist auch ein Kärrner der par- Berichterstattung: lamentarischen Demokratie, die auszubauen und zu bewahren unsere gemeinsame Aufgabe ist. Abgeordnete Rudi Walther (Zierenberg) (Anhaltender Beifall im ganzen Hause) Dietrich Austermann Carl-Ludwig Thiele Erlauben Sie mir bitte, meine Damen und Herren, auch ein Wort an die Adresse des Kollegen Ich weise darauf hin, daß über diesen Einzelplan Dr. Dreg- ger. gegen 14.45 Uhr namentlich abgestimmt werden Auch er hat nach langjähriger Tätigkeit als Vor- soll. sitzender der größeren Regierungsfraktion sein Amt vor zwei Tagen in andere Hände übergeben. Daß dies Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für kein leichtes Amt ist, weiß ich, weil ich — auf viel die Aussprache fünf Stunden vorgesehen. — Auch kleinerer Ebene — im Hamburger Landesparlament dagegen sehe ich keinen Widerspruch. eine Zeitlang Vorsitzender der größeren Regierungs- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- fraktion war. Es ist nicht leicht, einer selbstbewußten ordnete Hans-Ulrich Klose. Fraktion gegenüber der eigenen Regierung genü- gend Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen und zu- Hans-Ulrich Klose (SPD) (von den Abgeordneten gleich, sogar in erster Linie, diese Regierung verteidi- der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine gen zu müssen. Daß uns, Herr Kollege Dregger, über sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, die Jahre in der Sache mehr getrennt als verbunden daß ich mich zunächst nicht an die Regierung, son- hat, liegt in der Natur der Sache. Es ändert nichts 4974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Ulrich Klose daran, daß wir Ihre parlamentarische Leistung re- das vielfach zu beobachtende Fehlverhalten der dor- spektieren. tigen Eliten, führt zu höchst bedenklichen Zerstörun- gen im weltweiten Ökosystem. Das Land wird durch (Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU/ das Ausbleiben von Landreformen, durch Monokultu- CSU, der FDP und dem Bündnis 90/ ren, durch die Zerstörung angepaßter Anbaumetho- GRÜNE) den, durch Industrialisierung und hohen Düngemit- Der Kollege Schäuble hat mir zur Wahl zum Frak- teleinsatz einseitig genutzt und schnell erschöpft. tionsvorsitzenden der SPD gratuliert. Er hat mir Erfolg Neue Landflächen werden durch Abholzung von gewünscht, damit ich noch möglichst lange die wich- Waldflächen erschlossen. Die großflächige Ausnut- tige Aufgabe des Oppositionsführers wahrnehmen zung der natürlichen Reichtümer in Regenwaldgebie- könne. ten und das Fehlen einer eigenen Energieversorgung (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU und in erschlossenen Landstrichen tun ein übriges. der FDP) Die Bundesregierung weiß das alles. Die Eliten in So ähnlich hätte ich es auch formuliert — das gehört den Ländern der Dritten Welt wissen es auch. Wir alle zum Spiel. Zum guten Stil gehört es, ihm meinerseits kennen die fatalen Folgen. Dennoch geschieht fast Glück zu wünschen — heute für das Amt des Vorsit- nichts, um diese Entwicklung aufzuhalten. Warum ist zenden der größeren Regierungsfraktion, morgen für das so? Weil die Regierungen des Nordens fast nichts das Amt des Oppositionsführers, tun, um den Ländern des Südens wirklich zu helfen. Im Gegenteil: Wir zwingen sie geradezu auf einen (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Entwicklungspfad, der unserem entspricht, wohl wis- ein Amt, Herr Kollege Schäuble, daß Sie, wie ich gut send, daß das weltweite Ökosystem zusammenbre- verstehe, nicht direkt anstreben. Das ist aber auch chen müßte, wenn die Länder des Südens unsere zivi- nicht nötig; die Rollen werden uns zugewiesen von lisatorischen Standards übernähmen, wenn sie so leb- der Wahlbevölkerung. ten und wirtschafteten wie wir. Ich wünsche mir, daß unsere Zusammenarbeit — in (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ welcher Rolle auch immer — geprägt wird durch den GRÜNE sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi wechselseitigen menschlichen Respekt und das Be- [PDS/Linke Liste]) wußtsein, daß wir alle gewählt worden sind, nicht um Meine Damen und Herren, mit guten Gesten ist es den Nutzen der eigenen Partei zu mehren, sondern ja nicht getan. Wir müßten helfen — weit über das den der Menschen. bisherige Maß hinaus — , und wir müßten endlich an- (Beifall im ganzen Hause) fangen, die Verhältnisse auch bei uns zu ändern, und zwar grundsätzlich. Ich denke, auf einer solchen Basis läßt sich dann auch mit Anstand streiten. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE) Genug der Vorreden. Es ist an der Zeit, daß ich mich dem Herrn Bundeskanzler zuwende. Denn es geht ja Denn wir, die Industrieländer, sind die Hauptverant- um seinen Haushalt. Sie haben, sehr geehrter Herr wortlichen der globalen Umweltzerstörung. Wir wirt- Bundeskanzler, vor wenigen Wochen zwei Länder schaften nicht nur auf Kosten der Natur, sondern auch Lateinamerikas besucht. In Chile haben Sie sich in auf Kosten der Dritten Welt. Die Industrieländer, die einen Streit um Menschenrechte eingelassen — das ein Viertel der Menschheit beherbergen, beanspru- finde ich gut. In Brasilien haben Sie die Problematik chen für sich 75 % der kommerziellen Energie. Sie der Zerstörung des Regenwaldes angesprochen — sind für rund 80 % der Kohlendioxidemissionen ver- auch das finde ich gut. antwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesrepublik Deutschland liegt bei der Ener- gienachfrage pro Kopf rund viermal über dem Welt- Die ganze Reise war in Ordnung in einer Zeit, da viele durchschnitt. Sie hält mit 5,5 % die vierte Stelle in der Menschen und Regierungen, vor allem im Westen und traurigen Rangfolge der größten Kohlendioxidemit- im Süden, über die zukünftige Rolle Deutschlands tenten. Allein in Nordrhein-Westfalen — so habe ich nachdenken. Werden sich die Deutschen für längere mir sagen lassen — gibt es genau so viele Autos wie Zeit auf sich selber zurückziehen, auf den notwendi- auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. gen Wiederaufbau im eigenen Land? Werden sie sich vorrangig um Osteuropa kümmern, weniger um die Wir wissen das alle. Und Sie, Herr Bundeskanzler, westlichen Partner? Kann man mit den Deutschen wissen es auch, und Ihr Umweltminister ebenso. Der auch künftig international rechnen? Angesichts sol- Reichtum der westlichen Industrienationen, so sagte cher Fragen war die Reise eine wichtige Geste. Sie er kürzlich, beruhe auf einer Wohlstandslüge. Die sind ja, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ein Freund Entwicklungsländer seien mit den ökologischen Ko- von Gesten. Manche glücken, manche nicht; diese ist sten für den wirtschaftlichen Wohlstand in den Indu- geglückt. strieländern belastet worden. Sehr gut und sehr rich- tig! Aber was tun Sie eigentlich, um endlich umzu- (Volker Rühe [CDU/CSU]: Richtig!) steuern? Doch was bleibt, abgesehen von der Geste? Neh- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad men Sie einmal das Stichwort Ökologie. Die zuneh- Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]) mende Verarmung der Menschen in den Ländern des Südens, verursacht durch die für sie nachteiligen Be- Der Landwirtschaftsminister hat kürzlich darauf dingungen der Weltwirtschaft, verursacht auch durch hingewiesen, daß sich der Zustand unserer Wälder in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4975

Hans-Ulrich Klose letzter Zeit durch Luftschadstoffe und anhaltende Der Wille zum Umsteuern fehlt. Es wird so getan, als Trockenheit wieder verschlechtert habe. Was, bitte, ob etwas getan werde. Mit dieser Als-ob-Politik rich- folgert er daraus? ten wir unseren Planeten zugrunde. Der Umweltminister erwartet von der Einführung (Beifall bei der SPD) weiterer schadstoffarmer Autos einen, wie es heißt, Noch eine Zusatzbemerkung, Herr Bundeskanzler, nennenswerten Rückgang der Schadstoffbelastung. in Ihre Richtung: Sie könnten in Brasilien mit größerer Es würden jedoch, so sagt er, zur Eindämmung des Glaubwürdigkeit für den Schutz der Regenwälder Schadstoffausstoßes noch strengere Grenzwerte er- eintreten, wenn Ihre Bilanz im eigenen Land besser forderlich. Ist Ihnen diese Erkenntnis erst jetzt gekom- wäre. men? (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Was bedeutet es, wenn er eine Verordnung ankün- GRÜNE) digt, die es Regionalbehörden erlaubt, gegebenenfalls Aber der Schutz der eigenen Wälder ist Ihnen nicht den Individualverkehr einschränken oder völlig un- einmal eine vernünftige Geschwindigkeitsbegren- tersagen zu können? Welches Verkehrskonzept ver- zung wert. Wir fordern sie seit langem, leider vergeb- birgt sich hinter dieser Ankündigung? Gibt es über- lich. haupt eines? (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Zurufe von der SPD: Nein!) GRÜNE sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]) Oder wird die Ankündigung von Maßnahmen hier wieder einmal zum Ersatz für konkretes Handeln? Nun zu einem zweiten Stichwort, anknüpfend an Ihre Reise, Herr Bundeskanzler. In der zunehmenden (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Verarmung in den Ländern des Südens, in der unglei- GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ chen Verteilung der Reichtümer dieser Erde sehen wir Linke Liste) zugleich eine Erklärung für ein weiteres Grundpro- blem: die Armutswanderung. Nach offizieller Stati- Was wirklich geschehen müßte, wissen Sie, Herr stik sind heute mehr als 15 Millionen Menschen auf Bundeskanzler, genau. Der entscheidende Hebel ist der Flucht vor Hunger, ausgelöst durch Katastrophen, die drastische Verringerung des Energieverbrauchs durch Gewalt und Unterdrückung. in den Industrieländern. Diese Menschen wenden ihre Blicke von Süden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nach Norden; sie drängen nach Europa. Aber auch des Bündnisses 90/GRÜNE) innerhalb Europas gibt es ein deutliches Gefälle. Viele Menschen in den vom Kommunismus verwüsteten Dazu muß — wie wir vorgeschlagen haben — die Ländern Ost- und Südosteuropas drängen nach We- Energie verteuert werden durch höhere Besteuerung sten, vor allem im die Bundesrepublik. des Energieverbrauchs bei gleichzeitiger steuerlicher Entlastung des Faktors Arbeit. Wir stehen zu diesem Hier liegt die wesentliche Ursache für das Asylpro- Vorschlag, auch wenn gegen ihn polemisiert wird. blem, zu dem dem Kollegen Schäuble bisher nur eines Denn Politik heute muß immer auch eine Politik für eingefallen ist: Der Art. 16 des Grundgesetzes müsse morgen, für zukünftige Generationen sein. geändert werden. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Na, (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ na!) GRÜNE) Ist das wirklich die Lösung? Nur wenn die Energie teurer wird, werden Verbrau- cher und Industrie sparen und Produkte fordern und (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ anbieten, deren Energieverbrauch signifikant unter GRÜNE) den heutigen Werten liegt. Erst die Verteuerung der Zugegeben, die Bundesrepublik Deutschland allein Energie macht umweltverträgliche Alternativen, z. B. kann die Flüchtlingsproblematik nicht lösen. die Solartechnik, wirtschaftlich attraktiv. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich, meine Damen und Herren, sehen auch — Wer hätte das je bestritten? wir, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht allein entscheidet, daß wir Teil der Europäischen Gemein- Zugegeben, das Asylrecht des Art. 16 wird miß- schaft sind, eng verflochten mit der Weltwirtschaft. braucht. Die Wettbewerbssituation der deutschen Wirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU) muß bedacht werden. Es geht aber nicht an, den Kli- Aber wenn ein Recht mißbraucht wird, heißt das nicht maschutz — frei nach Minister Möllemann — unter — jedenfalls nicht nach unserer Auffassung — , daß einen ökonomischen Vorbehalt zu stellen. Den könn- das Recht abgeschafft oder eingeschränkt werden ten wir, wenn überhaupt, nur akzeptieren, wenn wir muß. Dem Mißbrauch muß begegnet werden. gleichzeitig erkennen könnten, daß die Bundesregie- rung jede nur denkbare Anstrengung unternimmt, um (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ auf EG-Ebene in der Sache voranzukommen. Wir se- GRÜNE und der PDS/Linke Liste) hen keine solche Anstrengung, sondern Showbusi- Dazu, meine Damen und Herren, haben wir Vor- neß, ein Hinwursteln von Konferenz zu Konferenz. schläge gemacht, die die Regierung akzeptiert hat. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: So ist es!) 4976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Ulrich Klose Seither sind eineinhalb Monate nutzlos verstrichen. die weniger als 10 % der insgesamt bei uns lebenden Was hindert Sie eigentlich daran, Herr Bundeskanz- Ausländer ausmachen. ler, die damals verabredeten Maßnahmen schnell und wirkungsvoll in die Tat umzusetzen? (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Im übrigen wissen Sie, Herr Kollege Schäuble, so GRÜNE) gut wie ich, daß das weltweite Problem der Armuts- wanderung mit Gesetzen nicht zu lösen ist. Dazu be- — Nichts hindert Sie, aber Sie tun nichts und lassen es darf es der koordinierten konkreten Hilfe der reichen zu, daß einige Ihrer Parteifreunde weiter Öl ins Feuer Industrieländer für die weniger begünstigten Länder der Emotionen gießen. des Südens und des Ostens. Ich weiß, die Bundesre- (Widerspruch bei der CDU/CSU) publik Deutschland allein kann es nicht schaffen — das ist richtig — , aber sie kann sich zum Fürsprecher Was soll damit bewirkt werden, wem soll damit wirk- einer forcierten internationalen Entwicklungszusam- lich geholfen werden? — Nicht einmal sich selbst hel- menarbeit machen, und sie kann das ihr Mögliche tun, fen Sie; denn Wählerzustimmung werden Sie auf aber nicht einmal das tut diese Regierung. diese Weise nicht auf Ihre Mühlen lenken. Eher erhö- hen Sie die Zahl rechtsextremistischer Wähler. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd (Beifall bei der SPD) Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) Der Herr Bundespräsident hat doch völlig recht, wenn Was wirklich geschehen müßte, hat mein Fraktions- er die Parteien mahnt, sich in dieser Situation um die kollege Uwe Holtz wie folgt formuliert: Die Bundesre- wirklichen Probleme zu kümmern, statt sich gegensei- gierung müsse eine präventive Entwicklungspolitik tig in Stellung zu bringen, sich gegenseitig vorzufüh- mit dem Ziel betreiben, zumindest auf längere Sicht ren und auf diese Art und Weise Wahlkampfvorteile neue und größere Flüchtlingsströme verhindern zu anzustreben. helfen. Oberstes Ziel der Entwicklungspolitik müsse (Beifall bei der SPD) es sein, zu einer menschenwürdigen, wirtschaft lich produktiven, sozial gerechten, umweltverträglichen Ein Teil der offenkundigen Probleme, die ja nie- und auf Dauer tragfähigen Entwicklung in den Ent- mand bestreitet, ließe sich mit einer Verfahrensbe- wicklungsländern und — füge ich hinzu — in den Län- schleunigung ausräumen. Wir sollten es mindestens dern Osteuropas beizutragen. versuchen. Andere Probleme wie z. B. das Wohnungsproblem (Zustimmung bei der SPD) muß die Politik durch wirksame Wohnungsbaupro- Uwe Holtz hat recht, und Sie, Herr Kollege Schäuble, gramme lösen. haben unrecht, wenn Sie den Menschen weiszuma- (Beifall bei der SPD) chen versuchen, mit einer Änderung des Art. 16 des Im übrigen gebietet es die Redlichkeit, darauf hinzu- Grundgesetzes sei das Asylproblem zu lösen. weisen, daß die Wohnungsnot in Deutschland nicht durch Asylbewerber verursacht worden ist, sondern (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd durch das Nichtstun der Bundesregierung Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) (Beifall bei der SPD) Sie lösen es damit nicht, jedenfalls dann nicht, wenn Sie das Asylrecht als Individualrecht erhalten wollen. und — so füge ich hinzu — auch durch die Tatsache, Das wissen Sie auch, wie Sie anderswo — z. B. in Hes- daß durch Zuwanderung von Aussiedlern täglich sen bei einer CDU-Veranstaltung — zugegeben ha- neue Wohnungsnotfälle entstehen. ben; in den Zeitungen stand es zu lesen. Wenn Sie es (Zurufe von der CDU/CSU: Aha! Jetzt wissen aber wissen und dennoch so tun, als ob, dann erweist wir es!) sich das ständige Reden über den Art. 16 des Grund- gesetzes als Kunstgriff, um von den eigentlichen Pro- Sozialdemokraten haben frühzeitig auf die entste- blemen abzulenken. hende Wohnungsnot hingewiesen. Sie aber haben das Problem verharmlost und den sozialen Wohnungsbau (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ praktisch auslaufen lassen. GRÜNE) (Beifall bei der SPD) Wir handeln nicht mit Kunstgriffen, Herr Kollege Jetzt stehen die Menschen bei den Wohnungsämtern Schäuble, sondern wir sind hier, um problemlösende Schlange. Ihr Zorn richtet sich zu Unrecht auf kommu- Politik zu machen. Das kann ich in dieser Frage bei nale Behörden. Dabei liegt die Schuld ganz eindeutig Ihnen nicht erkennen, denn auch der Hinweis auf bei dieser Regierung, die tatenlos zusieht, wie immer Europa ist, wie sich gezeigt hat, nur ein Ablenkungs- mehr Menschen in die Obdachlosigkeit abgleiten. manöver: Zehn von zwölf Regierungen waren gegen Ihre Vorschläge. Was also hilft Ihnen derzeit der Hin- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gre- weis auf Europa? gor Gysi [PDS/Linke Liste]) Warum kümmern Sie sich nicht endlich um die wirk- (Beifall bei der SPD) lichen Skandale? In diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zu Statt dessen lenken Sie den in der Bevölkerung ver- Ihnen, Herr Bundeskanzler. Es ist gut, wenn Sie in breiteten Unmut auf eine Gruppe von Zuwanderern, Chile über Menschenrechtsfragen diskutieren. Ge- die Asylanten zu nennen wir uns angewöhnt haben, nauso wichtig wäre es, den Regierenden in der Türkei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4977

Hans-Ulrich Klose klarzumachen, daß wir von ihnen die Respektierung eben auch Signale der Not, der Angst und der Sinner- der Menschenrechte erwarten. schöpfung. (Beifall bei der SPD, der FDP, dem Bünd- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nis 90/GRÜNE sowie des Abg. Dr. Dietmar GRÜNE) Keller [PDS/Linke Liste]) Dies, meine Damen und Herren, kann die Polizei Es kann nicht hingenommen werden, daß der NATO- nicht beheben. Da ist die Politik gefordert. Sie, Herr Partner Türkei die eigene Bevölkerung unterdrückt Bundeskanzler, sind gefordert, denn Sie regieren. Sie und in die Bundesrepublik treibt. Die Kurden verdie- werden an dem Urteil von Hannah Arendt gemes- nen Schutz, und zwar auch dann, wenn sie nicht von sen: Irakern, sondern von Türken verfolgt werden. Wo die Reform nicht gelingt, wird das Ergebnis schließlich sein, daß gewalttätiger ge- (Beifall im ganzen Hause) worden ist, als sie es vorher war. Ich kann nur hoffen, daß sich die Verhältnisse in der (Beifall bei der SPD) Türkei unter der neuen Regierung zum Besseren ver- ändern. Wir werden sehen. Hier liegt Ihr Problem, Herr Bundeskanzler, das Sie übrigens subjektiv mit der Bemerkung, keinem werde Meine Damen und Herren, einig waren wir uns in es nach der Einheit schlechtergehen, größer gemacht diesem Hause bei der Verurteilung von Gewaltaktio- haben, als es tatsächlich ist. Die Enttäuschung ist ent- nen gegen Asylbewerber. Für uns alle gilt, denke ich, sprechend größer. der Satz von Karl Jaspers: „Demokratie ist tolerant gegen alle Möglichkeiten, muß aber gegen Intoleranz (Beifall bei der SPD) selbst intolerant werden können." — Deshalb: Ge- Herr Bundeskanzler, ich habe, wie Sie wissen, Ihre waltaktionen, deren Ziel es ist, Städte asylantenfrei zu Deutschlandpolitik unterstützt, soweit es um das Ziel machen, müssen verurteilt, bekämpft, verhindert wer- der deutschen Einheit und den Zeitablauf ging. Ich den. war wie Sie für ein zügiges Vorgehen, nicht aus natio- (Beifall im ganzen Hause) nalen Gründen, sondern weil ich wußte, daß die Ein- heit kommen mußte, sobald die Menschen in Ost- Die Polizei, der diese Aufgabe obliegt, bedarf dazu deutschland anfingen, den Traum vom besseren Le- mehr als nur moralischer Unterstützung. Sie muß tat- ben konkret zu träumen. Ich war zudem wie Sie der sächlich in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe Meinung, daß man die Zustimmung der Sowjetunion zu meistern. gewinnen müßte, solange dieses zerfallende Impe- (Zustimmung bei der SPD) rium noch verläßlich agieren konnte. Aus diesen Gründen hatten Sie nach meiner Auffassung bei der Das ist vor allem in den östlichen Ländern der Bun- Frage des Tempos recht. Sie hatten aber unrecht bei desrepublik nicht von heute auf morgen zu schaf- der allzu rosigen Beschreibung der Einheitsfolgen, bei fen. der Einschätzung der Schwierigkeiten, die sich nach der Einheit für die Menschen vor allem im Osten erge- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Und in ben würden. Da hatte recht. Und Nordrhein-Westfalen!) wie recht er hatte! Es muß aber mit Hilfe der westlichen Bundesländer (Beifall bei der SPD) und des Bundes alles getan werden, um die Polizei durch Ausbildung und Ausstattung zu einer verläßli- Niemand kann es dieser Bundesregierung übelneh- chen und handlungsfähigen, demokratisch motivier- men, daß sie bei der Einheit Deutschlands in den Kate- ten Einheit zu machen, gorien der staatlichen Einheit gedacht hat, denn auch diese Arbeit mußte getan werden. Aber eine gute (Zustimmung bei der SPD) Regierung hätte das als notwendiges Pflichtpro- gramm erledigt und sich vorrangig um die Menschen, besonders in den östlichen Ländern, denn dort ist nach ihre soziale Situation, ihre Arbeitsmöglichkeiten, ihr den Jahren der erzwungenen Ruhe die Verunsiche- Fremdsein in der neuen Ordnung gekümmert und rung und dementsprechend das Sicherheitsbedürfnis hätte ihre teils großen, teils ängstlichen Hoffnungen besonders groß. und Wünsche in den Mittelpunkt gestellt. (Zuruf von der CDU/CSU: Hafenstraße!) Statt aber zu fragen und sich raten zu lassen, wie sich die Menschen im Osten selbstbewußt selber hel- Meine Damen und Herren, es gibt kein monokausa- fen könnten, statt zu fragen, was denn geschehen les Erklärungsmuster, aber die allgemeine Erfahrung müßte, damit den Menschen in den neuen Ländern rieden in einer Gesell- sagt uns, daß Frieden und Unf nach der Freiheit auch politische Teilnahme, Demo- schaft etwas mit der materiellen Lebenswirklichkeit kratie, sozialstaatliche Gemeinschaft wichtig und at- zu tun haben. Verarmungsprozesse ausgegrenzter traktiv erscheinen, hat diese Bundesregierung offen- Gruppen, das Gefühl, zu kurz zu kommen, nicht die bar nur eines im Sinn gehabt: Wie kann es gelingen, gleichen Lebenschancen zu haben, die andere mit daß sich 17 Millionen Rädchen möglichst schnell im Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch nehmen, System drehen? Der Markt wird es schon richten, lau- das alles fördert die Bereitschaft zum Konflikt und die tete der Rat Ihrer wirtschaftswissenschaftlichen durch nichts anderes als die eigene Benachteiligung Freunde, begründete Überheblichkeit gegenüber anderen, ge- genüber Ausländern. Rassismus und Gewalt sind (Widerspruch bei der CDU/CSU) 4978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Ulrich Klose und bei einigen von ihnen konnte man, wenn man und der geschaffene Sozialstaat immer in der Gefahr genau zuhörte, sogar vernehmen, die unbeschreibli- standen, von der Logik und der Dynamik des wirt- che Wucht der Marktgesetze habe auch den Vorteil, schaftlichen Prozesses unterspült oder zerrieben zu daß sie die konkurrenzunfähige Spreu vom leistungs- werden. Soziale Wohlfahrt bedarf des Marktes und starken Weizen trenne. der Leistung. Aber sie ist kein Produkt des Wirt- Die Bundesregierung ist so auf dem besten Weg, mit schaftsprozesses. ihrer Politik Ressourcen zu verbrauchen, die wir für (Beifall bei der SPD) unser Gemeinwesen genauso nötig haben wie mate- rielle und natürliche Ressourcen, die immateriellen, Sie muß z. B. von Gewerkschaften erkämpft, von der wohlfahrtsstaatlichen und demokratischen Werte und Politik gestaltet, gefördert und entwickelt werden. Institutionen der Allgemeinheit. Unser System läßt dies nicht nur zu, sondern setzt geradezu voraus, daß dies geschieht. (Beifall bei der SPD) Die Bundesregierung sieht das offenbar anders. Je- Meine Damen und Herren, die Mütter und Väter denfalls sind die Resultate ihrer Politik eher bedrük- des Grundgesetzes haben aus geschichtlicher Erfah- kend. rung diese Gefahr gesehen, als sie die Sozialpflichtig- (Beifall bei der SPD) keit des Eigentums im Grundgesetz festlegten: Von den 100 % Sozialhilfeempfängern in den östli- Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zu- chen Bundesländern sind ca. 50 % unter 25 Jahre; gleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. eine wirklich erschreckende Zahl. Sie erscheint mir Nach allem, was wir heute über die Bedingungen des indessen plausibel, denn wir wissen doch, daß auch in Wohls der Allgemeinheit wissen, bedeutet dies, daß der alten Bundesrepublik ein überproportional hoher unsere Verfassung nicht nur die Sozial-, sondern auch Anteil von Kindern und Jugendlichen in Haushalten die Umweltverpflichtung des Eigentumsgebrauchs lebt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. festgelegt hat. Ich wüßte nicht, wann diese Regierung Überhaupt hat die Zahl der Sozialhilfeempfänger und die sie tragenden Parteien bei ihrer Förderung von 1980 bis 1989, also im wesentlichen in Ihrer Regie- privaten Eigentums und individueller Leistung jemals rungszeit, Herr Bundeskanzler, erschreckend zuge- Rechenschaft abgelegt hätten, ob und inwiefern dies nommen. Sie hat sich fast verdoppelt, bei der Alters- dem Wohle der Allgemeinheit dient. gruppe der 18- bis 25jährigen sogar mehr als verdop- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Diet- pelt. Der von geprägte Begriff der Zwei- mar Keller [PDS/Linke Liste]) drittelgesellschaft erweist sich zunehmend mehr als zutreffende Beschreibung unserer Realität. Hätten wir oder, genauer, hätten Sie denn die So- ziale Marktwirtschaft als politisch, rechtlich und insti- Zur Situation der Jugendlichen im Osten noch eine tutionell gesichertes System von markt- und gesell- kleine Randnotiz. Daß man diesen Jugendlichen, de- schaftlichen Rahmenbedingungen überhaupt erfin- ren Identitätsprobleme ich mir vorzustellen versuche, den müssen, wenn die bloße Verfolgung des p rivaten jenen kleinen, aber vielleicht doch nicht ganz so be- Eigennutzes schon aus sich heraus gesellschaftliche deutungslosen Punkt der Identifizierung, das Pro- Wohlfahrt und friedliebende Zivilisation schaffen gramm des Jugendsenders DT 64, ohne Not weg- würde? nimmt, ist nur ein Beispiel für die Art und Weise, wie In grauer Vorzeit hat die FDP einmal um diesen man die Einheit nicht gestalten sollte. Zusammenhang gewußt, als sie in ihren Freiburger (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, Thesen 1972 schrieb — ich zitiere — : dem Bündnis 90/GRÜNE sowie des Abg. Zwar mag das individuelle Streben nach Meh- Uwe Lühr [FDP]) rung des persönlichen Vorteils in seiner überindi- Ich verweise auf die Situation der Frauen, die von viduellen Auswirkung zur Steigerung des allge- Arbeitslosigkeit überproportional betroffen sind. Ih- meinen Wohls beitragen. Doch von bestimmten nen sind die Rahmenbedingungen für die eigene Be- Grenzen an bewirken alle diese so förderlichen rufstätigkeit, nämlich die garantierte Möglichkeit der menschlichen Antriebe, wo sie zur Übervortei- Kinderbetreuung, weitgehend genommen worden. lung des einen durch den anderen führen kön- Hätten wir nicht in diesem Punkt etwas von der Le- nen, die Zerstörung auch des allgemeinen benswirklichkeit der alten DDR übernehmen können? Wohls. Das war immerhin eine Errungenschaft, eine der ganz (Beifall bei der SPD und der FDP) wenigen. Über die Vorzüge der Marktwirtschaft brauchen wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht mehr zu streiten. Sie sind offensichtlich. der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/ GRÜNE) (Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP) Eine andere: das Selbstbestimmungsrecht der Frauen bei einem Schwangerschaftsabbruch. Meine Es wäre aber falsch, die Marktwirtschaft als politi- Damen und Herren von der CDU/CSU, was veranlaßt sches Gestaltungsinstrument zu ideologisieren. Denn Sie eigentlich dazu, jetzt Regelungen durchzudrük- wir wissen heute auch, daß von Beginn des modernen ken, die von den Frauen dort wie hier als diskriminie- Industriesystems an die sozialen Institutionen, wie Fa- rend und lebensfremd angesehen werden? milie, Schule, Kirche, die bindenden Werte und Ver- haltensmuster, wie Toleranz, Solidarität und soziale (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Disziplin, aber auch die sozialen Sicherungssysteme dem Bündnis 90/GRÜNE) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4979

Hans-Ulrich Klose Sie wissen doch: Werdendes Leben ist durch Strafan- Was tut der Bundesarbeitsminister für die Arbeits- drohung nicht zu schützen. Ist Ihr Mißtrauen gegen- losen im Westen und im Osten? Im Westen hat sich die über der Verantwortungsbereitschaft der Frauen so Situation in den letzten Jahren leicht gebessert — groß? Unser Vorschlag einer Fristenregelung unter- stellt diese Verantwortungsbereitschaft. Er will hel- (Widerspruch bei der CDU/CSU — Ing rid fen, nicht strafen. Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: 3 Millio nen neue Arbeitsplätze!) Wir dürfen es nicht zulassen, daß die Bundesregie- rung die Frauen in den neuen Bundesländern zu den Gott sei Dank, aber doch kein Wunder nach acht Jah- Verliererinnen der deutschen Einheit macht. ren guter Konjunktur. Für das kommende Jahr wird wiederum ein Anstieg der Arbeitslosenzahl erwartet. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Wie aber ist die Situation in den östlichen Ländern? Dort steigt die Zahl der Arbeitslosen ständig an, nicht, Unsere Aufgabe, die rechtliche und soziale Gleichbe- weil die Treuhand die falsche Politik betreibt; das tut rechtigung von Frau und Mann in Gesamtdeutschland sie zwar, aber es ist Ihre Politik, meine Damen und durchzusetzen, wird damit zu einer neuen, großen Herren von der Regierung. Denn die Treuhand arbei- Herausforderung. tet nach Gesetzen, die die Mehrheit dieses Hauses (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beschlossen hat, und nach Weisung des Bundesfi- dem Bündnis 90/GRÜNE) nanzministers. Bedenken Sie die Situation der Älteren in unserer (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li Gesellschaft. Das ist keine Randgruppe, sondern wird ste) zunehmend mehr die Mehrheitsaltersgruppe. Unsere Es ist Ihre falsche Politik, die es zuläßt, daß die Ent- Gesellschaft wird laufend älter; das wissen wir. Ich industrialisierung in den östlichen Ländern voran- habe aber Zweifel, ob uns schon völlig klar ist, was das schreitet. Sie können zur Entschuldigung auch nicht bedeutet, z. B. für die angesprochene Frage der Zu- auf die westdeutschen Unternehmen verweisen, von wanderung. denen es heißt, sie täten zuwenig. Das stimmt auch. Klar ist jedenfalls, daß wir auch die sozialen Pro- Denn so ist es eben: Unternehmen investieren nicht, bleme dieser Altersgruppe keineswegs gelöst haben. weil der Herr Bundeskanzler oder der Wirtschaftsmi- Es gibt, wie der Bundesarbeits- und Sozialminister nister darum bitten. Sie investieren, wenn sie glauben, sehr wohl weiß, das Problem der Altersarmut: Es ist daß es sich um ein lohnendes Investment handelt. Es weiblich. Wo bleibt das Konzept zur Verbesserung der gibt eben bei manch einem Unternehmer Zweifel, ob rentenrechtlichen Stellung der Frau? Und vor allem: ein zusätzlicher Markt von knapp 17 Millionen und Wann endlich bringen Sie die Pflegeversicherung auf eher vage Hoffnungen auf künftige Ostgeschäfte eine den Weg? Unser Gesetzentwurf liegt doch auf dem Investition lohnen. Tisch. Weil das so ist, kann die Bundesregierung den Pro- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ zeß des ökonomischen Wiederaufbaus in den östli- GRÜNE) chen Ländern nicht einfach dem Markt überlassen. Hier muß die öffentliche Hand eingreifen, nicht nur Die große Mehrheit dieses Hauses will die Pflege- um die Infrastruktur aufzubauen oder zu erneuern, versicherung als Pflichtversicherung. Der zuständige sondern auch um den Unternehmen dort, die jetzt in Minister und die CDU haben sich — was ich be- Schwierigkeiten sind, die aber künftig durchaus grüße — unsere Vorstellungen zu eigen gemacht. Chancen am Markt haben könnten, über die Hürden (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ zu helfen, und sei es, um Zeit zu gewinnen, bis der CSU) Marktaufbau von unten sich voll auszuwirken be- ginnt. Soll dieses wichtige sozialpolitische Vorhaben wirk- (Beifall bei der SPD) lich am Veto einer Minderheit scheitern? Womit ich der FDP nicht zu nahe treten möchte. Sie ist, wie wir Ich zitiere in diesem Zusammenhang den McKin- alle wissen, eine wichtige Minderheit: immer bei der sey-Report: Mehrheit. Eine realistische Industriepolitik muß Platz grei- (Beifall bei der SPD) fen. Berührungsängste vor dem Terminus „Indu- Aber ich finde doch, daß sie an diesem Punkt ihre striepolitik" sollten nicht den Blick dafür verstel- Position überprüfen sollte. Es ist bitter, meine Damen len, was leistungsfähige westliche Volkswirt- und Herren, daß die Mehrzahl der alten Menschen, schaften erreichen müssen: eine Abstimmung die im Alter der Pflege bedürfen, zu Sozialhilfeemp- von Infrastrukturentwicklung, Bildungspolitik, fängern werden, die wie Kinder Taschengeld erhal- Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Regionalpoli- ten. tik, Umweltpolitik, die den vorhandenen, histo- - risch gewachsenen Bestand an Human- und (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li- Sachkapital sinnvoll verändert und weiterent- ste) wickelt. Soll es wirklich so sein, daß dieses System bei uns Hier wäre die Bundesregierung gefordert. Dabei geht unverändert bleibt und in die östlichen Bundesländer es um Wirtschaftspolitik, nicht um Finanzpolitik. Des- exportiert wird? Das ist gewiß nicht der Fortschritt, halb wäre es unter Sachgesichtspunkten natürlich von dem die Menschen dort träumen. besser, die Weisungskompetenz gegenüber der Treu- 4980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Ulrich Klose hand läge beim Wirtschaftsminister und nicht beim den würde, wenn zugleich auch der Staat seine Schul- Finanzminister, aufgaben erledigt! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der FDP) Selbst die sogenannten Fünf Weisen merken in ih- womit ich im übrigen zur Frage der fachlichen Kom- rem jüngsten Jahresgutachten an, daß „der Staat petenz der beiden Herren nichts gesagt haben will. beim Neuaufbau der Wirtschaft in den neuen Bundes- ländern in der Pflicht ist" und sich nicht auf die Zu- (Beifall bei der SPD) schauerrolle beschränken dürfe. An anderer Stelle heißt es übrigens in diesem Jahresgutachten — ich An die Adresse des Bundesfinanzministers wende zitiere — : ich mich in diesem Zusammenhang mit folgender Be- merkung: Herr Minister, wir kritisieren nicht die Höhe Die Erwartung derer, die geglaubt hatten, mit der der jährlichen Transferleistungen von West- nach Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und ei- Ostdeutschland. Wären die Mittel, die für die Einheit ner gehörigen Anschubfinanzierung sei die so- aufzuwenden sind, noch höher, wir hätten nicht nein, zialistische Wirtschaft der ehemaligen DDR bin- sondern aus Überzeugung immer ja gesagt. nen kurzem in eine blühende Marktwirtschaft zu verwandeln, hat, wie vorauszusehen, gründlich (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ getrogen. CSU und der FDP) Wen könnten die Fünf Weisen bei dieser kritischen Das gilt, wie ich überzeugt bin, für die ganz große Anmerkung im Visier gehabt haben? Mehrheit der Menschen im Westen, wenn man ihnen rechtzeitig gesagt hätte, daß diese Kosten entstehen (Beifall bei der SPD) und daß Teilung überwinden teilen heißt. Das, meine Damen und Herren, frage ich mich, wie ich mich auch frage, wie sich der Herr Bundesfinanz- (Beifall bei der SPD) minister ernsthaft durch das Jahresgutachten bestä- Daß man es ihnen nicht rechtzeitig gesagt hat und daß tigt sehen kann. Zugegeben, die Fünf Weisen haben sie sich ungerecht behandelt fühlen, das hat Unwillen der Welt auch nicht immer der Weisheit letzten Schluß und bisweilen auch Häme produziert. — Aber das nur beschert. Den Hinweis aber, daß eine Preissteige- nebenbei. rungsrate von 4 To plus bevorstehender Steuererhö- hung die Bundesbank beunruhigen und den Tarif- Nicht also die Höhe der notwendigen Zahlungen partnern das Leben schwermachen, was wiederum kritisieren wir, fast hätte ich gesagt: nicht einmal in Auswirkungen auf das Investitionsverhalten der Un- erster Linie die Art und Weise, wie diese Mittel auf- ternehmen haben könnte, sollten Sie ernster nehmen, gebracht werden. Da verfolgen wir eher amüsiert, bis- als Sie es offenbar tun. weilen verärgert, den Als-ob-Kampf des Bundeswirt- schaftsministers gegen Subventionen. Daß der Bun- Oder wollen Sie beim Gebrauch von Regierungs- desfinanzminister bei notwendigen Steuererhöhun- gutachten immer nach der Devise von Jonathan Swift gen den Gesichtspunkten des Umweltschutzes und verfahren: Elefanten werden immer kleiner, Flöhe im- der sozialen Gerechtigkeit absoluten Vorrang einräu- mer größer gezeichnet, als sie in Wirklichkeit sind? men würde, wer hätte das erwartet? Diese Devise mag Sie kurzfristig trösten, sie schafft Ihnen aber nicht das Problem vom Hals. Wir kritisieren die enorme, in ihrer wahren Dimen- sion versteckte Verschuldung, und wir kritisieren die (Beifall bei der SPD) völlig planlose Art und Weise, wie Sie das Geld aus- Denn, Herr Bundesfinanzminister, auch internatio- geben. Es hätte mit dem Geld mehr erreicht werden nal kommen erhebliche Belastungen auf uns zu, nicht können, wenn sich Bund und Länder zum Beispiel in zuletzt aus dem östlichen Europa. Was dort geschieht stärkerem Maße um den Aufbau der kommunalen oder nicht geschieht, berührt unsere Lebenswirklich- Verwaltungsebene bemüht hätten, keit unmittelbar und nachhaltig. Wir haben deshalb ein hohes Interesse daran, beim Wiederaufbau der (Beifall bei der SPD) durch den Kommunismus verwüsteten Länder Osteu- wenn die Regierung sich intensiver nicht nur um die ropas zu helfen. sächliche Infrastruktur, sondern in gleicher Weise um (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Dann die Menschen, das sogenannte Humankapital ge- tun Sie es doch!) kümmert hätte, Ich füge hinzu — ich denke, da sind wir uns (Beifall bei der SPD) einig — : Wir Deutschen sollten uns aber nicht überhe- wenn sie bei der Entschuldung der Unternehmen im ben. Wir haben unseren Teil beizutragen, tun das Osten mutiger gewesen wäre, wenn sie die Eigen- auch. Das geht aber nur, wenn sich Westeuropa ins- tumsfrage präzise entschieden hätte gesamt engagiert, und zwar viel stärker als bisher, - wenn sich die G-7-Länder engagieren; Japan will ich (Beifall bei der SPD) in diesem Zusammenhang ausdrücklich nennen. und wenn sie rechtzeitig regionale Entwicklungskon- Auch verbal, meine Damen und Herren, in der Ge- zepte erarbeitet oder bei der Erarbeitung geholfen stik sollten wir uns eher zurücknehmen; denn einer- hätte. Hier hätte vernünftige Politik ansetzen müssen. seits sind die Hoffnungen, die sich auf uns richten, Statt dessen ideologische Verklemmung! Als ob es schon heute überzogen; die Enttäuschungen sind vor- den konsequent marktwirtschaftlichen Kurs gefähr programmiert. Zum anderen könnten unsere Partner Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4981

Hans-Ulrich Klose im Westen auf den wenig hilfreichen Gedanken kom- Wie soll denn auch ein Mitglied dieses Hauses zustim- men, es ginge den Deutschen bei alledem doch um men, daß immer mehr Kompetenzen auf die EG über- mehr als die vielzitierte besondere Verantwortung; tragen werden, wenn von parlamentarischer Mitwir- das wäre kontraproduktiv. kung auch in Zukunft keine Rede sein kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, diese Haushaltsdebatte Herr Bundeskanzler, Sie sollten diesen Hinweis des Deutschen Bundestages findet wenige Tage vor ernst nehmen. Denn das Ergebnis von Maast richt be- der Sitzung des Europäischen Rats in Maastricht statt. darf der Ratifizierung durch den Deutschen Bundes- Die EG-Staats- und Regierungschefs haben mehrfach tag, in einigen Punkten sicher mit verfassungsändern- bekundet, daß sie in Maastricht ihre Unterschrift unter der Mehrheit. Ein Selbstlauf wird das, wenn sich einen neuen Vertrag zur Europäischen Wirtschafts- nichts ändert, weder im Deutschen Bundestag noch, und Währungsunion und zur Politischen Union setzen wie ich vermute, in anderen europäischen Parlamen- wollen. ten. Dagegen ist gar nichts einzuwenden. Im Gegenteil, Herr Bundeskanzler, Sie verstehen mich hoffentlich wir wollen, daß die EG, der organisatorische Kern recht: Die Opposition will Ihnen in dieser Frage um Europas, zur Politischen Union fortentwickelt wird. Gottes willen nicht drohen; sie will helfen. Denn ge- Wir sind überzeugt, daß der Zeitpunkt gekommen ist, rade heute müßten die Regierungen die Europäische die notwendigen und möglichen Schritte zu gehen. Gemeinschaft handlungsfähig und aufnahmebereit machen, aufnahmebereit auch für die Länder Osteu- Verbal sind wir uns auch in diesem Punkt einig, ropas, die der Gemeinschaft, wenn schon nicht mor- Herr Bundeskanzler; denn ich erinnere mich gut an gen, so doch übermorgen beitreten wollen. Es wird Ihre Regierungserklärung vom 30. Januar 1991. Da- sicher noch einige Zeit vergehen; aber der Zeitpunkt mals sagten Sie: kommt, und die EG muß sich darauf vorbereiten. Sie So wichtig die Verwirklichung der Wirtschafts- würde aber an den Problemen, die mit jeder EG- und Währungsunion ist, sie bliebe nur Stück- Erweiterung verbunden sind, scheitern, wenn uns werk, wenn wir nicht gleichzeitig die Politische nicht heute die Vertiefung der Europäischen Gemein- Union verwirklichten. Um es klar und einfach zu schaft gelingt. Wer es mit der Gemeinschaft gut meint, formulieren: Aus meiner Sicht ist für die Bundes- der nutzt die Chancen, handelt jetzt und verschiebt es republik nur die Zustimmung zu beiden gleich- nicht auf spätere Zeiten, wenn die gewachsene Zahl zeitig möglich. Beide Vorhaben sind unauflöslich der Mitglieder die Sache womöglich noch schwieri- miteinander verbunden. ger, vielleicht sogar unmöglich macht. Sehr richtig, Herr Bundeskanzler. Um es aber ebenso (Beifall bei der SPD) klar und einfach zu formulieren: Aus unserer Sicht hat Unwohl, Herr Bundeskanzler, ist uns nicht beim Ob, die Bundesregierung ihre europäischen Hausaufga- sondern beim Wie bei der deutsch - französischen Ver- ben nicht bewältigt. Denn aus heutiger Sicht, vom uns teidigungsinitiative. Wir stimmen ihr zu in dem Be- bekannten heutigen Stand der Dinge ausgehend, mühen, die WEU schrittweise an die politische Union würde mit dem Gipfel in Maastricht weder ein großer heranzuführen. Unklar bleibt aber aus unserer Sicht noch ein guter, sondern ein bedrückend kleiner das Verhältnis zur Allianz, zur NATO. Diese Frage Schritt nach vorn gemacht. beschäftigt uns sehr. Denn Bestandteil der Initiative Unzufrieden sind wir vor allem, daß bis jetzt eine ist auch die angekündigte Bildung eines deutsch- grundlegende Verbesserung der Rechte des Europäi- französischen Corps. Wenn aber die voll in die NATO schen Parlaments nicht erreicht worden ist. integrierte Bundeswehr und die nicht in die NATO- Struktur integrierten französischen Streitkräfte ein (Beifall bei der SPD — Zustimmung des Abg. gemeinsames Corps bilden, dann wüßten wir doch Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]) gerne, ob dieses Corps außerhalb der NATO-Struktur Wollen wir denn einen bürokratischen Zentralstaat stehen soll, und wenn ja, welche Aufgaben es über- Europa schaffen, in dem das gewählte Europäische nehmen soll. Parlament nichts zu sagen hat? (Beifall bei Abgeordneten der SPD — (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wer will Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Frie das denn?) den sichern!) Wie wird die Bevölkerung darauf reagieren? Schon in Wir verstehen ja die Geste — schon wieder eine der Vergangenheit war die Wahlbeteiligung bei - Geste — und sind auch nicht gegen integrierte militä- päischen Wahlen gering. Wie wird es bei der nächsten rische Verbände. Warum sollten wir? Aber ein biß- Wahl sein? Schon bisher ist den Menschen, jedenfalls chen mehr Klarheit über Organisation und Aufgaben den meisten, Brüssel eher fremd, bisweilen unheim- dieses Corps wären doch hilfreich, nicht zuletzt aus lich. Soll das so bleiben? amerikanischer und britischer Sicht, - Nein, Herr Bundeskanzler, das kann so nicht blei- (Beifall bei der SPD) ben. Es müssen Fortschritte bei der Dremokratisie- von der eigenen Bundeswehr ganz abgesehen. Diese rung der EG erreicht werden. Wenn das nicht gelingt, hat derzeit ohnehin genügend Probleme, die sie abar- wird es jedenfalls für Sozialdemokraten sehr schwer, beiten muß. Vielleicht besteht das größere Problem den Vertragsänderungen zuzustimmen. gar nicht in der Reduzierung der Sollstärke auf (Beifall bei der SPD) 370 000 Mann, sondern darin, den eigenen Soldaten 4982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Ulrich Klose zu erklären, was sie denn in Zukunft gegen wen ver- derts oder in das Europa der Jahrtausendwende vom teidigen sollen. Vom Herrn Bundesverteidigungsmi- 20. in das 21. Jahrhundert? nister haben wir dazu bisher wenig Erhellendes ver- nommen. Zwei Fragezeichen setze ich hier: Werden die Län- der Osteuropas die Nationalismen, die zur Befreiung Aus der Sicht der Opposition erlaube ich mir fol- vom Kommunismus wesentlich beigetragen haben, in gende Feststellungen: Wir sehen die Bundeswehr als Zukunft zügeln können? Werden die westeuropäi- in die NATO integrierte Streitkraft. Wir wollen, daß schen Länder der Gefahr widerstehen, einmal mehr in das so bleibt, bis wir, gestützt auf die NATO, ein neues Allianzen statt in Kategorien der Einheit zu denken? gesamteuropäisches Haus der Sicherheit gebaut ha- ben. Ein Haus sollte es schon sein; eine Architektur Meine Damen und Herren, der Bürgerkrieg in Ju- allein wäre uns zuwenig. goslawien und die Art und Weise, wie Westeuropa auf diesen Krieg reagiert hat, macht mich unruhig. Ganz (Beifall bei der SPD) besonders irritiert mich die Tatsache, daß die Krise Wir sind für weitere Abrüstungsschritte und können lange Zeit aus den politischen Köpfen der Regieren- uns auch eine noch stärkere Reduzierung der Soll- den verdrängt und erst reagiert worden ist, als längst stärke der Bundeswehr vorstellen. die Waffen sprachen. Besondere Fähigkeiten im au- ßenpolitischen Krisenmanagement vermag ich bei der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deutschen und europäischen Politik nicht zu erken- Solchen Überlegungen müßten allerdings sorgfältige nen. Analysen der Sicherheitslage — ich spreche bewußt (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nicht von Bedrohungsanalysen — vorausgehen. Die GRÜNE) allgemeine Erfahrung zeigt, daß in Zeiten der Umbrü- che, der zerfallenden Strukturen neben den Chancen Vieles Reisen ist kein Ersatz für klare Zielvorgaben. solcher Veränderungen immer auch deren Risiken (Beifall bei der SPD) gesehen werden müssen. Zielvorgaben sind aber wichtig. Denn mir scheint, Wir sind nicht dafür, den der NATO abhanden ge- Europa hat in seinen Reaktionen auf die jugoslawi- kommenen Verteidigungsauftrag durch „out of area"- sche Krise auch deshalb so lange gezögert, weil es Planspiele zu ersetzen. keine einheitliche Linie bei der Zieldefinition und (Beifall bei der SPD) möglicherweise auch ein gewisses Mißtrauen gegen- über — wie ich hoffe: zu Unrecht — vermuteten deut- Was den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der schen Zielen gab. UNO angeht, so verweise ich auf den Beschluß des SPD-Parteitages in . Wir sagen ja zur soge- (Volker Rühe [CDU/CSU]: Was heißt: wie ich nannten Blauhelmaktion. Überlegungen, die darüber hoffe? Das ist eine Unterstellung!) hinausgehen, halten wir nicht für vordringlich. Im Ge- Wir sollten das immer bedenken. Geschichte wirkt genteil: Wir halten sie für falsch, weil sich dahinter weiter. Sie beeinflußt ganz konkret auch unser heuti- noch immer die Vorstellung verbirgt, man könne die ges Denken und Handeln, das der anderen und unse- Probleme dieser Welt mit militärischen Mitteln lösen. res. Hier liegt daher ganz sicher eine besondere Ver- Das können wir nicht. antwortung Deutschlands. Wir werden wenig tun (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ können, um die Nationalismen Osteuropas zu besänf- GRÜNE) tigen. Materiell helfen können wir, wie gesagt, ge- meinsam mit Westeuropa und anderen und sollten es Wir wissen, daß wir die Gewalt nicht aus der Welt tun. Ob sich Europa aber zurückentwickelt in Allian- wegreden können. Gewalt wird eingesetzt und provo- zen oder ob Europa die Chance zur Einheit nutzt, ziert Gegengewalt. Gleichwohl wissen wir auch, daß hängt ganz wesentlich auch an uns, an unserer Bereit- Gewalt kein einziges Menschheitsproblem löst, son- schaft, uns in diese Einheit voll einzubringen und uns dern selber eines ist. Deshalb denken wir ausschließ- in ihr zugleich zurückzunehmen. Es hängt an der lich in den Kategorien von Verteidigung. Frage, ob wir mit den Schwierigkeiten des Umbaus im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) eigenen Land fertig werden. Im übrigen glauben wir in Übereinstimmung mit Wir Deutschen haben die Einheit zurückgewonnen, dem UN-Generalsekretär, daß die Bundesrepublik friedlich und ohne nationalen Taumel. Ich gebe zu: ihre Verpflichtungen im Rahmen der UNO am besten Ein bißchen stolz bin ich auf diese eher nüchternen durch ein verstärktes Engagement bei der Entwick- Deutschen in den Tagen der Einheit gewesen. Noch lungszusammenarbeit und bei der Bewahrung der heute glaube ich — trotz der bösen Ausschreitungen Umwelt erfüllen kann. rechtsextremistisch beeinflußter Jugendlicher — , daß wir Deutschen vielleicht doch eine Chance haben, ein (Beifall bei der SPD) normales demokratisches Land in Europa zu wer- Meine Damen und Herren, was militärische Gewalt den. bedeutet und anrichtet, haben wir in Europa bitter erfahren. Die Bürgerkriege, die wir in Europa gegen- (Unruhe bei der CDU/CSU — Volker Rühe einander geführt haben, die entsetzlichen Weltkriege [CDU/CSU]: Was heißt hier: vielleicht?) haben uns an den Rand des Abgrundes gebracht. Jetzt — Hören Sie genau zu: Der größte Fehler, den wir bietet sich uns eine neue Chance. Die Staaten Osteu- machen könnten, wäre, so zu tun, als wären wir es ropas kehren nach Europa zurück. Aber in welches schon. Europa? In das Europa des beginnenden 20. Jahrhun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4983

Hans-Ulrich Klose Denn wir waren geteilt und sind erst noch dabei, die Rede war nicht von der Art, daß man darauf verzichten Einheit zu verwirklichen. kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bündnisses 90/GRÜNE) Im übrigen denke ich, daß wenige Parlamentarier in Wir setzen auf die Einheit Europas, das wie Deutsch- diesem Hause, meine Damen und Herren, es besser land faktisch noch immer geteilt ist und sich erst lang- als verstanden haben, hart in der Sa- sam auf den Weg macht, eine neue kulturelle Identität che zu fechten und zugleich stets die persönliche Inte- zu entwickeln. grität auch des politisch Andersdenkenden zu wah- Wir leben in dem Bewußtsein, daß der Kommunis- ren. mus gescheitert ist, daß sich das westliche System als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überlegen erwiesen hat. Aber ist dieses westliche Meine sehr geehrten Damen und Herren und ver- System auch gut genug, mit den Schwierigkeiten, vor ehrter Herr Kollege Klose, es gehört natürlich zu einer denen wir stehen, fertig zu werden? John le Carré, der Haushaltsdebatte, daß man den Standort bestimmt. Romancier, hat es so formuliert — ich zitiere —: Ich denke, daß dieser Haushalt 1992 wie die der kom- Wir haben gewonnen? Womöglich haben wir menden Jahre im wesentlichen bestimmt wird durch auch gar nicht gewonnen. Vielleicht haben die die deutsche Einheit, durch die Vollendung dessen, anderen bloß verloren, und unsere Schwierigkei- was Großartiges in den letzten Jahren erreicht worden ten fangen jetzt erst an, nachdem die Fesseln des ist, und durch die dramatischen Veränderungen ins- ideologischen Konfliktes abgestreift sind? besondere in Osteuropa. Dazu brauchen wir eine vor- (Beifall bei der SPD) urteilsfreie Bestandsaufnahme. Aber zu einer Stand- gehört eben auch eine Vergewisse- Herr Bundeskanzler, die großen Schwierigkeiten ortbestimmung rung, welchen Weg wir zurückgelegt haben. sind klar erkennbar. Wir, die sozialdemokratische Op- position im Deutschen Bundestag, werden die Stärke Da haben Sie in den wenigen Tagen, in denen Sie oder die Schwäche dieser Bundesregierung aus- Vorsitzender Ihrer Fraktion sind, gemessen an dem, schließlich daran messen, ob und in welcher Zeit sie was Sie früher gesagt haben, einen bemerkenswerten diese Schwierigkeiten meistert. Weg zurückgelegt. Zu Anfang dieses Jahres hatten (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD — Sie noch davor gewarnt, immer nur Weltuntergangs Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei szenarien zu zeichnen, immer nur zu Worst-case-Sze- Abgeordneten der PDS/Linke Liste) narien zu kommen, und gesagt, daß man einen reali- stischen Weg zwischen einer Beschreibung von Kri- sen und Risiken und dem, was realistische Zuversicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der ist, aufzeigen sollte. Zum letzten Teil habe ich heute Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble. von Ihnen wenig gehört. Von dem, was in der Bundes- republik Deutschland in den letzten Jahren stattge- funden hat, habe ich auch wenig gehört. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) (von der CDU/ CSU sowie von Abgeordneten der FDP mit Beifall Wenn Sie vom Umsteuern in ökologischen Fragen begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da- sprechen, hätten Sie ein Wort dazu sagen müssen, daß men und Herren! Der Gegenstand dieser Debatte ist diese Bundesregierung Mitte der 80er Jahre schad- nicht die Tatsache, daß die beiden großen Fraktionen stoffarme Autos gegen erhebliche Widerstände einge- des Hauses jeweils einen neuen Vorsitzenden haben, führt hat, während in Ihrer Regierungszeit in der Um- sondern der Gegenstand der Debatte ist die Beratung weltpolitik eben nichts geschehen ist. des Bundeshaushalts 1992. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gleichwohl, Herr Kollege Klose, bedanke ich mich Man kann nicht losgelöst von den Realitäten und den für das, was Sie zu Alfred Dregger und zu Hans- konkreten Erfahrungen Visionen aufzeigen, ohne Jochen Vogel gesagt haben. Auch wir, die CDU/CSU- auch dafür Verantwortung zu tragen, wie man sich ein Fraktion, sind stolz auf das und dankbar für das, was Stück weit diesen Visionen nähern kann. Alfred Dregger nicht nur für uns, sondern auch für dieses Parlament geleistet hat, und auch wir anerken- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger nen voller Respekt, was Hans-Jochen Vogel nicht nur lingen] [FDP]) für Sie, sondern auch für dieses Parlament und für Sie haben davon gesprochen, daß die rentenrecht- unsere Demokratie bedeutet hat. Wahrscheinlich ha- lichen Regelungen für Frauen verbessert werden ben Sie recht: Viel weniger als uns hat er gelegentlich müßten. auch Sie nicht geärgert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) — Klatschen Sie mal! Zu dem, was Sie zu unserem persönlichen Mitein-- Sie hätten, Herr Kollege Klose, die Anrechnung von ander oder Gegeneinander — beides wird es sein — Erziehungszeiten in der Rentenversicherung für gesagt haben, denke ich, wir sollten — ich will mir Frauen wenigstens erwähnen müssen Mühe geben; ich hoffe, es gelingt mir — die Sache von der Person trennen. Ich fürchte, in der Sache muß ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihnen schon nach dem, was Sie heute gesagt haben, und auch erklären müssen, warum in den Jahren, in ein ganzes Stück weit widersprechen. Ich hätte mir denen Sozialdemokraten Verantwortung für dieses gewünscht, daß es heute nicht sein muß, aber Ihre Land getragen haben, nichts geschehen ist, in der 4984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Wolfgang Schäuble Umweltpolitik nicht und in der Familienpolitik Das war ja der Unterschied zu den Sozialdemokra- nicht. ten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD) Sie haben an die Einheit nicht mehr geglaubt. Wenn man Ihnen heute vorliest, was Sie noch im Herbst 1989 Ich sage ja nicht, daß wir schon alles perfekt ge- gesagt haben, dann sind Sie empört und betrachten macht hätten oder jeweils perfekt machten, aber ich das als eine Beleidigung. Sie werden durch das Zitie- sage: Aus dem Vergleich der Zeit, in der Sie Verant- ren Ihrer eigenen Äußerungen aus den letzten Jahren wortung getragen haben, mit der Zeit, in der wir Ver- beleidigt. Ich will es Ihnen deswegen heute ersparen, antwortung tragen, wird vielleicht ein Stück sichtba- es sei denn, Sie zwingen mich auch noch dazu. rer, was tatsächlich erreicht worden ist, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Widerspruch bei der SPD) der FDP) vielleicht auch ein Stück mehr Verständnis für das, Wenn wir nicht in den 80er Jahren — der Finanzmi- was tatsächlich möglich ist. Denn diejenigen, die im- nister hat es gestern ja eindrucksvoll dar- mer nur unerfüllbare Erwartungen schüren, machen gelegt — durch unsere Wirtschafts-, Finanz- und So- den Menschen nicht Hoffnung, sondern führen sie in zialpolitik das Land so in Ordnung gebracht hätten, Resignation und Orientierungslosigkeit. Das wollen dann wären wir heute weniger gut in der Lage, diese wir nicht tun. großen Herausforderungen zu meistern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: So ist es!) Ich sage noch einmal: Zu einer realistischen Stand- Deswegen haben wir uns gut vorbereitet auf die deut- ortbestimmung gehört auch die Vergewisserung, wel- sche Einheit und auf die großartigen Veränderungen, chen Weg wir gegangen sind. Ich denke, wir haben die sich in Europa vollziehen. nicht nur die Chance zur Einheit im vergangenen Jahr konsequent genutzt — ich will auf den Streit nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — mehr eingehen, ob wir sie denn überhaupt verwirk- Lachen bei der SPD) licht hätten, wenn wir nach dem gegangen wären, Wir wollen uns jetzt darauf konzentrieren — das wofür Sie, Herr Klose, nicht, aber die SPD gestanden müssen wir wohl tun — , die deutsche Einheit zu voll- hat — , sondern wir sind auch — und das klang mir in enden und einheitliche Lebensverhältnisse zu schaf- Ihrer Rede ganz falsch — auf dem Weg, diese Einheit fen, die Menschen in den östlichen Bundesländern in zu vollenden, einheitliche Lebensverhältnisse in diesem schnellen Wechsel und in diesem Wechselbad ganz Deutschland herzustellen, gut vorangekom- von rasch steigenden Hoffnungen und Erwartungen men. und der Erfahrung, daß es bei aller Geschwindigkeit Weiß Gott, die Probleme sind nicht alle gelöst, aber und bei allen dramatischen Veränderungen doch wir sind in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht und nicht ganz so schnell gehen kann, einheitliche Ver- auch beim Beginn, den Umweltskandal zurückzufüh- hältnisse zu erreichen — — ren, den der real existierende Sozialismus in der DDR (Zurufe von der SPD) hinterlassen hat, gut vorangekommen, und die Men- schen in den östlichen Bundesländern schöpfen neue — Aber entschuldigen Sie! Mit dem Versprechen war Zuversicht und neue Hoffnung. es ganz einfach. Wir haben immer gesagt: Es wird ein paar Jahre harter Anstrengungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen bei der SPD und dem Bündnis 90/ Wir haben uns im übrigen in den 80er Jahren auf GRÜNE) die Chance der Einheit gut vorbereitet. Hätten wir den NATO-Doppelbeschluß 1982/83 nicht durchge- und schwerwiegender Veränderungen geben. Und setzt — — ich finde, wir im Westen müssen auch immer wieder (Lachen bei der SPD) sagen: Die Veränderungen, die unsere Mitbürger in den östlichen Bundesländern treffen, haben ein Aus- — Ja, Sie sind — — maß, wie wir es im Westen gar nicht mehr gewohnt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind zu ertragen. Deswegen brauchen wir auch ein Stück mehr Verständnis für die Befindlichkeit der Wissen Sie, mit dieser Häme haben Sie reagiert, als Menschen in den östlichen Bundesländern. der Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 und 1983 gesagt hat: Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Waffen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Und genauso ist es gekommen. Und das eine hängt FDP) mit dem anderen zusammen. Wenn ich sehe, wie schwer wir uns bei der Frage getan haben, den Einzelhandelsgeschäften zu erlau- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der ben, an einem Tag in der Woche zwei Stunden länger FDP) geöffnet zu halten — auch da haben Sie Ihre Wider- Wir haben in unserer Deutschlandpolitik, in der wir stände gehabt — , oder wie schwer wir uns in der Re- die Menschen im Reise- und Besucherverkehr und gion Bonn mit der Entscheidung des Deutschen Bun- durch vieles andere zusammengeführt haben, zu- destags vom 20. Juni tun oder wie schwer wir uns in gleich immer am Ziel der Einheit der Deutschen fest- der Region /Wiesbaden Rhein/Main jetzt mit gehalten. der Überlegung tun, ob nicht ein paar Bundesbehör- (Zurufe von der SPD) den nach Bonn zum Ausgleich verlagert werden kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4985

Dr. Wolfgang Schäuble nen, dann muß ich sagen: Wir alle haben Grund, mehr Nur, Herr Kollege Klose: Wenn diese Regierung unter Verständnis für die Betroffenheit der Menschen in den Bundeskanzler Helmut Kohl in den 80er Jahren nicht östlichen Bundesländern zu haben, als es gelegentlich so viele von Ihnen in den 70er Jahren liegengelassene hier sichtbar wird. Reformen hätte nachholen müssen, (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der (Lachen und Zurufe von der SPD) FDP) dann würden wir uns ein Stück weit leichter tun. Das Wenn wir uns auf die Vollendung der deutschen fängt bei der Gesundheitsreform an. Einheit und auf unsere Verantwortung insbesondere (Zurufe von der SPD) in dem nicht mehr durch den Ost-West-Konflikt ge- teilten Europa konzentrieren wollen, dann heißt das Da hätten Sie in den 70er Jahren längst handeln müs- natürlich, daß wir eine Wirtschafts- und Finanzpolitik sen. fortsetzen müssen, die das Konsolidierungsziel be- (Beifall bei der CDU/CSU) achtet, aber auch den notwendigen Spielraum für die erforderlichen Wachstumsimpulse läßt. Wir haben die Gesundheitsreform gegen erbitterte Widerstände durchgesetzt. Diese schwierige Gratwanderung, die die Finanz- (Zurufe von der SPD und der PDS/Linke politik des Finanzministers Theo Waigel und der Re- Liste) gierung von Bundeskanzler Helmut Kohl besser be- wältigt hat, als ihre Kritiker meistens überhaupt nur Wir wissen, daß weitere Schritte notwendig werden, verstanden haben, gilt es auch in Zukunft fortzuset- weil uns der Kostenanstieg bei den gesetzlichen Kran- zen. Wir müssen beides zugleich erreichen: eine Fort- kenkassen besorgt macht und Handlung erfordert. setzung der Konsolidierung durch eine Begrenzung Wir wissen auch, daß es schon lange Zeit ist, endlich der Ausgabenzuwächse nicht nur im Haushalt 1992, das Risiko der Pflegebedürftigkeit hinreichend durch sondern auch in den Folgejahren, aber zugleich den Vorsorge abzusichern. nötigen Spielraum, damit unsere Wirtschaft in der Lage bleibt, den gewaltigen Anforderungen und An- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der strengungen beim Aufbau und der Entwicklung der SPD) neuen Länder gewachsen zu sein. Wir wissen, daß das in einer Zeit, in der der Spielraum Dies heißt auch, daß wir in einer Zeit, in der die für einen weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten un- wirtschaftlichen Risiken eher zu- als abnehmen, ein gewöhnlich begrenzt ist, außerordentlich schwierig Stück weit Vorsorge, auch Risikovorsorge, treffen ist. Deswegen wäre es besser gewesen, Sie hätten müssen. Was sich in Osteuropa in den nächsten Mona- schon zu Ihren Regierungszeiten ein Stück weit in der ten alles an Risiken vollziehen kann, weiß jeder; das Frage der Pflegeversicherung gehandelt. Sie haben braucht man nicht jeden Tag auszusprechen, auch aber nichts getan. nicht, welche schwierige Situation wir in manchen der (Beifall bei der CDU/CSU — Anhaltende Zu westlichen Industrieländer haben und wie ungewiß rufe von der SPD und Lachen bei der PDS/ die konjunkturellen Aussichten in den kommenden Linke Liste) Jahren sind. Die Schwierigkeiten mancher Branchen unserer Wirtschaft — nicht nur im Maschinenbau — Nun müssen wir, muß die Koalition von CDU/CSU auf den Exportmärkten wachsen. und FDP in einer Zeit ungewöhnlich großer Anforde- rungen an die Leistungskraft der deutschen Wi rt All dies heißt doch wohl, daß wir uns stärker, als ich -schaft diese Pflegeversicherung einführen. Wir sind es bei Ihnen gehört habe, darauf konzentrieren müs- entschlossen, es zu tun. sen, die Aufschwungkräfte in unserer Wirtschaft zu (Zurufe von der SPD) stärken. Deswegen kommen Sie Sozialdemokraten in der Frage der Unternehmenssteuerreform nicht so da- Wir haben unterschiedliche Vorstellungen zwi- von, wie Sie sich bisher eingelassen haben. schen den Partnern dieser Koalition. Das ist auch gar nicht überraschend. Es ist doch etwas, worüber man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ganz unbefangen und offen reden kann. Aber wir Zurufe von der SPD) haben die feste Absicht, uns zu einigen. Notfalls ge- Wir werden, wenn wir die Arbeitsplätze in ganz hen wir schrittweise voran. Nur, von Ihnen, die Sie Deutschland auch in Zukunft sichern wollen, nicht keinen einzigen Schritt in diese Richtung gegangen darauf verzichten können, mehr Anstrengungen zu sind, lassen wir uns dabei nicht kritisieren. unternehmen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Inve- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stitionsstandorts Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft zu sichern. Wir werden mit den Problemen nur fertig und den Menschen die notwendige und von uns geschuldete (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Orientierung nur geben können, wenn wir die Risiken Es hilft gar nichts: Wir müssen auch darüber spre- realistisch beschreiben, wenn wir die Erwartungshori- - chen, daß bei der Entwicklung in den Lohn- und zonte nicht allzusehr nach oben verschieben. Auf der Lohnnebenkosten unsere Spielräume für weitere Er- anderen Seite ist es natürlich ganz erfreulich, wenn höhungen der Lohnnebenkosten außergewöhnlich jemand eine so problemorientierte, visionäre Rede begrenzt sind. hält, wie Herr Klose es hier getan hat. Nur, Herr Klose, das eine paßt nicht zum anderen: im Bundesrat seitens (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — der SPD-regierten Länder für die Jahre bis 1994 Mehr- Zurufe von der SPD) forderungen in der Größenordnung von mehr als 4986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Wolfgang Schäuble 40 Milliarden DM zu stellen und hier vom Umsteuern daß der Sachverständigenrat in einer harschen Weise zu reden. Da haben Sie zusammen mit Björn Engholm kritisiert hat, daß der Beitrag der westlichen Bundes- noch ein bißchen Führungsarbeit vor sich. länder, für die Sie — leider — in der Mehrheit die Ver- antwortung tragen, zur Vollendung der deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einheit bisher höchst ungenügend ist. Wir werden im übrigen darüber zu sprechen haben, daß auch angesichts der Entscheidungen des Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich wie Die Vollendung der deutschen Einheit ist eine Auf- zur Steuerfreiheit des Existenzminimums unsere gabe für Bund und Länder. Wenn der Bund, wie Be- Handlungsspielräume bei der gegebenen wirtschaft- rechnungen ergeben haben, im Jahre 1991 60 Milliar- lichen und finanziellen Lage für die kommenden den DM und die elf westlichen Länder 3,2 Milliarden Jahre außergewöhnlich eng sind. Ich finde, es gehört DM für die östlichen Länder leisten, dann ist das im zur Ehrlichkeit, daß wir das in dieser Haushaltsde- Rahmen der gesamtstaatlichen Verantwortung so batte sagen. nicht in Ordnung. Und dann wird noch ein Stück Füh- Ich füge hinzu: Bei den großen Transferleistungen, rungskraft in der SPD gefordert sein, damit wir in den die wir aus den westlichen in die östlichen Länder zu kommenden Jahren zu einem ausgewogeneren Ver- Recht und notwendigerweise erbringen, muß es gelin- hältnis kommen. Denn so allein werden wir es sonst gen, daß der Anteil der investiven Ausgaben an die- nicht schaffen. sen Transferleistungen in den kommenden Jahren hö- her ist, als er es bis heute notwendigerweise sein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) konnte. Es wird Ihr Problem und Ihre Herausforderung sein, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daß Sie uns — als Minderheit im Bundestag, aber in einer Position der Mehrheit im Bundesrat — ein Stück Ich hätte mir übrigens schon gewünscht, daß Sie bei Glaubwürdigkeit der SPD vorführen müssen. Denn der Horrorbeschreibung, die Sie von der Lage in den mit einer gespaltenen Strategie à la Oskar Lafontaine östlichen Ländern gegeben haben, bei der Wirtschafts- und Währungsunion — im Bun- (Widerspruch bei der SPD) destag ablehnen, im Bundesrat zustimmen — werden einen Satz dazu gesagt hätten, in welch hohem Maße Sie natürlich nicht sehr weit kommen. Das wird kei- wir in allen sozialen Sicherungssystemen — in der nen Sinn machen. Versicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in der Rentenversicherung, in der Krankenversiche- rung — Transferleistungen aus dem Westen in den Es geht auch nicht an, daß die Bundesländer immer Osten in dieser Zeit erbringen, mit welch hohen Lei- dann, wenn es unangenehm wird, die Verantwortung stungen wir gerade im Bereich der Bundesanstalt für dem Bund zuschieben. Wir haben uns bezüglich der Arbeit verhindert haben, daß die Arbeitslosigkeit in Frage, wie wir Asylverfahren beschleunigen können, den östlichen Ländern die befürchtete Höhe erreicht. unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers in einer Reihe Sie ist weiß Gott hoch genug, zu hoch. Aber sie ist, von Punkten verständigt. Allerdings haben wir uns Herr Klose, lange nicht so hoch geworden, wie die darüber, daß wir das Problem ohne eine Grundgesetz- allermeisten bei Ihnen und auch viele bei uns befürch- änderung nicht hinreichend lösen können, bisher tet haben. Auch das gehört zu einer realistischen Be- noch keine abschließende Verständigung erzielt. schreibung, damit die Menschen nicht in Hoffnungs- Aber, Herr Kollege Klose, es geht, wenn man Gemein- losigkeit geführt werden. samkeit in der Umsetzung der Zielvorstellungen for- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und dert, nicht an, daß sich jetzt die von der SPD regierten der FDP — Zuruf von der PDS/Linke Liste) Bundesländer nicht mehr an die Zielvorstellungen halten wollen, die wir am 10. Oktober verabredet ha- — Wollen Sie sich, die Sie für diese 40 Jahre totalitärer ben. sozialistischer Vergangenheit in der DDR stehen, hier wirklich mit solchen Zwischenrufen an dieser Debatte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — beteiligen? Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben — ich habe das gleich einmal mitge- Bei dem, was Sie den Menschen angetan und was Sie bracht, weil ich dachte, es werde eine Rolle spielen — zu verantworten haben, wagen Sie das? Ich würde wirklich folgendes vereinbart: schweigen. Die Länder schaffen die Voraussetzungen unter (Dr. [PDS/Linke Liste]: Festlegung eines Schlüssels, aus dem sich die von Wir werden nicht schweigen!) jedem Land vorzuhaltende Kapazität ergibt, für zentrale Gemeinschaftsunterkünfte, die über Ich würde wirklich herzlich bitten: Schweigen Sie! ausreichende Kapazitäten verfügen,.. . (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Und dann heißt es: Mithilfe des Bundes durch Zurver- Wenn wir darüber sprechen, daß wir bei begrenzten fügungstellung freier oder freiwerdender Liegen- Handlungsspielräumen in der Wirtschafts- und Fi- schaften. nanzpolitik die Priorität auf die östlichen Bundeslän- der setzen müssen, dann sollten wir — wenn wir das Jetzt sagen die von Ihnen regierten Länder: Wir Gutachten des Sachverständigenrats, Herr Kollege schaffen Sammelunterkünfte, soweit der Bund dazu Klose, schon ansprechen — auch ein Wort dazu sagen, Liegenschaften zur Verfügung stellt. — So haben wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4987

Dr. Wolfgang Schäuble nicht gewettet. Das ist nicht in Ordnung, das paßt so Bundesamt als auch bei der Umsetzung dessen, was nicht zusammen. wir am 10. Oktober beschlossen haben, gearbeitet wird, überhaupt nichts mit der Wahrheit zu tun haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie sollten sie lassen. Die Appelle zur Gemeinsamkeit ordneten der FDP) würden ehrlicher, wenn Sie sich in Zukunft anders Sie können sich nicht einfach aus der Verantwortung verhielten. der gemeinsamen Absprache davonstehlen. Nur, ich habe immer gesagt — und dabei muß ich (Peter Conradi [SPD]: Haben Sie denn Ihre bleiben — : Wir werden bei aller Anstrengung, diese Stellen besetzt? Sie haben sie ja gesperrt!) Zielvorstellungen umzusetzen, das Ziel nicht errei- — Die haben wir ja gerade im Haushalt. Den beraten chen, wenn wir nicht zugleich auch durch eine Ä nde wir doch! Der Einzelplan 06 des Bundeshaushaltes ungGrundgesetzesunseresermöglichen, daß wir zu 1992 wird morgen in zweiter Lesung behandelt. Da einer europäischen Zusammenarbeit in der Lage hoffe ich, wenn es um die Erhöhung der entsprechen- sind. den Stellen beim Bundesamt für die Anerkennung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ausländischer Flüchtlinge geht, auf Ihre Zustimmung. ordneten der FDP) Wir mußten diese Stellenerhöhung ja vorsehen. Ge- stern hat Ihr Kollege Wieczorek kritisiert, daß im Rah- Ich will das heute nicht im einzelnen ausführen. Ich men der Haushaltsberatung noch so viele Nachforde- habe dazu vor wenigen Wochen von dieser Stelle aus rungen kamen. So haben wir z. B. über 2 000 Stellen das Notwendige gesagt. Ich sage lediglich das fol- für das Bundesamt nachträglich in den Haushaltsplan gende: Wir sind uns in der Koalition von CDU/CSU eingebracht. Ich bedanke mich beim Haushaltsaus- und FDP einig — das, Herr Kollege Solms, steht schon schuß, daß das einvernehmlich geschehen konnte. in unserer Koalitionsvereinbarung vom Beginn dieses Jahres — , daß wir in der Asylpolitik eine europäische (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Die müssen Sie Lösung wollen und daß wir im Rahmen dieser euro- aber besetzen!) päischen Lösung miteinander ohne vorherige Festle- — Erst müssen sie genehmigt werden, Herr Klose! gung auch über die Frage der Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung sprechen. (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Da waren 600, die nie besetzt worden sind!) Wir sind uns in der vergangenen Woche einig ge- worden — auch da gibt es überhaupt nichts zu ver- —Entschuldigen Sie, erst müssen sie genehmigt sein, heimlichen — , daß wir, weil die europäische Lösung in bevor sie besetzt werden können. Form der Gemeinschaftskompetenz in Maast richt lei- (Weiterer Zuruf des Abg. Hans-Ulrich Klose der nicht zu erreichen sein wird, Herr Kollege Klose, [SPD]) Asylpolitik in Europa auf der Basis intergouverne- mentaler Zusammenarbeit jetzt harmonisieren wol- — Nun lenken Sie doch nicht vom Thema ab! len. Wir wollen deswegen im Rahmen der Ratifizie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rung des Zusatzabkommens zu Schengen wie auch ordneten der FDP — Lachen bei der SPD) des Dubliner Abkommens eine Lösung dahin gehend erreichen, daß wir an diesem Abkommen ohne Vorbe- Ich bitte Sie um eine klare Zusage, daß es dabei halte teilnehmen. Wir haben uns auch darüber ver- bleibt, daß die Länder die notwendigen Sammelunter- ständigt, diese europäische Lösung in diesem Sinne künfte in eigener Verantwortung schaffen und unter- jetzt anzustreben; denn wenn es keine Gemein- halten und daß der Bund dabei hilft, daß aber nicht die schaftskompetenz gibt, müssen wir bei Öffnung der gesamte Verantwortung dem Bund zugeschoben Grenzen in Europa zu einer Harmonisierung in Form wird; letzteres haben wir nämlich nicht so verein- der Regierungszusammenarbeit fähig werden. bart. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In der Frage, ob wir dazu eine Grundgesetzände- rung brauchen oder nicht, haben wir unterschiedliche Wenn man Gemeinsamkeit will, muß man sich dar- Meinungen. Aber darüber werden wir sprechen. Herr auf festlegen lassen. Im übrigen sind die Vorwürfe, Kollege Klose, ich lade Sie einfach ein: Lassen Sie es wir hätten verzögert, nun wirklich unbegründet. Fra- uns gemeinsam tun. Das hat alles überhaupt nichts gen Sie doch einmal Ihre Innen- und Ihre Justizmini- damit zu tun, daß diejenigen, die wirklich politisch ster in den SPD-regierten Bundesländern! Die werden verfolgt sind, in Deutschland und in Europa auch wei- es Ihnen sagen. Fragen Sie Herrn Schnoor! Es wird terhin Zuflucht finden. von den zuständigen Bundesressorts unter Beteili- gung der Länderressorts unter Hochdruck gearbeitet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe ihnen auch geschrieben: Aber gerade wenn, wie Sie sagen, ein Recht in gro- Ich hoffe, daß der Gesetzentwurf bis Ende dieser ßem Maße mißbraucht wird — das ist zwischen uns Woche den Fraktionen übersandt werden kann. nicht streitig — , dann muß man unvoreingenommen prüfen, wie die rechtlichen Regelungen so gestaltet Das habe ich ihnen noch als Innenminister geschrie- -r- werden können, daß das Recht erhalten bleibt und der ben. Das hätten Sie hier auch sagen können. — Dann Mißbrauch ein Stück weit besser bekämpft werden wäre Ihr Verhalten auch ein Stück wahrhaftiger ge- kann, als es heute der Fall ist. wesen. Ich finde, daß die Vorwürfe, wir verzögerten, ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sichts des Hochdruckes, mit dem sowohl bezüglich Um nichts anderes geht es. Lassen Sie uns darüber der Schaffung zusätzlicher Stellen für Mitarbeiter im miteinander und ohne Voreingenommenheit reden. 4988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Wolfgang Schäuble Bei der Diskussion um die Frage, wie man Auslän- Wir haben ein Aussiedleraufnahmegesetz verab- derfreundlichkeit in diesem Land sicherstellt, denke schiedet, das übrigens für Aussiedler das vorsieht, was ich oft daran, daß Heiner Geißler in diesem Hause in wir für Asylbewerber nicht tun können. Es schreibt anderem Zusammenhang den Unterschied zwischen nämlich vor, daß sie das Aufnahmeverfahren von ih- Gesinnungsethik und Verantwortungsethik erläutert rem Heimatland aus betreiben müssen. Aber dazu hat. Die Frage der Ausländerfreundlichkeit der Bun- gehört auch, daß wir den Deutschen in der ange- desrepublik Deutschland ist für mich eine Frage der stammten Heimat sagen: Wenn ihr denn in Jahren Verantwortungsethik. Da reichen Appelle allein nicht kommen wollt, bleibt auch in Zukunft das Tor offen. aus. Vielmehr muß man so handeln und entscheiden, Wer daran rüttelt, löst Torschlußpanik aus. Deswegen daß sich die Menschen, daß sich unsere Mitbürgerin- meine herzliche Bitte: Vermischen Sie nicht das, was nen und Mitbürger in ihren Sorgen ernstgenommen nicht vermischt werden darf. fühlen (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Das habe ich nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — getan!) Zustimmung bei der SPD) — Nein, Sie nicht, aber viele Ihrer Kollegen — Herr und daß sie das Gefühl haben, daß die politische Lafontaine läßt grüßen — tun es leider immer noch. Klasse sie noch versteht. Tun Sie es nicht. Es ist besser. Wir haben die Lösung Wenn man jeden Tag einen Appell hört, man solle des Problems wirklich gut auf den Weg gebracht. nicht ausländerfeindlich sein, dann kommen mehr Das andere bleibt ebenfalls: Auch mit allen Verän- und mehr Menschen dazu zu sagen: Was soll das derungen und Verbesserungen im Asylverfahren und denn? Wir sind gar nicht ausländerfeindlich. beim Grundgesetz bleibt das Thema der weltweiten (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja!) Wanderungsbewegungen eines der großen dramati- schen Risiken für Frieden und Stabilität dieser einen Warum wird jeden Tag an uns appelliert? Die Deut- Erde. Das ist durch die Asyldiskussion so oder so nicht schen sind in ihrer übergroßen Mehrzahl nicht auslän- zu lösen, auch nicht durch Einwanderungsquoten — derfeindlich. das füge ich gleich hinzu — , sondern das ist nur da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch zu lösen, daß wir unsere Anstrengungen ver- stärken, die Ursachen dieser Wanderungsbewegun- Das Problem ist vielmehr, daß die Politiker offenbar gen in Osteuropa wie in der Dritten Welt zu bekämp- nicht in der Lage sind, ein Problem zu lösen, von dem fen. wir meinen, daß es dringend gelöst werden muß. (Manfred Opel [SPD]: Wer sind denn die (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Politiker?) und dem Bündnis 90/GRÜNE) — Wir alle miteinander; aber auch Sie. Das werden wir besser schaffen, wenn wir uns nicht mehr sosehr mit 200 000 Asylbewerbern in zehn Mo- (Zurufe von der SPD: Wir sind keine Mini naten in unserem Lande politisch und finanziell her- ster!) umschlagen müssen. Gerade dafür brauchen wir eine —Ich auch nicht mehr. Aber kommen Sie, das Thema Bündelung der europäischen Kräfte. Deswegen brau- ist zu ernst. chen wir eine europäische Gemeinsamkeit und euro- päische Lösungen in der Asylpolitik, damit wir die Deswegen, Herr Klose, bitte ich Sie herzlich: Lassen Ursachen besser bekämpfen können. Sie uns darüber miteinander sprechen. Die Koalition ist sich einig: Wir wollen über die europäische Lösung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — jetzt miteinander reden und auch über das, was in Peter Conradi [SPD]: Was tut ihr denn?) Umsetzung der Zielvorstellungen geschehen muß, Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch fol- wenn die SPD bei ihrer Position bleibt. Lassen Sie uns gendes sagen. Ich glaube, auch diejenigen, die nicht in den nächsten Tagen und Wochen vernünftig mit- in allen Punkten die Politik von Helmut Kohl loben, einander reden. Ich glaube, es dient diesem Land, es dient den Deutschen und den Ausländern, wenn wir (Zuruf von der SPD: Die soll es geben!) den Streit beenden. Aber das geht nur, wenn wir die Probleme auch lösen. bestreiten ja nicht, daß es zu dem historischen Ver- dienst dieses Bundeskanzlers gehört, daß wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutsche Einheit und die europäische Einigung eng Dann habe ich gleich noch eine herzliche Bitte: Ver- und untrennbar miteinander verbunden gehalten ha- mischen wir damit nicht die Aussiedlerproblematik. ben. Das ist das historische Verdienst dieses Bundes- kanzlers. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir sind mit unserer Politik ungewöhnlich erfolgreich Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]) gewesen, nämlich den Deutschen in den Siedlungsge- bieten zu sagen: Wir helfen euch, daß ihr für euch und- Deswegen ist die deutsche Einheit auch gut gelungen. eure Kinder auch für die Zukunft eine Perspektive der Deswegen müssen wir auch jetzt bei der Vollendung Hoffnung in der Heimat eurer Väter habt. Wir wollen der deutschen Einheit, bei der Schaffung einheitlicher ja gar nicht, daß so viele Deutsche oder Menschen Lebensverhältnisse unsere Verantwortung für Europa überhaupt ihre Heimat verlassen, sondern wir wollen, als Ganzes zugleich sehen. Deshalb müssen wir — so daß sie in ihrer Heimat eine Zukunftsperspektive fin- schwer das fällt — Alleingänge vermeiden, auch was den. den Krieg in Jugoslawien anbetrifft. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4989

Dr. Wolfgang Schäuble Ich bin auch der Meinung, daß Europa bei den Be- Wir brauchen im übrigen angesichts neuer Risiken, mühungen, einen Krieg mitten in Europa zu verhin- neuer Auseinandersetzungen, neuer Instabilitäten so dern, keinen besonders guten Eindruck hinterlassen rasch wie möglich europäische Friedensstrukturen. hat. Ich finde, so kurz nach dem Ende des Ost-West- Solche Friedensstrukturen kann Westeuropa, die Eu- Konfliktes sollte es eigentlich nicht wieder möglich ropäische Gemeinschaft nur gemeinsam mit unseren werden, daß mitten in Europa Krieg geführt wird. osteuropäischen Partnern schaffen. Wenn es uns nicht gelingt, dies rasch zu schaffen, dann, fürchte ich, (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) könnten wir verspielen, was wir an großartigen Erfol- gen in bezug auf die Überwindung des Ost-West-Kon- Aber die Kritik an der Bundesregierung, am Bundes- flikts und den Zusammenbruch des Kommunismus in außenminister, man hätte früher im Wege des Allein- den letzten Jahren erreicht haben. ganges handeln müssen, greift nach meiner Überzeu- Ich füge hinzu: Wir brauchen dazu auch die Bin- gung zu kurz. Sie trifft nicht. dung zu unseren amerikanischen Verbündeten. Wir dürfen bei der Wut, die wir alle miteinander Amerika darf sich nicht aus Europa zurückziehen. Wir über das, was in Jugoslawien stattfindet, empfinden, können die Chancen, die sich uns bieten, nur nutzen, nicht zu Alleingängen kommen, weil wir all das wie- wenn wir an der europäischen Integration und der der aufs Spiel setzen würden, was wir in mehr als transatlantischen Verankerung festhalten und wenn 40 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht wir daraus Strukturen für Europa schaffen, die den haben, nämlich daß dieses freie demokratische Frieden auch unter veränderten Bedingungen in der Deutschland fest eingebunden bleibt in die Gemein- Zukunft sichern. schaft der Demokratien Westeuropas und im übrigen Dazu ist — dazu haben Sie wenig gesagt, Herr Kol- auch in das transatlantische Bündnis. Beides zusam- lege Klose — die volle außenpolitische Handlungsfä- men brauchen wir, und beides dürfen wir auch nicht higkeit der souverän gewordenen Bundesrepublik aus begreiflicher Wut und Enttäuschung über das, Deutschland unverzichtbar notwendig. Ich habe noch was in Jugoslawien stattfindet, aufs Spiel setzen. vor wenigen Monaten gelesen, daß Sie eine ganz an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dere Meinung hatten. Jetzt haben Sie sich auf Ihren Deswegen muß der mühsame und oft auch enttäu- Parteitagsbeschluß zurückgezogen. Das ehrt Sie als schende Weg, ein gemeinsames europäisches Han- Parteisoldat, aber in der Sache selber werden wir da- deln zustande zu bringen, fortgesetzt werden. Deswe- mit nicht handlungsfähig. gen muß Maastricht ein Erfolg werden. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind wir der Bundesregierung und dem Bundeskanz- Außenpolitische Handlungsfähigkeit, volle Souve- ler dankbar, daß alle Bemühungen — auch gegen ränität der Bundesrepublik Deutschland nach Ende viele Widerstände — unternommen werden, um des Ost-West-Konflikts und nach Überwindung der Maastricht zum Erfolg zu bringen. deutschen Teilung heißt auch, gleichberechtigte Teil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nahme der Bundesrepublik Deutschland, notfalls ordneten der FDP) auch der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Na- Ich denke übrigens, daß wir, was unsere Verantwor- tionen sowie im Rahmen eines europäischen Streit- tung für Osteuropa anbetrifft, unseren osteuropäi- kräfteverbundes. schen Nachbarn und Partnern auch sagen sollten, daß (Zustimmung bei der CDU/CSU) als das Zukunftsmodell anbie- sich der Föderalismus Anders werden wir unserer Verantwortung, den Frie- tet, um Minderheitenprobleme, Volksgruppenkon- den auch angesichts von Veränderungen zu sichern, zu lösen und um Grenzprobleme und Grenzaus- flikte nicht gerecht werden. einandersetzungen zu vermeiden. Das alles heißt ja nicht, daß im Einzelfall ein Auto- Mancher begreift heute vielleicht besser als noch matismus entsteht, sondern das alles heißt lediglich, vor einem Jahr, wie unvermeidbar notwendig und daß im Einzelfall natürlich die notwendigen Entschei- richtig es war, daß wir zusammen mit der deutschen dungen zu treffen sind. Aber es heißt eben, daß wir Einheit auch erklärt haben: Die Grenze Deutschlands dieser Verantwortung nicht ausweichen können. wird nicht mehr zur Diskussion gestellt. Sie zu Polen Wenn wir die Aufgaben, die Prioritäten und die Ver- bleibt unverändert; sie wird für alle Zukunft nicht antwortung des vereinten Deutschlands am Ende des mehr verändert. Sie wird lediglich so verändert, daß Jahres 1991 beschreiben, gebietet es die Ehrlichkeit sie nicht mehr trennen soll. So wie die Grenze zwi- zu sagen: Die Sicherung des Friedens kann nicht mehr schen Deutschland und Frankreich seit langem nicht allein anderen überlassen bleiben. Wir werden unse- mehr trennt, soll auch die Grenze zwischen Polen und ren gleichberechtigten Anteil daran zu tragen haben, Deutschland nicht mehr trennen. wenn wir besser als in der Vergangenheit den Frieden (Beifall bei der CDU/CSU) sichern wollen. Wenn wir in Europa wieder um Grenzen streiten Im übrigen werden wir in der Debatte über die not- und den Grenzverlauf ändern wollen, dann werden wendigen Änderungen unseres Grundgesetzes mit- wir ernten, wovon wir in Europa in diesem Jahrhun- einander zu sprechen haben. Sie werden aus Ihrer dert zuviel hatten, nämlich Krieg und Tod. Deswegen Verantwortung als Opposition im Bundestag wie als darf nicht mehr um Grenzen gestritten werden. Gren- SPD-regierte Länder im Bundesrat in dieser Frage zen müssen vielmehr abgebaut werden. Das kann sich nicht entlassen werden können. Das ist die eigentliche nur im System eines modernen aufgeklärten Födera- Anforderung in der Grundgesetzdebatte: daß wir lismus vollziehen. Dafür sollten wir werben. überprüfen, wo es in unserem Grundgesetz, nachdem 4990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Wolfgang Schäuble wir die Teilung überwunden, die Einheit erreicht und — Ich dachte, dieses Thema sei Ihnen so wichtig. die volle Souveränität erlangt haben, einen Anpas- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ja, sungsbedarf an die veränderte Situation gibt. Das ist eben! Man muß die Worte genau wählen!) in der Debatte, welcher Reformbedarf bei unserem Grundgesetz besteht, für mich das eigentliche Thema, — Hören Sie doch zu. was nicht heißt, daß wir nicht auch über andere Fra- Seit 1972 haben die deutschen Automobilfirmen gen miteinander reden können. Katalysatorautos in andere Länder exportiert. Aber in Dann, Herr Kollege Klose, haben Sie von unserer Deutschland ist nichts geschehen, bis Helmut Kohl globalen Verantwortung insbesondere in bezug auch Bundeskanzler war und wir den Ärger auf uns genom- auf die Umwelt gesprochen. Sie haben zu Recht die men haben. Reise des Bundeskanzlers nach und sein Eintreten für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge die Erhaltung der tropischen Regenwälder in Brasilien ordneten der FDP) als ein rühmenswertes Beispiel genannt. Sie hätten Nein, wir müssen die Möglichkeiten von techni- vielleicht hinzufügen sollen, daß diese Bundesregie- schem Fortschritt und Erfindergeist und auch der Ge- rung und dieser Bundeskanzler bereits seit Mitte der staltung politischer Rahmenbedingungen dazu nut- 80er Jahre auf Weltwirtschaftsgipfeln wie bei anderen zen, daß Umweltprobleme Schritt für Schritt gelöst Anlässen dafür wirbt, arbeitet und kämpft, daß alle werden und nicht dazu führen, die Menschen nur in auf dieser Erde begreifen, daß es eine unteilbare Erde Resignation und Weltuntergangsstimmung zu verset- ist und eine unteilbare Verantwortung für diese Erde zen. Wir müssen ihnen ein Stück weit Wege zeigen, geworden ist. Wir werden in Frieden nur überleben wie wir bei der Lösung der Probleme auch vorankom- können, wenn wir unsere Verantwortung für diese men können. eine und immer enger zusammengerückte Erde stär- ker wahrnehmen, als es bisher der Fall gewesen ist. Ich habe den Eindruck, daß sich das Tempo der weltweiten Veränderungen in Deutschland und in Eu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ropa zu beschleunigen scheint. Ich glaube, daß viele Peter Conradi [SPD]: Was heißt das kon- Menschen heute stärker als früher empfinden, was an kret?) Risiken vor ihnen liegt. Vieles war in den vergange- — Das heißt z. B. konkret, daß es mit der Forderung nen Jahren vielleicht auch durch den Ost-West-Kon- nach Umsteuerung in den Industriegesellschaften so flikt ein Stück zugedeckt. Wir empfinden jetzt deutli- einfach sein Bewenden nicht haben kann. Vielmehr cher als bisher die Veränderungen und auch neue muß man konkret fragen: Was kann man tun? Risiken, die wir nicht gewohnt sind und die, weil sie für die Menschen in den östlichen wie in den westli- (Zuruf von der SPD: Tempolimit!) chen Ländern jetzt neu sichtbar werden, auch ein — Hören Sie zu. Ich glaube, das Thema ist zu ernst. Stück weit zu einer neuen Unsicherheit führen. Ich bin ganz überzeugt, daß keine freiheitliche Ge- Diese Unsicherheit angesichts dramatisch schneller sellschaft und keine Wohlstandsgesellschaft so ein- Veränderungen und immer neuer Risiken wird dann fach freiwillig auf ihren Wohlstand verzichtet und daß verstärkt, wenn man ihnen Ausweglosigkeit bei den man die Möglichkeiten, mit moderner Technik und Problemen vorspiegelt. Denn das führt dann zu Welt- mit der Kraft menschlichen Forschergeistes Probleme untergangsstimmung. Daraus wächst Resignation. zu lösen, stärker nutzen muß, als es in Ihren resignie- Vielleicht wächst aus dieser Verunsicherung und Re- renden Utopien gelegentlich zum Ausdruck kommt. signation und aus dem Nichtwissen oder Nichtsehen können, wie es denn weitergehen kann, etwas von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem, was uns alle gemeinsam erschreckt, nämlich Machen Sie einen praktischen Vergleich, Herr Kol- Gewalttätigkeit eines kleinen Teils der jungen Gene- lege Schäfer, zwischen solchen westlichen Bundes- ration. Vielleicht sind diese Verunsicherung und Aus- ländern, in denen die CDU oder CSU regiert, und sol- weglosigkeit ein Stück weit die Basis. chen, in denen die SPD regiert, wie etwa in der Frage Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, der Reinhaltung unserer Oberflächengewässer die wenn Sie darüber nachdenken, dann sollten Sie sich Leistungsbilanz auf Ihrer und unserer Seite aus- noch einmal daran erinnern, wie die Lage Anfang der sieht. 80er Jahre am Ende der Regierungszeit von war. Da hatten wir eine ähnliche Grundstim- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Gehen mung von Resignation und wachsender Zukunfts- Sie einmal nach NRW! Da werden Sie sich angst. wundern! Gehen Sie einmal nach Schleswig Holstein!) In den Jahren, seit Helmut Kohl Bundeskanzler ist — das war eben nicht nur die günstige Konjunktur, — Gehen Sie doch einmal nach Baden-Württemberg, Herr Kollege Klose; so einfach ist das nicht gewe- da kommen Sie her, in keinem Land ist mehr geleistet sen — worden. (Beifall bei der CDU/CSU) - (Peter Büchner [] [SPD]: Glück hat er auch gehabt!) Dann vergleichen Sie noch einmal unsere Politik, und in denen CDU/CSU und FDP miteinander die schadstoffarme Autos einzuführen. Sie haben nichts gemacht. Regierungsverantwortung tragen, haben wir ange- fangen, Probleme nicht nur zu beschreiben, sondern (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dar- Probleme zu lösen, und zwar gegen viele Widerstände auf kommen wir nachher zurück!) und Schwierigkeiten. Damit haben wir den Menschen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4991

Dr. Wolfgang Schäuble ein Stück weit den Weg gezeigt, daß die Probleme davor gewarnt, zu große Erwartungen zu schüren, groß sind, daß sie aber auch zu lösen sind; nicht alle weil nur Enttäuschung die Folge sein kann. von heute auf morgen, aber Schritt um Schritt. Daraus (Peter Conradi [SPD]: Sehr wahr!) wächst auch ein Stück Zuversicht. Ich werbe auch dafür, daß wir dabei bleiben, den (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Die Stimmung ist Menschen in ganz Deutschland zu sagen: Es wird uns heute schlechter, als sie je war!) noch einige Jahre lang große Anstrengungen kosten, um die Einheit zu vollenden. — Nein, das ist nicht wahr. Sie wissen: Das, was sich Das, was wir an Großartigem an Veränderungen in mit der deutschen Einheit vollzieht, das Ausmaß an Europa haben, wird unsere ganze Kraft erfordern. Es Veränderungen, das für die Menschen im einzelnen ist nicht eine Zeit, wo man in der A rt mancher Diskus- schwer vorhersehbar ist — auch Oskar Lafontaine hat sionen nur noch Freizeit als einen zentralen Wert es nicht so ganz genau vorhergesehen; das ist eine deutscher Politik ansehen kann. Nein, es besteht auch Legende —, die Situation, die auch für die Menschen gar kein Grund dazu. Größere Chancen als seit 1989 in den westlichen Bundesländern ein Stück weit weni- sind uns in der Geschichte selten geboten worden. ger sicher ist — ich bin derjenige gewesen, der davon gesprochen hat, daß man Teilung nur durch Bereit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge schaft zum Teilen überwinden kann und daß die Be- ordneten der FDP) reitschaft zum Teilen auch einschließt, daß wir auch Deswegen finde ich, daß wir miteinander beides die Veränderungen im vereinten Deutschland mitein- zugleich tun sollten: realistisch davon reden, welche ander tragen müssen und daß wir auch da ein Stück Risiken vor uns liegen und welche prioritären Aufga- weit teilen müssen — , schaffen eine neue Unsicher- ben sich uns stellen, aber auch davon reden, daß kein heit. Das gilt auch für das, was sich — auch hinsicht- Grund besteht, angesichts der Größe der Aufgaben zu lich neuer Herausforderungen — an Ungewissem in verzweifeln, sondern daß Grund zu Hoffnung und zu Europa und weltweit vollzieht. Zuversicht besteht. Vor allen Dingen besteht für uns, die wir politische Verantwortung tragen, aller Anlaß, Deswegen sage ich: Wir dürfen die Menschen mit nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln. diesen neuen Verunsicherungen nicht alleine lassen, sondern wir müssen ihnen Wege der Hoffnung zei- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das gen. Wir müssen handeln. Wir dürfen Probleme nicht wäre gut! — Ing rid Matthäus-Maier [SPD]: nur beschreiben und dann sagen: Wenn wir das Mo- Sie können handeln!) dell der Industriegesellschaften auf die Dritte Welt Der Haushalt 1992 spiegelt in dem, was ein Haus- übertrügen, bräche alles zusammen. Nein, wir müs- halt überhaupt leisten kann, Herr Bundesfinanzmini- sen Schritt um Schritt handeln, um die Probleme zu ster, beides wider: die Notwendigkeit, Risikovorsorge meistern. auch angesichts ganz unwägbarer und unvorherseh- barer Entwicklungen zu treffen, aber zugleich die Ent- Im übrigen sage ich: Auf Grund der Erfahrungen schiedenheit dieser Bundesregierung, das Notwen- der 80er Jahre gibt es, meine sehr verehrten Kollegin- dige und Mögliche jetzt zu tun. Auf diesem Weg, Herr nen und Kollegen, keinen Grund, die Probleme für Bundeskanzler, werden Sie auch in Zukunft die Un- unlösbar zu erklären. Die Geschichte der Menschheit terstützung der CDU/CSU-Fraktion haben. läßt sich auch als eine Geschichte der Vorhersage des unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs be- (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der schreiben. Wir wissen nicht, wann es dazu kommt. CDU/CSU und der FDP) Das ist aber kein Grund zur Verantwortungslosigkeit. Wir müssen uns jeden Tag jede nur erdenkliche Mühe geben, um das Bestmögliche zu tun, wissend, daß wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt das irren können und daß wir, wenn wir handeln, immer Wort dem Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms. auch Fehler machen.

Aber wir haben kein Recht, den Menschen den na- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Frau Präsidentin! henden Weltuntergang vorherzusagen, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Welt ist im Umbruch. Europa ändert sein Gesicht. Deutsch- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wer land ist größer geworden. Das Blockdenken löst sich tut das denn?) auf. Das souveräne Gesamtdeutschland definiert sondern wir haben die Pflicht, durch eine konkrete seine Aufgaben neu und wird seiner gewachsenen Politik Schritt um Schritt, so gut wir können, Probleme Verantwortung gerecht. zu lösen. Niemals waren die Aufgaben für die deutsche Poli- tik nach dem Wiederaufbau der Bundesrepublik in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der ersten Legislaturperiode weitreichender und zu- kunftsorientierter als heute. Es ist deshalb ein bemer- Wir haben auch die Pflicht, den Menschen ein Stück - kenswerter Vorgang, daß die Fraktionen des Deut- Hoffnung zu machen. Wir haben ferner die Pflicht, schen Bundestages nahezu gleichzeitig ihre Führun- keine falschen Erwartungen zu erwecken, auch in den gen austauschen. Ansprüchen dessen, was der Staat in kurzer Zeit lei- sten kann. Die bisherigen Fraktionsvorsitzenden Mischnick, Vogel und Dregger haben entscheidenden Anteil an Ich habe in der Debatte um die Aufarbeitung der der parlamentarischen Vollendung der deutschen politischen Vergangenheit der früheren DDR immer Einheit. Sie und ihre Weggefährten haben über viele 4992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Hermann Otto Solms Jahrzehnte an vorderster Front auf die deutsche Ein- Land praktizierte System der sozialen und ökologi- heit hingearbeitet. schen Marktwirtschaft werden wir in der ganzen Welt Ich möchte die Gelegenheit nutzen, namens der beneidet. Eine Politik, die dies geschaffen hat und FDP-Fraktion Ihnen, Herr Dr. Dregger, für die ver- fortlaufend weiterentwickelt, kann so schlecht nicht trauensvolle, immer faire und menschlich anständige sein. Art der Zusammenarbeit zu danken. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Trotz dieser augenscheinlichen Attraktivität unse- Diese anständige Art der Zusammenarbeit haben Sie rer Politik setzt sich der Ansehensverlust der Politiker auch in Fragen sachlich unterschiedlicher Einstellun- beim Wähler anscheinend unaufhaltsam fort. Woran gen immer durchgehalten. liegt das? Sollen wir diesen Trend als Normalität be- trachten? Ich meine, es ist angezeigt, dazu ein paar Ihnen, Herr Kollege Vogel, danke ich dafür, daß Sie kritische, auch selbstkritische Betrachtungen und bei allen politischen Differenzen dem Gegner immer Überlegungen anzustellen. den notwendigen Respekt gezollt haben. Ihre bei- spielhafte Pflichterfüllung war Vorbild für uns alle im Ist es nicht eher so, daß im politischen Alltag Ver- Hause. haltensweisen entstanden sind, die ursächlich für das schlechte Erscheinungsbild der Parteien und der Poli- Vor allem aber freue ich mich auf die Zusammenar- tiker in der Öffentlichkeit sind? Es wäre zu einfach, die beit mit Ihnen, Herr Kollege Schäuble. Ich gratuliere Schuld bei Dritten zu suchen, etwa bei den Medien Ihnen nochmals zu Ihrer Wahl. Ausdrücklich begrüße oder gar beim Bürger selbst; das hilft auch nicht wei- ich, daß Sie die Autorität Ihrer Fraktion gegenüber der ter. Zunächst müssen wir uns überlegen, was wir sel- Regierung stärken wollen. ber tun können, um diesen Eindruck zu ändern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir alle, jeder einzelne muß sein Verhalten kritisch der CDU/CSU) überprüfen und rasch Konsequenzen daraus ziehen. Dies, Herr Kollege Schäuble, entspricht dem demo- Dies gilt für alle Seiten des Hauses. Ich möchte vier kratischen Prinzip der Trennung zwischen Regierung Beispiele nennen: und Legislative, und das ist für die Bürger wichtig, um Erstens. Durch permanente Übersteigerungen und auseinanderzuhalten, wer welche Funktion hat. Ich verbale Rundumschläge bei reinen Sachdebatten, bin zuversichtlich, daß es uns gelingen wird, die Lei- auch bei weniger wichtigen, nutzt sich die Sprache stungsfähigkeit und Gestaltungskraft der Koalition in der Politiker ab; keiner hört mehr genau zu. Wenn es den Vordergrund zu stellen. dann um wirklich kontroverse Fragen, um schwerwie- Meine Damen und Herren, Sie alle erinnern sich an gende Konflikte geht, fehlt es an zulässigen und wahr- die Fraktionsvorsitzendenpaare Barzel/Schmidt in nehmbaren Steigerungs- oder Differenzierungsmög- der Großen Koalition und Wehner/Mischnick in der lichkeiten. Ich nenne dies verbalen Radikalismus. sozialliberalen Koalition. Sie haben gezeigt, wie wich- Wie leicht gehen manchen Abgeordneten die Worte tig Zusammenarbeit in der Koalition für Stabilität und „Lüge", „Täuschung" , „Hinterhältigkeit", „Heuche- Handlungsfähigkeit von Koalitionsregierungen sein lei" und vieles andere mehr über die Lippen! kann. Natürlich kann man das nicht nachahmen, aber es soll eine Orientierungshilfe sein. (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Sehr richtig!) Ihnen, Herr Kollege Klose, wünschen wir eine Ich meine, wir sollten dies unterlassen. glückliche Hand. Es ist keine leichte Aufgabe, die Zweitens. Der verbale Radikalismus wird verschärft große Fraktion der SPD zu führen. Dazu kommt die durch das permanente Reden übereinander, wodurch Aufgabe, als Oppositionsführer vor der Öffentlichkeit das Reden miteinander immer schwieriger möglich deutlich zu machen, was die Handlungsalternativen wird; und es geschieht dann auch seltener. Wenn wir der Opposition sind. uns in der Öffentlichkeit gegenseitig immer wieder (Zuruf von der SPD: Das ist auch gelun- die übelsten Absichten und schlimmsten Verfehlun- gen!) gen unterstellen und auch zutrauen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn Medien und Bürger dies dann Sie haben sich vorgenommen, die Fraktionsarbeit auch für bare Münze nehmen. zu straffen und schlagkräftiger zu gestalten. Ich wün- sche Ihnen dabei besten Erfolg; denn eine starke Re- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gierung braucht eine starke, auch handlungsfähige der CDU/CSU — Dr. Alfred Dregger [CDU/ Opposition. Nur eine selbstbewußte Regierung CSU]: Sehr richtig!) wünscht sich das auch. Wir tun das, Herr Kollege Drittens. Wer meint, sich zu Lasten des politischen Klose, weil wir wissen, eine starke Opposition macht Gegners persönlich profilieren zu müssen, ohne dabei uns nur stärker und gibt uns noch mehr Handlungsfä- die gebotene Form zu wahren, muß sich fragen lassen, higkeit vor der Öffentlichkeit. - wem er damit überhaupt nutzt. Ich meine, wir täten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gut daran, wieder zu lernen, uns hinter die Sache der CDU/CSU) zurückzunehmen; denn wir vertreten nicht vorrangig uns selbst, wir vertreten unsere Bürger und haben Meine Damen und Herren, unsere freiheitliche de- einen Wählerauftrag zu erfüllen. mokratische Ordnung genießt in der Welt, gerade in den Ländern, die sich nun demokratischen Systemen (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr rich zuwenden, höchstes Ansehen. Um das in unserem tig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4993

Dr. Hermann Otto Solms Viertens. Wir müssen uns zudem wieder an die darüber, was der effizientere, der günstigere und der selbstgesetzten Spielregeln unserer parlamentari- weniger schädliche Weg ist, schen Demokratie halten. (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Für die Be- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) troffenen! Darauf kommt es an!) Die Opposition muß die Rolle der Opposition spielen, — der für die Volkswirtschaft, für die Betroffenen und die Regierung die der Regierung. für die Gesamtgesellschaft bessere Weg! (Zustimmung des Abg. Michael Glos [CDU/ (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Nein, wir CSU]) machen das für die Menschen!) Wenn die Opposition ihre Rolle nicht richtig spielt Das von der FDP vorgeschlagene Modell einer pri- und wenn in der Regierung versucht wird, auch noch vaten Pflichtversicherung für jeden einzelnen ver- eine Oppositionsrolle einzunehmen, dann verwischen meidet — das ist jedenfalls unsere Meinung — zen- sich natürlich die Eindrücke beim Betrachter. trale Schwächen des Blumschen Kostenmaximie- Der Versuch, in der Koalition Opposition zu spielen rungsmodells. oder sich gegenseitig gar in die Oppositionsrolle zu (Beifall bei der FDP) drängen, verwischt die Konturen und schadet der Die Kosten werden nicht auf die folgende Generation Koalition. überwälzt. Jeder Bürger betreibt Vorsorge für sein (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) eigenes Pflegerisiko. Eine Belastung der deutschen Der Wähler kann sich nicht mehr orientieren. Es muß Arbeitsplätze mit weiteren Personalzusatzkosten wird deutlich werden, worauf sich die Koalition verständigt vermieden. Das begrenzt die Flucht in die Schatten- hat, was wir gemeinsam wollen, was wir gegebenen- wirtschaft bzw. die Abwanderung von Arbeitsplätzen falls nicht wollen oder worauf wir uns noch zu verstän- ins Ausland. Das vom Prinzip der Eigenvorsorge ge- digen beabsichtigen. tragene p rivate Haftpflichtmodell verhindert Mitnah- meeffekte. Es verhindert damit die im Umlageverfah (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Ihr ren systemimmanente Kosten- und Beitragsexplosion. Wort in Gottes Ohr!) Die Ansprüche, die der Versicherte auf Grund seiner Es darf nicht der Eindruck entstehen, als wolle man Beitragszahlungen erwirbt, sind vor staatlichen Ein- täglich neue Konflikte schüren oder erfinden. griffen besser geschützt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Für die pflegenahen Jahrgänge sieht auch unser der CDU/CSU) Modell eine Übergangsfinanzierung, eine Fondsfi- nanzierung — man kann es auch als eine Art Umlage- Ich nenne hier nur zwei der jüngsten Themen, die finanzierung bezeichnen — vor. gerade in der Koalition konfliktreich sind. Das eine ist die Debatte um die Einführung einer Pflegeversiche- Das heißt also: Über die Fragen der höheren Effi- rung. Der Kollege Blüm führt seit einem halben Jahr zienz der beiden Systeme müssen wir uns unterhalten. eine Kampagne Den guten Willen zur Lösung des Problems sollte man niemandem absprechen. (Volker Rühe [CDU/CSU]: Vorsicht mit den Worten! Er wirbt!) Das zweite Reizthema — das hat der Kollege für ein bestimmtes Modell der Pflegeversicherung Schäuble hier schon angesprochen — ist das Thema und unterstellt dabei, daß diejenigen, die für dieses Asyl. Ich meine, auch hier geht es nicht, daß man in Modell sind, die Guten seien, denen es wirklich um einer mit großem Aufsehen in der Öffentlichkeit ver- die Pflegebedürftigen ginge, und daß diejenigen, die sehenen Gesprächsrunde zwischen Koalitionspar- ein anderes Modell vorschlagen, die Bösen, die Kalt- teien und SPD zu einem Ergebnis kommt, von dem herzigen seien, sich dann einerseits die Länder, insbesondere was die Kosten anbetrifft, wieder abzuseilen versuchen, zu (Zuruf von der SPD: Da hat er ja auch dem andererseits beispielsweise der Kollege Stoiber recht!) in Bayern schon am nächsten Tag erklärt, das Ganze die die Alten ihrem Schicksal überlassen wollten. würde sowieso nichts bringen. Das kann beim Bürger nicht den Eindruck erwecken, uns ginge es wirklich ( [SPD]: Stimmt auch!) um die Lösung in der Sache, Meine Damen und Herren, das ist nicht richtig (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der SPD: Natürlich!) der CDU/CSU und der SPD) und ist für die Koalition schädlich, weil wir innerhalb sondern sie müssen den Eindruck haben, hier würden der Koalition die Gespräche dazu überhaupt noch parteitaktische Spielchen getrieben. nicht begonnen haben. (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es ja (Zuruf von der SPD: Schlimm genug!) - auch!) Richtig wäre es, die Gespräche in der Koalition zu Meine Damen und Herren, es geht jetzt darum, das führen und sich dann auseinanderzusetzen. zu realisieren, was dort beschlossen worden ist, und es Worum geht es denn in Wirklichkeit? In Wirklich- geht im weiteren darum, daß die Regierung, nachdem keit wollen die Vertreter aller Seiten dieses Hauses das Mandat für die Kommission in Maastricht wohl das Problem der zunehmenden Pflegebedürftigkeit in nicht zu erhalten ist, in Verhandlungen in Europa ein- der Bevölkerung möglichst optimal lösen. Wir streiten tritt, um eine europäische Lösung des Asylrechts zu 4994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Hermann Otto Solms erzielen. Daran wirken wir mit. Wir hoffen, daß es machung; es geht um die Idee des Eigentums möglichst bald zu konkreten Ergebnissen kommt. schlechthin. Der liberale Rechtsstaat gebietet vor al- Meine Damen und Herren, diese Reizthemen haben lem sich selbst, bestimmte Sachen und bestimmte in den vergangenen Monaten wiederholt die Frage Rechte als einem bestimmten Individuum gehörig un- nach der Zukunft der Bonner Koalition aufkommen verbrüchlich zu achten. Dabei möchte auch ich, Herr lassen. Aufkeimende Hoffnung auf ein nahendes Kollege Klose, die Freiburger Thesen von 1971 zitie- Ende der Koalition muß ich enttäuschen. Auch die bei- ren, die in diesem Punkt auch heute völlig aktuell den genannten Reizthemen werden jetzt entschlossen sind: einer Lösung zugeführt. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das Im übrigen zeigt sich: Für die Koalition gibt es ange- wäre schön!) sichts der nationalen und internationalen Aufgaben Diese demokratische Errungenschaft des Eigen- gegenwärtig gar keine Alternative. tumschutzes gegenüber aller staatlichen Über- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) macht und behördlichen Willkür ist Ausdruck der Demokratisierung des Staates, d. h. der verfas- Vielleicht kann man sagen: Während die SPD heute sungsmäßigen Einschränkung der schrankenlo- noch überlegt, ob sie die deutsche Einheit überhaupt sen Herrschaft des Staates über seine Untertanen gewollt hat oder gewollt haben soll, bis hin zum willkürlichen Entzug ihres Eigen- (Widerspruch bei der SPD — Dr. Nils Diede- tums. rich [Berlin] [SPD]: Ach, Herr Solms, hören Das Wichtige ist — das haben Sie, Herr Klose, bei Sie doch damit auf! — Weiterer Zuruf von der Ihrem Zitat wohl etwas verdreht — : Der Art. 14 des SPD: So ein Schmarrn!) Grundgesetzes bestimmt ja zunächst einmal die Ga- hat die Koalition die neuen gesamtdeutschen Auf ga- rantie des Eigentums, und erst im Abs. 2 wird die ben und die europäischen Aufgaben längst ange- Eigentumsgarantie durch die Sozialpflichtigkeit be- packt. grenzt. Es ist nicht umgekehrt! Es ist nicht so, daß die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Vordergrund (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten steht und daß nur das, was dann übrigbleibt, der Ver- der CDU/CSU) fügung des Eigentümers unterliegt. Das ist, glaube Die Koalition bekennt sich in allen Punkten zu der ich, die grundsätzlich unterschiedliche Einstellung gewachsenen Verantwortung eines souveränen zwischen Ihnen und uns zum Eigentum. Deutschlands. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich sehe drei zentrale Aufgabenfelder für die deut- der CDU/CSU) sche Politik der neunziger Jahre: erstens die innere Einheit Deutschlands gestalten, zweitens den wirt- Wir treten dafür ein, daß auch die vor 1949 Enteig- schaftlichen Aufschwung sichern und drittens die ge- neten eine Chance erhalten, ihr früheres Eigentum wachsene internationale Verantwortung akzeptie- zurückzuerlangen. Es geht darum, wie wir das re- ren. geln. (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Und die Um- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der welt?) CDU/CSU) Zum ersten Punkt, zur Gestaltung der Einheit: Die Dabei sind natürlich die Gesichtspunkte zu beachten, Herstellung der inneren Einheit Deutschlands hat die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben rechtliche, soziale und psychologische Aspekte. Nicht hat. Natürlich darf dieser Prozeß nicht dazu führen, allein die DDR existiert nicht mehr; auch die alte Bun- daß der Privatisierungs- und Investitionsprozeß be- desrepublik ist untergegangen. Dieser Prozeß bedeu- hindert oder verzögert wird. tet für uns eine neue Standortbestimmung nach innen, die Auseinandersetzung mit einer sich wandelnden (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Identität. Andererseits darf nicht der Eindruck entstehen, der Das Regime der DDR hat hier ein schweres Erbe Staat wolle sich am früheren Besitz Enteigneter berei- hinterlassen. Der Bundestag hat das -Überprü- chern. In diesem Spannungsfeld haben wir die Ent- fungsgesetz verabschiedet. Bei der Behandlung die- scheidung zu finden. ser überaus sensiblen Frage gab es einen parteiüber- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der greifenden Konsens. Dies stimmt mich hoffnungsvoll, CDU/CSU) daß auch die anderen Themen der Vergangenheits- bewältigung mit dem notwendigen Gespür für die Als Rechtsstaatspartei, die den Grundrechten, also vielfach tragischen Verstrickungen und Schicksale auch der Eigentumsgarantie, verpflichtet ist, können der Betroffenen behandelt werden. Pauschalurteile wir hierzu keine andere Haltung einnehmen. dürfen wir nicht zulassen; die FDP wendet sich ent-- Zur Angleichung der Lebensverhältnisse in schieden dagegen. Jedes Einzelschicksal hat Anrecht Deutschland gehört vordringlich die Verbesserung auf eine individuelle Beurteilung. der Wohnungssituation, die Verwirklichung gleicher (Beifall bei der FDP) Bildungschancen und die Verbesserung der Umwelt- situation in den neuen Bundesländern. Meine Damen und Herren, zu diesem Erbe gehören auch die ungeklärten Eigentumsfragen. Dabei geht es (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Und der FDP nicht nur um die wirtschaftliche Wiedergut bei uns!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4995

Dr. Hermann Otto Solms Auch die unterschiedliche rechtliche Bewertung Es ist daher unverzichtbar, die Leistungsfähigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in West und Ost muß der Wirtschaft im Westen ebenfalls zu erhalten und zu nun überwunden werden. sichern. Eine leistungsfähige Wirtschaft ist das Kapi- tal, mit dem wir die mit der Einheit verbundenen La- (Beifall bei der FDP) sten bewältigen können. Dieses Kapital dürfen wir Der Vorschlag, den die FDP vorgelegt hat, liegt auf keinesfalls verspielen. dem Tisch. Die Anhörung im Sonderausschuß kürz- Stärkung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft im lich hat ergeben, daß diesem Vorschlag von den Ex- Westen kann nicht heißen: Der Staat muß oder kann perten große Zustimmung entgegengebracht wird. immer mehr Schulden machen. Der Konsolidierungs- muß eingehalten werden. Das Budgetdefizit muß Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muß Sie auf- kurs zurückgeführt werden. Der Haushaltsplan 1992 be- fordern: Verhelfen Sie der Vernunft mit Ihrer persön- deutet in unseren Augen einen wichtigen Schritt in lichen Entscheidung zum Durchbruch. Tragen Sie dieser Richtung. dazu bei, daß auf der Basis dieses Entwurfs eine Mehr- heitsentscheidung zustande kommt. Stärkung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft kann auch nicht heißen, daß wir die Wirtschaft mit (Beifall bei der FDP) immer neuen Steuern und Abgaben belasten. Es gibt An eines möchte ich erinnern, auch weil auf dem zu viele Leute, die ihre Phantasie anstrengen, um CSU-Parteitag wohl ein anderer Eindruck erweckt neue Abgaben zu erfinden, und zu wenige, die den worden ist: Einen Koalitions- oder Fraktionszwang Mut haben, auf Entlastungsmaßnahmen und darf es bei dieser Gewissensfrage nicht geben. Dar- -entscheidungen zu drängen. über waren wir uns auf allen Seiten dieses Hauses (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einig. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Belastungsfähigkeit unserer Wirtschaft darf der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/ nicht erneut getestet werden. Das ist Anfang der 70er CSU]: Da sind wir uns einig, Herr Solms!) Jahre schon einmal versucht worden. Damals hat Karl Schiller gesagt — vielen wird es noch im Ohr klin- — Das beruhigt mich, Herr Kollege Bötsch. gen — : Genossen, laßt die Tassen im Schrank. Das gilt Die Einheit Deutschlands ist zwar politisch vollzo- auch heute. gen, ökonomisch aber noch lange nicht erreicht. Es (Klaus Lennartz [SPD]: Zu wem sprechen Sie sind Fortschritte erkennbar, aber vieles bleibt zu tun. denn jetzt?) Jetzt kommt es darauf an, nicht falsche Entscheidun- Statt zusätzliche Abgaben verlangt die wirtschaftliche gen zu treffen. Aufgabe des Staates ist es, in den Bewältigung der deutschen Einheit strikte Ausgaben- neuen Bundesländern die marktwirtschaftlichen Rah- disziplin. Es müssen neue Prioritäten gesetzt werden. menbedingungen für private zukunftsträchtige Ar- Alte Besitzstände müssen abgebaut werden; ein wei- beitsplätze zu gestalten. Dazu zählt, die Investitions- terer Subventionsabbau ist unverzichtbar. bedingungen generell zu verbessern, damit sich ein dynamischer Wachstums- und Innovationsprozeß auf (Zuruf von der SPD: Welche Subventionen breiter Front durchsetzen kann. Dann entstehen auch denn?) in den neuen Bundesländern Einkommen aus eigener Auch wenn manche das Ergebnis immer wieder Kraft, aus eigener Produktion, aus eigener Leistung. miesmachen wollen, ich bleibe dabei: Jürgen Mölle- Das ist ja das, was die Bürger einbringen wollen: Sie mann wollen ihre eigene Leistungskraft einbringen. (Zuruf von der SPD: Wer?) Zur richtigen Weichenstellung gehört die soziale hat durch seine Hartnäckigkeit beim Subventionsab- Flankierung. Nur durch die gleichzeitige soziale Ab- bau einen wichtigen Durchbruch erzielt. sicherung ist der drastische Strukturwandel den Men- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — schen überhaupt zuzumuten. Arbeitsbeschaffungs- Lachen bei der SPD) maßnahmen, Kurzarbeit null oder Beschäftigungsge- sellschaften können allerdings nur beim Übergang Ohne seinen Mut und seinen Einsatz wäre dieses Er- einen Beitrag zur sozialen Absicherung leisten. Sie gebnis nicht möglich gewesen. müssen es im Übergang tun, aber sie müssen zeitlich Das Ergebnis des Subventionsabbaus dieser Koali- begrenzt sein. Sie dürfen keine Dauereinrichtung tion kann sich sehen lassen: werden. (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der SPD: Ach?) Staatliche Verantwortung in der Sozialen Markt- 14 Milliarden DM im Rahmen der Steuerreform 1990, wirtschaft kann nicht heißen, daß der Staat für alles 10 Milliarden DM beim Abbau der Zonenrandförde- rung und der Berlin-Förderung — weitere 10 Milliar- zuständig ist. Er ist weder für die Einkommen noch für die Strukturgestaltung, die Regionalstruktur, die Be- den DM bis 1994, auf Initiative von Herrn Mölle- schäftigung oder die Preisgestaltung zuständig. Er mann —, 6 Milliarden DM im Rahmen der Unterneh- kann und er soll all das in einer Marktwirtschaft nicht menssteuerreform, zusammengenommen ab dem Haushaltsjahr 1994 40 Milliarden DM pro Jahr; das ist leisten. Der Aufbau einer modernen wettbewerbsfä- ein beeindruckendes Ergebnis. higen Wirtschaftsstruktur kann nur das Ergebnis der unzähligen Aktionen einer Höchstzahl unabhängiger (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wirtschaftssubjekte sein. der CDU/CSU) 4996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Hermann Otto Solms Die FDP fordert eine Umkehr in der Lohnpolitik. Sie Die Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung will sich jedoch nicht in die Tarifautonomie einmi- der 80er Jahre ist ein Erfolgsrezept, meine Damen und schen. Es wäre aber verantwortungslos gegenüber Herren. Sie hat 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze al- den Beschäftigten und insbesondere gegenüber den lein in der alten Bundesrepublik geschaffen. Deshalb Arbeitslosen, nicht auf die Gefahren der Fortsetzung ist sie kein Auslaufmodell; sie ist auch für Gesamt- des gegenwärtigen lohnpolitischen Kurses hinzuwei- deutschland das Modell der Zukunft. sen, und zwar im Osten wie im Westen. Wer ange- sichts der wirtschaftlichen Herausforderungen in Ost- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) deutschland wie im gemeinsamen Binnenmarkt Ich komme nun zur gewachsenen Verantwortung in Lohnerhöhungen von 10 % und mehr fordert, hat die der Welt. Zur gewachsenen internationalen Verant- Zeichen der Zeit nicht erkannt. Ich glaube, er handelt wortung Gesamtdeutschlands. Neben der Wirt- verantwortungslos gerade gegenüber denen, die ar- schafts- und Währungsunion brauchen wir die Einbin- beitslos sind oder in der Gefahr stehen, arbeitslos zu dung Deutschlands in die Politische Union der euro- werden. päischen Staaten. Das ist die beste Gewähr dafür, daß verbleibende Vorbehalte gegen ein größer geworde- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nes Deutschland abgebaut werden. Brzezinski, der Die Folgen einer solchen Politik müßten sein: mehr ehemalige Sicherheitsberater des Präsidenten Carter, Inflation, weniger Investitionen, steigende Arbeitslo- sagt: Ein integriertes Deutschland kann eine Lokomo- sigkeit. In der Lohnpolitik muß deshalb für den We- tive wirtschaftlichen Wachstums in Europa sein. Er sten wie für den Osten gelten: Maßstab ist der Pro- fügt allerdings hinzu, daß ein hegemoniales Deutsch- duktivitätsfortschritt. land in einem politisch uneinigen Europa weltweit Für den Osten Deutschlands kommt hinzu, daß auf unliebsame Erinnerungen wecken würde. Wir brau- die Situation der Einzelbetriebe Rücksicht genommen chen daher das Bekenntnis zu unserer gewachsenen werden muß. Es wäre gut, wenn man Öffnungsklau- internationalen Verantwortung! seln in den Tarifverträgen vereinbaren würde, damit Das Angebot Präsident Bushs zur Führungspartner- Betriebsvereinbarungen möglich werden. schaft bedeutet in erster Linie Einbindung in gemein- Die dritte große Herausforderung für die Wirt- same Verantwortung. Nicht so sehr deutsche Macht schaftspolitik liegt in Europa. In wenigen Tagen sollen fürchten die Partner, sondern deutsche Sonderwege. beim Europäischen Rat in Maastricht wichtige Wei- Darauf müssen wir achten. Jeder Anschein des Ohne chen für die Weiterentwicklung des Binnenmarkts zur mich kann uns in den Augen der Welt nur schaden, Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen wenn es darum geht, Völkerrecht, Selbstbestimmung, Union gestellt werden. Der EG-Binnenmarkt hat den Menschenrechte im Rahmen kollektiver Sicherheits- Wettbewerb innerhalb der Europäischen Gemein- systeme wie der UNO zu verteidigen. schaft bereits jetzt beträchtlich erhöht und die Ar- Wir können uns nicht länger dem Vorwurf ausset- beitsteilung vertieft. Wer in diesem Markt der offenen zen, daß wir andere die Kastanien aus dem Feuer Grenzen künftig bestehen will, muß wettbewerbsfä- holen lassen und erst dann dazukommen, wenn die hig sein. Luft rein ist — eventuell zum Geschäftemachen. Um im Binnenmarkt erfolgreich zu bestehen, müs- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der sen wir die Unternehmenssteuerreform endlich auf CDU/CSU) den Weg bringen. Sie ist nicht, wie von der SPD immer wieder gesagt, eine Umverteilung von unten nach Aus historischen Gründen haben deutsche Soldaten oben; sie ist ein Beschäftigungsprogramm erster auf dem Balkan nichts zu suchen. Güte. (Beifall bei der FDP, sowie bei Abgeordneten Deshalb bin ich auch gegen jede Abkoppelung der der CDU/CSU, der SPD und des Bündnis Unternehmenssteuerreform vom Steueränderungs- ses 90/GRÜNE) gesetz 1992. Dennoch dürfen wir bei einer Friedensstreitmacht un- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ter UNO-Mandat zur Bekämpfung eines brutalen der CDU/CSU) Rechtsbrechers das nächste Mal nicht abseits ste- hen. Im Vermittlungsverfahren zum Steueränderungsge- setz 1992 kann die Mehrheit der SPD-Ministerpräsi- (Volker Rühe [CDU/CSU]: Richtig!) denten zeigen, wie ernst es ihr um die Wettbewerbs- Es ist das Ziel der FDP — und wohl auch der Koali- fähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit die Si- tion — , die Möglichkeit einer Teilnahme deutscher cherheit deutscher Arbeitsplätze ist. Streitkräfte an allen Aktionen zu beschließen, Die Vorteile des gemeinsamen Binnenmarkts kom- (Detlev von Larcher [SPD]: Also doch auf men erst in der Währungsunion voll zum Tragen. Vor- dem Balkan?) aussetzungen sind vor allem: strenge überprüfbare Kriterien bei der wirtschaftlichen Konvergenz, eine- die den Pflichten eines Mitglieds der Vereinten Natio- stabilitätsorientierte Haushalts- und Wirtschaftspoli- nen entsprechen. kte Wahrung der Geldwertstabilität und die tik, die stri (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten absolute Unabhängigkeit der Europäischen Zentral- der CDU/CSU) bank. Zu neuen Formen des Euro-Dirigismus und -Protektionismus darf es ebensowenig kommen wie Einen Automatismus darf es dabei nicht geben. Der zu industriepolitischen Expe rimenten. Deutsche Bundestag muß selbstverständlich das letzte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4997

Dr. Hermann Otto Solms Wort haben, ob und wie deutsche Truppen an Einsät Abrüstung, eine Strategie gegen den hohen Gebur- zen zur Wahrung des Völkerrechts beteiligt werden. tenüberschuß und die Überwindung der Armut in der „Es gilt den Weg freizumachen, damit Deutschland Dritten Welt. durch die überfällige Grundgesetzänderung interna- Die gewachsene deutsche Verantwortung spiegelt tional berechenbar, partnerfähig und vor allem hand- sich auch in unserer Rolle im europäischen Eini- lungsfähig wird." — So hat es ein kluger Politiker gungsprozeß. Gemeinsam mit unseren europäischen Anfang des Jahres formuliert. Derselbe Politiker Nachbarn wollen wir Europa gestalten. Die Bundesre- — Herr Klose, das sind Sie — stellte damals fest, daß gierung ist dabei die Triebkraft. Deswegen sind die „die Deutschen und die deutschen Sozialdemokraten Vorwürfe, Herr Klose, die Sie an die Bundesregierung eine unglaubliche Chance vertan haben, ein normaler heute gerichtet haben, unangebracht. Staat in der Völkergemeinschaft zu werden. " Deutschland müsse, so Klose, in Zukunft Rechts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) grundlagen schaffen, um bei UNO-Aktionen auch Die Bundesregierung ist die treibende Kraft in Eu- wirklich Partner sein zu können und, wenn es nicht ropa! anders geht, militärisch zu helfen. Unabdingbare Voraussetzung für die Europäische Klose hat, so heißt es, für diese Äußerungen in sei- Politische Union sind klare Bekenntnisse zum födera- ner Partei damals Prügel bezogen. len Aufbau Europas, zum demokratischen Mehrheits- (Volker Rühe [CDU/CSU]: Hat man heute prinzip, zur Stärkung der Rechte des Europäischen noch gemerkt!) Parlaments, zur gemeinsamen Außen- und Sicher- heitspolitik ebenso wie zur gemeinsamen Innen-, Trotzdem ist er zum Vorsitzenden der SPD-Fraktion Rechts- und Asylpolitik. gewählt worden. Meine Damen und Herren, wenn es noch eines Be- (Zuruf von der SPD: So sind wir!) weises für die Notwendigkeit einer gemeinsamen eu- Ist das ein Signal, daß zumindest die SPD-Bundestags- ropäischen Außenpolitik einschließlich der Sicher- fraktion ihre Meinung geändert hat und nun seiner heits- und Verteidigungspolitik bedurft hätte, die be- Meinung folgt, oder wird Herr Klose seine Meinung stürzenden Ereignisse dieses Jahres im Nahen Osten der Meinung der Bundestagsfraktion unterordnen? und in Jugoslawien haben ihn geliefert. Die Ereig- nisse haben gezeigt: Europa ist außenpolitisch noch (Volker Rühe [CDU/CSU]: Hat er doch schon nicht handlungsfähig. Für ein gemeinsames Vorge- gemacht! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/ hen fehlen die Instrumente. Damit in Zukunft schnel- CSU]: Hat er heute getan!) ler und wirkungsvoller reagiert werden kann, müssen — Das war heute der erste Auftritt. Das kann sich alles jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden. Schon noch entwickeln. der Gipfel in Maastricht ist hierfür gefordert. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Na, Unverzichtbarer Bestandteil der Politischen Union wollen wir hoffen!) ist eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Die West- europäische Union ist integraler Bestandteil des Eini- Bei den anstehenden Grundgesetzänderungen gungsprozesses. Sie wird schrittweise zur europäi- kann die SPD diese Ankündigung ihres neuen Frak- schen Verteidigungskomponente der Gemeinschaft tionsvorsitzenden einlösen. Wir sind gespannt. ausgebaut. Diese Entwicklung wird den europäischen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Pfeiler der Allianz und damit das Bündnis insgesamt der CDU/CSU) stärken. Wir brauchen schließlich weiterhin das eindeutige (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Jawohl!) Bekenntnis zum Atlantischen Bündnis. Jede Ambiva- Die KSZE wird als kollektives Sicherheitssystem in lenz gegenüber dem Bündnis, dem Garanten von und für Europa das Dach der künftigen gesamteuro- Freiheit und Demokratie über 40 Jahre hinweg, ver- päischen Architektur darstellen. ringert unsere Sicherheit. (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Ja!) (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die Weiterentwicklung der Europäischen Gemein- schaft verlangt die Vertiefung der Integration und Von Anfang an bedeutete die Bündniszugehörigkeit gleichzeitig die Erweiterung der Gemeinschaft. Das für uns Einbettung in die westliche Wertegemein- europäische Zusammenwachsen muß Osteuropa ein- schaft. In Zukunft bedeutet die Bündniszugehörigkeit beziehen. Der Zugang zu den westeuropäischen für uns Mitwirkung an einer dauerhaften europäi- Märkten für die Staaten Mittel- und Osteuropas stellt schen Friedensordnung. eine bessere Hilfe dar als jeder Kredit. Das Bekenntnis zum Atlantischen Bündnis bedeutet (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten auch die Absicht, den Abrüstungsprozeß fortzuset- der CDU/CSU) zen, die Weiterverbreitung der Nuklearwaffen zu ver-- hindern und die sowjetischen Waffen zentraler Kon- Die konkrete Perspektive des Beitritts zur EG gibt den trolle zu unterstellen. Menschen die Hoffnung, daß Europa zu ihnen kommt, Meine Damen und Herren, gewachsene deutsche statt, wenn auch unfreiwillig, ins Wohlstandsparadies zu locken. Verantwortung bedeutet auch nicht weniger, sondern mehr Engagement für globale Themen. Ich meine den Für die Sowjetunion und ihre Republiken müssen Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, weltweite wir nach dem gescheiterten Putschversuch zunächst 4998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Hermann Otto Solms einmal spontan und unbürokratisch Hilfe leisten, um sicher falsch. Niemand kann erwarten, daß in so kur- die leidgeprüfte Bevölkerung über den nächsten Win- zer Zeit der Umbruch in Deutschland politisch verar- ter zu bringen. Ich freue mich, daß wir dem russischen beitet werden kann. Präsidenten Jelzin hier Zusagen machen konnten. (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Stimmt!) Niemand in Europa kann ein Interesse an einem völ- ligen Zerfall der Union haben. Die Wiederernennung Für diejenigen von Ihnen, die aus der alten Bundes- Eduard Schewardnadses als Außenminister gibt Hoff- republik kommen, waren die letzten zwei Jahre ein nung, daß die Kräfte des Zusammenhalts unter Präsi- wichtiger politischer Einschnitt, eine Herausforde- dent Gorbatschow noch stark genug sind oder wieder rung, der Sie sich mit Freude oder Beklommenheit stärker werden. stellen mußten. Für die Bürgerinnen und Bürger der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands, Si- DDR waren die letzten zwei Jahre die totale Umwäl- cherung des wirtschaftlichen Aufschwungs, Über- zung des eigenen Lebens. Sie sind in einem anderen nahme der gewachsenen Verantwortung in Europa Land gelandet, ohne sich von der Stelle gerührt zu und der Welt, das sind die zentralen Aufgaben unserer haben. Sie spüren Zugwind — um bei dieser berühm- Politik. ten Metapher zu bleiben — , obwohl sie nicht fah- ren. (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die politischen Veränderungen waren dabei nur ein Die Koalition hat die Aufgaben erkannt. Sie hat sich kleiner bei weitem nicht der wichtigste Teil. Deswe- an die Arbeit gemacht. Wir werden unseren Kurs da- gen ist die Parteiverdrossenheit nicht allein Anzei- bei unbeirrt fortsetzen. chen von mangelndem Interesse an der Demokratie, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der sondern Zeichen dafür, daß die fundamentalen Ver- CDU/CSU) änderungen des Alltags die Menschen so stark bela- Bei der Opposition hat inzwischen Nachdenklich- sten, daß für Politik keine Kraft mehr bleibt, und zu- keit eingesetzt. Das ist gut. Es ist auch höchste Zeit gleich natürlich, daß Politik als etwas erfahren wird, dafür. Wenn der neue Oppositionsführer Klose nach was mit den gigantischen Alltagsproblemen kaum et- seiner Wahl Überlegungen, vielleicht wohl versehent- was zu tun hat. In der alten DDR gab es besonders im lich, angestellt hat — jedenfalls kam das über eine Umkreis der Bürgerrechtler und Bürgerbewegungen Ticker-Meldung — , wer aus seiner Partei Opposi- viele Überlebenstechniken, die jetzt zusammenbre- tionsführer nach 1994 werden solle oder könne, chen. Aber wir beklagen uns nicht. Wir haben maß- geblich zu dieser Umwälzung beigetragen und sind (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist froh darüber — das muß hier deutlich gesagt wer- dringend!) den — , daß dieser totalitäre Staat zusammengebro- dann zeigt das, daß er seinem Vorvorgänger Herbert chen ist. Wehner nachträglich recht gibt. Der hatte eine lange Zeit vorausgesagt — ich erinnere mich an 15 Jahre, Trotz unserer Kritik an der Hals-über-Kopf-Geburt und das bedeutet frühestens 1997/98 —, betrachten wir die deutsche Einheit und die Zugehö- rigkeit zu einem demokratisch verfaßten System der (Detlev von Larcher [SPD]: Warten Sie's Sozialen Marktwirtschaft als etwas Positives. Insofern ab!) erheben wir auch den Anspruch, an der notwendigen bis die SPD wieder den Status der Regierungsfähig- Umgestaltung, auch aus der Opposition heraus, aktiv keit erlangen werde. Ich wünsche ihr ehrlich eine gute mitzuwirken. Dem Politikansatz der Bürgerbewegun- Entwicklung. gen entspricht es, notwendige Themen jenseits von (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Parteiinteresse, ideologischen Überzeugungen und materiellen Interessen aufzugreifen. Vielen Dank. Wie notwendig ein solches Herangehen an die Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bleme ist — senkrecht zu den politischen Schützen- gräben —, zeigt das traurige des Staates. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ... statt diesen Staat mit neuen verfassungsrecht- hat der Abgeordnete Werner Schulz (Berlin). lichen Mitteln neu zu ordnen, daß der Mensch nicht unter seinem Gewicht erdrückt wird, haben Parteien und Bürokratie einträchtig die zentrali- Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr stische Gewalt des Staates weiter gesteigert, die Präsident! Meine Damen und Herren! Auch im Na- Selbstverwaltung verkümmern lassen, die Kom- men meiner Gruppe herzlichen Glückwunsch für die petenzen ins Unbegrenzte erweitert, so daß man frisch gewählten Fraktionsvorsitzenden! Ich fasse von einem totalen Staat sprechen könnte, wenn mich kurz, weil ich weniger Redezeit habe. nicht sogar die Parteien den Anspruch erheben, Unsere heutige Debatte findet zwei Jahre nach Öff- ihn über das politische Parlament zu einem rei- nung der Mauer, gut ein Jahr nach der Wirtschafts- nen Instrument der herrschenden Parteien zu ma- und Währungsunion, der Vereinigung der beiden chen. deutschen Staaten, und fast ein Jahr nach der ersten Das ist kein Zitat von Bakunin oder irgendeinem an- gesamtdeutschen Bundestagswahl statt. deren linken Staatsanarchisten. Es könnte auch von In dieser Zeit hat das vereinte Deutschland seine Richard von Weizsäcker stammen, der auf der Dritten innere Einheit und seine veränderte Rolle in Europa Straßburger Konferenz über Parlamentarische Demo- und in der Welt noch nicht gefunden. Dies kann der kratie grundsätzlich das gleiche gesagt hat. Nein, es Regierung Kohl nicht angelastet werden. Das wäre ist ein Zitat von Theodor Steltzer, dem einzigen Über- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 4999

Werner Schulz (Berlin) lebenden des Kreisauer Kreises, des Widerstandskrei- schen bewundert, die immer wieder an ihre Tür klop- ses um den Grafen Moltke, Mitbegründer der CDU fen. Mit jedem Tag, den die Treuhandanstalt so wei- und erster Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. termacht wie bisher, schwindet in der Bevölkerung Sie sollten vielleicht auch mal gründlich auf Ihre Quel- wie im Deutschen Bundestag die Bereitschaft, diese len zurückkommen, wenn Sie uns schon immer Lite- fragwürdige Praxis hinzunehmen. Es deutet wenig raturzitate empfehlen. darauf hin — von einigen bevorzugten Regionen ein- mal abgesehen — , daß in Ostdeutschland wieder eine (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) eigenständige, tragfähige Industriestruktur entsteht, Die Regierung, die fähig war, die staatliche Einheit daß Ostdeutschland mehr wird als verlängerte Werk- Deutschlands binnen kürzester Zeit herbeizuführen, bank, Niederlassungsstandort, Absatzmarkt, Arbeits- dieselbe Regierung ist unfähig, die innere Einheit, reservoir für den Westen. Die Menschen in Ost- den gesellschaftlichen Konsens und die wirtschaftli- deutschland haben sich von der Einführung der che Angleichung zwischen Ost und West zu realisie- D-Mark und der Marktwirtschaft nicht den Zusam- ren. menbruch der Industrie und den Ruin der Landwirt- schaft erhofft. Aber das bekommen sie jetzt; ausrei- (Zuruf von der CDU/CSU: Dazu braucht es chend neue Arbeitsplätze günstigenfalls für die näch- die Menschen!) ste Generation. Die Mobilisierung von Solidarität ist heute die Die Bundesregierung hat es — aus welchen Grün- wichtigste politische Führungsaufgabe. Daran muß den auch immer — versäumt, die besondere Rolle des sich die Fähigkeit der politischen Elite Deutschlands Staates beim Übergang von der Planwirtschaft zur messen lassen. Meine Damen und Herren, losgelöst Marktwirtschaft zu erkennen und wahrzunehmen. von Parteiraison bestehen in diesem Parlament in ei- Was Bundesregierung und Treuhandführung von den ner Reihe von Sachfragen komfortable Mehrheitsver- privaten Marktkräften erwarten, können diese selbst hältnisse. Die Aufgabe verantwortlicher Politik ist es, beim besten Willen nicht leisten. Die zwingend erf or- diese Mehrheitsverhältnisse zu organisieren, die sich derliche Sanierung der kurzfristig nicht sanierbaren auf Mehrheiten in der Gesellschaft stützen. Das ist Treuhandunternehmen kann nicht vorn p rivaten Sek- nicht der Tod der Koalition, wie Herr Schäuble un- tor erwartet werden; hier ist der Staat gefragt. „Behut- längst in den „Tagesthemen" gesagt hat, das ist die sam sanieren", sagt Herr Waigel und zitiert Rohwed- wirkliche Suche nach Konsens. Das ist eher ein Sieg der, ohne auch nur im geringsten nachvollziehbare der politischen Vernunft. Das bringt Leben ins Parla- Kriterien für die Sanierung zu nennen. Kleinere Be- ment. Denken Sie nur an diese befreiende Bonn-Ber- triebe, bei denen nicht damit zu rechnen ist, daß ihre lin-Debatte, an das erlösende Gefühl, als Denkscha- Belegschaften das Bet riebsgelände besetzen, für die blonen und Fraktionskorsette aufgebrochen sind. Es sich Politiker und Presse nicht vehement und ver- sei einmalig gewesen, habe ich von Abgeordneten nehmbar stark machen, die also lautlos sterben, kön- gehört, die fünf Sterne im „Kürschner" tragen. nen offensichtlich weit weniger auf die Unterstützung der Behörde bauen als Großunternehmen, denen das Das könnten wir doch in etlichen Fällen fortsetzen, öffentliche Interesse gilt. z. B. bei Nummer eins: Treuhand. Herr Waigel hat gestern die Arbeit der Treuhandanstalt als die größte Für das Schicksal der chemischen Industrie scheint und erfolgreichste Privatisierungsaktion der Wirt- es schon zu genügen, wenn der Bundeskanzler bei schaftsgeschichte charakterisiert. Sicher, für diejeni- einem Besuch in Bitterfeld — im emotionalen Über- gen, die das Schnäppchen des Jahrhunderts machen, schwang, ohne präzise Kenntnis der wirtschaft lichen mag das stimmen. Es ist aber auch die größte Skan- Fakten und ohne Abstimmung mit der Treuhand — dalgeschichte der an Skandalen gewiß nicht armen sagt, diese Region müsse als Chemiestandort erhalten Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik. Es ist aber bleiben. Das ist der führende Vertreter der Wi rt auch das größte Phänomen, wie ein Volk sein Eigen- -schaftspartei. Sie zerstören mein Bild von der Bundes- turn verliert, als hätte es das nie gegeben. Hier liegt republik. Früher war diese Position offenbar an mehr die schwerste Hinterlassenschaft der SED, daß den Sachkompetenz gebunden. ursprünglichen Besitzern ihr Eigentumsbewußtsein Doch nun bewegt sich etwas in der Treuhandfrage: abhanden gekommen ist oder — wie bei der Betriebs- Anfang dieses Jahres waren wir vom Bündnis 90/ besetzung in Henningsdorf — jetzt fünf nach zwölf GRÜNE noch die einzigen, die ein neues Treuhand- erst wieder in den Sinn kommt. Oder meinen Sie wirk- gesetz verlangt haben. Im Sommer hat sich die SPD- lich, daß diese Gesellschaft in Ordnung ist, wenn Fraktion ebenfalls dazu durchgerungen und mittler- 1,7 % der deutschen Haushalte über 70 % des Produk- weile einen eigenen Gesetzentwurf für Januar ange- tivvermögens besitzen, sich diese Diskrepanz durch kündigt. In den letzten Wochen haben — alle Achtung die Politik der Treuhand sogar noch erweitert? Da für diese Zivilcourage — auch die ostdeutschen CDU- haben selbst konservative Politiker wie ihre Abgeordneten erfreulicherweise Farbe bekannt und Zweifel. eine Umkehr in der Treuhandpolitik gefordert. (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige — Ich weiß, Sie mögen ihn nicht. Trotzdem ist es gut, [Bündnis 90/GRÜNE]) daß sich seine Position in Ihrer Partei langsam durch- setzt. Schlachten Sie bitte unseren Treuhand-Gesetzent- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) wurf aus; er steht Ihnen zur Verfügung. Es mag nicht das Nonplusultra sein, doch wir haben viel Kraft und Es läßt sich auch nur mit Zynismus überschreiben, Überlegungen investiert: hinsichtlich der Kontrolle wenn Frau Breuel die Hartnäckigkeit der Ostdeut- der Treuhandanstalt, der Sanierung wettbewerbsfähi- 5000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Werner Schulz (Berlin) ger Betriebe, der Anbindung ihrer Politik an die regio- sere Absicherung garantiert oder geringere Kosten nale Wirtschaftspolitik, ökologischer Verpflichtungen verursacht. usw. Nutzen Sie, was Sie für sinnvoll halten, Hauptsa- (Zurufe von der FDP) che, wir erreichen ein neues Treuhandgesetz; es ist Er ist weder besser, noch ist er billiger. höchste Zeit. (Hans H. Gattermann [FDP]: Aber solide fi Aber vielleicht wird es Ihnen gelingen, Herr Bun- nanziert!) deskanzler, die Dissidenten in Ihrer Fraktion Sein Hauptmerkmal besteht da rin, daß er die Besser- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Was verdienenden aus der gesellschaftlichen Solidarität bitte?) entläßt — so einfach ist das. noch einmal auf Linie zu bringen. Aber Sie werden sie (Zurufe von der FDP) schwerlich überzeugen können. Für Ihre Treuhand- Es steht zu befürchten, daß sich aus Gründen der politik haben Sie keine parlamentarische Mehrheit; Koalitionsdisziplin die Parlamentsmehrheiten hier eine Mehrheit in der ostdeutschen Bevölkerung hat- nicht zusammenfinden werden. ten Sie in dieser Frage ohnehin nie. Viertes Beispiel: das Menschenrecht auf Asyl und Beispiel zwei: selbstbestimmte Schwangerschaft. das Einwanderungsland Bundesrepublik, also diese Wir haben im Bundestag jetzt einen Sonderausschuß unnötige und polarisierende Asyldebatte, die bewußt mit der wohlklingenden Bezeichnung „... Schutz des inszeniert wurde, um von anderen Problemfeldern ab- ungeborenen Lebens". In der Sache soll er die Neure- zulenken. Es gibt keinen dramatischen Anstieg der gelung des § 218 StGB vorbereiten. Gesucht ist eine Zahl von Asylsuchenden, allenfalls drastische Einbrü- Lösung, die rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt, che bei Wahlergebnissen, schwindende Stimmenzah- die illegale und unsachgemäße Abtreibungen verhin- len für bestimmte Parteien. dert, die schließlich die ostdeutschen Frauen nicht Das Thema selbst wird von Demagogie beherrscht. zum Opfer der deutschen Vereinigung macht, indem Die neueste Koalitionsvereinbarung ist ein Verfah- die relativ liberale Rechtspraxis der DDR durch eine renstrick, den wir nicht durchgehen lassen. Eine pau- repressive, an den Vorstellungen konservativer Kir- schale Zurückweisung ohne Einzelfallprüfung darf es chenmänner orientierte Regelung ersetzt wird. Ich nicht geben, ist auch nicht verfassungskonform. Bei sage das ohne Polemik. Die Frage „Schutz des unge- einer Einreise aus einem Staat Osteuropas versagt borenen Lebens" versus „selbstbestimmte Schwan- diese Regelung ohnehin. gerschaft" wird in der Gesellschaft eine offene Wunde bleiben — so oder so. Es deutet sich keine Regelung Viele Menschen, die zu uns kommen, suchen ja gar an, die ohne Verletzung auskommt. Die Auseinander- nicht Asyl, sondern möchten aus verschiedenen Grün- setzung dreht sich allerdings um den Strafrechtspa- den hier leben, arbeiten, einfach Mitbürger werden. ragraphen 218, also nicht um die Verringerung von Was uns fehlt, sind klare Einwanderungsbestimmun- Schwangerschaftsabbrüchen überhaupt. Daß dieses gen. Wir haben ein Gesetzespaket erarbeitet, das ein Ziel mit den Mitteln des Strafrechts schwerlich zu er- Einwanderungs-, ein Flüchtlings- und ein Niederlas- reichen ist, darüber besteht weitgehend Einigkeit. sungsgesetz enthält und für das im Grundsatz auch Theoretisch gibt es deswegen in diesem Parlament eine breite Mehrheit besteht — von Hans-Jochen Vo- eine deutliche Mehrheit für die Fristenlösung. Die gel, Burkhard Hirsch über Heiner Geißler bis hin zum damit verbundene Frage nach der Beratung müßte Bundespräsidenten. Mehr als schade ist in diesem sich klären lassen. Aber offenbar soll jetzt durch Koali- Zusammenhang, daß uns der Bundeskanzler trotz un- tionszwang eine solche oder andere Lösung verhin- serer Bereitschaft und unserer konstruktiven Vorar- dert werden. Zum Schutz des ungeborenen Lebens beit nicht zum sogenannten „Allparteiengespräch" trägt das alles überhaupt nicht bei. Wer Schwanger- ins Kanzleramt eingeladen hat. schaftsabbrüche verhindern will — und das ist eine (Detlev von Larcher [SPD]: Das war ja gar Binsenweisheit — , muß für den Schutz des geborenen nicht der Kanzler, das war der CDU-Vorsit Lebens sorgen, muß eine kinderfreundliche Politik zende!) machen. Doch die kostet Geld und hört beim Geld noch lange nicht auf. — Es war der CDU-Vorsitzende, der im Kanzleramt residiert. Das ist ja eine seltsame Mischung. Es ist gut, Beispiel drei: Pflegeversicherung. Quer durch die daß Sie darauf hinweisen. Reihen des Bundestages besteht Einigkeit darüber, daß für die Absicherung des Pflegefallrisikos gesetz- Offenbar hat der Herr Bundeskanzler uns wegen rid Köppe, die lich Vorsorge getroffen werden muß. In diesem Fall ist der Respektlosigkeit der Fragen von Ing die parlamentarische Mehrheit für eine vernünftige eine tiefe Berechtigung haben Lösung des Problems so breit wie selten. Für eine (Zurufe von der CDU/CSU) Absicherung des Pflegefallrisikos im Rahmen der So- und die nicht nur von ihr so gestellt werden, mit Kanz- zialversicherung ließe sich bequem eine Stimmenzahl- lerbann belegt und von der Kommunikation ausge- mobilisieren, mit der auch hier eine gar nicht notwen- schlossen. dige Verfassungsänderung durchzusetzen wäre. In diesem Fall ist es die FDP, die auf Grund von Partiku- Und weil Sie hier so Ihre Vorreiterrolle für die deut- larinteressen in klassischer Lobbymanier die parla- sche Einheit betonen — Herr Schäuble, das hat sicher- mentarische und die gesellschaftliche Mehrheit blok lich auch in den Sonntagsreden nie gefehlt — , will ich kiert. Der FDP-Vorschlag der Lösung über eine Privat- eines einmal deutlich festhalten: Wir waren, so glaube versicherung glänzt ja nicht dadurch, daß er eine bes ich mit gutem Gewissen sagen zu können, die einzi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5001

Werner Schulz (Berlin) gen, die sich nicht mit dem SED-Staat abgefunden, in den ehemaligen RGW-Raum verbunden ist. In die- sondern ihn bekämpft haben. Das ist der Unterschied, ser Situation ist es das Gebot der Zeit und stünde und das macht Ihnen heute wahrscheinlich den Um- Deutschland gut an, eine wirklich gesamteuropäische gang mit uns etwas schwer Politik zu machen. Doch bisher setzt die Bundesregie- rung vorrangig auf die Weiterentwicklung und Konso- (Widerspruch bei der CDU/CSU) lidierung der Westeuropäischen Gemeinschaft, unge- und macht uns ein bißchen unbeliebt. Es ist schon achtet des Preises, den Europa östlich der EG dafür — um ein Lieblingswort von Herrn Schäuble aufzu- zahlen muß. greifen — auch ein Stück weit schlechtes Gewissen, wenn man die Bürgerrechtler ins Abseits schiebt, um Es steht zu befürchten, daß die gesamteuropäische die Altopportunisten aufs Siegerpodest heben zu kön- Aufgabe auf die lange Bank geschoben wird. Das wird nen. zu Lasten Osteuropas und zu Lasten Ostdeutschlands gehen. Mit einem Hin- und Herschwanken der deut- Aber zurück zum Bundeskanzler: Ich finde, das ist schen Politik zwischen westeuropäischem Projekt und kleinmütig, Herr Bundeskanzler, und paßt nicht zu osteuropäischen Anforderungen wird sich eine ge- einem großen Politiker — aber dieses Etikett bestimmt fährliche Sonderrolle Deutschlands innerhalb der EG sich eben nicht anhand von Preisverleihungen. und zwischen West- und Osteuropa ergeben. Noch ein Aspekt ist auffällig: Vor gut einem Jahr Doch jedes Scheitern der Reformpolitik in Osteu- waren die Regierungsparteien partout nicht bereit, ropa wird entweder zur Stärkung der Ex-Kommuni- über die Anpassung des Grundgesetzes an die neue sten oder der antiwestlichen Nationalisten oder sogar Lage in Deutschland zu diskutieren. Heute ist in der zu einer Verbindung beider führen. Westeuropa muß öffentlichen Debatte die Union mit ihrer Forderung Osteuropa die Hand reichen, wirtschaftlich wie poli- nach Änderung des Grundgesetzes am lautesten zu tisch, wenn nicht der ganze Kontinent in einen Ab- hören; sie vertritt Vorstellungen, die eine Einschrän- grund von Gewalt und Elend hinabgezogen werden kung der Verfassung bezwecken. Es ist schon auf- soll. Ich denke, daß wir Bürgerrechtler aus der DDR schlußreich, an welchen Stellen das unantastbare hier eine wichtige Vermittlungsfunktion wahrnehmen Grundgesetz jetzt beschnitten werden soll: zur Ein- könnten. schränkung des Asylrechts und zur Ausdehnung des Auftrags der Bundeswehr um mögliche Out-of-area- Meine Damen und Herren, auch aus diesem Grund Einsätze. plädieren wir für eine rasche Erweiterung der Euro- Ausgerechnet die, die vor kurzem das Grundgesetz päischen Gemeinschaft um die beitrittswilligen Staa- ten Ost- und Mitteleuropas. Eine so, wie es ist, ohne Wenn und Aber, für sich reklamiert gesamteuropäische Gemeinschaft haben, wollen jetzt die Substanz eben dieses Grund- muß in der Lage sein, unterschiedliche Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme zu integrieren gesetzes aushöhlen. Muß ich, Jahrgang '50 und in der — jedenfalls besser, als dies die EG bisher vermochte. DDR geboren, Sie darauf aufmerksam machen, daß Die Beitrittsfähigkeit darf nicht danach beurteilt wer- uns unsere Geschichte dazu gebracht hat, das Recht den, ob ein Land bereits alle Standards des EG-Bin- der Verfolgten, bei uns Zuflucht zu finden, ohne Ein- nenmarktes erfüllt. Die ostmitteleuropäischen Länder schränkung zu garantieren? Im Art. 16 des Grundge- setzes steht das geschrieben. Niemand sollte dieses dürfen nicht erneut auf unabsehbare Zeit von den Recht unter Vorbehalt stellen. Glücklicherweise steht europäischen Entscheidungsprozessen ausgeschlos- sen werden. dem eine Mehrheit, eine Sperrmajorität, entgegen. Ich könnte zu diesen qualitativen Mehrheitsver- Meine Damen und Herren, die Ereignisse in Jugo- hältnissen noch weitere Beispiele anfügen. Machen slawien, die Unstimmigkeit, ja das Versagen der EG Sie selbst die Probe aufs Exempel! Sie werden in die- machen eines deutlich: Es besteht kein Frieden mehr sem Haus eine theoretische Mehrheit für die Einfüh- in Europa, es gibt keinen griffbereiten Friedensplan rung des Tempolimits auf Autobahnen, für eine ent- und auch kein tragfähiges Sicherheitskonzept. Ich schieden schnellere Verringerung der CO2-Emissio- sage das nicht vorwurfsvoll, sondern besorgt. Auch nen, für ein Programm des Sozialen Wohnungsbaus von der Friedensbewegung, die bei anderen Bedro- und und und finden. Diese Bundesregierung hat die hungen auf der Straße war und sich lautstark artiku- Macht, aber sie hat nicht die Kraft, zu einer Politik zu liert hat, ist im Moment nichts zu spüren. finden, die gesellschaftliche Mehrheiten überzeugt. Mit dem Wegfall der Blockkonfrontation ist das poli- (Beifall bei Abgeordneten des Bündnis- tische Koordinatensystem durcheinander geraten. Die ses 90/GRÜNE und der SPD) NATO ringt um ihr Selbstverständnis; Sinn und Legi- timation sollen durch ein Konstrukt belegt werden, Meine Damen und Herren, die Mühen der Deut- das da lautet: Wir stehen vor gefährlichen Risiken, schen Einheit sind ein Kinderspiel gegenüber dem, und wir brauchen eine angemessene Risikoversiche- was an Problemen in Osteuropa entsteht. Nachhaltig rung. Die NATO sei eine wichtige Versicherungspo- drängen die Länder Ostmitteleuropas auf eine rasche lice, die man nicht einfach wegwerfen könne. Sie Einbeziehung in die Europäische Gemeinschaft. Sie möchte eine Überlebensgarantie. Dabei steht sie einer schauen dabei in besonderer Weise auf Deutschland, gesamteuropäischen Friedensordnung eher im das für sie in mancher Hinsicht die Brücke nach Eu- Wege. ropa darstellt. Die Öffnung der EG nach Osten liegt auch im Interesse Ostdeutschlands, das von der wirt- Historische Chance und Aufgabe lauten doch, daß schaftlichen Umstrukturierung doppelt betroffen ist, bestehende sicherheitspolitische Institutionen entmi- weil damit der Wegfall der Wirtschaftsverflechtungen litarisiert und daß bestehende Organisationen nicht 5002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Werner Schulz (Berlin) militarisiert werden — wie etwa die EG, die bei aller ches. Wir sollten uns dem Wohl unserer Bürgerinnen Kritik eine zivile Großmacht ist. und Bürger verpflichtet fühlen und unseren Grips zu- sammennehmen. Was getan werden muß und getan Allerdings sollten wir die fromme Formel der Nicht- werden kann, ist nur durch schonungslose Offenle- einmischung in die inneren Angelegenheiten souve- gung der Tatsachen, durch , gemeinsame räner Staaten aufgeben. Was heißt denn „souverän" Analyse, gemeinsame Arbeit zu leisten. Nur das wird oder gar „friedliche Koexistenz", wenn in einem Land die so dringend erforderliche Aktivität auch im Osten, Mord und Totschlag herrschen? Wir brauchen neue wo noch so viel Lethargie herrscht, freisetzen. Es darf Instrumente zur Verteidigung der Menschenrechte, nicht so sein, daß sich dieser schlechte Witz bewahr- eine Strategie der nichtmilitärischen Konfliktbewäl- heitet, wonach sich die Ossis beim Bundeskanzler Einen solchen Auftrag möchte ich dem Herrn tigung. darüber beschwerden, er hätte sein Versprechen ge- Bundeskanzler ins Gepäck für seine Reise nach brochen, und er ihnen entgegnet: Macht nichts; Ihr Maastricht legen. Das ist die Herausforderung eines bekommt ein neues. zivilen Europa. Hier muß sich die Autorität des verein- ten Europas, der Politischen Union zeigen; denn (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der Gnade uns Gott, wenn sich das in der Sowjetunion SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von wiederholt, was jetzt in Jugoslawien geschieht. Wenn der CDU/CSU: Toll!) die Abnabelung der Unionsrepubliken, der Reform- prozeß nicht f riedlich verlaufen, dann wird der Bür- gerkrieg in Jugoslawien wie ein Hausbrand im Ver- gleich zu einem Feuer in einem Atommeiler erschei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nen. hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. Da hilft Ihre Kanonenlöschbootdiplomatie nicht weiter, Herr Schäuble, wie unlängst vor der Jungen Union geäußert. Das waren todsicher die falschen Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Worte am rechten Platz. Wir haben weder in Kuwait, Meine Damen und Herren! Diese Debatte soll sich ja in Jugoslawien noch sonstwo etwas verloren, können generell mit der Politik der Bundesregierung ausein- nur den mehr oder minder guten Ruf Deutschlands, andersetzen. Nun haben zunächst alle am Anfang den den guten Ruf der Bundesrepublik verlieren, haben neuen Fraktionsvorsitzenden gratuliert. Ich habe das aber nichts zu gewinnen außer Schrammen am Helm persönlich getan, und ich wiederhole das hier auch. — es sei denn, er ist blau oder grün und ihn schmückt Ich will es aber nicht weiter ausdehnen, um deren Ruf das UNO-Friedensmandat. nicht unnötig zu schädigen. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das war (Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Nils Diede jetzt Quatsch gut formuliert! — Gegenruf des rich [Berlin] [SPD]: Der hat Humor, der Abg. Norbert Gansel [SPD]: Sehr vernünfti- Mann!) ger Quatsch! Sie haben nicht genau zuge- Ich nehme ja darauf auch Rücksicht, füge allerdings hört!) eines hinzu: Wissen Sie, ich habe es in meiner An- Wir sollten vielmehr mit Nachdruck dafür sorgen, daß waltspraxis nicht selten erlebt, daß Staatsanwälte und Europa endlich bereit ist, die Kosten eines Ölembar- Richter versucht haben, mir das Wort zu entziehen, gos gegen die jugoslawischen Konfliktparteien zu tra- und daß sie gesagt haben, ich solle lieber schwei- gen, anstatt unverdrossen über militärische Eingreif- gen. truppen zu schwadronieren. (Zuruf von der FDP) (Beifall bei dem Bündnis 90/GRÜNE und der — Wenn Sie das richtig finden, dann zeigt das Ihre SPD) Einstellung zum damaligen Rechtssystem in der DDR. — Wir sollten Deserteuren Friedensasyl anbieten und so den Kampf der jugoslawischen Mütter unterstützen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE) (Beifall des Abg. Konrad Weiß [Berlin] Wenn ich das heute wieder aus dem Munde eines [Bündnis 90/GRÜNE]) Fraktionsvorsitzenden höre, dann macht mich das Meine Damen und Herren, in Anbetracht meiner schon hinsichtlich der Parallelität ziemlich stutzig. Ich geringen Redezeit will ich mich jetzt kurz fassen. sage Ihnen deutlich, daß ich es mir nicht bieten lasse, ganz abgesehen davon, daß der Zwischenruf gar nicht Keinesfalls! Für (Zurufe von der CDU/CSU: von mir kam. Aber diese Art von Sachirrtümern bin ich die Zuhörer war es schon zu lange!) gewöhnt, und ich bin ja auch bereit, das auf mich zu — Für Sie mag das zu lang sein. Ich hätte Ihnen noch nehmen. vieles zu sagen, wenn Sie aufmerksamer zuhören Was die Außenpolitik der Bundesregierung be- würden. trifft, so mache ich mir sehr wohl Sorgen, daß es in der (Zurufe von der CDU/CSU) - Koalition nach wie vor Kräfte gibt, die weniger ein Es sind die großen Probleme, vor denen wir stehen Miteinander in Europa und in der Welt als vielmehr und die ich hier jetzt abschließend gar nicht mehr eine Vormachtstellung anstreben. Hier können auch behandeln kann. Aber ich will Ihnen sagen, daß keine schon kleine Gesten große Mißverständnisse auslö- Partei in solch einer schwierigen Situation, in der wir sen. Ich mache mir z. B. Sorgen, wenn der Kanzler den uns jetzt befinden, komplette Instantlösungen parat russischen Präsidenten ans Mikrophon schubst, damit hat. Die Situation erfordert von uns Außergewöhnli er eine von ihm gewünschte Erklärung abgibt. So geht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5003

Dr. Gregor Gysi man eigentlich mit Präsidenten anderer Länder nicht Zwangsdienste nachzudenken. Ich glaube, auch das um. würde zu einer Abrüstungspolitik gehören. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) In diesem Zusammenhang kommt man natürlich Ich füge hinzu: Mir fehlt das wirklich neue Denken auch nicht umhin, zu der leidigen Debatte zum Thema auch in der Außenpolitik. Was wäre denn jetzt erfor- Asyl und überhaupt zur Politik in bezug auf unsere derlich? Erforderlich wäre eine Stärkung und eine ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Stel- Demokratisierung der UNO, des KSZE-Prozesses, des lung zu nehmen. Nachdem diese Debatte im Sommer Europäischen Parlaments und eine Beendigung der durch Vertreter der Regierungskoalition ausgelöst Blockade bei der Aufnahme in die Europäischen Ge- worden ist und wir es seit Herbst mit einer Welle von meinschaften. Wer wirklich europäische Einigung Gewalt gegen Heime sogenannter Asylantinnen und will, muß auch Osteuropa und die entsprechenden Asylanten, gegen Ausländerheime, und mit Ang riffen Teile Südeuropas einbeziehen. Ansonsten sollte er auf einzelne Ausländerinnen und Ausländer zu tun gleich sagen, daß es ihm nur um eine Integration haben, hätte ich gehofft, daß sich diejenigen, die diese Westeuropas und eine Abschottung Westeuropas ge- Kampagne inszeniert haben, wenigstens erschrecken, genüber anderen Teilen Europas und der Welt geht. daß sie sehen, was sie mit ange richtet haben, und danach Zurückhaltung üben. Aber nein, es werden Ich frage mich eigentlich, wieso die NATO-Politik die gleichen Formulierungen weiter benutzt, als wäre wie bisher fortgesetzt wird, als ob sich in dieser Welt in diesem Land nichts passiert. Diese schlimmen nichts geändert hätte. Der Warschauer Vertrag ist auf- Worte von „Scheinasylanten", „Wirtschaftsflüchtlin- gelöst, und es wird dennoch nicht über konsequente gen", „SPD-Asylanten" werden immer noch benutzt, Abrüstung nachgedacht. Statt dessen soll zusätzlich und das, wie gesagt, in einer Art und Weise, die eine europäische Eingreiftruppe im Rahmen der WEU Rechtsradikale nur aufmuntern kann. Es ist eben ein geschaffen werden, und das heißt nach deutschen riesiges Problem, wenn ich denen sage: „Wir sind uns Vorstellungen wohl: an der Seite der EG; d. h. die doch im Ziel einig, die sollen fast alle weg, nur in der Europäischen Gemeinschaften sollen auch noch mili- Methode unterscheiden wir uns. " Das ist zuviel an tarisiert werden. Ich frage mich, wozu dieser Ausbau Übereinstimmung. eigentlich gut sein soll, woher man eigentlich das neue Feindbild gewinnen will, das doch eigentlich Ich füge hinzu, daß hier auch mit Zahlen jongliert restlos zerstört sein müßte. wird. 200 000 Anträge wird es in diesem Jahr geben. In diesem Jahr sind auch 200 000 sogenannte Über- Ich betone allerdings, daß ich dem Bundeskanzler siedler gekommen. Die Industrie hat in diesem Jahr und der Bundesregierung voll zustimme, wenn sie 300 000 Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben. u. a. aus historischen Gründen sagen, daß sich deut- Das wird immer verschwiegen, und es wird so getan, sche Truppen an einem militärischen Einsatz in Ju- als ob mit diesen 200 000 Anträgen fast das gesamte goslawien nicht beteiligen werden. Ich teile dieses wirtschaftliche und soziale Schicksal der Bundesrepu- Argument. Ich teile allerdings nicht das Argument, blik zusammenhinge. Man muß auch einmal sehen, daß es für das Ansehen der Bundesrepublik Deutsch- was in den Vorjahren z. B. an DDR-Bürgern aufge- land wichtig sei, sich künftig auch an militärischen nommen worden ist. Einsätzen zu beteiligen, und daß deshalb auch noch das Grundgesetz geändert werden sollte. Ich glaube, Die Argumente, die Sie benutzen, können Sie doch darauf können die anderen Völker und kann auch nicht ernsthaft an Nationalität binden. Ist es nun sozial unser Volk ganz gut verzichten. möglich, ist es wohnungspolitisch möglich, oder ist das alles nicht möglich? Sie können doch nicht sagen: In diesem Zusammenhang möchte ich zum Haus- „Das ist möglich, wenn es ein Deutscher ist, halt zurückkommen und auch ein Wort zur Rüstungs- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Doch!) politik in diesem Land sagen. 52,5 Milliarden DM sol- len für Rüstung und Militär im kommenden Jahr aus- aber es ist völlig unmöglich, wenn es eine Ausländerin gegeben werden. Das ist eine Reduzierung um 0,06 %. oder ein Ausländer ist. " Das sagt dann nämlich etwas Ich möchte gerne darauf hinweisen, weil es deutlich über Ihre Einstellung. macht, daß hier auch keine Veränderung in der Politik eingetreten ist. Ich begreife es einfach nicht, daß, (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe nachdem sogar sozusagen der direkte Gegner DDR von der CDU/CSU) weggefallen ist, hier nicht eine konsequente Abrü- —Wissen Sie, die Posse in bezug auf die Auslieferung stung möglich sein sollte. Mindestens 10 Milliarden von Honecker wollen wir heute lieber nicht aufwär- DM könnten eingespart werden. Die Hälfte davon men; dazu könnte ich Ihnen auch einiges sagen. könnte für Konversion und für soziale Absicherung zu entlassender Berufssoldaten ausgegeben werden; die (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Bitte, sa andere Hälfte stünde dann wirklich für soziale und gen Sie es einmal! — Dr. Renate Hellwig andere Zwecke zur Verfügung. Solange so viel Geld [CDU/CSU]: Was ist denn Ihre Meinung für Rüstung ausgegeben wird, ist z. B. in der Sozial- dazu? Das würde mich interessieren!) - politik Mittelknappheit für mich kein Argument. Das — Meine Zeit ist zu begrenzt. Ich sage Ihnen dazu möchte ich deutlich betonen. schon noch etwas. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Zuruf von der CDU/CSU) Ich finde, daß es auch an der Zeit wäre, einmal über — Das ist doch nicht mein Problem. Ich habe kein die Abschaffung der Wehrpflicht und anderer Staatsbankett für Herrn Honecker gegeben. Ich habe 5004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Gregor Gysi überhaupt nie in meinem Leben mit ihm persönlich wenden würden, wir wären schon wesentlich wei- gesprochen, weder telefoniert noch anders. ter. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie des (Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Abg. Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/ Bündnis 90/GRÜNE) GRÜNE]) Ich sage Ihnen auch, daß die ganzen Diskussionen Ich weiß nicht, ob Sie ihm damals beim Abendessen in diesem Zusammenhang um die Änderung des gesagt haben, als Sie die Wiedervereinigung in Ihrer Art. 16 des Grundgesetzes nicht nur am falschen Tischrede forderten, Herr Bundeskanzler: „Natürlich Punkt ansetzen. Das Schlimmste daran ist, daß damit werden Sie anschließend sofort eingelocht, und Ihre Illusionen geweckt werden. Denn sie versuchen, den Grenzsoldaten gleich mit." Ich habe meine Zweifel, Eindruck zu erwecken, als ob mit einer solchen daß Sie ihm das damals gesagt haben. Das hätte dann Grundgesetzänderung die Probleme, die damit in Zu- aber zur Ehrlichkeit dazugehört. sammenhang stehen, auch nur irgendwie gelöst wer- den könnten. (Heiterkeit und Beifall bei der PDS/Linke Li- Ich füge hinzu: Ich bedaure, daß es Ihnen gelungen ste und dem Bündnis 90/GRÜNE — Gerhard ist, die SPD so an die Wand zu drücken, daß sie Ihren O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber Sie haben Vorstellungen zur Beschleunigung der Asylverfahren, sein Erbe angetreten!) zu Sammellagern etc. wesentlich nähergekommen ist Inzwischen passiert folgendes. Inzwischen mar- und zum Teil auch zugestimmt hat. Das ist genau alles schiert in Halbe am Volkstrauertag zunächst die Bun- das, was wir in den Auseinandersetzungen in dieser deswehr auf den Friedhof. Da liegen schon Kränze mit Frage nicht benötigen. SS-Runen, es steht auch ein SS-Pappdenkmal da, das Ich bin — im Unterschied zum Bündnis 90/GRÜNE wird nicht beseitigt. — ganz und gar gegen Quotierungen, solange nicht (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Wo?) eine Grundvoraussetzung erfüllt ist: Die Bundesrepu- blik Deutschland nimmt für jede D-Mark, die sie in die — In Halbe, auf dem Friedhof. — Nachdem die Bun- Dritte Welt schickt, immer noch 3 DM ein. Solange das deswehr abfährt — das werfe ich ihr jetzt nicht mehr Verhältnis nicht endlich umgekehrt ist, solange wir vor — , kommen ganze Schwadronen von Neonazis nicht wirksam etwas gegen Elend und Hunger in der mit SA-Hemden, mit SS-Abzeichen, halten eine Dritten Welt tun, dürfen wir uns nicht wundern, daß Stunde lang Reden, ein einziger Polizist erscheint. Bis- dieses Elend und dieser Hunger an unsere Türen her ist kein einziges Ermittlungsverfahren eingeleitet klopfen. Dann auch noch die Türen zu schließen, das worden. Es waren volksverhetzende Reden schlimm- ist eine Arroganz des Wohlstandes, die uns nicht nur ster Natur. Ich konnte mir einen Zwei-Stunden-Film schlecht ansteht, sondern die unsere Existenz gefähr- ansehen, in dem das alles aufgezeichnet ist. Man den kann, wenn wir uns mit diesen Widersprüchen kriegt das kalte Grauen und Gruseln. Keine Reaktion nicht ernsthaft auseinandersetzen und versuchen, sie seitens der Bundesregierung, keine Maßnahmen wer- zu lösen. den eingeleitet. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von (Zuruf von der CDU/CSU: Durch die Ju- der CDU/CSU: Das war eine falsche Aus- stiz!) sage!) — Auch durch die Justiz nicht. — Das muß doch so Ich habe heute das erste Mal vom Fraktionsvorsit- verstanden werden, daß diese nationalistischen und zenden der CDU/CSU gehört, daß Sie sich auf die neonazistischen Tendenzen hier toleriert werden. deutsche Einheit gut vorbereitet hatten. Ich muß ja sagen: Bisher hatte ich vieles entschuldigt, weil ich (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wo dachte, Sie seien nicht darauf vorbereitet gewesen. war das?) Wenn ich jetzt aber mitbekomme, daß Sie sich darauf — In Halbe, sagte ich schon. gut vorbereitet haben, und sehe, daß das herausge- kommen ist, was wir gegenwärtig in den neuen Bun- (Zuruf von der CDU/CSU: In welchem Bun- desländern erleben, müssen meine Vorwürfe doch an desland?) Schärfe gewinnen. — Die trafen sich dort aus allen Bundesländern zu Ich sage Ihnen: Das Schlimmste an der Krise in den dieser Aktion. Nein, nein, das bekommen Sie nicht neuen Bundesländern ist, daß die Bundesregierung hin, das ist zu billig. nicht einmal zur Kenntnis nehmen will, daß es diese Ich sage Ihnen noch etwas. Das Problem besteht Krise gibt. Deshalb kann sie nämlich auch keine Kon- u. a. darin, daß auch die Justiz so einäugig reagiert. zepte gegen sie entwickeln. Die Treuhandanstalt und die Unabhängige Kommis- Statt dessen hören wir hier permanente Beschöni- sion lassen sich z. B. zur administrativen Vernichtung gungen, Lobhudeleien und permanentes Leugnen der PDS jeden Tag etwas Neues einfallen, der Senat in von Tatsachen. Sicherlich gibt es in den neuen Bun- West-Berlin, besser gesagt: jetzt in Berlin tagt die- desländern im Vergleich zu der Zeit vor dem Herbst ganze Zeit über die Frage, ob eine Richterin, der man 1989 ein deutliches Mehr an Demokratie, an politi- nichts vorwerfen kann, von der man aber annimmt, schen Freiheiten und an vielem anderen. daß sie in der PDS sein könnte, dieses Amt tatsächlich Aber das gab es auch schon ausüben kann. Da werden irrsinnige Aktivitäten ent- faltet. Wenn Sie nur ein bißchen dieses Ideenreich- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jetzt tums im Kampf gegen den Rechtsradikalismus an kommt es!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5005

Dr. Gregor Gysi in der Zeit vor der Einheit 1990, z. B. seit der Wahl vom hinweise — Herr Schulz, ich muß Sie korrigieren; Sie 18. März 1990. Aber jetzt ist eine soziale, eine wirt- haben das ausgelassen — , daß auch die PDS/Linke schaftliche , eine psychische Verunsicherung einge- Liste einen Treuhandgesetzentwurf im Mai 1991 ein- treten, die nicht so ohne weiteres zu steuern ist. Nicht gereicht hat. Auch der steht zur Verfügung, wenn es wenige Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bun- endlich um die Realisierung einer neuen Treuhand- desländern haben den Eindruck, daß Sie hier dachten, politik geht. Sie bekämen ein riesiges Ter ritorium, viele Immobi- lien. Plötzlich sind auch noch 16 Millionen Menschen Das Problem besteht zum einen darin, daß die Treu- dabei, die würgen; mit denen kann man irgendwie hand nicht transparent arbeitet. Auf eine Frage von schlecht umgehen. Aber die haben sie eben auch be- mir hat ein leitender Mitarbeiter der Treuhandanstalt kommen. Für die müssen Lösungen gefunden wer- gesagt: Man redet doch als Eigentümer nicht über den, die nicht in Sicht sind. Kaufpreise, die man erzielt. Dabei vergißt er nur, daß die Eigentümer die Bürgerinnen und Bürger der Sie sprechen von Aufschwung. Sie malen eine reine neuen Bundesländer sind, und diese haben sehr wohl Idylle für die Zukunft aus. Künftig soll das dort der einen Anspruch, zu erfahren, für welches Geld was modernste Standort werden. Mit den gegenwärtigen verscherbelt wird. Realitäten hat das nichts zu tun. Sie dürfen nicht ver- gessen: Sie stoßen dort auf eine Bevölkerung, die jahr- Durch die Art der Währungsunion zahlt die Treu- zehntelang Schönfärberei hinter sich hat. Sie wollte handanstalt genauso viel für Zinsen wie für die Sanie- jetzt eigentlich mit der Wahrheit konfrontiert werden rung. Rund 10 Milliarden DM verdienen die Banken und nicht wieder mit falschen Versprechungen. jährlich an der künstlichen Verschuldung ehemaliger Lange Zeit sprach die Bundesregierung z. B. von DDR-Staatsunternehmen. Wann werden denn nun einem zweiten Wirtschaftswunder und knüpfte an die endlich die sanierungsfähigen Bet riebe entschuldet? Währungsreform von 1948 an. Ich darf aber sagen, Wann wird endlich eine Sanierungs- und Struktur- daß damals eine ganz andere Methode angewandt politik eingeleitet? Wann endlich geht man in erster wurde, nämlich die vorhandenen Kapazitäten effi- Linie von den Interessen der Menschen und nicht eini- zienter zu nutzen und die Arbeitsplätze produktiver ger Wirtschaftsmanager aus? zu nutzen. Heute werden aber die vorhandenen Kapa- Nicht unbedeutende Mittel werden in die Umschu- zitäten und die Arbeitsplätze zerstört. Schon deshalb lung oder Fortbildung gesteckt. Ich beziehe mich hier ist die Politik heute wesentlich schlechter als die von auf das Untersuchungsergebnis des Instituts für ange- damals. Kapazitäten werden brach- und stillgelegt; wandte Wirtschaftsforschung der Ruhr-Universität die Menschen sind arbeitslos oder unter verschiede- Bochum. Diese Umschulungen enthalten massenhaft nen anderen Bezeichnungen ohne Beschäftigung. Ausbildungen über allgemeine Bet riebs- und Volks- Die Bundesregierung setzt diesmal in der Frage der wirtschaftslehre. Man schickt Studenten und Rentner Ankurbelung der Wirtschaft passiv und einseitig auf als Kursleiter in den Osten. Selbst wer als Weiterbilder die Kräfte des Marktes. Diese Kräfte wirken aber nicht im Westen nie etwas hätte werden können, verdient von allein zugunsten eines Aufschwungs in den neuen sich im Osten eine goldene Nase mit Gemeinplätzen Bundesländern. über Marktwirtschaft. Die Kosten tragen die Steuer- zahlerinnen und Steuerzahler. Eine wirkliche Erwei- Die Gelder der Steuerzahler müssen beträchtlich für terung des Fachwissens findet nicht statt. soziale Zwecke eingesetzt werden, obwohl sie viel günstiger zur Finanzierung von Arbeit eingesetzt wer- Ein Hauptproblem ist natürlich die technische Er- den könnten. neuerung. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Die Gelder der eine technische Erneuerung erreichen wollen, wenn SED!) Sie gleichzeitig die Kapazitäten zur wissenschaftlich technischen Innovation permanent schließen, sowohl Wir sind für diese soziale Sicherung. Aber ich füge in den Betrieben als auch in den Universitäten, Aka- hinzu: Es ist an der Zeit, etwas gegen die Ursachen der demien und Hochschulen. Woher soll denn dann dort Massenarbeitslosigkeit zu tun. Die alleinige Finanzie- der technische Fortschritt kommen? Ich glaube, daß rung der sozialen Mindestsicherung der Arbeitslosig- Sie ihn gar nicht wollen. keit kann nicht als sozial angesehen werden, wenn eine soziale Grundforderung, nämlich das Recht auf Wir können es auch ganz konkret machen, z. B. was Arbeit, nicht gewährleistet wird. die Stahlproduktion in Hennigsdorf betrifft. Es gab Besonders schlimm ist die Lage für Ältere und für zwei Angebote: ein Angebot der Firma Riva und ein Frauen. Die Arbeitslosenquote der Frauen liegt we- Angebot eines deutschen Konsortiums bestehend aus sentlich höher als die der Männer. Alleinerziehende, Badischen Stahlwerken, Saarstahl und Thyssen Stahl die ihr persönliches Leben unter Bedingungen gestal- AG. Unabhängige Wirtschaftsprüfer sind bei der Be- ten, die materiell eine gleichberechtigte Teilnahme wertung der beiden Angebote darauf gekommen, daß am Leben stützen, sehen sich jetzt sozialen Zwängen das deutsche Konsortium Vollzeitarbeitsplätze in we- sentlich größerem Umfange anbietet und außerdem ausgesetzt. Die PDS/Linke Liste geht davon aus, daß- die Möglichkeit, durch Arbeit sein Leben selbst zu Schulden übernehmen und dann noch 14 Millionen gestalten, ein Grunderfordernis einer demokratischen DM mehr an Kaufpreis zahlen will. Genau dieses An- Gesellschaft, ja, der Emanzipation des Menschen gebot wird abgelehnt. ist. Aber wenn man das nun schon ablehnt, dann bleibt Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch eine ganz wichtige Frage: Bekommt die neue Be- etwas zur Treuhandpolitik sagen, wobei ich darauf schäftigungsgesellschaft, die 8 000 Beschäftigte über- 5006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Gregor Gysi nehmen soll, weil nur 2 000 weiterbeschäftigt werden zialhilfeempfänger geworden ; 70 % sind es in den sollen, das Gelände, das für den Industriestandort alten Bundesländern. nicht benötigt wird? Hat sie eine Möglichkeit, den Ich glaube, wir brauchen auch eine Änderung des Bewerbern für dieses Gelände zu sagen: Ihr könnt das Rentenrechts. Erstens muß das politische Strafrecht zwar erwerben, aber unter der Bedingung, daß so- aus dem Rentenrecht wieder verschwinden, und zwei- undso viele unserer Beschäftigten übernommen wer- tens brauchen wir Ehrlichkeit bei der Benennung von den?, oder bekommt sie diese Möglichkeit nicht? Es Erhöhungen. Sie müssen doch den Rentnerinnen und wäre eine neue Treuhandpolitik, wenn diese Beschäf- Rentnern in den neuen Bundesländern, wenn Sie von tigungsgesellschaft das Recht bekäme, über den Rentenerhöhungen sprechen, auch sagen, daß jene, Grund und Boden im Interesse der Beschäftigten zu die einen höheren Zahlbetrag haben, überhaupt verfügen, statt daß hier wieder eine Splittung stattfin- keine Erhöhung bekommen, sondern daß dann der det, daß die Beschäftigungsgesellschaft nichts in der Betrag gleichbleibt. Hand hat und nur betteln kann, während die Treu- handanstalt die Immobilien, den Grund und Boden Ich glaube, wir benötigen auch dringend eine Min- meistbietend verkauft, ohne sich um die Arbeitskräfte destrente. Außerdem müssen wir uns auf eine soziale zu kümmern. Grundsicherung zubewegen. Insgesamt sind für uns wichtige Reformschritte in Es gibt kaum einen Tag, an dem nicht eine neue Richtung einer sozialen Sicherung: die Einführung Skandalgeschichte über die Treuhandanstalt verbrei- einer bedarfsorientierten bundesfinanzierten Min- tet wird. Ich sage nur: Unsere Zentrag hat einen Mit- destsicherung für die Arbeitslosen- und Rentenversi- arbeiter bekommen, der einen Tag später abgelöst cherung, die Durchsetzung des Rechts auf Wohnraum werden mußte — er sollte dort eigentlich Ordnung und des Rechts auf Zugang zu für die Eltern bezahl- schaffen — , weil er nach mehreren eidesstattlichen baren Kinderbetreuungseinrichtungen, die Verlänge- Versicherungen für jedes Geschäft bisher Provisionen rung der Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung genommen haben soll. Das ist auch gar nicht verwun- und die Verkürzung von Warte- und Vorversiche- derlich, wenn man sich einmal ansieht, wie der Ver- rungszeiten, die Wiederanhebung der Unterstüt- waltungsrat zum Teil besetzt ist, wie eng hier regie- zungssätze und die stärkere Berücksichtigung von rungsamtliche und wirtschaftliche Interessen mitein- Zeiten der Kindererziehung und -pflege in der Ren- ander verflochten sind. ten- und in der Arbeitslosenversicherung. (Unruhe — Glocke des Präsidenten) Lassen Sie mich noch etwas zur Sozialpolitik sagen. Hier ist seit langem eine grundlegende Änderung er- — Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. forderlich. Sie ist auch mit diesem Haushalt wiederum nicht eingeleitet worden. Die Debatten und die Ver- schleppung der Regelung der Pflegeversicherung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- sind geradezu unwürdig. Ich bin erschreckt, wie man geordneter Gysi, Ihre Redezeit ist noch nicht abgelau- in einem Staat, der sich Sozialstaat nennt, tatsächlich fen. Ich wollte Ihnen nur einen geringeren Geräusch- sagen kann, das Soziale müsse jetzt privatisiert wer- pegel vermitteln; das war meine Absicht. den, wie es der Vorschlag der FDP ist. Ich halte das für einen Anachronismus. Die Wirtschaft wird immer stär- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich bin es ja ker vergesellschaftet, aber die soziale Sicherung soll gewöhnt, daß sich die Regierungskoalition für soziale privatisiert werden. Verbesserungen für die Menschen nicht interessiert; Ich glaube, daß hier eine Schuld der Regierenden das ist sozusagen nichts Neues. gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in Ost und (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Wider West einzulösen ist. Hier kann auch nicht die DDR in spruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der die Verantwortung genommen werden. Es ist ein CDU/CSU: Nehmen Sie sich nicht so Skandal, wie Unternehmerverbände und die FDP aus- wichtig!) gerechnet gegen eine sozialverträgliche Regelung der Worauf ich besonders bestehe, will ich hier deutlich Pflegeversicherung und gegen einen Unternehmer- sagen: Schaffen Sie endlich die unwürdige Bedürftig- beitrag bei Sozialversicherungskonzepten argumen- keitsprüfung bei Sozialhilfeempfängerinnen und So- tieren und aus der sozialen Verantwortung heraustre- zialhilfeempfängern ab! Degradieren Sie diese Men- ten wollen. schen nicht weiterhin, sondern führen Sie endlich eine soziale Grundsicherung ein! Wenn auch die Pflege in der DDR auf sehr geringem materiell-technischem und personellem Niveau gesi- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie des chert wurde, so entsprachen diese Regelungen den- Abg. Dr. Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/ noch einer Sozialleistungspflicht des Staates und GRÜNE]) nahmen den Pflegebedürftigen nicht die Ersparnisse, Ich füge hinzu, daß die Art der Abwicklung in der Vermögen und Einkommen. Nach dem Anschluß der früheren DDR auch zu einem starken Identitätsverlust DDR an die BRD ist für Zehntausende pflegebedürf-- geführt hat. Es ist eine Katastrophe — nicht nur wirt- tige Bürgerinnen und Bürger die plötzliche, bisher schaftlich, sondern auch psychisch und vor allem kul- nicht gekannte finanzielle Belastung, die soziale De- turell — , wenn Jugendklubs, Kulturhäuser, Orchester gradierung und das Gefühl, für Familie und Kinder und Theater geschlossen werden, wenn Künstlerin- eine Last zu werden, ein Alptraum. 98 % der Heimbe- nen und Künstler in Armut geraten, wenn Sie den wohnerinnen und Heimbewohner in den neuen Bun- Menschen sogar das Stückchen Identität nehmen, das desländern sind Sozialhilfeempfängerinnen bzw. So sie durch den neuen Deutschen Fernsehfunk, durch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5007

Dr. Gregor Gysi DT 64, für die Jugend hatten, wenn Sie die Akademie solche Methoden der Begründung von Kollektiv- der Wissenschaften zum Ende des Jahres schließen. schuld in der Lage sind, das Klima dieses Landes zu Alles wird beerdigt, für nichts und wieder nichts. vergiften. Ich bitte Sie, daß wir miteinander hier als Ich füge hinzu: Dann mißbrauchen Sie die Men- Individuen umgehen und uns überlegen, was jeder schen in den neuen Bundesländern auch noch, um getan hat, wozu jeder heute steht, daß wir versuchen, Abbau von Demokratie und Sozialleistungen durch uns hier einander als Individuen zu behandeln. Ich Deregulierung oder durch Justizreformen zu begrün- sehe das als eine Voraussetzung für die politische Kul- den, obwohl diese Pläne längst auf dem Tisch lagen tur an. Ich denke noch heute mit Freude an die Art und und überhaupt nichts mit der Vereinigung der beiden Weise, wie in der letzten der DDR mit- deutschen Staaten zu tun haben. einander umgegangen wurde. Ich empfehle dem Bun- destag das als Vorbild. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Dr. Gysi, jetzt allerdings wäre ich Ihnen dankbar, Abgeordneten der SPD) wenn Sie Ihre Ankündigung von eben wahrmachen würden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- teile ich dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Danke schön, ich Wort. nehme den Hinweis gerne entgegen. Meines Erachtens ist neues Denken tatsächlich er- Herr Präsident! forderlich, auch in der Politik der Bundesregierung, Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht gerade auch für die Menschen in dieser Bundesrepu- erlauben Sie, weil ich unmittelbar nach meinem Vor- blik Deutschland. Beendigen Sie Beschönigung, las- redner spreche, eine knappe Bemerkung. Ich glaube sen wir Realismus und Wahrheit einkehren und ver- nicht, daß es in diesem Hause jemanden gibt, der Kol- gessen wir in der Politik nie, gerade beim Haushalt, lektivschuld behauptet. Das ist völlig undenkbar. Wir, daß es nicht um Zahlen und um Geld, sondern letztlich die Deutschen, haben die Lektionen der Geschichte um das Schicksal einer Vielzahl von Menschen gelernt. Ich finde, wir sollten uns das Gegenteil auch geht! nicht unterstellen. Es gibt keine Kollektivschuld. (Beifall bei der der PDS/Linke Liste) Das Zweite ist — auch das gehört allerdings zu die- sem Bild —, daß man doch bedenken muß, wofür man Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Verantwortung trägt, durch sein eigenes Mittun, Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeord- durch sein eigenes Versagen — ich werde in anderem neten Dr. Heuer. Zusammenhang auf das Thema heute noch zu spre- chen kommen — , und daß man dann vielleicht auch Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- bei der Wortwahl, Herr Abgeordneter, bedenken dent! Meine Damen und Herren! Ich hatte mir erlaubt, muß, ob Zwischenrufe dieser Art, gerade an diesem bei der Rede von Herrn Schäuble den Zwischenruf zu Punkt, angemessen sind, und daß dann möglicher- machen: „Keinem wird es schlechter gehen" , und da- weise Reaktionen erfolgen, die Sie ja verstehen soll- mit Bundeskanzler Kohl aus dem Jahre 1990 zitiert. ten; denn Sie stehen schon, auch mit dem, was Sie Mir wurde daraufhin entgegengehalten, daß ich Ver- politisch hier vertreten, für einen Abschnitt der deut- antwortung für 40 Jahre Totalitarismus trüge und des- schen Geschichte, den die meisten der Deutschen als wegen schweigen müßte. einen unglücklichen Abschnitt bezeichnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Ich trage Verantwortung für das, was ich getan oder FDP sowie Beifall bei Abgeordneten der nicht getan habe. Ich lehne aber den Versuch ab, hier SPD) Kollektivschuld zu begründen. Ich meine, daß das Im übrigen — lassen Sie mich das als Parteivorsit- Reden von Kollektivschuld die politische Kultur dieses zender sagen — bin ich dafür, daß wir uns mit Ihnen Landes und auch des Bundeshauses vergiftet. über diesen Abschnitt auseinandersetzen. Das trägt ( [Quickborn] [CDU/CSU]: zu dessen Klärung für unser Volk bei. Aber dazu ge- Sie sind seit 1948 in der SED! — Weiterer hört eben, daß man nicht wehleidig ist. Ihr Herr Vor- Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt denn sitzender hat eben einen Beweis dafür gebracht, daß Kollektivschuld?) er im Austeilen sehr viel stärker ist, als Sie im Einstek- Ihr Parteifreund Herr Teltschik hat vor kurzem in ken sind. Das ist eine der Erfahrungen, die gemacht der „Zeit" geschrieben, es erfülle ihn mit Zorn, wenn wurden. führende Politiker aus den neuen Bundesländern lapi- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) dar erklärten, sie seien ja nur Mitglieder einer der Meine Damen und Herren, ich denke, Sie haben Blockparteien oder nur Mitglied der FDJ oder dort nur Verständnis dafür, daß auch ich mich, bevor ich mich in untergeordneten Positionen gewesen. dem eigentlichen Thema, der Generalaussprache, zu- (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: wende, angesichts des Wechsels in wichtigen Funk- 44 Jahre SED-Mitglied!) tionen des Hauses mit einem Wort des Dankes und des Das alles sei Kollaboration gewesen. Sie hätten damit Respektes an einzelne Kollegen wende. z. B. das Privileg erworben, zum Studium zugelassen Ich spreche zunächst Sie an, Herr Kollege Dr. Vo- zu werden. — Jeder, der in der DDR studiert hat, wird gel. Wir haben in diesen Jahren von diesem Platz aus damit der Kollaboration beschuldigt. Ich meine, daß oft miteinander die Klingen gekreuzt. Wir haben hef- 5008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl tige Auseinandersetzungen miteinander geführt; wir in Würdigung von Jochen Vogel zum Ausdruck ge- haben gegeneinander kandidiert, und wir haben uns bracht habe, nämlich ungewöhnlich schwierig. Ihre ganz gewiß auch gegenseitig nichts geschenkt. Wir heutige Rede ist ja auch ein Beweis dafür. haben uns — lassen Sie mich das so offen bekennen, wie ich es empfinde, vielleicht auch Sie — eine ganze (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Weile recht schwergetan, uns aneinander zu gewöh- Man muß alle Mitglieder und alle Strömungen in der nen. Das ist aber am Ende doch gelungen. Fraktion unter einen Hut bringen; man muß gleichzei Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Als Sie jetzt — das tig versuchen, seine eigene Identität nicht zu verlieren ist sehr symptomatisch und typisch für Sie — , noch und verleugnen. Wer selbst einmal in solcher Lage bevor Sie aus dem Amt schieden, den Abschiedsbe- war, hat sehr viel Verständnis dafür, selbst wenn er es such bei mir machten, war meine Empfindung die, die dann anschließend kritisiert. ich jetzt hier wiedergeben kann: nämlich daß Jochen (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Vogel in diesen Jahren nicht nur irgendein Parteisol- dat war, sondern versucht hat, mit seinen Möglichkei- Ich wende mich mit einem persönlichen Wort an ten unserer Republik zu dienen. Wir waren oft unter- meinen Freund Wolfgang Schäuble. Bei ihm sage ich schiedlicher Meinung. Aber da ich selbst einmal Vor- ganz einfach: Ich wünsche Ihnen viel Glück und Se- sitzender der Oppositionsfraktion war und insofern gen in diesem neuen Amt. neben Ihnen der einzige Spezialist auf diesem Gebiet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie mit Erfahrung im jetzigen Hause bin, kann ich sehr bei Abgeordneten der SPD) wohl ermessen, was Sie für Ihre Partei und Ihre Frak- tion, aber auch für die Idee der freiheitlichen Demo- Herr Kollege Klose, ich habe, wie viele andere, Ihre kratie geleistet haben. Dafür möchte ich ausdrücklich Rede heute natürlich besonders aufmerksam ange- meinen Respekt bekunden. hört. In der Kürze der Zeit kann ich nicht auf alles eingehen. Aber bei einigen Äußerungen fand ich Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD doch erstaunlich uninformiert; ich will es freundlich so und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Ab- formulieren, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß geordneten der PDS/Linke Liste) Sie schon in der Jungfernrede als Fraktionsvorsitzen- Ich wende mich in einem sehr persönlichen und der solche Äußerungen wider besseres Wissen ge- herzlichen Wort auch an meinen Freund Alfred Dreg- macht haben könnten. ger, den langjährigen Vorsitzenden der CDU/CSU- Zunächst einmal freue ich mich natürlich, daß Sie Fraktion, an einen Mann, der in diesen Jahren einen die Brasilien- und die Chile-Reise freundlich gewür- ganz entscheidenden Beitrag geleistet hat und ohne digt haben. dessen Wirken — das gilt auch für Wolfgang Misch- (Zuruf von der SPD) nick, der zu einem früheren Zeitpunkt sein Amt auf- gegeben hat — die erfolgreiche Regierungspolitik — Herr Kollege, er hat einen anderen Ton angeschla- nach dem 1. Oktober 1982 so nicht möglich gewesen gen. Vielleicht folgen Sie dem Vorsitzenden nach. Das wäre. Sie haben es in der Ihnen eigenen Weise getan, Haus hat einen Gewinn davon, glauben Sie mir. Herr Dregger: loyal, kameradschaftlich, freundschaft- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) lich. Sie haben sich mehr als andere mit Zerrbildern und Feindbildern in der deutschen Politik auseinan- Ich freue mich darüber, daß Sie ein freundliches Wort dersetzen müssen. Wer Sie kennt, weiß, daß Sie in gefunden haben. Nur kann ich zwei Bemerkungen Wirklichkeit eigentlich nichts mit diesen Zerrbildern nicht verstehen. zu tun haben. Sie haben auch im menschlichen Mit- Das erste ist, daß Sie im Zusammenhang mit mei- einander immer wieder das richtige Wort gefunden. nem Eintreten für die Menschenrechte im chileni- Ich darf Ihnen für die Bundesregierung, aber auch schen Parlament das Thema Türkei angesprochen ha- ganz persönlich für diese Unterstützung, Kamerad- ben. Diese Bundesregierung braucht sich in Sachen schaft und Freundschaft und für den Dienst an der Menschenrechte und zu dem, was sie zu diesem Sache sehr herzlich danken. Thema in Ankara immer wieder gesagt hat, keine (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Vorhaltungen machen zu lassen. Der Bundesaußen- Abgeordneten der SPD) minister, der hier vor allem tätig war, und ich können Ihnen ohne weiteres eine ganze Summe von Einzelak- Herr Kollege Klose, ich bin in der glücklichen Lage, tivitäten der Bundesregierung zugunsten kurdischer daß ich in bezug auf Ihre Wahl die richtige Prognose Flüchtlinge, für die Achtung der Menschenrechte abgegeben habe, wie einige Ihrer Kollegen wissen. nennen. Wenn Sie nur einigermaßen aufmerksam die Daraus können Sie entnehmen, wie meine Würdi- verfaßte öffentliche Meinung in der Türkei auch wäh- gung Ihrer bisherigen Arbeit war und ist. Ich kenne rend des Wahlkampfes dort verfolgt hätten, würden Sie noch aus Ihren Jahren als Hamburger Bürgermei- Sie unschwer festgestellt haben, daß wir, die deutsche ster. Ich wünsche Ihnen — im Rahmen dessen, was Bundesregierung, mehr als andere angegriffen wor- meinem Amt, besser gesagt: meinen Ämtern gemäß - den sind mit dem Vorwurf, wir würden uns in innere ist — Erfolg, Angelegenheiten der Türkei einmischen. Das ist ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) nau das Gegenteil dessen, was Sie uns vorhalten. und zwar vor allem auch eine glückliche Hand im Das zweite, was ich nicht verstehen kann, ist, daß Umgang mit den Kollegen aller Fraktionen. Ich Sie uns im Zusammenhang mit dem Thema Ökologie glaube, daß die Rolle des Fraktionsführers der stärk- und tropische Regenwälder Versäumnisse vorwerfen. sten Oppositionsfraktion so ist, wie ich es eben schon Man kann ernsthaft darüber reden, ob nicht die ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5009

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Samte westliche Welt sich zu diesem Thema zu wenig Zu der Wirtschaftsprognose, die Sie abgegeben ha- engagiert hat — etwa auf den Konferenzen der G 7, ben, will ich nichts sagen, weil Sie da hinter meinen der großen Industrienationen, und die begannen nicht Erwartungen zurückgeblieben sind. Ich habe Sie in mit Helmut Kohl, sondern mit Helmut Schmidt. Diese den letzten Jahren und Monaten eigentlich immer als Behauptung kann man durchaus aufstellen und dar- einen Mann erlebt, der weit vor vielen Kollegen aus über diskutieren. Aber wahr ist doch, daß seit Mitte der eigenen Fraktion die Erkennntnis hatte, wie sich der 80er Jahre niemand unter den Regierungschefs die Entwicklung in den neuen Bundesländern wirk- der großen Industrienationen mit größerer Entschie- lich darstellt, übrigens auch in der Gesamtökonomie denheit für dieses Thema eingetreten ist, als gerade unseres Landes. ich es getan habe. Die von mir geführte Bundesregie- Aber das gehört zu dem, was ich schon sagte: Man rung hat den Zusammenhang zwischen ökologischem muß als Oppositionsführer alle Gruppen aus den eige- Handeln und Schuldenerlaß — etwa in afrikanischen nen Reihen hinter sich versammeln. Wenn man viel Ländern — als erste deutlich hervorgehoben. Daß wir Beifall haben will, muß man auch Erklärungen abge- dabei insgesamt noch sehr viel mehr tun müssen, ist ben, von deren Richtigkeit man nicht völlig überzeugt klar. Klar ist auch, daß wir beispielsweise im Kreise ist. Ich sage das so offen, weil es mir ähnlich ging. der G 7 leider Gottes bis zu dieser Stunde noch kei- Meine Situation war noch komplizierter, weil ich dar- neswegs bei allen Partnern den gleichen Erkenntnis- über hinaus noch meine besonderen Erfahrungen als stand haben — und ich bin nicht sicher, ob es uns bis Vorsitzender der gemeinsamen Fraktionen von CDU München im nächsten Juni gelingen wird. Ich nenne und CSU machen durfte. Das fehlt Ihnen; das merkt bewußt das wichtige Land im Fernen Osten, das etwa man auch. beim Verbrauch von tropischen Harthölzern weit über (Beifall bei der CDU/CSU) dem liegt, was die gesamte EG nutzt, und dennoch bisher nicht bereit war, die notwendigen Maßnahmen Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mit zu ergreifen. Das ist leider so. Aber wir können morgen zwei Jahre her, daß ich von diesem Platz aus niemanden zwingen, sondern nur den Versuch unter- das sogenannte Zehn-Punkte-Programm zur Über- nehmen, durch einen mühsamen Prozeß der Überzeu- windung der Teilung Deutschlands und Europas vor- gung dafür zu werben, daß wir unbedingt etwas tun gestellt habe. müssen. Und wir werden es tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) ordneten der FDP) Da wir in einer ungewöhnlich schnellebigen Zeit le- Dritter Punkt. Lieber Herr Klose, daß Sie hier die ben und weil auch viele dabei sind, ihre Politik in die- Pflegeversicherung angemahnt haben, verstehe ich sen zwei Jahren etwas zu vernebeln, ist es wichtig, bei überhaupt nicht. Denn was haben Sie eigentlich ge- der Generalaussprache über den Etat 1992 kurz auf tan? Sie sind seit vielen Jahren im Bundestag. Sie dieses Thema zu sprechen zu kommen; denn vieles waren Bürgermeister von und hatten Sitz von dem, was wir jetzt als Probleme lösen müssen, und und Stimme im Bundesrat. Sie haben zwischen 1969 vieles von dem, was sich jetzt glücklicherweise als und 1982 bei einer gleichermaßen ungünstigen demo- Lösung anbietet, war ja nur möglich, weil die deutsche graphischen Situation in Deutschland, was die Ent- Einheit kam. wicklung des Altersaufbaus bet rifft, die Gelegenheit Damals, in den Tagen und Wochen nach der Öff- gehabt, zu handeln. Sie haben nichts getan. Wenn wir nung der Berliner Mauer und der innerdeutschen uns jetzt vorgenommen haben, in dieser Legislaturpe- Grenze, bot sich uns eine einmalige Chance, und wir riode dieses Thema anzupacken, was notwendig und haben sie genutzt. Seitdem haben sich vorher kaum überfällig ist und ein Stück sozialer Sicherheit und glaubliche Veränderungen ergeben. Ich denke, es Stabilität des Landes gewährleistet, dann brauchen wird Ihnen wie mir gegangen sein: Als in diesen Ta- wir keine Anmahnung, wann wir den Entwurf vorle- gen der erste frei gewählte Präsident Rußlands, Bo ris gen. Wir haben zugesagt, daß wir es in dieser Pe riode Jelzin, bei uns war, als wir die Fahne Rußlands sahen erledigen, und wir werden es erledigen. Wir haben und die Hymne Rußlands hörten, haben wir gespürt, darüber eine Diskussion. Es ist die normalste Sache welch eine im Wortsinne säkulare Veränderung sich der Welt, daß man sich in einer so schwierigen, in die ergeben hat. Generationen, die nach uns kommen, hineinwirken- den Frage vernünftigerweise berät. Ich habe vor zwei Jahren an dieser Stelle erklärt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließ- lich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß Daß wir so vorgehen, halte ich für selbstverständ- aber die Einheit kommen wird, wenn die Men- lich. schen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich Vierter Punkt, und da haben Sie unsere volle Zu- sicher. stimmung. Sie haben ein freundliches, gutes und er- Ich sagte dann: mutigendes Wort für die Polizei gefunden. Herr Ab-- geordneter Klose aus Hamburg, ich hätte mir ge- Die Wiedervereinigung, d. h. die Wiedergewin- wünscht, daß Sie das in Hamburg in bezug auf den nung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt Einsatz von Polizeibeamten in der Hafenstraße auch das politische Ziel der Bundesregierung. einmal so deutlich sagen würden. Ich kann nur sagen: Wir haben dieses Ziel erreicht, und wir sind dankbar dafür. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Meine Damen und Herren, ein Teil unseres Pro- ten Deutschland, zwischen denen aus der früheren blems, wenn wir — durchaus auch mit unterschiedli- DDR, den neuen Bundesländern, wie wir jetzt sagen, cher Meinung — über die Entwicklung und die Lage und denen aus der alten Bundesrepublik. in den neuen Bundesländern diskutieren, besteht darin, daß sich nicht wenige im Lager der Opposition 40 Jahre Trennung, das bedeutet weit mehr, als einfach nicht mehr daran erinnern lassen wollen, daß diese Zahl aussagt; das waren gleichsam zwei Welten, sie in ihrer geschichtlichen Einschätzung völlig neben eine Trennung bis in die Beg rifflichkeit und den per- der Entwicklung lagen. Wie soll der Ministerpräsident sönlichen Erfahrungsschatz hinein. Wenn wir jetzt in eines Bundeslandes heute völlig unbefangen über die einem dramatischen Umbruch den Weg nach Europa Fragen der Leistungen, auch im Materiellen, für die gehen, wenn wir jetzt vor dem Maastricht-Gipfel ste- neuen Bundesländer diskutieren, wenn er — wie Herr hen — ich will gleich darüber sprechen — , dann Schröder — noch im September 1989 erklärte, eine macht es natürlich einen Unterschied, ob man wie ich auf Wiedervereinigung gerichtete Politik sei reaktio- vom Rhein kommt, ob man in seiner Heimat, in der när und hochgradig gefährlich? Pfalz, die Aussöhnung von Deutschland und Frank- reich erlebt hat, förmlich hineingeboren wurde in das, Ich sage dies nicht, um jetzt bei Herrn Schröder was mit Namen wie , Robert Schu- nachzukarten, sondern ich sage das nur, weil die Un- man und anderen verbunden ist, oder ob man in befangenheit fehlt, jetzt einfach aufeinander zuzuge- Rostock gelebt hat, über Jahrzehnte hinweg durch hen — etwa zwischen Bund und Ländern — und das eine Propaganda beeinflußt, wonach dieses zusam- Notwendige zu tun. Herr Farthmann hat Ihnen dann menwachsende Europa eine Institution des Wirt- ja auch ins Stammbuch geschrieben — als langjähri- schaftskapitalismus zur Ausbeutung der Massen sein ger Vorsitzender der SPD-Fraktion im nordrhein werde. westfälischen kennt er seine SPD — , er sei traurig und schockiert darüber, daß viele seiner Par- Wir müssen aufeinander zugehen. Wer das Glück teifreunde so kühl und distanziert gegenüber dem hatte, im Westen geboren zu sein und zu leben, hat, deutschen Einigungsprozeß blieben. wie ich finde, die Aufgabe und die Pflicht, das größere Deswegen, so finde ich, müssen wir mit der Ge- Wegstück zurückzulegen. Wir müssen lernen, besser schichte leben, die wir zu vertreten haben, und Sie mit zuzuhören. Wir müssen aber auch entschieden wider- der Ihren, auch in den letzten Jahren. sprechen, wenn beispielsweise -- wie jetzt wieder; auch heute war manches hier im Saal zu hören — die Es ist einfach nicht wahr, daß vor der deutschen Soziale Marktwirtschaft diffamiert wird und der Ver- Einheit über die Opfer und über das, was auf uns such unternommen wird, das verbrecherische SED- zukommen würde, nicht gesprochen wurde. Die Fama Regime von Schuld freizuwaschen und diejenigen, wird zwar immer wieder verbreitet — der Sprecher die jetzt den Konkurs ausbaden müssen, schuldig zu der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE hat es eben wieder sprechen. Das ist nur eines der Beispiele. getan —, aber es ist einfach nicht die Wahrheit. Wir alle waren uns doch darüber im klaren und haben es Beim Umgang mit der Vergangenheit im SED-Re- in vielen Reden gesagt — der eine mehr, der andere gime müssen die Deutschen im Westen die notwen- weniger — , daß dies eine gewaltige geschichtliche dige Zurückhaltung üben, wenn sie die Verhältnisse Herausforderung sei und daß wir uns bei der Herstel- von Menschen beurteilen, die in einer ganz anderen lung der deutschen Einheit an kein Vorbild halten Lage waren. Wer in Freiheit gelebt hat, muß sich ehr- könnten. Wir könnten nicht fragen, auch nicht in der lich fragen, wie er sich in einer Diktatur verhalten öffentlichen Verwaltung: Wie ist das früher gemacht hätte, ob er sich in eine Nische zurückgezogen hätte. worden? Wir mußten völlig neue Wege gehen. Wer weiß schon, wieviel Mut er selbst gehabt hätte. Dabei ergaben sich auch auf Grund der zeitlichen Ich will das hier nicht alles im einzelnen ausführen. Bedrängnis und der Notwendigkeit schneller Ent- Mir mißfällt es, daß in dieser Frage noch viel zu viele scheidungen Fehlerquellen und Fehler. Ich habe nie so tun — und zwar in allen politischen Lagern — , als angestanden zu sagen, daß selbstverständlich auch hätten sie ganz genau gewußt, wie sie sich selbst ver- ich in diesen Jahren Fehler gemacht habe. Aber ich halten hätten. Die Situation heute ist auch nicht ohne bleibe bei meiner Grundthese — ich bleibe bei meiner weiteres vergleichbar mit den Erfahrungen nach Grundthese! — , die da lautet, daß wir in einer gemein- 1945. Auch da hatten wir eine Erfahrung, aber sie war samen Kraftanstrengung unseres Volkes, auch unse- dennoch anders. rer Volkswirtschaft, die neuen Bundesländer in einer relativ kurzen Zeit von drei, vier, fünf Jahren — je Meine Bitte, die ich hier ganz nachdenklich in diese nach Branche und Landschaft verschieden — an das Debatte einbringen kann, ist, daß wir uns jetzt nicht Niveau der alten Bundesländer herangeführt haben gegenseitig vorhalten, daß wir sozusagen die besse- werden. Ich bleibe bei dieser These, und sie wird sich ren Demokraten in den neuen Bundesländern seien, als richtig erweisen. sondern daß wir diesen Lernprozeß gemeinsam durchschreiten. Jeder wird dabei von seiner Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schichte eingeholt. Das gilt für die Christlich Demo- - Eine ganz andere Frage, meine Damen und Herren kratische Union genauso wie für die Freie Demokrati- — und ich finde, auch das gehört in diese Debatte, sche Partei; das gilt auch für die Sozialdemokratische damit wir nicht nur von Geld und Wirtschaft reden —, Partei. Es ist für mich interessant, daß eine Sache, die ist — und ich räume hier ein, das habe ich mir als kein Ausländer versteht, sich als schwierig erweist, schwierig vorgestellt, aber nicht als so schwierig, wie nämlich die zum Reichstag führende Straße umzube- es sich jetzt offensichtlich erweist — das Miteinander nennen, damit sie nicht länger Otto-Grotewohl-Straße und Zusammenleben der Menschen im früher geteil heißt. Ich bringe dieses Beispiel, weil es sehr sympto- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5011

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl matisch für die Schwierigkeit im Umgang mit der Ge- Das ändert nichts an der Tatsache, daß wir die Pro- schichte ist. bleme haben. Aber — Theo Waigel hat es dieser Tage immer wieder gesagt — wenn die deutsche Einheit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht gekommen wäre, hätten wir jetzt für die alte ordneten der FDP) Bundesrepublik eine phantastische Bilanz vorzule- Bei der Debatte spielt natürlich das Ökonomische gen. Aber Gott sei Dank haben wir die Bilanz der eine zentrale Rolle. Aber wir denken nicht nur über deutschen Einheit. Das ist doch sehr viel wichtiger als die ökonomischen Entwicklungen nach, sondern auch alles andere. Und deswegen bleiben wir bei unserer über das, was die Menschen unmittelbar ganz erheb- Politik. lich bewegt. Wir haben — darüber kann es gar keinen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweifel geben — im Ökonomischen eine gute Aus- Wir sind in den neuen Bundesländern gut vorange- gangsposition. In den alten Bundesländern sind die kommen: bei den Arbeitsplätzen, der Gründung und Aussichten gut, daß auch die Konjunktur nach der der Sanierung von Betrieben. Aber wahr ist — das jetzigen Atempause im kommenden Jahr wieder an gehört natürlich in die Bilanz —, daß sich viele große Fahrt gewinnt. Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen, daß sie Ar- Herr Fraktionsvorsitzender der SPD, wenn Sie über beitsplätze verloren haben, daß sie vor einer ungesi- das Thema „Arbeitslosigkeit in den alten Bundeslän- cherten Perspektive stehen. Deswegen ist es unge- dern" reden, reden Sie doch zumindest zu einem gro- heuer wichtig, daß die Menschen wissen, daß diese ßen Teil an der Wirklichkeit des Landes vorbei. Sorge bei uns gut aufgehoben ist, daß wir unserer Verantwortung gerecht werden und ihnen helfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Um so wichtiger ist es, daß wir leistungsfähige Be- der FDP) triebe ausbauen, unterstützen, neu aufbauen und daß Es geht wirklich nicht an, das Schicksal der Menschen wir so schnell wie möglich das beseitigen, was die in den neuen Bundesländern, wo wir eine völlige Ver- Schwäche der neuen Bundesländer ist, nämlich das änderung der Strukturen erleben, mit dem zu verglei- Fehlen eines dynamischen Mittelstands. Mit das chen, was bei uns in der alten Bundesrepublik auf Schlimmste in der Veränderung der Gesellschaft diesem Feld deutlich wird. Eine Million neue Arbeits- durch den Sozialismus und Kommunismus des SED- plätze binnen Jahresfrist hat es doch wirklich deutlich Regimes war die Zerschlagung des Mittelstandes. gemacht. Wir haben einen Beschäftigungsrekord von Eine wirklich funktionierende Soziale Marktwirt- fast 30 Millionen. Das gab es in der Geschichte der schaft ist letztlich nur mit einem dynamischen Mittel- alten Bundesrepublik nicht. Die Realeinkommen sind stand möglich. Das ist doch die Erfahrung, die wir nicht zuletzt dank der Stabilitätserfolge der Koalition haben. heute erheblich höher als zu Beginn der 80er Jahre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies ist übrigens ein entscheidender Grund, daraus zu lernen, daß die Stabilität der D-Mark das wichtigste Wir haben allen Grund, davon überzeugt zu sein, Ziel unserer Politik sein muß. Auch das folgt ja dar- daß der Aufbau der neuen Strukturen erfolgreich sein aus. wird. Das gilt auch für solche Kernbereiche, die sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) jetzt zunächst besonders schwer tun. Natürlich bleibe ich bei meiner These, daß, wenn die deutsche Chemie Wir haben, gemessen an unseren Nachbarn und einen weiteren Standort außerhalb der alten Bundes- Freunden, ein beachtliches Wirtschaftswachstum in republik sucht, dieser Standort im Chemiedreieck um diesen Jahren gehabt. Wir sehen, daß andere Pro- Halle liegen muß. Es gibt doch ganz eindeutige Hin- bleme haben, die wir etwa im Export ebenfalls verspü- weise darauf, daß in einer Veränderung der Struktur ren. Wir haben durch eine kluge Politik seit dem Be- in diesem Bereich Mitteldeutschlands diese Struktu- ginn der 80er Jahre, mit der erfolgreichen Politik der ren der Chemie neu entstehen werden, zum Teil si- Sozialen Marktwirtschaft gute Voraussetzungen ge- cherlich in einer anderen Fasson. schaffen; aber niemand von uns hat 1982, 1983, 1984 Wahr ist auch, meine Damen und Herren, daß wir gewußt, daß wir 1989/90 die Chance haben würden, gerade jetzt in dieser Übergangszeit im betrieblichen die deutsche Einheit herbeizuführen. Bereich angesichts der Sorgen der Arbeitnehmer Wir haben überhaupt keinen Grund, die Probleme wirksame Maßnahmen zur Flankierung ergreifen zu verniedlichen. Aber, Herr Kollege Klose — und da müssen. Wer jetzt kommt — ich spreche es jetzt ein- hat Wolfgang Schäuble doch recht —, wir haben noch mal so aus, wie ich es gelegentlich in der Debatte viel weniger Grund, die Probleme in einer Weise zu empfinde — und sozusagen nach dem Lehrbuch der dramatisieren, daß die Menschen Angst bekommen reinen Marktwirtschaft sagt, es muß alles über den und uns die Kompetenz zur Lösung absprechen, daß Markt gelöst werden, der verkennt sicherlich die Er- wir sie lösen können. Das ist eine Diskussion, die doch hard'sche Wirtschaftspolitik; denn nur bei uns stattfindet. Jeder Besucher aus dem Aus- sprach nicht von Marktwirtschaft, sondern von Sozia- ler Marktwirtschaft. land, der heute nach Bonn kommt, und jede entschei-- dende Persönlichkeit, mit der man in anderen Län- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge dern spricht, pflegt zu sagen, wenn man vorträgt, wo ordneten der FDP) unsere Probleme sind: Eure Probleme möchte ich ha- ben. Das ist doch die übliche Reaktion. Ich lege darauf großen Wert, und zwar gerade schon deswegen, Herr Kollege Klose, weil mir Ihre Vorgän- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ger von diesem Pult aus gelegentlich Nähe zum That- ordneten der FDP) cherismus oder zur Politik des früheren amerikani- 5012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl schen Präsidenten vorgehalten haben. Das war nie Die Rentenversicherung und der Bundeshaushalt unsere Politik. Unser geistiger Pate war nie Milton bringen zusammen rd. 20 Milliarden DM für die Rent- Friedman, sondern wir bleiben Erhardianer. Das hat ner in Ostdeutschland auf, um die Angleichung der sich als das beste erwiesen, was wir tun können. unterschiedlichen Rentensysteme möglich zu ma- chen. Das ist ein gewaltiger Posten, den ich mit Nach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- druck unterstütze und vertrete, weil ich — das spreche ordneten der FDP) ich offen aus — entsprechend meiner Empfindung Die Aus- und Fortbildung von über 800 000 Teil- und meiner Überzeugung denke, daß die Zuwendung nehmern, der ABM-Bereich mit rund 400 000 Plätzen, — nicht nur die materielle, sondern auch die geistig beides ist doch ein Beweis dafür, daß hier das Notwen- seelische — gegenüber den Älteren noch ein viel be- dige geschieht. Herr Kollege Klose, ich hätte es auch deutsameres Stück Miteinander in Deutschland ist als gern gesehen — das muß ich Ihnen ganz offen sa- das, was wir für Lehrlinge tun. Es ist richtig, daß die gen —, wenn Sie heute in Ihrer Übersicht über die Schulabgänger eine Ausbildung erhalten. Aber es ist Probleme einmal erwähnt hätten, was für eine gewal- für mich noch wichtiger, daß die Generation der Rent- tige gemeinschaftliche Leistung unseres Landes jetzt ner und Pensionäre, die keine berufliche Zukunfts- erbracht wurde, indem das Problem der Lehrlinge in chance mehr hat, für die der berühmte Silberstreif am den neuen Bundesländern weitgehend gelöst werden Horizont im Berufsleben nicht mehr Wirklichkeit wird, konnte ohne Zwang durch den Staat, ohne neue Ge- spürt, daß sie in die Solidaritätsgemeinschaft aller setze, ohne neue Verordnungen, auf dem Weg des Deutschen mit aufgenommen ist. Ich halte das für Mittuns von vielen in allen Bereichen der Wirtschaft, einen ganz zentralen Punkt. der Mittelständler genauso wie der großen Unterneh- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD men und der Gewerkschaftler. Ich finde, das ist eine und dem Bündnis 90/GRÜNE) großartige Leistung, vergleichbar mit der, die wir in den 80er Jahren in der alten Bundesrepublik hatten. Auch das Thema „Frauen in den neuen Bundeslän- dern" hat hier seine Bedeutung. Richtig ist, daß die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tiefgreifende Veränderung in den neuen Ländern auch viele Frauen vor schwierige Aufgaben stellt. Im Hinblick auf Ihren Vorwurf, die Bundesregie- Richtig ist aber auch, daß die durchschnittliche Rente rung würde sich — ich sage es jetzt mit meinen Wor- für Frauen in den neuen Bundesländern 1992 durch ten — nur unzureichend um die soziale Situation der die Angleichung der Rentensysteme höher sein wird Menschen kümmern, habe ich mir in der Zwischenzeit als in Westdeutschland. Das hängt mit der dort im noch einmal die Zahlen beschafft. Wie sehen die Tat- Durchschnitt höheren Zahl von Berufsjahren der sachen aus? Insgesamt fließen 1991 netto, d. h. nach Frauen zusammen. Aber dies zeigt auch, daß wir die Abzug der Einnahmen, 111 Milliarden DM an öffent soziale Situation unserer Landsleute sehr wohl begrif- lichen Leistungen in die neuen Bundesländer. 1992 fen haben und im Rahmen unserer Möglichkeiten ver- steigt dieser öffentliche Transfer von West nach Ost suchen, das Notwendige zu tun. auf rund 140 Milliarden DM. Einen vergleichbaren Transfer dürfte es in der Wirtschaftsgeschichte wohl Ich habe soeben schon gesagt: Entscheidend für die kaum geben. Das ist doch immerhin auch eine Lei- zukünftige Entwicklung wird die Stabilität der D- stung der Menschen in der alten Bundesrepublik. Das Mark sein. Lassen Sie mich hier deswegen ein sehr soll bei dieser Gelegenheit doch auch einmal deutlich offenes Wort zu diesem Thema sagen, auch auf die gesagt sein. Gefahr hin, daß ich wieder Schelte beziehe, ich würde mich hier in die Tarifautonomie einmischen. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie schon deswegen falsch, weil ich das nicht will. Die bei Abgeordneten der SPD und des Bündnis- Vorstellung, daß der Staat, die Regierung Tarife be- ses 90/GRÜNE) schließt, ist für mich eine völlig absurde Vorstellung. Aber: Wahr ist auch, daß die Bundesregierung, die Herr Kollege Klose, im Hinblick auf Ihre Behaup- Bundesrepublik Deutschland — Bund, Länder und tung stelle ich als Tatsache fest, daß sich 1992 die Lei- Gemeinden — Tarifpartner ist und Tarifverantwor- stungen aus dem Bundeshaushalt, die den Menschen tung trägt. in ihrer sozialen Situation in den neuen Bundeslän- dern unmittelbar zugute kommen, auf 28 Milliarden Meine Damen und Herren, jeder spürt — auch viele, DM belaufen. Sie reichen von der Kriegsopferversor- die in den Gewerkschaften in der Verantwortung gung über das Vorruhestandsgeld bis hin zum Erzie- sind — , daß eine stabile Währung zentrale Grundlage hungs- und Kindergeld. Hinzu kommen mehr als unseres wirtschaftlichen Erfolgs ist. All das, was hier 30 Milliarden DM, mit denen die Bundesanstalt für heute über das Ansehen unserer Republik, über die Arbeit die notwendige aktive Arbeitsmarktpolitik im Stellung Deutschlands in der Welt und auch über die östlichen Teil Deutschlands betreibt. 400 000 ABM- außenpolitische Position mit Recht gesagt wurde, Plätze sind z. B. eine Leistung, die in der Geschichte könnten wir vergessen, wenn die D-Mark eine insta- der alten Bundesrepublik ohne Beispiel ist. Dafür wer- bile Währung würde. Eine stabile Währung ist eines der wertvollsten Güter unseres Landes nach innen den 8 Milliarden DM bereitgestellt. Wir haben das- nach langen Diskussionen getan, wohl wissend — das und nach außen. Sie sichert Wohlstand und sichere will ich auch aussprechen — , daß das nur eine Über- Arbeitsplätze. Das muß Vorrang vor allem anderen gangslösung sein kann und daß für uns AB-Maßnah- haben. men nicht Dauerparkplätze sind, sondern Vorausset- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zung für vernünftige Arbeitsmarktpolitik. Wenn die D-Mark heute zur zweitwichtigsten An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lage- und Reservewährung geworden ist, so ist das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5013

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl eine Aussage, die nicht nur unseren Stolz erregen, zwischen den christlichen Demokraten und den So- sondern vor allem auch die Verpflichtung stärken zialisten in den letzten Monaten nach stürmischen sollte, dies so zu erhalten. Das setzt voraus, meine Parteitagen der niederländischen Sozialisten ganz er- Damen und Herren, daß wir bei den jetzt beginnen- staunliche Beschlüsse gefaßt. Das ist für mich kein den Tarifrunden die Gesamtentwicklung von Staat Vorbild; ich bringe es nur als Beispiel, von dem aus- und Gesellschaft im Auge haben, auch beim öffentli- gehend man darüber nachdenken kann, was andere chen Dienst, daß wir bei den Tarifabschlüssen beden- im Blick auf die Zukunft bereits tun. ken: Welche Wirkung hat dies in den neuen Bundes- Meine Bitte an Sie alle lautet — auch im Blick auf ländern? Welche Wirkung hat das in einer Phase ab- Regierung und Opposition — , daß wir das, was wir geschwächter Weltkonjunktur auf unsere Konkur- bisher erreicht haben, nicht nur als erreicht, abgehakt renzfähigkeit? Welche Wirkung hat dies insonderheit und gesichert betrachten sollten, sondern auch als auf einzelne Unternehmen in schwierigen Bran- eine Chance, das Erreichte zu sichern und zu mehren, chen? auch im Blick auf die neuen Bundesländer und für die Wir sind ein Land — ich spreche jetzt vor allem von nächste Generation. Die Grundlagen, die jetzt ge- der alten Bundesrepublik — , das sich durch gemein- schaffen werden, haben enorme Wirkungen für die same Arbeit einen beachtlichen Wohlstand geschaf- Generationen junger Leute, die noch nicht Mitglied fen hat. Da dies so ist, wollen wir ihn behalten, wollen dieses Hohen Hauses sein können. Doch ist es unsere wir ihn sichern. Aber „sichern" heißt, daß wir zum Pflicht, an sie zu denken. richtigen Zeitpunkt die Gesamtverantwortung sehen, Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, von dem daß wir stabilitätsgerechte Lohnabschlüsse bekom- ich glaube, daß er für die Position Deutschlands auch men und daß wir vor allem das Ziel im Auge behalten, international von größter Bedeutung ist. Gemeint ist daß die Tarife, die wir in den alten Bundesländern, in die gegenwärtige Runde der GATT-Verhandlungen. der alten Bundesrepublik abschließen, in ihrer Wir- Offene Märkte und freier Welthandel, meine Damen kung auf Rostock ebenso wie auf und auf und Herren, sind für uns unverzichtbar. Angesichts genau bedacht werden. Denn Solidarität einer Exportquote von 35 % hängt hierzulande fast kann keine Einbahnstraße sein. Solidarität muß hei- jeder vierte Arbeitsplatz vom Export ab. Allein das ist ßen, daß wir auch bei dem Tarifgeschehen an das schon ein Grund dafür, daß wir Deutsche am Erfolg ganze Land denken. von GATT interessiert sein müssen. Doch nehme ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ganz bewußt Ihr Beispiel auf, Herr Klose. Wir können noch so viele Mittel für Entwicklungshilfe bereitstel- Dazu gehört ein Weiteres. Herr Kollege Klose, Sie len: Die Folgen eines Scheiterns der GATT-Runde haben schon vor Monaten gemeinsam mit dem Bür- könnten auch durch sämtliche Mittel des Entwick- germeister von Hamburg eine Reihe von Bemerkun- lungshilfeetats bei weitem nicht ausgeglichen wer- gen gemacht, von denen ich hoffe, daß wir sie aufneh- den. men können — auch im Verhältnis zwischen Bundes- rat und Bundestag und zwischen jeweiligen Mehrhei- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der ten und Bundesregierung. Gemeint ist die Frage nach SPD) dem Standort Deutschland. Meine Damen und Her- Ich denke in diesem Zusammenhang nicht nur an ren, in 13 Monaten wird der große Markt mit 340 Mil- die Dritte Welt, die uns zuerst in den Sinn kommt. Ich lionen Menschen aus der EG und 40 Millionen aus denke genauso an Polen. Ich denke genauso an das, dem Bereich der EFTA Wirklichkeit. Wir werden in was jetzt in der Sowjetunion geschieht. Ich denke an diesem Markt eine gewaltige Dynamik erleben. Wir, unsere Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. die Bundesrepublik Deutschland insgesamt, gehen in Wenn wir uns abschotten, wenn die genannten Län- einer guten Verfassung in diese Entwicklung. der ihre Produkte — das gilt genauso für die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas — bei uns nicht Dennoch wird bei uns — das muß ich befürchten, absetzen können, werden sich das Elend dort und der wenn ich andere Länder, ich denke immer wieder an Nord-Süd-Konflikt verschärfen. Wenn wir uns dann Spanien als Beispiel, im Vergleich sehe — viel zuwe- — Wolfgang Schäuble hat das Notwendige zu diesem nig über die Konsequenzen der Entwicklung des Thema bereits gesagt, ich will mich darauf bezie- Standortes Deutschland in Europa nachgedacht. Alles hen — die weltweite Völkerwanderung vergegen- in allem — und ich sage dies ohne Kritik; denn ich wärtigen, so kann ich nur sagen: Wir brauchen uns vertrete als Kanzler diesen Haushalt natürlich in erster über Asyl- und Asylantenprobleme gar nicht zu unter- Linie — müssen wir uns fragen, ob wir genug in die halten, wenn die Völker nicht in der Lage sind, ihre Zukunft investieren, ob wir nicht bei vielem vor allem Waren in den Industrieländern abzusetzen. Deswe- Gegenwart und Vergangenheit bedenken, ob die gen ist das eine der zentralen Fragen der deutschen, Vorbereitungen in Deutschland auf den europäischen der europäischen, der internationalen Politik. Binnenmarkt unter verschärfter Konkurrenz, unter veränderten Bedingungen wirklich ausreichend sind. Aber das heißt auch — das muß auch gesagt wer- So verstehe ich die Diskussion über das Steuerände- den, so wie ich es gestern mittag George Bush in rungsgesetz und die Unternehmensteuerreform über- einem Telefonat noch einmal gesagt habe — , daß der haupt nicht. Denn, meine Damen und Herren, alle Kompromiß natürlich von allen Seiten gewollt sein meine Kollegen in EG-Europa — auch die, die aus den muß. Man kann es nicht so sehen, wie es gelegentlich sozialistischen Parteien kommen — , haben selbstver- in den USA — auch auf Grund der innenpolitischen ständlich ihre Pflicht darin gesehen, ihre Länder je- Situation — geäußert wird: Die Europäer haben eine weils auf diese Entwicklung vorzubereiten. In unserer Bringschuld, und wir selbst warten ab. — Ich be- Nachbarschaft, in den Niederlanden, hat die Koalition dauere beispielsweise, daß die Verhandlungen jetzt 5014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl für beinahe 14 Tage unterbrochen wurden. wieder gesagt, auch die Bundesregierung hat es ge- läuft uns davon. Mein Wunsch ist, daß man so schnell sagt —, daß es in Europa — wie man auch über einen wie möglich weiterverhandeln möge. Mein Wunsch Truppeneinsatz in Jugoslawien entscheiden mag — ist — die Bundesregierung wird das Notwendige einige Gebiete gibt — dazu gehört mit Sicherheit auch tun —, daß die EG-Kommission in einer vernünftigen Jugoslawien —, bei denen man sich nicht vorstellen Weise Angebote macht. Aber mein Wunsch ist auch, kann, daß dort deutsche Soldaten eingesetzt wer- meine Damen und Herren, daß wir aufhören, die ge- den. samte Problematik des GATT ausschließlich auf die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ebene der Landwirtschaft zu schieben. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist keine Diskriminierung der Deutschen; das ist Es gibt eine ganze Reihe von anderen Punkten, bei ein Akt politischer Vernunft. Ich glaube, das muß man doch gemeinsam erkennen. denen auch die amerikanische Seite, die japanische Seite und andere eine Bringschuld haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Es gibt eine verständliche Loyalität und Solidarität FDP, der SPD und dem Bündnis 90/ gegenüber den europäischen und den deutschen Bau- GRÜNE) ern; auch das will ich in diesem Zusammenhang sa- Wenn man die EG kritisiert und sagt, die Europäer gen. seien unfähig und handlungsunwillig, dann muß man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aber auch einmal die Frage stellen: Hat die EG einen Die schwierigen Verhandlungen — und die Ver- Rechtsrahmen, damit sie überhaupt handlungsfähig handlungen sind nicht nur von Beifall begleitet wor- ist? Man kann sich sicherlich darüber streiten, ob in den; ich sage das auch im Blick auf meine eigene Par- der EG, in den einzelnen Gremien, von Anfang an die tei — in der Kohlerunde sind jetzt zu einem Abschluß richtige Erkenntnis vorhanden war. gekommen. Das ist — wenn ich das von der finanziel- Diese Frage läßt sich übrigens auch im Hinblick auf len Seite aus betrachte — immerhin eine beachtliche Belgrad, Zagreb und andere Orte in Europa stellen, Leistung des Staates, des Steuerzahlers, auch über die nämlich ob die Einstellung und die Erwartungen hin- Kohlegebiete hinaus. sichtlich der Entwicklung der Situation realistisch wa- Wer dem zustimmt, der muß auch in bezug auf die ren. Hilfe für die Bauern die gleiche Loyalität aufbrin- Angesichts der besonderen Verbundenheit, die gen. viele in unserem Volk für Jugoslawien und seine Völ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ker empfinden, und angesichts der Bilder, die wir Tag Es kann nicht so sein — es muß für den Übergang für Tag im Fernsehen sehen, gehen wir Deutschen gehandelt werden —, daß die einen aufgegeben wer- nicht nur theoretisch an dieses Thema heran. Wir wis- den, die anderen aber nicht. Die deutschen Bauern sen, was zerstörte Dörfer und Städte bedeuten. — das müssen wir hier gemeinsam bekennen, zumin- In unserem Land leben 700 000 jugoslawische Bür- dest die Parteien aus der alten Bundesrepublik — be- ger — Ausländer, die wir geholt haben, damit sie uns finden sich wegen der EG-Agrarpolitik in einer Ent- helfen, unser Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften —, wicklung, an der alle demokratischen Parteien der von denen rund zwei Drittel Kroaten sind. Das hat in alten Bundesrepublik ihren Anteil haben. unserem Land eine ganz besondere Wirkung — und (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt!) ich habe das gestern abend in Brüssel einigen Kolle- gen gesagt. Wenn gelegentlich in den Hauptstädten Das muß man doch selbstkritisch sagen. Europas und außerhalb Europas — ich spreche dies Es traten auch Fehlentwicklungen auf. Die Fehlent- offen an — so getan wird, als resultiere es aus den wicklungen, die es gegeben hat, kann man aber jetzt Erinnerungen der Deutschen an vergangene Zeiten, doch nicht dem einzelnen Bauern anlasten. Wenn ich, wenn hier eine besondere Sympathie für die Selbstbe- meine Damen und Herren, bei den Bergarbeitern, den stimmung der Völker Jugoslawiens besteht, dann ist Kumpels, sage, daß dort Entwicklungen korrigiert das abwegig. Dahinter steht nicht das Denken des werden müssen, wenn wir helfen wollen, dann gilt das Jahres 1941 — um es klar und deutlich auszuspre- gleiche in vollem Umfang auch für die Bauern in chen — , sondern die Erfahrung unseres Volkes, das Deutschland. gerade auf dem Weg der Selbstbestimmung mit der Zustimmung aller Nachbarn — das war ja das Große (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und das Großartige an der deutschen Einheit — seine Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch Einheit gewonnen hat. Dementsprechend haben wir eine kurze Bemerkung zu zwei anderen Themen. Zum als Bundesregierung wirklich den Wunsch, keine Al- Thema Jugoslawien: Wir haben hier eine besonders leingänge zu unternehmen. Das wäre eine völlig fa- schwierige Lage. Wie kompliziert die deutsche tale und ganz ungute Entwicklung. Deswegen unter- Außenpolitik gerade nach der Wiedervereinigung ge- stützen wir die Bemühungen des Sonderbeauftragten worden ist, kann man an diesem Beispiel besonders des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Cyrus leicht erkennen. Sie haben recht, Herr Abgeordneter Vance, des Vorsitzenden der Haager Friedenskonfe- Klose, die Geschichte hat uns einmal mehr einge- renz, Lord Carrington, damit sich hier in der nächsten holt. Zeit die Dinge wirklich bewegen. Es geht darum, daß die von der EG beschlossenen wirtschaftlichen Sank- Deswegen ist es doch ganz klar — darüber braucht tionen diejenigen Konfliktparteien treffen, die den man wirklich nicht zu sprechen; ich habe es immer Friedensprozeß durch brutale Gewaltaktionen torpe- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5015

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl dieren, und nicht die, die den Frieden wollen. Auch ben wir glücklicherweise erreicht — , und wir wollen das ist ja eine der Gefahren, die jetzt bestehen. die politische Einigung Europas. Demgegenüber glauben wir, daß sich die Republi- Maastricht ist — wenn Sie so wollen — ein Mark- ken, die sich konstruktiv an der Friedenssuche betei- stein auf diesem Weg. Dabei muß man ehrlicherweise ligen, nicht nur von den Sanktionen ausgenommen sagen: Noch vor zehn Jahren hätten die wenigsten werden müssen, sondern daß wir sie durch positive geglaubt, daß wir überhaupt zu einem solchen Datum Maßnahmen fördern sollten. kommen. Wir haben trotz aller Schwierigkeiten phan- tastische Erfolge erreicht. Wer noch einmal auf die Wir wollen als Bundesregierung in einem engen siebziger Jahre oder auf den Anfang der achtziger Schulterschluß mit unseren Partnern zu einer dauer- Jahre zurückblickt, als „Eurosklerose" im Hinblick haften Friedenslösung beitragen. Es geht darum, daß auf die EG das am meisten gebrauchte Wort war, der alle Völker Jugoslawiens über ihre Zukunft frei ent- muß doch zugeben, daß die Tatsache, daß der euro- scheiden können, daß die Menschenrechte geachtet päische Binnenmarkt in 13 Monaten vollendet ist, werden, daß die Minderheiten geachtet und geschützt eine wirklich phantastische Sache ist: ein Raum ohne werden. In diesem Sinne werden wir uns weiter dafür Binnengrenzen für 340 Millionen Menschen. einsetzen, daß die völkerrechtliche Anerkennung derjenigen Republiken, die dies wünschen, nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie durch Blockierung der Friedensbemühungen auf die bei Abgeordneten der SPD) lange Bank geschoben wird. Ich füge hinzu — ich denke, auch darin sind wir uns Wir müssen sehen, daß die Zeit davongeeilt ist. einig — , daß die EG kein Closed Shop sein darf. Wir Auch unsere Freunde und Kollegen in der Europäi- müssen vielmehr offen sein für diejenigen, die zur schen Gemeinschaft müssen wissen, daß für die Bun- Gemeinschaft kommen wollen. Alles, was wir jetzt in desregierung ein Zwang zu einer Einstimmigkeit in Maastricht besprechen, muß deshalb auch schon un- dieser Frage nicht gegeben ist. Das, was wir uns wün- ter der Perspektive gesehen werden, daß, wie ich schen, ist, daß eine möglichst große Zahl der europäi- hoffe, Österreich und Schweden der Gemeinschaft im schen Länder einen Weg beschreitet, der die Selbst- Jahre 1995 beitreten werden. Ich bin zwar kein Pro- bestimmung respektiert. Ich füge hinzu — ganz ein- phet, aber ich erwarte, daß das Wirkung auf Norwe- fach gesagt —, daß ich glaube, daß man vor dem gen und Finnland haben wird. Dann wird niemand Weihnachtsfest in dieser Frage zu einer Entscheidung mehr sagen können, die EG sei südlastig, sondern kommen muß. Ebenso klar füge ich hinzu, daß ich ein dann ist Nordeuropa ein integraler Bestandteil der anderes Datum, bei dem wir über europäische Dinge Gemeinschaft. zu sprechen haben, nicht notwendigerweise mit die- sem Thema verbunden haben will. Ich würde das Unser Bestreben muß auch sein — ich will wieder- sonst für einen schweren Fehler halten. Aber ich holen, was ich kürzlich von diesem Pult aus schon glaube, daß zwischen der Zusammenkunft in Maas- sagte —, daß wir beim Thema „EG-Erweiterung" tricht und dem Weihnachtsfest ein Zeitraum liegt, in auch an die Nachbarn CSFR, Polen und Ungarn den- dem wir uns in der EG einzeln erklären müssen ken, wenn auch für diese Länder ein Beitritt nicht zum — auch andere in Europa — , wie wir die Entschei- gleichen Zeitpunkt in Frage kommen kann wie bei dung treffen wollen. den genannten EFTA-Staaten. Hierin will ich einem meiner Vorredner ausdrücklich widersprechen. Es Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei dem würde der Gemeinschaft nicht gut bekommen, wenn anderen, letzten Thema, das aber letztlich wahr- die Unterschiede in der sozialen und wirtschaftlichen scheinlich das Thema des Jahrzehnts ist, wenn ich das Struktur ihrer Mitgliedstaaten so gravierend wären, unter europäischer Perspektive sehe: die Konferenz daß einige der Mitgliedstaaten reine Almosenempfän- von Maastricht. ger wären. Das wäre auch psychologisch nicht gut. Wolfgang Schäuble hat schon darauf hingewiesen Aber man kann ja Übergangslösungen schaffen; man — ich will es wiederholen; ich hoffe, hier sind wir einer kann Assoziierungen vereinbaren; man kann prakti- Meinung; ich glaube es jedenfalls, denn es entspricht sche Möglichkeiten des Miteinanders eröffnen. ja auch dem Denken der deutschen Sozialdemokraten seit vielen Jahrzehnten — : Wir würden einen histori- Wir haben vor über einem Jahr die Regierungskon- schen Fehler begehen, wenn die deutsche Einheit für ferenzen zur Wirtschafts- und Währungsunion und sich isoliert bliebe und die europäische Einigung nicht zur Politischen Union eingesetzt. Deren Ergebnisse Hand in Hand mit der deutschen Einheit kommen liegen in Kürze vor. Anschließend geht es natürlich würde. darum, die Ergebnisse umzusetzen. Dabei werden wie immer bei solchen Fragen Kompromisse notwen- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der dig. Manche glauben, es gehe um das Prestige. Natio- SPD) nale Parlamente in Europa beschäftigen sich inzwi- schen mit Fragen wie: Welche Kompetenzen verlieren Hand in Hand bedeutet natürlich nicht: auf den Tag. wir, wer übt die parlamentarische Kontrolle aus usw.? Aber es bedeutet angesichts tatsächlicher oder ver- Solche Fragen sind ganz und gar verständlich. meintlicher und herbeigeredeter Ängste — dabei ist Angst manchmal auch ein anderes Wort für Wirt- Meine Damen und Herren, wer jedoch nach Maas- schaftsneid — wegen der unterschiedlichen Größen- tricht geht nach dem Motto: Mein Konzept ist das ordnungen in Europa und in der Europäischen Ge- allein seligmachende, und das, was die anderen bie- meinschaft, daß die Antwort der Deutschen lauten ten, ist inakzeptabel, der braucht gar nicht dorthin zu muß: Wir wollen das vereinte Deutschland — das ha- gehen. Auch für die politische Kultur Europas gilt, daß 5016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl wir zu vernünftigen Kompromissen fähig sein müs- baut werden. Das ist immer noch besser, als in dieser sen. wichtigen Frage überhaupt nicht voranzukommen. Ich nenne nur zwei Beispiele — Wolfgang Schäuble Nicht viel anders, meine Damen und Herren, ist es hat eines davon heute in seiner Rede schon angespro- mit der Initiative von Staatspräsident Mitterrand und chen — : Ich hielte es für das Beste, wenn wir uns in mir. Ich habe mit großem Behagen gehört, Herr Abge- der Frage der Drogenbekämpfung und in der Frage ordneter Klose, daß Sie die Besorgnisse der Amerika- des Asylrechts, auf eine Gemeinschaftskompetenz ei- ner erwähnt haben. Ich freue mich, wenn die deut- nigten. So wie ich die Dinge nach dem Stand von schen Sozialdemokraten jetzt wieder die Besorgnisse heute mittag — das wird, vermute ich, heute abend der Amerikaner so ernst in ihre Überlegungen auf- nach dem Besuch von nicht anders sein — nehmen. Auch das ist eine Veränderung, und diese sehe, können wir auf diesen beiden ganz wichtigen nehmen wir dankbar zur Kenntnis. Feldern jedoch nur über eine intergouvernementale (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Zusammenarbeit Einvernehmen erzielen. Das ist im- der FDP) merhin die zweitbeste Lösung — besser als ein völli- ges Scheitern. Aber vielleicht sollte der Versuch un- Aber ich muß Ihnen sagen: Das, was François Mitte- ternommen werden — ich will ihn jedenfalls ma- rand und ich vorgeschlagen haben, wendet sich in chen — , in den Vertrag eine Öffnungsklausel aufzu- keiner Weise gegen wohlverstandene amerikanische nehmen, wonach nach dem Ablauf von 5 oder 6 Jah- Interessen. Präsident Bush hat die Initiative ja auch ren auch diese Mate rie zur Gemeinschaftsmaterie ausdrücklich begrüßt. Es geht einfach darum, daß wir wird. im Rahmen der Politischen Union etwas für die Ver- (Zustimmung bei der CDU/CSU) teidigungsidentität unseres alten Kontinents tun. Das ist kein Gegensatz zur NATO. Wir sind einer Mei- Das ist immer noch viel besser, als wenn wir jetzt nung, daß wir die NATO noch auf lange Sicht brau- sagen — zumal es sich um drängende Probleme han- chen. Wie lange, weiß niemand von uns, aber auf delt — : Wir machen gar nichts. lange Sicht bestimmt. Es geht darum, dem in einer vernünftigen Weise Rechnung zu tragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD]) Meine Damen und Herren, jetzt frage ich Sie: Was würde eigentlich dagegen sprechen, wenn sich nach Herr Kollege Klose, ähnlich wird es in bezug auf das kurzer Zeit dem deutsch-französischen Korps — auf Europäische Parlament sein. Da haben Sie uns ganz deutsche Verhältnisse übertragen ist es nur eine Divi- zu Unrecht gescholten. Sie sollten mit Ihrem Herrn sion — etwa Belgier und Spanier anschließen wür- Parteivorsitzenden jetzt einmal zu einer Sitzung der den? Wenn die Europäische Verteidigungsgemein- europäischen Sozialisten fahren und dort pädago- schaft 1954 nicht gescheitert wäre, hätten wir heute gisch tätig werden. Das Erstaunliche ist, daß sich kon- eine völlig andere Perspektive. Weil dies so ist, muß servative Regierungen — ich spreche jetzt nicht von dieser Versuch unternommen werden. Er dient dar- christlich-demokratischen Regierungen — und sozia- über hinaus in hohem Maße auch dem menschlichen listische Regierungen hier zum Teil sehr viel schwe- Miteinander in Europa, nicht zuletzt auch bei der jun- rertun als wir, die wir mehr aus der politischen Mitte gen Generation. kommen. Bei den Regierungskonferenzen haben wir ein Pro- (Lachen bei der SPD) blem, bei dem wir uns leichtertun als andere und über — Ich habe Ihnen ganz korrekt unseren Standort be- das wir uns in Bundestag und Bundesrat völlig einig sind. Es betrifft die des neuen schrieben, meine Damen und Herren. föderale Struktur Eu- ropa. Wir Deutschen haben ein historisch gewachse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nes positives Verhältnis zum Föderalismus. Die klas- ordneten der FDP) sischen Zentralstaaten Europas hingegen tun sich schon mit diesem Begriff schwer. Man muß einfach Für die europäischen christlichen Demokraten und für wissen, daß der Begriff „föderalistisch" oder „föderal" die europäischen Liberalen ist die Bejahung der im angelsächsischen Politikverständnis genau das Frage, ob das Europäische Parlament mehr Rechte Gegenteil von dem besagt, was er bei uns bedeutet. erhalten soll, kein Problem, weil wir erkannt haben, Die Engländer geraten bei dem Gedanken, daß Eu- daß die Politische Union eine umfassende parlamen- ropa „föderal" wird, ziemlich in Rage, weil sie darun- tarische Kontrolle braucht und daß es absurd wäre, die ter etwas Zentralistisches verstehen. Wir Deutschen Bürger der EG 1994 erneut zu einer freien, geheimen wollen jedoch keineswegs ein Europa, in dem alles und direkten Europa-Wahl aufzufordern, um die Zu- und jedes von einer Zentrale aus reguliert wird. Im sammensetzung eines Parlaments zu bestimmen, das Gegenteil, wir haben vielleicht mehr und schneller als nicht die notwendigen Rechte hat. Ich glaube, das andere die Erfahrung gemacht, daß beispielsweise braucht man hier im Deutschen Bundestag nicht nä- Begriffe wie „Region" oder, um es einmal mit etwas her zu begründen. Da gibt es keine Meinungsunter-- Wärme zu versehen, wie „Heimat" an Bedeutung ge- schiede zwischen uns. Nach dem jetzigen Stand winnen. Nach meiner felsenfesten Überzeugung wird glaube ich, daß wir auch hier wohl nur in zwei Schrit- es keinen wirklichen Frieden in Europa geben, wenn ten vorankommen. Ich plädiere dafür, daß wir in ei- es dort nicht eine enge Zusammenarbeit der Regionen nem ersten Schritt das tun, was für die Legislaturpe- gibt. Das, was an der deutsch-französischen Grenze, riode ab 1994 möglich sein wird, und daß auf dieser was zwischen , Lothringen und Luxemburg Grundlage für die Legislaturperiode ab 1999 die möglich war, muß genausogut in Frankfurt an der Rechte des Europäischen Parlaments weiter ausge Oder mit den benachbarten Regionen Polens oder Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5017

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zwischen Bayern und der CSFR möglich sein; ich Wir haben jetzt eine geschichtliche Chance. Wir kann die Liste solcher Beispiele beliebig fortsetzen. haben von 1989 bis zum 3. Oktober 1990 die einma- Dazu gehört auch das für uns wichtige lige Chance gehabt, die deutsche Einheit zu errei- Prinzip der chen. Ich bin ganz sicher, daß wir jetzt die einmalige Subsidiarität. Das ist nicht irgendein Thema, sondern es ist ein Grundsatz, der das moderne Verfassungs- Chance haben, die europäische Einigung zu errei- chen. denken unseres Landes entscheidend geprägt hat. Die Erfahrung zeigt, daß eine moderne Industriege- Sehen Sie, meine Damen und Herren: Die Kollegen, sellschaft auf dieser Grundlage besonders bürgernah die jetzt von ihren Ämtern als Fraktionsvorsitzende gestaltet werden kann. zurückgetreten sind — das gilt für den Kollegen Vogel und den Kollegen Dregger — , stellen — ich habe es (Beifall bei der CDU/CSU) bei uns in der Fraktion gesagt — die Brücke von der Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Es Kriegsgeneration zu der heute nachwachsenden Ge- bleibt noch sehr viel zu tun, bis hin zu den sich gut neration dar. Die Botschaft, die sich in diesen Persön- entwickelnden Verhandlungen im Bereich der Wirt- lichkeiten und in ihrem Lebensweg zeigt, ist doch, daß schafts- und Währungsunion. Aber damit das ganz wir jetzt das wahr machen, was die besten Geister klar ist: Hier gibt es Positionen, die nicht zur Disposi- Europas nach dem Krieg gesagt haben: Nie wieder tion stehen können, etwa die Unabhängigkeit einer Krieg — keine Rückkehr zum Nationalstaat vergange- allein der Geldwertstabilität verpflichteten Europäi- ner Zeiten! Wir wollen die politische Einigung Euro- schen Zentralbank. pas. Dies ist, glaube ich, unsere historische Pflicht, übrigens eine Pflicht, die, wie auch die deutsche Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie heit, Freude bereitet. Ich möchte uns einladen, dabei bei Abgeordneten der SPD) mitzutun. Dazu gehört, daß wir jetzt in Maast richt klar sagen, (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU daß wir die dritte Stufe wollen, und die endgültige und der FDP) Entscheidung nicht auf das Jahr 1996 verschieben. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Nicht nur Vizepräsidentin : Nun hat der Kol- wollen, auch wie sie dann aussehen muß!) lege Wolfgang Thierse das Wort. — Ja, das ist ja ein Teil des geplanten Vertrages, Graf Lambsdorff. Ich glaube, da sind wir ganz einig. Das Problem besteht ja nicht hier im Haus, sondern es Wolfgang Thierse (SPD) : Frau Präsidentin! Meine besteht mit einer Reihe unserer Freunde und Partner, Damen und Herren! Ach, wäre es schön, wenn man in die eine andere geschichtliche Entwicklung genom- diesem Hause nicht mehr die Gespenster der Vergan- men haben und die sich deshalb verständlicherweise genheit gegen die Probleme der Gegenwart aufbieten schwertun. Wer die Debatte im britischen Unterhaus würde! verfolgt hat, konnte ja hören und lesen, was hier an (Beifall bei der SPD) Argumenten aus der Vergangenheit bis zurück zu der Wer hat was wann wofür oder wogegen gesagt? Das Zeit von 1914 vorgetragen wurde. haben wir heute vormittag von Herrn Schäuble und Ich sage dies hier nicht abwertend. Wir Deutschen vom Herrn Bundeskanzler verschiedentlich gehört. sollten uns stets überlegen, wie wir die Dinge sähen, Ich müßte mich jetzt eigentlich gezwungen sehen, wenn wir auf vergleichbare geschichtliche Erfahrun- mit den entsprechenden apokryphen Zitaten von Ih- gen zurückblicken würden. Wer gerecht ist, muß se- nen zu kontern, also an die 10 Punkte zur Konfödera- hen, daß unsere Partner in dieser Frage einen weite- tion oder an das Gespräch mit diesem oder jenem zu ren Weg als wir — vor allem psychologisch — zurück- erinnern. Was soll das? Es reicht mir, immer wieder zulegen haben. dasselbe Spiel mitspielen zu sollen oder immer wieder dem Vorwurf zu begegnen, wir hätten bei der deut- Für mich selbst — lassen Sie mich das persönlich schen Einigung nicht die rechte Andacht gezeigt. Muß zum Schluß sagen — ist gerade in diesen Tagen sehr ich denn immer wieder für mich selbst und die Sozial- wichtig, an einen Satz von Konrad Adenauer zu erin- demokraten betonen, mit welcher Leidenschaft — in- nern, den er damals unmittelbar vor der Abstimmung dividuell sicher unterschiedlich — auch wir die deut- über den EVG-Vertrag in Pa ris — die dann leider Got- sche Einheit gewollt haben? Der Streit war einer über tes, wie Sie wissen, kein gutes Ende nahm — gespro- den Weg und über die Schritte, nicht über das Ziel. chen hat. Er hat damals, 1954, den Europäern zugeru- fen: Wenn dieser Vertrag scheitert, wird es länger als (Beifall bei der SPD — Dr. Otto Graf Lambs eine Generation dauern, bis wir wieder in der Lage dorff [FDP]: Bei Ihnen ja, Herr Thierse! Aber sind, ein solches Werk zu schaffen. sonst?) 1954 —1991: Man muß kein Prophet sein, um zu Der Herr Bundeskanzler hat vorhin — ich erwähne sagen: Wenn wir es jetzt nicht schaffen, den Prozeß dies, weil er uns gerne frühere Zitate entgegenwirft — der politischen und ökonomischen Einigung Europas- wieder ein Versprechen abgegeben. Herr Bundes- unumkehrbar zu machen, dann wird es länger als eine kanzler, ich garantiere Ihnen: Ich werde Sie daran Generation dauern, bis wir diese Chance wieder ha- erinnern, und Sie werden mir wieder sagen, Sie hätten ben. Es werden sich neue Nationalismen in Europa es nicht gesagt. Drei, vier, fünf Jahre, haben Sie dies- auftun, und wir, die Deutschen, sollten nicht sagen, mal angegeben, wird der Prozeß dauern, wir seien davor gefeit. Es werden sich neue Ängste (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das habe und neue Komplexe bilden. ich immer gesagt!) 5018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Wolfgang Thierse dann werden die neuen Länder an das Niveau der tische, wahltaktische Instrumentierung von Ängsten, Bundesrepublik herangeführt sein — wörtlich. von wirklichen Ängsten nenne ich charakterlos. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ökono- (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang misch! — Uta Würfel [FDP]: Das war eine Schäuble [CDU/CSU]: Lassen Sie uns das Feststellung!) Problem lösen, dann brauchen wir nicht mehr zu streiten!) Ich erinnere mich an entsprechende Sätze, die Sie im Jahre 1990 im Wahlkampf gesagt haben. Diese Sie warnen vor apokalyptischen Reden, Sie warnen wollen Sie jetzt nicht mehr wahrhaben. Sie werfen uns vor Dramatisierungen. Es gehe um eine Politik Schritt üble Nachrede vor, wenn wir sie zitieren. Nein, Sie für Schritt. Dem ist zuzustimmen. müssen sich an Ihre eigenen Worte erinnern lassen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Gut!) (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Zitie- Aber welche Schritte, und in welche Richtung sollen ren Sie doch einmal! Dann werden Sie ganz sie gegangen werden? Dazu haben Sie sich nicht sehr verblüfft sein, was Sie finden werden!) ausführlich geäußert. Andacht war verlangt worden. Aber ich denke, die (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Andacht von gestern und auch die von heute hilft doch Doch!) gar nicht bei der Lösung der deutschen Probleme. Da helfen nur nüchterne, ja schmerzliche Analyse und Sie haben eben keine Vorlage eines Handlungs- der konkrete Vorschlag. Andacht und Erfolgstrunken- konzepts geboten, sondern einen allgemeinen Appell, heit sind da eher von Übel. Die Probleme von heute der nicht konkret zu werden vermag. Aber das Ge- bekommen durch sie durchaus gespenstische Aus- genteil von Apokalypse muß doch nicht illusionäre maße. Die ständige Erinnerung an die Fehlleistungen Schönfärberei sein. der anderen, der Opposition, setzt sich dem Verdacht (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das aus, wer das betreibt, der betreibt Rechtfertigungsde- sagt auch niemand!) magogie für verfehlte Politik heute. Handlungsfähigkeit ist gefordert. (Beifall bei der SPD) Noch eine kleine Nebenbemerkung: Mich macht Darf man in diesem Hause trotz allem noch Marx besorgt, wenn ich den Eindruck gewinnen muß — das zitieren? scheint unumgänglich zu sein — , daß, wenn Sie von (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Handlungsfähigkeit reden, eigentlich Einsatzbereit- Als Philosophen können Sie ihn zitieren! — schaft militärischer Art gemeint ist. Sie haben in die- Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sie sem Zusammenhang gesagt, darüber müßte man in müssen aber nicht!) einer Verfassungsdebatte reden. Eine Verkürzung der Reformbedürftigkeit und des Anpassungsbedarfs —Nein, nein! Aber ich tue es ja freiwillig. Es gibt von des Grundgesetzes auf diesen einseitigen Aspekt ihm eine ganz passende Bemerkung: finde ich beängstigend. Im Grunde genommen (Beifall bei der SPD) — heißt es bei Marx in der „Deutschen Ideologie" — Gestern hat ein Kollege der Regierungsfraktionen stellt sich die Menschheit nur Aufgaben, wo die gesagt, dieser Haushalt, den wir diskutieren, sei ein Bedingungen zu ihrer Lösung herangereift sind. Beleg beginnender Normalität in diesem gesamtdeut- schen Staat. Ein erstaunlicher Satz! Ich verstehe ihn Dies zu Ihrer Forderung, Herr Schäuble, was die SPD nicht. Er scheint mir allzusehr im Widerspruch zu ei- in den 70er Jahren schon hätte alles erledigen sollen, ner Wirklichkeit zu stehen, die für so viele Menschen um Ihnen die Aufgabe zu erleichtern. problematisch und beängstigend sowie irritierend Ich schließe mit einem Bibelzitat an — wegen der chancen- und risikobesetzt erscheint. Aber vielleicht war mit dieser Bemerkung nur gemeint, daß es end- Ausgewogenheit: lich wieder gelungen sei, die widerspenstige Wirk- (Heiterkeit bei der SPD) lichkeit auf vertraute Denkschablonen und die übli- chen Urteilsmuster zu stutzen. „Laßt die Toten ihre Toten begraben!" Wenden wir uns also der lebendigen Gegenwart zu! Ich will dem ein Beispiel von Normalisierung in der deutschen Wirklichkeit entgegenhalten. Seit über Dabei noch zwei Bemerkungen zu Ihnen, Herr zwei Wochen streikt die Belegschaft des Stahlwerks Schäuble, und zu Ihnen, Herr Bundeskanzler. Auslän- Zur gleichen Zeit streiken Bergleute im haben Sie gesagt, sei nicht gesin- Hennigsdorf. derfeindlichkeit, In Hennigsdorf streikt die Beleg- nungsethisch, sondern wirkungsvoll nur verantwor- Aachener Revier. schaft, weil sie einer Verkaufsentscheidung der Treu- tungsethisch zu begegnen. Das ist gewiß richtig. Aber mißtraut. Man glaubt, der eine Interes- wie kann Verantwortung gesinnungslos, charakterlos handanstalt sent werde weniger Arbeitsplätze sichern als der an- wahrgenommen werden? - dere, der aber den Zuschlag der Treuhandanstalt (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer nicht erhalten soll. macht das?) Der Streik in Hennigsdorf belegt ein Stück Anglei- Aus Ihren Reihen stammt doch der furchtbare Satz: chung der Lebensverhältnisse in Deutschland auf Mit der Asylfrage werde die SPD jede nächste Wahl durchaus paradoxe Weise. Mich freut dieser Streik verlieren — eine schlimme Drohung. Diese parteipoli trotzdem, weil er eine Normalisierung der Lebensein- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5019

Wolfgang Thierse stellung signalisiert, die ich begrüße: Die Arbeitneh- Die versteckte und offene Arbeitslosigkeit ein- mer in den neuen Ländern haben zu kämpfen begon- schließlich der durch bef ristete arbeitsmarktpolitische nen. Maßnahmen aufgefangenen Personen liegt bei über (Beifall bei der SPD) 30 %. In einzelnen Regionen ist sie deutlich höher. Arbeitsplatzvernichtung wird auch dort in Zukunft Vergleicht man die direkte Arbeitslosigkeit, so ergibt nicht mehr so leicht sein, hoffe ich. Dem Kampf um die sich im Westen eine Arbeitslosenquote von 5,4 %, wo- Erhaltung chancenreicher Arbeitsplätze gilt meine bei ich weiß, daß es auch hier Regionen gibt, wo die volle Solidarität in den alten wie in den neuen Län- Arbeitslosigkeit dramatisch ist. Im Osten gibt es eine Arbeitslosigkeit von 11,9 %, bei Frauen 14,9 %, bei dern. Männern 9 %. Der Konflikt in Hennigsdorf wirft übrigens ein Schlaglicht auf die Treuhand. Mir ist nicht ersichtlich, (Zuruf von der CDU/CSU) warum die Anstalt eine Präferenz für einen Anbieter Mittlerweile scheint die Talsohle der Produktion hat; ich kenne die Gründe und die Konzepte nicht. hinter uns zu sein, jedoch ist ein sich selbst tragender Schlimmer ist, daß sie dies den Arbeitern nicht ver- Aufwärtstrend immer noch nicht in Sicht. Machen wir ständlich machen kann. Es mangelt offenbar noch uns nichts vor. Die Talsohle bei der Beschäftigung ist immer an der nötigen Transparenz der Treuhandent- noch längst nicht erreicht. scheidungen. (Zuruf von der CDU/CSU:Im Frühjahr!) Die Arbeiter von Hennigsdorf sind weder bockig Im Osten Deutschlands steigen die Investitionen wie- noch nationalistisch. Ihr Kriterium ist nicht die Natio- der, aber je Erwerbstätigen wird nach wie vor nur halb nalität des Kapitals, sondern die Zahl der verbleiben- so viel im Osten Deutschlands investiert wie im We- den Arbeitsplätze. Das ist ein vernünftiges Kriterium. sten Deutschlands. Es beweist auch: Die Leute wollen Arbeit, und sie wol- len nicht auf Dauer am Geldtropf des Westens hän- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Dienst gen. Sie wissen, was sie selber können, und wollen es leistungssektor!) auch tun — ganz normale Leute also! Dabei müssen wir doch einen Nachholprozeß organi- Normalität sonst? Wir leben zwar in einem geeinten sieren. Da ist dieses eine alarmierende Zahl. Staat, aber in einem ökonomisch und sozial gespalte- Ich weiß, die Realeinkommen in Ostdeutschland nen Land. Daß wir in einem gemeinsamen Staat leben sind kräftig gestiegen. Ich mache aber die Einschrän- — Gott sei Dank — und in diesem gemeinsamen Staat kung: für einen Teil der Bevölkerung. Die Basis des die ökonomische und soziale Spaltung zu überwin- Anstiegs des Einkommens ist nicht die Wirtschafts- den haben, ist Risiko und Chance zugleich. Die Spal- kraft in den neuen Ländern selbst, sondern zu einem tung zu beschreiben ist also nicht Schwarzmalerei, großen Teil der enorme — die Zahlen hat auch der sondern Aufgabenbeschreibung. Über Probleme zu Herr Bundeskanzler genannt — Milliardentransfer reden ist nicht Defätismus. Wer den Deindustrialisie- von West nach Ost, rungsprozeß im östlichen Deutschland benennt, ver- tieft nicht die Spaltung Deutschlands — wie der thü- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Noch! ringische Ministerpräsident gestern behauptet hat —, Noch! Das ist ja ein Übergang!) sondern nennt eine brutale Wirklichkeit beim Namen, nur zu einem kleinen Teil selbst erwirtschaftet. Das um den Prozeß umzukehren. kann selbstverständlich nicht auf Dauer so bleiben, (Beifall bei der SPD) zumal es Anzeichen für eine Angleichung auch im Negativen gibt in Deutschland. Beschweigen oder schönreden hilft nicht, sondern schadet nur. Drastischer und schneller, als von vielen erwar- tet, In diesem Sinne rufe ich ein paar nüchterne Daten in Erinnerung: Seit 1989 sind mindestens 500 000 — so schrieb die „Wirtschaftswoche" vor wenigen Menschen von Ost nach West in Deutschland gewan- Tagen — dert — zum Glück keine Flüchtlinge im früheren hat sich der einsetzende westdeutsche Konjunk- Sinne mehr. Im Westen Deutschlands hat die Zahl der turabschwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt Arbeitsplätze erheblich zugenommen; der Bundes- niedergeschlagen. Fehlende Impulse aus dem kanzler hat die Zahl vorhin genannt. Die Produktion Ausland, eine erlahmende Nachfrage aus den ist 1990 und im ersten Halbjahr 1991 gestiegen; die neuen Bundesländern sowie die zahlreichen Unternehmensgewinne sind rasant gewachsen. Steuern und Abgaben, die den Westverbrau- Eine Meldung von heute: In Ostdeutschland gibt es chern die Kauflust nehmen, würgten den Auf- einen Einkommensrückstand von mehr als zehn Jah- schwung in der zweiten Hälfte dieses Jahres ren gegenüber Westdeutschland; das teilt das DIW ab. mit. Von 1989 bis 1991 ist das Bruttosozialprodukt im (Zuruf von der CDU/CSU: In welchem Land Osten Deutschlands um rund ein Drittel geschrumpft - denn?) und ist die Industrieproduktion um zwei Drittel gesun- ken. Die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze in Ostdeutsch- Finanzpolitisch aber sind wir auf einen Konjunktur- land ist von 9,6 Millionen auf 5,7 Millionen gesun- einbruch und die sozialen Kosten für die Millionen ken. Arbeitslosen nicht ausreichend vorbereitet. Das be- deutet, die ökonomische Lage wird bedrängender. (Zuruf von der CDU/CSU: Trotzdem steigt Der Westen Deutschlands wird in Mitleidenschaft ge- das Einkommen!) zogen. Dabei ist doch klar — ich will das ausdrücklich 5020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Wolfgang Thierse betonen — : Die Stabilität der wirtschaftlichen und so- bedeutet praktisch, Eigentümer mit allen Rechten und zialen Entwicklung im Westen Deutschlands ist die Pflichten zu sein. Solche Menschen haben sich Voraussetzung für den Nachhol- und Aufbauprozeß 20 Jahre lang als Eigentümer fühlen können. Sie ha- im Osten Deutschlands. Und eine vernünftige Politik ben vor allem unter großen Mühen Haus und Grund- für den Aufbau im Osten wirkt positiv zurück auf die stück gepflegt und erhalten. Nun sind sie vom Verlust Entwicklung im Westen. Das allerdings gilt auch. Je- ihres Wohnsitzes bedroht, weil sie in eine rechtliche der Fehler dort hat Wirkungen hier, kommt am Schluß Situation geraten sind, die es eigentlich gar nicht gibt. alle in Deutschland teuer zu stehen. Da hilft keine Schutzlos sind sie den Ansprüchen früherer, im allge- Politik des Schönredens und der Versprechungen. Ich meinen jetzt westlicher Eigentümer oder gar deren verlange keine Wunder, sondern die Korrektur von Erben ausgesetzt, die bis zum 3. Oktober 1990 nie- Fehlern. Das ist doch wohl das Mindeste: mals damit rechnen konnten, den früheren Besitz zu- rückzuerlangen. Sie benötigen ihn oft auch nicht, son- (Beifall bei der SPD) dern spekulieren; ich weiß das aus Berlin und aus der die Überwindung einer bornierten Politik, die beäng- Umgebung von Berlin. stigende Folgen gezeigt hat. Manche der Nutzer haben ein Gesetz der Modrow Ich will das nur an einem einzigen Beispiel verdeut- Regierung vom März 1990, das vom Runden Tisch lichen, weil nicht soviel Zeit ist: Die berühmten, be- abgesegnet war, benutzt, um das Grundstück, auf rüchtigten ungeklärten Eigentumsverhältnisse im dem sie leben, doch noch zu kaufen. Sie stehen nun im Osten Deutschlands sind — das ist eine hinlänglich Geruch des unredlichen Erwerbs, weil ihnen laut ak- bekannte Tatsache — ein elementares Investitions- tueller Rechtslage hätte klar sein müssen, daß der hemmnis. Zu diesem dramatischen Problem stehen Rücktritt Honeckers am 18. Oktober 1989 das Ende die von der Regierung durchgesetzten — sogenann- der DDR bedeutet habe, durch das jeglicher Rechts- ten — Lösungen im Einigungsvertrag und in den verkehr hätte ruhen müssen. — Ich brauche das nicht Nachbesserungsgesetzen in einem geradezu lächer- weiter zu schildern. lich absurden Mißverhältnis. Ich will gerne einmal Ich fordere die Bundesregierung auf, die Stichtags- vortragen, was notwendig ist, um ein Grundstück in regelung des Vermögensgesetzes zu streichen und den neuen Ländern zu erwerben, auf dem neue Ar- die Beweislast für angeblich unredlichen Erwerb um- beitsplätze geschaffen werden sollen. Es müssen be- zukehren. rücksichtigt werden: das Vermögensgesetz, das Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mögenszuordnungsgesetz, die Grundstücksvermö- der PDS/Linke Liste) gensordnung, die Anmeldeverordnung, die §§ 20 a und 20b des Parteiengesetzes der DDR, das Investi- Ich fordere, den Nutzern von Wohneigentum langfri- tionsgesetz, das Verwaltungsverfahrensgesetz, das stig ein Bleiberecht unter Bedingungen zu sichern, die Verwaltungszustellungsgesetz, das Einigungsver- sie auch finanziell verkraften können, und schließlich tragsgesetz, die Grundbuchordnung, die Wertermitt- auch beim privaten Hausbesitz Regelungen zu tref- lungsverordnung, das Treuhandgesetz mit vier fen, daß die Alteigentümer vorrangig entschädigt Durchführungsverordnungen, das Abkommen vom werden. 9. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Machen wir Deutschland und der UdSSR über einige überleitende doch!) Maßnahmen. Soll ich fortfahren aufzuzählen, welche Wir können nicht Hunderttausende wegen einiger Verwaltungsstellen alle eingeschaltet werden müssen zwar wichtiger, aber doch abstrakter Rechtsnormen und wer alles bei der Frage mitredet, welche Rechts- um die Früchte ihrer Lebensleistung, um ein Stück wege noch möglich sind? Heimat, um ihre Wohnung bringen. (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]: Im Rechtsstaat ist das nun einmal so!) Es würde die fortbestehende gesellschaftliche Spal- tung in Deutschland weiter vertiefen, statt sie zu über- Ich denke, Sie müßten aus dieser Erfahrung endlich winden. eine Konsequenz ziehen, den Grundsatz umkehren Die Dimension dieses Problems ist enorm. Allein in und nun menschlich angemessen verfahren. Es kann sind von 300 000 Restitutionsansprü- nicht bei dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädi- chen 200 000 Ansprüche auf private Häuser und Woh- gung" bleiben. nungen. 200 000 betroffene Haushalte summieren (Beifall bei der SPD) sich schnell zu einer halben bis einer Million Men- Diese bornierte Eigentumsregelung schen, die davon betroffen sind. Ich erlaube mir den (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/ Satz, daß demgegenüber bestimmte Rechtsnormen abstrakt genannt werden können. CSU]: Das ist keine bornierte Regelung!) (Beifall bei der SPD) erzeugt Probleme, die auch beängstigenden sozialen Sprengstoff enthalten und die Gefahr einer neuerli-- chen Ost-West-Spaltung heraufbeschwören. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege In der DDR konnte man, um auf die andere Seite Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- einzugehen, die viele Millionen Menschen betrifft gen Graf Lambsdorff? — da geht es jetzt nicht um Investitionen —, Grund- stücke nicht erwerben. Man wurde, insbesondere in den siebziger Jahren, nur Nutzer eines Hauses; das Wolfgang Thierse (SPD): Aber sicher. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5021

Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Herr Kollege biet der ehemaligen DDR überträgt. Dies wäre ein Thierse, würden Sie uns bitte auch erklären, wie Sie weiteres Beispiel. bei diesen Darlegungen und bei dem, was Sie hier (Beifall bei der SPD) vorgeschlagen haben, mit dem Eigentum verfahren wollen, das früheren jüdischen Mitbürgern enteignet Ich will zum Schluß kommen. Der Hinweis auf das worden ist? Was wollen Sie mit dem machen? Eigentumsproblem war nur ein Ausschnitt unter der Überschrift, daß es nicht darum geht, Wunder zu orga- nisieren, sondern das Mögliche zu tun und Fehler — Wolfgang Thierse (SPD): Entschuldigung, dieses wenigstens das — zu vermeiden, die man erkannt hat Problem haben wir allerdings wirklich schon im Zu- oder die man jedenfalls erkennen kann, weil die Pro- sammenhang mit dem Einigungsvertrag geregelt. bleme massenhaft auftreten. Dies ist ein Beispiel. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Wie Ich schließe mit einer kleinen Bemerkung. Am bitte?) Schluß wird uns nichts anderes helfen als Solidarität, Es ist ein Gesetz zur Regelung offener Vermögensfra- Solidarität als Investition in die Zukunft, Solidarität gen beigefügt, in dem genau Sonderkonditionen ver- zwischen den Deutschen West und Ost und Solidarität einbart sind. der Deutschen mit den Osteuropäern. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Was ma- In diesem Zusammenhang will ich ganz ausdrück- chen Sie, wenn da inzwischen Nutzungs- lich sagen, daß die SPD immer — ich habe das früher rechte eingeräumt worden sind? — Norbert von außen beobachten müssen — eine leidenschaftli- Gansel [SPD]: Das ist doch nicht das Haupt- che Anhängerin der europäischen Integration gewe- problem! — Gegenruf des Abg. Dr. Otto Graf sen ist und daß wir auch jetzt im Grundsatz — sicher Lambsdorff [FDP]: Das ist ein ganz wichtiges nicht in jeder Detailfrage — Ihren Positionen zustim- Problem, Herr Gansel!) men, mit denen Sie in die Verhandlungen zur weite- — Herr Graf Lambsdorff, ich habe darauf hingewie- ren europäischen Einigung gehen. Wir werden über sen, daß zur Lösung dieses Problems bereits eine Re- Einzelfragen zu streiten haben. gelung erreicht worden ist. Ich füge hinzu, da ich gewissermaßen aus Osteu- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Nein, das ist ropa komme nicht der Fall!) (Zurufe von der CDU/CSU: Aus Osteu Es ist natürlich ein altes Muster, mit dem Hinweis auf ropa?) ein sehr besonderes Beispiel eine allgemeine Rege- — gewissermaßen aus Osteuropa — : Wir sollten es lung durchzusetzen. Ich rede andersherum; ich gehe uns nicht ganz so leicht machen. von der Mehrzahl der Fälle aus und sage: Wir müssen eine menschenverträgliche Lösung für das Problem (Zuruf von der CDU/CSU: Geistig!) und für die vielen Betroffenen finden und zugleich — Wir waren ein Teil Osteuropa, unfreiwillig, aber wir Ausnahmeregelungen zulassen, waren es. Ich will aus dieser Not gerade eine Tugend (Beifall bei der SPD) machen. gerade auch für die Beispiele, von denen Sie gespro- Ich will darum bitten, daß wir es uns nicht ganz so chen haben. leicht machen mit der Bemerkung, die europäische Integration müsse beschleunigt werden. Ich habe die Sorge, daß dann die osteuropäischen Nachbarn nicht Herr Kollege Vizepräsidentin Renate Schmidt: mehr recht mitkommen. Wir sollten miteinander Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Sorge dafür tragen, daß wenigstens der Abstand der gen Waltemathe? Osteuropäer zum Prozeß der europäischen Integration nicht zunimmt. Sonst haben sie nämlich keine Wolfgang Thierse (SPD): Bitte schön. Chance. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Ernst Waltemathe (SPD): Herr Kollege Thierse, sind GRÜNE) Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in der Bun- desrepublik Deutschland (alt) für während der Nazi- zeit enteignetes oder zwangsverkauftes jüdisches Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun Vermögen Restitutionsansprüche gegeben hat und der Kollege Michael Glos. daß nicht unbedingt eine Rückübertragung erfolgt ist? (Zurufe von der SPD: So ist es! — Peter Con- Michael Glos (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine radi [SPD]: Auch bei den Banken, die der sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nur ein Herr hier vertritt! — Norbert Gansel [SPD]: paar Worte zum Kollegen Thierse sagen: Zu unserer Und die FDP war immer in der Regierung!) Gesellschaftsordnung gehört als ein tragender Be- - standteil auch unsere Eigentumsordnung. Ohne daß wir diese Säule ordentlich aufrechterhalten, kann Wolfgang Thierse (SPD): Ich danke für den Hinweis und werde ihn in den Katalog der Beispiele aufneh- diese Gesellschaftsordnung und kann vor allen Din- men, mit denen ich immer durchs Land ziehe, wo ich gen die Wirtschaftsordnung nicht funktionieren. dann gelegentlich einmal erkläre: Ich wünsche mir (Wolfgang Thierse [SPD]: Muß man das so einfach, daß man Rezepte aus der Erfolgsgeschichte erbarmungslos machen, oder kann das auch der alten Bundesrepublik anwendet und auf das Ge- barmherzig geschehen?) 5022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Michael Glos — Es wird rechtsstaatlich gemacht, nicht erbarmungs- es immer wieder Menschen, die auf der Schattenseite los; das wissen Sie ganz genau. des Lebens stehen. Es kann aber doch kein Zweifel (Zuruf von der SPD: Sozialpflichtigkeit ge- darüber bestehen, daß die Soziale Marktwirtschaft dasjenige System darstellt, das Probleme mit Abstand hört dazu!) am allerbesten lösen kann. Wir hoffen auch, daß der Ausbau des Rechtswesens in den Ländern der ehemaligen DDR vorangeht, und Wer nach Öffnung der Mauer die damalige DDR dann werden sich alle Fragen rechtsstaatlich klären betrachtet hat, konnte von dem versprochenen Arbei- lassen. ter- und Bauernparadies nichts, aber auch gar nichts bemerken. Von Oskar Lafontaine gibt es das Zitat von Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir bera- der DDR als einem blühenden Indust rieland. Wer es ten über den Bundeshaushalt — ein Dokument dafür, richtig betrachtet hat, hat gemerkt, daß kaum erhal- welche enormen Anstrengungen wir unternehmen, tenswerte Errungenschaften vorhanden sind. den ökonomischen und ökologischen Scherbenhau- fen zu beseitigen, den vierzig Jahre Sozialismus ange- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das gilt richtet haben. Wer allerdings bisher der Auffassung nicht einmal für das Saarland!) gewesen ist, daß zwischen Regierungskoalition und Die Vollbeschäftigung ist u. a. durch die Anstellung SPD-Opposition zumindest in diesem Punkt Einigkeit Zigtausender von Stasi-Spitzeln zur Überwachung herrsche, der konnte am Sonntagabend eines Besse- der eigenen Bevölkerung garantiert worden. Dies darf ren belehrt werden. man im nachhinein nicht als Erfolg von Vollbeschäfti- Die Äußerung von Herrn Klose in der ZDF-Sendung gung preisen. Die angeblich überlegene Lenkung und „Bonn direkt" zum Wettbewerb der Wirtschaftssy- Steuerung der Planwirtschaft hat die Sowjetunion steme hat die letzte Illusion zerstört. Der neue Frak- zwar befähigt, Raumstationen ins Weltall zu schießen tionsvorsitzende hat in dieser Sendung zwar richtiger- und Nuklearwaffen zu entwickeln und auch in großer weise dargelegt, daß der Kommunismus tot ist und Zahl zu produzieren; sie hat es allerdings nicht ver- sich das westliche System als das erfolgreichere her- mocht, die endlosen Schlangen der Hausfrauen, Ar- ausgestellt hat; so weit, so gut. Schlimm war aller- beiter und Rentner vor den leeren Lebensmittelläden dings der nächste Satz: Es müsse sich aber erst noch zu verhindern. Meine sehr verehrten Damen und Her- zeigen, ob das westliche System auch das bessere ren, das ist der real existierende Sozialismus. System sei im Sinne seiner Fähigkeit zur Lösung von (Zuruf von der SPD: War er!) Problemen. — Da kann ich nur sagen — frei nach dem bekannten Lied — : Wärst du doch in Mexiko geblie- Für mich ist es deshalb schleierhaft, wie man nach ben! diesen negativen Erfahrungen immer noch vorschla- gen kann, die SPD sollte die ursprünglichen Ideale des (Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar- Sozialismus, wie Herr Thierse es am 12. September in cher [SPD]: Das ist ein bißchen sehr primi der „" formuliert hat, wieder stärker tiv!) kenntlich machen. — Entschuldigung, Herr Kollege, Sie scheinen auch Wenn die deutsche Sozialdemokratie glaubt, trotz der Toskana-Fraktion anzugehören, weil Sie sich jetzt dieser Tatsachen immer noch nach einem dritten Weg so stark solidarisieren: Gut essen, gut trinken, gut zwischen Zentralverwaltungsstaat und Sozialer ruhen lautet die Devise. Das ist also die Fortsetzung Marktwirtschaft suchen zu müssen, dann ist das eine der ehemaligen Arbeiterpartei! gefährliche politische Traumtänzerei. Ich habe irgendwo gelesen, man müsse wissen, daß „piatti caldi" „warme Speisen" heißt und nicht „kalte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Speisen" oder „Brotzeit" , wie deutsche Arbeiter viel- Der polnische Staatspräsident Lech Walesa soll vor leicht denken würden. Dies ist Ausdruck des neuen einiger Zeit die Frage nach dem besten Wirtschaftssy- Lebensstils. stem für Polen dahin beantwortet haben, daß man das Man hat sich den Fraktionsvorsitzenden aus Me- Beste des Kapitalismus mit dem Besten des Sozialis- xiko geholt, und man muß jetzt sehen, wie man damit mus verbinden müsse. Ich beziehe mich hier auf Ar- zurechtkommt. nulf Baring in seinem Buch „Deutschland, was nun?". Auf die weitere Frage, was das sei, hat er gesagt, der (Detlev von Larcher [SPD]: Sie können nicht Kapitalismus sei leistungsstark, aber im Sozialismus zuhören, Sie können nur polemisieren! — brauche man nicht viel zu arbeiten, das müsse beibe- Gegenruf des Abg. Johannes Gerster halten werden. [Mainz] [CDU/CSU]: Dieser Quatschkopf!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, so geht es — Ich kann doch nicht ständig Ihrem Geschrei zuhö- natürlich nicht. Ich kann gut verstehen, daß das der ren. Ich habe vorhin aufmerksam zugehört. polnische Staatspräsident noch nicht so genau gewußt Ich möchte zurückkehren zur Marktwirtschaft. hat. Aber die deutsche Sozialdemokratie müßte doch zumindest wissen, daß man nicht so ohne weiteres Auch in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung- und in einem System der Sozialen Marktwirtschaft „Errungenschaften" beibehalten kann, wenn man er- leben wir nicht auf einer Insel der Glückseligen. folgreich sein will. (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU) So ist es!) Der Sozialismus ist schon in den verschiedensten Auch bei uns gibt es sicher Probleme und Mißstände. Spielarten versucht worden. Neben der Va riante im Das wollen wir nicht verniedlichen. Auch bei uns gibt kommunistischen Ostblock gab es die jugoslawische Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5023

Michael Glos Variante, die schwedische Variante — sie wird jetzt konfrontiert sind. Zu groß ist einfach die Altlast, die stark korrigiert —, die afrikanische Va riante — ich er- der Sozialismus hinterlassen hat. innere an Nyerere in Tansania —, die kubanische Va- riante usw. (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU] : Sehr wahr!) (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Und die Willy-Brandt-Variante!) Im Gleichschritt mit Fortschritten bei der Umsetzung von Wirtschaftsreformen dürften deshalb in den kom- Alle Modelle haben nicht funktioniert und die Men- menden Jahren weitere westliche Hilfen erforderlich schen nur ärmer gemacht. Das ist die Tatsache. sein, um den wirtschaftlichen Neuanfang zu flankie- (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: ren. Leider wahr!) Niemand im Westen kann ein Interesse an einem Ausgerechnet die deutsche Sozialdemokratie, die den Rückfall in den kalten Krieg oder an einem vollstän- real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden digen Zerfall der Sowjetunion haben. Denken wir nur erlebt hat, glaubt immer noch, eine eigene Va riante, einmal an die Probleme, die entstehen, weil sehr viele sozusagen einen Stein der Weisen des Sozialismus, Atomwaffen unkontrollie rt vorhanden sind. Wir alle entdecken zu können. müssen ein ausgeprägtes Interesse am Gelingen der Reformen haben, damit es in der Sowjetunion und den (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Das ist kein anderen Reformstaaten nicht zu einem gefährlichen Traum, sondern ein Alptraum!) Vakuum kommt. Menschen, die in Not sind, die nichts Ich bin der festen Überzeugung: Jeder dritte Weg zu verlieren haben, deren Kinder hungern, handeln führt in die Dritte Welt. Diese Einsicht hat sich bis weit irrational. Deshalb müssen Deutschland, Europa und in die Sowjetunion herumgesprochen, wie der Besuch die internationale Gemeinschaft einen entsprechend starken Beitrag leisten. des russischen Präsidenten Boris Jelzin in der Bun- desrepublik gezeigt hat. Der russische Präsident will Aber hier ist nicht nur die öffentliche Hand gefor- ordnungspolitische Grundsatzreformen mit einer dert, nicht nur die Staaten sind gefordert; ohne priva- Preis- und Wechselkursfreigabe, freien Märkten und tes Engagement — dies zeigen die Erfahrungen in Privateigentum in Rußland durchsetzen. Ich wünsche den neuen Bundesländern — können die marktwirt- ihm und anderen Reformern wie dem Sankt Peters- schaftlichen Reformen nicht zum Erfolg führen. P ri burger Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak die glei- -vate Unternehmungen und Banken müssen bei unsi- che Kraft, den gleichen Mut, die gleiche Beharrlich- cheren Engagements die Risikokomponente zweifels- keit und vor allen Dingen den gleichen Erfolg wie bei ohne mitberücksichtigen. Das sind sie ihren Eigentü- der Niederschlagung des August-Putsches. mern schuldig. Boris Jelzin hat ein klares Bekenntnis zur Öffnung Es gilt aber auch, die enormen Chancen von Inve- seines Landes für ausländische Investoren, zur Ge- stitionen im ehemaligen Ostblock zu sehen. In der werbefreiheit abgelegt. Dabei sollen die Bedingun- CSFR geht es ja los, daß westliche Industriekonzerne, gen für Investitionen verbessert und ein ungehinder- auch deutsche, kräftig investieren. Wir wünschen uns ter Transfer von Devisen und Gewinnen ermöglicht das für den gesamten Ostblock. werden. Jedem westlichen Investor und jeder Bank muß klar Zu begrüßen ist, daß mittlerweile acht von zwölf sein, daß im Osten ein Markt von 400 Millionen Men- Unionsrepubliken die Bedienung der sowjetischen schen liegt und die Schlüssel für das Tor zum riesigen Auslandsschulden uneingeschränkt anerkannt ha- Markt der Sowjetunion und anderer ehemaliger ben. Dies war und ist für uns unabdingbare Voraus- RGW-Staaten heute vergeben werden. Wer bei dieser setzung für ein weiteres staatliches und vor allen Din- Schlüsselvergabe dabei sein will, muß sich jetzt be- gen, wie ich hoffe, bald auch privates Engagement des mühen und muß auch eigenes Risiko eingehen. Westens in den Republiken der Sowjetunion. Es kommt jetzt darauf an, diese Erklärung alsbald mit Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es rechtlichen Bindungen zu versehen, damit das inter- noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dann nationale Vertrauen in die Sowjetunion erhalten müßte im Zusammenhang mit unseren Hilfen für die bleibt. Reformländer des Ostblocks jedermann klargewor- den sein, daß der Haushaltsrahmen in der Bundesre- Meine sehr verehrten Damen und Herren, westliche publik Deutschland leider sehr eng geworden ist. Hilfen können nur dann einen Sinn machen, wenn in Deutsche Einheit und Unterstützung der Reformlän- der Sowjetunion möglichst rasch Klarheit über Zu- der sind Aufgaben, die nicht ohne Einschnitte bei bis- ständigkeiten geschaffen wird. Jedes einzelne Hin- herigen und neuen staatlichen Leistungen einzulösen auszögern der Unterzeichnung des Unionsvertrages sind. kann deshalb nur schädlich sein, und wir wünschen Präsident Gorbatschow hier, auch in unserem Inter- Generell muß den Menschen im alten Bundesgebiet esse, viel Erfolg. klar sein, daß nicht jedes soziale und wi rtschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU) Problem in demselben Umfang und in dem Tempo angepackt werden kann wie in der Vergangenheit. Es Es gehört nicht viel Phantasie dazu, zu erkennen, gibt in den nächsten Jahren keine zusätzlichen realen daß die wirtschaftlichen Probleme in den Unionsre- Verteilungsspielräume. Auch das müssen wir unse- publiken noch um einiges größer sind als diejenigen, ren Mitbürgern, wie ich meine, klipp und klar sa- mit denen wir zur Zeit in den jungen Bundesländern gen. 5024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Michael Glos Vor diesem Hintergrund haben der Bundesfinanz- können, die Rahmenbedingungen für unternehmeri- minister und die Haushaltspolitiker der Koalition mit sches Engagement in Deutschland zu verbessern. dem Bundeshaushalt 1992 ausgezeichnete Arbeit ge- leistet, die den geänderten finanzpolitischen Rahmen- (Beifall bei der CDU/CSU) bedingungen Rechnung trägt. Das heißt für den Bereich der Steuerpolitik, daß die Für noch so gut gemeinte neue sozial- oder umwelt- Unternehmenssteuern investitions- und beschäfti- politische Leistungen bieten zumindest die öffentli- gungsfreundlicher, als sie derzeit sind, gestaltet wer- chen Haushalte in den nächsten Jahren keinen gro- den müssen, um die Wettbewerbsposition für die ßen Spielraum mehr. Wir müssen deshalb auch unser deutschen Unternehmungen unter den Konkurrenz- Tempo beim Einführen neuer wünschenswerter Stan- bedingungen des europäischen Binnenmarkts zu ver- dards überprüfen. Es macht für mich z. B. wenig Sinn, bessern. im alten Bundesgebiet im kleinsten Dorf forciert die Umstellung auf vollbiologisch funktionierende Klär- Ich glaube, jetzt kommt bald die Stunde der Wahr- anlagen erreichen zu wollen, während in den neuen heit. Bundesländern in vielen Landkreisen überhaupt noch (Zurufe von der SPD: Ja! — Jawohl!) keine einzige zentrale Kläranlage vorhanden ist. Die Sozialdemokratie kann durch ihr Verhalten im (Beifall bei der CDU/CSU — Rudi Walther Bundesrat zeigen, wie ernst sie es mit dem Industrie- [Zierenberg] [SPD]: Da gebe ich Ihnen ja standort Bundesrepublik Deutschland meint. recht!) (Eckart Kuhlwein [SPD]: Sagen Sie doch Beim Einsatz knapper öffentlicher Mittel muß gel- endlich die Wahrheit!) ten, daß sie in hohem Maß dort eingesetzt werden, wo sie am allerdringendsten benötigt werden — da Im Vermittlungsausschuß haben Sie ein ganzes Stück stimme ich mit den Kolleginnen und Kollegen aus den mitzureden. Ich kann an Sie nur appellieren, daß Sie neuen Bundesländern überein —, nämlich in den die Unternehmenssteuerreform nicht sabotieren, son- neuen Bundesländern. dern so auf den Weg bringen, wie es für die Arbeits- Zu warnen ist auch davor, die Finanzierung von plätze in unserem Land nötig ist. neuen staatlichen Aufgaben durch ein entsprechen- (Beifall bei der CDU/CSU) des Anziehen der Abgabenlasten oder der Steuer- schraube der Bürger und Bet riebe suchen zu wollen. Ich finde es auch viel redlicher, hier in Bonn offen Wer glaubt, eine Kuh immer nur melken zu können, und ehrlich ja zu sagen zu unabdingbaren Verbesse- ohne sie zwischendurch auch einmal zu füttern, der rungen bei den betrieblichen Steuern, z. B. bei der irrt vollständig. betrieblichen Vermögensteuer, statt so zu handeln, (Ernst Waltemathe [SPD]: Schlachten!) wie es im Saarland anscheinend Brauch ist. Ich be- ziehe mich auf die jüngste Ausgabe des „Spiegel". — Nein. Hier geht's ums Füttern, ums gute Füttern. Dort heißt es: Im SPD-regierten Saarland ist durch Vom Schlachten reden wir überhaupt nicht. Verstöße gegen steuerrechtliche Vorschriften mit Ich kann Ihnen ein anderes Bild bringen, da ja die Willkürentscheidungen auf die Zahlung von Unter- Luft- und Raumfahrtindustrie in Bremen zu Hause nehmensteuern überhaupt verzichtet worden. ist. (Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: (Ernst Waltemathe [SPD]: Was? Auch in Bay Hört! Hört!) ern!) Es ist bei der Wirtschaft wie mit einem großen Jum- Es stimmt ja nicht alles, was im „Spiegel" steht. Aber bojet, der heute um die Welt f liegt. Die großen Kon- vieles stimmt. Und solche Dinge sind oft sehr sorgfäl- zerne verkaufen ja in allen Ländern der Welt, sie pro- tig recherchiert. Wenn diese Meldungen stimmen, hat duzieren gemischt, und sie vertreiben weltweit. Für dort, wie ich meine, ein „Oskar"-reifes vermögensteu- dieses große Flugzeug sucht man sich eine feste Basis erpolitisches „Kasper"-Theater auf Kosten der Ge- oder einen festen Heimathafen, wo die Kosten günstig samtheit der ehrlichen deutschen Steuerzahler statt- sind, wo man möglichst wenig Substanzsteuern zah- gefunden. Für die, die den „Spiegel" nicht gelesen len muß, wo man sein Stammpersonal da hat, wo es haben: Der Finanzminister dort heißt Kasper. Deswe- noch bezahlbar ist. gen: das „Kasper"-Theater. Der Regisseur in diesem Theater heißt, glaube ich, Oskar — nicht? — . Und so So ähnlich verhält es sich heute mit internationalen hat ein „Oskar"-reifes „Kasper" -Theater stattgefun- Investitionen. Wir stehen hier weltweit im Wettbe- den. werb, nicht nur in Europa, sondern auch mit vielen (Zurufe von der FDP und der SPD) anderen Industrie- und Schwellenländern. — Es ist Oskar Lafontaine diesmal, der berühmte Os- Es ist alarmierend — das müssen wir uns in dem - kar, Mitglied der Toskana-Fraktion. Zusammenhang vor Augen führen — , daß im vergan- genen Jahr deutsche Unternehmungen im Ausland (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Nur keinen 36 Milliarden DM direkt investiert haben, auch zur Neid!) Sicherung ihrer Marktbasis, während ausländische Unternehmungen bei uns nur 2,5 Milliarden DM inve- — Entschuldigen Sie! Ich war auch schon in der Tos- stiert haben. Ich glaube, das sind bedrohliche Zahlen. kana. Diese Zahlen machen deutlich, daß wir nicht umhin (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, eben!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5025

Michael Glos In dem Lokal war ich natürlich nicht. Ich war ganz lassen sich Entfernungen zwischen Menschen mit ir- privat dort, verstehen Sie, wie es sich gehört: mit der dischen Maßen gar nicht ausdrücken." eigenen Frau. (Heiterkeit und Beifall) Sowohl für das weitere Gelingen des Aufschwungs Ost als auch für eine Fortsetzung des Wirtschafts- Auch da kann es einem gut gefallen. Ich will mich wachstums im Westen unseres Landes ist es unbe- nicht weiter darüber verbreiten. Jedenfalls bin ich dingt erforderlich, daß sich die Lohnpolitik im Rah- deswegen nicht zum Mitglied der „Toskana"-Frak- men des produktivitätsmäßig und stabilitätspolitisch tion geworden. Machbaren bewegt. Wenn ich mir die jüngsten Forde- rungen nach zweistelligen Einkommensverbesserun- Ich plädiere außerdem nachdrücklich für einen Ver- gen im Westen und nach rascherer Angleichung der zicht auf weitere Belastungen oder zumindest für eine Einkommensverhältnisse im Osten vor Augen halte, Verschiebung von Belastungen der Wirtschaft im so- so würde ich mir durchaus mehr Einsicht in gesamt- zialen wie im Umweltbereich. Jede einzelne dieser wirtschaftliche Zusammenhänge seitens der Gewerk- Belastungen unserer Wirtschaft durch Steuern, Abga- schaften und vor allen Dingen auch mehr Stehvermö- ben, Löhne, Bürokratiekosten usw. scheint für sich gen der Arbeitgeber wünschen, als es in der letzten verkraftbar zu sein, aber in der Summe, in der Bünde- Lohnrunde der Fall gewesen ist. lung liegt das eigentliche Problem. Nur wenn wir auf diesem Wege voranschreiten, die Kosten nicht erhö- (Beifall bei der CDU/CSU) hen, sondern eher wieder eine Entlastung vornehmen, können wir die Staatsquote in der Bundesrepublik Man kann nicht ständig nur von Aktivitäten der öf- Deutschland wieder allmählich zurückführen und die fentlichen Hand reden, sie anmahnen und die hohe Abgabenbelastung, die wir zur Zeit Bürgern und Wirt- Abgabenbelastung der Wirtschaft anprangern, um schaft zumuten müssen, auf ein vernünftiges, dauer- sich dafür beim Hauptkostenfaktor Lohn oder bei den haft vertretbares Maß bringen. Nur wenn wir die Wirt- betrieblichen Lohnnebenkosten um so großzügiger zu schaft in den alten Bundesländern in Ordnung halten, zeigen. Das Ganze geht nicht zusammen. haben wir auch die Kraft, den neuen Bundesländern An dieser Stelle möchte ich mit einem Märchen auf- zu helfen; und das möchten wir tun. räumen, das sich hartnäckig hält und uns von Arbeit- geberseite auch immer wieder an den Kopf geworfen (Beifall bei der CDU/CSU) wird, daß nämlich der öffentliche Dienst eine unheil- Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge- volle Lohnführerschaft übernommen habe. Dieser samtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem jüng- Vorwurf übersieht, wie ich meine, die im Vergleich zu sten Gutachten guté Chancen dafür konstatiert, daß anderen Tarifbereichen ausgesprochen niedrigen es mit der ostdeutschen Wirtschaft im kommenden Lohnzuwächse in den Jahren vorher, Jahr weiter aufwärtsgeht. Ich bin sehr zuversichtlich. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Die gesamtwirtschaftliche Produktion in den neuen Ländern könnte dann 1992 mit einer zweistelligen nämlich 2,4 %, 1,4 % und 1,7 %, die im öffentlichen Rate zunehmen. Ich freue mich, daß das auch Herr Dienst damals vereinbart worden sind, so daß der Kollege Thierse bestätigt hat. Es bedeutet allerdings Abschluß von 6 % 1991 ohne Zahlung von Nachschlag im Blick auf das Ziel, gleiche Lebensverhältnisse wie hier eingeordnet werden muß. Das war also nicht als in den alten Bundesländern rasch herzustellen, nur Signal an die übrige Indust rie und an die übrigen einen kleinen Schritt. Gemessen an dem desolaten Tarifbereiche gedacht und konnte auch nicht so ver- Zustand, in dem sich die DDR beim Fall der Mauer standen werden. Insofern ist es falsch, wenn man sich befunden hat, kann man den Fortschritt als sehr be- darauf herausredet. achtlich ansehen. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Her- Es ist durchaus verständlich, daß es in den neuen ren: Wir wünschen uns, daß die Tarifpartner in der Bundesländern Enttäuschungen und in den alten diesjährigen Lohnrunde nicht die gleichen Fehler wie Bundesländern Sorgen gibt, ob wir uns nicht dabei in den letzten Jahren machen. Es hat keinen Sinn, erst übernehmen, uns finanziell so stark zu engagieren, die Lohnpolitik zu überhitzen, bis die Funken sprü- wie wir es mit diesem Haushalt tun. Vielleicht war am hen, dann die Feuerwehr zu rufen und anschließend Beginn der Optimismus, daß sich die Lebensverhält- Ersatz für die Schäden, die durch Löschwasser ent- nisse im Osten sehr rasch ändern, etwas zu groß. Ich standen sind, einzufordern. gebe das gerne zu, aber es war zumindest nicht ab- sichtlich verharmlost. Ich glaube, wir haben alle das Trotz des Neuaufbaus in den neuen Bundesländern Ausmaß nicht so deutlich erkannt. Ich kann das zu- und trotz der raschen Entwicklung im Osten Europas mindest für mich in Anspruch nehmen. dürfen wir nicht vergessen, die europäische Entwick- lung weiter voranzutreiben. Ich bedanke mich sehr Die Konflikte, die daraus entstehen, sind heute herzlich bei Herrn Bundeskanzler Kohl, der heute schon angesprochen worden. Wir müssen uns nicht nochmals sehr ausdrücklich seinen festen Willen er- nur wirtschaftlich, sondern selbstverständlich auch klärt hat, die europäische Einigung in Maastricht vor- menschlich zusammenfinden. 40 Jahre oder noch län- anzutreiben und vor allen Dingen darauf zu achten, ger eines teilweise anderen Denkens prägen die Men- daß wir bei der gemeinsamen europäischen Noten- schen. bank den gleichen Zielen verpflichtet sind wie die , nämlich der Stabilität der Ich möchte hier den Schriftsteller Martin Walser zi- Währung; damit sind wir gut gefahren. tieren, der in seinem Buch „Die Verteidigung der Kindheit" richtig geschrieben hat: „Wahrscheinlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Michael Glos Wir wünschen uns auch, daß gleichzeitig mit der Es gibt aber eine noch schwerere Bedrohung, die Wirtschafts- und Währungsunion mehr Gemeinsam- nicht die Bildschirme beherrscht. Sie bewegt uns keit in die Außen- und Sicherheitspolitik der europäi- viel zuwenig und ist doch erbarmungslos. Sie be- schen Länder kommt. Es ist heute schon viel über die trifft nicht nur einzelne Nationen oder Konflikt- schrecklichen Ereignisse in Jugoslawien geredet wor- herde, sondern unzählige Länder und ganze den. Hier ist ein gemeinsames Europa gefordert. Hier Weltteile: die Gewalt der Armut. ist auch gefordert, daß sich die demokratischen Par- Armutswanderung, Armutsflüchtlinge, die man oft teien verständigen, wie sich unser Land bei solchen — wie ich finde: diskriminierend — auch Wirtschafts- Konflikten künftig verhält. Ich hoffe, daß sich in dieser asylanten nennt, Frage die pragmatische Haltung von Herrn Klose, die er zumindest im Golfkonflikt gezeigt hat, in der SPD (Beifall bei der SPD) stärker durchsetzt. Ich bin überzeugt, daß wir diese machen einen wesentlichen Teil der Zuwanderung in Dinge in der Koalition sehr sorgfältig miteinander dis- die Bundesrepublik aus. Ich nehme diesen Aspekt aus kutieren. der Rede meines Fraktionsvorsitzenden von heute Allerdings werden wir leichter Wege finden, um vormittag noch einmal auf. unser Land in eine gute Zukunft auch in dieser Frage zu führen. Ich fände es daher völlig unerträglich, Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl der Flücht- wenn wir in diesem Jahrtausend noch einmal eine linge nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommis- SPD-geführte Bundesregierung bekommen würden, sars der Vereinten Nationen um 2,3 Millionen auf 17,3 Millionen erhöht. Dies sind allerdings nur dieje- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das dauert nicht nigen unter den Flüchtlingen, für die der Hohe Flücht- mehr lange! — Gerlinde Hämmerle [SPD]: lingskommissar ein Mandat übernommen hat. Aus Demnächst!) Jugoslawien kamen allein im Oktober 14 744 Men- die diesen Aufgaben, wie sich zeigt, nicht gewachsen schen. Hinter jeder einzelnen dieser Zahlen steht per- ist. sönliches, meist schweres Schicksal. (Dr. Peter Struck [SPD]: Nun hören Sie aber Bei aller Bedrohung, die mancher durch die Höhe auf! — Weitere Zurufe von der SPD) dieser Zahlen empfinden mag, muß dennoch gesagt Und jetzt schließe ich mich ausnahmsweise einmal werden, daß nur etwa 15 % aller Flüchtlinge der Welt einer Beurteilung an, die eine große Hamburger Illu- Europa überhaupt erreichen. Der weitaus größere Teil strierte in ihrer letzten Ausgabe vorgenommen hat. wird immer noch von den anderen Entwicklungslän- Sie hat nämlich eine sehr treffende Situationsbe- dern aufgenommen. Dies wird allerdings nicht so blei- schreibung der SPD abgeliefert — ich zitiere — : ben; denn der Fluchtdruck wächst, vor allem in Osteu- Ein Parteivorsitzender ohne Autorität, ein zweiter ropa, dessen Länder nicht immer zu denen gehörten, Kanzlerkandidat in Wartestellung. Mit Klose wird die ein Auswanderungspotential in sich trugen. Aber die labile Lage an der Parteispitze durch einen heute ist es anders: Etwa 70 % der Menschen, die zu dritten, noch unkalkulierbareren Hauptdarsteller uns kommen, stammen aus Osteuropa. Als Beispiel komplettiert. nenne ich nur die Zahlen des Monats Oktober. Aus den Staaten Ost- und Südosteuropas kamen im Okto- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Über- ber 22 912 Asylbewerber; das sind 68,3 % aller Asyl- schrift: Keiner kann mit keinem!) bewerber überhaupt. Der Anteil der Europäer an der Trotzdem — oder vielleicht gerade deswegen — wün- Gesamtzahl beträgt 75,9 %; das sind über 25 000 Per- sche ich Herrn Klose eine sehr, sehr lange Amtszeit als sonen. Oppositionsführer. Millionen von Menschen sind auf der Wanderung, Vielen Dank. jeder aus einem für ihn wichtigen oder lebensbedro- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und henden Grund. Fluchtursachen sind vor allem die ka- der FDP) tastrophalen Lebensbedingungen in weiten Teilen der südlichen Erdhalbkugel, krasse Armut, Hunger, Kriege, Bürgerkriege, ethnische Konflikte, Umwelt- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat die zerstörung und Katastrophen, schwere Menschen- Kollegin Gerlinde Hämmerle. rechtsverletzungen, dramatisches Bevölkerungs- wachstum. „Auch Hunger ist ein Verfolger" , sagte einmal in einer Podiumsdiskussion — Gerlinde Hämmerle (SPD): Frau Präsidentin! Liebe ein Wort, das nachdenklich machen muß. Hunger als Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Oktober erklärte Vertreiber — auch ein Grund für die Zunahme der der Bundespräsident in einem Aufruf zur „Woche der Wanderungsbewegung aus Osteuropa und den asiati- Welthungerhilfe" u. a. — ich zitiere — : schen Teilen der zerfallenen Sowjetunion, eine neue, meine Kolleginnen und Kollegen, eine neue, bedrük- Eine Fülle begeisternder und bestürzender Ereig- kende Qualität. nisse, ermutigender und bedrohlicher Entwick- lungen der Politik hält uns in diesem Jahr 1991 in Die Ursachen sind bekannt. Eine Analyse ist jetzt Atem. Mit der Überwindung des Ost-West-Kon- nicht meine Aufgabe. Mein Anliegen ist vielmehr, flikts scheinen wir der Sorgen äußerer Sicherheit umgehend eine massive Bekämpfung der Fluchtursa- enthoben. Andererseits brachten uns die Ereig- chen in die Wege zu leiten. Denn nur dies wird mittel- nisse am Golf und in Jugoslawien in Erinnerung, und langfristig die Wanderungsbewegungen eindäm- wie sich die Verachtung für Mensch und Natur men. fast hemmungslos entfesseln kann. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5027

Gerlinde Hämmerle Ich will die Durchlässigkeit der Grenzen in Europa. Ich habe dazu allerdings eine persönliche Meinung, Ich will keine Abschottung der reichen gegenüber die sich immer mehr und mehr verfestigt: Ich würde den armen Ländern. Ich will keine rein nationale Be- das Geld letztendlich auch davon abhängig machen, völkerung. Nein, ich will sie, ich will sie wirklich, die wie die Empfängerländer mit ihren Minderheiten um- multikulturelle Gesellschaft. Ich will sie erreichen. gehen. Damit sind wir wieder beim Thema Asyl. Und bilden wir uns nicht ein, daß ein türkischer Volks- Natürlich gibt es Asylmißbrauch. Natürlich haben tanz auf einem Gemeindeabend bereits die multikul- viele Asylsuchende keinen wahren Asylgrund. Das turelle Gesellschaft darstelle! Doch will ich auch eine weiß doch jeder, und das bestreitet doch eigentlich Verminderung, ja, Beseitigung der Flucht und der niemand ernsthaft. Wir haben aber im Oktober eine Zuwanderung aus Gründen des Hungers und der Not. Absprache — einen Kompromiß, wenn Sie so wol- Ich bin froh darüber, daß quer durch die Fraktionen len — getroffen. Die Parteien haben sich auf einen dieses Hauses die Zuwanderungsproblematik zuneh- Kompromiß verständigt, der keine Änderung des mend auch unter dem Aspekt diskutiert wird, die Ur- Grundgesetzes vorsieht. sachen von Flucht, Vertreibung und Auswanderung zu bekämpfen, anstatt sich auf eine Abwehrstrategie Herr Dr. Schäuble, Sie waren Innenminister. Sie ha- zu konzentrieren. ben große Erfahrung in diesem Ressort. Die Menschen erwarten nun von Ihnen — auch als Vorsitzender der Auf die Dauer — davon bin ich zutiefst überzeugt — Fraktion der CDU/CSU —, daß dieser Kompromiß wird die Bekämpfung der Ursachen wirksamer und jetzt durchgesetzt wird. leichter zu finanzieren sein als die Beschränkung auf kurzfristig wirksame Abwehrmaßnahmen. (Beifall bei der SPD) Ich will Ihnen wirklich nicht die Schuld für das, was (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Länder vielleicht nicht so schnell zustande bringen, Der Bundeskanzler erklärte in seiner Regierungser- zuschieben. Aber ich sage Ihnen, Herr Dr. Schäuble klärung vom 30. Januar 91: — und das wissen Sie so gut wie ich — eines: Nach meiner Erfahrung erwarten die Bürgerinnen und Bür- Um das Problem der Flüchtlings- und Wande- ger bei der Bewältigung dieser Problematik ein ge- rungsströme in und nach Europa zu lösen, müs- meinsames Handeln der Demokraten. Lassen Sie uns sen wir gemeinsam die Ursachen in den Her- doch nach diesem Grundsatz handeln, Herr kunftsländern bekämpfen. Dr. Schäuble. Ich hätte Ihnen gerne zugerufen: Recht so, gut so, Herr Wie es nicht geht, weiß ich selber. Lassen Sie uns Bundeskanzler. Aber Sie waren hinausgegangen. doch miteinander nach Möglichkeiten suchen, wie es (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist geht und wie eine Lösung durchgesetzt werden kann. aber unerhört! — Dr. Wolfgang Schäuble Ich glaube, daß Sie selber ganz genau wissen — das [CDU/CSU]: Und wo ist denn Herr Klose?) geht jetzt nicht mehr an Ihre Adresse, sondern an die Adresse der Bundesregierung — : Das Durchsetzen ei- — Ja, er muß auch einmal hinausgehen. Ich sehe das nes Kompromisses ist die Aufgabe der Exekutive und ein. nicht die Aufgabe der Oppositionsfraktion in diesem Das tatsächliche Verhalten der Bundesregierung Hause. steht im Gegensatz zu diesen Erklärungen. Meine (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Zuruf sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben heute von der CDU/CSU: In Bund und Ländern!) die Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen, in — Okay, da bin ich mit Ihnen einig. dem wir fordern, daß durch Senkung des Verteidi- gungsetats Mittel in Höhe von 1 Milliarde DM für die Die Zuwanderung aus Osteuropa besteht zu einem Bekämpfung der absoluten Armut in Entwicklungs- wesentlichen Teil aus deutschen Aussiedlern, die ländern, für Umweltschutz und für Programme zur nicht als Asylbewerber kommen, sondern deren Kom- Minderung des Bevölkerungswachstums freigemacht men auf einem anderen rechtlichen Hintergrund ba- werden. siert. Ich will diese Menschen nicht diskriminieren. Ich kenne ihr oft grausames Schicksal in der Vergan- Für die Länder der Sowjetunion und für Osteuropa genheit. Sie wissen, daß ich und auch der Kollege Sie- wird noch lange Zeit Hilfe nötig sein. Ich denke, daß laff, den ich gerade hier sitzen sehe, oft bei diesen die Zurverfügungstellung von Mitteln für diese Län- Menschen waren. Ich habe diese Menschen in unse- der Entwicklungshilfe im wahrsten Sinne des Wortes rem Land und in ihren Herkunftsländern getroffen. ist. (Beifall bei der SPD) Ihr Schicksal hängt eng mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen, durch den sie wie Millionen andere Ver- Herr Dr. Schäuble, Sie haben vorgestern im ZDF treibung, Tod und Not erlebt haben. Aber es gibt kei- gesagt, daß ein guter Schachspieler nicht nur auf den nen Vertreibungsdruck mehr. Das Bundesvertriebe- nächsten Zug schauen darf, sondern daß er immer das nengesetz kann außer Kraft gesetzt werden. Über Ende der Partie im Auge haben muß. Das Ende der 40 Jahre nach Kriegsende wird es Zeit, die Gesetze in Partie ist die Beseitigung der Fluchtursachen. Wenig- diesem Bereich zu überprüfen und eine Gesetzge- stens hier, Herr Dr. Schäuble — darüber bin ich bung zum Abschluß der Kriegsfolgen vorzulegen. froh —, weiß ich Sie an unserer Seite. Das wird sehr viel Geld kosten. Wir sollten bereit sein, es zur Besei- (Beifall bei der SPD) tigung der Fluchtgründe auszugeben und nicht vor- Das halbe Asylproblem ist ein Wohnungsproblem, wiegend zur Reparatur der Fluchtfolgen im eigenen sagte jüngst ein Bürgermeister. Und er hat recht. Die Land. Kapazität ist erschöpft, der Wohnungsmarkt leerge- 5028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Gerlinde Hämmerle fegt; die Gemeinden brauchen vor allem beim Woh- dem richtigen Weg sind, ob wir zu den richtigen Er- nungsbau Hilfe. Gestern hatten Sie Gelegenheit, in gebnissen kommen. Sie hat dabei das ernste Problem namentlicher Abstimmung unserem Antrag zuzustim- der Flüchtlingsströme ein bißchen mit dem Thema der men, der die Wohnungsbauförderung zum Inhalt Asylantenströme vermengt; sie hat ein paar andere hatte. Probleme miteinander vermischt. Trotzdem kann man Ein letzter Punkt: die Wolgarepublik. Die Bemü- ihr wohl in der Situationsbeschreibung zustimmen. hungen des Herrn Staatssekretärs Waffenschmidt Worin wir ihr nicht zustimmen, ist ihre Bewertung, sind zu begrüßen. Aber ich warne vor einer zu positi- was zu tun ist und ob die Regierung dazu die richtigen ven Einschätzung der Auswirkungen auf das Bleiben Schritte eingeleitet hat und einleiten wird. der Menschen. Die ganze Angelegenheit ist sehr unsi- cher und wird dort nur relativ wenige halten. Die Ein Kollege von Ihnen, Frau Hämmerle, hat vorhin Zunahme der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die vorgetragen, daß wir in der Bundesrepublik im Jahr Nationalisierung der Republiken und anderes mehr, lediglich 1 Milliarde DM für Entwicklungshilfe aus- z. B. die Islamisierung Kasachstans, werden den Blei- geben würden. Dies war natürlich falsch. Netto sind es bewunsch nicht stärken. rund 7 Milliarden DM. Zwar handelt es sich um eine innenpolitische Ent- Wenn Sie die Vermischung der Themen tatsächlich scheidung der Russischen Republik, dennoch sage wollen, müßte meines Erachtens aufgeführt werden, ich, daß auch das Gelände — ein abgewracktes Rake- daß in der Bundesrepublik Deutschland weitere 5 bis tengelände — nicht unproblematisch ist. 6 Milliarden DM pro Jahr ausgegeben werden, um Lassen Sie mich das zusammenfassen, was das Peti- Personen aufzunehmen, die — zu Recht oder zu Un- tum meines Redebeitrages ist: die Bekämpfung der recht — vorgeben, einen Asylanspruch zu haben. Ich Fluchtursachen. Bekämpfung der Fluchtursachen meine, daß diese 5 bis 6 Milliarden DM sicherlich dort heißt, erstens eine Politik zu betreiben, die zu einer besser ausgegeben werden sollten, wo die stärkste menschenwürdigen, wirtschaftlich produktiven, so- Not ist, als für die kleine Anzahl derer, denen es ge- zial gerechten und umweltverträglichen Entwicklung lingt, in die Bundesrepublik zu kommen. Hierin unter- beiträgt, und zweitens massive Hilfe beim wirtschaft- scheiden wir uns. Ich glaube, das Geld sollte an der lichen Aufbau in Osteuropa und Direkthilfe für den richtigen Stelle — für mehr Menschlichkeit — ausge- Winter. geben werden. Zur Toleranz der Demokratie, zur Toleranz der De- Der Kollege Thierse hat darauf hingewiesen, daß in mokraten, die heute in diesem Hause schon mehrfach der Politik Handlungsfähigkeit gefordert ist. Er hat ein angesprochen worden ist, meine Kolleginnen und paar Beispiele aus den neuen Bundesländern aufge- Kollegen, gehört — wie wir alle wissen — Verständnis führt, mit denen das Schreckensbild wiederholt für Fremde, Freundlichkeit, Gastfreundschaft und An- wurde, mit dem Hans-Ulrich Klose heute morgen be- erkennung für Ausländer. Ich möchte uns — vielleicht gonnen hat. Ich glaube, daß man bei der Beratung auch ein wenig zum Nachdenken — am Schluß dieses dieses Etats deutlich sagen muß: Das, was in den Jah- Redebeitrags ein Zitat aus der Rede eines Indios an die ren, in denen diese Regierung im Amt ist, erreicht westliche Welt mitgeben: worden ist, gibt zu Selbstbewußtsein — nicht zu Stolz —, aber auch zu Zuversicht Anlaß. Was macht ihr eigentlich mit eurem Reichtum und eurer Bildung? Unsere Kinder lehrt ihr in den Helmut Schmidt hat im Oktober 1982 eine hohe Schulen, wie man die Natur beherrscht, wie man Meßlatte für die ihm nachfolgende Bundesregierung reich werden kann. Aber sie erfahren nicht, wozu angelegt. Er hat in zehn Punkten Forderungen erho- der Reichtum gut sein soll. Eure Touristen reisen ben, die damals fast utopisch klangen, die aber heute durch die ganze Welt und suchen unsere Gast- mit Blick auf die Realität aus der Perspektive des freundschaft. Aber ich habe noch nicht gehört, Scherbenhaufens, auf dem er damals gesessen hat, daß ihr einen von uns eingeladen hättet, bei euch fast unglaublich erscheinen, aber die alle erfüllt zu wohnen und euer Leben kennenzulernen. sind. Wenn ihr nicht gastfreundlich sein könnt, weil in Die Union war Wegbereiterin der deutschen Ein- euren großen Wohnungen kein Platz ist, und ihr heit, die allen Deutschen in Ost und West die Freiheit vor lauter Arbeit keine Zeit für Gäste habt, dann gebracht hat. Der formalen Einigung folgt jetzt die seid Ihr auch nicht reich. regionale Angleichung der Lebensverhältnisse. Das Danke schön. Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik wird 1992 (Beifall bei der SPD) im zehnten Jahr — dies hat es noch nicht gegeben — zusammen mit dem Wachstum der Beschäftigung und der Preisstabilität weltweit für eine Spitzenposition Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der — neben Japan — sorgen. Kollege Abgeordnete Dietrich Austermann. Die Arbeitslosigkeit in der alten Bundesrepublik ging kontinuierlich zurück. In den neuen Bundeslän- Dietrich Austermann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! dern werden die Anstrengungen, die Zahl der Ar- Meine Damen und Herren! Die Kollegin Hämmerle beitslosen zu verringern, verstärkt. Die Realeinkom- hat eine eigenwillige Beantwortung der eigentlich ge- men stiegen. Herr Thierse hat bescheinigt, daß die stellten Fragen vorgenommen, ob dieses Land gut re- Realeinkommen im Osten kräftig gestiegen seien, giert wird; denn dies ist die Frage, die im Zusammen- zwar noch nicht für alle, aber immerhin doch für den hang mit der Behandlung des Kanzleretats gestellt Großteil der Arbeitnehmer, für Rentner und viele an- werden muß: ob wir mit der politischen Führung auf dere. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5029

Dietrich Austermann Die Chancen der jungen Mitbürger haben sich ver- weiterhin unseren Anteil zum Aufbau in der Welt lei- bessert. Die familienpolitischen Maßnahmen sorgten sten. für einen gerechteren Lastenausgleich. Das Problem des Schwangerschaftsabbruchs muß Die Abrüstung kam voran. Leistungen und Erfolge neu geregelt werden. Wir wollen einen modernen, im Umweltschutz sind offenkundig. In der Außenpoli- verantwortungsvollen Schutz für das Leben. tik hat sich unsere Politik des Dialogs und der guten Nachbarschaft bewährt. Maßnahmen zur stärkeren Bekämpfung der Dro- (Zustimmung bei der CDU/CSU) gensucht sind eingeleitet worden; hier muß weiter gehandelt werden, auch in den Ländern. Diese Zwischenbilanz vermittelt die Gewißheit, daß die Zukunft mit ihren besonderen Herausforderungen In der Landwirtschaft verheißen EG-Reform und gemeistert werden kann. Wer, wenn nicht die Bun- GATT-Neuregelung weiter Einkommen, die nicht be- desrepublik Deutschland, sollte denn in der Lage sein, friedigend sind. Ich danke dem Bundeskanzler für die innerdeutschen Aufgaben zu lösen und mit den seine Aussage, die er zu diesem Thema gerade ge- internationalen Anforderungen fertig zu werden? macht hat. Wir bleiben bei nationalen Hilfen. Wir wol- Frau Hämmerle, das gilt auch für die von Ihnen ange- len über den sozio-strukturellen Einkommensaus- sprochenen Fragen. gleich sowie über eine Beteiligung an der Unfallversi- cherung im nächsten Jahr noch stärker helfen. Dies ist offensichtlich auch die Meinung der Mehr- heit der Bevölkerung, wenn man jüngsten Meinungs- Vor uns stehen Aufgaben im Bereich der inneren umfragen glauben darf. Trotz erheblicher finanzieller Sicherheit, die vor allem durch die Bundesländer ge- Inanspruchnahme — ich meine, man sollte der Bevöl- währleistet werden muß. kerung auch einmal dafür danken, daß sie das, was an steuerlichen Belastungen und Abgaben dazugekom- Viel bleibt im Bereich des Wohnungsbaus zu tun. men ist, getragen hat — ist die Bevölkerung zur Zeit Aber wer hier die Behauptung aufstellt, es sei nichts — ähnlich wie bei der Bundestagswahl — davon geschehen, übersieht, daß in den letzten neun Jahren überzeugt, daß es zur derzeitigen Regierung, zum über 2 Millionen Wohnungen neu geschaffen worden derzeitigen Kanzler keine Alternative gibt. sind und daß wir 1987 noch eine Situation hatten, in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der es leerstehenden Wohnraum gegeben hat. Zur Zeit liegen für den Bau von 475 000 Wohnungen Ge- Die SPD ist in einer schwierigen Position. Die von nehmigungen vor. Viele Investoren warten darauf, Engholm geführte Kieler Landesregierung wird vom daß sie, bei langfristig weiter sinkenden Zinsen, inve- dortigen Landesvorsitzenden massiv kritisiert, sie stieren können. Dazu wird unsere Finanz- und Haus- gebe sich der Lächerlichkeit preis. Wenn es um die haltspolitik mit stabilen Rahmenbedingungen beitra- Frage, wer Kanzlerkandidat werden soll, geht, dann gen. scheint Handlungsbereitschaft nicht gefordert zu sein. Offenbar will das in der SPD keiner werden. Klose Deshalb ist es wichtig, daß die Belastung der Kapi- zeigt auf Engholm, dieser auf die früher einmal soge- talmärkte über eine Senkung der öffentlichen Ver- nannte schmucke Riege von Ministerpräsidenten. schuldung zurückgeführt wird. Dies werden wir tun. Deshalb wird der Bundesbankgewinn eben nicht für Das neue Trio im Ollenhauerhaus — der Gewerk- neue Ausgaben, sondern zur Schuldentilgung einge- schaftssekretär, das Parteimegaphon und Engholm setzt. Gleiches gilt für höhere Steuereinnahmen. light — kann nicht verhindern, daß die Presse schreibt: Es klemmt und knirscht in der Baracke. Der Eine weitere Aufgabe — dies ist vom Kollegen Glos Bundesvorsitzende der SPD wird, wie die Agenten- angesprochen worden — ist mehr Steuergerechtig- affäre zeigt, zunehmend nervöser. Jetzt droht er sogar keit für Unternehmen, aber auch weiter dafür zu sor- Journalisten Keile an. Es ist erstaunlich, wie empfind- gen, daß die Steuern und Abgaben für unsere Bürger lich manche sind, wenn die Kritik einmal nicht nur im internationalen Vergleich sinken. Mit der Absen- andere trifft. kung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um Nach der Arbeit der letzten Jahre packen wir die in 0,6 % ab 1. Januar 1992 und dem Fortfall des Solidar den verbleibenden Jahren der Legislaturperiode an- beitrags ab 1. Juli 1992 verfügen die Arbeitnehmer stehenden Aufgaben entschlossen und zielstrebig an. über 100 bis 150 DM mehr an monatlichem Einkom- Ich will sie nennen, damit nicht der Eindruck entsteht, men. wir würden die Probleme verkennen, die tatsächlich vor uns liegen. Wir werden die Fragen im Zusammen- Ich weiß, daß Sie, meine Damen und Herren von der hang mit dem Thema der Asylanten- und Flüchtlings- SPD, das nicht freut. Wenn man Ihre Pläne verfolgte, ströme lösen. Wir werden eine Neuregelung der würde aus der Solidarabgabe eine Dauerabgabe für Pflege vornehmen. Wir werden die Gesundheitsre- fünf Jahre. Dies allein kostete jeden Arbeitnehmer form fortsetzen, um es bei tragbaren Beiträgen zu etwa 7 000 bis 8 000 DM. belassen. In den letzten Jahren sind 115 000 Studien- Wir werden auch den Familienlastenausgleich ab plätze geschaffen worden; wir werden in diesem- 1. Januar 1992 mit einem Volumen von 7 Milliarden Sinne weitermachen, vor allen Dingen in den neuen DM fortführen. Es ist jetzt sehr scharf zu beobachten, Bundesländern. wie sich die SPD-regierten Bundesländer im Bundes- Wir wollen die Staatengemeinschaft nach jeweili- rat verhalten: ob sie das Gesetz tatsächlich scheitern gen Kräften in die Hilfe für Schwächere — sei es im lassen, d. h. die Entlastung der Familien weiter verzö- Osten oder im Süden — einbinden. Wir wollen jedoch gern wollen. 5030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dietrich Austermann Das größte Problem ist zur Zeit die Schaffung zu- Jahre 1981. In den Haushaltsberatungen wird also sätzlicher Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern deutlich, daß der finanzielle Teil der Zukunft der Bun- nach den Regeln der Marktwirtschaft. desrepublik beherrschbar ist und auch aktiv gestaltet (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Donner wird. wetter!) 1991 war ein finanzpolitisch außergewöhnliches — Lieber Rudi Walther, ich glaube, daß Dich das nicht Jahr. Wir kehren jetzt mit sinkender Neuverschul- überrascht: Das ist in erster Linie eine Aufgabe der dung zur Normalität zurück. Ich glaube, daß es des- Betriebe. Wir werden auch hier vorankommen. Wer halb falsch ist, was Björn Engholm vor den Delegier- auf Hennigsdorf verweist, muß dabei natürlich auch ten des Hamburger Landesparteitages der SPD vorge- die ganze Wahrheit sagen. Diese Wahrheit kann nicht tragen hat — einige haben dies schlafend, wenn man darin bestehen, daß die bisherige staatliche Planwirt- den Zeitungen glauben darf, andere zeitunglesend schaft dadurch ersetzt wird, daß der von marktwirt- überstanden — , als er der Bundesregierung vorwarf, schaftlichen Prinzipien bestimmte Staat Arbeitsplätze sie verschulde sich auf Deubel komm raus. Dieser garantiert, die nicht rentabel sind. Vorwurf ist unbegründet. Er ist vor allen Dingen auch Im übrigen, meine ich, soll auch deutlich etwas zur dann unverständlich, wenn man sieht, daß Schleswig- Arbeit der Treuhandanstalt gesagt werden. Die Treu- Holstein prozentual eine doppelt so hohe Verschul- handanstalt — die von Ihnen immer wieder verteufelt dung wie der Bund hat, nämlich 5,7 %. wird; ich weiß nicht, wer von der SPD die direkte Ver- antwortung für entsprechende Maßnahmen im Vor- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja fast wie stand übernehmen will — hat nach dem letzten Stich- im Saarland!) tag 4 337 Betriebe privatisiert, 15,1 Milliarden DM Er- — Das Saarland wird diesen Prozentsatz allerdings löse erzielt und, was am wichtigsten ist, damit nicht wohl noch übertreffen. nur 793 000 Arbeitsplätze gesichert, sondern auch Zu- sagen über Investitionen in der Größenordnung von Diese Situation — auch in Schleswig-Holstein — er- 96,9 Milliarden DM erhalten. Ich sage es noch einmal: klärt noch längst nicht persönliche und gezielte Attak- Es stehen aus diesen Betriebsverkäufen Investitionen ken. Ich möchte jetzt Kollegen aus dem Haushaltsaus- in der Größenordnung von 96,9 Milliarden DM bevor, schuß und aus der Union ansprechen. Ich ertrage es, und dies ist nur eine Zwischenbilanz. wenn Frau Simonis, die schleswig-holsteinische Fi- nanzministerin, dem Städtetag, dem Landkreistag, Deshalb ist es gar nicht verwunderlich, daß inzwi- schen auch die Mehrheit der Landsleute aus den dem Gemeindetag und den Abgeordneten des Land- tages mitteilt, ich hätte im Haushaltsausschuß am neuen Bundesländern glaubt, daß die alten Bundes- länder eine gute Unterstützung geleistet haben. Bei- 6. November 1991 — übrigens mit der ganzen Koali- tion — für den Wegfall der spiele sind vorgerechnet worden. Der Bundeskanzler Strukturhilfemittel für die alten Bundesländer gestimmt. Ich stehe dazu. hat darauf hingewiesen, brutto werden es im nächsten Jahr 140 Milliarden DM sein. Nach Abzug der Steuer- Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Kieler Landtag einnahmen, die in den neuen Bundesländern schon legt dann nach und fragt, ob der Abgeordnete Auster- mit rund 34 Milliarden DM kalkuliert werden können, mann denn im Haushaltsausschuß tatsächlich ent- bleibt immerhin noch ein Transfer in die neuen Bun- sprechend abgestimmt habe. Die Finanzministerin desländer von 110 Milliarden DM, eine beachtliche Schleswig-Holsteins wirft mir dann vor, ich sei ein Leistung, die, glaube ich, von der Opposition völlig zu wandelndes Haushaltsrisiko für Schleswig-Holstein. Unrecht verniedlicht worden ist. Wir haben mit diesen Anstrengungen eine gute Per- (Beifall bei der SPD) spektive erarbeitet. Die konjunkturelle Entwicklung Angesichts der Tatsache, daß sie selber das personifi- in Westdeutschland verlief in diesem Jahr zufrieden- zierte Finanzchaos ist, und der Tatsache, daß das stellend. Die große Mehrheit im alten Bundesgebiet ist schleswig-holsteinische Institut für Mikroelektronik, trotz höherer Abgaben mit der p rivaten wirtschaftli- die Elektrifizierung der Bundesbahn und Forschungs- chen Lage zufrieden. 90 % schätzen dies so ein. In den projekte in erheblicher Höhe auch von mir mit durch- neuen Bundesländern ist eine spürbare Verbesserung gesetzt worden sind, kann ich damit leben. eingetreten. Dort sind immerhin 72 % mit der Situa- tion zufrieden. Wir arbeiten dafür, daß für immer mehr Schlimmer aber ist die in den Attacken zum Aus- die Zufriedenheit ein Dauerzustand wird. druck kommende fehlende Solidarität der SPD ein- schließlich ihres Bundesvorsitzenden, der ja diese An- (Unruhe) würfe seiner Ministerin mittragen muß, gegenüber der Umlenkung der Hilfe aus den alten in die neuen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dürfte ich um ein Bundesländer. Übersehen wird, daß 600 Millionen bißchen Aufmerksamkeit für den Redner bitten? DM als Nachschlag für die Strukturhilfe bereitgestellt (Ernst Kastning [SPD]: Das fällt uns werden und daß es selbst dem ärmsten Dorf im nörd- schwer!) lichsten Bundesland nicht so dreckig geht wie man- - cher Großstadt östlich der Elbe. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Gegen diese op- (Beifall bei der CDU/CSU) timistische Perspektive spricht auch nicht die Ent- wicklung der öffentlichen Schulden. Bezogen auf das Es wundert einen schon lange nicht mehr, daß gerade nominale Bruttosozialprodukt ging die Neuverschul- Solidarität für manchen Sozialdemokraten aus der Lü- dung bis 1989 ständig zurück, nämlich auf 0,7 %. Sie becker Enklave „Schöner Wohnen" zum Fremdwort stieg im letzten Jahr auf 2,2 % gegenüber 2,5 % im geworden ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5031

Dietrich Austermann Die Bundesrepublik wird gut regiert. Die Erfolge Sind die Abfallberge kleiner geworden? Geht es beim der Vergangenheit sind eine Referenz für eine optimi- Klimaschutz voran? Haben wir eine ökologisch ausge- stische Perspektive unserer Bürger für 1992. Wir ge- richtete Verkehrspolitik? Auf all diese Fragen kann hen das neue Haushaltsjahr ohne Stolz, aber mit heute doch niemand — auch nicht Herr Töpfer, der Selbstbewußtsein und Zuversicht an. Auf die Koali- derzeit in Sachen Klimaschutz in Australien, Indone- tion können sich alle Bürger in West und Ost verlas- sien und Neuseeland unterwegs ist — sen. Wir stimmen deshalb dem Kanzleretat zu. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Während des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Haushalts?) guten Gewissens eine beruhigende Antwort geben. Das alles sind doch Beispiele dafür, daß die Regierung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bevor der Kollege Harald B. Schäfer das Wort bekommt, möchte ich Sie dann versagt, wenn es um Umweltschutz im eigenen noch darauf hinweisen, daß die namentliche Abstim- Lande geht. mung frühestens in 25 Minuten stattfindet. Vielleicht Die immer wieder hervorgehobenen Erfolge in Teil- besteht die Möglichkeit, noch ein bißchen Ruhe zu bereichen, beispielsweise bei der Verringerung der bewahren. Schwefeldioxidbelastung und der Staubemissionen, Herr Kollege Schäfer hat das Wort. dürfen doch den Blick nicht für das Ganze verstellen. Noch immer ist auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland — dies zeigen alle Fakten — , wirtschaft- Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Frau Präsi- liche Entwicklung mit zunehmender Umweltbela- dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der stung verbunden. Wir leben auch in der Bundesrepu- Kollege Austermann, der eben sprach, und ich haben blik Deutschland des Jahres 1991 ökologisch noch offenkundig eine Gemeinsamkeit. Wir beide kommen immer über unsere Verhältnisse. nämlich aus einem Land, wo am 5. Ap ril 1992 gewählt (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider wird; er aus Schleswig-Holstein, ich aus Baden-Würt- wahr!) temberg. Unser Wohlstand gründet zu einem großen Teil auf Aber es trennt uns mindestens zweierlei: Er in dem Raubbau an der Natur und auf der Ausbeutung Schleswig-Holstein wird nämlich vergeblich versu- zu Lasten der Länder und Menschen der Dritten und chen, die dortige Landesregierung abzulösen, wir in Vierten Welt. Baden-Württemberg werden darin Erfolg haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ Ihr Umweltminister hat in diesem Zusammenhang CSU) von der Wohlstandslüge der Industrieländer gespro- Das zweite, was uns trotz der ersten Gemeinsamkeit chen. Davon wird Ihr Umweltminister wirklich etwas noch trennt: Ich werde nicht zur baden-württembergi- verstehen. Wir müssen diesen Trend umkehren, und schen Landespolitik reden, sondern zur Politik des zwar schnell, weil wir sonst gegenüber den nach uns Bundeskanzlers und zu dem Haushalt, der heute auf kommenden Generationen unserer Verantwortung der Tagesordnung steht. nicht gerecht werden. (Beifall bei der SPD) (Unruhe) Ich habe mich als jemand, der sich in besonderer Weise der Umwelt-, der Ökologiepolitik verpflichtet Entschuldigung, fühlt, gefreut, daß heute in allen Reden der Ökologie- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege. Darf ich noch einmal um etwas Ruhe politik ein derart hoher Stellenwert beigemessen wor- bitten. Ich bitte diejenigen, die stehen, Platz zu neh- den ist. Das ist ein Zeichen, das insoweit zukunftsfroh men, und diejenigen, die das alles nicht wollen, diesen stimmt, als die Herausforderung bei uns hinsichtlich Saal zu verlassen. Ich bedanke mich. der Art, zu produzieren und zu konsumieren, der Art, wie wir wirtschaften und leben, und hinsichtlich des- Herr Kollege, Sie haben wieder das Wort. sen, daß wir diese Art ökologisieren müssen, Allge- meingut geworden ist. Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Wir dürfen Wir haben uns auch gefreut, daß der Bundeskanzler unseren Blick nicht durch ein Teleobjektiv nur auf in seiner Regierungserklärung den Umweltschutz zu einzelne Schadstoffe richten, sondern müssen ein einem Schwerpunkt seiner Politik in dieser Legislatur- Weitwinkelobjektiv für die komplexe Betrachtung periode erklärt hat. Was wir freilich beklagen müssen ökologischer Krisen benutzen. Schließlich schädigen — leider nicht nur, weil es die Opposition so tun muß, wir unsere Umwelt nicht nur durch Schadstoffe. Flä- sondern weil es der Wirklichkeit entspricht — , ist die chenverbrauch für Siedlungs- und Verkehrszwecke Tatsache, daß von der Umsetzung der in der Regie- und für die Intensivlandwirtschaft zerstören unwider- rungserklärung angekündigten Umweltschutzmaß- ruflich Lebensräume. nahmen in der Wirklichkeit bisher zuwenig zu bemer- Das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten ist in ken ist. Das beklagen wir, meine Damen und Her- Ausmaß und Geschwindigkeit auch bei uns in der ren. Bundesrepublik Deutschland verheerend. Weltweit (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen] stirbt jede Stunde eine Art aus. Es gilt, die biologische [CDU/CSU] : Ignorant!) Vielfalt nicht nur bei uns, sondern auch anderswo zu — Es ruft jemand „Ignorant" dazwischen. Ist etwa das erhalten. Waldsterben abgewendet? Sind Nord- und Ostsee Der Kollege Schäuble, den ich jetzt direkt anspre- zwischenzeitlich vor dem biologischen Tod bewahrt? chen möchte, hat zuvor den Eindruck erweckt, als ob 5032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Harald B. Schäfer (Offenburg) mit dem Regierungsantritt Helmut Kohls gleichsam lässe genug zum Handeln. Das immer weiter um sich die Geburtsstunde der Umweltpolitik begonnen greifende Waldsterben zeigt, daß die Umweltzerstö- hätte. rung vorangeht. Der jüngste Waldschadensbericht re- gistriert eine Gesundheitsverschlechterung — hören (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie bitte gut zu — aller Baumarten in der Bundesrepu- Er hat darauf hingewiesen, daß sich die sozialliberale blik Deutschland. Koalition von 1969 bis 1982 im Grunde in der Umwelt- (Dr. Willfried Penner [SPD]: Ja!) politik durch Nichtstun auszeichnete. Der Wald stirbt weiter. Ihre Luftreinhaltepolitik, (Beifall bei der CDU/CSU) meine Damen und Herren, ist gescheitert. Der Kollege Schäuble weiß, daß dies die Unwahrheit (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja, leider!) ist. Die ersten Jahre der sozialliberalen Koalition, von 1969 bis 1975, waren auf Grund des damaligen Wis- Die Luft übrigens, die den Wald schädigt, macht auch sensstands gute Jahre für die Umweltpolitik. den Menschen krank. Wir fordern deswegen eine tat- sächlich konsequente Politik zur Walderhaltung. Erst (Beifall bei der SPD) dann, wenn der Bundeskanzler hier den eigenen Ich nenne einige wenige Gesetze. Ich nenne das Wald wirksam schützt, ist er in seinen Appellen an die Abfallbeseitigungsgesetz, das neu geschaffen worden anderen, den tropischen Regenwald zu schützen, ist. glaubwürdig. (Zuruf von der CDU/CSU: Wer war denn da (Beifall bei der SPD — Dr. Willfried Penner Innenminister?) [SPD]: Genau!) Ich nenne das Bundes-Immissionsschutzgesetz — Es gibt keine ungeteilte Verantwortung. Es gibt die heute noch das Grundgesetz der Umweltpolitik. globale Verantwortung für die Umweltpolitik. Wer zu (Zuruf von der CDU/CSU: Bleiben Sie doch Recht globale Umweltpolitik angeht, der muß Bei- seriös!) spiele geben, indem er im eigenen Land die entspre- chende Politik nachweist. _ Ich nenne das Zukunftsinvestitionsprogramm, wo wir Milliardenbeträge für die Sanierung der Gewässer (Beifall bei der SPD) zum Bau von Kläranlagen aufgewandt haben, um da- Wir haben begrüßt, daß Sie den Beschluß gefaßt mit die Umwelt zu entlasten und gleichzeitig Arbeits- haben, die Kohlendioxidemissionen bis zum Jahre plätze zu schaffen. 2005 um 25 % zu verringern. Das begrüßen wir! Wir (Zuruf von der CDU/CSU: Wer war damals beklagen freilich, daß Sie bis zur Stunde nicht eine zuständiger Minister?) einzige konkrete Maßnahme hier in den Deutschen Bundestag eingebracht, geschweige denn beschlos- Diese Liste ließe sich fortführen. sen haben, um dieses Ziel auch zu erreichen. (Vorsitz: Vizepräsident ) Das, was Herr Möllemann mit seinem angeblichen Aber ich leugne auch nicht, daß wir alle in den Jah- Energiekonzept vorgelegt hat, geht genau in die glei- ren ab 1975 dem notwendigen Umweltschutzgedan- che Richtung: Sie beklagen den Zustand der Natur, ken in der Wirklichkeit unserer Politik leider zu wenig Sie reden, Sie kündigen an, aber Sie handeln nicht. Beachtung geschenkt haben. Dies sollte für uns alle (Beifall bei der SPD) Ansporn sein, nicht in den gleichen Fehler zurückzu- fallen. Das ist das Defizit, das wir bei Ihnen beklagen. (Beifall bei der SPD) (Zuruf des Abg. Dietrich Austermann [CDU/ Es ist nicht meine Art, zu sehr Vergangenheitsbe- CSU]) trachtung zu be treiben, aber eines, Kollege Schäuble, Nur ein Zyniker, Herr Austermann — falls Sie diesen möchte ich Ihnen und auch Ihrer Fraktion zur Erinne- Zwischenruf machen wollten — , kann den Rückgang rung ins Stammbuch schreiben: Sie werden von 1969 der Kohlendioxidemissionen in den neuen Bundeslän- bis 1982 nicht eine einzige parlamentarische Initiative dern, der auf den furchtbaren wirtschaft lichen Nie- der damaligen CDU/CSU-Opposition und nicht eine dergang zurückzuführen ist, als Erfolg einer konse- einzige Initiative der damaligen von der CDU gestell- quenten Klimaschutzpolitik ausgeben. ten Bundesratsmehrheit finden, die mehr Umwelt- schutz verlangt hat. (Beifall bei der SPD) (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der Wer das tun sollte, wäre zynisch und verantwortungs- CDU/CSU: Das ist falsch!) los. In der Regel war das Gegenteil der Fall. Wenn wir hier Wer den Klimaschutz ernst nimmt, Umweltgesetze gemacht haben, haben Sie gebrüllt: (Zuruf von der CDU/CSU: Kernenergie!) Sie überfordern die Wirtschaft! der muß heute den Übergang zum Energie- und Solar- (Beifall bei der SPD — Dr. Willfried Penner zeitalter organisieren, damit er morgen ohne Ke rn [SPD]: So ist es!) -energie und übermorgen ohne die klimaschädigen- den fossilen Energieträger die Energieversorgung er- Aber ich wollte ja weniger die Vergangenheit be- möglichen kann. Das ist die entscheidende Herausfor- trachten als den Blick auf die Gegenwart und auf die derung, vor der wir stehen. Zukunft richten. Es gibt überhaupt keinen Anlaß zur umweltpolitischen Selbstzufriedenheit. Sie haben An- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5033

Harald B. Schäfer (Offenburg) Sie sind mit Ihrer Politik von dieser notwendigen öko- Reden und Handeln, Erkenntnis und Handeln klaffen logischen Wende meilenweit entfernt. immer weiter auseinander. Das hat auch etwas damit Der Straßenverkehr ist ein weiteres Feld, auf dem zu tun, daß Politik insgesamt an Glaubwürdigkeit bei wir ein Handlungsdefizit, kein Beschreibungsdefizit den Bürgern verliert, weil Reden und Handeln nicht haben. zusammenpaßt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird morgen in der Wirtschaftsdebatte noch eine Rolle Der Straßenverkehr ist immer noch Umweltproblem spielen: In einigen Bereichen der deutschen Volks- Nummer eins. Die Verkehrspolitik ist übrigens, wirtschaft zeigen die Konjunkturdaten nach unten. meine Damen und Herren, Prompt häufen sich wieder einmal die Klagen von sei- (Zuruf von der CDU/CSU: Alles verbieten!) ten der Industrie, verstärkter Umweltschutz gefährde den das Paradebeispiel dafür, wie die einzelnen Minister Industriestandort Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Bundesregierung Bande spielen. Der und damit Arbeitsplätze. Wir sagen: Das Gegenteil ist richtig. Nur eine — Töpfer — sagt „Ökologie", der andere — umweltverträgliche Wirtschaftsentwick- lungen, Krause — wirbt für wachsenden Verkehr. Der eine — nur eine Wirtschaftspolitik, die sich von Be- ginn an der Ökologie verpflichtet weiß, sichert auf Töpfer — sagt „Tempolimit", der andere — Krause — verhindert es. Der eine, nämlich Töpfer, sagt „Kraft- Dauer die Industriestandorte. Wer den Industriestand- stoffverbrauchsbegrenzung für PKW ist notwendig", ort Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft und der gleiche erteilt dann der S-Klasse von Merce- wettbewerbsfähig machen will, der muß die ökologi- des-Benz die ökologische Absolution. Das, meine Da- sche Erneuerung konsequent vorantreiben, weil Um- men und Herren, ist doch keine Politik! Das ist der weltqualität immer mehr ein entscheidender Stand- ortfaktor und damit Wettbewerbsfaktor für moderne Versuch, den Bürger an der Nase herumzuführen. Industriegesellschaften ist. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ ste) GRÜNE) Das ist der Versuch, eine Als-ob-Politik als entschlos- Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kol- senes Handeln auszugeben. leginnen und Kollegen, es ist heute in der Debatte (Dr. Willfried Penner [SPD]: Genau! — Zuruf davon gesprochen worden, daß wir im Grunde nur von der CDU/CSU. Besser als eine Als-ob- eine Welt haben, daß wir in einer internationalen Ri- Opposition!) sikogemeinschaft leben, daß das, was wir auf der nördlichen Halbkugel unternehmen oder unterlassen, Die massiven Straßenbaupläne der Bundesregie- direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der Drit- rung — und viele von Ihnen denken da doch wie ten und Vierten Welt hat. Umgekehrt gilt das glei- wir — sind ein Paradebeispiel für verfehlte Verkehrs- che. politik. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hat in seinem UN-Bericht zur weltwirt- schaftlichen Entwicklung uns allen den Imperativ auf- Wir brauchen heute nicht immer mehr mehr Straßen- gegeben, in unserer Politik das Überleben zu sichern. bau; wir brauchen heute einen Ausbau des Schienen- Dieser Imperativ Willy Brandts gebietet uns heute, netzes. Das ist die ökologische und die ökonomische eine Politik zu betreiben, auf die sich auch kommende Herausforderung, der wir uns zu stellen haben! Generationen verlassen können. Dies ist der Maßstab (Beifall bei der SPD) für unsere Politik, dies ist das Kennzeichen der Sozi- aldemokraten. Nicht immer mehr Straßen für immer mehr Lkw sind notwendig, sondern mehr Terminals für mehr Güter (Beifall bei der SPD — Dr. Willfried Penner auf der Schiene. Gerade in diesem Bereich fahren Sie [SPD]: Sehr gut!) in die falsche Richtung! (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- CSU) ordnete Lowack. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich bei der Debatte heute bedrückt, (fraktionslos) : Herr Präsident! ist die Tatsache, daß es zwar bei der Bundesregierung, Ortwin Lowack Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! bei den Koalitionsfraktionen nicht an der Erkenntnis Auch ich möchte Wolfgang Schäuble zunächst sehr der Notwendigkeit, die ökologischen Gefahren wirk- herzlich zu seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden sam anzugehen, gratulieren, schon auf Grund der langjährigen Waf- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir machen das fenbrüderschaft. Ich glaube vor allen Dingen, lieber auch noch!) Kollege Schäuble, Sie werden es nicht so einfach ha- ben, wie Sie es sich vielleicht einmal vorgestellt hatten fehlt und daß es auch nicht an Wissen fehlt, daß aber oder wie es sich auch der Bundeskanzler vorgestellt noch nie in der Geschichte der Industriegesellschaft der Gegensatz zwischen dem, was man weiß, was hatte. Denn es könnte ja sein, daß die Fraktion nach vielen Jahren einer gewissen Abstinenz, was die wirk- man tun müßte, und dem, was tatsächlich geschieht liche Beteiligung an den tragenden Entscheidungen bzw. nicht geschieht, so groß ist wie heute. angeht, auf einmal doch den Wunsch äußert, an Ent- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ scheidungen mit Kompetenz beteiligt zu sein und GRÜNE) über diese auch zu debattieren. 5034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Ortwin Lowack Ich gratuliere auch Theo Waigel zu seiner Wieder- wort auf die Herausforderungen aus der Golfregion, wahl als Parteivorsitzender und damit gleichzeitig auf Probleme, die bis heute nicht gelöst sind, gefun- auch dem Herrn Bundeskanzler. Denn Theo Waigel den hat? Haben wir vergessen, daß gerade diese Ver- hat es fertiggebracht, doch in relativ kurzer Zeit aus haltensweise uns unendlich viel gekostet hat? Es ist der Christlich-Sozialen Union eine Art Landesver- eine leichte Entscheidung, sie hier mit dem Haushalt band der CDU zu machen, noch mit einem Traditions- abzusegnen. Aber die Menschen draußen müssen das namen, den sie bis heute hat. tragen, und sie spüren es täglich. Sie sind auf Dauer Immerhin zeigt die gute Wahl, die Edmund Stoiber nicht mehr bereit, das zu akzeptieren. erlebt hat, daß immer noch genügend Leute in der Nehmen wir einfach so leicht zur Kenntnis, daß CSU sind, die für eine gewisse Eigenständigkeit ste- heute in Kroatien Tausende von Menschen sinnlos hen. massakriert werden und Hunderttausende auf der Die Union befindet sich also im Hoch. Der Bundes- Flucht sind und unglaubliche Schäden entstehen? kanzler ist ja sogar der Auffassung, sein Job sei der Können wir uns wirklich vormachen, daß wir nicht schönste überhaupt. Er wird in dieser Auffassung nur eines Tages für diese Schäden im Rahmen eines euro- durch den Bundesaußenminister in Frage gestellt, der päischen Wiederaufbauprogramms einstehen müs- wenige Tage später im Westen Kanadas sagte, nein, in sen? Wirklichkeit sei sein Job der schönste. Ich frage die Bundesregierung: Ist wirklich alles (Zuruf von der FDP: Richtig! Recht hat er!) getan worden, was wir von deutscher Seite aus tun Wir stellen also fest: Die Koalition befindet sich in konnten? Daß Sie versuchen, einen Konsens in der einer Hochstimmung. Nur, meine sehr verehrten Da- Europäischen Gemeinschaft herzustellen, ist richtig. men und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Aber wenn man sich die Lage auf dem Balkan an- Hochmut kommt vor dem Fall. Ich konstatiere folgen- schaut, stellt man fest, es sind vor allen Dingen drei des, und Sie müßten das in Zukunft vielleicht berück- Staaten, mit denen wir uns stärker unterhalten müs- sichtigen: Die Distanz zwischen der Politik, zwischen sen: Das ist Griechenland, das ist Rumänien, und das dem, was Sie hier in Bonn zu erarbeiten haben, und ist als Hauptunterstützer des orthodoxen kommunisti- den Menschen draußen wird zunehmend größer; der schen Regimes in Belgrad die Volksrepublik China. Bezug zur Basis geht zunehmend verloren. Auch Für uns wäre eine Abstimmung vor allen Dingen mit wenn Sie sagen, das seien alte Kamellen, glauben Sie den Vereinigten Staaten von Amerika wichtig. mir, daß die Menschen draußen noch immer nicht die Jetzt frage ich den Herrn Bundeskanzler und den Steuerlüge hinter sich gebracht haben; das ist noch Herrn Bundesaußenminister: Wie hat man denn mit aktuell. Glauben Sie, daß die Menschen draußen im- der Regierung in Athen Kontakt aufgenommen, die mer mehr spüren, was die Inflation, die ja nun leider von einer Partei gebildet wird, die als Schwesterpartei zum Teil hausgemacht ist, für sie bedeutet. Glauben der Union geführt wird? Was hat man mit unseren Sie, daß die vielen Millionen, die bei uns als Heimat- Unterstützungsmaßnahmen in Rumänien verbunden, vertriebene und deren Abkömmlinge sind, nicht ver- damit Serbiens Unterstützung durch Rumänien ein gessen haben, wie man hier mit ihren Rechten umge- Ende findet? Ich frage mich: Was haben wir in unserer gangen ist und Schindluder getrieben hat. Glauben Politik gegenüber Rotchina gemacht, um europäische Sie nicht, daß die Art, in der sich die deutsche Außen- und unsere Interessen wirklich wahrzunehmen? In politik nach außen hin zeigt, indem wir gute Ideen Wirklichkeit haben wir dort ein orthodox kommunisti- und die Bereitschaft, wirklich einmal zielgerichtet zu sches Regime unterstützt. arbeiten, mit dem Scheckbuch zu ersetzen versuchen, Ich frage den Bundeskanzler: Warum stellen wir in von der Bevölkerung akzeptiert wird. der Politik eigentlich nicht klar, daß in Serbien ein Staatsstreich über die Bühne gegangen ist? Denn Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Lo- noch gibt es einen Staatspräsidenten, den Herrn Me- wack, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- sic, der gewählt worden ist. Warum stellen wir nicht neten Kubicki? — Bitte. klar, daß es sich um einen Staatsstreich von Generalen handelt, der international jede Art von Eingreifen Wolfgang Kubicki (FDP) : Herr Präsident! Ich durchaus ermöglichen würde? möchte keine Zwischenfrage stellen, sondern nur Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, viele an- darum bitte, daß Sie vielleicht für etwas Ruhe sorgen. dere Bereiche sind ebenfalls offen. Was diese Regie- Ich möchte auch diesem Redner gerne folgen. rung bei unseren Menschen hinterläßt, ist letztlich der Eindruck, daß sie nicht in der Lage ist, geistig irgend- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kubicki, ich be- welche Elemente zu vermitteln. Ich frage Sie: Für wel- danke mich sehr für Ihre engagierte Hilfe bei der che Werte und für welche Prinzipien steht diese Bun- Amtsführung des Präsidenten. Nur ist es wichtig, daß desregierung? Glauben Sie bloß nicht, daß wir die dann überall Ruhe herrscht. deutsche Einheit nur vor dem Hintergrund der An- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Auch gleichung der materiellen Lebensverhältnisse ohne auf der Seite der FDP!) ein ideales — oder sagen wir ruhig: ein idealisti- sches — Element vollziehen können. Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident, ich (Unruhe) darf fortfahren? — Danke schön. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, haben wir denn wirklich schon vergessen, daß diese Vizepräsident Hans Klein: Meine Kolleginnen und Bundesregierung fast ein halbes Jahr lang keine Ant- Kollegen, ich darf Sie sehr herzlich bitten — ich bedarf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5035

Vizepräsident Hans Klein dazu im übrigen keiner Aufforderung — , dem Redner dahin äußert, der Mann müsse ausgeliefert werden? die wenigen Minuten Redezeit, die er noch hat, Auf- Ist das wirklich glaubwürdig gegenüber den Men- merksamkeit zu schenken. Wir kommen dann zur na- schen, die sich fragen: Was passiert eigentlich noch mentlichen Abstimmung. Ich bitte Sie herzlich, hinten alles in der Politik? Ich frage: Welche Funktion wird im Saal die Gespräche einzustellen. Wenn Sie sich das Recht zukünftig haben, wenn wir bereits hier mit unterhalten wollen: Vor dem Saal ist auch noch Platz. Unglaubwürdigkeit vorgehen? — Bitte fahren Sie fort. Die Bundesregierung und der Herr Bundeskanzler verkörpern heute leider eine Selbstgefälligkeit und manchmal schon eine Selbstüberheblichkeit, über die Ortwin Lowack (fraktionslos): Herzlichen Dank, man sich nur wundern kann. Die Menschen draußen Herr Präsident. Ich bitte darum, daß mir das auch nicht werden sich das mit Sicherheit auf Dauer nicht gefal- auf die Redezeit angerechnet wird. len lassen. Ich möchte fragen: War es tatsächlich richtig, mit Polen einen Vertrag abzuschließen, der deutsche In- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- vestitionen verhindert, und sich gleichzeitig außen- che. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- politisch zu binden, den Antrag Polens auf Aufnahme plan 04: Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und in die Europäische Gemeinschaft zu unterstützen? des Bundeskanzleramtes. Die Fraktion der SPD ver- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn das so langt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Ab- weiterliefe, würde das für den deutschen Steuerzahler stimmung. — weil wir Nettozahler sind — eines Tages eine Lei- stung in einer Größenordnung von 300 bis 400 Milli- Sind alle Stimmkarten abgegeben? — arden DM bedeuten. Darüber müssen Sie heute nach- (Zurufe: Nein! — Einen Moment noch!) denken. Sind die Kolleginnen und Kollegen, die aus der Lan- Wenn der Bundeskanzler landauf, landab predigt, desvertretung Baden-Württemberg hierhergeeilt daß der Gipfel in Maastricht ein Erfolg werden muß, sind, inzwischen im Saal? Haben sie ihre Stimmkarten muß er sich trotzdem fragen lassen, ob die Europäi- abgegeben? sche Währungsunion auf Biegen oder Brechen und zu (Zuruf: Noch nicht alle!) Lasten des deutschen Steuerzahlers tatsächlich so — Geben wir also den Kolleginnen und Kollegen, die sinnvoll und so brennend ist, daß wir heute darauf es ein Stückchen weiter haben, noch zwei Minuten bestehen müssen, oder ob nicht tatsächlich darüber eine Chance. — noch einmal nachgedacht werden kann. Zum letzten Mal die Frage: Ist noch ein Mitglied des (Rudi Walther [SPD]: Sehr gut!) Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben Der Wähler, der Bürger hat sehr wohl vermerkt, was hat? — Dies scheint jetzt nicht mehr der Fall zu sein. hier teilweise mit einem falschen Titel beschlossen Dann schließe ich die Abstimmung. wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß ein Solida- Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu ritätsgesetz den Eindruck vermittelt, es ginge um die beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen Entwicklung in den neuen Bundesländern, während später bekanntgegeben. * ) damit tatsächlich ganz andere Ziele abgedeckt wer- Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, jetzt wieder den, letztlich eine Legitimierung für Maßnahmen, die Platz zu nehmen, damit wir mit unseren Beratungen vorher vom Bundeskanzler ohne jede Rückendek- fortfahren können. — Ich bitte um das gute Beispiel kung durch das Parlament abgesprochen wurden, der Parlamentarischen Geschäftsführer. — Wer den werden wir dem Bürger begreiflich zu machen ha- Saal verlassen möchte, den bitte ich, dies jetzt zu ben. tun. — Ich frage die Bundesregierung: Wo sind eigentlich Ich bekomme soeben eine Information. Diese Infor- die 63 Milliarden DM deutscher Leistungen an die mation ist für die Kolleginnen und Kollegen, die die Sowjetunion innerhalb eines Jahres gelandet, Geld, Debatte vor dem Fernseher verfolgen, fast noch wich- das uns heute fehlt, um die Kräfte wirklich zu unter- tiger als für Sie hier, aber natürlich auch für Sie wich- stützen, die die neuen Länder und die neuen Gesell- tig. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben schaften auf dem Gebiet der alten Sowjetunion auf- sich darauf geeinigt, daß alle ausstehenden namentli- bauen? Ich habe den Eindruck, wir schauen viel zuwe- chen Abstimmungen um 21.30 Uhr gemeinsam vorge- nig in die Zukunft, und wir leben viel zu sehr von der nommen werden sollen. Hand in den Mund. (Beifall im ganzen Hause) Wir haben bisher davon profitiert, daß uns die Ge- schichte geholfen hat. Nur, meine sehr verehrten Kol- leginnen und Kollegen: Damit können wir in Zukunft Ich rufe auf: nicht rechnen. Ich bezweifle, daß die Bundesregie- Einzelplan 05 rung heute, nach der Erklärung des Bundeskanzlers, hier die richtigen Perspektiven entwickelt hat. Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes Wie glaubwürdig ist eigentlich ein Bundeskanzler, — Drucksachen 12/1405, 12/1600 — der noch vor zwei Jahren mit einen Berichterstattung: Deal über 8,6 Milliarden DM westdeutsche Leistun- Abgeordnete Dr. Klaus Rose gen geschlossen und ihn sozusagen mit einem großen Bahnhof empfangen hat, sich jetzt aber auf einmal *) Seite 5043 D 5036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Hans Klein Dr. Sigrid Hoth ten Zusammenarbeit. Es war dies eine Politik, zu der Ernst Waltemathe CDU und CSU ursprünglich nein oder „so nicht" sag- Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der ten und zu der sie sich nach der Regierungsüber- SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung nahme nur zögernd bekannten. Stichworte wie Ost- sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — verträge, KSZE-Prozeß, deutsch-polnische Aussöh- Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dies ist so nung und Endgültigkeit der polnischen Westgrenze, beschlossen. Rüstungsreduzierung, Rüstungskontrolle, Beitrag zur friedlichen Bewältigung von Konflikten, Durchset- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abge- zung von Menschenrechten usw. haben uns veran- ordneten Ernst Waltemathe das Wort. laßt, den Außenminister gegen manche „Nebenau- ßenpolitik" seines größeren Koalitionspartners in Schutz zu nehmen und zu unterstützen. Ernst Waltemathe (SPD): Herr Präsident! Meine Aber, meine Damen und Herren, weder die Person sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist des Außenministers noch seine politische Rolle sind größer geworden, der Anteil des Etats des Auswärti- sakrosankt. Seine Verdienste um die internationale gen Amts am Gesamthaushalt des Bundes relativ klei- Absicherung der deutschen Vereinigung und darum, ner. Für unsere unmittelbare Außenpolitik stehen daß sie von unseren zahlreichen Nachbarn in Europa knapp 3,4 Milliarden DM zur Verfügung. Das sind nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Weiter- etwa 0,8 % des Bundeshaushalts. 0,8 % können wenig entwicklung europäischer Zusammenarbeit beg riffen sein, 0,8 ‰ viel; aber das steht in einem anderen Zu- wurde, sind unbest ritten und werden auch in dieser sammenhang. Debatte nicht bestritten. Aber diese Feststellung kann Allerdings sind aus solchen Zahlen weder die au- nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem Kapitän auf ßenpolitischen Aktivitäten noch die außenwirtschaft- der Brücke der Außenpolitik der Kompaß inzwischen lichen und die finanziellen Leistungen deutscher Poli- etwas durcheinandergeraten ist, so daß Kursabwei- tik ablesbar. Der Etat des Auswärtigen Amtes enthält chungen nicht mehr ausgeschlossen sind. nur verhältnismäßig geringe operative Mittel und selbstverständlich verhältnismäßig hohe Personalko- (Norbert Gansel [SPD]: So ist es!) sten und sächliche Kosten für das Ministerium und die Seit einem guten Jahr funktioniert die hektische vielen Auslandsvertretungen, ferner große Beiträge Reisediplomatie nicht mehr wie gewohnt. Eine ge- an internationale Organisationen. wisse Unentschlossenheit im Zusammenhang mit Was die Bundesrepublik Deutschland in der inter- dem Golfkrieg und der peinliche Eindruck der nationalen Arbeit und in zweiseitigen Abkommen mit Scheckbuchpolitik gegenüber Staaten des Nahen zahlreichen Staaten unserer Erde wirklich leistet, fin- Ostens haben Mißtrauen hervorgerufen. Das Ver- det sich in anderen Einzelplänen als Zahlenwerk. trauen in deutsche außenpolitische Staatskunst ist Teilweise werden sie im Einzelplan 60 — Allgemeine während der zurückliegenden Monate im Zusammen- Finanzverwaltung — versteckt, z. B. unter „Maßnah- hang mit dem Krieg in Jugoslawien auch nicht ge- men im Zusammenhang mit dem Golfkrieg" — Be- wachsen. Die gewachsene Verantwortung des größer schaffungskosten für zwei U-Boote für Israel — . Ins- gewordenen Deutschlands darf nicht verwechselt gesamt geben die nackten Zahlen kein zutreffendes werden mit einer permanenten Vorreiterrolle inner- Bild der auswärtigen Politik. halb der europäischen Gremien, die von anderen Part- nern als Vorherrschaftsdenken mißverstanden wer- Die deutsche Außenpolitik wird seit 17 1 /2 Jahren den könnte. Es gilt, sensibel zu sein und sensibel zu vom dienstältesten Außenminister der Welt ge- bleiben gegenüber kleineren EG-Partnern, insbeson- prägt. dere dann, wenn diese die EG-Präsidentschaft inne- (Beifall bei der FDP) haben. Gut 16 Jahre lang hat Herr Genscher die grundsätzli- (Beifall bei der SPD) che Unterstützung durch die Sozialdemokratie ge- habt: in rund acht Jahren gemeinsamer Regierungs- Meine Damen und Herren, ich will mich hier gar verantwortung der sozial-liberalen Regierung und in nicht zu den Inhalten unserer oder der EG-Jugosla- weiteren acht Jahren, seit wir Sozialdemokraten in die wienpolitik im einzelnen äußern, aber doch zu beden- Opposition verwiesen wurden. ken geben, daß voreilige Ratschläge für das, was EG- Außenminister erst noch beraten sollen, und T ricks, (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ wer nach einer Außenministerzusammenkunft als er- CSU]: Denk an die Bremer Koalition! — ster zu einer Pressekonferenz eilt, eine Desavouierung Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Jetzt des Außenministers eines kleineren Nachbarn dar- aber Schluß!) stellen. Diese Desavouierung verletzt den Geist Diese grundsätzliche Unterstützung war an der Sa- gleichberechtigter Zusammenarbeit innerhalb der che orientiert, sie war nicht taktisch bedingt. Nicht nur Europäischen Gemeinschaft. tut ein Parlament gut daran, in der Außenpolitik ein- (Norbert Gansel [SPD]: Dabei steht Genscher Höchstmaß an Gemeinsamkeiten und gemeinsamer schon immer in der Zeitung!) Verantwortung anzustreben, wir Sozialdemokraten haben darüber hinaus in Herrn Genscher auch einen Selbst dann, wenn nicht alles stimmen sollte, was die Garanten gesehen für die Fortsetzung der von Willy Medien über das Verhältnis Genscher-van den Broek Brandt als Außenminister und Bundeskanzler begon- berichten, ist es doch mehr als ein Kunstfehler deut- nenen, von Helmut Schmidt fortgesetzten Politik zur scher Außenpolitik, daß der Eindruck entstanden ist, Überwindung der Spaltung Europas und der weltwei als wäre dieses Verhältnis eine zusätzliche Belastung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5037

Ernst Waltemathe für wichtige Entscheidungen, die jetzt in der Gemein- gungen für die Ausstattungshilfe entsprechend zu schaft getroffen werden müssen. kürzen. Wir bitten um Annahme unseres Antrags. Nach wie vor gehe ich davon aus, daß das größer (Beifall bei der SPD) gewordene Deutschland eine wachsende Verantwor- tung dafür trägt, daß Europa zusammenwächst und Meine Damen und Herren, es gibt einen Teil des aus dem vordemokratischen Stadium einer Versamm- Etats des Auswärtigen Amtes, den wir unterstützen lung von Regierungen hinauswächst zu einer parla- und den wir in Zukunft noch ausgedehnt haben möch- mentarischen Demokratie, die auf Zusammenarbeit ten. Das ist der Etat für auswärtige Kulturpolitik, der zwischen größeren und kleineren Ländern, zwischen etwa ein Drittel des Haushalts für die Außenpolitik wirtschaftsstarken und wirtschaftsschwachen Staaten ausmacht und der grundsätzlich sinnvoll und in den angelegt ist. In der Sache selbst werden meine Kolle- meisten Punkten zwischen den Parteien unstrittig ist. gen Norbert Gansel und Eberhard Brecht sicher noch Friedliche Zusammenarbeit kann nur entstehen, nähere Ausführungen machen. wenn sich Menschen begegnen, sich kennenle rnen und ihre jeweilige Kultur, ihre jeweilige Mentalität Wenn ich mich wieder dem Haushalt zuwende, so verstehen. knüpfe ich da an, worauf ich zu Anfang meines Debat- tenbeitrages bereits hingewiesen habe: Die Beurtei- Es ist deshalb hilfreich und vernünftig, wenn wir, lung der Außenpolitik läßt sich aus den verhältnismä- beispielsweise durch Stipendienprogramme, Studen- ßig geringen operativen Mitteln des Einzelplans 05 ten und Wissenschaftler anderer Länder und Erdteile nicht ohne weiteres herleiten. Einige Etatpositionen an unseren Universitäten zu Gast haben. Es ist wich- begegnen aber trotzdem unseren Bedenken. tig, die Spracharbeit über die Intensivierung und Aus- weitung der Arbeit der Goethe-Institute und über Me- Während wir — trotz einvernehmlicher Beschlüsse dienprogramme auszubauen. Wir wollen Ausstellun- aller Fraktionen dieses Hauses — im Unterausschuß gen und Gastspiele von Theatern oder Künstlergrup- für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Jahr für pen aus devisenschwachen Ländern in Deutschland Jahr mit geringem oder gar keinem Erfolg darum haben. Umgekehrt wollen wir auch, daß Gastspiele kämpfen, die Dotierung für humanitäre Hilfsmaßnah- und Ausstellungen deutscher Kultur im Ausland das men aufzustocken, wird auf der anderen Seite daran Bild eines kulturell hochstehenden, demokratisch ge- festgehalten, daß unter dem Stichwort NATO-Vertei- sinnten, eines friedlichen Deutschland vermitteln. digungshilfe erhebliche Rüstungslieferungen an die Türkei und an Griechenland vergeben werden. Selbst (Beifall bei der SPD) wenn es gelang, den Betrag, der bis einschließlich die- ses Jahres mit 164 Millionen DM jährlich zu Buche Und wir wollen, meine Damen und Herren, daß die steht, um 30 Millionen DM zu kürzen, so bleiben nach politischen Stiftungen Hilfe leisten, anderswo politi- dem Willen der Koalition ab 1992 nach wie vor Jahr für sches und gesellschaftliches Zusammenleben in f ried- Jahr 134 Millionen DM für Rüstungsmaßnahmen zu- fertigen, demokratischen Formen zu organisieren. Für gunsten von zwei NATO-Partnern — in einer Zeit, in diese Arbeit, die wir zu Recht überwiegend über Mitt- der auch für die NATO Abrüstung angesagt ist. Im lerorganisationen und nicht durch bürokratische Insti- übrigen kann man bezweifeln, ob aus diesem Titel tutionen durchführen lassen, haben wir erhebliche wirklich NATO-Verteidigungshilfe geleistet wird. Mittel bereitgestellt. Gleichzeitig, meine Damen und Herren, soll unter Im Zusammenhang mit der Entwicklung in Mittel- dem Titel „Ausstattungshilfe" ein neues Dreijahres- und Osteuropa, mit der Aufnahme diplomatischer Be- programm von knapp 200 Millionen DM für überwie- ziehungen zu den drei vor kurzem wieder selbständig gend an ausländische Streitkräfte und Polizeieinhei- gewordenen baltischen Staaten und der sich abzeich- ten vom Bundesverteidigungsminister zu liefernde nenden Verselbständigung von Republiken der ehe- Güter nicht waffentechnischer Art aufgelegt werden. maligen Sowjetunion ist die Notwendigkeit gewach- Auch wenn es sich nicht um Waffenlieferungen han- sen, gerade in der Auslandskulturarbeit kräftig zuzu- delt, so sind die Lieferungen für viele Empfängerlän- legen, ohne die entsprechenden Aufgaben in anderen der doch von erheblicher logistischer Bedeutung. Sie Teilen der Welt zu vernachlässigen. fördern nicht die Entwicklung dieser Empfängerlän- der, sondern vielfach die Aufrechterhaltung von Re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) pressionsmaßnahmen gegen die eigene Bevölke- Einige Verbesserungen gegenüber dem Regie- rung. rungsentwurf zum Haushalt 1992 haben wir noch in (Beifall bei der SPD) letzter Minute einvernehmlich erreichen können. Ei- niges ist uns aber nicht gelungen. Wir fordern die Bun- Von den 200 Millionen DM sollen etwa drei Viertel, desregierung auf, in ihrem Etatentwurf für das Jahr etwa 150 Millionen DM, für solche bedenklichen Aus- 1993 eine weitere notwendige, der Sache angemes- rüstungsgegenstände zur Verfügung gestellt werden. sene Aufstockung des Kulturetats des Auswärtigen Lediglich 46 Millionen DM sind im Dreijahreszeit- Amtes zu berücksichtigen. raum für Demokratisierungshilfen und für Maßnah-- men zur Bekämpfung der Drogenkriminalität vorge- Zusammengefaßt, meine Damen und Herren: Auch sehen. Die beiden letztgenannten Maßnahmen unter- wenn ich am Schluß meiner Ausführungen die Ge- stützen wir, den größeren Brocken an Militär- und meinsamkeit bezüglich der Kulturarbeit herausge- Polizeihilfe lehnen wir ab. Auf Drucksache 12/1648 stellt habe, so bleibt es doch bei der negativen Ge- haben wir einen Antrag zur Abstimmung vorgelegt, samtbeurteilung des Etats für das Auswärtige Amt, den Haushaltstitel und die Verpflichtungsermächti den die Bundesregierung bzw. die Regierungskoali- 5038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Ernst Waltemathe tionen vorgelegt haben. Wir werden deshalb den Etat Es wäre im übrigen eine Tragik der Geschichte, des Auswärtigen Amtes ablehnen. wenn der europäische Zug kurz vor der Vollendung (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ des Binnenmarktes und der Politischen Union einen GRÜNE) Weichensprung erlebte. Die falsche oder gar entge- gengesetzte Richtung darf nicht eingeschlagen wer- den. Leider sind nämlich nicht alle Zeichen in Europa ermutigend. Die Tragödie in Jugoslawien zeigt un- Ich erteile dem Abgeord- Vizepräsident Hans Klein: sere Ohnmacht. Das erklärte Ziel von Außenminister neten Dr. Klaus Rose das Wort. Genscher, aber auch der KSZE und ungezählter ande- rer Konferenzen war und ist es, in Europa ohne Grenz- veränderungen auszukommen, es sei denn, sie vollzö- Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine gen sich im friedlichen Wandel. Im Falle von Jugosla- sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem ich wien erweist sich mit brutaler Zynik, daß die verzö- ohnehin mit dem Kollegen Waltemathe das ganze gerte Anerkennung von Slowenien und Kroatien die Jahr zu tun habe, brauche ich jetzt nicht auf ihn ein- friedliche Beibehaltung der Grenzen zunichte ge- zugehen. Ich möchte den Schwerpunkt der Haus- macht hat. haltsdebatte bezüglich der Außenpolitik auf das Hauptstichwort legen, das uns als vergrößertem Ich halte nichts von falscher Schuldzuweisung und Deutschland gegeben ist, nämlich auf die neue Rolle schon gar nicht gegenüber der Bundesregierung und Deutschlands und wie wir uns dazu stellen sollen. ihrem Außenminister, wenn sie Grundsatztreue zei- gen, eine umgehende Anerkennung der beiden West- Berufene und Unberufene stellen nämlich diese republiken Jugoslawiens ist jedoch geboten, bevor es Frage, Betroffene und Abseitsstehende sind von ihr in den Ostrepubliken des untergehenden Vielvölker- fasziniert. Wir wissen alle, daß sich das Ausland be- staats zu einer ähnlichen Tragödie kommt. reits ein Bild über dieses neue Deutschland macht. Ich betone vorweg, daß wir verpflichtet sind, dieses Bild (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) zu prägen, und zwar im Sinne einer weiter vertieften Kein Mensch in unserem Land versteht mehr, Freundschaft mit unseren Nachbarn. Das große Ver- warum Slowenien und Kroatien gegen das Selbstbe- trauen, das wir als kleinere Bundesrepublik mit der stimmungsrecht an Jugoslawien gekettet bleiben. Die Hauptstadt Bonn genossen haben, darf nicht aufs Fiktion des geeinten Südslawiens ist mit dem Tode Spiel gesetzt werden. Titos — wie ja leider erwartet oder befürchtet — erlo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schen. der SPD) Wenn ich vorhin vom Ziel des vereinigten Europas Natürlich haben wir nach Erlangung der vollen sprach, so tat ich dies auch angesichts der jüngsten Souveränität für alle Deutschen zusätzliche Aufga- gegenläufigen Tendenz, sich in immer mehr selbstän- ben. Natürlich dürfen wir gesundes Selbstbewußtsein dige oder gar unabhängige Regionen aufzusplittern. zeigen und müssen nicht als der von der Geschichte Ich beobachte aus der etwas näheren Sicht Bayerns Mißgebildete dauernd am Krückstock gehen. Von ei- mit sorgenvollem Interesse, wie Tschechen und Slo- ner liebenswürdigen Bescheidenheit sollten sich die waken miteinander umgehen. Noch Ende Juli dieses Deutschen aber nicht zu weit entfernen. Jahres, als ich in Preßburg mit Ministerpräsident Car- Wir leben gegenwärtig mit dem Problem, daß die nogursky und mit seinem Opponenten Meciar Ge- einen sehr viel von uns erwarten — materielle Hilfen, spräche führte, deutete nichts auf eine Eskalierung technologisch-wissenschaftliche Unterstützung. Doch des Gegensatzes zwischen der tschechischen Repu- je mehr wir tun, desto eher zeigt die andere Seite den blik und der slowakischen Republik hin. Man wollte zwar mehr eigene Rechte, mehr Selbständigkeit und Stachel des Mißtrauens, so daß wir darauf achten müs- sen, nicht als beherrschend angesehen zu werden. mehr internationale Aufmerksamkeit für die Slowa- kei; im Gesamtstaat CSFR fühlte man sich aber durch- Den goldenen Mittelweg zu finden ist bekanntlich nicht leicht. Das gilt auch für den unmittelbar bevor- aus beheimatet. Die zu uns kommenden jüngsten Meldungen erwecken jedoch den Eindruck einer an- stehenden Schritt zur Europäischen Politischen deren Politik. Uns kann es nicht um die Einmischung Union. in die inneren Angelegenheiten gehen. Aber ich Solange, meine Damen und Herren, das Feindbild meine, wir sollten möglichst viele Verknüpfungen des Ostens bestand, war der Druck hin zur Einigung und enge Bindungen auch mit der Slowakei eingehen, im Westen gewünscht. Heute besteht die Herausfor- nicht gegen die Tschechen, sondern um den Slowa- derung der Geschichte da rin, daß diese Politische ken das Gefühl der Gleichberechtigung zu geben, Union auch erreicht wird, obwohl sie nicht mehr all- nämlich daß sie unmittelbar Kontakt zu Europa ha- seits gewünscht erscheint. Die Bundesregierung ben. bleibt aufgefordert, die angemessenen Schritte zu tun. Der bevorstehende Gipfel von Maast richt — heute Ein vereintes Europa braucht selbstbewußte Völker, vom Herrn Bundeskanzler mehrmals erwähnt — mag aber eben auch partnerschaftliche Ideen, ohne die an nicht leicht zu erklimmen sein, um der Zukunft Euro- ein Zusammenleben nicht zu denken ist. Vielleicht pas willen darf man jedoch keinen Schweißtropfen sind Südtirol oder auch Flandern — zwei andere Bei- scheuen. Dabei sollen unsere europäischen Freunde spiele — ebenfalls Auftrag, für Europa mehr zu tun. spüren, daß die Deutschen in aufrichtiger Partner- Meine Damen und Herren, wir haben in der letzten schaft denken und nicht in Vormachtgelüsten schwel- Zeit naturgemäß viel über die Sowjetunion bzw. über gen. Die entsprechende Lehre aus der Geschichte die neuentstandenen Republiken diskutiert. Ich will sollten wir gezogen haben. nicht behaupten, daß die Dritte Welt oder daß andere Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5039

Dr. Klaus Rose Regionen auf der Erde hintangestellt werden dürfen. zusammen. Flächendeckend können wir halt momen- Meine Kollegen Vogel und Köhler gehen darauf nach- tan nicht in der ehemaligen Sowjetunion oder in Ju- her noch ein. Doch im Rahmen einer Haushaltsde- goslawien oder überall dort, wo neue Republiken ent- batte muß es erlaubt sein, auch die Grenzen des stehen, arbeiten. Wir können mit der Bestückung von Machbaren aufzuzeigen. Wir haben zu Jahresbeginn Universitätsbibliotheken oder mit dem begie rig auf- bekanntermaßen schon problematische Entwicklun- genommenen Angebot der Sprachvermittlung schon gen in bezug auf das viele Geldausgeben gehabt. viel erreichen. Angesichts der unvorstellbaren Kosten, die durch die Diese haushaltsmäßige Bescheidenheit hat im übri- Hinterlassenschaft des Kommunismus östlich der Elbe gen zu der einstimmigen Entscheidung im Haushalts- oder des Bayerwaldes auf uns zukommen, können wir ausschuß geführt, wegen der sich abzeichnenden gro- uns eine derartige Politik nicht mehr leisten. Auch ßen Notwendigkeiten flächendeckender diplomati- wenn man die Deutschen für die goldene Melkkuh scher Betreuung auf die Etablierung von B 6-Bot- halten mag, steht fest, daß niemand auf der Erde al- schaften in den drei Balten-Republiken zu verzichten. leine reich genug ist für die Lösung aller Weltpro- Entgegen anders lautenden Spekulationen ist diese bleme. Entscheidung also nicht wegen oder gegen Personen (Beifall bei der CDU/CSU) gefallen, sondern einzig und allein aus Sachgrün- Deshalb muß man Prioritäten setzen. Bei uns Deut- den. schen, bei uns Europäern, kommt es darauf an, jenen Wir haben im Haushaltsausschuß noch einen aufse- zu helfen, die jahrzehntelang ihrer Rechte beraubt henerregenden politischen Beschluß gefaßt, nämlich waren. 25 Millionen DM für die Umrüstung militärischer für bestimmter Güter zu sperren. Wegen der Ich bin sehr dafür, daß wir uns um Rußland küm- die Türkei mern und daß wir auf Rußland zugehen, aber Ungarn, knappen Zeit kann ich heute nicht in voller Länge Polen oder die Tschechen und die Slowaken haben darauf eingehen. Die Sperrung ist ein normales haus- haltstechnisches Mittel, aber es wollte auch ein politi- sich jahrelang gegen die Übermacht gewehrt und ge- gen den Totalitarismus gekämpft. Dort haben die Völ- scher Akzent gesetzt werden. Nur, ich meine, man ker Mut gezeigt und die Freiheit errungen. Diese Völ- kann den Akzent auch falsch setzen. Wenn jetzt in der Türkei eine neue Regierung im Amt ist, in der auch ker — auch in ihrer Rolle als unsere unmittelbaren Nachbarn — dürfen wir nicht vergessen. Sozialdemokraten Mitglieder sind, wenn man sich be- müht, Menschenrechte zu verwirklichen, wenn man (Beifall bei der CDU/CSU) ein eigenes Staatsministerium mit einem Menschen- rechtsminister etabliert hat, wenn man in der Türkei in Wir dürfen vor allem die deutschen Minderheiten den Koalitionsvereinbarungen Passagen findet, daß nicht vergessen, was ich als CSU-Abgeordneter vor- man sich der Frage von Gewalt und Terror auf men- rangig betone. Im Haushalt 1992 sind beträchtliche schenrechtliche Weise annehmen will, dann sollten und vor Mittel für die entstehende Wolga-Republik wir diese Entwicklung in der Türkei fördern und nicht allem auch Mittel zur Pflege deutscher Kultur enthal- durch falsche Maßnahmen behindern. ten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wer gestern abend im Fernsehen den Be richt über die Wolga-Republik und über das Schicksal dieser Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich Menschen sah, wird mit besonderem Interesse verfol- deshalb darum bitten, daß der Weg der Entsperrung gen, wie sich das alles entwickelt, ob es überhaupt zu dieser Mittel möglichst bald beschritten wird. Wir ver- einer Wolga-Republik in unserem Sinne kommen lassen uns auf die Regierung, daß sie mit diesem An- kann und vor allem wie wir Gerechtigkeit in der Ge- liegen an das Parlament und an den Haushaltsaus- schichte für diese Menschen, die wirklich nichts dafür schuß herantritt, so daß wir dann auch gegenüber konnten, die niemals Faschisten, die niemals Nazi- unserem traditionell guten Freund und NATO-Partner Anhänger waren und die eben in ihrer Geschichte so Türkei das richtige Zeichen setzen können. schwer getroffen waren, erwirken können. Der Haushalt 1992 — Auswärtiges Amt — weist viele gute Dinge auf. Wegen der Knappheit der Zeit (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- — ich betone es nochmals — kann ich aber auf wei- neten der FDP) tere schöne Punkte nicht eingehen. Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zusammenhang gerne erwähnen, daß alleine auf dem Gebiet der bisherigen Sowjetunion 11 Millionen Schüler und Studenten die deutsche Sprache erlernen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- — 11 Millionen! — und daß 65 000 Deutschlehrer ordnete Dr. Sigrid Hoth. Lehrmaterial brauchen, daß sie gerne Stipendien an- (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt mal ran!) geboten und Deutschlandreisen vermittelt haben wol- len. Wir haben also einiges zu tun. Hier breitet sich eine gewaltige Dimension der auswärtigen Kultur- (FDP): Sehr verehrter Herr Präsi- politik aus, die vom Goethe-Institut, vom DAAD und Dr. Sigrid Hoth dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushaltspoli- von den politischen Stiftungen ausgefüllt werden tik enthält immer ein wenig die Gefahr, sich überwie- muß. gend auf nationale Belange zu konzentrieren. So war Daß mit dem Haushalt 1992 nur ein einziges Goe- es auch oberste Maxime dieser Haushaltsberatungen, the-Institut in den baltischen Staaten — in Riga — einen Gesamthaushalt zu verabschieden, der den zu- genehmigt wurde, hängt mit den Haushaltszwängen künftigen Erfordernissen Rechnung trägt, gleichzeitig 5040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Sigrid Hoth aber eine übermäßige Verschuldung des Bundes ver- Deutschland mit ihren östlichen Nachbarn — der Re- meidet. publik Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn Die nun vorliegenden Zahlen belegen, daß die Re- — einfacher, gleichwohl sie für die Friedensordnung gierung auch zukünftig ihren Beitrag zur Vollendung in Europa von herausragender Bedeutung sind. Mit der deutschen Einheit leisten kann, ohne Steuerzahler Genugtuung können wir feststellen, daß diesen bila- oder Wirtschaft zu überfordern. teralen Verträgen Assoziierungsabkommen mit der EG folgen sollen. Entsprechende Abkommen wurden Spätestens jedoch die Debatte zum Einzelplan des bereits paraphiert. Die Anbindung Ungarns, Polens Auswärtigen Amtes zeigt jedem, daß wir mehr tun und der Tschechoslowakei an den Wirtschaftsraum wollen, als vor der sprichwörtlichen eigenen Tür zu der Europäischen Gemeinschaft ist für deren wirt- kehren. Wer sich die Ereignisse dieses Jahres in E rin- schaftliche Entwicklung und damit für die innere Sta- nerung ruft, wird mir uneingeschränkt darin zustim- bilität dieser Staaten unerläßlich. men, daß wir noch mehr Verantwortung als bisher für die wirtschaftliche und politische Entwicklung außer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halb unserer nationalen Grenzen — aber auch über Wir helfen diesen Staaten am effizientesten dann, die Grenzen Europas hinaus — übernehmen müssen. wenn wir ihnen den Zugang zu unseren Märkten und Der Krieg am Golf führte uns deutlich vor Augen, wie letztlich zum gemeinsamen Europa ermöglichen. schnell sich als stabil eingeschätzte Strukturen verän- dern können. Dieser Krieg zeigte außerdem, daß in- Zur Herstellung der europäischen Wirtschafts- und nerhalb Deutschlands kein Konsens darüber besteht, Währungsunion müssen die Verhandlungen der welche Rolle die Bundesrepublik Deutschland zu- zwölf EG-Mitgliedstaaten schnellstmöglich zu einem künftig bei ähnlichen Auseinandersetzungen einneh- erfolgreichen Abschluß geführt werden. Zentrale For- men soll. derung der Bundesregierung ist dabei, die Stabilität der künftigen Währung zu gewährleisten. An eine Wir müssen uns bewußt werden, daß uns mit der gemeinsame Währung müssen dieselben stabilitäts- Vereinigung Deutschlands, mit dem Ende des Ost- politischen Kriterien angelegt werden, die in der Bun- West-Konfliktes auch neue Pflichten zugefallen sind. desrepublik für die D-Mark gelten. Dazu ist es not- Natürlich müssen wir genau wie bisher versuchen, wendig, im EWG-Vertrag Kriterien für exzessive Defi- jede kleine Chance zu nutzen, um Konflikte politisch zite, Verfahren für den Abbau solcher Defizite sowie zu lösen. Unter Umständen könnten wir aber zukünf- Sanktionsmöglichkeiten bei unsolider Haushaltspoli- tig gezwungen sein, unschuldigen Opfern von Völ- tik zu verankern. Dabei darf allerdings nicht überse- kerrechtsverletzungen — das kann, wie der Golfkrieg hen werden, daß auch nach Herstellung der WWU die gezeigt hat, auch bei nicht der NATO angehörenden Wirtschaftspolitik vorrangig Angelegenheit der ein- Staaten der Fall sein — im Rahmen von UN- und spä- zelnen Mitgliedstaaten bleiben wird. Die künftige ge- ter vielleicht auch von KSZE-Aktionen Beistand zu lei- meinsame Geldpolitik hingegen soll in alleiniger Ver- sten. antwortung der unabhängigen europäischen Zentral- (Beifall bei der FDP) bank liegen. Bisher als unverrückbar angesehene Positionen müs- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] sen insofern also neu überdacht werden. [FDP]: Sehr gut!) Meine Damen und Herren, trotz herber Rück- schläge, die wir in unserem Bestreben nach dauerhaf- Dabei muß im Rahmen der WWU dem Grundsatz de- tem Frieden hinnehmen mußten — als jüngstes Bei- mokratischer Legitimität Rechnung getragen werden. spiel sei hier der Jugoslawien-Krieg genannt — , sind Der Vertragsentwurf sieht daher in allen legislativen wir ein gutes Stück vorangekommen. Das entschlos- und institutionellen Fragen die Beteiligung des Euro- sene Vorgehen der UN gegen Saddam Hussein zeigt: päischen Parlaments vor. Der kommende Gipfel in Solange die Völkergemeinschaft geschlossen gegen Maastricht wäre, wenn er zu einem erfolgreichen Ab- Unrecht einschreitet, kann Aggression auf Dauer schluß kommt, ein wichtiger Meilenstein auf dem nicht bestehen. Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Politischen Union Europas. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, auch ein nur kurzer Zudem zwang die Beendigung des Golfkrieges alle Rückblick auf dieses Jahr ist ohne die Berücksichti- Beteiligten, über eine zukünftige Friedensordnung im gung der Ereignisse in der bisherigen UdSSR unvoll- Nahen Osten nachzudenken. Es wäre doch ein ständig. Derzeit scheint man dort eine Form zu finden, Pyrrhussieg, wenn der Golfkrieg gewonnen wäre, die sowohl dem Bestreben der einzelnen Republiken ohne daß es gelänge, Stabilität für die Region zu erzie- nach Unabhängigkeit als auch der Notwendigkeit ei- len. nes zusammenhängenden Wirtschaftsraums Rech- Die Anfang November begonnene Friedenskonfe- nung trägt. Die Vorgänge in der Sowjetunion lassen renz gibt meiner Ansicht nach zu vorsichtigem Opti- hoffen, daß die gewaltige Wirtschaftshilfe der Bundes- mismus Anlaß. Ein Erfolg dieser Gespräche würde republik nicht vergeblich war. zugleich beweisen, daß es auch zwei so unterschied- Es ist sicherlich auch nicht anmaßend, zu behaup- lichen Konfliktparteien möglich sein kann, Lösungen ten, daß wir durch unsere Finanzhilfen einen kleinen für eine friedliche Nachbarschaft zu finden. Dies Beitrag leisten konnten, die Person und die Politik könnte auch Signalwirkung für andere Regionen ha- Michail Gorbatschows zu unterstützen. Das durch ihn ben. geweckte geänderte Bewußtsein in der Bevölkerung Im Vergleich dazu gestalteten sich die Verhandlun- und nicht zuletzt in der Armee war die entscheidende gen über die Verträge zwischen der Bundesrepublik Kraft bei der Niederschlagung des Putsches. An dieser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5041

Dr. Sigrid Hoth Stelle soll auch das Verdienst von Boris Jelzin in die- erhoffte Wirkung blieb bisher leider aus. Der Jugosla- sen Tagen nochmals ausdrücklich gewürdigt wer- wien-Krieg zwingt uns daher nachdrücklich, eine den. wirksame außenpolitische Abstimmung schnellst- möglich zu realisieren. Ein deutliches Signal könnte (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dabei die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens Liebe Kolleginnen und Kollegen, die von mir aufge- durch die EG sein. führten Entwicklungen belegen: Wirtschaftliche Hilfe In einem Interview dieser Woche sagte Außenmini- darf nicht ausschließlich an kurzfristiger Rentabilität ster Genscher zu, die medizinische Hilfe für Kroatien orientiert sein. Sie sollte auch immer einen Vertrau- von 6 auf 10 Millionen DM zu erhöhen. ensvorschuß enthalten, um langfristig richtigen Ent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wicklungen zum Durchbruch verhelfen zu können. Zusammen mit dem Auswärtigen Amt können wir Ich begrüße dies ausdrücklich, liebe Kolleginnen und auch in Zukunft in diesem Sinne arbeiten. Kollegen, da wir damit deutlich machen, daß die An- erkennung der politischen Souveränität allein nicht Der Gesamthaushalt des Einzelplans 05 beträgt ausreicht. etwa 3,4 Milliarden DM und weist Verpflichtungser- mächtigungen in Höhe von 560 Millionen DM aus. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hinge- Für die Aufgaben der Auslandsvertretungen werden wiesen: Eine Anerkennung müßte zudem die Auffor- im kommenden Jahr über eine Milliarde DM zur Ver- derung zur Wahrung der Minderheitenrechte bein- fügung gestellt. Der Ansatz im Regierungsentwurf in halten. Das Problem der Toleranz gegenüber ethni- Höhe von 991 Millionen DM wurde aufgestockt, um schen Minderheiten innerhalb eines Staates und die Botschaften in den baltischen Staaten einrichten zu Wahrung ihrer Interessen und Rechte scheint mir können. weltweit ein wachsendes Problem zu sein. In diesem Zusammenhang wird auch das Vorgehen Neben den Auslandsvertretungen ist auch die der Türkei gegen die unschuldige kurdische Zivilbe- Pflege kultureller Beziehungen ein Schwerpunkt völkerung von uns kritisiert. Die Türkei weist als Be- deutscher Außenpolitik. Knapp 1,2 Milliarden DM gründung für ihr Handeln darauf hin, daß diese Maß- sind im kommenden Jahr dafür eingeplant. Mit diesen nahmen eine Abwehr gegen Aktionen der terroristi- Geldern unterstützen wir u. a. die Förderung von Stu- schen PKK darstellen. Dabei läßt die Regierung in denten und Nachwuchswissenschaftlern durch Sti- Ankara jedoch anscheinend außer acht, daß die Ver- pendien und Beihilfen in Höhe von 180 Millionen DM, folgung von Straffälligen niemals völkerrechtswidrig deutsche Wissenschaftler und Lektoren der deutschen grenzüberschreitend oder mit Gefahr für das Leben Sprache im Ausland mit 48 Millionen DM, das Goe- der Zivilbevölkerung erfolgen darf. Insofern ist das the-Institut mit 232 Millionen DM, Kirchen, politische Vorgehen der Türkei zu verurteilen. Aus diesem Stiftungen, Jugendbewègungen und die Förderung Grund hat der Haushaltsausschuß während der Etat- von Sportbeziehungen mit 73 Millionen DM und nicht beratungen im Rahmen der Militärhilfe für die Türkei zuletzt den Deutschen Akademischen Austausch- 25 Millionen DM qualifiziert gesperrt. Es muß abge- dienst mit knapp 33 Millionen DM. wartet werden, ob z. B. die geplante Ernennung eines Zur Pflege der kulturellen Beziehungen gehört auch Ministers für Menschenrechte in der Türkei wirkliche die Förderung deutscher Auslandsschulen mit Mit- Änderungen im Vorgehen der Regierung bewirken teln in Höhe von 328 Millionen DM. Mit unseren Ver- wird. tretungen und der eben erwähnten Arbeit auf dem (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Was Gebiet der Kulturpolitik versuchen wir, sowohl ein zu hoffen ist!) vorurteilsfreies Bild von anderen zu erhalten als auch Die Entwicklungen in diesem Jahr machen deut- ein ebensolches von uns selbst zu vermitteln. Dies ist lich: In unserem Streben nach Ausgleich in der Welt auch der einzige Weg, Vertrauen aufzubauen und so können wir noch lange nicht innehalten. Lassen Sie Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen oder diese uns deshalb gemeinsam darauf hinarbeiten, daß wir bereits im Vorfeld lösen zu können. zukünftig gegen Ende eines Jahres positive Ereig- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nisse als Regel und Krisen als Ausnahme bilanzieren können! Was wir derzeit in Jugoslawien hingegen beobach- ten können, ist das brutale Vorgehen der serbischen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Republik gegen Kroatien. Viele Waffenstillstandsver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) einbarungen wurden geschlossen. 14 sind es wohl mittlerweile. Gehalten hat noch keine. Dieser Krieg hat bereits Tausende von Todesopfern gefordert, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht, ha- hat der Abgeordnete Dr. Hans Modrow. ben ihre Heimat verloren. Die vermeintlichen Sieger finden die von ihnen zerstörten Städte vor. Der wirt- (PDS/Linke Liste) : Herr Präsi- schaftliche Schaden, den Jugoslawien durch diesen Dr. Hans Modrow Krieg erleidet, ist gewaltig. dent! Meine Damen und Herren! Vorbereitung und Diskussion des Haushalts dienen dazu, die Weichen Die Bemühungen der Europäischen Gemeinschaft, der Politik zu stellen. Betrachtet man den vorgelegten diesen Konflikt zu beenden, blieben bisher ohne Er- Entwurf, gewinnt man den Eindruck, daß die Bundes- folg. Die Schwierigkeiten, zu einer gemeinsamen eu- regierung keine wesentlichen Veränderungen er- ropäischen außenpolitischen Haltung zu finden, ko- blickt, und das gilt für den gesamten Bundeshaushalt steten Zeit und führten zu Zwischenlösungen. Deren wie für den jetzt zur Debatte stehenden Einzelplan 5042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Hans Modrow des Auswärtigen Amtes. Die größer gewordene Rolle Übereinstimmung mit dem Wiener Vertrag zu begrü- des vereinigten Deutschlands in der konfliktreicher ßen. Was nützt es, wenn die Bundesregierung den gewordenen Welt wird ebenso mißachtet wie das Aus- Römer Gipfel als historisch rühmt, wenn sie gleichzei- maß der globalen Probleme, die sich dramatisch zu- tig aber verschleiert, daß jetzt kostenaufwendige Mo- spitzen und vor denen sich selbst so hoch entwickelte dernisierung der Streitkräfte und neueste Waffen- Länder wie die Bundesrepublik auf Dauer nicht ab- technologien zu finanzieren sind, während an der schotten können. Strategie der Abschreckung und dem Ersteinsatz von Natürlich kann und soll die Bundesrepublik nicht Kernwaffen nicht gerüttelt wird? alleine für die Lösung dieser Probleme aufkommen. Der Kalte Krieg ist vorbei. Aber der Wettlauf um Aber so zu tun, als existierten sie nicht, als könnte man hohe Profite aus der Rüstung geht weiter. auf den eingefahrenen Gleisen weiterfahren, dank dem Anschluß von über 100 000 Quadratkilometern (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Altes Ge und 16 Millionen Menschen schwätz!) — Na ja, warten Sie ab, daß uns dieses „alte Ge- (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Unver- schwätz" nicht gemeinsam zu ha rt über den Nacken schämtheit!) kommt. sogar mit größerer Schubkraft, das ist nicht nur kurz- (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Sie irren! sichtig, es ist riskant und kann auch verhängnisvoll sein. — Zuruf von der FDP: Ihre Vergangenheit holt Sie auch noch ein!) (Erneuter Zuruf des Abg. Gerhard Redde- Was haben, so ist zu fragen, NATO-Verteidigungs- mann [CDU/CSU]) hilfe, Ausstattungshilfe, Rüstungssonderhilfe mit dem — Ach wissen Sie, das Thema ist doch nun zu Haushalt des Auswärtigen Amtes zu tun, von der Ende. Frage ihrer Rechtfertigung noch ganz abgesehen? Wo bleibt im Haushalt die Finanzierung einer aktiven (Widerspruch bei der CDU/CSU — Reinhard Abrüstungspolitik, die sinnvolle Verwendung der Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: So Friedensdividende? schnell geht das nicht!) Wir fordern die Bundesregierung deshalb erneut — Das können Sie für sich selber weiterbereden. auf, schnellstmöglich einen Verhandlungsprozeß mit Nur zu schnell können Krisen und Katastrophen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjet- entstehen, auch wenn man heute noch glaubt, vor der union über einen kernwaffenfreien Status Deutsch- Geschichte zum Sieger bestimmt zu sein. lands einzuleiten, um die Stationierung von Kernwaf- (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Das hat fen auf deutschem Boden zu beenden. nichts mit Siegern und Besiegten, sondern Wenn mit dem Haushalt auch über die internatio- nur mit Freiheit und Unfreiheit zu tun!) nale Rolle der Bundesrepublik entschieden wird — Die Bundesregierung hat erst kürzlich auf dem und dem ist so — , darf nicht vergessen werden, daß NATO-Gipfel in Rom eine wichtige Gelegenheit un- viele europäische Staaten, vor allem aber unsere genutzt verstreichen lassen, zu weitreichenden Nachbarn, mit der Einbindung in die EG und die Schlußfolgerungen aus den völlig veränderten Bedin- NATO immer noch das Ziel der Sicherung vor gungen in Europa beizutragen. Schlimmer noch: Sie Deutschland verbinden. Das ist heute so, auch wenn hat maßgeblich darauf hingewirkt, daß wiederum, es in öffentlichen Reden von Ministerpräsidenten und sieht man von wenigen Veränderungen ab, eine Staatspräsidenten nicht ausgesprochen wird. Dieses anachronistische Sicherheitskonzeption beschlossen Ziel erscheint, nachdem Deutschland nahezu 80 Mil- wurde. lionen Menschen zählt, wichtiger als je zuvor. Nichts charakterisiert doch die fundamental verän- Wie blind und unbelehrbar die Bundesregierung derte Situation heute mehr als die Tatsache, daß, wie aber an verfehlter Politik festhält, zeigt ihr Vorgehen in der Jugoslawien-Frage. es nannte, sowje tische Streitkräfte im ver- Ungeachtet der vielschich- tigen Ursachen, des entsetzlichen Blutvergießens, des einigten Deutschland auf dem Ter ritorium der NATO stehen und daß sich niemand darüber Sorgen zweifellos komplizierten Charakters der schlimmen Kri macht. se, der bekanntgewordenen Grausamkeiten bei- der Seiten setzt die Bundesregierung ihre konflikt- Auch ein neuer Feind, gegen den man neue Waffen schärfende Politik der einseitigen Parteinahme für bräuchte, die ohnehin schon im Übermaß vorhanden Kroatien fort. sind, ist nicht zu sehen. Die NATO ohne Feindbild nennt sich nunmehr Versicherungsgemeinschaft. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP Doch nach Zielen, Strukturen und Beiträgen gleicht — Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ sie eher einer maßlos teuren Feuerversicherung, die CSU]: Jetzt stellt sich der Kommunist raus!) sich selber mit dem Feuer beschäftigt und damit Wer bei Serbien nicht vergißt, auf kommunistische spielt; und die Bundesregierung zündelt mit. - Strukturen zu verweisen, und auf der anderen Seite rechtsextremistische Zeichen, die es dort gibt, ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Immer wieder die schweigt, ist noch nicht beim neuen Denken ange- alte Leier!) kommen. Dem Frieden in Jugoslawien und dem Anse- Gewiß sind die geplanten Vernichtungen von land- hen der Bundesrepublik wäre es dienlicher gewesen, und seegestützten taktischen Kernwaffen, die Ver- wenn die geradezu missionarisch eingesetzte politi- minderung von konventionellen Waffensystemen in sche Energie für eine ehrliche, vermittelnde, frieden- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5043

Dr. Hans Modrow stiftende Politik verwandt worden wäre. Manch bitte- hört, wie kompliziert sich die Probleme in den neuen, res Wort an die deutsche Adresse wäre im Ausland östlichen Ländern gestalten. Das wird in Ost wie in nicht gesprochen, vor allem aber neuer Argwohn kraft West mit Besorgnis gesehen. Geschichte und unseliger Erinnerung nicht geweckt Wir sind deshalb dafür, die Sozialunion grundsätz- worden. lich mit dem gleichen Tempo und mit der gleichen ( [SPD]: Das ist doch kein Intensität zu gestalten und auszubauen wie die Wirt- Thema für Selbstgerechtigkeit, Herr Mod schafts- und die Politische Union. Umfangreiche Mit- row!) tel könnten dafür aus dem aufgeblähten Militärhaus- halt ohne Schaden für die Sicherheit und das Gemein- Noch ist eine Umkehr möglich. Das gilt für das Ver- wohl verwendet werden. halten zu Jugoslawien wie zu Osteuropa insgesamt. In Eine letzte Bemerkung zur Ausstattungshilfe für Rom hat die NATO diesen Staaten eine neue Ära der ausländische Streitkräfte und Polizei. Partnerschaft angeboten. Dieses Angebot war über- fällig. Dennoch bleibt es halbherzig und wird von den tatsächlichen Erfordernissen noch weit entfernt sein. Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ent- Anstatt mit Prioritäten darauf hinzuwirken, alle euro- schuldigung. Aber Sie können nur noch einen Satz päischen Staaten gleichberechtigt in ein gesamteuro- sagen. Sie sind schon über die Zeit. päisches Sicherheitssystem einzubinden, werden sie (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ in Staaten erster und zweiter Ordnung mit unter- CSU]: Wenn Sie rot sehen, werden Sie richtig schiedlichen Sicherheitsansprüchen eingeteilt. feurig!) Ähnlich falsche Signale setzt die Bundesregierung bedauerlicherweise für den bevorstehenden EG-Gip- Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Dann möchte fel in Maastricht. Auch wir sind für ein Europa, das ich auf zwei Dinge verweisen. Auf der einen Seite eine eigenständige und dauerhafte Ordnung des Frie- wird für die Türkei darum gestritten, ob Streichungen dens und der Zusammenarbeit aufbaut und verant- vorgenommen werden müssen oder nicht. Auf der wortungsbewußt Fähigkeiten entwickelt, zur Neuge- anderen Seite wird für Kuba alles gestrichen, ohne staltung des Nord-Süd-Verhältnisses beizutragen. danach zu fragen, ob Kinder leiden bzw. wer wirklich Dieses Europa soll weder eine Vormachtrolle bean- Not leidet. spruchen oder für irgendeinen Staat begründen, noch Der Haushalt eines Staates ist Prüfstein seiner Poli- soll es auf militärischer Stärke beruhen. Es soll ein tik. Der uns vorgelegte zeigt, wie verfehlt die gegen- friedliches, demokratisch-konförderatives Europa wärtig Politik der Bundesregierung ist. sein, das allen Staaten des Kontinentes offensteht. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Lachen Wenn sich die Europäischen Gemeinschaften fähig bei der CDU/CSU und der FDP) erweisen, dafür den Grundstein zu legen, sind wir für eine solche europäische Einigung. Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- Die Bundesregierung treibt jedoch die Entwicklung ren, ich gebe Ihnen das von den Schriftführern und keineswegs so entschieden in diese Richtung. Im Mit- Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentli- telpunkt ihrer Anstrengungen steht das Festhalten an chen Abstimmung über den Einzelplan 04, Ge- Machtstrukturen. Es ist ein Irrweg, zu glauben, einer schäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundes- sinnvollen gemeinsamen Sicherheitspolitik durch den kanzleramtes, auf den Drucksachen 12/1404 und Ausbau gemeinsamer Rüstung und den Aufbau einer 12/1600 bekannt: *) Es wurden 578 Stimmen abgege- europäischen Eingreiftruppe am besten zu dienen. ben. Darunter waren keine ungültigen; es gab auch Das zeugt nicht von Selbstvertrauen. Katastrophen keine Enthaltungen. Mit Ja haben gestimmt, 354, mit können auch heraufbeschworen werden, wenn sie mit Nein 224. untauglichen Mitteln verhindert werden sollen. Das kann die westliche Insel des Friedens, des *) Vgl. Seite 5035 D Wohlstands und des Wohlergehens teuer zu stehen kommen, teurer als die Kosten eines zweiten europäi- Endgültiges Ergebnis Austermann Bargfrede schen Wiederaufbaus. Die Wohlstandsgesellschaft Abgegebene Stimmen: 579 Dr. Bauer wird gegen alle noch so berechtigten Forderungen Frau Baumeister vehement verteidigt, kommen sie denn aus den weni- davon Bayha ger entwickelten Regionen der EG oder von außer- ja: 354 Belle Frau Dr. Bergmann-Pohl nein: 225 halb. Dr. Blank enthalten: 0 Frau Blank Im Rahmen des künftigen europäischen Binnen- Dr. Blens ungültig: 0 marktes bleibt die soziale Dimension völlig unterbe- Bleser lichtet. Der gemeinsame europäische Binnenmarkt Dr. Blüm wird gravierende Auswirkungen auf die Beschäfti- Frau Dr. Böhmer Ja Börnsen (Bönstrup) gungslage, die soziale Sicherheit der Menschen und- Dr. Bötsch die sozialen Leistungen des Staates haben. Alles, was CDU/CSU Bohl bisher dazu zu hören ist, bleibt vage und wenig ver- Bohlsen bindlich. Aber es ist auch eine wesentliche Schlußfol- Frau Dr. Ackermann Borchert Adam Brähmig gerung: Hier ist ohne Zweifel auch der deutsche Eini- Dr. Altherr Breuer gungsprozeß eine Stunde des Lernens. Wir haben Frau Augustin Frau Brudlewsky heute vormittag in der Debatte mehr als einmal ge Augustinowitz Brunnhuber 5044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Hans Klein Büttner (Schönebeck) Frau Karwatzki Raidel Wetzel Buwitt Kauder Dr. Ramsauer Frau Wiechatzek Carstens (Emstek) Keller Rau Dr. Wieczorek (Auerbach) Dehnel Kittelmann Rauen Frau Dr. Wilms Frau Dempwolf Klein (Bremen) Rawe Wilz Deres Klein (München) Reddemann Wimmer (Neuss) Deß Klinkert Regenspurger Frau Dr. Wisniewski Frau Diemers Köhler (Hainspitz) Reichenbach Wissmann Dörflinger Dr. Köhler (Wolfsburg) Dr. Reinartz Dr. Wittmann Doss Dr. Kohl Frau Reinhardt Wittmann (Tännesberg) Dr. Dregger Kolbe Repnik Wonneberger Echternach Frau Kors Dr. Rieder Frau Wülfing Ehlers Koschyk Dr. Riedl (München) Würzbach Ehrbar Kossendey Dr. Riesenhuber Frau Yzer Engelmann Kraus Rode (Wietzen) Zeitlmann Eppelmann Dr. Krause (Bonese) Frau Rönsch (Wiesbaden) Zierer Frau Eymer Krause (Dessau) Frau Roitzsch (Quickborn) Zöller Frau Falk Krey Dr. Rose Dr. Faltlhauser Kriedner Rossmanith Feilcke Kronberg Roth (Gießen) FDP Fischer (Hamburg) Dr.-Ing. Krüger Rother Frau Fischer (Unna) Lamers Dr. Ruck Frau Albowitz Fockenberg Dr. Lammert Rühe Frau Dr. Babel Francke (Hamburg) Lamp Sauer (Salzgitter) Baum Frankenhauser Lattmann Sauer (Stuttgart) Bredehorn Dr. Friedrich Dr. Laufs Scharrenbroich Cronenberg (Arnsberg) Fritz Laumann Frau Schätzle Eimer (Fürth) Fuchtel Frau Dr. Lehr Dr. Schäuble Engelhard Ganz (St. Wendel) Dr. Lieberoth Schemken Dr. Feldmann Frau Geiger Frau Limbach Scheu Friedhoff Geis Link (Diepholz) Schmalz Friedrich Dr. von Geldern Lintner Schmidt (Fürth) Funke Gerster (Mainz) Dr. Lippold (Offenbach) Dr. Schmidt (Halsbrücke) Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Gibtner Dr. sc. Lischewski Schmidt (Mühlheim) Ganschow Glos Frau Löwisch Frau Schmidt (Spiesen) Genscher Dr. Göhner Lohmann (Lüdenscheid) Schmitz (Baesweiler) Gries Göttsching Louven Dr. Schneider (Nürnberg) Grüner Götz Lummer Dr. Schockenhoff Günther (Plauen) Dr. Götzer Dr. Luther Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Guttmacher Gres Maaß (Wilhelmshaven) Dr. Scholz Hackel Frau Grochtmann Frau Männle Frhr. von Schorlemer Hansen Gröbl Magin Dr. Schreiber Dr. Haussmann Grotz Dr. Mahlo Schulhoff Heinrich Dr. Grünewald Frau Marienfeld Dr. Schulte Dr. Hirsch Günther (Duisburg) Marschewski (Schwäbisch Gmünd) Dr. Hitschler Hames Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Schulz (Leipzig) Frau Homburger Haschke (Großhennersdorf) Meckelburg Schwalbe Frau Dr. Hoth Haschke (-Ost) Meinl Schwarz Dr. Hoyer Frau Hasselfeldt Frau Dr. Merkel Dr. Schwarz-Schilling Hübner Haungs Frau Dr. Meseke Dr. Schwörer Irmer Hauser (Esslingen) Dr. Meyer zu Bentrup Seehofer Kleinert (Hannover) Hauser (Rednitzhembach) Frau Michalk Seesing Kohn Hedrich Michels Seibel Dr. Kolb Heise Dr. Mildner Seiters Koppelin Frau Dr. Hellwig Dr. Möller Skowron Kubicki Helmrich Molnar Dr. Sopart Frau Leutheusser Dr. Hennig Müller (Kirchheim) Frau Sothmann Schnarrenberger Dr. h. c. Herkenrath Müller (Wadern) Spilker Dr. Menzel Hinsken Müller (Wesseling) Spranger Nolting Hintze Nelle Dr. Sprung Otto (Frankfurt) Hörsken Dr. Neuling Dr. Stavenhagen Paintner Dr. Hoffacker Neumann (Bremen) Frau Steinbach-Hermann Frau Peters Hollerith Nitsch Dr. Stercken Frau Dr. Pohl Dr. Hornhues Ost Dr. Frhr. von Stetten Richter (Bremerhaven) Hornung Oswald Stockhausen Rind Hüppe Otto () Dr. Stoltenberg Dr. Röhl Jäger Dr. Päselt Strube Schäfer (Mainz) Frau Jaffke Pesch Stübgen Frau Schmalz-Jacobsen Jagoda Petzold Frau Dr. Süssmuth Schmidt (Dresden) Dr. Jahn (Münster) Pfeffermann Susset Dr. Schmieder Janovsky Pfeifer Tillmann Schüßler Frau Jeltsch Frau Pfeiffer Dr. Uelhoff Frau Dr. Schwaetzer Dr. Jobst Dr. Pfennig Uldall Frau Sehn Dr.-Ing. Jork Dr. Pflüger Vogel (Ennepetal) Frau Seiler-Albring Dr. Jüttner Dr. Pinger - Vogt (Düren) Frau Dr. Semper Jung (Limburg) Pofalla Dr. Voigt (Northeim) Dr. Solms Junghanns Dr. Pohler Dr. Waffenschmidt Frau Dr. von Teichman Dr. Kahl Frau Priebus Dr. Waigel Thiele Kalb Dr. Probst Graf von Waldburg-Zeil Dr. Thomae Kampeter Dr. Protzner Dr. Warnke Timm Dr.-Ing. Kansy Pützhofen Dr. Warrikoff Türk Dr. Kappes Frau Rahardt-Vahldieck Werner (Ulm) Frau Walz Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5045

Vizepräsident Hans Klein Dr. Weng (Gerlingen) Jungmann (Wittmoldt) Schwanhold Frau Wieczorek-Zeul Wolfgramm (Göttingen) Frau Kastner Schwanitz Wiefelspütz Frau Würfel Kastning Seidenthal Wimmer (Neuötting) Zurheide Kirschner Frau Seuster Dr. de With Zywietz Frau Klappert Sielaff Frau Wohlleben Frau Klemmer Frau Simm Frau Wolf Klose Singer Frau Zapf Dr. sc. Knaape Frau Dr. Skarpelis-Sperk Nein Frau Kolbe Frau Dr. Sonntag-Wolgast Kolbow Sorge SPD Koltzsch Frau Steen PDS/LL Kubatschka Stiegler Frau Adler Dr. Kübler Dr. Struck Frau Bläss Andres Kuessner Tappe Frau Braband Bachmaier Dr. Küster Frau Terborg Dr. Briefs Frau Barbe Kuhlwein Dr. Thalheim Frau Dr. Enkelmann Bartsch Lambinus Thierse Frau Dr. Fischer Becker (Nienberge) Frau Lange Tietjen Dr. Gysi Frau Becker-Inglau von Larcher Frau Titze Dr. Heuer Bernrath Leidinger Toetemeyer Frau Dr. Höll Bindig Lennartz Urbaniak Frau Jelpke Frau Bock Frau Dr. Leonhard-Schmid Vergin Dr. Keller Dr. Böhme (Unna) Lohmann (Witten) Verheugen Dr. Modrow Börnsen (Ritterhude) Frau Dr. Lucyga Dr. Vogel Dr. Riege Brandt Maaß (Herne) Vosen Dr. Seifert Frau Brandt-Elsweier Frau Mascher Wagner Frau Stachowa Dr. Brecht Frau Matthäus-Maier Wallow Büchler (Hof) Frau Mattischeck Waltemathe Büchner (Speyer) Meckel Walter (Cochem) Büttner (Ingolstadt) Bündnis 90/GRÜNE Frau Mehl Walther (Zierenberg) Bulmahn Frau Dr. Mertens (Bottrop) Frau Dr. Wegner Frau Burchardt Dr. Feige Mosdorf Weiermann Bury Müller (Düsseldorf) Frau Weiler Poppe Frau Caspers-Merk Weis (Stendal) Frau Schenk Conradi Müller (Pleisweiler) Schulz (Berlin) Müller (Schweinfurt) Weißgerber Daubertshäuser (Wiesloch) Dr. Ullmann Müller () Weisskirchen Dr. Diederich (Berlin) Welt Weiß (Berlin) Diller Müntefering Neumann (Gotha) Frau Wester Frau Dr. Dobberthien Frau Westrich Dreßler Frau Dr. Niehuis Frau Wettig-Danielmeier Duve Dr. Niese Frau Dr. Wetzel Fraktionslos Ebert Niggemeier Frau Weyel Dr. Eckardt Frau Odendahl Dr. Wieczorek Lowack Dr. Ehmke (Bonn) Oesinghaus Wieczorek (Duisburg) Henn Eich Opel Dr. Elmer Ostertag Esters Frau Dr. Otto Ewen Paterna Frau Ferner Dr. Penner Damit ist der Einzelplan angenommen. Frau Fischer Peter (Kassel) (Gräfenhainichen) Pfuhl Wir fahren jetzt fort in der Aussprache über den Fischer (Homburg) Dr. Pick Einzelplan 05. Ich erteile dem Abgeordneten Gerd Formanski Poß Frau Fuchs (Köln) Purps Poppe das Wort. Frau Fuchs (Verl) Rappe (Hildesheim) Fuhrmann Reimann Frau Ganseforth Frau von Renesse Gansel Frau Rennebach Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr Präsident! Gilges Reschke Meine Damen und Herren! Seit dem Sommer 1989 Frau Gleicke Reuschenbach Graf Reuter erleben wir eine Phase tiefgreifender Umwälzungen Großmann Rixe in Europa. Wer aber vor zwei Jahren dachte, daß auf Habermann Roth die Kettenreaktionen der Umstürze mit den ersten Frau Hämmerle Schäfer (Offenburg) freien Wahlen in den ehemaligen Ostblockstaaten Hampel Frau Schaich-Walch Frau Hanewinckel Schanz eine vergleichsweise ruhige Zeit des Aufbaus der De- Frau Dr. Hartenstein Scheffler mokratie und der Sozialen Marktwirtschaft folgen Hasenfratz Schily würde, hat sich getäuscht. Dr. Hauchler Schloten Heistermann Schluckebier Die Umbruchphase hat ihren Endpunkt noch lange Heyenn Schmidbauer (Nürnberg) nicht erreicht. Er wird wohl erst dann in Sicht kom- Hiller (Lübeck) Frau Schmidt (Aachen) men, wenn sich die Entwicklung zur Demokratie und Hilsberg Frau Schmidt (Nürnberg) Dr. Holtz Schmidt (Salzgitter) zu friedensfähigen Staaten in allen Teilen des ehema- Horn Frau Schmidt-Zadel ligen Sowjetimperiums durchzusetzen beginnt. Ibrügger Dr. Schmude Zunächst aber müssen wir erkennen, daß die dort Frau Iwersen Dr. Schnell Frau Jäger Dr. Schöfberger gewaltsam unterdrückten, latent aber immer vorhan- Frau Janz Schreiner denen Konflikte nun an die Oberfläche getreten sind Dr. Janzen Frau Schröter undri- daß sie von ungesicherten Demokratien und k Jaunich Schröter sengeschüttelten Wirtschaften ohne fremde Hilfe Dr. Jens Schütz Jung (Düsseldorf) Dr. Schuster nicht bewältigt werden können. 5046 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Gerd Poppe Wir erleben Veränderungen von historischer Di- Zweitens der intensive politische Dialog mit den mension, die für ganz Europa einen revolutionären Kräften der Erneuerung. Es macht keinen Sinn, einer- Prozeß vollenden können, der vor mehr als 200 Jahren seits Geld für die wirtschaftliche Entwicklung zu ge- bei unseren westlichen Nachbarn begann. ben, andererseits über die Schwierigkeiten des demo- kratischen Aufbaus hinwegzusehen oder die spezifi- In den Schulbüchern späterer Jahrhunderte könnte schen Besonderheiten der ost- und mitteleuropäi- vielleicht das Europa von 1789 bis etwa zum Jahre schen Nachkriegsgeschichte zu vernachlässigen. Eine 2000 zusammengefaßt als eine Zeit dargestellt wer- echte Demokratisierungshilfe, ein Dialog, der diesen den, die durch Kriege, Gewalt und Endzeitvisionen Namen verdient, vertragen sich nicht mit überhebli- mit geprägt war, die schließlich aber nach der Rück- cher Schulmeisterei. kehr der politischen Vernunft zu einem Ausgangs- punkt für Frieden und Gerechtigkeit wurde und das Daraus folgt drittens, aufmerksam die kritischen Ende von Krieg, Unterdrückung, Armut und Umwelt- Untertöne wahrzunehmen, die bei aller Genugtuung zerstörung einleitete. Ich muß sagen, daß mir eine sol- über westliche Hilfe aus dem Osten zu vernehmen che Prognose schwer über die Lippen geht, obwohl ich sind, z. B. westliche Hilfe sei zu bürokratisch, zu unfle- mich für einen notorischen Optimisten halte. xibel, nehme zuwenig Rücksicht auf die dortigen Be- dingungen, sei zu sehr auf den eigenen Vorteil be- (Freimut Duve [SPD]: Das kann ich bestäti- dacht, sprich: auf den osteuropäischen Markt, anstatt gen!) die westlichen Märkte für osteuropäische Produkte zu Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten sehr öffnen. daran gewöhnt, die gegenteilige Va riante der Ge- Schließlich, viertens, wird Deutschland im Osten schichte für wahrscheinlich zu halten, zu oft nur in den nicht nur als Vorbild für eigene Hoffnungen auf De- Tag hinein gelebt, zuwenig an spätere Generationen mokratie und Wohlstand betrachtet. Es wächst un- gedacht, ganz pragmatisch immer nur das Schlimmste übersehbar auch die Furcht vor dem vereinten zu verhüten gesucht und den Zeiger immer wieder Deutschland. Famit meine ich nicht die serbischen einmal auf fünf vor zwölf zurückgebogen. manipulativ eingesetzten Haßtiraden, über die wir uns mit Recht empören. Die Entwicklung seit 1989 bietet uns die vielleicht einmalige Chance, die Lethargie zu beenden und un- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei serer gesamteuropäischen Verantwortung gerecht zu Abgeordneten der SPD) werden. Immerhin haben wir das Glück, an der die Ich meine die begründete Furcht, die aus manch über- nächsten Jahrzehnte entscheidenden Weichenstel- heblichen oder gar nationalistischen Tönen aus lung beteiligt zu sein. Deutschland und aus den gewaltsamen Übergriffen Die Bundesrepublik Deutschland wird eine ganz der jüngsten Zeit erwächst. Diese Furcht, diesen Stim- besondere Rolle für das künftige Europa spielen. Sie mungsumschwung sollten wir sehr ernst nehmen und wird sie nicht allein bewältigen, und sie wird die Bela- konsequent darauf reagieren. Unsere Glaubwürdig- stungen auch nicht allein tragen können. Es geht aber keit als verläßlicher Partner in einem f riedlichen und wohl weniger um die Höhe der aufzubringenden fi- demokratischen Europa wird an unserer Fähigkeit, nanziellen Mittel als um deren sinnvolle Verteilung die eigene Demokratie zu festigen, gemessen wer- und um eine der neuen Situation angemessene Poli- den. tik. Das Fehlen eines neuen außen- und sicherheitspoli- tischen Konzepts, das den veränderten Bedindungen Europa ist seit 1989 nicht f riedlicher und sicherer in Europa entspricht, zeigt sich sehr deutlich am Bei- geworden; es ist im Gegenteil unsicherer geworden. spiel Jugoslawiens. Die Europäische Gemeinschaft Diese Unsicherheit läßt sich nicht mit den alten Mit- hat, befangen im alten Status-quo-Denken, viel zu teln der Abschreckung beheben. Sie ist militärisch spät und zu halbherzig gehandelt, zu lange nur über nicht überwindbar. Vonnöten sind statt dessen neue Anerkennung oder Nichtanerkennung diskutiert. Instrumente der Konfliktlösung. Erschreckt von den täglichen Greuelmeldungen Wir sollten die mögliche Rolle der Bundesrepublik fällt inzwischen manchem deutschen Politiker nur in Osteuropa oder in der bisherigen Sowjetunion nicht noch eine militärische Lösung ein — als ob Nationali- überschätzen. Ob im konkreten Fall beispielsweise tätenkonflikte von Militärbündnissen bewältigt wer- die Völker im Kaukasus gewaltsam aufeinander los- den könnten. Der Verdacht liegt nahe, daß für jene, gehen oder ob sie ihre Konflikte f riedlich bewältigen, die laut nach „out of area"-Einsätzen der Bundeswehr wird vor allem von ihnen selber abhängen. und einer entsprechenden Verfassungsänderung ru- Die Konturen künftiger europäischer Außen- und fen, ein Drama wie in Jugoslawien vor allem als Vor- Sicherheitspolitik werden aber von uns mitgestaltet. wand für ihre Forderung dient, das wirtschaftlich Deren wesentliche Aspekte kann ich in diesem Rah- starke Deutschland auch militärisch stark zu ma- men nicht umfassend beschreiben; ich will nur vier chen. von ihnen andeuten: - (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Sie wa Erstens der Gewaltverzicht und die Ächtung jegli- ren schon mal sachlicher, Herr Poppe!) cher Gewalt. „Keine Gewalt" war eine wichtige For- Es wäre naiv, zu glauben, mit einer Eindämmung derung des revolutionären Herbstes 1989. In diesem der Kämpfe in Kroatien wäre das Problem gelöst. Im- Geist muß eine Politik konsequent weitergeführt wer- mer noch wird — von vereinzelten Äußerungen abge- den, die dem Neuanfang im Osten gerecht werden sehen — die schon vorprogrammierte Eskalation in will. den anderen Krisengebieten ignoriert. Wer kümmert Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5047

Gerd Poppe sich um politische Lösungen für das Kosovo, für Maze- Für humanitäre Zwecke sollte auch eine Umwidmung donien und Bosnien-Herzegowina? Wer kann die Nö- nicht ausgeschöpfter Haushaltsmittel in Betracht tigung von Roma zur Rückkehr aus Deutschland nach kommen. Schlicht unverständlich bleibt, daß das aus Skopje verantworten oder gar ihre Abschiebung? Soll haushaltstechnischen Gründen mit den im Frühjahr ein weiteres Mal das Kind erst in den Brunnen fallen, für die Kurdenhilfe nicht mehr verwendeten Mitteln ehe reagiert wird? nicht möglich sein soll. Auch gegenüber der zerfallenden Sowjetunion wir- Im Vorgriff auf den nächsten Tagesordnungspunkt ken die westlichen Versuche bisher eher hilflos und mache ich, da ich nicht ein zweites Mal vor Sie treten zufällig. Die Bundesregierung befindet sich offenbar möchte, noch einige Anmerkungen zum Verteidi- zwischen Baum und Borke. Mit großer Bef riedigung gungshaushalt. wird Schewardnadses Wiederernennung zum sowje- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: tischen Außenminister begrüßt. Aber wen kann Sche- Das ist wirklich sehr rücksichtsvoll!) wardnadse noch vertreten? Eine wiederauflebende Sowjetunion wird es auch mit ihm nicht geben. Er macht das Fehlen einer sicherheitspolitischen Re- Gleichzeitig glaubt die Bundesregierung nach den sonanz auf die Veränderungen in Europa und die Fi- Gesprächen mit Jelzin, mit einer eleganten Kombina- xierung auf eine noch immer nahezu ausschließlich tion von Umschuldung und Liquiditätshilfe für die militärisch definierte Sicherheit deutlich. Das korre- ehemals sowjetischen Republiken dort die Wirt- spondiert mit den alten Kategorien militärischen Den- schaftsreform angekurbelt zu haben. Was aber ist Jel- kens, denen die Soldaten der Bundeswehr immer zins die Schulden betreffende Aussage wirklich wert? noch ausgesetzt werden: Siegpostulat, Offensivden- Erforderlich sind nicht Absichtserklärungen auf bei- ken, Vernichtungsprinzip. den Seiten, sondern konkrete, überprüfbare Projekte. Auch in diesem Jahr sind wir mit einem Militärhaus- Ebenso nötig sind konkrete, überprüfbare Adressaten halt wie aus den Zeiten des Kalten Krieges konfron- für die auch in diesem Winter dringend notwendige tiert. Statt ein Irrsinnsprojekt wie die Entwicklung des Lebensmittelhilfe. Jägers 90 weiterzuführen, könnte schon mit einem Bruchteil des dafür verwendeten Geldes der Aufbau Es ist richtig, daß Deutschland mehr Hilfe geleistet der Wirtschaft so mancher osteuropäischer Länder hat und leistet als andere westeuropäische Länder. sinnvoll gefördert werden. Aber mit dieser Feststellung sollten wir uns nicht zu- friedengeben. Eine Erweiterung der Hilfeleistung ist (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: durchaus denkbar, wenn gleichzeitig der überdimen- Können Sie uns das einmal vorrechnen?) sionierte reduziert wird. Die- Verteidigungshaushalt 830 Millionen DM — das ist doch wohl eine erhebli- ser Zusammenhang ist durchaus logisch. Eine neue che Summe — sollen für dieses Projekt im nächsten Sicherheitspolitik bedeutet eben nicht Waffenmoder- Jahr verschleudert werden, mehr als an Steuergeldern nisierung, sondern sie bedeutet, mit politischen und für einen wirksamen Umweltschutz zur Verfügung wirtschaftlichen Mitteln die Krisen und Sicherheits- steht. risiken der Zukunft zu verhindern oder wenigstens zu verringern. (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Haben Sie schon mal was von Konventional- Dies gilt um so mehr, als es Probleme ja nicht nur in strafe gehört?) Europa gibt. Ich erinnere nur an Hungersnot und Flüchtlingselend am Horn von Af rika, an die kritische Aber selbst wenn man sich die archaischen militäri- Situation in Südostasien, an die massenhaften Men- schen Denkmuster zu eigen macht, leuchtet der Haus- schenrechtsverletzungen am tibetischen Volk und in haltsentwurf des Verteidigungsministeriums nicht China überhaupt, an den Bahais im Iran oder am kur- ein. Wer zusammen mit allen Militärausgaben aus dischen Volk, das — an dieser Stelle mehrfach voraus- anderen Einzelplänen über 60 Milliarden DM für gesagt — sich nun wieder auf die Flucht begibt. Die überholte militärische Strukturen ausgibt, nimmt Resolution 688 des UN-Sicherheitsrates schien ein nicht zur Kenntnis, daß sich staatliche Machtpolitik grundsätzlich neues Sicherheitsverständnis einzulei- immer weniger auf militärische Potentiale als zuneh- ten, indem sie gravierende Menschenrechtsverletzun- mend auf die ökonomische Leistungsfähigkeit eines gen als potentielle Kriegsgefahr darstellte. Trotzdem Staates als wirksamstes Interventionsinstrument stüt- bleibt es bei verbalen Bekundungen und dem passi- zen kann. Wer ohne weiteres aus dem Golfkrieg die ven Warten auf das nächste Massaker. Notwendigkeit ableitet, neue Waffentechnologien einführen zu müssen, setzt sich dem Verdacht aus, Von vielen Dritte-Welt-Staaten wird nicht zu Un- Politik zur Wahrung militärischer Besitzstände zu be- recht ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen der treiben, die wirtschaftlichen Interessen der Rüstungs- Durchsetzung der Menschenrechte und wirtschaftli- industrie höher zu bewerten als Abrüstung und eine cher Entwicklung betont. Eine deutliche Verstärkung dem Ende der Blockkonfrontation angemessene Si- der Entwicklungshilfe wäre dringend notwendig. cherheitsstrategie. Wie schon häufig gefordert, sollte die sogenannte Demgegenüber fordern wir die Kürzung aller ver- Ausstattungshilfe zugunsten humanitärer Hilf elei- teidigungsrelevanten Ausgaben, darunter den sofor- stungen gestrichen bzw. gekürzt werden. Wir unter- tigen Stopp der Entwicklung von Großwaffensyste- stützen deshalb den dazu vorliegenden Änderungs- men wie des Jägers 90, und ihren Einsatz für Konver- antrag der SPD-Fraktion. sionsprogramme und ökologische Sanierungen, die Reduzierung der Bundeswehr auf unter 100 000 Mann (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und damit verbunden die Abschaffung der Wehr- 5048 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Gerd Poppe pflicht und des Zivildienstes zugunsten einer Armee mischung noch den Einsatz von Blauhelmen der UNO freiwilliger Zeitsoldaten sowie das generelle Verbot für denkbar. Mehr aber nicht. von Rüstungsexporten. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der Neben einer vorbeugenden Konfliktverhütung SPD und der PDS/Linke Liste) bzw. -eindämmung mit vorrangig wirtschaft lichen Mitteln sollte die nichtmilitärische Konfliktschlich- tung ein Mittel zeitgemäßer Sicherheitspolitik wer- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poppe, Ihre den. Im Falle der nationalen und ethnischen Konflikte Gruppe hatte beantragt, ihre Redezeit aus dem Ver- in der zerfallenden Sowjetunion ist kein anderes Vor- teidigungsbereich, also einem anderen Geschäftsbe- gehen denkbar; andernfalls werden wir möglicher- reich, zu diesem Geschäftsbereich hinzuzunehmen. weise mitverantwortlich für gewaltsame Auseinan- Das Präsidium ist davon ausgegangen, daß Sie für die dersetzungen, die in ihrer Dimension über die ser- Außenpolitik mehr Redezeit wollten. Nun ist heute bisch-kroatischen weit hinausgehen. der Tag des Kanzlerhaushalts mit der Generalaus- sprache. Meine Damen und Herren, geboten ist das Prinzip der Einmischung. Gerade die Staaten, die die Men- (Bundesminister Hans-Dietrich Genscher: schenrechte am unerträglichsten mißachten, gebrau- Heute ist der Tag des Herrn!) chen weiter die Formel von der Nichteinmischung in Da wollen wir das nicht so eng sehen. Ich erlaube mir innere Angelegenheiten: nur, auf eines hinzuweisen. Sie haben jetzt selbstän- dig die Tagesordnung gestaltet. Sie haben über einen (Norbert Gansel [SPD]: Ja, so ist es!) Themenbereich gesprochen, zu dem die Kollegen der China, Kuba, Serbien und eine Reihe afrikanischer anderen Fraktionen, die Verteidiger — natürlich ver- und asiatischer Länder. Das war ein Begriff aus der stehen die Außenpolitiker viel von Sicherheits- und Zeit des alten Status quo, des Blockdenkens. Wenn Verteidigungspolitik — , und das Verteidigungsmini- wir heute statt dessen das Prinzip der Einmischung sterium nicht anwesend sind. vertreten, so ist damit nicht gemeint, daß der wirt- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: schaftlich Stärkere den Schwächeren bevormundet Er muß das nachher wiederholen! — Norbert oder daß die unterschiedliche Entwicklung demokra- Gansel [SPD]: Das war so wichtig, daß er das tischer Staaten nivelliert werden soll. Am allerwenig- nochmals sagen sollte!) sten bedeutet es militärische Intervention. — Ich habe ihn auch nicht unterbrochen. Ich weise nur Es geht vielmehr um die globalen Gefahren wie darauf hin: Wenn auch unter den Geschäftsführern Umweltzerstörung, ein potentielles Milliarden solche Abmachungen getroffen werden, die die Ge- Flüchtlingsheer, gewaltsame Auseinandersetzungen schäftsleitung natürlich nicht erleichtern, mit der aus- infolge der Mißachtung von Menschenrechten, insbe- geliehenen Zeit hin und her, dann sollte auch ange- sondere Minderheitenrechten. Nationale Souveräni- kündigt werden, daß der betreffende Kollege zu ei- tät, in letzter Zeit vielbeschworen, hatte und hat einen nem weiteren Haushalt das Wort nehmen will. Das Wert für die Entwicklung von Demokratie. Niemand scheint mir der Korrektheit halber und im Interesse aber hat unter Bezugnahme auf die nationale Souve- der Kollegialität gegenüber den anderen notwendig. ränität ein Recht auf die Anwendung von atomaren Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedrich Vo- oder chemischen Waffen, auf die Zerstörung des tro- gel. pischen Regenwaldes oder auf die Unterdrückung von Minderheiten — um nur einige Beispiele zu nen- nen. Friedrich Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU): Herr Prä- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei sident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Unsere Au- der SPD) ßenpolitik profitiert zweifellos davon, daß die überra- gende Bedeutung der militärischen Friedenssiche- Wie das UN-Embargo gegen Südafrika gezeigt hat, rung in den Hintergrund getreten ist. Gleichzeitig ist kann internationaler Druck sinnvoll eingesetzt wer- sie durch das veränderte internationale Gewicht der den. Wirtschaftliche Kooperation muß an Kriterien Bundesrepublik Deutschland nach der deutschen wie die Garantie der Menschenrechte oder die Unan- Wiedervereinigung herausgefordert. Diese insgesamt tastbarkeit von Grenzen gebunden sein. Die einfach- positive Gewichtsverlagerung in unserer Außenpoli- ste Form der Einmischung wäre somit, solchen Staa- tik ist eine Folge der Überwindung der Ost-West-Kon- ten, die diese Kriterien mißachten, keine Unterstüt- frontation, die nicht zuletzt auch ein Erfolg der Politik zung zu gewähren bzw. die wirtschaftliche Koopera- unseres Bundeskanzlers Helmut Kohl und unseres tion aufzukündigen. Einmischung macht auch dann Außenministers Hans-Dietrich Genscher ist. einen Sinn, wenn sie die demokratischen Kräfte in Diktaturen materiell und moralisch unterstützt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Ich habe eine Bitte: Sparen Sie sich Ihren Beifall für (Beifall des Abg. - das Ende meiner Ausführungen auf. Sonst geht meine [Wiesloch] [SPD]) Redezeit flöten. Frühzeitig müssen internationale Gremien vermit- Deutlicher als bisher ist in den Vordergrund getre- telnd einbezogen werden. Der Verweigerung aller ten, daß ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Lösungsversuche und aller Kompromisse kann mit der stabilen Entwicklung der Staaten und der Staaten- Embargos und politischer Ächtung begegnet wer- beziehungen einerseits und der Entwicklung demo- den. Schließlich halte ich als ein letztes Mittel der Ein kratischer Strukturen und der Gewährleistung der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5049

Friedrich Vogel (Ennepetal) Menschenrechte andererseits besteht. Eine Außenpo- Schließung eines der berüchtigtsten Gefängnisse in litik, die sich daran nicht orientierte, würde ihrer Auf- Anatolien verfügt, dann verdient das ungeachtet aller gabe nicht gerecht. Vor allem das Eintreten für die bisherigen Veranlassung, der Türkei Menschen- Gewährleistung der grundlegenden Freiheits- und rechtsverletzungen vorzuwerfen, unseren Beifall und Menschenrechte ist längst zu einem integralen Be- unsere Unterstützung. standteil der Außenpolitik geworden. Die Vereinten (Beifall bei der CDU/CSU) Nationen haben in ihrer Menschenrechtserklärung von 1948, in den Menschenrechtspakten und in vielen Wenn wir es ernst meinen mit unserer Forderung, daß anderen Dokumenten die Grundlagen für den univer- die Türkei in der Gewährleistung der Menschen- und sellen Geltungsanspruch der Freiheits- und Men- Freiheitsrechte europäischen Standard verwirklicht, schenrechte gelegt. Aufgabe der Außenpolitik ist es dann müssen wir ihr jetzt auch die Chance dazu ge- nicht zuletzt, diesem universellen Geltungsanspruch ben. überall in der Welt zum Durchbruch und zum Erfolg (Norbert Gansel [SPD]: Das ist richtig!) zu verhelfen. Unerbittlich und scharf anprangern müssen wir Die Maßstäbe, die dabei in den Außenbeziehungen Menschenrechtsverletzungen überall dort, wo die angelegt werden, dürfen wegen dieses universellen Machthaber die Einsicht in die Notwendigkeiten und Geltungsanspruchs nicht bei dem einen Staat anders die Bereitschaft zur Beachtung und Gewährleistung sein als bei einem anderen. Mehr und mehr hat sich der Menschen- und Freiheitsrechte konsequent ver- auch die Überzeugung durchgesetzt, daß das völker- weigern. Hier ließen sich zahlreiche Staaten in bei- rechtliche Prinzip der Nichteinmischung in die inne- nahe allen Erdteilen aufzählen. ren Angelegenheiten eines Staates nicht als eine Schutzmauer betrachtet werden darf, hinter der unge- Nicht zuletzt die Ereignisse im auseinandergefalle- straft die Freiheits- und Menschenrechte massiv und nen Jugoslawien und die ungehemmte Gewaltan- systematisch verletzt werden können. wendung dort zur Durchsetzung politischer Ziele ma- chen die Notwendigkeit unabweisbar, daß die Staa- (Zustimmung des Abg. Dr. Wolfgang Weng tengemeinschaft Instrumente braucht, mit deren Hilfe [Gerlingen] [FDP]) Gewaltanwendung und Menschenrechtsverletzun- Nicht nur von einem Recht zur Einforderung der gen verhindert werden können. Beachtung der Menschen- und Freiheitsrechte muß Wenn serbische Abenteurer nicht zur Vernunft ge- ausgegangen werden, sondern zunehmend auch von bracht werden können, droht nach dem Leid, das über einer Pflicht dazu. die Bevölkerung in Kroatien gebracht worden ist, mit (Beifall bei der SPD — Zustimmung des Abg. großer Wahrscheinlichkeit Schlimmeres im Kosovo Ulrich Irmer [FDP]) und in der Woiwodina. Ich möchte die Staatengemein- schaft leidenschaftlich und eindringlich auffordern, Die Staatengemeinschaft wird diese Pflicht um des das zu verhindern. Friedens und der Menschen willen zur tragenden Grundlage der Gestaltung der Staatenbeziehungen (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ machen müssen. CSU]: Sehr wahr!) Mich hat es beeindruckt und gefreut, mit welcher Niemand, meine Damen und Herren, sollte schließ- Klarheit der Ständige Vertreter der Niederlande bei lich auch die Gefahren übersehen und unterschätzen, den Vereinten Nationen in New York für die Europäi- die sich aus dem Prozeß des Selbständigwerdens der sche Gemeinschaft und ihre zwölf Mitgliedstaaten de- Republiken der bisherigen Sowjetunion entwickeln. ren gemeinsamen Standpunkt am 19. November 1991 Auch hier werden wir höllisch aufpassen müssen, daß vor dem Dritten Ausschuß der 46. Sitzung der Gene- wir nicht auf die falschen Karten setzen, mögen sie in ralversammlung der Vereinten Nationen in New York der Vergangenheit noch so gut gewesen sein. hat vortragen können. Gewünscht hätte ich mir, der Bei dem jüngsten Besuch einer Delegation des Un- Europäischen Gemeinschaft wäre es rechtzeitig ge- terausschusses für Menschenrechte und Humanitäre lungen, auch in der jugoslawischen Krise ein so hohes Hilfe in Washington haben uns die Vorsitzenden der Maß an Übereinstimmung zu erreichen. Menschenrechtsgremien im Kongreß aufgefordert, uns an einer dauerhaften Es kann und darf bei dem Eintreten für die Men- Konzertierten Aktion zur schenrechte nicht darum gehen, diese zum Schlag- Durchsetzung des universellen Geltungsanspruchs der Menschen- und Freiheitsrechte aktiv zu beteili- stock gegen andere Staaten, aus welchen Gründen auch immer, zu verwenden. Oberstes Ziel muß blei- gen. Sie schlagen vor, daß die Parlamente der USA, ben, in den Staaten, in denen diese Rechte massiv und der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitglied- systematisch verletzt werden, die Einsicht in die Not- staaten sowie Japans ein Kartell bilden, in dem sie ihr wendigkeit der Gewährleistung der Menschen- und Eintreten für die Menschenrechte bündeln und koor- Freiheitsrechte zu wecken und die Befolgung dieser dinieren und damit gemeinsam erfolgreicher zur Einsicht zu fördern. Durchsetzung der Menschenrechte auch dort beitra- gen, wo sie immer noch massiv und systematisch ver- Wenn in der Türkei die neue Regierung Demire l/ letzt werden. Wir sollten unseren Ehrgeiz darauf kon- Inönü in ihrem Regierungsprogramm eine Verfas- zentrieren, uns auf diese Aufforderung einzulassen sungsreform ankündigt, die die Prinzipien der Charta und gemeinsam mit unseren amerikanischen Freun- von Paris auch in der Kurdenfrage verwirklichen soll, den auch unsere japanischen Partner dafür zu gewin- gleichzeitig ein Menschenrechtsministerium einge- nen, daß sie sich der gemeinsamen Pflicht nicht ent- richtet wird und der Ministerpräsident dann noch die ziehen. Damit werden wir mit mehr Gewicht als bisher 5050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Friedrich Vogel (Ennepetal) einen Beitrag für den Frieden in dieser Welt durch Schließlich ist außenpolitisches Denken vieler ehe- Durchsetzung des universalen Geltungsanspruchs maliger DDR-Bürger geprägt durch Dankbarkeit ge- der Menschen- und Freiheitsrechte leisten können. genüber Osteuropa: Indem nämlich Gorbatschow die Uns ist nirgends, wenn es um die Menschen- und Breschnew-Doktrin fallenließ, nahm er uns einen Teil Freiheitsrechte geht, eine Rolle des Zuschauens ge- der Angst. Die tschechischen Bürgerrechtler in der stattet. Das wiedervereinigte Deutschland wird nicht Charta '77 sowie die polnische Solidarnosc-Bewe- zuletzt danach beurteilt werden, welchen Beitrag es gung machten uns Mut zum Widerstand, und die Un- zur Durchsetzung des universellen Geltungsan- garn entrissen durch die Grenzöffnung nach Oster- spruchs leistet. Wer jetzt in die Hauptstädte anderer reich der SED-Führung deren letzte Waffe. So gibt es Länder reist, begegnet eigentlich überall der Erwar- für uns Ostdeutsche bei aller Würdigung der Verdien- tung, daß diese wiedervereinigte Bundesrepublik ste Westeuropas um die deutsche Einheit eine beson- Deutschland der Rolle in der internationalen Politik ders enge außenpolitische Bindung an und Verant- gerecht wird, die ihrer Größe und wirtschaftlichen wortung für die mittel- und osteuropäischen Staa- Bedeutung zukommt. Das gilt nicht zuletzt auch für ten. unser Eintreten für die Menschenrechte. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd Wir haben der Welt zugesagt, daß vom Boden dieser Poppe [Bündnis 90/GRÜNE] Bundesrepublik Deutschland Frieden ausgehen soll und daß sie der Welt mit Werken des Friedens dienen Auf den ersten Blick ist die finanzielle Unterstüt- will. Das konsequente und unbeirrbare Eintreten für zung der Bundesrepublik für Mittel- und Osteuropa die Menschen- und Freiheitsrechte überall in der Welt anerkennenswert: Bei nur 8 % Bruttosozialprodukt in- ist, meine Kolleginnen und Kollegen, ein hervorra- nerhalb der G 24 bestreitet sie in dieser Gruppe im- gendes Werk des Friedens. merhin mehr als ein Drittel aller Transferleistungen. Danke. Dennoch: Diese Hilfen werden vorwiegend nach (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geopolitischen Gesichtspunkten und nicht nach Be- dürftigkeit vergeben. Gelder für die Außenseiter Ru- mänien, Bulgarien und Albanien fließen zu spärlich Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Dr. Eber- und obendrein zu spät. Bei einem unterstellten Ge- hard Brecht, Sie haben das Wort. samtvolumen von 20 Milliarden DM für Ost- und Mit- teleuropa und Zusagen in Höhe von 75 Millionen DM Dr. Eberhard Brecht (SPD): Sehr geehrter Herr Prä- für Albanien entfällt durchschnittlich auf einen Osteu- sident! Meine Damen und Herren! Nach dem Sturz ropäer rund 200 DM Finanzhilfe, während uns z. B. des SED-Regimes hatten wir Ostdeutschen, die wir der Albaner nur gerade ein Zehntel, nämlich nicht zur DDR-Nomenklatura gehörten, natürlich 23,40 DM, wert ist, und dies, obwohl Albanien das keine außenpolitischen Erfahrungen, die wir in das ärmste Land von allen ist. Noch armseliger erscheinen vereinte Deutschland hätten einbringen können. Den- die für einen Albaner bereitgestellten 23,40 DM im noch gab es in den Bürgerrechtsgruppen unseres Lan- Vergleich zu den rund 5 600 DM, die uns die militäri- des bestimmte Orientierungen, die den Stallgeruch sche Befreiung eines einzigen Kuwaiti kostete. der DDR-Erfahrungen tragen. Ich möchte sie nen- Was die militärische Intervention am Golf betrifft, nen: möchte ich Frau Hoth widersprechen: Dies war keine Da ist einmal die Angst, die Angst vor uns selbst, UN-getragene Aktion. den Deutschen, die wir in der Gefahr stehen, nach langer Zweitrangigkeit nun nach der Vereinigung im (Volker Rühe [CDU/CSU]: Wenn sich ein Konzert der Nationen etwas zu laut zu tönen. Damit Haushälter in Außenpolitik verirrt! — Zuruf meine ich nicht nur das rechtsradikale Potential dies- von der FDP: Was war es denn?) zu lauten Ton seits und jenseits der Elbe. Als einen — Die UN hat diese Aktion lediglich völkerrechtlich empfinde ich auch den verletzenden Vergleich Herrn ermöglicht; Schäubles zwischen der Unterbringung der albani- schen Flüchtlinge in Bari durch die italienische Regie- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) rung und der von Folterung begleiteten Verwahrung von Menschen im Stadion von Santiago de Chile aber es war keine UN-Aktion. durch die Putschisten im Jahre 1973. (Volker Rühe [CDU/CSU]: Das ist schon ein (Beifall bei der SPD) bißchen albern!) Wenn wir Deutschen eigene Interessen durchsetzen wollen, sollten wir dies mit leiseren Tönen tun. Bei der militärischen Intervention am Golf war die Bundesregierung bereit, mit Milliardenbeträgen zur Daneben sind wir geprägt durch eine 40jährige Wiederherstellung von Freiheit und Menschenrech- Mißachtung der Demokratie und der Verletzung der ten — so ihr Selbstverständnis — beizutragen. Menschenrechte. Und obwohl oder gerade weil wir mehrheitlich diesem Regime zuwenig widerstanden, Im Fall von China relativiert sie hingegen eklatante befürworten viele Ex-DDR-Bürger eine solche deut- Menschenrechtsverletzungen, um wirtschaftliche In- sche Außenpolitik, die sich insbesondere der Förde- teressen nicht zu gefährden. Ich spreche vom Lengl- rung der Demokratie und der Wahrung der Men- Möllemann-Skandal. Zunächst agierte Staatssekretär schenrechte in aller Welt verpflichtet fühlt. Hier Lengl als Minenhund, der durch sein Schwanzwedeln möchte ich meinem Vorredner Vogel ausdrücklich gegenüber den blutigen Unterdrückern der chinesi- zustimmen. schen Demokratiebewegung das Feld für „normale" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5051

Dr. Eberhard Brecht Beziehungen vorbereitete. Bis heute hat sich die Bun- Zur Glaubwürdigkeit tragen auch die öffentlichen desregierung nicht entschließen können, Auseinandersetzungen einiger Koalitionspolitiker über eine deutsche Beteiligung an einer „peace kee- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Wer ping mission" in wenig bei. Zudem hat Ihnen denn das aufgeschrieben?) Jugoslawien nahm ich an, daß ein außenpolitisch so lang tätiger sich von diesem Staatssekretär zu trennen, obwohl sie Kollege wie Herr Lamers weiß, wie sensibel unsere ja weiß Gott genug davon hat. südost- und westeuropäischen Nachbarn auf den (Beifall bei der SPD) Wunsch nach einer deutschen Beteiligung an einer solchen Blauhelm-Mission in Jugoslawien reagieren Offensichtlich werden die Kriterien deutscher Ent- werden. wicklungszusammenarbeit, die an erster Stelle die Besonders peinlich wirkt dieser Eifer, wenn sich das Beachtung der Menschenrechte als Kriterium für die Bundesfinanzministerium — wir sprechen ja über den Vergabe von Entwicklungshilfe ausweisen, von Herrn Haushalt — gleichzeitig nicht in der Lage sieht, die Möllemann nicht ernst genommen. Denn er offerierte von der UNO erbetenen 2 Millionen DM bereitzustel- der chinesischen Regierung einen Kredit von len, die für eine sechsmonatige Verlängerung der 600 Millionen DM mit einem Zuschußanteil von ONUCA-Mission erforderlich gewesen wären. Wie 150 Millionen DM aus der Tasche des deutschen Steu- kann es angehen, daß auf Grund von Pannen in der erzahlers. Kommunikation einerseits eine Blauhelm-Aktion zur (Freimut Duve [SPD]: Was sagen Sie nun, Überwachung des zentralamerikanischen Friedens- Herr Vogel?) abkommens gefährdet wird, während andererseits in der Öffentlichkeit gerade von der CDU nach einem Neben diesem Widerspruch zwischen Spranger und stärkeren deutschen Engagement bei Möllemann gab es offenbar einen weiteren, nämlich Blauhelm-Ak- tionen sogar für UN-Aktionen nach Kap. 7 der UN- im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Charta gerufen wird! So kann die vielbeschworene selber: Zunächst einmal erklärte Staatssekretär Rep- deutsche Verantwortung des vereinigten Deutsch- nik land doch wohl nicht aussehen. Wenn die Koalition (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ glaubwürdig sein will, wird sie dafür sorgen müssen, CSU]: Der Mann ist gut!) daß die Kluft zwischen erklärten Ansprüchen und ih- den Möllemann-Kredit für unbedenklich, offenbar rem Handeln geschlossen wird. ohne Kenntnis seines Ministers. Von der SPD getrie- Ich danke für die Aufmerksamkeit. ben, stellte sich Hausherr Spranger dann doch gegen (Beifall bei der SPD) die Möllemann-Zusage. Leider ist die Angelegenheit viel zu ernst, als sie Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- unter sportlichen Aspekten als Wettstreit zwischen ordnete Dr. Volkmar Köhler. den Ministern Spranger und Möllemann zu betrach- ten. Wie verbindlich sind für die Bundesregierung ei- Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Herr gentlich die einstimmig vom Bundestag angenomme- Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol- nen China-Entschließungen aus dem Jahr 1989? legen! Wenn wir das Budget der Außenpolitik des ver- (Norbert Gansel [SPD]: Ja!) einigten größeren Deutschland beraten, steht natür- lich die Diskussion über die größere Verantwortung Sie schließen u. a. Kapitalhilfen und Hermes-Bürg- dieses Landes auf der Tagesordnung. Dazu ist schon schaften für China aus und stellen fest, daß eine posi- einiges gesagt worden. Ich möchte es noch etwas wei- tive Fortentwicklung der deutsch-chinensischen Be- terführen, weil ich in der Tat glaube, daß Regierungs- ziehungen die Respektierung der Menschenrechte handeln und parlamentarische Auseinandersetzung durch die chinesische Regierung voraussetzt. Eine noch manches zu leisten haben, um in unserem ge- durchgreifende Änderung der innenpolitischen Situa- samten Land einschließlich der neuen fünf Bundes- tion in China ist nicht erkennbar, und daher sollten länder einen ausreichenden Grundkonsens über das Wirtschaftskontakte à la Möllemann vorerst nicht ge- zu festigen, was diese Verantwortung beinhaltet und knüpft werden. Linie unserer Politik sein sollte. Es ist um so nötiger, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd weil es natürlich auch Geld kostet, für das ja auch Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) immer wieder genügend anderer Bedarf in diesem Hause angemeldet wird. Ich sage dies, obwohl ich als Deutscher aus der ehe- Ich hatte in der Vergangenheit manchmal den Ein- maligen DDR natürlich ein Interesse daran habe, daß druck, daß die Diskussion über den Inhalt dieser Ver- die Werften an der Ostsee wieder Aufträge bekom- antwortung deutscher Außenpolitik allzu schnell in men. Aber in diesem Bestreben dürfen wir nicht käuf- operationale Fragen — „out of area"-Einsätze und lich werden. Wenn wir heute die Politik der verschie- dergleichen — überging, so daß dann sehr schnell der denen Bundesregierungen gegenüber den Men- Verdacht kam, als sei es unser besonderer Ehrgeiz, schenrechtsverletzungen in der ehemaligen DDR be- irgendwo auf dieser Welt Schutztruppen auszusen- urteilen, können wir im Fall China keinen anderen den. Sie kennen auch die absichtsvollen Verdächti- Maßstab anlegen. gungen aus serbischem Munde, die uns der Groß- Von uns Politikern erwarten die Bürgerinnen und machtsucht auf dem Balkan zeihen. Was auch immer Bürger in unserem Land Glaubwürdigkeit. Dies gilt hier absichtsvoll ist und zurückgewiesen werden kann vor allem in meiner mit dieser Tugend bislang nicht und muß, so bleibt es doch unsere Aufgabe, hier deut- gerade verwöhnten östlichen Landeshälfte. lich zu sagen, wofür wir stehen. 5052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) Das ist um so nötiger, weil es ja einen sehr kurzen staltungsaufgabe für das Zusammenleben und nicht Traum gab, nach Ende der Ost-West-Konfrontation nur purer Legalismus abverlangt. und der Aufhebung der Teilung unseres Landes seien (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD alle Probleme gelöst. Wir haben lernen müssen, daß und dem Bündnis 90/GRÜNE) nach der Erstarrung der Welt auf den Linien von Jalta wir plötzlich in unruhige Nachbarschaft geraten sind Darüber müssen wir um so mehr reden, als wir ja und wahrscheinlich geraume Zeit mit ihr leben müs- nicht nur von EG-Europa und nicht nur von der Ver- sen. schiebung der Armutsgrenze nach Osten reden. Wir haben die unglaubliche Chance, wieder zu realisie- In dieser Situation, meine ich, verdienen einige ren, daß Prag — z. B. in der Zeit Karls IV. — einmal Dinge der Hervorhebung. Lassen Sie mich zunächst das Herz Europas war. einmal zwei, drei Bemerkungen über sichere Kon- stanten machen, die wir bewahren und bewahren soll- (Bundesminister Hans-Dietrich Genscher: Es ten. Da ist zuerst unser unverrückbares Eintreten für ist es immer noch!) den Frieden. Ich beziehe mich auf das, was Kollege Wir können an die Worte von Sir Edward Grey den- Vogel in diesem Zusammenhang gesagt, um Zeit zu ken, der 1914 sagte: In Europa gehen jetzt die Lichter sparen. aus. Es wird sehr, sehr lange dauern, bis sie wieder Das zweite ist der Gesichtspunkt, daß Sicherheits- leuchten. — Für uns ist diese Hoffnung wieder sicht- politik in einer unruhigen Umgebung natürlich weiter bar geworden. Aber das, meine Damen, meine Her- eine Rolle spielen muß. Auch weiterhin bleibt Wach- ren, ist auch das einzige, was wir noch an Gedanken samkeit der Preis der Freiheit. Nur sie eröffnet uns die an 1914 haben sollten. Wer glaubt, auf die damaligen Chance, die Fundamente der Freiheit weiterhin poli- Spannungsverhältnisse wieder zurückgehen zu kön- tisch zu sichern. So ist das NATO-Bündnis eine der nen, und wer jetzt meint, über Revision von Pariser Konstanten unserer Politik. Vorortverträgen usw. reden zu können, ist nicht Ge- stalter der Zukunft, sondern Schöpfer neuer Zwistig- (Beifall bei der CDU/CSU) keiten. Frieden bedarf der Friedensordnung, der sich alle (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD unterwerfen. Damit sind wir bei einer ganz entschei- und dem Bündnis 90/GRÜNE) denden Konstante unserer Politik, nämlich der Idee des vereinigten Europa. Diese großartige Idee, meine Die durchgängige Ratio, die uns für unsere Politik verehrten Kolleginnen und Kollegen, darf in der Dis- abverlangt wird, kann meines Erachtens nur die An- kussion nicht verschlissen werden, die wir über viele wendung der Prinzipien sein, die uns zu dem großen unendlich wichtige Einzelheiten auch führen müssen, Glück der Wiedervereinigung unseres Landes verhol- ob es Marktordnungen oder Freihandelsregelungen fen haben, nämlich Menschenrechte, Freiheit, Rechts- oder die Rechte der Institutionen sind. Darum bemü- staat, Demokratie und eine Wirtschaftsform, die die hen wir uns ja zäh. Fähigkeiten des einzelnen entfesselt. Wenn wir dies vertreten, dann vertreten wir nicht irgendeine spezi- (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro- fisch deutsche Position, sondern wir vertreten die be- nenberg) sten Prinzipien z. B. aus der Geschichte der Vereinig- ten Staaten von Amerika. Und wir vertreten genau die Aber wir müssen dabei auch immer wieder auf Kern- geistigen Grundlagen der Vereinten Nationen, die ideen zu sprechen kommen. Eine davon ist ganz ge- zum Zwecke der Realisierung dieser Ideen geschaffen wiß die historische Lehre, daß Europa keine Hegemo- worden sind. Daran müssen und können wir unsere nie verträgt, weder einmal die spanische noch die Tätigkeiten gegenüber der übrigen Welt meines Er- französische noch die deutsche noch irgendeine an- achtens ausrichten. dere denkbare. Und hier ist es mein Wunsch, daß wir Bestand auf- (Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: nehmen, daß manche Schichtung und Lagerung aus Noch die niederländische!) vergangenen Jahrzehnten von uns geprüft wird. Ich Dieser Erkenntnis unterwirft sich das größere denke z. B. an die Allokation unserer Entwicklungs- Deutschland, auch in Zukunft. hilfe, die aus vielen Begründungszusammenhängen so entstanden ist, die wir aber jetzt prüfen sollten, ob (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sie nicht unter solchen Gesichtspunkten neue Ak- Dies sollte sicher stehen. So sind aus Nachbarn zente erfahren sollte. Ich begrüße die ersten Schritte, Freunde geworden. die Minister Spranger in dieser Richtung getan hat, ausdrücklich. Ich bitte herzlich darum, daß die betei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ligten Ressorts und das Parlament in engem Zusam- menwirken darauf hinarbeiten, daß wir uns, Herr Das heißt nicht nur, daß wir Toleranz üben wollen und Brecht, nicht mehr über Glaubwürdigkeitsprobleme einfordern und den anderen ertragen, sondern daß wir unterhalten müssen. Die sachlichen Gegensätze zwi- den anderen wollen, daß wir aus der Vielfalt die Ein- - schen Außenwirtschafts-, Außenpolitik, Entwick- heit realisieren wollen. lungspolitik und anderen Politiken wird es immer ge- Dies hat Konsequenzen für die Minoritätenpolitik ben. Aber unsere große Aufgabe ist, herauszufinden, im gesamten Europa. Wer in Europa wohnen will, der wie wir dies zu einem konsistenteren Bild deutscher darf eben nicht in großrussischen, großserbischen, auswärtiger Beziehungen auffüllen können. Lassen großrumänischen oder irgendwelchen sonstigen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Denn ich glaube, ,,Groß"-Träumen denken. Vielmehr ist ihm eine Ge daß wir damit gerade auch der jungen Generation Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5053

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) unseres Landes die Möglichkeit einer anderen und ken noch die Vertröstung auf globales Handeln stel- stärkeren Identifikation mit diesem Staat und mit der len einen Ausweg aus diesem Dilemma dar. Wir ha- Zukunft geben, die sie gestalten soll. ben nur wenig Zeit für neues Handeln und noch weni- Entwicklungspolitik und auswärtige Kulturbezie- ger Zeit für ein neues Denken. hungen sind gegenüber einem großen Teil der Welt Unser Bewußtsein muß sich in zwei entscheidenden die tragenden Säulen unserer Außenbeziehungen. Bereichen ändern. Erstens. Die klassischen Ziele und Deswegen habe ich soeben dieses Plädoyer für Ent- Instrumente der Außenpolitik von Nationalstaaten wicklungspolitik gehalten. Deswegen schließe ich oder Bündnissen sind obsolet geworden. Wir brau- mich fast allen Vorrednern an, die einen qualitativen chen ein Bewußtsein von Weltinnenpolitik. Die gro- und quantitativen Sprung in der auswärtigen Kultur- ßen Probleme dieser Welt können wir nur noch ge- politik für die Zukunft eingefordert haben. Ich bin meinsam lösen. genau der gleichen Auffassung. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ und dem Bündnis 90/GRÜNE) GRÜNE)

Zweitens. Die ökonomischen, die ökologischen und Das Wort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: die sozialen Zusammenhänge und Auswirkungen der hat der Abgeordnete Norbert Gansel. globalen Risiken müssen in gleicher Weise zu einem Bewußtsein von Weltinnenpolitik führen. Vor allem Norbert Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine Da- die innere Politik der großen Industriestaaten hat men und Herren! Über viele Jahrzehnte hat der Ost weltpolitische Bedeutung. Wenn wir den ökologi- West-Konflikt unseren Blick auf die große Gefahr ei- schen Umbau unserer Industriegesellschaft nicht be- nes großen Krieges — die Gefahr eines Atomkrie- wältigen, ist die ganze Welt zu einer ökologischen ges — fixiert. Das hat uns den Blick auf andere, nicht- Katastrophe verurteilt. militärische Risiken versperrt. Welche moralischen, ökonomischen und ökologi- (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) schen Verwüstungen der Kommunismus in seinem Das gilt nicht nur für unsere Industriegesellschaft, Machtbereich angerichtet hat, wird erst jetzt richtig sondern auch für unsere Agrargesellschaft, auch in deutlich, nachdem der Eiserne Vorhang fortgezogen der Bundesrepublik. Der Bundeskanzler hat heute worden ist. Schon hört man Stimmen, wo man sie nie mittag von der GATT-Runde gesprochen. Richtig ist: erwartet hätte, die sich nach dem stabilen Eis des Kal- Die Entwicklungsländer haben nur die Chance zur ten Krieges zurücksehnen. Jetzt taut alles auf. Alles ist Selbsthilfe, zur Entwicklung einer Eigenversorgung in Bewegung. Es gibt sogar Feuerzeichen. Aber alles und zum Export, wenn die Preise auf den Weltmärk- wäre noch schlimmer geworden, wenn das kommuni- ten nicht länger durch massive Subventionen und stische System länger gehalten hätte. Zusammenbre- durch eine durch die chemische Indust rie hochge- chen mußte es. putschte Produktivität der europäischen und der nord- (Zustimmung bei der CDU/CSU) amerikanischen Landwirtschaft ruiniert werden. Der Wettlauf der Systeme, die ökonomische Hoch- rüstung im Norden, die davon beeinflußte Unterent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wicklung des Südens, die rücksichtslose Ausbeutung der Natur und die Zerstörung der Umwelt haben die Der Kanzler hat das Problem erkannt. Doch hat er den Gefahr einer weltweiten Klimakatastrophe erhöht. für unsere Gesellschaft notwendigen Schluß — Maß- Hunger, Armut und rasantes Bevölkerungswachstum nahmen, die dazu führen müssen, daß wir nicht aus- in den früher als „Dritte Welt" bezeichneten Regio- schließlich an Produktivität orientierte Leistungsent- nen, Nationalismus und religiöser Fundamentalismus, gelte zahlen und Subventionen abbauen, sondern den Hegemonialstreben, konventionelle und atomare Landwirten direkte Einkommenshilfen geben, damit Aufrüstung, Kriege und Bürgerkriege, Flüchtlingsbe- sich bei uns eine bäuerliche Struktur bei einem gerin- wegungen — das sind nicht nur regionale, sondern geren Einsatz von Chemie erhalten kann — noch nicht ziehen können. Dieser Schluß ist aber nötig, in vielmehr globale Risiken. dem Bewußtsein, daß Weltinnenpolitik auch Innen- Ich habe den Eindruck, daß das Bewußtsein für weltpolitik ist. diese Gefahren überall wächst. Die Folgerungen sind unterschiedlich. Die einen — mehr auf der konserva- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tiven Seite angesiedelt — neigen zur Abschottung, als ob es in der Festung Europa für unsere Kinder noch Wenn wir heute einen Bundeshaushalt verabschie- Sicherheit gäbe. Diese Festung könnte aber zur Falle den, dann müssen wir uns klarmachen, daß mit den werden. Die anderen — eher auf der Linken zu fin- Etats für Wirtschaft, Technologie und Forschung, Um- den — neigen dazu, Lösungen nur auf der globalen welt, Landwirtschaft und Verkehr in der internationa- Ebene zu suchen. Dabei wissen wir, daß dazu Zeit len Politik wahrscheinlich mehr verändert wird als erforderlich ist und daß wegen der inneren Dynamik- durch die Verabschiedung des Etats eines klassischen dieser Risiken nichts knapper ist als die Zeit. Wer die Auswärtigen Amtes. Sozialdemokratische Außenpoli- Beschleunigung des Bevölkerungswachstums in der tik versteht sich deshalb im Unterschied zur Außen- Dritten Welt oder die Klimaverschlechterung analy- politik dieser Bundesregierung als eine integrative siert, muß geradezu zu dem Ergebnis kommen, daß Funktion nationaler und internationaler Verantwor- wir — so formulierte es mein Kollege Michael Mül- tung. ler — in einer Zeitfalle stecken. Weder Festungsden- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 5054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Norbert Gansel Nach der Rede des Kollegen Köhler habe ich den Ein- West-Konflikts, brauchen wir eine UNO der zweiten druck, daß sich auch in der Union etwas bewegt. Das Generation. Die SPD-Fraktion wird deshalb in den kann der großen Aufgabe ja nicht schaden. nächsten Wochen im Bundestag einen umfassenden Vorschlag zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Reform der UNO vorlegen, den mein Kollege Günter Verheugen initiiert hat. Wir wollen Weil wir mit großen regionalen und globalen Risiken damit die UNO für die globalen Risiken rüsten. Das ist konfrontiert sind und weil die Zeit so knapp ist, hat das eine Form von Rüstung, die die Welt braucht. Handeln in und mit den vorhandenen internationalen Organisationen Priorität. (Beifall bei der SPD) Erstens. Wir sind zunächst für die Vertiefung und Zu den gefährlichen Risiken in Europa gehören die dann für die Erweiterung der Europäischen Gemein- zivilen, aber auch die militärischen Risiken, die sich schaft. Zusammen bedeutet das: Europa-Innenpoli- aus der Unterdrückung von Minderheiten, aus Natio- tik. nalitätenkonflikten und aus Grenzstreitigkeiten, mög- licherweise mit militärischen Mitteln ausgetragen, er- Wenn es auf dem Gipfel von Maastricht allerdings geben können. keine substantiellen Verbesserungen gibt, ist die Rati- fikation der Europaverträge im Bundestag gefährdet. Wir Sozialdemokraten sind traditionell entschie- Die Bundesregierung, nein Europa braucht eine dene Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Für Europa ist sie Völker und entschiedene Gegner jeder Form von Na- gewährleistet, aber nicht für faule Kompromisse, die tionalismus. Auf dieser Basis gilt es, praktische Politik zu Verhandlungserfolgen der Bundesregierung hoch- zu machen. gejubelt werden. Erstens. Wir verlangen von jedem alten und von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jedem neuen Staat die Respektierung der Rechte der in ihrem Staat lebenden Menschen und Minderhei- Wenn Maastricht scheitert, wird darüber nachge- ten. dacht werden müssen, nicht die Regierung, sondern eine verfassunggebende Versammlung mit der Schaf- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd fung der vereinigten Staaten von Europa zu betrauen, Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) wie es das Europäische Parlament vorgeschlagen hat. Zweitens. Wir verlangen von jedem alten und je- Aber viel kostbare Zeit würde dadurch verlorenge- dem neuen Staat Respekt vor Grenzen, die nur auf hen, und Zeit ist knapp. demokratischer Basis und nur durch Verhandlungen Zweitens. Zeit und Chancen sind schon auf dem verändert werden können.

NATO - Gipfel in Rom vor zwei Wochen vertan wor- Drittens. Den verantwortlichen Politikern, aber den. Die NATO hat nicht die Kraft gefunden, beispiel- auch den Völkern, die in ihren neuen Demokratien für gebend auf die Stationierung taktischer Atomwaffen ihre Politiker jetzt Mitverantwortung tragen, muß un- in Europa und auf die Androhung des nuklearen mißverständlich klargemacht werden, daß jede Hilfe Erstschlages zu verzichten. Es ist aber ein Fortschritt, eingestellt wird, wenn diese ersten beiden Grund- daß die NATO auf ihrem Gipfel der Zusammenarbeit sätze nicht eingehalten werden. in der KSZE Raum gegeben hat. Die Regierungschefs der NATO vertreten dabei Auffassungen, für die die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd Sozialdemokraten lange gekämpft haben. Die Formu- Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) lierungen zur gemeinsamen Sicherheit gehen Ihnen Und diese Botschaft, Herr Außenminister, ist noch heute so leicht über die Lippen wie früher nur Egon wichtiger als die Entsendung von Botschaftern. Bahr. Auf gut deutsch: keine müde Mark für einen Staat, (Volker Rühe [CDU/CSU]: Ja, aber das war der seine demokratische Geschichte mit der Unter- ein anderes Geschehen! Das war eine völlig drückung von Menschen- und Minderheitenrechten andere Lage!) beginnt und seine Grenzen mit Gewalt verändern will. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dem Wir wollen eine NATO, die sich bei Wahrung der zustimmen könnte. Das könnte dazu beitragen, eine Sicherheit und Stabilität in Europa so verändern kann, Jugoslawisierung der Sowjetunion zu verhindern. wie sich die KSZE zu einem System kollektiver Si- cherheit entwickelt. Wir fordern den Bundesaußenmi- Es gibt bedrohliche Vorzeichen. Es gibt großrussi- nister auf, sich dafür einzusetzen, daß sich das zweite sche Ansprüche. In den baltischen Staaten entwickelt Außenministertreffen der KSZE in Prag im Januar zu sich eine nationalistische Staatsbürgerdoktrin. Zwi- dieser Perspektive bekennt. schen Aserbaidschan und Armenien stehen die Zei- chen auf Krieg. Die Ukraine will sich eine Armee zule- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen, die weit über ihre Sicherheitsbedürfnisse hinaus- Wir fordern die Schaffung einer KSZE-Agentur für geht. Ich bin zutiefst skeptisch, ob es gelingen wird, Konversion im Rüstungsbereich. Auch die Atomkraft- die sowjetischen Atomwaffenarsenale, insbesondere werke im Osten müssen ein Thema der KSZE blei- die Arsenale der taktischen Atomwaffen, unter Kon- ben. trolle zu halten. Ich erlebe zuviel Schönrednerei und Drittens. Die Bundesrepublik, die EG, die NATO zuviel Vertrauen in die Erklärungen sowjetischer Poli- und die KSZE müssen sich in die Weltinnenpolitik ein- tiker, deren Zukunft wir nicht kennen. ordnen. Die neue Weltordnung, die wir wollen, ist Ich weiß, daß die Bundesrepublik auf das alles nur nicht die Sache der Vereinigten Staaten, sondern der begrenzt einwirken kann. Wenn wir das versuchen, ist Vereinten Nationen. Jetzt, nach dem Ende des Ost- das keine illegitime Einmischung. Schließlich mischt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5055

Norbert Gansel sich auch der ein, der hilft. Das gilt für neue, aber auch Die Jugoslawien-Krise ist ein entsetzliches Beispiel für alte Partner, und das muß auch für die Türkei gel- dafür, was geschieht, wenn nichts geschieht, solange ten. noch Zeit ist. Die Bundesregierung und der Minister- rat der Europäischen Gemeinschaft haben zu lange Zwischen den Türken und den Deutschen gibt es und zu langmütig auf die Fiktion eines geeinten Ju- traditionell gute und freundschaftliche Beziehungen. goslawiens und auf das postkommunistische Regime Ich habe nicht vergessen, daß nicht wenige Sozialde- in Belgrad gesetzt. Was danach getan wurde, war mokraten nach 1933 in die Türkei gegangen sind und meist richtig, aber geschah zu spät. Und daraus muß dort praktisch Asyl gefunden haben: z. B. Fritz Baade, gelernt werden. mein Vorgänger in meinem Kieler Wahlkreis, oder auch Ernst Reuter. Der Präsident von Bosnien-Herzegowina hat vor ei- ner Woche im Auswärtigen Ausschuß vorgeschlagen, (Beifall bei der SPD) UN-Friedenstruppen in seiner Republik jetzt zu sta- Wir sind also nicht nur durch das Grundgesetz ver- tionieren, damit es gar nicht erst zum Ausbruch von pflichtet, auch Verfolgten aus der Türkei bei uns Asyl Feindseligkeiten kommt. Ich fordere die Bundesregie- zu geben. Wer es aber mit einer präventiven Flücht- rung auf, sich dafür rechtzeitig, d. h. unverzüglich in lingspolitik ernst meint, wer die Ursachen von Wan- der UNO einzusetzen. derungsbewegungen bekämpfen will, der muß vom türkischen Staat die Einhaltung der Menschen- und In Kroatien wird das Morden andauern, solange ein Minderheitenrechte verlangen, auf die er sich als Mit- Waffenstillstand nicht durch Blauhelme gesichert glied des Europarats und der KSZE und als NATO- werden kann. Mit der Zeit für diplomatische Verhand- Mitglied besonders verpflichtet hat. lungen verrinnt Lebenszeit für Menschen. (Beifall bei der SPD) Am Freitag vor einer Woche haben wir im Bundes- tag in einem der seltenen interfraktionellen Anträge Die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der gemeinsam beschlossen — ich zitiere —, „daß sich die Türkei ist notorisch. Frage der Entsendung von UN-Friedenstruppen auf Die Bundesrepublik hat in den vergangenen Jahren der Basis eines UN-Mandats mit besonderer Dring- an die Türkei Leistungen im Wert von vielen Milliar- lichkeit stellt". den DM im Rahmen der Entwicklungshilfe, der Als Außenminister Genscher die Einberufung des NATO-Verteidigungshilfe und der Rüstungssonder- UN-Sicherheitsrats forderte, haben ihn führende hilfe erbracht. Die militärischen Leistungen werden Unionspolitiker an diesem Wochenende böse attak- von der SPD-Fraktion seit vielen Jahren abgelehnt, kiert. Sie verlangten die Beteiligung der Bundeswehr und wir haben auch diesmal ihre Streichung bean- an einem UNO-Blauhelmeinsatz in Jugoslawien. Da- tragt. von war aber in der gemeinsamen Resolution des Bun- Die Türkei ist als NATO-Mitglied von außen nicht destages ausdrücklich und aus guten Gründen nicht bedroht, sie bedroht sich selbst von innen, weil sie die die Rede gewesen. Rechte der kurdischen Minderheit nicht respektiert. Es gibt einen Teufelskreis von polizeilicher und mili- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ tärischer Gewalt und terroristischen Aktionen der GRÜNE) ritorium nun PKK, der mit Angriffen auf irakisches Ter Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Frak- auch schon die Grenzen der Türkei überschritten hat. tion, Herr Lamers, erklärte, Genscher wolle nur von Die Bundesrepublik darf dazu nicht mit Waffenliefe- der eigenen schizophrenen Lage ablenken; sein Ver- rungen beitragen. halten sei absurd. Dieser Vorgang ist aus mehreren (Beifall bei der SPD) Gründen bemerkenswert. In diesen Tagen ist in der Türkei eine neue Regierung Erstens. Wer die Formulierung, die der CDU-Politi- mit Beteiligung der Sozialdemokratischen Volkspar- ker für seine eigene Regierung benutzt, nämlich tei gebildet worden. Die Folterpraxis soll beendet wer- „schizophren" und „absurd", wörtlich nimmt, muß den, freie Gewerkschaftsarbeit und ein freies Univer- eigentlich den Eindruck haben, diese Bundesregie- sitätswesen sollen gewährleistet werden. In den Ko- rung sei ein Irrenhaus. Manchem mag jetzt klarwer- alitionsvereinbarungen ist festgelegt worden — ich zi- den, warum Unionspolitiker immer wieder verlangen, tiere —, „daß jeder seine Muttersprache, Kultur, Folk- die Bundesrepublik müsse sich wie ein normaler Staat lore und Religion studieren, pflegen und entfalten verhalten. kann". (Heiterkeit bei der SPD) Das ist eine hoffnungsvolle Ankündigung für die Zweitens. In den Unionsparteien gibt es Disziplin- Kurden, für die Türkei und für das deutsch-türkische probleme. Ob der neue Fraktionsvorsitzende Verhältnis. Schäuble sie allerdings ausgerechnet in der Jugosla- (Beifall bei der SPD) wien-Frage lösen kann, muß zweifelhaft erscheinen, denn Herr Schäuble hat vor 14 Tagen militärische Die SPD-Fraktion ist bereit, sich für eine massive Er- Mittel gegen die — ich zitiere — „anscheinend unbe- höhung der Entwicklungshilfe für die Türkei einzu- lehrbaren Serben" verlangt. Ich zitiere Schäuble wei- setzen, wenn diese Ankündigungen verwirklicht wer- ter: „Das muß sehr wohl in einer internationalen den. Streitmacht unter Beteiligung der Bundeswehr ge- (Beifall bei der SPD) schehen." — Der Bundeskanzler hat das, wenn ich ihn 5056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Norbert Gansel heute mittag richtig verstanden habe, als Akt der Un- Sie durch, Herr Kollege Waltemathe. Da können wir vernunft bezeichnet, und das ist richtig. Ihnen nicht helfen. (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — [Gerlingen] [FDP]: Wahrscheinlich sind Ihre Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Kol Zitate falsch!) lege Waltemathe war immer ein Realist!) Drittens. Man muß aber den Eindruck haben, daß Ich glaube, daß es richtig war, daß sich viele der Politiker, die sich so äußern — ich habe das militäri- Redner heute mit der Rolle des vereinigten Deutsch- sche Aufdringlichkeit genannt — , weniger die Lösung land befaßt haben. Daran, ob man das Wort Normali- der entsetzlichen Jugoslawien-Krise als vielmehr die tät in diesem Zusammenhang verwenden sollte, habe Instrumentalisierung dieser Krise für ihr Ziel im Sinn ich meine Zweifel, wie ich überhaupt immer Zweifel haben, die Verfassung oder die Verfassungspraxis der habe, wenn normales Verhalten verlangt wird, weil Bundesrepublik so zu ändern, daß der Einsatz der sich derjenige, der derlei Maßstäbe anlegt, in der Re- Bundeswehr zu anderen Zwecken als denen der Ver- gel zum Richter über andere erhebt. Aber wir haben teidigung möglich wird. die Verantwortung eines Staates zu übernehmen, der Viertens. In Jugoslawien muß es aber um den Frie- sich nun — frei von der Belastung der Teilung — der den und nur um den Frieden gehen. Wir haben in Verantwortung seiner Geschichte, seines Gewichts unserer gemeinsamen Bundestagsresolution die Be- und seiner geographischen Lage in Europa und in der reitschaft der serbischen Seite begrüßt, einer Entsen- Welt stellt. Das werden wir in den Vereinten Nationen dung von UN-Friedenstruppen zuzustimmen. Es ist mit allen Rechten und Pflichten eines Mitglieds tun, jetzt Sache des Sonderbeauftragten der UNO, des und wir werden es in Europa tun. Es ist vielleicht des- ehemaligen amerikanischen Außenministers Vance, halb auch gut, daß wir diese Positionsbestimmung die Zusammensetzung und die Stationierungsmodali- nicht in einem nationalstaatlichen Sinne vornehmen, täten zu klären. Die Zeit drängt, denn jeden Tag ster- sondern vielmehr in unsere Verantwortung im gesam- ben Menschen, und täglich nimmt die Gewalt des ten Europa einordnen. Hier wird es wichtig sein, daß Krieges zu. Wer dem UN-Beauftragten ins Handwerk wir allen unseren Partnern im Westen deutlich ma- pfuscht, verlängert den Krieg. Die Jugoslawien-Krise chen, daß der Wegfall der Mauer von jedem Land ver- verlangt unsere Einmischung. Wer aber Serbien die langt, das eine Europa zu akzeptieren. Dem gemein- Beteiligung der Bundeswehr an Blauhelmeinsätzen samen Schicksal des ganzen Europa kann kein Staat aufdrängen will, kann fahrlässig oder vorsätzlich die entfliehen, weder im Osten noch im Westen. notwendige Zustimmung Serbiens zur UN-Friedens- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie truppe überhaupt gefährden. bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, auf die Außenpolitik der Es wird — das lernen wir aus der inneren Vereinigung Bundesregierung und auf die Nebenaußenpolitik der Deutschlands — im Westen auf Dauer nicht gutgehen, stärksten Regierungspartei, die diese Bundesregie- wenn es im Osten auf Dauer schlechtgeht, ökono- rung trägt, ist kein Verlaß. Sie verdient kein Ver- misch, ökologisch und sozial. trauen. Deshalb lehnen wir diesen Haushalt ab. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd bei Abgeordneten der SPD) Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) Deshalb darf man die Einheit Europas nicht nur als Chance empfinden, die man nutzen kann, aber nicht nutzen muß. Vielmehr ist die Einheit Europas eine Realität. Sie ist eine historische Notwendigkeit, und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat niemand kann sich ihr entziehen. der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, das Wort. Das verlangt erstens, daß die Politik der wirtschaft- lichen Reformen im Osten unterstützt wird, denn die Reformer, die Demokraten östlich von uns, haben nicht soviel Zeit, daß sie ohne westliche Hilfe die Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- Reformprozesse durchführen können. Akute Notsi- wärtigen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- tuationen, wie sie in diesem Winter voraussehbar in men und Herren! Ich habe die Aussprache mit großer der Sowjetunion auftreten, verlangen zusätzliche Hil- Aufmerksamkeit verfolgt und festgestellt, daß die feleistungen. Opposition die deutsche Außenpolitik in deren grund- Zweitens. Die Völker Mittel- und Ost- und Südost- legenden Anliegen entweder unterstützt oder Dinge europas brauchen eine umfassende europäische Per- fordert, die wir schon tun, oder Erwartungen hegt, die spektive. wir bereits erfüllen. Gleichwohl nehme ich zur Kennt- nis, Herr Kollege Waltemathe, daß Sie sich von einer Eine Renationalisierung der Politik in Mittel-, Ost- allgemein als erfolgreich anerkannten Politik in den und Südosteuropa wäre eine große Gefahr für ganz dritten acht Jahren etwas entfernen wollen. Das ist- Europa, und diese Gefahr ist nicht nur eine Befürch- eine bemerkenswerte Selbstbeschränkung. tung, sie ist, wie wir in Jugoslawien beobachten kön- nen, eine Realität. (Ernst Waltemathe [SPD]: Es kommt darauf Wer kann diese Perspektive eröffnen? Das westli- an, wer sich entfernt!) che Bündnis, Herr Kollege Gansel, hat mit seiner Ent- — Überraschend daran ist nur, wieviel Zeit Sie sich für scheidung — es war übrigens ein deutsch-amerikani- die Opposition vorgenommen haben. Aber da müssen scher Vorschlag — der Zusammenarbeit mit den frü- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5057

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher heren Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts einen dell die Unterstützung geben, das von den Völkern entscheidenden Schritt getan, um ein Sicherheitsva- abgelehnt wird. kuum östlich von uns zu vermeiden. Wenn am 19. und Übrigens haben wir, Herr Kollege Gansel, die For- 20. Dezember in dem neu berufenen Nordatlanti- derung nach Unabhängigkeit von dem Tage an unter- schen Rat die Außenminister der NATO mit den Au- stützt, an dem sich die Republiken für unabhängig ßenministern der früheren Warschauer-Paktstaaten erklärt haben. Das war der 25. Juni. Sie vorher zu zusammenkommen, dann macht das mehr als alles unterstützen wäre eine vorauseilende Entscheidung andere deutlich, was sich in Europa tatsächlich verän- gewesen, die ich mit dem Respekt vor den souveränen dert hat und daß wir daraus auch die Konsequenzen Entscheidungen dieser Republik nicht hätte verant- ziehen. worten können. Aber von diesem Tage an haben wir Der Europarat hat sich gestern im Ministerkomitee es getan. der Herausforderung gestellt, eine Art Marshallplan (Norbert Gansel [SPD]: Slowenien war einen des Rechtsstaats durchzuführen. Kollege Kinkel hatte Monat früher!) hier nach Bonn die Justizminister aus den mittel- und osteuropäischen Staaten und aus den Republiken der — Nein, am 25. Juni haben beide in ihren Parlamen- Sowjetunion eingeladen. Wir wissen, daß entschei- ten ihre Souveränität erklärt. Ich weiß das genau, weil dend für die Stärkung der Demokratie und auch für ich an diesem Tage mit dem Bundespräsidenten in die marktwirtschaftlichen Reformen Rechtsstaat und Italien war. Ich habe mit meinem italienischen Kolle- Rechtssicherheit sind. Gerade wir Deutschen können gen den jugoslawischen Außenminister angerufen aus der Erfahrung der inneren Vereinigung hier etwas und ihm gesagt: Wir wissen, welche Entscheidungen bieten. Das ist deutsche Verantwortung, die wir zu heute getroffen werden; wir möchten ausdrücklich erfüllen haben. davor warnen, diese Entscheidungen mit militäri- schem Einsatz zu beantworten. — Da war noch kein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Panzer marschiert. Wir erleben, daß eine jahrzehntelange Bevormun- Aber warum, so müssen Sie die Frage erheben, sind dung und Unterdrückung das Bewußtsein nationaler sie marschiert? — Weil wir es mit einer Armee zu tun Identität nicht beseitigt hat, im Gegenteil gestärkt hat. haben, an deren Spitze Persönlichkeiten stehen, die Der Wegfall des Druckes birgt die Gefahr der Über- nicht nur altem Denken verhaftet sind, sondern die steigerung in sich. Darauf müssen wir antworten. Was von einem Großserbien träumen, das sie an der ist die Antwort? Die Antwort der Europäischen Ge- Schwelle der 90er Jahre mit Waffengewalt glauben meinschaft an die Staaten Mittel- und Osteuropas herstellen zu können. muß es sein, ihnen das Tor zur Gemeinschaft zu öff- nen. Nun wissen wir, daß sie nicht in einem Entwick- Gegenüber dieser Brutalität muß es eine geschlos- lungsstand sind, wo sie dieses Tor durchschreiten sene Antwort der Weltgemeinschaft geben. Deshalb könnten. Aber mit der Assoziierung den Weg zur Mit- haben wir, so wie es auch der Bundestag für richtig gliedschaft zu bereiten und zu ebnen, das ist die Ver- gehalten hat, die Vereinten Nationen angerufen. antwortung der Europäischen Gemeinschaft. Wenn wir dafür eintreten, daß UN-Friedenstruppen nach Jugoslawien entsandt werden, dann wollen wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) damit auch erreichen, daß in den Gebieten, in denen Ich sage das auch im Blick auf die Entwicklung im der Krieg noch nicht tobt, die Kriegsmaschine gar früheren Jugoslawien. nicht erst beginnen kann. Es ist zu kurz gegriffen, nur von der Anerkennung Aber gerade darüber, wo stationiert wird, gehen ja zu sprechen, wenn man anschließend diejenigen, die die Diskussionen mit dem früheren amerikanischen anerkannt worden sind, in einen nationalstaatlichen Außenminister Vance. Das zeigt, daß die eine Seite in Weg alter Prägung entlassen will. Es ist notwendig, Jugoslawien erwartet, mit der Stationierung von Frie- daß wir erwarten, daß diejenigen, die eine Anerken- denstruppen eine Anerkennung gewaltsamen Ge- nung durch uns wollen, alle Grundsätze der Schluß- bietserwerbs zu erreichen. akte von Helsinki und der Charta von Paris akzeptie- ( [CDU/CSU]: Kriegsgewinne!) ren. Da muß klar sein, daß niemand darauf rechnen kann, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD daß jemals gewaltsamer Gebietserwerb anerkannt und dem Bündnis 90/GRÜNE) werden wird. Wir wissen, daß der Schutz der Minderheitenrechte (Beifall im ganzen Hause) gerade angesichts der Lage im früheren Jugoslawien Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Gansel, ganz zu, eine zentrale Forderung ist. Das macht aber die ande- daß in dem Europa von heute unter Beachtung der ren Forderungen nicht weniger wichtig. Grundwerte der Schlußakte von Helsinki und der Aber das allein zu verwirklichen würde nicht aus- Charta von Pa ris nicht mehr Grenzveränderungen die reichen, und das nicht nur wegen der Schrecken des Antwort auf die Probleme unserer Zeit sind, sondern Krieges. Deshalb treten wir dafür ein, daß denjenigen, Verwirklichung der Menschenrechte, des Selbstbe- die sich zum Friedensprozeß bereit erklären, die Asso- stimmungsrechts und der Minderheitenrechte. Wer ziierung mit der Perspektive der Mitgliedschaft in der heute in Südosteuropa darangehen würde, die Gren- Erwartung angeboten wird, daß sie diejenigen Bedin- zen neu in Frage zu stellen, stellte mehr als Grenzen in gungen, die sie mit der EG schaffen, sich auch gegen- Frage. Er stellte die Grundlagen der nach dem Zwei- seitig eröffnen. Damit können wir zu neuer Verbin- ten Weltkrieg gewonnenen Stabilität in Europa in dung beitragen, ohne daß wir einem staatlichen Mo- Frage. 5058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher Die Europäische Gemeinschaft hat am 10. Oktober alle zutreffend war. Bei diesem hier gilt das wirklich, durch die niederländische Präsidentschaft für den po- nämlich deshalb, weil diese Europäische Gemein- litischen Prozeß eine F rist von einem, höchstens zwei schaft mit ihrer Entwicklung, so wie wir es für die Monaten gesetzt. Diese Frist läuft am 10. Dezember Politische Union und für die Wirtschafts- und Wäh- ab. Deshalb ist die Bundesregierung der Auffassung, rungsunion gewünscht haben, nicht nur ihre Verant- daß alle diejenigen Republiken, die ihre Unabhängig- wortung für sich, für ihre Mitgliedstaaten, zu erfüllen keit wollen, die sich zu den Grundsätzen der Schluß- hat, sondern vor allen Dingen ihre Handlungsfähig- akte von Helsinki und der Charta von Pa ris bekennen keit zu schaffen hat, damit wir das eine Europa unter und insbesondere die Minderheitenrechte einräumen, Einschluß aller Europäer auch tatsächlich erreichen wie sie dort vorgesehen sind, Anspruch darauf haben, können. ihre zu bekommen. Wir hoffen, daß sich Anerkennung Wenn die Frage nach der Verantwortung des ver- unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft — einigten Deutschlands gestellt wird, so möchte ich sie wünschenswert sind alle — dieser Auffassung an- vielleicht so beantworten: Wir Deutschen haben im schließen werden. Jahre 1990 die Chance der deutschen Einheit wahrge- Meine Damen und Herren, der Wille zur gänzlichen nommen, und wir werden unsere ganze Kraft dafür Überwindung der Spaltung Europas verlangt das Zu- einsetzen, daß Europa im Jahre 1991 und danach sammenwachsen in allen Bereichen. Es wird viel über seine Chance zur Einheit des ganzen Europa wahr- wirtschaftliche Hilfe gesprochen, aber zuwenig über nimmt. eine gesamteuropäische Infrastruktur. Auch hier ler- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen wir wieder aus dem deutschen Vereinigungspro- zeß, daß der Aufbau einer modernen Verkehrsstruk- Wenn wir das tun, dann können wir ohne große tur und einer modernen Telekommunikationsstruktur Worte sagen: Wir haben unsere historische Verant- sowie die Schaffung eines Ökologieraumes dringend wortung als vereinigtes Deutschland erfüllt. geboten sind, wenn auch die wirtschaftliche Entwick- Danke schön. lung ausreichend gefördert werden soll. Das ist für ganz Europa notwendig, und es hat Vorteile für alle (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Europäer: für den Osten durch die immer stärkere Einbindung in die wirtschaftliche Entwicklung und für den europäischen Westen durch die Sicherung sei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine ner Versorgung mit Energie und Rohstoffen. Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aus- Die KSZE, die in der Vergangenheit erhebliche sprache über den Einzelplan 05. Fortschritte beim Zusammenwachsen Europas vor- Ich lasse zunächst einmal über den Änderungsan- ausgeschaffen und schließlich erreicht hat, muß eine trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1648 neue Aufgabe im vereinten Europa bei der Schaffung abstimmen. Wer für den Änderungsantrag der SPD ist, des ganzen Europa gewinnen. Deshalb geht es darum, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt die KSZE und ihre Institutionen zu stärken und das dagegen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Konsensprinzip der KSZE in einem neuen Sinne anzu- Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. wenden, nämlich den Konsens auch gegen denjeni- gen, gegen den ein Einschreiten zur Wahrung der Ich lasse über den Einzelplan 05 in der Ausschuß- Demokratie und der Handlungsfähigkeit seiner de- fassung abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das mokratischen Organe notwendig erscheint, also ohne Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Dann ist der seine Stimme — Konsens minus eins — durchzuset- Einzelplan 05 mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- zen. Hier ist Einmischung geboten, so wie sie im Sinne nen angenommen worden. der Sicherung der Demokratie in Jugoslawien gebo- ten ist. Meine Damen und Herren, es ist heute dankens- Ich rufe nunmehr auf: werterweise von allen Seiten dieses Hauses — nicht Einzelplan 14 ganz von allen Seiten — unterstrichen worden — — Die Handbewegung ging links an Ihnen vorbei, Herr Geschäftsbereich des Bundesministers der Duve. Verteidigung (Freimut Duve [SPD]: Rechts, bitte schön! — Drucksachen 12/1414, 12/1600 — Das war rechts von mir! — Norbert Gansel Berichterstattung: [SPD]: Rechts von hier aus!) Abgeordnete Hans-Werner Müller (Wadern) — Von hier aus gesehen links. Aber wenn Sie gerne Kurt J. Rossmanith halbrechts sitzen wollen, Herr Gansel, darüber kann Hans-Gerd Strube man vielleicht reden. Carl-Ludwig Thiele Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Horst Jungmann (Wittmoldt) Man kann ja ins Protokoll aufnehmen: Hand- Rudi Walther bewegung in Richtung PDS!) Einzelplan 35 Die Europäische Gemeinschaft steht in Maastricht wirklich auf dem Prüfstand. Es hat viele Europäische Verteidigungslasten im Zusammenhang mit Räte mit Entscheidungen gegeben, die man als histo- dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte risch bezeichnet hat. Ich bin nicht sicher, ob das für — Drucksachen 12/1428, 12/1600 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5059

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Berichterstattung: — Das ist sein Problem. Er hört öfter nicht zu. Deswe- Abgeordnete Dr. Emil Schnell gen trifft er auch öfter Fehlentscheidungen, Herr Kol- Dr. Klaus-Dieter Uelhoff lege. Das ist so bei diesem Minister. Zum Einzelplan 14 liegen Änderungsanträge (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der SPD vor. Ich weise darauf hin, daß über die Anstatt die Chance zu nutzen, die Sicherheitspolitik Änderungsanträge und über den Einzelplan 14 fortzuentwickeln, werden die Verhältnisse einfach auf gegen 21.30 Uhr — also wenn alle namentlichen reduzierten Zahlen fortgeschrieben, ohne daß sich da- Abstimmungen stattfinden sollen — abgestimmt bei eine Veränderung der Aufgaben der Streitkräfte wird. ) erkennen läßt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ich nehme nur das Beispiel Jäger 90, gegen den die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vor- zunehmender Widerstand auch in den Koalitionspar- gesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist teien besteht. Sie, Herr Minister und liebe Kollegin- offensichtlich der Fall. Dann kann die Debatte eröffnet nen und Kollegen aus der FDP-Fraktion, haben sicher werden. gerade die ddp-Meldung gelesen, daß bei der Abstim- Zunächst hat der Abgeordnete Jungmann das mung um 21.30 Uhr aus den Reihen der FDP-Fraktion Wort. mit acht Ablehnungen zu rechnen sein wird. (Freimut Duve [SPD]: Hört! Hört! — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Und was ist mit Frau Schulte im Verteidungsausschuß?) Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Ich begrüße das ausdrücklich; denn die Begrün- Kollegen! Wir entscheiden am Schluß dieser Debatte dung, die die FDP-Kollegen abgeben — Gerhart über den zweitgrößten Einzeletat, der natürlich auch Baum und Burkhard Hirsch sind die Sprecher — kann erhebliche außenpolitische Wirkungen haben wird. ich voll unterstreichen: Die Entscheidung über die Mittel für die Streitkräfte, (Zuruf von der SPD: Wo sind denn die die eine Größenordnung von 52,13 Milliarden DM zwei?) ausmachen, sollte auf einer Grundlage getroffen wer- Der Jäger 90 sei zwar kostspielig, aber nicht kostbar. den, die die Abgeordneten in die Lage versetzt, den Sie hätten kein Zutrauen zur realen Entscheidungs- Aufbau der Streitkräfte und die Aufgaben der Bun- freiheit des Bundestages, wenn die Entwicklung des deswehr für die Zukunft zu erkennen. Wenn dies nicht Flugzeuges einmal abgeschlossen sein werde. Es sei zu erkennen ist, ist es für eine Oppositionspartei na- zu befürchten, daß dann die sogenannten Sach- türlich schwierig, diesem Haushalt zuzustimmen. Seit zwänge so groß sein werden, daß mit der Produktion dem Abrüstungsprozeß und der Wiedervereinigung begonnen werde. Armutsbekämpfung müsse Vorrang hat sich die sicherheitspolitische Situation — das ist vor Militäroptionen haben. heute hier im Hause schon mehrfach festgestellt wor- den — grundlegend verändert. Wir warten aber im- Ich glaube, da haben die Kollegen unsere volle Zu- mer noch auf ein ausgereiftes Konzept für die Aufga- stimmung. Es würde dem Hause gut tun, seine Eigen- ben der Streitkräfte, der Bundeswehr, innerhalb der ständigkeit zu beweisen, wenn sich mehrere Kollegen NATO. aus den Koalitionsfraktionen dieser Argumentation anschließen würden. Herr Minister, wir wissen, daß die Bundeswehr, die politische und militärische Führung, bei der deut- Aber nicht nur der Jäger 90 mit 820 Millionen DM schen Einheit eine der schwierigsten Belastungspro- an Entwicklungskosten, sondern die Forschung und ben in der Geschichte der Bundeswehr zu bestehen Entwicklung im militärischen Bereich insgesamt hat: Die Nationale Volksarmee war aufzulösen. Ein wird auf den alten Grundlagen fortgesetzt, ohne daß Teil der Soldaten war oder ist noch in die Bundeswehr sich Änderungen absehen lassen. zu integrieren. Die Bundeswehr ist auf Grund der Sie haben verschiedene Beschaffungsprogramme Vereinbarung im Kaukasus zwischen Kohl und fortgesetzt. Ich nenne da z. B. das Führungssystem Gorbatschow vom 16. Juli 1990 bis zum 31. Dezem- Eifel, das zwar in der Entwicklung mit der Firma Dor- ber 1994 auf insgesamt 370 000 Soldaten zu reduzie- nier abgebrochen wird, aber mit Siemens fortgesetzt ren. wird. Bei dem Führungssystem des Heeres sind in der Aber über die Personalstruktur, über die Streitkräf- Vergangenheit mehrere hundert Millionen DM ver- testruktur insgesamt und über das, was die zivile Ver- schleudert worden, ohne daß eine Entwicklung zum waltung anbetrifft, gibt es kein eindeutiges Kon- Abschluß gebracht worden ist, die erfolgreich ist. Da- zept. für gibt es noch mehrere Beispiele. Die Motivation der Bediensteten innerhalb der Noch für über zwei Milliarden DM werden nach Streitkräfte — im militärischen und zivilen Bereich — dem Zusammenbruch, nach der Auflösung des War- leidet darunter. Sie wissen über ihre Perspektiven, schauer Paktes und der Einbeziehung der osteuropä- über ihre berufliche Zukunft nicht genau Bescheid. ischen Staaten in die NATO Munition beschafft. Für diese Versäumnisse tragen Sie, Herr Minister, die Wenn man diese Beschaffung einmal durchleuchtet, Verantwortung. hat es den Anschein, als stünde der Krieg kurz vor der Tür. Dabei brauchen wir Geld für viele andere Auf ga- (Zuruf von der SPD: Er hört nicht zu!) ben, die heute hier schon genannt worden sind. Ju- goslawien, die Türkei, die Entwicklungshilfe, osteuro- s) Siehe Seite 5102 A päische Staaten, aber auch die Probleme in den neuen 5060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Horst Jungmann (Wittmoldt) Bundesländern bedürfen vieler Mittel. Die Kollegen räten, die nach Israel gebracht werden sollten. Es muß aus den Koalitionsfraktionen haben sich erdreistet, doch etwas anderes dahinterstecken. Herr Minister, von diesen 1,9 Milliarden DM ganze 20 Millionen DM Sie und Ihre politische Leitung haben im Haushalts- zu streichen. ausschuß und im Verteidigungsausschuß mehrfach Besserung bei der Information des Parlaments ver- Ähnlich ist es bei der Panzerbeschaffung. Weitere sprochen. Leider ist es nicht so. 900 Millionen DM werden in die Panzerbeschaffung investiert. 1,6 Milliarden DM Verpflichtungsermäch- Der Bundesrechnungshof und das Amt für Studien tigung für die zukünftigen Jahre sind vorgesehen. und Übungen der Bundeswehr haben übrigens bei diesem Stör- und Täuschsender, für den in Zukunft Meine Damen und Herren, wer soll eigentlich noch Vertrauen in eine bestimmte Politik haben, die die nochmals fast 1 Milliarde DM ausgegeben werden soll, festgestellt, es sei eine unsinnige Ausgabe. Be- überkommenen Dinge einfach nur auf einem niedri- enden Sie endlich solche unsinnigen Ausgaben! gen Niveau fortschreibt, ohne die Konsequenzen aus der Veränderung der sicherheitspolitischen Lage zu (Beifall bei der SPD) ziehen? Beweisen Sie Entscheidungsfreude und Entschei- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: dungsfähigkeit, und sparen Sie im Verteidigungs- So ist es ja nicht!) haushalt! Im Bereich der wehrmedizinischen Forschung sind Die Mängelliste ließe sich noch weiter fortführen. zwar in Kapitel 14 21 nur 13 Millionen DM insgesamt Aber diese Beispiele müßten eigentlich schon genü- veranschlagt — die Kolleginnen und Kollegen Be- gen, um die Fragwürdigkeit des Haushalts zu bele- richterstatter aus den Koalitionsfraktionen haben dan- gen. Dieser Haushalt wird mit Sicherheit auch in Zu- kenswerterweise 900 000 DM gestrichen — , aber kunft noch manche Überraschungen für uns bergen. wenn man den Bericht des Bundesrechnungshofs ein- Denn die Übersichtlichkeit bei den Beratungen war ja mal liest, dann stellt man fest, daß hier überhaupt nicht gerade parlamentsfreundlich. Häufig habe ich keine Koordination der Forschungsvorhaben zwi- den Eindruck gehabt, als produziere man Vorlagen schen Forschungs-, Gesundheits- und Innenministe- über Vorlagen und meterweise Akten, um die Parla- rium stattfindet, daß auf Deubel komm raus geforscht mentarier zu verunsichern und ihre Kontrollmöglich- wird, ohne die Ergebnisse miteinander abzustimmen keiten zu erschweren. Es wäre in Zukunft besser, — im großen und ganzen eine Geldverschleuderung wenn der Verteidigungsetat dem Parlament als Ent- ohne Kontrolle und ohne politische Zielsetzung. wurf vorgelegt würde und wenn im Haushaltsentwurf auch etatreife Vorlagen und nicht nur Wunschvorstel- (Beifall bei der SPD) lungen der Militärs realisiert würden. Eine Milliarde DM werden weiterhin für den Stör- (Beifall bei der SPD) und Täuschsender Zerberus im Bereich der Entwick- lung ausgegeben. Das Projekt heißt heute nicht mehr Am letzten Wochenende hat ja eine Planungskonfe- „Zerberus", weil es mit einer Affäre belastet ist, bei renz stattgefunden, und am 20. Dezember soll eine der der Verteidigungsminister noch einmal kurz an zweite folgen. Die Arbeiten werden also so aufgeteilt: einem Untersuchungsausschuß vorbeigeschrammt ist, Erst soll das Geld vom Parlament bewilligt werden, sondern ist in „TSPJ 90" umbenannt. und dann planen wir, was wir damit machen. So nicht, Herr Minister. Wir werden diesem Haushalt nicht zu- (Zuruf von der SPD: Wie heißt der?) stimmen. — TSPJ 90, ein neuer Name. Als ich über den neuesten Skandal der Hardthöhe in den Zeitungen (Zuruf von der CDU/CSU: Das trifft uns aber sehr!) las — die Überschriften lauteten „Rüstungsbeamte und BND verschieben Panzer nach Israel" —, da kam — So ist es eben; dieses Pech haben Sie. Vielleicht mir das Zerberus-Geschäft wieder in den Sinn. wird das ja auch bei Ihnen, wenn Sie sich den Vertei- digungsetat im Detail ansehen, Herr Kollege, und (Zuruf von der CDU/CSU: Sie meinen Herrn nicht die Zeitung lesen, einmal zum Nachdenken füh- Porzner?) ren. Meine Damen und Herren, bei genauem Hinsehen (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Zu den entpuppten sich die Panzer nämlich nicht als Panzer, Personalkosten, zu den Betriebskosten!) sondern als Kettenfahrzeuge für das sowjetische Ra- darsystem ZSU und SA 6. Sie sollten angeblich zu wis- — Dazu komme ich gleich noch, Herr Kollege. senschaftlichen und Forschungszwecken im militäri- schen Bereich nach Israel geschafft werden. Aber die Wie sollen Abgeordnete diesem Haushalt guten Ge- Israelis besitzen diese Geräte bereits seit langem. Laut wissens zustimmen, wenn die Begründungen für Be- einem Bericht der Hardthöhe aus dem Jahre 1988, schaffungen Woche für Woche wechseln? Ich will ja zuletzt bestätigt durch den Bundesrechnungshof in das Beispiel für die Beschaffung, auf Grund dessen 1991, ist der Stör- und Täuschsender Zerberus 1988 sich der Kollege Koppelin aus Schleswig-Holstein, der genau mit diesen Geräten in Israel geprüft und er- dem Verteidigungsausschuß angehört, in der „Zeit" probt worden. Diese Geräte sollen angeblich schon gerühmt hat, daß er so durchsetzungsfähig ist, hier gar lange in Israel sein. nicht anführen. Aber wenn eine Verpflichtungser- mächtigung in Höhe von 2,5 Milliarden DM über- Ich frage mich: Was sollte dann eigentlich dieses haupt nicht belegt ist, wenn der Haushalt dem Parla- Tarn- und Täuschmanöver mit den neuen Panzerge- ment vorgelegt wird, dann zeigt das doch die Schlam- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5061

Horst Jungmann (Wittmoldt) pigkeit der Arbeit. Dafür ist der Minister verantwort- Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Herr Kollege, ich lich. komme auf die gesperrten 25 Millionen DM zurück: (Beifall bei der SPD) Wie beurteilen Sie den Versuch türkischer General- Mein Kollege Norbert Gansel, der Kollege Klaus konsulate, in einer massierten Aktion die Mitglieder Rose und andere Kollegen haben die Situation in der des Haushaltsausschusses zu beeinflussen und sie zu Türkei, was die Menschenrechte bet rifft, angespro- einer Änderung ihres heutigen Votums zu bringen? chen. Der Haushaltsausschuß — diesen Eindruck hatte ich am letzten Mittwoch, als ich wegen des Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Ich hatte ge- Feiertages einmal eine Ruhepause zu Hause einlegen stern Gelegenheit, mit dem Gesandten der türkischen wollte — hatte sich nämlich erdreistet, 25 Millionen Botschaft zu sprechen, habe ihm die Position des DM für eine Panzerlieferung in die Türkei qualifiziert Haushaltsausschusses deutlich gemacht und ihm klar zu sperren. Unter dem Eindruck der Bombardierung gesagt, daß es für uns bisher noch keinen ersichtli- kurdischer Dörfer, dem Tod von Frauen, Kindern und chen Grund gibt, innerhalb der Beratung des Einzel- Männern, hat sich der Haushaltsausschuß auf eine plans 14 diese Sperre wegzunehmen. Wenn die An- parlamentarische Regel besonnen, die besagt, hier kündigungen der Regierung Realität werden, sind wir müsse man die Regierung in ihrer Durchsetzungsfä- gerne bereit, darüber mit uns reden zu lassen. Die higkeit gegenüber der alten türkischen Regierung un- Regierung wird dann eine Vorlage machen. Ich denke terstützen. Nichts mehr und nichts anderes steht da- aber, es hat in der Vergangenheit bei keiner politi- hinter, wenn wir diese qualifizierte Sperre ausgespro- schen Entscheidung im Haushaltsausschuß eine der- chen haben. artig massive Einwirkung von Diplomaten auf Abge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ordnete gegeben. Sie richtet sich nicht gegen das türkische Volk, son- (Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine dern sie hat sich gegen die menschenverachtende Bitte!) Politik unter Staatspräsident Özal gerichtet. Man sollte das nicht übertreiben. Ich denke, daß der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Haushaltsausschuß, wie das alle Kollegen hier gesagt haben, seine Gründe gehabt hat. Die neue türkische Regierung Demirel und Inönü hat sich verpflichtet, Menschen- und Minderheitenrechte Ich möchte jetzt bei der Reduzierung der Streit- zu beachten und dem kurdischen Bevölkerungsteil kräfte fortfahren. Ich hatte gerade die zu reduzierende mehr kulturelle Eigenständigkeit zu ermöglichen. Zahl der Soldaten der Bundeswehr und der zivilen Wenn diesen Ankündigungen Taten folgen, wird es Mitarbeiter genannt. Die Bundesrepublik Deutsch- kein Problem sein, im Haushaltsausschuß die qualifi- land wird nämlich in ihrem alten Teil durch die Redu- zierte Sperre aufzuheben und die gute Zusammenar- zierung um 260 000 alliierte Streitkräfte militärisch beit mit der Türkei fortzusetzen. Mein Kollege Nor- sehr stark entlastet werden. Herr Minister, wir alle bert Gansel hat ja deutlich gesagt, daß unser Schwer- gemeinsam in diesem Parlament begrüßen diese Ab- punkt nicht im militärischen Bereich liegt, sondern im rüstungsschritte und haben Sie immer ermuntert, sie Bereich der Entwicklungshilfe. durchzuführen. Nur eines kann ich nicht verstehen. Bei der Standortfestlegung — das habe ich Ihnen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schon im Haushaltsausschuß und im Verteidigungs- Meine Damen und Herren, 800 000 Menschen sind ausschuß gesagt — hat es Entscheidungen gegeben, direkt oder indirekt durch die Neuorganisation und die nicht dazu führen, im Bundeshaushalt bei den Umstrukturierung der Streitkräfte betroffen. 101 228 Betriebskosten erhebliche Einsparungen zu bewir- Soldaten sollen bis zum 31. Dezember 1994 abgebaut ken. Betriebskosten und Personalkosten umfassen werden, darüber hinaus bis zum Jahre 1998 40 229 75 % des Gesamthaushalts. Wenn Sie dort sparen wol- zivile Arbeitsplätze. len, Herr Minister, müssen Sie das Prinzip der Wirt- schaftlichkeit und Sparsamkeit des Haushaltsrechts konsequent anwenden und auch eine Kosten-Nutzen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Analyse bei der Erhaltung von Standorten machen. geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Sie wollten es aber mit Ihrer Politik jedem Kollegen Abgeordneten Diederich zu beantworten? aus Ihrer eigenen Fraktion möglichst recht machen. Das Ergebnis ist, daß z. B. die Standortverwaltung Essen, die nach dem ursprünglichen Konzept im Be- (Wittmoldt) (SPD): Wenn mir das Horst Jungmann reich der territorialen Wehrverwaltung aufrechterhal- nicht auf meine Redezeit angerechnet wird. ten werden sollte, weil nämlich dort die Truppenteile stärker behalten werden als in Wuppertal, jetzt aufge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das löst wird und dort, wo in Zukunft kaum noch Bundes- werde ich nicht tun, wenn Frage und Antwort in der wehr ist, eine Standortverwaltung bleibt. Die Ferne gebührenden Kürze erfolgen. der Verwaltung zur Truppe wird immer größer. Ich könnte Ihnen das an Beispielen von Schleswig-Hol- ( [CDU/CSU]: Er stellt doch stein deutlich machen. nur hilfreiche Fragen! Er will Ihnen doch hel-- fen!) Eines, Herr Minister, muß ich Ihnen deutlich sagen: Sie haben überall, wo Sie öffentlich aufgetreten sind, angekündigt, Sie würden die Kommunen mit den Pro- Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Aber trotzdem blemen, nämlich der Reduzierung der Steuereinnah- stiehlt er mir die Zeit. — Herr Kollege, Herr Professor, men und der Schlüsselzuweisungen und dem Verlust selbstverständlich. von Arbeitsplätzen, nicht alleinlassen. Das, was die 5062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Horst Jungmann (Wittmoldt) Bundesregierung als Hilfe für die Standortkonversion — Ich brauche kein Angebot. Ich bin von meinen anbietet, muß von den Betroffenen als Zynismus auf- Wählern in den Deutschen Bundestag gewählt wor- gefaßt werden. den und erfülle hier meinen Auftrag. Ich suche nicht nach neuen Betätigungsfeldern für Nebenverdien- (Beifall bei der SPD) ste. Es sind 250 Millionen DM im Rahmen der Gemein- Meine Damen und Herren, der Verteidigungsmini- schaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirt- ster hat in der Vergangenheit seine „Entscheidungs- schaftsstruktur und 250 Millionen DM für städtebauli- freude" nach außen deutlich gemacht. Wenn man den che Sanierungsmaßnahmen, insgesamt also 500 Mil- Pressemitteilungen und Berichten aus dem Ministe- lionen DM — aber nicht in einem Jahr, sondern in fünf rium Glauben schenken will — ich tue dies — , dann Jahren. Das entspricht 100 Millionen DM in einem hat die Bundeswehr einen Minister verdient, der ent- Jahr für zig Standorte. In einem Jahr gibt diese Regie- scheidungsfreudiger ist, der die Nöte der Soldaten rung 500 Millionen DM für Propaganda und Öffent- und der zivilen Mitarbeiter berücksichtigt und nicht lichkeitsarbeit aus. Das ist ein Mißverhältnis, das die jedes Problem wochen- und monatelang vor sich her- Menschen draußen überhaupt nicht mehr verste- schiebt. Herr Bundeskanzler, in dieser schwierigen hen. Situation braucht die Bundeswehr einen neuen Mini- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ ster! GRÜNE) Schönen Dank. Ich fordere Sie auf, sich in dem Sinne, wie Sie es in (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Schleswig-Holstein den Kommunen versprochen ha- GRÜNE) ben, Herr Stoltenberg, für einen wirtschaftlichen Aus- gleich der Verluste einzusetzen, die durch den Trup- penabzug entstehen. Dann finden Sie uns an Ihrer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Seite. teile ich dem Abgeordneten Strube das Wort. Ich denke, es gilt, den Soldaten der Bundeswehr und den Mitarbeitern im zivilen Bereich für das zu Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Herr Präsident! danken, was sie im Rahmen der Zusammenführung Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir leben der beiden Teile Deutschlands, der Auflösung der in einer Zeit der Entspannung. Dies bedeutet, daß der NVA und der Eingliederung einiger tausend Soldaten Bedarf an Waffen und Gerät aller Art rapide geleistet haben. schrumpft. Das ist für uns Christdemokraten eine be- Nur, Herr Minister: Die Einheit Deutschlands ist am grüßenswerte Tatsache. 3. Oktober 1990 vollzogen worden. Das war nach (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Auch für Adam Riese vor gut einem Jahr. Wenn man mit Sol- uns Liberale!) daten der ehemaligen NVA spricht, die eine Ver- Schließlich haben wir lange genug davon geredet, pflichtungszeit von zwei Jahren haben, und diese ei- daß wir Frieden mit immer weniger Waffen schaffen nem mitteilen, wie die administrativen Abläufe sind, wollten. Nun wird unser Erfolg deutlich. dann kann man manchmal an der Leistungsfähigkeit der Bundeswehrverwaltung und der Verwaltung der Aus diesem Grund ist der Anteil der Verteidigungs- Streitkräfte zweifeln. Wenn Familienvätern — Porte- ausgaben am gesamten Bundeshaushalt 1992 weiter pee-Unteroffizieren und -offizieren — in den neuen gesunken. Bundesländern Mitte November per Schreiben vom (Lachen der Abg. [SPD]) Wehrbereichsgebührnisamt mitgeteilt wird, daß sie Er beträgt nach den Empfehlungen des Haushaltsaus- die ihnen zustehenden Bezüge leider nicht am 1. De- schusses 12,3 %. zember, sondern erst am 15. Dezember bekommen, dann ist das ein Armutszeugnis. Hier wird etwas auf (Günther Fried rich Nolting [FDP]: So ist dem Rücken derjenigen ausgetragen, die das nicht zu es!) verantworten haben. Dafür tragen Sie die Verantwor- Das ist der niedrigste Anteil seit 1956. tung. (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD) Hört! Hört!) Sie wollen eine Bundessicherheitsakademie schaf- Wir haben jetzt ein Rekordtief erreicht. fen. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür — un- abhängig davon, wie ich die Errichtung dieser Bun- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Ist doch dessicherheitsakademie beurteile — , wenn sich die klar!) Besetzung des Postens des zukünftigen Präsidenten Mit Blick auf die Verkleinerung der Bundeswehr sind einzig und allein danach richtet, daß ein ausgeschie- in den kommenden Jahren weitere stetige Senkungen dener Generalinspekteur mit der Besoldungsgruppe in Milliardenhöhe vorgesehen. B 10 diese Position bekommen soll. Suchen Sie nach (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist neuen, geistig frischen Kräften, damit eine neue es!) Sicherheitspolitik eingeführt werden kann. Der Verteidigungshaushalt 1992 umfaßt insgesamt (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: 52,5 Milliarden DM. Immerhin rund die Hälfte des Typisch CDU-Filz! — Zuruf von der CDU/ Verteidigungsetats, nämlich 26,28 Milliarden DM, CSU: Würdest Du das Angebot denn anneh- wird für die Personalausgaben verwendet. Die Verrin- men, Horst?) gerung der Zahl der Soldaten wird langfristig weitere Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5063

Hans-Gerd Strube Mittel freisetzen. Die Friedensdividende kommt deswehr hat sich übrigens durch das Bauprogramm zu also. einem wichtigen Wirtschaftsfaktor im Osten Deutsch- In zwei Bereichen haben wir 1992 massive Mehrko- lands entwickelt. sten. Da ist zum einen die Entsorgung von Hundert- Meine Damen und Herren, zum Glück ist Deutsch- tausenden von Tonnen Munition verschiedener Art land heute nur noch von Demokratien umgeben. Aber und die Vernichtung von Wehrmaterial. Es handelt die Hauptaufgabe unserer Streitkräfte bleibt auch in sich um Altlasten der ehemaligen Nationalen Volks- einer Zeit der Entspannung bestehen: die Fähigkeit armee, die uns ein schwieriges Erbe hinterlassen und Bereitschaft zur Verteidigung. Dieser Auftrag ist hat. in Art. 87 a des Grundgesetzes festgeschrieben. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Einmann- In Europa gelten zwar neue sicherheitspolitische gesellschaft!) Bedingungen, aber wir brauchen auch in Zukunft eine kleinere, jedoch leistungsfähige Bundeswehr. Halb- Für die Beseitigung besteht ein Mehrbedarf von herzige Lösungen würden den Sicherheitsauftrag 93 Millionen DM. Es zeigt sich, daß auch Abrüstung nicht genügend ernst nehmen. Leistungsfähig sein leider nicht zum Nulltarif zu haben ist. heißt, daß auch eine entsprechend moderne techni- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Auch das sche Ausstattung und Ausbildung gegeben sein müs- stimmt!) sen. Abrüstung kostet zunächst einmal viel Geld. Auch wenn wir es gerne hätten: Unsere Welt ist lei- der keineswegs völlig konfliktfrei und risikolos ge- Wir wollen die Entsorgung von Munition so schnell worden. Die Stabilität ist in vielen Gebieten der Erde wie möglich, einmal aus Sicherheitsgründen und gefährdet. In der ersten Lesung des Haushalts 1992 dann wegen der Kosten der Lagerung und Bewa- hat der sozialdemokratische Kollege Kolbow zu Recht chung. darauf hingewiesen, daß Europa als Ganzes oder re- Zugelegt haben wir auch bei den Bewachungsko- gional möglicherweise auch künftig Risiken, Konflik- sten, und zwar um 135 Millionen DM. Damit wollen ten und Gefährdungen ausgesetzt sein wird, wir die Bewachung von Munitions- und Gerätelagern (Zuruf von der FDP: Das ist an sich ein ver- in den neuen Bundesländern auf gewerbliche Bewa- nünftiger Mensch, der Herr Kolbow!) chung umstellen. die eine militärische Vorsorge angeraten scheinen las- Das Verhältnis der Betriebsausgaben zu den Inve- sen. Ich meine: Wo der Kollege Kolbow recht hat, da stitionen hat sich gegenüber dem Etat des Vorjahres hat er recht. nochmals deutlich verändert. Der Anteil der Betriebs- ausgaben — dazu gehören auch die Lohnkosten — ist (Erwin Horn [SPD]: Der hat immer recht!) auf 74,8 To gestiegen. Der Anteil der Investitionen ist Für eine ethisch verantwortbare internationale Si- auf 25,2 % gesunken. Der Investitionsanteil wird also cherheitspolitik brauchen wir daher aus vielen Grün- immer geringer. den eine geeignete defensive Luftverteidigung, Die Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Er- (Zuruf von der SPD: Eine neue Regierung probung gehen stark zurück. Daher ist für neue Vor- brauchen wir!) haben faktisch kein Spielraum vorhanden. Wir kön- nen aber laufende Entwicklungen weiterführen. damit wir im Ernstfall unsere Bevölkerung und le- benswichtige Einrichtungen wirksam schützen kön- Bei den militärischen Beschaffungen müssen neue nen. Das geht auf Dauer nicht mit Uraltflugzeugen Schwerpunkte gesetzt und die Stückzahlen bei vielen wie der Phantom, die in einigen Jahren schrottreif sein laufenden Vorhaben verringert werden. werden und ausgemustert werden müssen. Die Ansätze für die Materialerhaltung haben wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) knapp gehalten, so daß die Abstände bei der Instand- setzung verlängert und bei der Beschaffung von Er- Diese Überlegungen waren die Grundlage dafür, satzteilen gestreckt werden müssen. ein europäisches Jagdflugzeug zu planen. Einen sehr hohen Stellenwert besitzt für uns die (Zuruf von der SPD: Wie heißt denn das?) dringende Verbesserung der Kasernen in den neuen Es sollte eine lange Lebensdauer haben, flexibel und Bundesländern. Die Sanierung der Duschräume und zeitgemäß sein und bei jedem Wetter verwendbar Toiletten, der Küchen und Speisesäle duldet keinen sein. Fachleute wissen, daß der sogenannte Jäger 90 Aufschub. In vielen Heizungsanlagen wird noch die keine Ang riffswaffe ist. Bis heute haben wir für dieses schwefelreiche Braunkohle genutzt. Es gibt hohe gemeinsame europäische Flugzeug allerdings nur die Energieverluste wegen fehlender Wärmedämmung. Entwicklungsphase beschlossen. Das ist extrem umweltschädigend und unwirtschaft- lich. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es!) Diese Verbesserung der Infrastruktur wird mit ei- nem Sofortprogramm von 625 Millionen DM finan- Die Verträge wurden vor drei Jahren unterzeichnet. ziert. Davon stammen 20 Millionen DM aus dem Ge- An dem Projekt beteiligen sich Großbritannien, Italien meinschaftswerk Aufschwung Ost. Sollte die Bauka- und Spanien. Wir werden jetzt, bevor weitergehende pazität im Osten schneller als geplant erweitert wer- Beschlüsse gefaßt werden, alle Alternativen gewis- senhaft untersuchen. den können, können zusätzliche Mittel bis zu 1 Milli- arde DM in die neuen Bundesländer fließen. Die Bun- (Zurufe von der SPD) 5064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Gerd Strube Wir Parlamentarier sollten mit den Parlamentariern Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Wir haben unserer Partnerstaaten deren aktuelle Einstellung mit dem Verteidigungshaushalt ein Zahlenwerk vor- zum Jäger 90 erörtern. gelegt, mit dem wir und die Bundeswehr leben kön- nen. Mein Dank gilt der Zuarbeit des Ministeriums Die sowjetische MiG 29 könnten wir theoretisch und meinen Mitberichterstattern für die gute Zusam- übernehmen und wir könnten weitere Flugzeuge die- menarbeit. Weil wir Christdemokraten auch weiterhin ses Typs kaufen. Die Bundeswehr hat die MiG 29 ge- eine gut ausgebildete und technisch gut ausgerüste- testet. Sie hat sich als leistungsfähiges Flugzeug er- tete und motivierte Bundeswehr brauchen, stehen wir wiesen. zu diesem Haushalt. Die nachdenklichen und verant- (Walter Kolbow [SPD]: Auf den Be richt war- wortungsbewußten Kollegen der Opposition fordere tet der Ausschuß heute noch!) ich auf, mit der Regierungskoalition gemeinsam die Sicherheits- und Verteidigungspolitik fortzuführen Die MiG 29 ist aber im laufenden Bet rieb nicht wirt- und dem Haushalt 1992 zuzustimmen. schaftlich. Der Wartungsaufwand bei den Triebwer- Ich bedanke mich. ken ist relativ hoch. Die Versorgung mit Ersatzteilen kann zu Schwierigkeiten führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD) Flugzeuge im Ausland zu kaufen macht volkswirt- schaftlich wenig Sinn. Sollte das gemeinsam entwik- kelte Jagdflugzeug in der Bundesrepublik produziert Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- werden, so fließt in Form von Steuern und Abgaben teile ich der Abgeordneten Frau Lederer das Wort. eine erhebliche Summe wieder dem Bundeshaushalt zu. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte, mein spätes Es gibt, meine Damen und Herren, nach Ansicht der Kommen zu entschuldigen. Das ist auch so eine kleine Union, sehr wohl vernünftige Gründe, die auch für Benachteiligung der Gruppen, daß sie im Untersu- den Jäger 90 sprechen. Holzschnittartige Formeln chungsausschuß „Kommerzielle Koordinierung" im- und Schlagworte ersetzen bei diesem Thema keine mer erst am Schluß das Fragerecht kriegen. vernünftige Diskussion. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Ich komme zum Thema. Zuruf von der CDU/CSU: Mit Worthülsen (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) kann man schlecht fliegen!) — Wollen Sie mal vielleicht kurz zuhören und bei der Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein Sache bleiben, ganz ruhig; ich habe noch gar nicht anderes Thema ansprechen. Die Bundeswehr hat angefangen. neue und erweiterte Aufgaben übernommen. Z. B. Der Entwurf des Einzelplans 14 — der Militärhaus- war sie in der Kurdenhilfe tätig, und Soldaten haben halt — soll angeblich auf die entspannte internatio- bei Naturkatastrophen geholfen. nale Lage zugeschnitten sein. Bei manchen Äußerun- Zu den erweiterten Aufgaben gehört es auch, daß gen könnte man annehmen, die Bundeswehr stünde die Bundeswehr auf die berechtigten Forderungen vor dem Aus. Daß dem nicht so ist, wissen wir aus dem des Umweltschutzes reagiert. Verteidigungsfähigkeit sicherheitspolitischen Bekenntnis der Bundesregie- und Umweltschutz müssen miteinander verknüpft rung. werden. Umweltsünder können auch durch die Bun- Drei Aspekte kennzeichnen diesen Haushalt: deswehr bekämpft werden. Erstens. Die behauptete Reduzierung des Etats ist (Zuruf von der SPD: Wie denn?) keine. Zweitens. Zahlreiche Kosten für Militärisches sind Die Industrie muß ebenfalls ihren Beitrag für eine zur Kaschierung des wahren Umfangs in andere umweltfreundlichere Bundeswehr leisten. Es muß Haushalte ausgelagert. eine Selbstverständlichkeit sein, nur noch umweltver- trägliche Produkte und gesundheitlich unbedenkliche Drittens steht der Etat für die militärpolitischen Stoffe zu verwenden. Ziele der Bundesregierung, nämlich für den weltwei- ten Einsatz einer modernisierten Bundeswehr. Ein Beitrag zu einem ökologischen Verhalten sind Zum ersten Aspekt. Eine nominelle Reduzierung auch Manöver an Computersimulatoren. Im Umwelt- des Militärhaushaltes von sage und schreibe 35 Mil- schutz kann die Bundeswehr auch ein Vorreiter sein. lionen DM — das macht 0,06 % aus — ist angesichts Aus diesem Anlaß finden in einem sechsmonatigen des völligen Wegfalls der behaupteten Bedrohung aus Modellversuch Fahrtests mit Biokraftstoff in der dem Osten ein schlechter Witz. Dieser Betrag dürfte Wehrtechnischen Dienststelle in Trier statt. Last- wohl kaum den Kosten für die Tragflächen auch nur wagen und Panzer werden mit Rapsöl-Methylester eines einzigen Jäger 90 entsprechen. betrieben. Für die Versuche werden 1992 Kosten in Mit dem zweiten erwähnten Charakteristikum des Höhe von 1,8 Millionen DM erwartet. Bei positiver Bewertung sollten die Fahrzeuge der Bundeswehr Haushalts soll vor allem die Öffentlichkeit für dumm verkauft werden. Was sich an Militärkosten in harm- mittelfristig mit Kraftstoff aus nachwachsenden Roh- los klingenden anderen Haushaltstiteln verbirgt, ist stoffen betrieben werden. die nächste Provokation. Zum Beispiel befinden sich (Beifall bei der CDU/CSU) die Kosten für den Golfkrieg wieder im Einzelplan 60 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5065

Andrea Lederer unter dem irreführenden Titel „Allgemeine Finanz- deswehr in die Lage versetzen soll, international ein- verwaltung" . Für die sogenannte Ersatzbeschaffung zugreifen. Das deutsch-französische Korps ist als für Bundeswehrmaterialien wird gegenüber dem Vor- möglicher Kern einer weltweit operierenden Eingreif- jahr fast der doppelte Betrag angesetzt. Insgesamt lei- truppe gedacht. stete die Bundesrepublik den drittgrößten Beitrag zu diesem Krieg. Die sogenannte zivile Verteidigung soll (Zuruf von der CDU/CSU: Weltweit?) 954 Millionen DM kosten. Auch das ist Vorbereitung Herr Klose hat bereits heute morgen nachgefragt, auf den Kriegsfall. Die Kosten für militärisch relevante welche Aufgaben dieses Korps übernehmen so ll. Die Forschung sind im Einzelplan des BMFT zu finden. Antwort ist bislang ausgeblieben. Und wollen wir wetten, daß es noch einen Nachtrags- haushalt im nächsten Jahr geben wird! (Zuruf von der CDU/CSU: Frau Kollegin, Ich komme aber zum dritten Charakteristikum die- wissen Sie, wieviel Mann ein Korps um ses Haushalts, und das ist das gefährlichste. Der Haus- faßt?) halt orientiert sich bereits jetzt auf die zukünftigen Die Bestrebungen, solche Bundeswehreinsätze Aufgaben der Bundeswehr „out of area". Dazu ge- über die WEU oder andere internationale Organisatio- hört z. B. die Umrüstung der Boeing 707 zum Tank- nen zu ermöglichen, die Vorstöße, den Vertrag über flugzeug. die Politische Union zugleich als Freiticket für Out- Ich komme zum Lieblingsspielzeug der Regierung, of-area-Einsätze der Bundeswehr zu nutzen, sprechen dem Wahnsinnsprojekt des Jäger 90. Dieses Flug- Bände. So meint doch Herr Lamers, die Ratifizierung zeug, das bis heute nur den eigenen Preis in die Höhe des Vertrages über die Europäische Politische Union jagt und die politischen Entscheidungsträger hinter- werde das Problem lösen. Der Verteidigungsbegriff herhecheln läßt, sollte ja auch eine Antwort auf die des Vertrages orientiere sich nämlich an der UN- Bedrohung aus dem Osten sein. Der Einzelpreis für Charta und nicht an der Einschränkung des Grundge- einen Jäger 90 beträgt nach neueren Berechnungen setzes. schlanke 135 Millionen DM. Nun, die Bedrohung ist Was dieser Verteidigungsbegriff allerdings bein- weg, aber Politiker und Militärs versuchen, zu retten, haltet, wurde uns zu Beginn dieses Jahres in aller Bru- was jedenfalls aus ra tional nachvollziehbaren Grün- talität und Grauenhaftigkeit vor Augen geführt. „Je den nicht zu retten ist. mehr ihr schwitzt, um so weniger blutet ihr im 830 Millionen DM sind nächstes Jahr für die Erfor- Kriege", so General Schwartzkopf zu seinen Jungs im schung des Jäger 90 vorgesehen. Stellen wir doch Golfkrieg. Das ist der finstere, aber reale Ke rn dessen, jetzt dem einmal das gegenüber, was beispielsweise was sich hinter all den schönen Worten von „europäi- die neue Ausländerbeauftragte für die Arbeit in ihrem scher Sicherheitsarchitektur", „europäischen NATO- Bereich erhält, der die öffentliche Diskussion derzeit Pfeilern" und „institutionalisierter Zusammenarbeit in Atem hält: Da wird gefeiert, daß dieser Etat von mit den Staaten Osteuropas" verbirgt. 100 000 DM auf 500 000 DM heraufgesetzt wird und sie künftig mit 16 Mitarbeitern den Rassismus in die- Es wäre sinnvoller, den Einzelplan 14 in einen Kon- sem Land bekämpfen soll. Der Göttinger Ausländer- versionsplan umzuwidmen, Gelder für eine sozialver- beirat z. B. muß mit nur 70 000 DM in einem Jahr aus- trägliche Konversion auszugeben. Unter einer derar- kommen. Und zehn Flugblätter einer örtlichen Ini tia- tigen Konversion ist aber nicht zu verstehen, daß die tive gegen Fremdenhaß kosten rund 5 000 DM, die in Bundeswehr „humanitäre Aufgaben" übernimmt. der Regel nur durch Spenden aufgebracht werden Dieser Vorschlag wurde von den dafür zuständigen können. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, die 830 Mil- Organisationen zu Recht mit wenig Begeisterung auf- lionen DM Forschungsgelder für den Jäger 90 im genommen. Wozu zivile Aufgaben an das Militär Jahre 1992 würden der Arbeit gegen Rassismus und übertragen, wenn es doch mehr als genug zivile Orga- der Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen nisationen gibt, die sich um solche Aufgaben küm- zugute kommen. Ich bin überzeugt, wir hätten hier mern und die froh wären, wenn sie mehr finanzielle ziemlich schnell eine andere Situation. Aber zu sol- Unterstützung bekommen würden? Da also diese In- chen Schritten soll es eben nicht kommen. frastruktur bereits existiert, könnte man Gelder aus dem Einzelplan 14 abziehen und diesen Organisatio- Die Bundeswehr steht vor der größten Umstruk- nen zuführen. Dann könnten diese Menschen für ein turierung seit ihrer Gründung; sie selbst bezeichnet vernünftiges Einkommen arbeiten. Soziale Tätigkei- es als größte Herausforderung. Der Kollege Lamers ten sollten jedoch keineswegs unter militärische Kura- hat ja gerade erst wieder mit unerfreulicher Deutlich- tel gestellt werden; denn wer hilft, hilft lieber freiwil- keit gesagt, worum es ihm und seinen Gesinnungsge- lig und hat auch das Recht, davon leben zu können. nossen geht. Die Bevölkerung in diesem Lande, insbesondere in (Zuruf von der CDU/CSU: Wie? Habe ich den neuen Bundesländern, würde tiefgreifende Ein- richtig gehört, Frau Kollegin: Gesinnungs sparungen im Rüstungshaushalt nicht nur mittragen, genossen?) - sondern auch begrüßen. — Es ist ja immer eines Ihrer Er will, daß die Bundeswehr auch in Jugoslawien ein- Argumente, daß Sie sagen, das werde nicht mitgetra- gesetzt wird, und sieht keine Hinderungsgründe — gen. In diesem Fall stimmt es auf keinen Fall. nicht einmal historische. Die Streichungsanträge der SPD gehen sicherlich in Nein, was uns hier als Kosten für die Umstrukturie- diese Richtung, wenn auch aus unserer Sicht nicht rung der Bundeswehr verkauft wird, ist nichts anderes weit genug. Wir sind allerdings auch der Auffassung, als die Kosten für eine Modernisierung, die die Bun- daß die Anträge der SPD nur dann glaubwürdig sein 5066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Andrea Lederer können, wenn in der politischen Debatte nicht gleich- Nach den vorbereiteten Berichterstattergesprächen zeitig ganz andere Töne mitschwingen. im Bundesministerium der Verteidigung war mir klar, Jetzt wurde den Blauhelmtruppen das Jawort gege- daß die SPD den Etat des Verteidigungsministers in ben. Die gesamte Friedensbewegung hat prognosti- dieser ersten Lesung für den Versuch nutzen würde, ziert, daß es dabei nicht bleiben wird. sich gegenüber der Koalition zu profilieren. Es soll in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt werden, daß Ich frage nur einmal nach: Trifft es zu, was Herr die SPD die Zeichen der Zeit besser erkannt hätte und Engholm sagt, nämlich daß die Stimmung in der SPD friedliebender als die Koalition wäre; denn anders zugunsten eines Ja zu UNO-Kampfeinsätzen mit sind die teilweise äußerst unse riösen Sparvorschläge deutscher Beteiligung langsam wächst? in einer Größenordnung von nicht 4 Milliarden DM, (Zuruf von der SPD: Quatsch! — Zuruf von Herr Kollege Jungmann, sondern von 3,3 Milliarden der FDP: Es ist so!) DM überhaupt nicht zu erklären. Und ist die Äußerung Ihres frischgewählten Frak- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — tionsvorsitzenden Klose Signal, wonach die vorbehalt- Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] ' [SPD] lose Unterschrift bei der Begründung der UNO-Mit- meldet sich zu einer Zwischenfrage) gliedschaft auch zur Beteiligung an allen UNO-Ein- — Gegen Zwischenfragen habe ich nichts einzuwen- sätzen berechtige? Wir fragen nur nach, weil wir ein den. Interesse daran haben, genau diese Entwicklung mit Ihnen zu verhindern. Lassen Sie mich beispielhaft nur auf einen Punkt eingehen. Im Haushaltsplan sind an Entwicklungsko- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sie hät sten für den Jäger 90 — — ten heute morgen zuhören sollen!) (Unruhe) Meine Damen und Herren, auf der einen Seite das Wort „Frieden" in den Mund zu nehmer — das bet rifft —Ich glaube, Herr Jungmann möchte eine Zwischen- die Bundesregierung — und auf der anderen Seite die frage stellen. eigene Kriegsbefähigung vorzubereiten, auf der ei- nen Seite Abrüstungsparolen fernsehgerecht zu ver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- breiten und auf der anderen Seite am Projekt Jäger 90 geordneter, dann haben wir Sie mißverstanden. Sind verbissen festzuhalten, sich auf der einen Seite angeb- Sie also bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? lich um den Frieden in der Welt verdient zu machen und auf der anderen Seite gleichzeitig Rüstungsex- porte nicht nur nicht einzudämmen, sondern durch die Carl-Ludwig Thiele (FDP): Ja. eigenen Geheimdienste sogar noch zu befördern, das nennt sich wirklich Unglaubwürdigkeit. Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Kollege Wir lehnen den Einzelplan 14 wie auch a ll die Haus- Thiele, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß haltsposten ab, die mit Militär zu tun haben. Ausgaben für militärische Beschaffung nicht nur in Ich bedanke mich. Einzelplan 40, sondern auch in Einzelplan 60 etati- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) siert sind? (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Wir sind doch keine Klippschüler!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat — Aber wahrscheinlich hat Herr Thiele den Antrag der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele das Wort. nicht richtig gelesen. Denn dort stehen immer noch 500 Millionen DM — 120 Millionen DM haben Sie ja Gott sei Dank gestrichen; aber auch das ist zuwenig. (FDP): Lieber Präsident! Sehr Carl-Ludwig Thiele Und wenn Sie 3,5 Milliarden und 0,5 Milliarden zu- verehrte Damen und Herren! Ich möchte zunächst sammenzählen, dann kommen 4 Milliarden heraus. einmal betonen, daß ich mich auf eine lebhafte Aus- einandersetzung gefreut hatte. Aber nachdem ein großer Teil der Haushaltsausschußmitglieder der SPD Carl-Ludwig Thiele (FDP): Herr Kollege Jungmann, gerade bei diesem Thema den Raum verlassen hat, ich wollte das eben beantworten. Ich habe mir diese wird das wahrscheinlich nicht der Fall sein. beiden Anträge der SPD sehr genau angesehen. Da ist (Zuruf von der CDU/CSU: Die rechnen jetzt zum einen der Antrag zum Jäger 90, zum anderen der nach!) Gesamtantrag, der u. a. auch den Ansatz des Jäger 90 enthält. Auf Grund der Wortmeldung der Kollegin Lederer möchte ich diese Gelegenheit nutzen, erst einmal der (Widerspruch bei der SPD) Bundeswehr für ihren friedlichen Einsatz den Dank —Aber nein, im ersten steht er nicht. Dazu komme ich auszusprechen. gleich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) - (Erwin Horn [SPD]: Der kriegt doch teilweise Denn die Bundeswehr war im Gegensatz zu der NVA die Zustimmung Ihrer Fraktion!) defensiv ausgerichtet — nicht offensiv — , ebenso wie — Daran kann ich doch nichts machen. Ich stimme die NATO im Gegensatz zum Warschauer Pakt. Ich dem aber nicht zu, Herr Horn. wäre Ihnen dankbar, Frau Kollegin Lederer, wenn Sie Jetzt möchte ich aber die Zwischenfrage beantwor- auch dies zur Kenntnis nehmen könnten. ten. Ich habe die Zahlen Ihres Antrages addiert. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) komme auf 2,83 Milliarden DM plus — das ist der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5067

Carl-Ludwig Thiele Ansatz für den Jäger 90 — 830 Millionen DM; das Ich könnte mir durchaus vorstellen: Da die Entwick- sind in der Summe 3,663 Milliarden DM. lung fast am Ende ist, ist derzeit ein Ausstieg aus der (Widerspruch bei der SPD) Entwicklung möglicherweise sogar teurer als ein Fort- führen der Entwicklung. — Mir liegt Ihr Antrag vor; da steht es d rin. Ich habe die Zahl Ihres Antrages nachgerechnet. (Beifall des Abg. Günther F riedrich Nolting (Zuruf von der FDP: Nachrechnen, das hat [FDP]) die SPD noch nie gemacht!) Dazu gibt es entsprechende Gutachten des Bundes- Die Koalitionsfraktionen haben im Haushaltsaus- rechnungshofes. Die habe ich mit. schuß Einsparungen in einer Größenordnung von (Erwin Horn [SPD]: Bitter an der Sache ist, 376 Millionen DM vorgeschlagen. Wenn Sie diese be- daß Sie für eine Fehlentscheidung jetzt die rücksichtigen, dann bringt Ihr Ansatz — den können Konsequenzen übernehmen müssen!) Sie nicht mit dem Regierungsansatz vergleichen; viel- mehr müssen Sie das nehmen, was im Parlament be- — Gut, aber wir haben zumindest dahingehend einen schlossen werden wird — gegenüber dem Ansatz, der Konsens, daß auch Sie der Auffassung sind, daß man hier beschlossen werden wird, eine Einsparung in diese Streichung zwar deklaratorisch fordern kann, Höhe von 3,287 Milliarden DM. Insofern klingen daß man aber faktisch das Geld dennoch bezahlen 4 Milliarden zwar flotter, gehen aber leider an der muß. Insofern wäre ich erfreut, wenn die SPD das auch Sache vorbei. in dieser Deutlichkeit sagen könnte. Ihre Ausführungen zum Jäger 90 gehen ohnehin an (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Sache vorbei. Darauf komme ich jetzt noch. Denn der CDU/CSU) wie wollen Sie mir erklären, man könne momentan Für die FDP möchte ich an dieser Stelle erklären, aus dem Projekt aussteigen, ohne auch nur eine Mark daß wir die positiven Veränderungen in der Welt, die bezahlen zu müssen? Das ist mir unbegreiflich. Denn durch die deutsche Einheit hervorgerufen wurden, Verträge sind zu halten; das ist allgemeine Rechts- begrüßen. Wir sehen diese Veränderungen als glück- grundlage und im politischen Bewußtsein dieses Hau- liches Ergebnis einer von der sozialliberalen Koalition ses verankert. Ich bin sehr überrascht darüber, daß — zunächst unter Außenminister und sich die SPD in dieser Diskussion von dem erwähnten dann fortgeführt von Hans-Dietrich Genscher — ein- Rechtsgrundsatz entfernt. geleiteten Entwicklung einer Öffnung der Grenzen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — zum Osten. Nach meiner innersten Überzeugung muß Günther Friedrich Nolting [FDP]: Jungmann, unsere Politik — und gerade die Sicherheitspolitik — setzen! Fünf!) derzeit aber eine vorsichtige Ostöffnung unter Beibe- haltung unserer Westbindung unternehmen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine wei- Wie Sie wissen, haben wir auf unserem Bundespar- tere Zwischenfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter teitag in Suhl ausführlich über die Wehrpflicht debat- Horn. tiert. Angesichts der nahezu täglichen Veränderun- gen in der Welt haben wir es für richtig gehalten, die Diskussion zu diesem Thema zunächst parteiintern Erwin Horn (SPD): Herr Kollege, Sie schneiden ein weiterzuführen und dabei die Veränderungen, die wichtiges Thema an. Aber sind Sie nicht der Auffas- sich derzeit in einem rasanten Tempo in der Welt voll- sung, daß sich eine Partei oder eine Fraktion, die ziehen, zu beobachten. Deshalb möchte ich an dieser lange vor diesem Projekt gewarnt hat, nicht durch Stelle alle davor warnen, kurzfristig Festlegungen zu eine einseitige Entscheidung der Regierung, die die- treffen; denn es könnten auch Festlegungen in eine ses Projekt durchgeboxt hat, ins Obligo nehmen las- falsche Richtung sein. sen kann, wenn man sieht, daß dieses eine Fülle von Problemen finanzieller Art nach sich zieht, die kaum (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten noch zu bewältigen sind? der CDU/CSU) Der Anteil der Verteidigungsausgaben ist zunächst Carl-Ludwig Thiele (FDP): Herr Horn, ich hatte ja von der Regierung gemäß der Koalitionsvereinbarung gestern die Freude, Sie persönlich kennenzulernen. um 1,5 Milliarden DM abgesenkt worden. Durch die hohen Tarifabschlüsse (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) im öffentlichen Dienst für die Lohnrunde 1991 sind die Kosten — die Hälfte davon — Ja, das war eine Freude, weil Herr Horn ausdrück- sind Personalkosten — in diesem Etat um fast 1,5 Mil- lich der Privatisierung von Wohnungen in den neuen liarden DM gestiegen. Der Regierungsentwurf sah Bundesländern zugestimmt hat. Das hatte ich gefor- deshalb einen sinkenden Ansatz von „nur" 35 Millio- dert. Insofern war das eine einzige Freude. nen DM vor. Durch die Arbeit des Haushaltsausschus- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) ses wurde — vorbehaltlich der Zustimmung dieses Ich möchte Ihnen sagen: Ich habe Verständnis da- Hauses, die ich vermute — eine Reduzierung um wei- für, daß Sie sich nicht ins Obligo nehmen lassen wol- tere 376 Millionen DM und damit um mehr als len. Aber haben Sie bitte auch Verständnis dafür, daß 400 Millionen DM erreicht. ich dann sagen muß: Solange die Verträge geschlos- Ohne Berücksichtigung der Mehrkosten für die sen sind, können Sie zwar deklaratorisch sagen, daß Lohnrunde 1991 würden damit die Verteidigungsaus- Sie das lieber nicht hätten, aber Sie sind wohl nicht in gaben um 3,6 % sinken. Damit sinkt der Gesamtanteil der Lage zu sagen, daß wir dafür keinen Haushaltsan- der Verteidigungsausgaben — gemessen an den ge- satz bräuchten. samten Bundesausgaben, wie Herr Kollege Strube das 5068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Carl-Ludwig Thiele auch schon dargestellt hat — gegenüber 1991 von 12,8 Minenjagdboote aus dem Einzelplan 14 herauszuneh- auf 12,3 %. Meine Damen und Herren, ich habe den men und in den Einzelplan 60 einzustellen. Ferner festen Eindruck, daß in der Öffentlichkeit überhaupt sollten Personalausgaben um weitere 120 Millionen nicht bekannt ist, daß dies der niedrigste Anteil eines DM reduziert werden. Hierdurch wäre etwas Luft ent- Verteidigungshaushalts am Gesamthaushalt seit 1956 standen, und diese Luft sollte für die U-Boote genutzt ist. werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Bei der Vorbereitung durch die Koalitionsabgeord- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das hat neten wurde dann beschlossen, für die U-Boote kei- Herr Strube schon erzählt!) nen Baransatz für 1992 einzustellen und lediglich eine — Ich habe ja auch bestätigt, daß der Herr Kollege Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 2,5 Milliar- Strube das gemacht hat. Da Sie dem zustimmten, Herr den DM aufzunehmen. Diese Verpflichtungsermäch- Jungmann, freue ich mich, daß die SPD das wohl ähn- tigung wurde dann allerdings noch qualifiziert ge- lich sieht. sperrt. Kurzfristig wird schon Mitte der 90er Jahre der An- Als kurz vor der Sitzung des Haushaltsausschusses teil des Verteidigungshaushalts an dem Gesamtetat der Antrag der Haushaltsgruppe von CDU/CSU und auf unter 10 To sinken. FDP als 41. Ergänzung zu der Ausschußdrucksache 12/500 vorlag, stellte ich fest, daß trotz einer Herein- Lassen Sie mich nun zu dem Etat des Verteidi- nahme von 2,5 Milliarden DM als zusätzliche Ver- gungsministers einige Punkte konkret ansprechen. pflichtungsermächtigung der Ansatz der Verpflich- Als ich am 1. und 2. Oktober dieses Jahres zu dem tungsermächtigungen um 91 Millionen DM, also um Berichterstattergespräch auf der Hardthöhe war, fast 100 Millionen DM, reduziert war. wurde unter Kapitel 1418 — Schiffe und Marinege- rät — die beabsichtigte Beschaffung von U-Booten Mir leuchtete nicht ein, daß man eine zusätzliche angesprochen, die in dem Regierungsentwurf nicht Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 2,5 Milliar- enthalten ist. Während die Begründung für die Be- den DM in den Haushalt hineinnimmt und im Ergeb- schaffung der U-Boote gegeben wurde, war an den nis trotz dieser Hereinnahme ein Weniger von rund Gesichtern der Inspekteure für das Heer und die Luft- 100 Millionen DM in den Verpflichtungsermächtigun- waffe unschwer zu erkennen, daß zumindest diese gen zu finden war. Üblicherweise hätte ich erwartet, Teilstreitkräfte mit dem neuen Beschaffungsvorhaben daß diese Ungereimtheit auch den Vertretern der Re- — um es gelinde zu sagen — erhebliche Bauch- gierung aufgefallen wäre. Ich gehe allerdings auch schmerzen hatten. davon aus, daß den Vertretern der Regierung diese (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist immer Ungereimtheit zu diesem Zeitpunkt bekannt war. so!) An dieser Stelle möchte ich noch einmal ausdrück- Wir haben uns dann während der Berichterstatter- lich auf die Gewaltenteilung innerhalb unseres Staa- gespräche darauf geeinigt, daß der Verteidigungsmi- tes und die besondere Rolle des Haushaltsausschus- nister diesen Punkt zunächst zurückstellen, ihn im ses gegenüber der Bundesregierung eingehen. Die eigenen Haus abklären und dann mit einer Vorlage, Regierung hat Entscheidungen des Parlamentes vor- die mit dem Finanzminister abgestimmt ist, wieder in zubereiten und getroffene Entscheidungen des Parla- den Haushaltsausschuß kommen sollte. mentes auszuführen. Im Rahmen der Vorbereitung des Haushalts inner- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin halb unserer Fraktion wurde dieser Punkt dann von gen] [FDP] und des Abg. Helmut Wieczorek uns Haushältern angesprochen. Die FDP-Fraktion be- [Duisburg] [SPD]) schloß daraufhin, für 1992 keine Mittel für die Be- Vor allem ist es die Pflicht der Regierung gegenüber schaffung eines solchen U-Bootes bereitzustellen, den Abgeordneten, wahrheitsgetreue Vorlagen zu weil zu diesem Zeitpunkt die Planung über die zu- fertigen. künftige Rolle der Bundeswehr noch nicht abge- schlossen war. Sie ist auch heute noch nicht abge- Ich habe dann diesen Punkt im Haushaltsausschuß schlossen. angesprochen. Zunächst wurden blumige und weit schweifende Erklärungen über irgendwelche Zusam- Ich hatte diese Position innerhalb unserer Fraktion menhänge abgegeben. Nachdem aber weiter gebohrt damit begründet, daß der Verteidigungsetat schon wurde, gab der Haushaltsdirektor des Finanzministe- jetzt Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von riums nach einem längeren Zeitraum ehrlicherweise 16,7 Milliarden DM enthalte; davon entfielen allein zu, daß man sich verrechnet habe. auf den Beschaffungstitel Schiffe 2,9 Milliarden DM. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Un Durch eine Hereinnahme der Mittel für U-Boote glaublich! — Walter Kolbow [SPD]: Das kann wäre diese Verpflichtungsermächtigung nur in die- passieren!) sem Teil um das Doppelte gestiegen. Das hätte meiner Ansicht nach den Handlungsrahmen des Verteidi- Auf Grund dessen sei eine Verpflichtungsermächti- gungsministers für die Zukunft bei der Überlegung,- gung im Haushalt von etwa 2,5 Milliarden DM enthal- wie die neue Bundeswehr aussieht, in unzulässiger ten gewesen, die nicht im Haushaltsplan hätte enthal- Weise eingeschränkt. So argumentierte ich seiner- ten sein dürfen. zeit. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, In der Vorbereitung der Bereinigungssitzung er- Herr Jungmann, daß Fehler gemacht werden können. hielten wir dann entsprechende Papiere seitens des Gerade wer als Abgeordneter, der mit dem Haushalt Verteidigungsministers, die vorsahen, die Mittel für zu tun hat, erlebt, mit welchen Vorlagen man kurzfri- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5069

Carl-Ludwig Thiele stig kommt und was die Verwaltung auch leisten muß, wurde, so ist er immer noch hervorragend geeignet, der hat Verständnis für Fehler. Völlig klar. auf der Grundlage der erwähnten drei Elemente die Ich habe diesen Punkt dem Deutschen Bundestag Frage nach der zukünftigen Struktur der Bundeswehr allerdings deshalb vorgetragen, um deutlich zu ma- zu erörtern. In unseren fraktionsinternen Beratungen, chen, daß es nach meinem Selbstverständnis als Par- die wir daraufhin vorgenommen haben, wurde festge- lamentarier nicht hinzunehmen ist, daß dann, wenn stellt, daß dieser Antrag des Haushaltsausschusses die die Regierung einen Fehler in dieser Größenordnung dringend erforderliche Verbesserung der Führungs- entdeckt — es handelt sich immerhin um 2,5 Milliar- und Ausbildungsstruktur der Bundeswehr nicht ent- den DM — , dieser nicht zugegeben und nicht im vor- hielt. hinein gegenüber uns Abgeordneten klargestellt Der Beschluß wurde dann in einer Arbeitsgruppe, wird, sondern daß dieser Fehler mühsam gegen Wi- der die Kollegen Nolting und Hoyer angehörten — für derstände erfragt und aufgearbeitet werden muß. die Arbeit in dieser Arbeitsgruppe möchte ich mich an dieser Stelle bei den Kollegen ausdrücklich bedan- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rich- ken — , mehrfach so geändert, daß die sogenannte tig!) Führerdichte, d. h. ein besseres Verhältnis von Ausbil- Ein solches Verhalten ist nach meiner Auffassung dern zu Auszubildenden, in diesen Beschluß aufge- nicht dazu angetan, das Vertrauen des Parlamentes nommen wurde. gegenüber der Regierung und in diesem Fall gegen- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ha- über dem entsprechenden Ministerium zu festigen. ben Sie doch verschoben! Darüber ist doch (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Bünd- gar nicht entschieden worden!) nis 90/GRÜNE) — Herr Jungmann, hören Sie doch bitte zu, was ich Sehr verehrte Damen und Herren, ich möchte an sage, was natürlich schlecht geht, wenn man sich zwi- dieser Stelle einen weiteren Punkt ansprechen, bei schendurch unterhält. dem es einen Dissens zwischen dem Verteidigungs- (Helmut Esters [SPD]: Er hat nachgerech minister und der FDP-Fraktion gibt. Dieser Punkt be- net!) zieht sich auf die Reduzierung der Bundeswehr und Da die wesentlichen Kritikpunkte des Verteidi- auf die Frage des „Wie". Daß die Bundeswehr redu- gungsministers von der FDP berücksichtigt wurden, ziert wird, ist ausdrücklich zu begrüßen und von uns hoffe ich, daß wir in dieser Frage zu einem Konsens in allen gewollt. Dieser mutige Schritt des Bundeskanz- der Koalition auf der Basis des FDP-Papieres gelan- lers und des Bundesaußenministers — wir erinnern gen. uns: in der ersten Phase der KSE-Verhandlungen Für die FDP-Fraktion möchte ich dem Deutschen wurde gesagt, wir können eventuell auf 420 000 her- Bundestag ausdrücklich empfehlen, diesem Etat zu- untergehen; im Kaukasus wurde dann von beiden er- zustimmen. klärt, wir sind bereit, eine Vorleistung zu bringen und freiwillig auf 370 000 Mann zu reduzieren — war ein Ich bedanke mich. entscheidender Punkt für das Zustandekommen der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zustimmung zu der deutschen Einheit. Insofern ist das nur zu loben. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer (Beifall bei der FDP und des Abg. Helmut Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Jung- Wieczorek [Duisburg] [SPD]) mann das Wort. In der Frage, wie der Personalhaushalt der Bundes- wehr reduziert werden soll, gibt es allerdings Unter- Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Kollege schiede zwischen der FDP-Fraktion einerseits und Thiele, sind Sie bereit, unseren Änderungsantrag zur dem Bundesverteidigungsminister andererseits. Zum Hand zu nehmen und zu bestätigen, daß auf Seite 4 Haushalt 1991 hat der Haushaltsausschuß einstimmig dieses Antrags gefordert wird, in Kap. 6007 die Aus- einen Entschließungsantrag angenommen, den der gaben in Tit. 554 01 auf 64 Millionen DM herabzuset- Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Rudi Walther, zen, und daß dort nicht gefordert wird, die entspre- jüngst als „Thiele-Papier" bezeichnet hat. chenden Ausgaben um 64 Millionen DM zu kürzen? Dieser Entschließungsantrag beschäftigte sich im Das heißt von 500 Millionen DM soll um 436 Millionen wesentlichen mit drei Elementen; zum einen mit der DM auf 64 Millionen DM gekürzt werden. Die Rech- Frage: Wie soll innerhalb der reduzierten Bundeswehr nung, wie wir dann auf 4,033 Milliarden DM kommen, das Verhältnis zwischen Berufs- und Zeitsoldaten kann ich Ihnen ja draußen einmal aufmachen. einerseits und Wehrpflichtigen andererseits ausse- hen? Der Entschließungsantrag hatte zum anderen die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Frage zum Gegenstand: Wie soll der zukünftige Stel- teile ich dem Abgeordneten Kolbow das Wort. lenkegel innerhalb der Bundeswehr aussehen? In dem Entschließungsantrag wurde schließlich die Frage gestellt: Wie soll das Verhältnis zwischen Sol-- Walter Kolbow (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr daten zu Zivilbeschäftigten zukünftig aussehen? verehrten Damen und Herren! Mein Kollege Jung- mann hat überzeugend dargelegt, daß der Entwurf (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Gute Frage!) des Verteidigungshaushalts für das Jahr 1992 ein Do- Auch wenn dieser Beschluß des Haushaltsaus- kument der Führungsschwäche ist. Daran konnten schusses kurzfristig entstand und wirklich in der Eile auch die bedächtigen Ausführungen des Kollegen — das muß ich ausdrücklich einräumen — formuliert Strube und die bemühten und teilweise sehr interes- 5070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Walter Kolbow santen Ausführungen des Kollegen Thiele nichts än- ausgaben unter 50 Milliarden DM senken könnte. Un- dern; ser Entschließungsantrag stellt darauf ab. Sie sind (Beifall bei der SPD) herzlich eingeladen, sich zu korrigieren und dabei denn dieser Entwurf wird den tiefgreifenden Verän- mitzuwirken, auch auf Grund der in diesem Teil inter- derungen in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht essanten Ausführungen des Kollegen Thiele. gerecht. Er läßt nicht einmal, Herr Bundesminister, (Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] mel ansatzweise Antworten auf die Fragen nach der Zu- det sich zu einer Zwischenfrage) kunft der Bundeswehr erkennen. — Wie immer freue ich mich — auch weil es mir die Noch viel weniger liegt ihm ein längerfristiges aus- Möglichkeit gibt, länger hier zu verweilen — , den gewogenes Konzept für die Streitkräfte der Jahrtau- Kollegen Nolting mit einer Zwischenfrage zu hören. sendwende zugrunde. Dabei wissen wir alle, wie dra- matisch sich die sicherheitspolitischen Rahmenbedin- gungen geändert haben. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dann wol- len wir einmal hören, was er fragt. (Zuruf des Abg. Günther F riedrich Nolting [FDP]) Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Kollege Kol- Dabei darf — Sie sind doch immer mit dabei, Herr bow, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Kollege Nolting — eben nicht mehr nur verwaltet und Einzelplan 14 ca. 50 % für Personalausgaben, ca. 25 % Bestehendes fortgeschrieben werden, sondern es für Betriebsausgaben ausgewiesen sind, daß in die- müssen neue Akzente und Schwerpunkte gesetzt sem Haushalt mehr als 2 Milliarden DM sachfremde werden. Es darf nicht nur eine Schrumpfkur vorge- Ausgaben ausgewiesen sind, und wären Sie bereit, nommen werden, sondern die Devise muß lauten: Re- auch das noch einmal zu bestätigen, was Herr Kollege form, ja Neubegründung unserer Streitkräfte. Thiele erwähnt hat, daß die Gehaltserhöhung für 1991 (Beifall bei der SPD) mit 1,3 Milliarden DM ausgewiesen ist? Der Verteidigungsetat 1992 und dieser Minister garantieren beides nicht. Die politische Führung der Walter Kolbow (SPD): Ich bin nicht nur bereit, dies Hardthöhe hat offensichtlich nicht mehr die Kraft, not- zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr würde uns dies wendige Richtungsentscheidungen zu fällen. Sie hat zusammengenommen — das war auch unsere ge- versagt. Die Entwicklung einer neuen Sicherheits- meinsame Bemühung im Verteidigungsausschuß, politik und Militärstrategie in Deutschland, in Europa was die sachfremden Ausgaben angeht — erlauben, und im Bündnis, die drastische Verringerung der Um- netto zu noch geringeren als den von mir gerade dar- fangszahlen der Streitkräfte, deren Neustrukturie- gelegten Summen zu kommen. Daran wollen wir wei- rung für die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben, ter arbeiten. Aber Sie müssen auch bei uns in der die Bewältigung der Abrüstungsfolgen, die Standorte Richtung, wie ich es gerade ausgeführt habe, mithel- und Rüstungskonversion werden im Haushaltsent- fen. Da ist Ihnen noch ein bißchen Nachhilfeunterricht wurf gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. zu erteilen. Auch das hat Kollege Jungmann überzeugend darge- (Beifall bei der SPD) legt. Dies gilt natürlich auch in Richtung des Bundesmi- Im Gegenteil: An den bisherigen Rüstungs- und nisters der Verteidigung; denn, Herr Dr. Stoltenberg, Ausrüstungsprogrammen wird im wesentlichen un- mit Methoden der 50er Jahre sind die Herausforde- verändert festgehalten. rungen am Ende dieses Jahrhunderts natürlich nicht zu bewältigen. Diese Erkenntnis bricht sich auch in (Horst Niggemeier [SPD]: Das ist der wahre Skandal!) der Fraktion der CDU/CSU mehr und mehr Bahn, in der einige Kollegen versucht haben, das politische Der zu Recht historisch genannte positive Umbruch in Vakuum auf der Hardthöhe mit eigenen Vorstellun- Europa darf nach Auffassung der SPD-Bundestags- gen und Vorschlägen zu füllen. Ganz offensichtlich ist fraktion eben nicht spurlos am Verteidigungsetat und auch Ihre Geduld, meine Damen und Herren, mit dem an den deutschen Streitkräften vorübergehen. Verteidigungsminister am Ende, (Beifall bei der SPD) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wo ist denn Schattenminister Wilz?) Den meisten Bürgerinnen und Bürgern geht es eben nicht in den Kopf, daß der Verteidigungsetat so daß Sie Anfang Oktober die Notwendigkeit sahen, trotz Wegfalls der konkreten massiven Bedrohung mit einem umfassenden Themen-, Thesen- und For- der zweitgrößte Einzelhaushalt bleiben soll. Da än- derungspapier zur Zukunft der Bundeswehr im näch- dern auch die Verhältnisrechnungen, die Sie anstel- sten Jahrzehnt an die Öffentlichkeit zu gehen. Dies len, nichts; denn eine Mark dafür ist weiterhin eine zeigt Ihre tiefe Unzufriedenheit über die Untätigkeit Mark, und 52,5 Milliarden DM bleiben 52,5 Milliar- des eigenen Verteidigungsministers. den DM. - Bei dieser Haltung sind die Leidtragenden in erster Linie die Soldaten. Auf die Fragen nach dem Sinn (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ ihres Dienstes bleiben sie weitgehend ohne Antwort, CSU: Ihr wollt vernebeln!) wie auch der Wehrbeauftragte in der Debatte über Wir behaupten, daß man durch gezielte, die Sicher- seinen Jahresbericht 1990 kürzlich feststellte. Die feh- heit nicht ein Jota berührende Maßnahmen sofort lende Marschrichtungszahl, die er genannt hat, sei über 4 Milliarden DM sparen und die Verteidigungs Ihnen noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5071

Walter Kolbow Die SPD hat den Verteidigungsminister seit langem Dazu ist auch in der außenpolitischen Debatte etwas — leider erfolglos — aufgefordert, den Auftrag für die gesagt worden. Streitkräfte neu zu bestimmen, die Rolle von Streit- Ich muß aber in diesem Zusammenhang den Kolle- kräften im geeinten Deutschland neu festzulegen gen Wittmann als Vorsitzenden des Verteidigungs- (Erwin Horn [SPD]: So ist es!) ausschusses ansprechen. Sie haben am 14. November gemeint, gegen Millionen Flüchtlinge aus dem Osten und das Berufsbild des Soldaten neu zu beschreiben. helfe nur eine einzige Organisation, nämlich die Bun- Nichts von alledem ist bislang geschehen. deswehr, (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Der (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist ein Skan weiß doch gar nicht, was das ist!) dal!) Was soll man aber auch von einem Minister erwarten, — ich zitiere — , „die bedauerlicherweise keinen dessen Maxime „Nichtwissen ist Macht" zu sein Kampfauftrag hat". scheint? Denn unter dieser Überschrift ließe sich die Affäre um die ungenehmigten Waffenlieferungen (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wer hat nach Israel wohl am besten zusammenfassen. das gesagt?) (Beifall bei der SPD — Günther F riedrich Diese abenteuerlichen Vorstellungen schaden den Nolting [FDP]: Wie sieht denn das mit dem Streitkräften sowohl im Inland als auch im Ausland. BND und Herrn Porzner aus?) Diese Ansicht haben Sie bei einer Buchbespre- Wie gut, daß es Medien gibt, damit der Minister we- chung und bei einer Podiumsdiskussion in Anwesen- nigstens erfährt, was in der Bundeswehr geschieht. heit des Kollegen Verheugen zum Ausdruck gebracht. Der Kollege Irmer war auch dabei. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Walter, (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: So et der hört doch gar nicht zu! Deswegen weiß was ist Ausschußvorsitzender! — Weitere der auch nie etwas!) Zurufe von der SPD) — Das ist, wie schon vorhin, sein Pech. Aber wir sind Dies nur zur Verdeutlichung von Positionen, die wir es ja vom Herrn Bundesminister gewöhnt, daß er, nicht hinnehmen können und gegen die wir auch im wenn es darauf ankommt, nicht unbedingt aufmerk- Plenum des Deutschen Bundestages sehr deutlich sam ist. Stellung beziehen wollen. Welche Auswirkungen die derzeitige Unsicherheit (Abg. Dr. Fritz Wittmann [CDU/CSU] meldet hinsichtlich der Zukunft der Streitkräfte hat, zeigen sich zu einer Zwischenfrage) — da werden Sie mir alle zustimmen — die weiter sin- kenden, unzureichenden Freiwilligen - Zahlen; sie — Bitte schön, Herr Kollege Wittmann. sind ein deutliches Warnsignal. Wenn nicht bald ent- scheidend entgegengesteuert wird, verliert die Bun- deswehr mehr und mehr an Akzeptanz in der Bevöl- Dr. Fritz Wittmann (CDU/CSU): Würden Sie bitte kerung. zur Kenntnis nehmen, daß ich das nicht in einem Zu- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: So ist es sammenhang so gesagt habe, wie Sie das jetzt darstel- bei so einem Minister!) len, nämlich in einem Satz? Diese Entwicklung erfüllt uns mit Sorge. Denn wie (Dr. Peter Struck [SPD]: Sondern? — Horst groß und wie ausgerüstet sie auch immer sein mögen: Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Zwei Sätze Wir werden weiterhin Streitkräfte zur Verteidigung sind auch schlimm!) und zur Sicherung unserer Politik- und Bündnisfähig- Es waren zwei verschiedene Sätze. Würden Sie also keit brauchen, Streitkräfte, die wir in die zukünftigen zur Kenntnis nehmen, daß ich gesagt habe, daß die europäischen Sicherheitsstrukturen, in ein gesamt- Bundeswehr in Zukunft nicht nur einen Kampfauftrag europäisches kollektives Sicherheitssystem als unse- haben wird, sondern auch diesen humanitären Auf- ren Beitrag einbringen können. Das, Herr Kollege, ist trag? Dann stimmt es nämlich. sogar Programm der SPD. Aber das lesen Sie ja wie so vieles andere nicht. Deswegen fordere ich Sie noch einmal auf, Ihre Pflichtstudien zu absolvieren. Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Wittmann, Sie (Beifall bei der SPD) werden uns sicherlich Gelegenheit geben, die Aussa- Die neuen Aufgaben der Bundeswehr kann man gen, die Sie gemacht haben, im Gesamtzusammen- aber nicht in erster Linie oder ausschließlich an der hang zu würdigen. Wenn der Gesamtzusammenhang so ist, wie Sie ihn jetzt darstellen, würde ich mich sehr Frage von militärischen Einsätzen out of area — sei es im Rahmen der WEU oder unter der Flagge der Ver- freuen. Denn dann entfiele bei mir eine wesentliche Grundlage für Besorgnisse. Dann würde ich mich bei einten Nationen — festmachen, wie es die Regie- Ihnen in aller Form entsprechend äußern. rungskoalition gar zu gerne tut. Dazu hat mein Frak-- tionsvorsitzender heute morgen die notwendigen (Dr. Fritz Wittmann [CDU/CSU]: Das können Ausführungen gemacht. Auch die lohnt es sich nach- Sie jetzt gleich tun! — Weiterer Zuruf des zulesen. Abg. Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wir haben — Nein, da sind Sie nicht mehr auf dem laufenden. Ich die Zwischenklänge gehört: Bewegung bei bin Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion, Herr der SPD!) Kollege Rose. Ich habe die Pflicht, das aufzunehmen, 5072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Walter Kolb ow was meiner Meinung nach an falschen und bedenkli- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich chen Aussagen gemacht wird. glaube, diese Angelegenheit ist mit der Entschuldi- (Beifall bei der SPD) gung erledigt. Ich bitte, in der Rede fortzufahren.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Walter Kolbow (SPD): Ich will in der mir verbleiben- geordneter Kolbow, Sie sind bereit, auch die Frage den Zeit noch kurz auf die Problematik des Jägers 90, des Abgeordneten Schwarz zu beantworten? — Bitte die zu Recht angesprochen worden ist, eingehen. Ich sehr, Herr Abgeordneter. will Ihnen ganz einfach sagen, daß Sie mit der dekla- ratorischen Argumentation, die Sie von 1988, vom Eintritt in die Entwicklungsphase — allerdings mit der Stefan Schwarz (CDU/CSU): Herr Kollege Kolbow, für uns verbindlichen Forderung, die Entwicklungs- wären Sie bereit, uns mitzuteilen, ob Sie sich auf eine phase überhaupt nicht einzuleiten — bis heute ver- gewissenhafte Quelle, etwa ein Manuskript, ein Ton- fochten haben, recht haben. Aber ich sage Ihnen auch band oder sonst etwas, stützen können, und glauben aus der Erfahrung des Tornado-Untersuchungsaus- Sie, wenn das nicht der Fall ist und Sie das so, wie schusses von 1981 — hier sitzen einige, die dort mit- dargestellt, vom Kollegen Vorsitzenden des Verteidi- gemacht haben — , bei dem ich Berichterstatter war, gungsausschusses entgegennehmen, daß Sie Ihren daß die Kollegen Hirsch, Baum und andere ihrer Frak- Fraktionskollegen Verheugen dazu bewegen können, tion völlig recht haben, wenn sie sagen, sie hätten sich für diese ziemlich unglaubliche Äußerung zu ent- kein Zutrauen in die reale Entscheidungsfreiheit des schuldigen? Bundestages, wenn die Entwicklung des Flugzeuges einmal abgeschlossen sein werde. Es sei zu befürch- ten, daß der sogenannte Sachzwang so groß sein werde, daß mit der Produktion begonnen werde. Ar- Walter Kolbow (SPD): Das ist keine unglaubliche Äußerung. Ich habe hier ein Blatt Papier mit der ent- mutsbekämpfung müsse Vorrang vor Militäroptionen sprechenden Meldung. Das werde ich dem Kollegen haben. Dem haben wir nichts hinzuzufügen. Wittmann dann übergeben. Ich habe keinen Anlaß (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gehabt, an dieser Meldung zu zweifeln. Ich werde das GRÜNE) dann so regeln, wie ich das gerade dem Kollegen Meine Damen und Herren, wir werden diesen Etat- Dr. Wittmann vorgeschlagen habe. entwurf ablehnen. Wir meinen, daß er keine dem re- (Beifall bei der SPD) volutionären Umbruch adäquate Antwort ist. Dann kann der Kollege Wittmann diese mir schrift- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Überhaupt lich vorliegende Quelle entsprechend behandeln. Wir nicht!) können das noch in dieser Sitzung mit einer entspe- Er ist Ausdruck mangelnden Realitätssinns. Wir mei- chenden Erklärung von ihm regeln. Ich habe aber kei- nen, der Verteidigungsetat ist völlig umzubauen, und nen Anlaß gehabt, an dieser bringen dazu unsere Anträge in zweiter und dritter (Zuruf von der CDU/CSU: Dann müssen Sie Lesung ein. eine Beweislastumkehr einführen!) Die Ziele sind: Zweckmäßigkeit für die Auftragser- — nein, nein, beruhigen Sie sich — Quelle zu zwei- füllung der Streitkräfte, politische Wirksamkeit durch feln. Sicherstellen der Bündnisfähigkeit und öffentliche (Dr. Fritz Wittmann [CDU/CSU]: Was ist das Akzeptanz. Diese Herausforderung müssen der Bun- für eine trübe Quelle, die Sie haben?) desminister der Verteidigung und die neue militäri- sche Führung — der ich für ihre Aufgabe, wo immer Wenn Sie mir jetzt die Gelegenheit geben, meine sie sie zu erledigen hat, alles Gute und viel Glück Rede zu vollenden, darf ich Ihnen in aller Deutlichkeit wünsche — annehmen, wenn unsere Streitkräfte meine Position dazu darlegen. — Sie haben ja jetzt Gelegenheit, dazu Stellung zu (Dr. Fritz Wittmann [CDU/CSU]: Dreck- nehmen, Herr Bundesminister — nicht bleibenden sau!) Schaden nehmen sollen. — Das hat der Herr Präsident sicherlich nicht ge- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. hört. (Beifall bei der SPD) (Dr. Fritz Wittmann [CDU/CSU]: Ich nehme alles zurück!) Aber ich habe es gehört. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Kurzintervention erteilte ich dem Abgeordneten Carl (Dr. Fritz Wittmann [CDU/CSU]: Ich ent- Ludwig Thiele das Wort. schuldige mich! — Stefan Schwarz [CDU/ CSU]: Sie waren in der Tat nicht gemeint!) - Wir kämen sicherlich zu einer neuen Bewertung, Carl-Ludwig Thiele (FDP): Herr Kolbow, sind Sie wenn hier Äußerungen aus dem Zoo oder offensicht- bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich auf die Zwi- lich aus der bayerischen Stammtischpolitik gebraucht schenfrage von Herrn Horn erklärt habe, daß das Mo- würden. tiv, welches er vorgetragen hat, von mir anerkannt (Stefan Schwarz [CDU/CSU]. Herr Kolbow, wird, daß es aber trotzdem nicht richtig ist, zu dem Sie waren wirklich nicht gemeint!) Ergebnis zu kommen, daß die Ansätze für die Ent- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5073

Carl-Ludwig Thiele wicklung des Jäger 90 tatsächlich gestrichen werden Meines Wissens sind die anderen Länder nicht bereit, können, weil einfach Verträge bestehen? da auszusteigen; das müssen wir doch zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der FDP — Wolfgang Roth [SPD]: Das können Sie auch einfacher ausdrük- (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) ken!) Als letztes will ich Ihnen ein industriepolitisches Ar- gument sagen, das zumindest mich überzeugt hat. Wie können wir zukünftig an unseren Universitäten noch Ingenieure in den Flugzeugwissenschaften aus- Das Wort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: bilden, wenn wir in Europa keine Flugzeuge mehr hat der Abgeordnete Müller (Wadern). bauen? ( [SPD]: Zivile Flugzeuge bauen!) (Wadern) (CDU/CSU): Herr Hans-Werner Müller Für mich ist das ein Argument. Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben bisher viel Kluges, aber auch weniger Klu- Lassen Sie mich jetzt ein paar Bemerkungen zum ges zu diesem Haushalt gehört. Personal in diesem Haushalt machen. Seit anderthalb Jahren bemüht sich die Hardthöhe, die Kaukasus- (Horst Niggemeier [SPD]: Jetzt kommt das Beschlüsse umzusetzen, nämlich die Zielgröße von weniger Kluge!) 370 000 Soldaten bis 1994 zu erreichen. Es ist kein Zu dem weniger Klugen war die letzte Rede zu zäh- falsches Pathos, wenn ich hier sage: Das ist die größte len. Herausforderung, die die Bundeswehr seit ihrem Auf- Ich will zwei Dinge aufgreifen, zunächst die Sperre bau vor mehr als drei Jahrzehnten zu bewältigen für die Militärhilfe an die Türkei. Wir haben sie nach hat. langer Diskussion gemeinsam im Ausschuß beschlos- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) sen. Aber wir stehen nicht an, wenn die neue Regie- Es stellen sich vier Aufgaben, die ich kurz auflisten rung in der Türkei die entsprechenden Erklärungen will. abgibt, die 25-Millionen-Sperre nach Vorlage der Re- Zum einen ist es die Umgliederung auf neue Struk- gierung wieder aufzuheben. Es hat eine Menge diplo- turen, die mit einem erheblichen Abbau in den alten matischer Initiativen gegeben. Welche türkischen Ge- Bundesländern einhergeht. neralkonsuln sind in den letzten Tagen nicht alle bei uns gewesen? Insofern ist das, was wir erreichen wol- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist was ganz len, durchaus schon eingetreten. Lassen Sie uns das Neues! Sehr originell!) also in aller Ruhe in absehbarer Zeit entsprechend Wer — auch von der Opposition — ist nicht alles in korrigieren. den letzten Monaten auf der Hardthöhe vorstellig ge- Zum zweiten: Ich will zu der ganzen Diskussion worden, um die Bundeswehrstandorte zu erhalten! über den Jäger 90 etwas aus meiner ganz persönli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen, privaten Sicht sagen. Ich bin sicher, daß viele Kollegen das genauso sehen. Da haben doch plötzlich Leute ihr Herz für die Bun- deswehr entdeckt, die wirklich überhaupt nichts mit Erstens. Es ist doch unbestritten, daß wir Ende der der Truppe am Hut haben. 90er Jahre ein neues Flugzeug brauchen. (Zuruf von der CDU/CSU: Alles kalte Krie (Beifall des Abg. Dr. Klaus Rose [CDU/ ger!) CSU]) Politiker aus meinem Bundesland, die man in Mutlan- Zweitens. Mich ärgert gerade aus den Reihen des gen noch hat wegtragen müssen, Haushaltsausschusses immer wieder die blöde Rech- nerei von den 100 Milliarden DM, die das kosten (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht weit ge würde. nug!) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das waren plötzlich die glühendsten Verfechter der Bun- habe ich nie gesagt!) deswehr. Das ist genauso, als wenn Sie sich einen Gebraucht- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wagen für 25 000 DM kauften und sagten, er koste Ich verstehe auch nicht die Tränen, die hier über das 150 000 DM. Wenn Sie ihn zehn Jahre fahren, die angeblich mangelhafte Konversionsprogramm ver- ganze Verzinsung und alle Betriebskosten, Öl und gossen werden. Der Kollege Jungmann — ich sehe ähnliches, hinzurechnen, kommen Sie auf 150 000 ihn jetzt nicht — DM. (Zuruf von der CDU/CSU: Den haben sie So rechnen Sie die 100 Milliarden DM zusammen. auch weggetragen!) Das ist unseriös, insbesondere bei Haushältern. Das- muß Ihnen so einmal gesagt werden! hat völlig übersehen, daß wir die zahllosen Liegen- schaften, die jetzt dort frei werden, mit Haushaltsver- (Beifall bei der CDU/CSU) merken verbilligen, gerade für die Ortschaften, in de- Zum dritten haben wir hier eine 4-Länder-Verein- nen es Standorte gibt. Das ist die größte Verbilli- barung. gungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik. (Zuruf von der SPD: Na und?) Das alles trägt doch zur Überwindung dieser Konver- 5074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Hans-Werner Müller (Wadern) sionslasten mit bei. Aber das alles wird hier nicht ge- worden: Diejenigen, die sich intensiv damit befassen, sagt. Salopp ausgedrückt, bleibt bei der Bundeswehr wissen, daß dieser Plafond sehr knapp bemessen ist. derzeit kein Stein auf dem anderen. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist ja ehren (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Ja, salopp ist al- rührig, was der Herr da von sich gibt!) les, was Sie sagen! Nicht angemessen!) Für eine schlagkräftige Armee brauchen wir eine aus- Zum zweiten will ich hier sagen, daß wir die Bun- reichende Ausstattung. Zum investiven Teil ist hier deswehr Ost mit 50 000 Soldaten einzugliedern ha- schon einiges gesagt worden. ben. Die Standorte werden im Augenblick eingerich- Meine Damen und Herren, wir haben für 1992 Ei- tet. nigkeit über die Abbauschritte erzielt. Kollege Thiele Zum dritten ist das Zivilpersonal, dessen Alters- hat hier ausführlich zu den Diskussionen, die wir auch struktur — die nicht besonders gut ist — wir durch koalitionsintern geführt haben, Stellung genommen. viele Gutachten kennen, in seiner Größenordnung Wie es jetzt weiter verläuft, werden wir in Kürze entsprechend anzupassen. Dies ist eine gewaltige innerhalb der Koalitionsfraktionen beraten; wir wer- Aufgabe. den dann ein Konzept vorlegen. Ich will nicht verheh- Letztlich bringt es die gewachsene politische Be- len, daß es hier noch Abstimmungsbedarf gibt. Wir deutung der Bundesrepublik mit sich, daß wir schon werden ihn aufarbeiten und dann ein Ergebnis vorle- Überlegungen anstellen müssen, unter welchen Be- gen. Das Ziel einer solchen Konzeption muß aber sein, dingungen deutsche Soldaten eventuell auch außer- eine klare — dies ist unsere Absicht — Verbesserung halb unseres Territoriums einzusetzen sind. der Personalstruktur für Berufs- und Zeitsoldaten so- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: So?) wie für das Zivilpersonal zu schaffen, damit Planungs- sicherheit gewonnen wird und die Attraktivität der Meine Damen und Herren, es wäre schon gut, wenn Laufbahnen in einer verkleinerten Bundeswehr erhal- bei der Bewältigung dieses Aufgabenkatalogs, der si- ten bleibt. Dies gilt auch für die zivile Verwaltung. cher nicht vollständig ist, wir Politiker gemeinsam der Truppe zur Seite stehen würden. Sicherheit und Per- Ich hatte mir bei der Debatte zum Haushalt 1991 spektive für unsere Soldaten und für die Zivilbedien- erlaubt, salopp festzustellen: Wenn auch die Zahl der steten sind jetzt gefordert. Je mehr wir das in diesem Indianer zurückgeht, brauchen wir in der Relation Hause gemeinsam erarbeiten, um so besser wird es dazu eine erhöhte Anzahl von Häuptlingen. Das müs- sein. sen wir jetzt auch so organisieren. Ich will die paar Parameter, die ich angesprochen Die logische Konsequenz daraus ist, daß dieser habe, hier kurz erläutern. Zunächst einmal zu der Haushalt die Qualitätsverbesserungen aufweist, die Summe: Wir hatten in den Plänen für 1992 52,6 Milli- wir schon beim Haushalt für das Jahr 1991 in Gang arden DM vorgesehen. Die Eingliederung der NVA gebracht haben: hat 1991 4,3 Milliarden DM gekostet. Wenn wir die (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Weder Logik IstAusgaben für die Verteidigung in Ost und West noch Konsequenz noch Qualität!) addieren, kommen wir für 1990 auf 62,3 Milliarden 1 400 Hebungen für Berufsunteroffiziere vom Haupt- DM. Das heißt, daß der Etat für 1992 um mehr als 10 Milliarden DM geringer ist als die Ist-Ausgaben feldwebel bis zum Oberstabsfeldwebel zur Realisie- des Jahres 1990, mehr als 10 Milliarden geringer! rung des Laufbahnziels Stabsfeldwebel für den Be- rufsunteroffizier. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Abrüstung! Meine Damen und Herren, ich will hier eine ganz — Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das reicht de- klare Bitte an das Ministerium formulieren — wir ha- nen nicht!) ben das auch im Ausschuß gesagt — : Die Beseitigung Die schnelle Mark ist bei der Verteidigung nicht zu der vorhandenen Strukturverwerfungen in der Lauf- machen. Aber diese 10 Milliarden sind ein derartig bahn der Hauptfeldwebel soll ausdrücklich denen zu- deutliches Ergebnis, daß wir es hier immer wieder gute kommen, die, wie man das so schön ausdrückt, betonen müssen. Letztlich ist es das Ergebnis der Ent- über längere Stehzeiten verfügen. Wir haben zu Pro- spannungspolitik unserer Bundesregierung. tokoll gegeben, daß wir meinen, die älteren Haupt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — feldwebel sollten befördert werden. Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Tolles Ergebnis!) Wir haben auch für den zivilen Bereich 455 Verbes- In diesen Beträgen sind die Kosten der Lohnrunde mit serungen eingebaut. 1,4 Milliarden DM schon eingerechnet. Auch dies (Zuruf von der SPD: Umwerfend!) muß gesehen werden. Die Milderung der vorhandenen Strukturprobleme Die einen sagen, es ist viel zu knapp, und die ande- wird damit weiterverfolgt. ren sagen, es ist viel zuviel. Deswegen will ich jetzt Ich will hier noch einmal betonen: Die Rückführung auch etwas zu dem Entschließungsantrag der SPD der Streitkräfte einerseits und die Steigerung der At- sagen. - traktivität andererseits sind keine Gegensätze, son- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Muß das sein?) dern bedingen einander, wenn wir eine verteidi- Daß dieser Antrag eine Pflichtübung von Ihrer Seite gungsfähige und verteidigungsbereite Truppe auch ist, ist uns klar; denn hinter vorgehaltener Hand wird in Zukunft erhalten wollen. uns immer wieder gesagt: Na ja, das müssen wir ja Das, was wir hinsichtlich des Abbaus besprechen, machen. Es ist hier schon vom Kollegen Strube gesagt muß im Rahmen der geltenden Bestimmungen des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5075

Hans-Werner Müller (Wadern) Soldatengesetzes und der Beamtengesetze sozialver- sagen: Er ist vernünftig. Es ist ein guter Haushalt. Er träglich, aber auch zumutbar sein. Wir haben in den ermöglicht, daß unser Staat bündnisfähig bleibt. letzten Wochen intensive Diskussionen darüber ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) führt. Wir haben vor gut zehn Tagen hier die beiden Gesetze, das Personalstärkegesetz und das Bundes- Eine verantwortliche Außenpolitik kann gemacht werden. Damit können wir zum Weltfrieden beitra- wehrbeamtenanpassungsgesetz, verabschiedet. gen. Meine Damen und Herren, ich will hier noch einmal Ich bedanke mich dafür, daß Sie mir zugehört ha- sagen: Ich bin über die Wortwahl „Personalstärkege- ben. setz" besonders unglücklich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Wir hätten es besser z. B. „Abrüstungsfolgegesetz" Vizepräsident Hans Klein: Meine verehrten Kolle- genannt. ginnen und Kollegen, ich muß eine kleine informato- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! — rische Bemerkung machen, vor allem auch an die Kol- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sehen legen, die erst später wieder dazustoßen werden, die Sie, da folgt Ihnen der Minister auch das aber in ihren Büros hören. nicht!) Wir sind inzwischen mit unserer Redezeit so weit Das ist zwar ein Problem der Semantik; wir müssen gediehen, daß die Sitzung bis über Mitternacht hinaus uns aber zukünftig schon etwas besser überlegen, wie dauern wird. Alle diejenigen, die an einem etwas be- wir diese Dinge formulieren. schleunigteren Verlauf interessiert sind, bitte ich da- her, bei Zwischenfragen oder Kurzinterventionen und Ein sozial verträglicher Rückbau ist — darüber wird ähnlichen die Debatte verlängernden Beiträgen Zu- hier wohl Einvernehmen bestehen — der Zahl nach rückhaltung zu üben. strukturgerecht im Bereich der Berufssoldaten jetzt nicht möglich. 6 800 Berufssoldaten, die ihren Lebens- (Norbert Gansel [SPD]: Aber es bleibt bei inhalt als Soldat bei der Bundeswehr gesehen haben, 21.30 Uhr für die namentlichen Abstimmun müssen die Bundeswehr in den nächsten Jahren vor- gen?) zeitig verlassen. Dem dienen die bekannten Regelun- — Die Abstimmungen — vor allem die über diesen gen des Personalstärkegesetzes. Haushalt, aber auch die anderen — sollen nach inter- Ähnlich ist die Situation bei den zivilen Mitarbei- fraktioneller Vereinbarung um 21.30 Uhr gemeinsam tern. Die erforderliche Fluktuation und der normale erfolgen. Ruhestand greifen nicht überall dort, wo sie organisa- Aber zunächst erteile ich dem Bundesminister der torisch notwendig wären. Dies gilt insbesondere da, Verteidigung, Dr. Gerhard Stoltenberg, das Wort. wo Dienststellen völlig geschlossen oder auch dra- stisch verringert werden. Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- Wie gesagt, meine verehrten Damen und Herren, teidigung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! vor wenigen Tagen haben wir diese Gesetze verab- Das Selbstverständnis der Bundeswehr und die Be- schiedet. Aber wenn wir sie verabschiedet haben, gründung für ihren Auftrag in einer sich rasch wan- müssen sie sich in den politischen Hintergrund ein- delnden Welt sind schon heute vormittag in der Gene- binden lassen, daß wir auf der einen Seite abbauen raldebatte kurz angesprochen worden. In der Tat und bei anderen Dienststellen neu aufbauen; ich spre- — Herr Kollege Müller hat es eben hervorgehoben —, che von der Gauck-Behörde und den Bediensteten, unsere Streitkräfte stehen im einschneidensten Struk- die sich mit den Asylantenfragen befassen. Sozialver- turwandel seit ihrem Aufbau. Naturgemäß ist die träglichkeit ja, Zumutbarkeit andererseits muß hier in grundlegend veränderte politische Lage in Europa Rechnung gestellt werden. dabei ein entscheidender Ortientierungspunkt für Es muß also auch Umsetzung und Aufnahme ande- ihre künftige Organisation, für Stationierung und rer Tätigkeiten als Beamter zur Erhaltung des Ge- Ausbildung. Wer — ich muß das einigen Kollegen von meinwohls möglich sein. Wir müssen versuchen, das der SPD sagen — in tibetanischer Gebietsmühlenart miteinander in Einklang zu bringen. Das sind wir immer wieder behauptet, wir hätten daraus keine Fol- schlicht und ergreifend dem Steuerzahler schuldig. gerungen gezogen, Wir haben im Einzelplan des Innenministers bei der (Franz Müntefering [SPD]: Was haben Sie sogenannten Gauck - Behörde eine Sperre ange- denn gegen Gebetsmühlen?) bracht, die wir, wie etwa bei der Türkei-Hilfe, wie- der verschließt die Augen vor den grundlegenden derum aufheben können. Dies hat ja einen erhebli- Entscheidungen, die wir im vergangenen Jahr getrof- chen Wirbel in der Presse verursacht. Das ist lediglich fen haben. ein Hinweis an die Bundesregierung, daß sie in dem — von mir geschilderten Zusammenhang — Abbau ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP nerseits und Aufbau andererseits — die notwendigen,- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das Pfei vom Parlament gewünschten Anstrengungen unter- fen im Walde!) nehmen muß. Wer freilich meint, die bisher genannten Gründe für die Existenz einer modernen Bundeswehr seien gene- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) rell in Frage gestellt, der verfehlt die Wirklichkeit, Ich wollte das hier in der gebotenen Kürze ausfüh- Streitkräfte sind unverzichtbar für einen souveränen ren. Alles in allem möchte ich zu diesem Haushalt Staat, der außenpolitisch handlungsfähig sein will, der 5076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg bündnisfähig sein will, und der die Verantwortung für oder 15 Monaten nach den gewaltigen Fortschritten die Sicherheitsvorsorge ernst nimmt. Ich halte es al- in den West-Ost-Beziehungen bei manchen bestan- lein von dieser Prämisse her für abwegig, der Bundes- den, nämlich daß die Beziehungen im neuen Europa wehr eine Legitimationskrise aufreden zu wollen. von morgen konfliktfrei und harmonisch sein würden, leider als eine Illusion erwiesen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Nein, die Die Politik für Kooperation, für Friedenssicherung, haben Sie verursacht!) für Konfliktschlichtung, die wir vertreten, einerseits und angemessene militärische Sicherheitsvorsorge — Ich komme noch zu Ihnen, Herr Jungmann. Heben andererseits sind eben keine Alternative, sondern Sie sich Ihre emotionale Reaktion auf. Ich werde mich zwei Elemente einer friedensfördernden und zugleich mit Ihnen noch besonders auseinandersetzen. verantwortungsvollen Sicherheits- und Außenpoli- (Rudolf Bindig [SPD]: Da lachen ja die Hüh- tik. ner!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies alles sollte ja relativ unstrittig sein. Wir nutzen die Chance, die sich aus dem Abbau der jahrzehntelangen militärischen Konfrontation im Her- Manche haben hier freilich in jüngster Zeit wieder zen Europas ergibt. Es geht nicht nur um die erhebli- umdenken müssen: Krieg ist in Europa leider erneut che Reduzierung des Umfangs der Bundeswehr im eine schreckliche Realität geworden. jetzt vereinten Deutschland; wir verbinden damit eine grundlegende Neuorientierung, eine völlig verän- (Norbert Gansel [SPD]: Weil die Politik ver- derte Stationierung, eine starke Verringerung der sagt hat!) Zahl voll präsenter Verbände und ein neues strategi- Die Tragödie in Jugoslawien zeigt, daß militärischer sches Konzept, für das Anfang dieses Monats die Machtmißbrauch auch in Zukunft nicht ausgeschlos- Staats- und Regierungschefs der NATO die wesentli- sen werden kann und — was in Deutschland wenig chen Eckpunkte beschlossen haben. gesagt und geschrieben wird — in extremen Situati- Wenn Sie, Herr Kollege Jungmann, sagen — das onen nur durch Verteidigungsfähigkeit, durch Vertei- habe ich schon oft gehört — , daß hier die Strukturen digungsbereichtschaft und durch angemessene mili- einfach fortgeschrieben würden, dann frage ich mich, tärische Gegenmacht verhindert oder überwunden wo Sie in diesem Jahr eigentlich gewesen sind. werden kann. Das kommt mir ein bißchen zu kurz. Erstens. Wir haben im Frühjahr entschieden, Feld- In der Verurteilung dieses Schreckens sind wir uns heer und Territorialheer zu fusionieren. alle einig. Welche Lehren daraus gezogen werden, Zweitens. Wir haben entschieden, die drastisch ver- das ist aber die Frage, über die man weiter diskutieren ringerte Zahl der Divisionsstäbe mit den Wehrbe- muß. reichskommandos zu fusionieren. Wir alle haben Schwierigkeiten, das zu verstehen, Drittens. Wir haben entschieden, auch bei den an- was dort geschieht, und es richtig zu bewerten. Wir deren Teilstreitkräften die Zahl der Stäbe erheblich zu habe auch Schwierigkeiten, wirksam zu reagieren; verringern — darüber ist im Verteidigungsausschuß dabei soll man es sich mit der Kritik nicht zu leicht im einzelnen berichtet worden — und die Zahl der bei machen. den Kommandobehörden und Stäben vorhandenen Darüber hinaus gibt es aber auch eine gewisse Planstellen in dem neuen Konzept um etwa 25 bis Sprachlosigkeit. Mich stört schon, daß im Januar und 30 % zu verringern. Dies kann man anders betrachten; Februar Hunderttausende für die sogenannte Frie- allerdings müssen Sie dann Argumente bringen und densbewegung gegen die Allianz am Golf, die auf hier nicht den Eindruck erwecken, als ob dies alles Grund von Beschlüssen der Vereinten Nationen für nicht stattgefunden hätte. das verletzte Völkerrecht antrat, demonstrierten, daß genau das im Moment aber überhaupt nicht stattfin- Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister, gestatten det. Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jungmann? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dabei vollzieht sich dieser Völkermord dicht an unse- Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- rer Grenze. teidigung: Ja. (Norbert Gansel [SPD]: Daß ausgerechnet Sie das sagen, wo doch die Bundesregierung Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Stolten- im Juni und Juli bei der Jugoslawienkrise so berg, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß ich schrecklich versagt hat!) mich in diesem Teil mit den Beschaffungen beschäf- — Herr Gansel, das können Sie mit dem Außenmini- tigt habe und gesagt habe, daß sich bei den Beschaf- ster und anderen austragen. fungsvorhaben in den Strukturen nichts geändert hat, sondern daß nur die Zahlen teilweise etwas reduziert (Zuruf von der FDP: Das hat der Außenmini- worden sind? Ich habe nicht über die neue Struktur ster doch schon widerlegt, was Sie da reden! des Heeres, der Ma rine und der gespro- — Zuruf von der CDU/CSU: Sprechblasen — chen. Dazu habe ich kein Wort verloren. Gansel!) Ich nehme mir die Legitimation, dies zu sagen, ohne Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- mich von Ihnen in Frage stellen zu lassen. Es ist ja so, teidigung: Sie haben eine etwas allgemeiner ange- Herr Kollege, daß sich die Hoffnungen, die vor zwölf legte Bemerkung gemacht; aber wir können auf Ihre Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5077

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg Darlegungen morgen beim Nachlesen des Protokolls — Ich spreche z. B. von der sozialdemokratischen gern noch einmal zurückkommen. Landesregierung in Kiel — damit wir einmal in unse- rem Heimatland bleiben — und von vielen anderen. Ich möchte gleich etwas zur Beschaffung sagen, zunächst aber folgendes ausführen: Bis Ende 1994 soll (Zuruf von der FDP: Oskar Lafontaine!) der Umfang der Bundeswehr in Westdeutschland auf Insofern stelle ich hier einfach fest, daß natürlich 300 000 Soldaten zurückgeführt werden. 1989 waren Gesichtspunkte der militärischen Konzeption und es noch fast 490 000 Soldaten. Seit dem 3. Oktober auch der Wirtschaftlichkeit eine wesentliche Rolle ge- 1990 bauen wir in den neuen Bundesländern die Bun- spielt haben, daß wir aber auch, wie es von allen Frak- deswehr auf. Ende des Jahrzehnts werden dort 70 000 tionen dieses Hauses erwartet wurde, regionale Ge- Soldaten stationiert sein. Die Weichen dafür sind in sichtspunkte in der Güterabwägung nicht vernachläs- diesem Jahr gestellt worden, und wir sind stolz auf sigt haben. das, was seit dem Tag der deutschen Einheit von den dort stationierten Soldaten, den zivilen Mitarbeitern, (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) aber auch den Verantwortlichen in der Führung gelei- Nur soviel will ich dazu sagen. stet wurde. (Erwin Horn [SPD]: Das Gegenteil ist doch Wir werden auch die Struktur unserer Bundeswehr- der Fall!) verwaltung straffen und die Zahl unserer Mitarbeiter Herr Jungmann, Sie haben Kritik geübt an den flan- um mehrere zehntausend verringern. Hier steht jetzt kierenden Maßnahmen durch die Bundesregierung. nach längerer Zeit der Anhörung und Diskussion über Dazu will ich Ihren Worten nur hinzufügen: Ich das Ressortkonzept die abschließende Entscheidung glaube, Sie wissen, daß dieses Thema der Vereinba- an. rung über die endgültigen Leistungen der Bundesre- gierung — richtiger gesagt: des Bundes — für Garni- Allerdings: Wir haben wieder bei den Forderungen sonsgemeinden in strukturschwachen Gebieten, die und Stellungnahmen vieler Sozialdemokraten erlebt, empfindlich getroffen werden, in das Vermittlungs- daß sie, die ja eine weitaus drastischere Reduzierung verfahren zu allgemeinen Problemen der Bund-Län- der Bundeswehr fordern, die zum Teil einen Kahl- der-Finanzbeziehungen eingeht. schlag betreiben wollen, indem sie die finanziellen Grundlagen für die Soldaten und die zivilen Mitarbei- Soweit ich höre — ich bin in dieser Sache in der ter in Frage stellen, vor Ort kräftig gegen die Aufgabe Regierung nicht unmittelbar zuständig — , geschieht oder eine spürbare Reduzierung von örtlichen Dienst- dies jetzt auch im Konsens, jedenfalls mit den sozial- stellen polemisieren. demokratisch geführten Bundesländern. Ich hoffe also, daß noch in diesem Jahr ein endgültiges Ergeb- (Norbert Gansel [SPD]: Das ist doch dummes nis erreicht werden kann. Zeug, was Sie sagen! — Erwin Horn [SPD]: Ausgesprochener Käse ist das! Das Gegen- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das hof teil ist richtig!) fentlich höher ausfällt!) — Ich wollte es nur sagen. Hier, meine Damen und Herren Kollegen, werden die Konzeptionslosigkeit und die Doppelzüngigkeit zu Lassen Sie mich einige Sätze zu den Ausführungen vieler Funktionäre und auch Abgeordneter der SPD in von Herrn Kollegen Thiele hinzufügen; schon ein biß- einer unerfreulichen Weise sichtbar. chen mit Blick auf die Uhr. Ich begrüße es, daß Herr Kollege Thiele wie auch Herr Müller und andere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — nachdrücklich darauf hingewiesen hat, daß man den Erwin Horn [SPD]: Ein bißchen anspruchs- Verteidigungsetat ohne die Wirkungen der Besol- volleres Niveau kann man doch wohl erwar- dungs- und Tarifrunde nicht fair bewerten kann. Bei ten! Einen so dummen Käse habe ich von Ihnen und in der öffentlichen Debatte kommt folgen- einem Minister noch nicht gehört! — Horst des zu kurz: Die Tarifrunden kosten uns zur Zeit, je Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: In der Polemik nachdem, wie sie ausfallen, zwischen 1,1 und 1,5 Mil- läuft er zur Hochform auf! — Gegenruf von liarden DM pro Jahr. Alles, was hier an Mehraufwen- der CDU/CSU: Charakterlose Gesellen!) dungen entsteht, muß an anderer Stelle eingespart werden. Herr Kollege Jungmann, es hat mich schon über- rascht, jetzt von Ihnen den Vorwurf zu hören, wir hät- Ich werde, Herr Kollege Thiele, Ihre Ausführungen ten die Standortfestlegung nicht genügend an den über die Vorgeschichte bestimmter Vorlagen im Aus- Betriebskosten orientiert. schuß nicht weiter vertiefen, auch aus Zeitgründen. Ich lege nur Wert auf folgende Feststellung. Wir ha- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ben die zweite ergänzende und in gewisser Weise habe ich im Ausschuß gesagt!) alternative Beschaffungsvorlage unter Einbeziehung der U-Boote bereits jetzt gemacht, nachdem der Ver- — Ich will es nur sagen. Ich habe aber über Monate teidigungsausschuß mit deutlicher Mehrheit, auch mit den massivsten Druck erfahren, vor allem von SPD-- Sympathie bei einigen Vertretern der Sozialdemokra- geführten Landesregierungen, regionale Interessen tie, dies von uns gewünscht hat. und Wünsche viel stärker zu berücksichtigen, als wir das im Endergebnis tun konnten. Es entspricht schon meinem Parlamentsverständnis, daß ein Votum des für uns unmittelbar zuständigen (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Von mir Ausschusses auch in dem, was wir abschließend mit haben Sie das nicht gehört!) den Berichterstattern besprechen, seinen Nieder- 5078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg schlag findet. Deshalb will ich hier zu anderen Ge- spreche dem nicht —, daß die Zahl der Freiwilligen- sprächen gar nicht Stellung nehmen, sondern dies meldungen zurückgegangen ist. Manches, was über einfach zu Protokoll geben. Dafür werden Sie als Kol- die Bundeswehr geredet wird und hier gefordert wird, lege auch Verständnis haben. ist dabei auch zu erwähnen. Aber natürlich spielt für (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das rich Westdeutschland auch eine Rolle, daß die beruflichen -tig!) Chancen qualifizierter junger Männer heute unver- gleichlich besser sind als vor zehn Jahren und daß die Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ge- Bundeswehr von daher wegen einer erfreulichen Ent- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele? wicklung eine wesentlich schwierigere Wettbewerbs- situation hat. Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) teidigung: Bitte sehr. Meine Damen und Herren, wir brauchen für die Carl-Ludwig Thiele (FDP) : Herr Minister, dafür sozialverträgliche Umsetzung der weitreichenden habe ich volles Verständnis. Wir haben es letztlich Entscheidungen der letzten 18 Monate jetzt verläßli- auch noch nicht abgelehnt. Wir haben eine entspre- che Rahmen - und Planungsdaten für die kommenden chende Verpflichtungsermächtigung ausgebracht. Jahre. Sonst würden wir der Verantwortung für die Wofür ich kein Verständnis hatte — — Soldaten und Mitarbeiter und dem Auftrag unserer Bundeswehr nicht gerecht. Lippenbekenntnisse zur Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Thiele, ent- Bundeswehr bei feierlichen Anlässen genügen nicht. weder eine Frage oder gar nichts! Hier im Deutschen Bundestag, auch in den Abstim- mungen, wird erkennbar, wer nur redet und wer be- Carl-Ludwig Thiele (FDP): Haben Sie denn Ver- reit ist, auch die erforderlichen Mittel für die Streit- ständnis dafür, daß eine Verpflichtungsermächtigung kräfte bereitzustellen. in Höhe von 2,5 Milliarden DM im Beschaffungstitel Dieser Etat ist äußerst knapp finanziert. Ich weiß, Marine ausgebracht war, ohne daß zu diesem Zeit- daß auch manche von Ihnen dies in internen Diskus- punkt eine Belegung — wie auch immer — vorhan- sionen nicht anders sehen. Die Sozialdemokratie will den war? nun bei den Bauinvestitionen im Kap. 14 12 100 Mil- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Nein, lionen DM streichen. Wir benötigen 16 Milliarden DM dafür hat er kein Verständnis!) — auch die Zahl ist von Herrn Kollegen Strube ge- nannt worden — , um in den neuen Bundesländern Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- gegenüber den Verhältnissen in Westdeutschland teidigung: Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich diesen vergleichbare Unterkünfte für Soldaten und zivile Sachverhalt zum Zeitpunkt der Regierungsvorlage Mitarbeiter zu schaffen und um die schlimmsten Um- nicht übersehen habe. Ich habe ihn später erkannt. weltschäden auf unseren Liegenschaften zu beseiti- Daraus wurden ja bestimmte Folgerungen für die Be- gen. handlung gezogen. Wer die unerträglichen, unzumutbaren Kasernen Ich will hier allerdings einen zweiten Punkt auch der ehemaligen NVA gesehen hat — das gilt auch für ansprechen, in dem wir einen Dissens haben: Ich be- manche Kollegen aus Ihren Reihen — , der kann über grüße zunächst einmal, daß sich in der Erkenntnis, einen solchen Antrag nur bestürzt sein; denn wir wer- daß die Bundeswehr bei den Berufs- und Zeitsoldaten den jetzt in Westdeutschland dringend erforderliche eine deutlich bessere Personalstruktur braucht als Modernisierungen auch bei Küchen und Unterkünf- bisher, eine Annäherung Ihrer Position bzw. der der ten weitgehend zurückstellen, um den noch dringen- FDP und der Position ergibt, die ich hier vertrete. Nur deren Notwendigkeiten in den neuen Ländern Rech- widerspreche ich der Aussage, daß die noch verblie- nung zu tragen. Das hat Priorität! Dazu brauchen wir bene und zu klärende Differenz ein Dissens mit dem eine ganze Reihe von Jahren. Bis dahin werden dort Verteidigungminister sei; denn ich weiß mich in mei- Soldaten unter miserablen Bedingungen ihren Dienst ner Position einig mit der Fraktion der Christlich De- tun. Da kommen Sie und wollen Bauinvestitionen um mokratischen und der Christlich-Sozialen Union. 100 Millionen DM kürzen. Das ist ein Zeichen Ihrer Ich sage auch, weil es hier angesprochen worden ist, Unglaubwürdigkeit und eines unsozialen Verhal- daß wir, beginnend im August und September — das tens. ist Ihnen bekannt — , mittlerweile auch mit dem Finanzminister über die angestrebte Personalstruktur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — im wesentlichen Einvernehmen erzielt haben. Auch Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD] das soll hier zu Protokoll gegeben werden, nachdem meldet sich zu einer Zwischenfrage) Sie es angesprochen haben. Nun ist es in den kom- — Ich möchte jetzt der Aufforderung des Präsidenten menden Wochen unsere Aufgabe, die noch verblei- folgen bende Differenz miteinander zu klären. Ich möchte (Zurufe von der SPD) hier nur nicht stehenlassen, daß das ein Thema des- Verteidigungsministers mit der FDP sei. Es ist mittler- — ich habe ja nun zwei Zwischenfragen beantwor- weile ein breiterer Konsens erreicht — oder im we- tet — und bald zum Abschluß kommen. sentlichen erreicht. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Erst be Meine Damen und Herren, dies ist ein entscheiden- schimpfen, und dann das!) der Punkt. Wir brauchen aus einer Reihe von Gründen eine bessere Personalstruktur. Richtig ist — ich wider — Das ist auch schon anders herum passiert. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5079

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg Sachverständige sozialdemokratische Kollegen worden, ohne ein glaubwürdiges Konzept für die Zu- wissen genau, daß es bei den Mitteln für die Entwick- kunft der Streitkräfte und die sicherheitspolitischen lung des Jagdflugzeuges 90 im nächsten Jahr um die Aufgaben zu haben. Das ist meine Bilanz. Finanzierung bereits eingegangener rechtlicher Ver- pflichtungen geht. Ich beziehe mich auf das, was Herr Herr Kolbow, wenn Sie sagen, Armutsbekämpfung Kollege Thiele und Herr Müller (Wadern) hierzu voll- hat den Vorrang vor bestimmten Rüstungsaufga- kommen zu Recht gesagt haben. Aber ich will das ben — — noch ein Stück konkretisieren: (Walter Kolbow [SPD]: Das sagt Herr Wenn wir jetzt aus den internationalen Verträgen Hirsch!) mit Großbritannien, Italien und Spanien ausstiegen, müßten wir über 4 Milliarden DM — mehr als 4 Milli- — Ja, wenn Sie dies zustimmend sagen, dann spreche arden DM! — sowohl an unsere staatlichen Partner, ich auch Herrn Hirsch mit Ihnen zusammen an. Dann die dieses Projekt fortführen werden, als auch auf will ich Ihnen sagen, man muß mit solchen Formeln Grund der Kontrakte mit den beteiligten Firmen zah- etwas behutsam umgehen. Es könnte ja jemand auch len. Deshalb ist es eine grobe Täuschung, so zu tun, als auf die Idee kommen, uns — und ich sage dies auch ob man bei einem Abbruch 830 Millionen DM im als Abgeordneter des Deutschen Bundestages — zu nächsten Jahr einsparen könne. sagen, Armutsbekämpfung hat den Vorrang vor der Besoldung der Abgeordneten. Ich halte diese Formeln (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) in jeder Weise, wenn wir über ernsthafte staatliche Ich habe Ihren Dialog verfolgt, Herr Kollege Horn, Aufgaben reden, für einen nicht sachdienlichen, son- auch Ihr Argument. Dann wäre es konsequent, einen dern für einen negativ emotionalisierenden Beitrag, Entschließungsantrag einzubringen, in dem die Bun- im einen Fall wie im anderen Fall. desregierung aufgefordert wird, das Vorhaben abzu- Meine Damen und Herren, wir werden, um dies brechen. noch zu sagen, den Bundeswehrplan Anfang näch- Aber den Eindruck zu erwecken, Sie könnten trotz der sten Jahres neu formulieren. Dies gehört zu den Auf- klaren Vertragslage 830 Millionen DM einsparen, ist gaben der nächsten Zeit. Wir werden auf Grund der eine Täuschung. Ich will das hier ausdrücklich wie- veränderten sicherheitspolitischen Lage und der derholen. Sie können das nicht widerlegen. Es zeigt Knappheit der Mittel einer Reihe bis jetzt geplanter die ganze Unseriösität Ihres Auftretens. Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben zu strei- (Beifall bei der CDU/CSU) chen haben. Wir haben uns in der Koalition — und auch darauf (Zuruf von der SPD: 36 Milliarden DM!) ist von Herrn Kollegen Strube einmal hingewiesen worden — darauf verständigt, daß wir die Entwick- Wir werden diese Entscheidungen treffen. Warten Sie lung zum Abschluß bringen wollen. Wir untersuchen nur in Ruhe ab. Es ist jetzt nicht mehr eine Sache von zugleich sehr sorgfältig, ob und in welcher Weise es langer Zeit. sinnvolle Varianten — — Zu den Aufgaben der nächsten Zeit gehört auch die (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Seit Umsetzung der Beschlüsse zur Strategie, die die Jahren!) Staats - und Regierungschefs getroffen haben, in mili- tärische Planung. Dies werden wir natürlich im Ver- — Nein, nicht seit Jahren. Wir haben diese Vereinba- bund des Bündnisses machen, wie ich erwarte, schon rung in diesem Jahr getroffen, dies sorgfältig zu unter- im Dezember in Brüssel. Wir wollen in den nächsten suchen. Monaten ein neues Reservistenkonzept entwickeln. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: 1989 Ich nehme an, daß wir es Ihnen spätestens im Frühjahr schon!) auch in den Ausschüssen vorstellen können. Schließ- lich müssen wir auch den Bedarf an Truppenübungs- — Nein, diese Vereinbarung. plätzen neu bestimmen, wo wir Diskussionen in den (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Da wa- neuen Ländern haben. Aber man kann nicht auf der ren Sie noch gar nicht Verteidigungsmini- einen Seite sagen, die Bundeswehr soll weniger im ster!) freien Gelände üben, und andererseits sagen, sie darf — Aber, Herr Kollege Jungmann, das weiß ich nun keine Truppenübungsplätze haben. besser als Sie. Mit sachverständigen Kollegen beider Meine Damen und Herren, dies alles sind große Koalitionsfraktionen analysieren wir jetzt einmal sehr Themen. Die heutige Debatte hat erneut gezeigt, daß ernsthaft, ob es für die Beschaffungs- oder Produkti- wir in wichtigen Fragen der Bundeswehr und der Ver- onsphase sinnvolle Va rianten oder Alternativen zum teidigungspolitik gegenwärtig keinen Grundkonsens jetzigen Entwicklungskonzept gibt. Dies stammt vom haben, den wir zwischen 1960 und 1980 hatten. Januar diesen Jahres. Nehmen Sie es doch so, wie ich es sage. Eine Entscheidung darüber steht eher für die (Zuruf der Abg. Katrin Fuchs [Verl] [SPD]) zweite als die erste Jahreshälfte 1992 an. - Das ändert nichts an unserer Bereitschaft zum Dialog, Die von der SPD ferner geforderte Streichung der aber es ändert auch nichts an unserer Entschlossen- wichtigsten Erhaltungs-, Entwicklungs-und Beschaf- heit, für unsere Bundeswehr und die Sicherheitsvor- fungsvorhaben von Heer und Ma rine bedeutet im sorge im Land das zu tun, worauf wir in unserer Ver- Grunde eine Absage der Opposition an eine angemes- antwortung verpflichtet sind. sen ausgebildete und ausgerüstete Bundeswehr. Sie sind die Gefangenen Ihrer eigenen Propaganda ge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Hans Klein: Mein Appell von vorhin Es erhebt sich dagegen kein Widerspruch. Dann ist hat nicht viele Früchte getragen, sowohl was die Zwi- das so beschlossen. schenfragen als auch was die Wortmeldungen zu ei- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeord- ner Kurzintervention anbetrifft. neten Siegrun Klemmer das Wort. Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Erwin Horn. Siegrun Klemmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- Erwin Horn (SPD): Schönen Dank, Herr Präsident. leginnen und Kollegen! Nachdem die Fraktionen von Abgesehen davon, daß der Herr Minister völlig un- CDU/CSU und FDP bis heute auf alle parlamentari- recht hat mit seinem Hinweis auf den sicherheitspoli- schen Initiativen gegen die Weiterentwicklung des tischen Konsens von 1969 bis 1982, möchte ich darauf Jagdflugzeuges 90 nach dem Motto „Augen zu und hinweisen: Es ist vollkommen falsch, daß Sozialdemo- durch!" reagiert haben, erheben nun Bürgerinnen kraten auf der einen Seite Abrüstung verlangen und und Bürger ihre Stimmen. auf der anderen Seite gegen Standortauflösungen (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) seien. Im Gegenteil. Sie erweisen damit dem ganzen Volk einen großen ch Nolting [FDP]: Doch ge- (Günther Friedri Dienst; denn offensichtlich ist es notwendig, das In- nauso war es!) strument der Petition zu bemühen, damit auch die Ich kann Ihnen sagen, Herr Minister: Wir reduzieren Damen und Herren der Regierungskoalition das zu- 720 Standorte um 24 Standorte. Das andere sind nehmend rauhe soziale Klima in unserem Land zur 66 Dienststellen, die Sie einbeziehen in die 90. Im Kenntnis nehmen Ergebnis heißt dieses: Wir nehmen bis 1994 eine Per- sonalreduzierung um 36 % und eine Reduzierung der (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ach Standorte um 3,3 % vor. Gott!) Ich gebe dem Bundeswehrgeneral recht, der kürzlich und — obwohl meine Skepsis groß ist — ihre Politik gesagt hat: Dies ist ein Mißverhältnis. Die Bundes- möglicherweise doch noch an Realitäten ausrichten. wehr frißt sich so selber auf. Hier fehlen die echten (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Verwenden Investitionsmittel; wir geben sie durch Fehlplanung Sie lieber Argumente statt Unterstellun als Betriebsmittel aus. gen!) (Beifall bei der SPD) — Die kommen noch, haben Sie nur ein bißchen Ge- duld! Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Seit Jahren schon bemüht sich die Fraktion der SPD, wünschen Sie, das Wort zur Erwiderung zu neh- z. B. dem Kostenargument Gehör zu verschaffen. Frü- men? — here Beispiele sollten uns warnend vor Augen stehen. (Bernd Wilz [CDU/CSU]: Das lohnt nicht! — Etwa 15 Millionen DM sollte der Systempreis des Tor- Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das nados einmal betragen. Am Schluß waren es 104 Mil- war ein Hörnchen und kein Horn!) lionen DM, also das Siebenfache. Mit dem Jäger 90 Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Ausspra- werden die Erfahrungen nicht prinzipiell anders sein che. — nur daß die Höhe dieser Kosten endgültig astrono- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung finden mische Dimensionen annehmen wird. die Abstimmungen zum Einzelplan 14 um 21.30 Uhr (Beifall bei der SPD) statt. Wir stimmen deshalb jetzt nur über den Einzel- Auch die Sicherheitsargumente sind bereits oft ge- plan 35 — Verteidigungslasten im Zusammenhang nug genannt worden. mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte — in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt dafür? — Ge- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Welche genstimmen? — Enthaltungen? — Der Einzelplan 35 denn?) ist angenommen. Aber bis heute weigert sich die Regierung, aus den (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Welch veränderten Realitäten für Mammutprojekte wie z. B. Zufall!) den Jäger 90 die Konsequenzen zu ziehen. Grundlage gerade dieses Vorhabens war ein schon früher unrea- Ich rufe den Tagesordnungspunkt IV auf: listisches Bedrohungsszenarium, das heute erst recht jeden Realitätsgehaltes entbehrt. Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) (Beifall bei der SPD — Stefan Schwarz [CDU/ Sammelübersicht 15 zu Petitionen CSU]: Das haben Sie vor dem NATO-Dop pelbeschluß auch gesagt!) (Wehrforschung — Jäger 90 —) — Drucksache 12/451 — Ein krasseres und vor allem teureres Beispiel von Rea- litätsverlust auf seiten der Regierungskoalition läßt - Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der sich kaum denken. SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgese- Meine Damen und Herren, all diese Argumente hen. sind bereits an früherer Stelle hier vorgetragen wor- (Zuruf von der FDP: Das wird vermutlich kürzer!) den, — Wenn Sie nicht so viele Zwischenfragen stellen, (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Sehr richtig! wird es vermutlich kürzer. Sie wiederholen sich!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5081

Siegrun Klemmer nur sind sie heute noch viel dringlicher als zuvor. Die einen Bundeskanzler, der gar bis ans Ende der Welt, tatsächlichen Kosten für den Jäger 90 übertreffen die nach Brasilien, fährt, einst prognostizierten bereits erheblich. Viel größer (Zuruf von der CDU/CSU: Ein guter Kanz aber ist heute vor allem der Mittelbedarf, der sich aus ler!) der deutschen Einheit ergibt. Dies weiter auszuführen dürfte hier eigentlich nicht nötig sein. um dort der ganzen Welt kundzutun, daß Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Lösung der globalen Um- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Na, was denn weltkrise leisten wird. nun?) Offensichtlich ist es aber doch nötig, da die Regierung (Beifall des Abg. Stefan Schwarz [CDU/CSU] Kohl nicht gewillt ist, immer sinnlosere Finanzgräber — Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie Re wie das für den Jäger 90 zuzuschütten, um mit den gierungssprecher werden?) gesparten Mitteln wenigstens einen Teil des Zusatz- Alles hehre Ziele; der Unterstützung durch die SPD- bedarfs zu decken. Man fragt sich, welche Mauer in Fraktion können Sie versichert sein. den Köpfen so mancher Regierungsvertreter hier die (Zuruf von der CDU/CSU: Na!) Einsicht verhindert. Anders aber als Sie und anders als die Regierung sagt (Beifall bei der SPD — Stefan Schwarz [CDU/ die SPD allerdings auch, woher das Geld für solche CSU]: Jedenfalls sind es nicht so hohe Vorhaben kommen kann. Mauern wie in Ihrem Kopf!) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Auch die Sicherheitsargumente gegen den Jä- ger 90 haben im Laufe der Auseinandersetzung stetig Die Regierung dagegen degradiert z. B. durch ihr an Bedeutung gewonnen. Aktuelle Beispiele in die- Festhalten am Jäger 90 ihre eigenen Beteuerungen zu sem Jahr, so im Nahen Osten, in Osteuropa, in der hohlen Phrasen, weil es ihr an Mitteln und somit an übrigen Welt, beweisen, daß militärische Mittel zur Realitätsnähe fehlt. Lösung von Konflikten untauglich sind. Sie lösen we- (Beifall bei der SPD — Gerhard O. Pfeffer der die Probleme der Unterernährung in der Dritten mann [CDU/CSU]: Das sollten Sie noch ein Welt noch etwa die Nationalitätenkonflikte in Südost- mal prüfen!) europa. Welche Argumente werden von seiten der Regie- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Fragen Sie ein- rungskoalition für die Weiterentwicklung des Jä- mal die Kroaten!) ger 90 genannt? Da wird vor allem darauf hingewie- Für Projekte wie den Jäger 90 aber bietet der im Osten sen — soeben haben wir es von Herrn Minister Stol- entstehende Flickenteppich auf der Landkarte noch tenberg noch einmal gehört —, weit weniger eine Grundlage, als die Bedrohungs- (Walter Kolbow [SPD]: Wo ist denn der Herr szenarien es waren, die seinerzeit bei Existenz der Minister?) noch kompletten Sowjetunion entwickelt wurden. der Ausstieg aus dem Vertrag mit den Partnerländern (Beifall bei der SPD — Stefan Schwarz [CDU/ sei mit hohen Kosten verbunden. Ein armseliges Ar- CSU]: Fragen Sie einmal die Kroaten!) gument! — Also, Ihren Zuruf „Fragen Sie einmal die Kroaten! " (Beifall bei der SPD — Hans-Werner Müller finde ich mit Blick auf die Sterbenden und Verwunde- [Wadern] [CDU/CSU]: Wieso das denn?) ten dort, mit Blick auf die in den Lazaretten und Kran- kenhäusern liegenden Männer, Kinder und Frauen — Hören Sie zu! Ich werde versuchen, es Ihnen zu ziemlich zynisch. Ich glaube, das ist an dieser Stelle erklären. Ich bin nicht sicher, daß Sie es verstehen. völlig daneben. (Zustimmung bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Erstens stellt sich die Regierung damit selbst ein Liste) Armutszeugnis allererster Güte aus. All dies, meine Damen und Herren, sind gute (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben den Be Gründe gegen das Milliardengrab Jäger 90. richt des Rechnungshofs nicht gelesen!) Nun haben wir einen Bundeskanzler, Denn wie konnte sie bei einem derart kostenintensi- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: ven Vorhaben so miserable Bedingungen vereinba- Wir haben einen guten Bundeskanzler!) ren, die ein Aussteigen aus dem Projekt angeblich fast der im Land pausenlos davon redet, alles in seiner unmöglich machen? Macht Stehende zu tun, um die anstehenden Pro- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Das hat etwas bleme im Gefolge der deutschen Einheit zu lösen; mit internationaler Zusammenarbeit zu (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es !) tun!) einen Bundeskanzler, der nach Moskau fährt bzw.- Zweitens wird das Argument der hohen Ausstiegs- hier in Bonn den russischen Präsidenten Jelzin emp- kosten nun schon seit Jahren vorgeschoben. fängt und ihm verspricht, auch bei der Bewältigung (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: seiner — nun wirklich gigantischen — Probleme zu War das die Erklärung?) helfen; Mit jedem weiteren Jahr begibt sich die Regierung (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Das ist doch dadurch selbst eines Stücks Freiheit zu vernünftigem völlig in Ordnung!) Handeln. Das aber war von vornherein klar und be- 5082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Siegrun Klemmer weist, daß das Argument der Ausstiegskosten ein Heute haben Sie noch einmal Gelegenheit, diesem Scheinargument war, hinter dem sich die Regierung Schauspiel durch Unterstützung unseres Antrages zu versteckt. einem immerhin noch relativ glimpflichen Ende zu (Beifall bei der SPD) verhelfen. Seien wir uns der großen Verantwortung bewußt, die uns die Probleme in Deutschland, in ei- Welch ein beschämender Vorgang, welch eine Frech- nem veränderten Europa und in der übrigen Welt auf- heit gegenüber der Pflicht jeder Regierung, ihr Han- erlegen! Während wir hier nämlich über Milliarden- deln vor dem Volk wahrheitsgemäß zu verantwor- summen für militärische Großprojekte diskutieren — ten! (Walter Kolbow [SPD]: Ist der Minister nach (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Unterstellen Hause gegangen!) Sie uns bitte keine Lügen!) — Sehr richtig! — , verschärfen sich die Gefahren, die — Sie sind Gott sei Dank noch nicht die Regierung. aus dem wachsenden Elend in den Ländern der Drit- ten Welt entstehen. (Beifall bei der SPD — Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Und Sie werden nie Regie- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin gestatten rung!) Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolbow? Drittens kann nicht oft genug betont werden, daß die Kosten eines Ausstiegs immer noch billiger kom- Siegrun Klemmer (SPD): Bitte! men als die einer fortgesetzten Rüstungsspirale. Walter Kolbow (SPD): Frau Kollegin, teilen Sie Meine Damen und Herren der Regierungsfraktio- meine Auffassung, daß es angesichts des Themas und nen, das alles wissen Sie natürlich sehr genau. Sie der Qualität Ihrer Rede dem Minister gut angestanden wissen auch, daß das Projekt Jäger 90 vom Volk, hätte, nicht jetzt schon in den Feierabend zu gehen? wenn es denn darüber zu entscheiden hätte, in der Luft zerrissen und sofort beendet würde. (Zustimmung bei der SPD]

(Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Siegrun Klemmer (SPD): Herr Kollege, ich hatte den Weil ihr es immer belogen habt!) Eindruck, daß der Herr Minister schon durch Ihre und Viel zuviele Menschen in den neuen, zunehmend die Beiträge der anderen Kollegen aus unserer Frak- aber auch in den alten Bundesländern leiden nämlich tion überfordert war. Möglicherweise hätte er auch unter sozialem Abstieg, unter Arbeitslosigkeit, unter das, was ich hier vorzutragen habe, gar nicht richtig Wohnungsnot, unter steigenden Kosten für die soziale verstanden. Sicherheit. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Das wird auch Auf das, was ich eben bezüglich der Situation in der durch Wiederholen nicht richtiger! — Hans- Dritten Welt ausgeführt habe, hat heute vormittag Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wie unser Fraktionsvorsitzender Hans-Ulrich Klose schon lange reden Sie?) hingewiesen. Die deutsche Einheit konnte auch des- halb wiederhergestellt werden, weil die Welt zu Recht Leider hatte von den Kolleginnen und Kollegen der von uns erwartet, daß von deutschem Boden Frieden Regierungskoalition bislang nur eine ganz kleine ausgeht und von uns ein angemessener Beitrag zur Minderheit den dafür offenbar nötigen Mut, zumin- Lösung globaler Probleme geleistet wird. dest Zweifel an der Notwendigkeit des Projekts Jä- Das Milliardengrab Jäger 90, dessen Produkte man ger 90 zu äußern, nicht zuletzt wegen des Kostendrucks wohl eines Ta- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ges leider auf den internationalen Waffenmärkten fin- sollten Sie zurücknehmen!) den wird, dieses Projekt wird dem Friedensauftrag unserer Verfassung nicht gerecht. Erlaubt sein muß wenn auch die wenigen FDP-Abgeordneten dann, schließlich die Frage, wer eigentlich über die Fortfüh- wenn es zum Schwur kam, die entsprechenden An- rung des Projektes Jäger 90 entscheidet, an die träge der SPD — zumindest bisher — mit niederge- Adresse der Bundesregierung gerichtet. Mit der Un- stimmt haben. So mogeln Sie sich von Debatte zu terstützung der Bevölkerung und zumindest eines Debatte großen Teiles der Abgeordneten dieses Hauses kön- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Schon wieder nen Sie rechnen, wenn Sie aussteigen wollen. Fürch- eine Unterstellung!) ten Sie also möglicherweise den Widerstand der Indu- strie? und lügen sich mit dem Argument, daß Entwicklung (Zuruf von der CDU/CSU: Von denen sind ja noch nicht zwingend Anschaffung bedeute, in die wir ja gekauft!) Tasche. Anderen Regierungen gegenüber wird in dieser (Beifall bei der SPD) Richtung weit weniger Rücksichtnahme geübt. So verlangen wir alle von der Sowjetunion bzw. von dem, Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und was von ihr übriggeblieben ist, daß sie ihren aufge- FDP, was Sie dem Parlament und dem ganzen Volk blähten militärisch-industriellen Komplex zurück- bislang zugemutet haben, war ein jämmerliches stutzt, weil er ein internationales Sicherheitsrisiko Schauspiel. darstellt. Welch eine Anstrengung, die wir da von (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Schon wieder einem Land verlangen, das an der Grenze zur ökono- eine Unterstellung!) mischen Katastrophe entlangtaumelt! Und dazu sollte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5083

Siegrun Klemmer die Bundesrepublik Deutschland nicht gleichermaßen Plafond des Verteidigungsetats 1992 mit 12,4 % der in der Lage sein? Sollte sie nicht in der Lage sein, gesamten Bundesausgaben zwar den niedrigsten einen finanziellen und sicherheitspolitischen Irrsinn Wert seit 1956 erreicht, aber auch die Grenze der wie den Jäger 90 zu beenden, obwohl ihr der Stopp vollen Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Wenn wei- dieses Projektes letztlich nützen würde? Die Bundes- tere Milliardeneinsparungen von der Opposition ge- republik Deutschland sollte nicht in der Lage sein, ein fordert werden, dann muß man sich fragen, wo. Die Beispiel für Rüstungskonversion zu geben, Opposition meint sicher Einsparungen bei der Ent- (Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir doch wicklung des Jagdflugzeuges 90. getan!) (Zurufe von der SPD: Ja!) obwohl sie diese doch anderen Ländern, die sich in viel schwierigerer Lage befinden, abverlangt? Dies geht auch aus Ihrem Antrag zur Petition her- vor. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- zeit ist jetzt abgelaufen. — Danke für Ihren Beifall, sehr verehrte Kolleginnen (Zurufe von der CDU/CSU: Gott sei Dank! — und Kollegen. Sie merken, wie gut ich bereits nach Zuruf von der CDU/CSU: Das war kein Jä- einem Jahr Ihre Gefühlslage verstehe. ger; das war ein Tiefflieger!) (Zuruf von der SPD: Trotzdem blicken Sie nicht durch!) Siegrun Klemmer (SPD): Ich möchte Sie alle, weil ich hier im Namen wachsamer Bürgerinnen und Bür- Dies ist ein Vorschlag, der erneut beweist: Mit Geld ger spreche, können Sie schlecht umgehen, und von Vertragstreue halten Sie nichts. (Widerspruch bei der CDU/CSU) deren Petition vertrete, noch einmal recht herzlich bit- (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! — Zuruf ten, unserem Antrag beizutreten. von der SPD: Lesen Sie doch hier nicht die (Anhaltender Beifall bei der SPD sowie Bei- alten Rednerkarten der CDU vor! — Dr. Peter fall bei der PDS/Linke Liste und dem Bünd- Struck [SPD]: Was ist das denn für ein nis 90/GRÜNE) Quatsch? Herr Präsident, müssen wir uns so etwas eigentlich anhören?) Vizepräsident Hans Klein: Solange der Fraktions- Die Bundesrepublik ist vertraglich gebunden und vorsitzende klatscht, kann ich den nächsten Redner würde bei einem einseitigen Ausstieg den anderen nicht aufrufen. — Das Wort hat nun der Kollege Georg Vertragspartnern das notwendige Geld zur Verfü- Janovsky. gung stellen müssen. (Zuruf von der SPD: Auch überfordert! — Zweitens. England, Italien und Spanien hätten mit Gegenruf von der CDU/CSU: Es kann nur dem Entwicklungsabschluß ein Ergebnis, aber wir besser werden!) den technischen Anschluß verpaßt. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Oh Gott!) Georg Janovsky (CDU/CSU): Herr Präsident, ich will Ihrem Aufruf zu mehr Tempo gerne folgen. Ge- Drittens. Schadenersatzansprüche der deutschen statten Sie mir aber trotzdem — Industrie sind wahrscheinlich. Deshalb sagt die CDU/ CSU-Fraktion: Selbstverständlich wird zu Ende ent- Vizepräsident Hans Klein: Nicht Tempo, sondern wickelt. Dies ist ein Signal für Vertragstreue und Zu- Kürze! verlässigkeit der Bundesrepublik bei internationalen (Heiterkeit) Kooperationen, (Beifall bei der CDU/CSU) Georg Janovsky (CDU/CSU): Kürze und Tempo. In der Kürze liegt die Würze. aber auch ein Signal an die Arbeitnehmer. Gestatten Sie mir eine kurze Eingangsbemerkung Ob, wann und wie das Jagdflugzeug 90 oder etwas zum Verteidigungsetat. Das, was die Opposition mit völlig anderes beschafft werden wird, wird eine Kom- dem Etat vorhat, hat sie in der heutigen Diskussion mission zu erarbeiten haben. erneut gezeigt: Er soll zum Abriß freigegeben werden. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, (Zuruf von der FDP: Vorbereiten!) meinen, Milliardenbeträge aus diesem Etat heraus- Niemand von uns ist auf das Jagdflugzeug 90 verses- brechen zu können, dann sagen Sie doch gleich, daß sen, Sie die Bundeswehr abschaffen wollen! (Widerspruch bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Oh!) aber eines ist sicher: Wir brauchen ein neues, zeitge- Denn Sie schlagen die Bundeswehr mit einer solchen- rechtes Jagdflugzeug. Die CDU/CSU-Fraktion wird Maßnahme finanziell k. o. deshalb den Antrag der SPD zu den Petitionen in der (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Sammelübersicht 15 ablehnen. Zuruf von der SPD: Wir erwarten hier mehr Niveau!) Ich danke Ihnen. Denn mit ca. 52 Milliarden DM — darin sind 1,4 Mil (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord liarden DM aus der Lohnrunde 92 enthalten — hat der neten der FDP) 5084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Janovsky hat 1991 abbrechen würden? Das Ergebnis war — ein mit der Kürze wirklich Ernst gemacht. Abbrechen ist möglich, weil es auch vertragsauflö- (Zuruf von der CDU/CSU: Das war wenig- sende Bedingungen gibt — , daß es a) möglich ist, daß stens Substanz!) das b) höchstens die Kosten für die Entwicklung aus- machen würde, Es gab bei einer Rede — ich sage jetzt nicht bei wel- cher — von einem Parlamentarischen Geschäftsführer (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist dabei die — ich sage jetzt nicht von welchem — den Zwischen- Frage, Herr Präsident?) ruf: „Herr Präsident, muß man sich so etwas anhö- daß es c) aber sehr wahrscheinlich wäre, daß es sehr ren?" — Meine Damen und Herren — das gilt für alle viel billiger wäre, wenn man mit der Indust rie ver- Seiten — , die Antwort heißt: Ja. nünftig verhandeln würde. (Beifall) (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Das Wort hat nun der Abgeordnete Günther Fried- Und wie ist das mit dem Be richt des Rech rich Nolting. nungshofs? Den haben Sie nicht gelesen?)

Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie müssen sich auch Günther Friedrich Nolting (FDP): Frau Kollegin, es meine Rede anhören. gibt verschiedene Berechnungen. Vorhin ist in einem Zwischenruf auch der Bundesrechnungshof ange- (Zurufe von der CDU/CSU: Gerne!) sprochen worden. Von dieser Institution ist auch ge- In den vorliegenden Petitionen wird gefordert, daß die sagt worden — und das habe ich hier wiederholt —, Entwicklung des Jäger 90 sobald als möglich abge- daß keine Finanzmittel eingespart werden. schlossen und auf seine Produktion verzichtet wird. Aber, Frau Kollegin, ich will ein weiteres Argument Der Petitionsausschuß empfiehlt, die Petitionen den gleich noch dazusagen, Fraktionen des Bundestages zur Kenntnis zu geben. Dieser Empfehlung stimmt die FDP-Fraktion zu. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Sie haben mir (Beifall des Abg. Dr. Paul Hoffacker [CDU/ nicht zugehört!) CSU]) warum es nicht richtig wäre, jetzt auszusteigen. Wenn Ich denke, wir sollten die Diskussion — nach dem, wir nämlich zum jetzigen Zeitpunkt aus dieser Ent- was wir hier am heutigen Nachmittag und am frühen wicklung aussteigen würden, hätten wir keinen Zu- Abend gehört haben, dies sage ich speziell in Rich- griff auf die Ergebnisse dieser Arbeiten. Und ich will tung Opposition — wiede ein bißchen versachli- an dieser Stelle in Ihre Richtung dazu noch festhalten: chen. Mehr als 50 % der Entwicklungsanteile des Jäger 90- Programms sind in anderen zivilen Bereichen nutzbar. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das müssen Sie Auch das gehört dazu. gerade sagen!) Daraus ergibt sich für die FDP-Fraktion, die Ent- Ich will deshalb auf die Geschichte verweisen und wicklungsphase sollte abgeschlossen werden. Dabei damit hier zum Thema sprechen. Das europäische wurde von der FDP immer wieder betont — auch von Jagdflugzeug, kurz Jäger 90 genannt, wird seit 1988 dieser Stelle aus — , daß darin keinerlei Präjudiz für gemeinsam von Großbritannien, Italien, Spanien und einen Einstieg in die Produktion zu sehen ist. Deutschland entwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich dabei vertraglich, meine Damen (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Natürlich!) und Herren von der Opposition, d. h. bindend, ver- Meine Damen und Herren, ich sage jetzt auch wie- pflichtet, in der Entwicklungsphase ein Drittel der der in Richtung auf die Opposition: gemeinsamen Kosten und Arbeiten zu tragen. Auf Grund dieser bindenden Verträge würde ein vorzeiti- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Seien Sie doch nicht so blauäugig!) ges Aussteigen aus der Entwicklungsphase keine Fi- nanzmittel einsparen. Der Kollege Thiele hat an ande- Die Entscheidung über die mögliche Produktion des rer Stelle schon darauf hingewiesen. So müßten wir Jäger 90 muß nach Auskunft der Bundesregierung z. B. die run-down-Kosten der nationalen Industrie vom 3. Juli 1990 — ich verweise hierzu auf die Bun- tragen. Ebenso müßten wir den Transfer von Produk- destagsdrucksache 11/7533 — nicht vor 1993 gefällt tionsmitteln und Produktionsanlagen aus Deutsch- werden. Die FDP hat bereits vor knapp zwei Jahren land in die Partnerländer und die Kosten für die not- einen Grundsatzbeschluß gefaßt, in dem wir uns ge- wendige Fortführung des Programms bezahlen. gen die Produktion des Jäger 90, aber für die Sicher- stellung der Luftverteidigung durch eine kostengün- stigere Alternative ausgesprochen haben. Ich betone Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Nolting, ge- statten Sie eine Zwischenfrage? ausdrücklich: für eine kostengünstigere Alternative. Denn wir wollen auch in Zukunft nicht auf eine Luft- verteidigung verzichten, was Sie jedoch offensichtlich Günther Friedrich Nolting (FDP) : Bitte schön. - wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Katrin Fuchs (Verl) (SPD): Herr Kollege, darf ich Sie davon unterrichten, daß mir der ehemalige Haushalts- Sie alle kennen die Koalitionsvereinbarung vom Ja- direktor Ruppelt auf meine Bitte eine Ausarbeitung nuar 1991. Darin ist festgehalten worden, daß die Ent- zur Verfügung gestellt hatte, in der es darum ging, wicklung beendet und über die Frage der Produktion was es die Bundesrepublik kosten würde, wenn wir später entschieden wird. Die Koalition hat dazu eine das Projekt des Jäger 90 zu Beginn des Jahres Arbeitsgruppe eingesetzt, die nach heftigem Drängen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5085

Günther Friedrich Nolting durch die FDP endlich ihre Arbeit aufgenommen Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr hat. Präsident! Meine Damen und Herren! Noch in der (Zuruf von der FDP: Sehr gut! — Zuruf von 11. Legislaturperiode haben sich mehrere Bürger mit der SPD) Petitionen an den Deutschen Bundestag gewandt und sich gegen die Weiterentwicklung und den Bau des Diese Arbeitsgruppe prüft dieses Vorhaben unter Be- Jägers 90 ausgesprochen. Sie haben in staatsbürgerli- rücksichtigung der militärischen Entwicklung und der cher Verantwortung auf die enormen — ich sollte sa- finanziellen Möglichkeiten sowie unter Berücksichti- gen: sündhaften — Kosten dieses Projekts hingewie- gung der Haltung der anderen an dem Projekt betei- sen. Leider hat sich der Petitionsausschuß nicht ent- ligten Länder. Auch an diese Länder werden wir den- schließen können, ohne Wenn und Aber dem Votum ken müssen. der Bürgerinnen und Bürger zu folgen. (Zuruf von der SPD) Meine Damen und Herren, auch diese Arbeitsgruppe Der Bundesminister der Verteidigung hält das neue bezieht Alternativen mit ein. Bevor wir hier im Deut- Jagdflugzeug nach wie vor für unverzichtbar. Der Jä- schen Bundestag eine Entscheidung fällen, sollten wir ger 90 sei trotz der sicherheitspolitischen Entwick- die Empfehlungen dieser Arbeitsgruppe abwarten. lung in Europa zur Optimierung der Luftverteidigung Das entspricht einer sachlichen politischen Arbeit. erforderlich. Da schlägt seine Argumentation merk- würdige Kapriolen. Die Luftverteidigung, so Herr Wir können deshalb Ihrem Antrag auch nicht zu- Stoltenberg einerseits, sei nicht gegen einen Gegner stimmen; denn hier ist das Parlament gefragt. Sie wol- gerichtet und auch nicht ausschließlich von Bedro- len diesen Antrag der Bundesregierung zur Berück- hungsvorstellungen abhängig. Andererseits wurde sichtigung überweisen lassen. Die Bundesregierung der Jäger 90 immer als d i e Antwort auf die sowjeti- ist hier der falsche Ansprechpartner. sche MiG 29 angepriesen; eine Maschine — so merk- (Franz Müntefering [SPD]: Das ist wohl das würdig kann Geschichte sein —, die mittlerweile letzte Argument!) selbst von der Bundeswehr geflogen wird. Frau Kollegin Klemmer, ich hätte an dieser Stelle gern ein Wort dazu gehört, wie Sie denn in Zukunft So ist das Jagdflugzeug 90 zum absurden Symbol eines ungebremsten Wettrüstens ohne Gegner gewor- zur Luftverteidigung stehen, wie Sie zur Landesver- teidigung stehen, und wie Sie überhaupt noch zum den. Rüstung ohne militärische Bedrohung: Das offen- Auftrag der Bundeswehr stehen. bart die wahren Triebkräfte. Diese ungebremste Auf- rüstung ist eine unverantwortliche Geldverschwen- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Darüber machen dung in einer Zeit, in der Abrüstung angesagt ist. wir eine neue Debatte!) Ich habe da meine Zweifel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist eine sicherheitspolitische Fehlentwicklung, die Sie haben hier nicht eine einzige Alternative aufge- deshalb so fatal ist, weil sie die begonnene Abrü- zeigt, stungsdynamik bremst. (Walter Kolbow [SPD]: Das ist nicht Gegen- Das Jäger-90-Konzept ist unvereinbar mit den Zie- stand der Petition!) len von Rüstungskontrollverhandlungen, die den Ab- haben nicht ein einziges Mal den eigenen SPD-An- bau von Offensivfähigkeit und Überraschungsangrif- trag angesprochen. fen zum Gegenstand haben. Es soll offenbar Bestre- bungen verschleiern, die den Abbau von Quantität (Widerspruch bei der SPD — Erwin Horn durch Modernisierungsschübe zu kompensieren ver- [SPD]: Das ist doch Kyffhäuser-Gewäsch!) suchen. Dabei machen doch gerade die gegenwärti- Und ich will gleich dazusagen, — gen Veränderungen in Europa die Sinnlosigkeit mili- tärischer Rüstungsperfektion augenfällig. Das neh- men auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger so Herr Abgeordneter Nol- Vizepräsident Hans Klein: wahr, wie die hier zu behandelnden Petitionen bele- ting, — — gen. Deshalb ist der sofortige Ausstieg aus der Jäger-90- (FDP): Herr Präsident, ich Günter Friedrich Nolting Entwicklung die einzige Alternative. komme damit zum Schluß! — dieser Änderungsantrag birgt in seiner Begründung nur Widersprüche. Vor (Beifall bei der SPD) allen Dingen dann, wenn Sie das Ende der Phantom ansprechen, hätte ich ganz gern gewußt, wie denn ein Es ist unverantwortlich, länger mit dem Ausstieg zu Folgegerät aussehen soll. warten und statt dessen erneut 830 Millionen DM in ein Rüstungsfossil zu stecken, das sich längst überlebt (Zuruf von der SPD) hat. Zu Recht zählen uns die Bürger auf, wo dieses — Das können wir im Ausschuß tun, aber ich hätte es Geld sinnvoller zu verwenden wäre. gern auch hier und heute gehört. Vielen Dank. Ich will nicht zu vermessen sein, meine Damen und Herren, und sagen: statt Jäger 90 Bündnis 90, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Heiterkeit)

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- aber wir wüßten mit 830 Millionen DM ganz sicher ordnete Konrad Weiß. etwas Besseres anzufangen als Herr Stoltenberg. 5086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Konrad Weiß (Berlin) Vielen Dank. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß im der PDS/Linke Liste) Deutschen Bundestag über die Änderungen gemein- sam abzustimmen ist.

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- So weit mein Bericht. che. Als Mitglied des Vermittlungsausschusses möchte Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst ich die Entscheidung der Mehrheit zu einigen Punk- über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf ten ganz knapp begründen. Einige Anrufungsbegeh- Drucksache 12/1644. Wer stimmt für diesen Ände- ren waren nach unserer Ansicht sachlich nicht ge- rungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- rechtfertigt, eines sogar kontraproduktiv. gen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Ich nenne das erste Beispiel. Der Bundesrat wollte Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- eine Bestimmung des Gesundheits-Reformgesetzes tionsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthal- rückgängig machen, wonach in Zukunft beim medizi- tungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenom- nischen Dienst nicht nur Beamte, sondern auch Ange- men. stellte beschäftigt werden können und der medizini- Ich rufe den heute morgen auf die Tagesordnung sche Dienst freiberuflich Tätige in seinen Dienst auf- aufgesetzten Zusatzpunkt auf: nehmen kann. Die Bundesratsmehrheit wollte zurück Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- zur Verbeamtung des medizinischen Dienstes. Das schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes wäre ein Schritt zurück gewesen, und diesen Schritt (Vermittlungsausschuß) zu dem Zweiten Ge- zurück machen wir nicht mit. setz zur Änderung des Fünften Buches Sozial- Der zweite Punkt. Künftig haben versicherte Kinder gesetzbuch Anspruch auf sozialpädiatrische Leistungen, wenn — Drucksachen 12/1154, 12/1363, 12/1387, — ich zitiere das Gesetz — 12/1392, 12/1526, 12/1660 — sie unter ärztlicher Verantwortung erbracht wer- Berichterstattung: den und erforderlich sind, um eine Krankheit zum Abgeordneter Wolfgang Vogt (Düren) frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und ei- Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — nen Behandlungsplan aufzustellen. Herr Kollege Vogt, Sie haben das Wort. Leistungen, die die gesetzliche Krankenversiche- rung gewährt, können nicht losgelöst von der Bedin- Wolfgang Vogt (Düren) (CDU/CSU): Herr Präsi- gung erbracht werden, daß sie ärztlich verordnet wer- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vermitt- den. Im übrigen, wären wir dem Begehren des Bun- lungsausschuß hat das Anrufungsbegehren des Bun- desrates gefolgt, es wäre zu einer überbordenden desrates zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Fünf- Ausgabenflut für neue Leistungserbringer gekom- ten Buches Sozialgesetzbuch am 25. November 1991 men. Ich verstehe nicht, wie sich die SPD dieses Be- beraten. Der Beschluß des Vermittlungsausschusses gehren des Bundesrates hat zu eigen machen kön- ergibt sich aus der Drucksache 12/1660. nen. Der Vermittlungsausschuß hat mit den Stimmen der Meine Damen und Herren, einige Anrufungsbe- Bundestags- und Bundesratsmitglieder von CDU/ gehren haben wir sehr sorgfältig daraufhin überprüft, CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD-Mitglieder ob sie im Vermittlungsverfahren jetzt entschieden beschlossen: werden können. Ich nenne die Begehren betreffend Erstens. Die Zuzahlung zu Arzneimitteln und Ver- Heil- und Kostenpläne bei zahnärztlicher Behand- bandsmitteln, für die ein Festbetrag nicht festgesetzt lung, abrechnungsfähige Materialien beim Zahner- ist, in Höhe von 15 %, mindestens 1 DM und höchstens satz, vor allem Großgeräte, ihren Einsatz und das Ver- 10 DM je Mittel beginnt nicht am 1. Oktober 1992, hältnis zwischen Großgeräteausschuß und Bundes- sondern erst am 1. Juli 1993. Bis zum 30. Juni 1993 ausschuß. Wir sind zu der Auffassung gekommen, daß bleibt es also bei der Zuzahlung von 3 DM je Mittel, es nicht zweckmäßig ist, diese zum Teil komplizierten jedoch nicht mehr als die Kosten des Mittels selbst. Fragen im Vermittlungsverfahren endgültig zu ent- Zweitens. Die im Gesetzesbeschluß des Bundesta- scheiden. Im übrigen haben CDU/CSU und FDP eine ges vorgesehene Regelung, daß in den neuen Bundes- Kommission eingesetzt, die sich vor allem mit den ländern bis zum 30. September 1992 nur 1,50 DM zu- Vermittlungsbegehren zu den Punkten 6, 7 und 8 be- gezahlt werden müssen, wird dahin gehend verän- schäftigen wird. dert, daß diese günstige Regelung bis zum 30. Juni Es bleibt also bei dem Vorschlag der Änderung der 1993 verlängert wird. Fristen bei der Zuzahlung. Ich glaube, viele Versi- Alle anderen Vermittlungsbegehren der Bundes- cherte werden sich über diese veränderten Fristen ratsmehrheit hat die Mehrheit im Vermittlungsaus- freuen, und ich meine, zu Recht. Aber diese veränder- schuß nicht aufgegriffen. Zu einzelnen dieser Vermitt- ten Fristen schaffen der Selbstverwaltung einen grö- lungsbegehren hat sie jedoch deutlich gemacht, daß ßeren zeitlichen Spielraum, um in dieser Zeit noch sie nicht einfach abgelehnt wurden, vielmehr noch im mehr Arzneimittel in die bewährte Festbetragsrege- einzelnen überprüft werden müssen. lung einzubeziehen. Die Vermittlungsausschußminderheit, also die Bun- Weil das Ergebnis des Vermittlungsausschusses für destags- und Bundesratsmitglieder der SPD, hat allen die Versicherten, aber auch für die Fortentwicklung Anrufungsbegehren des Bundesrates zugestimmt. der gesetzlichen Krankenversicherung und des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5087

Wolfgang Vogt (Düren) Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung ein 80 %, die Sie genannt haben, auch nur annähernd zu Vorteil ist, bitte ich um Zustimmung zu dem Ergebnis erreichen. des Vermittlungsausschusses. ( [CDU/CSU]: Ich nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind ja jetzt noch nicht einmal bei 35 %, Herr Kol- lege Hoffacker, was Sie mir durch Nicken bestätigen werden. Vizepräsident Hans Klein: Dazu der Abgeordnete (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Nein, nein! Dr. Peter Struck. Das kann ich nicht! Herr Kollege Dr. Peter, das kann ich nicht bestätigen!) Der Beschluß des Vermittlungsausschusses vom Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine sehr vergangenen Montag ist im übrigen auch für Parla- verehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestags- mentarier, die durch den Deutschen Bundestag in den fraktion kann diesem Ergebnis des Vermittlungsaus- Vermittlungsausschuß entsandt worden sind, ein et- schusses nicht zustimmen, was beschämendes Ereignis gewesen, Herr Kollege Vogt. Denn daß sich die Länder, die den Vermitt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) lungsausschuß angerufen haben, anhören müssen, daß der Sprecher der CDU im Vermittlungsausschuß, weil wir hier u. a. einen Vorgang erlebt haben, der ein der von mir sehr geschätzte Kollege Blens, sagt: Ganz bezeichnendes Licht auf die von der Union regierten egal, was die da im Bundesrat beschlossen haben; die Länder, insbesondere auf die neuen Bundesländer, Koalition hat beschlossen, es geht woanders lang, und wirft. daß sie das dann schweigend hinnehmen, ist nicht Die Bundesländer, die von der Union regiert wer- gerade ein Beispiel für das Selbstbewußtsein von den, haben bis auf zwei den Vermittlungsausschuß CDU-regierten Ländern. angerufen. Es gab im Bundesrat ein Ergebnis von (Beifall bei der SPD) 14 : 2 für die Anrufung des Vermittlungsausschusses. Deshalb werden wir diesem Ergebnis des Vermitt- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört! — Dr. Paul lungsausschusses nicht zustimmen. Ich teile Ihnen Hoffacker [CDU/CSU]: Ihr gutes Recht!) gleichzeitig auch mit, daß sich der Bundesrat in seiner Leider sind dann alle B-regierten Länder — für die übermorgigen Sitzung mit diesem Ergebnis auch Zuhörer draußen sage ich: Das heißt, leider noch nicht abfinden wird. CDU/CSU-regierten Länder — (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ (Zuruf von der CDU/CSU: Warten Sie den CSU: Woher wissen Sie das?) 5. April ab!) umgefallen und haben sich den berechtigten Anlie- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- gen der Menschen, insbesondere in den neuen Bun- ordnete Dr. Bruno Menzel. desländern, verweigert, was sehr zu beklagen ist. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li- Dr. Bruno Menzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ste) verehrten Damen und Herren! Das Ergebnis des Ver- Das Anrufungsbegehren des Bundesrates, das die mittlungsausschusses zum Zweiten Gesetz zur Ände- SPD-Bundestagsfraktion unterstützt, hatte drei politi- rung des SGB V beinhaltet als wesentliche Änderung sche Kernpunkte: Erstens Verlängerung des einheitli- des Originaltextes die Verschiebung der 15%igen chen Beitragssatzes von 12,8 % in der Krankenversi- Zuzahlung für Nichtfestbetragsarzneimittel bis zum cherung der ostdeutschen Bundesländer, zweitens Höchstbetrag von 10 DM je Medikament auf den verbindliche Gestaltung der Planung des Einsatzes 1. Juli 1993. von medizinisch-technischen Großgeräten, drittens In vier Punkten ist das Gesetz unverändert gegen- die Vermeidung der drastischen Erhöhung der Arz- über dem Koalitionsentwurf übernommen worden. neimittelzuzahlung durch die Patienten auf 15 % bzw. Dazu gehört u. a. die Klarstellung des Leistungsan- höchstens 10 DM je Medikament durch Verankerung spruches bei sozialpädiatrischer Behandlung. Die eines dreijährigen Morato riums. vom Bundesrat begehrte Ausweitung der sozialpädia- Herausgekommen ist ein kleines Moratorium von trischen Leistungen hätte lediglich zu einer Verlage- nur neun Monaten. Das ist zwar eine kleine Hilfe für rung der Kosten vom Sozialhilfeträger auf die GKV die Menschen in den neuen Bundesländern. Aber es geführt, ohne daß damit eine Leistungsverbesserung ist absolut nicht ausreichend, weil wie jeder Mensch für die betroffenen Kinder verbunden gewesen weiß, diese neun Monate nicht ausreichen werden, wäre. diese Nöte zu mildern. Auch die Verdoppelung der Bezugsdauer beim Die Argumentation der Koalitionsvertreter, nach Krankengeld für die Pflege erkrankter Kinder — bei der in diesem Zeitraum das Instrument der Festbe- Alleinstehenden Vervierfachung — unter Heraufset- träge so ausgeweitet sei, daß es für die Mehrzahl der zung der Altersgrenze von acht auf zwölf Jahre wurde Medikamente dann endlich zur Anwendung kommen unverändert beibehalten. könnte, ist völlig unaufrichtig und erfolgt wider bes- Zusätzliche Begehren des Bundesrates wurden vom seres Wissen. Denn wir wissen, daß die Bundesregie- Vermittlungsausschuß in mehreren Punkten abge- rung, Frau Kollegin Hasselfeldt, überhaupt nicht in lehnt. Dazu gehört insbesondere die Fortschreibung der Lage sein wird, die dann angepeilte Zahl von eines einheitlichen Beitrages für die Krankenversi- 5088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Bruno Menzel cherungen in den neuen Bundesländern für 1992. empfehlung nicht gestrichen wurde. Diese Regelung Eine solche Fortschreibung wäre aus unserer Sicht ist nicht nur nicht sachgerecht, sondern auch ausge- ordnungspolitisch verfehlt und würde den möglichen sprochen unsozial, besonders für kinderreiche Fami- Wettbewerb verhindern. Außerdem haben zahlreiche lien. Kassen bereits verkündet, daß sie 1992 keine Bei- Meine Damen und Herren, dieses Land steuert aus tragserhöhungen in den neuen Bundesländern beab- meiner Sicht auf amerikanische Verhältnisse zu. sichtigen, ja, daß sogar Beitragssenkungen in der Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. zweiten Hälfte des Jahres 1992 nicht auszuschließen sind. Dies durch die Beitragsfortschreibung zu verhin- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie des dern wäre ausgesprochen schädlich, da dadurch eine Abg. Hans-Günther Toetemeyer [SPD]) Senkung der Lohnnebenkosten behindert würde. Auch einigen weiteren Begehren des Bundesrates, Vizepräsident Hans Klein: Wir kommen zur Abstim- die derzeit Gegenstand der Diskussion in der Koali- mung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 tion sind, wurde nicht gefolgt, da keine zwingende Abs. 3 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß Notwendigkeit bestand, im Eilverfahren eine Ge- über die Änderungen im Deutschen Bundestag ge- setzesänderung herbeizuführen, ohne die notwen- meinsam abzustimmen ist. Ich bitte diejenigen, die dige gesundheitspolitische Diskussion innerhalb der zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer Koalition beendet zu haben. stimmt dagegen? — Gibt es Enthaltungen? — Die Be- Insgesamt, meine Damen und Herren, fällt uns trotz schlußempfehlung des Vermittlungsausschusses ist allem die Zustimmung zu dem Vermittlungsvorschlag angenommen. keineswegs leicht. Letztendlich bedeutet eine Ver- schiebung des Wirksamwerdens des Arzneimittel- Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort. Ich zuschlages, daß ein notwendiges Steuerungsinstru- rufe auf: ment bis zum 1. Juli 1993 hinausgeschoben wird. Dies Einzelplan 23 wiegt um so schwerer, weil daraus eine nicht unbe- Geschäftsbereich des Bundesministers für trächtliche Belastung der GKV resultieren kann. Der wirtschaftliche Zusammenarbeit Vermittlungsvorschlag bedeutet aber auch, daß sich Bundestag und Bundesrat zu der Notwendigkeit der — Drucksachen 12/1421, 12/1600 — Arzneimittelzuzahlung bekennen. Ich bitte daher um Berichterstattung: Ihre Zustimmung. Abgeordnete Helmut Esters Dr. Christian Neuling (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Werner Zywietz Dazu liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete vor, über den im Anschluß an die Aussprache gegen Dr. Ursula Fischer, Sie haben das Wort. 21.30 Uhr namentlich abgestimmt werden soll. Die interfraktionelle Vereinbarung sieht für die Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Aussprache eine Stunde vor. — Dagegen erhebt sich dent! Meine Damen und Herren! Der Kompromißvor- kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schlag des Vermittlungsausschusses, die erhöhte Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Selbstbeteiligung der Patienten an Medikamenten ordnete Helmut Esters. auf den 1. Juli 1993 zu verschieben, verdeutlicht zwar eine gewisse Einsicht in die Problematik, ändert je- doch gar nichts an der Grundtendenz und muß auch Helmut Esters (SPD) (Von der SPD sowie von Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP] mit Beifall be- nicht nur für den Bundesrat eine Enttäuschung und wie eine Ohrfeige sein. grüßt): Ich bedanke mich natürlich zunächst bei den Kollegen aus dem Haushaltsausschuß sehr herzlich Wir setzen uns auch weiterhin dafür ein, daß Patien- für den ausgesprochen freundlichen Empfang, der mir ten, also kranke Menschen, von allen möglichen Zu- beim Gang zum Podium bereitet worden ist. Ich be- zahlungen auf dem sogenannten Gesundheitsmarkt danke mich ebenfalls bei den Mitgliedern aus dem befreit werden. Auch deshalb lehnen wir den Vor- Entwicklungsausschuß, und zwar bei Abgeordneten schlag des Vermittlungsausschusses ab. Diese Form aus mehreren Fraktionen. fauler Kompromisse löst bekannterweise weder das Problem der Kostenentwicklung des Gesundheitswe- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Die sens noch den Arzneimittelverbrauch, abgesehen von FDP war auch dabei!) der Tatsache, daß die Versicherten — zwar ein biß- — Ja, ja. chen später — noch etwas tiefer in ihre eigene Tasche Wir haben hier den Etat des Bundesministers für greifen müssen. Dazu kommen noch die anstehenden wirtschaftliche Zusammenarbeit zu beraten, der in Beitragssatzerhöhungen der Krankenkassen und die diesem Jahr nach den Beschlüssen des Haushaltsaus- zu erwartenden Beiträge für die Pflegeversicherung schusses ein Volumen von rund 8,2 Milliarden DM und — da bin ich mir sicher — noch einiges mehr.- hat. Der Sozialstaat BRD nimmt sich jedes Jahr ein we- Nur zum Vergleich, damit man weiß, welchen nig mehr aus der Verantwortung für die Gesundheit Handlungsspielraum das für den ganzen Süden be- seiner Bürger und überläßt das Problem Krankheit, deutet: Wir haben an Barleistungen in 1990 und 1991 Unfall und ähnliches mehr dem p rivaten Geldbeutel. für die Golfregion rund 9,5 Milliarden DM aufge- Unter diesem Aspekt sehe ich auch, daß die Begren- bracht, und wir bringen im nächsten Jahr — so auch zung des Freistellungsanspruchs trotz Bundesrats die Zahl des Bundeskanzlers heute morgen — für die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5089

Helmut Esters Entwicklung und für die verschiedenen Finanzierun- stungsmaßnahmen entscheidende Mittel für den Be- gen im Bereich der neuen Länder in diesem Jahr et- reich der Entwicklungspolitik freiwerden. was über 140 Milliarden DM auf. Daraus kann man (Beifall bei der SPD) ersehen, welche marginale Größe dieser Etat für den riesigen Bevölkerungsteil auf der südlichen Halbku- Aus diesem Grund haben wir Ihnen jetzt auch den gel hat. Antrag vorgelegt, freiwerdende Mittel im Zuge der Umschichtung aus dem Einzelplan der Verteidigung Wir wissen aber auch — dies ging heute morgen in den Einzelplan der wirtschaftlichen Zusammenar- glücklicherweise durch alle Debatten quer durch —, beit hinübergehen zu lassen. daß andere Politikfelder in wesentlich größerem Um- Ein anderer Punkt ist — da bitte ich vor allen Din- fange auf die Länder und die Bevölkerung der Dritten gen die Kolleginnen und Kollegen der Koalition, doch Welt einwirken, als es dieser Einzelplan 23 überhaupt endlich einmal tatkräftig mitzuhelfen, daß die Ankün- kann. digung des Bundeskanzlers aus der Regierungserklä- rung vom Jahre 1987 umgesetzt werden kann —, daß (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist die Rückflüsse aus Zinsen und Tilgungen als zusätz- das, jawohl!) liche Mittel für die wirtschaftliche Kooperation zur In einer der letzten Ausgaben der „Zeit" hat Erhard Verfügung gestellt werden sollten. Eppler einen lesenswerten Artikel zu diesem Bereich (Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek geschrieben, wo er die Entwicklungspolitik in die Di- [Duisburg] [SPD]: Das wird auch Zeit!) mensionen der Gesamtpolitik treten läßt. Als reine Ich will der Ehrlichkeit halber sagen: Das Bundesfi- Sonderaufgabe eines einzelnen Ressorts, das zudem nanzministerium hat uns drei Jahre lang an der Nase noch ständig um Kompetenzen und Zuständigkeiten herumgeführt. kämpfen muß, steht sie allerdings auf verlorenem Posten. (Zuruf von der SPD: Hört! Hört! — Rudolf Kraus [CDU/CSU]: Das darf nicht sein!) nennt zwei Beispiele, wie sich andere Wir sollten nämlich die zusätzlichen Einnahmen be- Politikbereiche auf die Länder der Dritten Welt aus- kommen; diese kamen aber nicht. Nun hatten wir das wirken. Er sagt: Unsere europäische Agrarpolitik ist im Haushalt 1991 gerade korrigiert, und was passiert? eine schlechte Entwicklungspolitik; denn sie veran- Rund 150 Millionen DM Mehreinnahmen aus diesem laßt viele Länder der Dritten Welt, Futtermittel für das Titel. Da allerdings bin ich jetzt auch den Kollegen der Wachsen der europäischen Fleischberge anzubauen Koalition, Christian Neuling und Werner Zywietz, anstatt Nahrungsmittel für die eigene Bevölkerung. sehr dankbar dafür, daß sie bereit waren, diese Be- (Beifall bei der SPD) träge in den Nachtragshaushalt, der im Laufe dieser Woche ebenfalls zur Beratung ansteht, aufzunehmen Die ländliche Bevölkerung in diesen Ländern und die und diese Teile so für den Bereich der wirtschaftlichen Länder selbst erzielen nämlich höhere Einnahmen Zusammenarbeit zu retten. — und das noch in Devisen — für den Anbau von Soja- Ich wäre aber schon dankbar, wenn das, was der bohnen als für das Grundnahrungsmittel schwarze Bundeskanzler im Jahre 1987 versprochen hat, end- Bohnen. lich umgesetzt werden könnte. Als weiteren Punkt nennt Eppler: Unsere Energie- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Für die politik ist schlechte Entwicklungspolitik, wenn sie die Ärmsten der Armen ist das nämlich!) Ölpreise durch unsere Nachfrage hochhält oder wenn — Ja, natürlich. — Für uns ist das — ich habe das sie technische Leitbilder schafft, die im Süden verhee- schon einmal beim Finanzminister selbst angemahnt, rend wirken müssen. — Man könnte hier noch eine auch im Haushaltsausschuß — ein ganz wichtiger ganze Menge von Beispielen anführen. Punkt. Die Entwicklungspolitik selber mit dem eben ge- Ich bin allerdings froh — das sage ich jetzt auch nannten Volumen von rund 8,2 Milliarden DM kann einmal — , daß die Entwicklungspolitiker mit einiger die Schäden nicht reparieren, die in anderen Politik- Verspätung den Haushaltspolitikern in einem Punkt feldern angerichtet werden. Deswegen müssen wir gefolgt sind: bei der Veranschlagung der Mittel für die begreifen — das klang heute morgen verschiedent- entsprechenden Hilfen der mittel- und osteuropäi- lich schon an —, daß die Entwicklungspolitik bei uns schen Länder in einem neuen Kapitel, das dann 23 04 zu Hause anfängt. heißen könnte, im Einzelplan 23. (V o r s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Warum? Wichtig ist, daß die Mittel und die Bewirt- schaftung dort veranschlagt werden, wo man das Nur wenn wir selber an den Umbau unserer Indu- Durchführungsinstrumentarium in seiner ganzen striegesellschaft ernsthaft herangehen, gewinnen die Breite verfügbar hat und zum Einsatz bringen kann. - Länder des Südens die Freiheit zur Nachahmung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Für uns sind weitere Punkte, die in diesem Einzel- Ich lade die Kolleginnen und Kollegen der Koalition plan enthalten sind, von besonderer Bedeutung. Wir dazu ein, wenn es denn jetzt nicht gelingt, mit dafür zu alle sind uns immer und zu allen Zeiten darin einig sorgen, daß wir dies dann wenigstens im nächsten gewesen: Wenn es zu entscheidenden Abrüstungs- Haushalt realisieren können. In dem ganzen Bereich prozessen kommt, dann werden im Zuge der Abrü der Durchführungsorganisationen, in dem Bereich der 5090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Helmut Esters Verwaltungshilfe verfügt die Deutsche Stiftung für Dr. Peter Struck (SPD): Herr Kollege Esters, ich darf internationale Entwicklung über einen hervorragen- Sie fragen, ob das Thema, das Sie eben sehr überzeu- den Ruf. gend dargestellt haben, nicht auch Gegenstand eines Im ganzen Bereich der technischen Zusammenarbeit, Gespräches mit dem damaligen Haushaltsausschuß die ja ebenfalls ein wichtiger Punkt ist, haben wir als vorsitzenden Albert Leicht gewesen ist. Können Sie Instrument die Gesellschaft für Technische Zusam- uns vielleicht kurz über das Ergebnis dieses Gesprä- menarbeit in Eschborn, die entsprechendes Know- ches berichten? how, das nicht immer im eigenen Hause vorhanden (Lachen bei der CDU/CSU) sein muß, auf dem Markt einkaufen und es bündeln kann, damit nicht jedes Ressort eine eigene Spiel- wiese und eine eigene Durchführorganisation schafft, (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist Helmut Esters (SPD): Herr Kollege Struck, so leid es uns aus dem Herzen gesprochen!) mir tut, ich muß Sie enttäuschen. Denn in der Zeit, als Albert Leicht Vorsitzender des Haushaltsausschusses so daß kein Mensch nachher mehr weiß, wo das denn war, wurde, übrigens einstimmig, die Vertraulichkeit überhaupt noch gebündelt wird. Selbst die klügsten im Haushaltsausschuß eingeführt, die wir auf Grund Haushälter neuerer Erkenntnisse, die auch uns gekommen sind, (Dr. Peter Struck [SPD]: Sind wir ja gar nicht! jetzt wieder auflockern wollen. Daraus mögen Sie ent- — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wen meint nehmen, wie lernfähig wir sind, Herr Kollege er?) Struck. wissen heute schon nicht mehr ganz genau — da müs- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der sen wir uns schon sehr anstrengen, um uns noch zu- SPD und der CDU/CSU — Zuruf von der rechtzufinden — , wo denn was etatisiert ist oder wem CDU/CSU: Das war abgesprochen!) dann was aus dem Einzelplan 60 zur Durchführung — Das war überhaupt nicht abgesprochen. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Zur Be -wirtschaftung!) Für uns sind andere Punkte von besonderer Wich- überwiesen worden ist. tigkeit, nämlich daß wir dort, wo Länder zu Demokra- tie und Sozialer Marktwirtschaft übergehen wollen, so Uns kommt es, Herr Minister — wir haben dies etwas wie einen Demokratiebonus geben können, schon ein paarmal gesagt — auch darauf an — da sind der verschiedenartig ausfallen kann. Wir können da- wir ebenfalls nicht auseinander —, daß es uns gelingt, mit ein sichtbares Zeichen setzen, daß wir die Instru- den ganzen Komplex der Länderquoten, die ja ein mente, die wir zur Verfügung haben, jetzt intensiver schrecklich starres Gerippe darstellen, aufzulockern, einsetzen. (Beifall des Abg. Dr. Winfried Pinger [CDU/ Im Bereich des Schuldenerlasses ist es möglich, daß CSU]) wir diese Länder bevorzugt behandeln, damit die damit wir dann auf jeweils eintretende Entwicklun- Startchancen für demokratisch gewählte Regierun- gen besser reagieren können, als das heute der Fall gen besser werden. ist. (Beifall des Abg. Dr. Uwe Holtz [SPD]) (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!) Ich warne aber Neugierige. Dies ist eine Sisyphus- In anderen Bereichen kann es vorkommen, daß wir arbeit, die mit dem Subventionsabbau vergleichbar dort, wo wir im Normalfall Kredite vergeben hätten, in ist. Wer darüber Näheres wissen will, der erkundige Einzelfällen von der Möglichkeit, Zuschüsse zu verge- sich bei Jürgen Möllemann; er hat damit schon Erfah- ben, Gebrauch machen. rungen gemacht. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das (Beifall der Abg. Ing rid Matthäus-Maier klingt ja außerordentlich differenziert! — Ge [SPD]) genruf des Abg. Helmut Wieczorek [Duis Ich hoffe aber, daß wir diese Erfahrungen hier mit dem burg] [SPD]: Ach, der hat doch keine Ah Einzelplan 23, Herr Minister, nicht machen müssen. nung!) (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Da brauchen — Wenn Sie genau hingehört haben, Herr Kollege wir ganz kluge Haushälter!) Weng, dann stellen Sie fest, daß das nicht differenziert klingt. Aus eigenem Interesse sollten wir, wie es heute Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Esters, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen morgen unser Fraktionsvorsitzender auf einen Hin- Struck? weis von Uwe Holtz hin formuliert hat, eine präventive Entwicklungspolitik mit dem Ziel betreiben, zumin- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wenn's ihm - dest auf längere Sicht neue und größere Flüchtlings- hilft!) ströme im Zuge einer erkennbaren Armutswande- rung verhindern zu helfen.

Helmut Esters (SPD): Aber sicher. Oberstes Ziel in diesem Bereich der Entwicklungs- politik muß es sein, zu einer menschenwürdigen, wirt- schaftlich produktiven, sozial gerechten, umweltver- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. träglichen und auf Dauer tragfähigen Entwicklung in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5091

Helmut Esters den Ländern der Dritten Welt — und auch im Mittle- schen zu helfen. Dies ist parteiübergeifend und sollte ren und Nahen Osten — beizutragen. auch fraktionsübergreifend sein. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das allein ist Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE] und des es!) Abg. Werner Zywietz [FDP]) Der Unterschied zeigt sich, lieber Kollege Helmut Neben einer entwicklungsverträglichen Umgestal- Esters, eher darin, wo man die politische und finan- tung der internationalen Rahmenbedingungen bedarf zielle Seriosität ansetzt und wo sie aufhört. Wenn ich es dazu auch der Beseitigung interner Entwicklungs- mir euren Antrag ansehe, dann stelle ich fest, daß er in hemmnisse. Zu diesen Hemmnissen gehören: Dikta- vielen Punkten dem entspricht, was wir bei der Bera- turen jedweder Art, politische und soziale Unfreiheit, tung des Haushalts in der Bereinigungsrunde selber Rechtsunsicherheit, ineffiziente Verwaltungen, unge- aus der Koalition heraus verändert haben. Dies gilt eignete Wirtschafts- und Energiekonzepte sowie un- z. B. für die Frage der Förderung demokratischer Ent- gerechte und ineffiziente Produktions-, Vermögens-, wicklungen. Dafür haben Sie 200 Millionen DM ange- Eigentums- und Einkommensstrukturen. setzt. Wir haben das bei der Förderung der NGO's, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Ein nämlich der Stiftungen und Kirchen — mit 25 Millio- weites Feld!) nen DM umgesetzt. Ähnliches gilt für die FZ. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit müssen Kurzum: Wir haben uns an die haushaltspolitische Menschenrechtsorientierung, Armutsbekämpfung Seriosität gehalten, so wie es eine Regierungskoali- durch Hilfe zur Selbsthilfe, die Eindämmung des Be- tion nun einmal machen muß. Das heißt, wir haben völkerungswachstums, das gemacht, was wirklich durchführbar ist. In der Tendenz sind wir gar nicht unterschiedlicher Mei- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: nung. Nur, in der Frage der Seriosität entscheiden wir Gleichberechtigung!) uns eben wirklich auch für eine Berechenbarkeit der Umweltprobleme sowie — ganz allgemein — Maß- öffentlichen Haushaltspolitik. Darum müssen wir die- nahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen sen Antrag leider ablehnen. der Menschen verstärkt werden. Über den Deckungsvorschlag im Zusammenhang mit Für eine in dieser Richtung orientierte Entwick- dem Einzelplan 14 — Geschäftsbereich des Bundes- lungspolitik, die sowohl aus humanitären Gründen als ministers der Verteidigung — ist bereits genug gesagt auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse geboten worden. Dazu muß etwas kritischer bemerkt werden, ist, muß das Volumen der öffentlichen Haushalte im gerade in Richtung dessen, was Sie ausgeführt haben, Lauf der 90er Jahre wesentlich gesteigert werden. lieber Herr Kollege Esters: Ich hätte mir gewünscht, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jochen Sie hätten jenen Teil der Diskussion aufgegriffen, der Feilcke [CDU/CSU]) da sagt: 1992 die eine Milliarde im Einzelplan 14 ein- fach zu streichen, ist nur ein Federstrich, aber nicht Es klang heute morgen — auch beim Bundeskanzler seriös, weil gar nicht durchführbar. Dazu muß man und bei den Fraktionsvorsitzenden — durch: Wir alle stehen und sagen: Solche unseriösen Deckungsvor- werden in absehbarer Zeit in diese Richtung gehen schläge soll man im Rahmen einer Haushaltsberatung müssen, und sei es für viele nur aus Gründen stärke- nicht machen. ren Eigeninteresses. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben Ihnen einen Antrag, der in diese Rich- tung geht, die ich auszuführen versucht habe, vorge- Man sollte eine politische Aussage treffen und be- legt. Wir haben Ihnen gleichzeitig den entsprechen- kennen: Wir wollen dies tun, können es aber nicht den Deckungsvorschlag aus dem Einzelplan 14 ge- finanzieren. macht. (Dr. Peter Struck [SPD]: Na, na, na! Vor- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) sicht!) Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, verehrte Das ist dann glaubwürdig. Das andere ist nicht glaub- Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wenn Sie würdig. Daher wird dieser Antrag sicher nicht unsere beiden von uns vorgelegten Anträgen zustimmen Zustimmung finden. würden; denn dann könnten auch wir dem Einzel- plan 23 unsere Zustimmung geben. Ich möchte im Rahmen der Aussprache kurz auf die Eckdaten des Einzelplans 23 eingehen. Ich glaube, es Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ist gemeinsam gelungen — insofern danke ich Herrn (Beifall bei der SPD) Kollegen Esters für die Anerkennung — , im Einzel- plan 23 ebenso wie 1991 auch wieder für 1992 über die Fraktionsgrenzen hinaus Schwerpunkte zu setzen und Weichenstellungen vorzunehmen. Dabei geht es Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile unserem um die deutliche Verstärkung der Finanziellen Zu- Kollegen Dr. Christian Neuling das Wort. sammenarbeit, um eine deutliche Verstärkung auch im Bereich der Förderung von gesellschaftlichen Ver- änderungen in den Entwicklungsländern, und es geht Dr. Christian Neuling (CDU/CSU) : Herr Präsident! auch um eine deutliche Verstärkung der Unterstüt- Meine Kolleginnen und Kollegen! Den Einzelplan 23 zung von politischen Prozessen in Osteuropa, auch zeichnet aus, daß er nicht von einer harten politischen wenn jeder weiß, daß noch innerhalb der Koalition Kontroverse geprägt ist. Es geht im Kern darum, Men- ausgefochten werden muß, wo diese Förderung res- 5092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Christian Neuling sortiert. Es kann gar kein Zweifel bestehen, daß die ten, daß sie dort bleiben. Es kann doch kein Ziel unse- Instrumente beim BMZ vorhanden sind und dort ge- rer Politik sein, die Menschen zu entwurzeln. Wir nutzt werden sollen und müssen. müssen vielmehr unseren Teil dazu beitragen, daß die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Menschen in ihrem Heimatland bleiben. Eine ent- ordneten der SPD) sprechende Förderung muß auch das Ziel der Ent- wicklungshilfe sein. Ich finde, man sollte auch anerkennen — Sie haben dies getan, Herr Kollege Esters — , daß wir, indem wir (Beifall bei der CDU/CSU) die Ernährungshilfe gedeckelt und dem Zugriff der Ein weiterer Punkt betrifft die Bildung und Ausbil- Finanziellen Hilfe entzogen haben, dem Bundesmini- dung. Ich will das nur ganz kurz streifen. Ich glaube, ster und seiner Truppe ein Stück mehr Berechenbar- daß gerade wir mit unserer Berufsausbildung einen keit bei der Gewährung von finanziellen Hilfen ver- wichtigen entwicklungspolitischen Schlager — so schafft haben. Ich halte dies für eine ganz wichtige möchte ich es einmal nennen — haben. Ich finde, wir Weichenstellung, denn man kann mit einem anson- sollten auch darauf achten, daß dieser Bereich der sten offenen Titelansatz im Grunde genommen keine beruflichen Ausbildung wesentlich stärker auch in Projekte seriös fördern. der internationalen Entwicklungspolitik zum Aus- druck kommt; denn nur eine eigene berufliche Aus- Weil sie die Gemeinsamkeit betont haben, Herr Kol- bildung schafft letztlich die Voraussetzung für eine lege Esters, möchte ich bei dieser Gelegenheit dem eigene Lebensbildung. Bundesminister und seinen Mitarbeitern anläßlich des 30jährigen Bestehens des Bundesministeriums für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit Glückwünsche aus- bei Abgeordneten der SPD) sprechen. Die Gründung war, wie ich lernen konnte, Ich sage im Hinblick auf die Bildung, Herr Kollege 1961 eine sogenannte Weltpremiere. Ich möchte diese Esters, weil Sie die Demokratien — wie ich finde, zu Glückwünsche mit dem Dank für die geleistete Arbeit Recht — angesprochen haben: Gerade Bildung und verbinden, und zwar nicht nur für die Arbeit in den Wissen bedeuten mehr Sicherheit und Selbstver- vergangenen neun Jahren, Herr Bundesminister, son- trauen im Umgang mit neuen Herausforderungen und dern in den vergangenen drei Jahrzehnten. Entwick- fördern nicht zuletzt die Bereitschaft, sich für politi- lungspolitik war schwerpunktmäßig immer eine ge- sche Veränderungen im Sinn einer Demokratisierung meinsame politische Aufgabe. Deswegen gilt der im eigenen Lande einzusetzen. Dank den Leistungen in den vergangenen drei Jahr- zehnten. Das heißt Bildung und Demokratisierung gehen durchaus Hand in Hand. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Helmut Esters [SPD]: Richtig!) Ich möchte nun einige Schwerpunkte unserer Ent- wicklungspolitik anführen, die nicht strittig sind. Ich Insoweit haben wir eine wichtige Aufgabe, gerade nenne zum einen die Armutsbekämpfung. Die Men- diese gesellschaftspolitische Veränderung und die po- schen in den Entwicklungsländern müssen durch eine litische Bildung und berufliche Ausbildung in den zügige und spürbare Verbesserung ihrer Lebensver- Entwicklungsländern selber zu fördern, weil wir so im hältnisse eine Perspektive vor Ort erhalten. Ich halte Kern auch Demokratisierungprozesse fördern bzw. das für eine ganz wichtige Zielrichtung der Entwick- stabilisieren. lungspolitik. Sie müssen dies unter Beachtung ihrer (Helmut Esters [SPD]: Sehr gut!) kulturellen Identität auch dadurch schaffen, daß sie Ich glaube, daß dieser Punkt genauso wichtig wie die sich eine eigenständige Lebensgrundlage selber erar- berufliche Ausbildung ist. beiten können. Der dritte Punkt, der globale Umweltschutz, ist über Ich glaube, letztlich wird nur auf diesem Wege dem die Fraktionen hinaus unstrittig. Auch hier eine Zahl: ständig steigenden Strom von Flüchtlingen, einer Völ- In 1992 ist der Ansatz für diesen Teilbereich — man kerwanderung modernster Art am Ausgang des kann sagen, unbefriedigend, aber es geht nur Stück 20. Jahrhunderts, wirksam entgegenwirkt werden für Stück — um über 100 % auf ca. 40 Millionen DM können. Es kann nicht strittig sein, daß über 90 % der gestiegen. Asylsuchenden aus überwiegend wirtschaftlichen Motiven in die Industrienation — ich rede jetzt als Die Verantwortung für den globalen Umweltschutz Beispiel von Deutschland — kommen. Nach meiner ist zu Recht genannt worden. Nur stoßen wir hier, Herr festen Überzeugung — auch die Debatte am heutigen Kollege Esters, letztlich irgendwo an eine Grenze fi- Tag hat dies gezeigt — wird nur eine Änderung des nanzieller Beherrschbarkeit und Machbarkeit. Art. 16 des Grundgesetzes diesen Mißbrauch wirk- (Helmut Esters [SPD]: Natürlich!) sam eindämmen können. Der Etat ist eben auch ein Ausdruck politischer Prio- (Hans-Günter Toetemeyer [SPD]: Ach! Nützt ritäten. überhaupt nichts!) - (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Jäger 90!) Dies ist die politische Handlung, die wir jetzt entschei- — Ich halte es für völlig falsch, hier immer wieder den müssen. Jäger 90 gegen irgend etwas zu verrechnen. Ich finde, Unabhängig davon und parallel begleitend muß es der Bundesverteidigungsminister hat zu Recht gesagt: aber auch gelingen, an der eigentlichen Ursache an- In dem Moment, wo ich anfange, einzelne Etatposten zusetzen. Den Menschen in diesen Ländern muß es gegeneinander zu wichten, komme ich zu einer nega- möglich sein, ihre Lebensbedingungen so zu gestal tiven Emotionalisierung. Dies ist kein positiver An- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5093

Dr. Christian Neuling satz. Ich könnte genauso sagen: Jäger 90 gegen Di- higkeit resultieren, die Bedürfnisse durch inländische ätenerhöhung oder Erhöhung der Beamtenbesol- Produktion zu bef riedigen. dung. Das wäre das gleiche. Nein, ich finde, Sie müs- (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) sen den Etat insgesamt sehen, Sie müssen Prioritäten setzen und ihn nach den Prioritäten sauber finanzie- Bildlich gesprochen heißt dies: Die durchaus vorhan- ren. Das gegenseitige Ausspielen ist eine negative denen lokalen Märkte müssen zu einem überregiona- Emotionalisierung. Ich warne davor. Sie rufen Geister, len Inlandsmarkt entwickelt werden. Ich erinnere an die Sie dann nicht mehr beherrschen können. das Wirtschaftswunder in Deutschland. Das Wirt- schaftswunder in Deutschland war in erster Linie Er- Ich möchte jetzt zu einem Punkt kommen, den Sie, gebnis einer Belebung des inländischen Wirtschafts- Herr Bundesminister Spranger, wie ich finde, zu Recht kreislaufes. Genauso wird es auch in den Entwick- in den Vordergrund der entwicklungspolitischen Dis- lungsländern sein müssen. Wir müssen bei den kussion gebracht haben, nämlich die Formulierung Kleinstunternehmen ansetzen. Wir müssen motivie- von Rahmenbedingungen für eine Entwicklungspoli- ren, daß die Menschen anfangen, nicht zu importie- tik insgesamt. Ich will diese kurz nennen: Aufbau ren, sondern selber zu produzieren. Wir müssen sie rechtsstaatlich-demokratischer Strukturen, Schaffung ermuntern, Privateigentum als nicht etwas Verteufel- einer marktwirtschaftlichen Ordnung, st rikte Achtung tes zu betrachten, sondern als den Initiator für Wirt- der Menschenrechte und deutliche Beschränkung der schaftswachstum zu akzeptieren. Rüstungsausgaben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Ja! Dann aber ran!) Wir müssen die Regierung davon überzeugen, daß es nicht darum geht, analog zu Wandlitz Oligarchien zu Ich meine, daß wir in Zukunft deutlich den Vorteil stabilisieren, sondern den Menschen zu helfen. Den des Wegbrechens des Ost-West-Konfliktes, des Weg- Menschen hilft man, indem man ihnen Vertrauen gibt, brechens des Blocksystemdenkens in der Welt nutzen ihr Schicksal selber zu bestimmen. Und auch dies müssen, um weniger erpreßbar, nämlich frei von ideo- beginnt letztlich nicht nur bei der beruflichen Ausbil- logischen Zwängen, Entwicklungspolitik in den Ent- dung; es endet damit, daß sie bewußt im Wirtschafts- wicklungsländern durchführen zu können. leben stehen, sei es als Selbständiger oder sei es als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Angestellter. Kurz: Sie müssen dazu motiviert wer- den, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen. Dar- Dazu gehört, ganz wichtig für mich, daß wir mit den aus erwachsen Initiative, Selbstbewußtsein und damit Erkenntnissen, die wir beim Aufbau unseres eigenen insgesamt der Prozeß in den Entwicklungsländern hin Landes gewonnen haben, nicht nur werben, sie nicht zu mehr Demokratie und mehr Wirtschaftswachs- nur durchaus zügig hinaustragen, sondern sie auch tum. direkt mit aktiver Entwicklungspolitik koppeln. Es wird keiner gezwungen, deutsche Entwicklungshilfe Wir müssen akzeptieren, daß der reine Geldtransfer anzunehmen. Aber wir müssen doch die Erkennt- letztlich über die Möglichkeit auch der Industrienatio- nisse, die wir selber gewonnen haben, wie man Wirt- nen hinausgeht. Wir werden das Elend und die Armut schaftswachstum — ich möchte es an diesem Punkt nur dadurch bekämpfen, daß sie vor Ort bekämpft einmal deutlich machen — wirklich fördern kann, werden, daß die Menschen ihr Schicksal in die Hand auch in den Entwicklungsländern breit streuen und nehmen und wir sie ermuntern und befähigen, dies dafür werben, daß sie entsprechend umgesetzt wer- wirksam zu tun. den. (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist nur Ich glaube auch, daß die Probleme im Zusammen- eine Seite der Medaille!) hang mit der Bewältigung des desolaten Erbes der Das ist eine der wesentlichen Erfahrungen auch der sozialistischen Staaten in Osteuropa — der Hinweis letzten Jahre. auf die Planwirtschaft und deren Unfähigkeit, Wirt- Ich fasse zusammen: Entwicklungspolitik — — schaftswachstum zu organisieren, hat mir ein bißchen gefehlt, Herr Kollege Esters — und die eigene Erfah- (Abg. Dr. Ingomar Hauchler [SPD] meldet rung der Entwicklungsländer weltweit zu der Er- sich zu einer Zwischenfrage) kenntnis geführt haben, daß wirtschaftliches Wachs- —Es tut mir leid, ich bin schon eine halbe Minute über tum und Wohlstand untrennbar verbunden sind mit die Zeit. Entschuldigung. Das machen wir nachher. einer freiheitlichen, demokratischen und pluralisti- schen Gesellschaftsordnung sowie einer sozial und (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Beim Bier!) ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft. —Na gut, man sieht Sie ja beim Bier z. B. Warum denn (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das alles nicht? zusammen?) Ich möchte noch einmal folgende drei Punkte zu- Dies ist ein ganz wichtiger Faktor für künftige Ent- sammenfassend nennen, die, glaube ich, wichtig sind für die Entwicklungspolitik der 90er Jahre: wicklungspolitik. - Ich warne in diesem Zusammenhang auch vor der Die Lebensverhältnisse der Menschen vor Ort müs- sen zügig und nachhaltig verbessert werden. Wir Ansicht, über Prestigeprojekte Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern stimulieren zu können. müssen sie ermuntern, ihr Schicksal in die eigenen Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern wird Hände zu nehmen. nicht auf Grund der Realisierung derartiger Prestige- Die Einhaltung von Rahmenbedingungen, von denen projekte erfolgen, sondern aus einer wachsenden Fä wir glauben, daß sie für eine positive Entwicklung in 5094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Christian Neuling einzelnen Ländern der Dritten Welt eine unabding- weil sie Hilfe zur Selbsthilfe, die wachsen müßte, sein bare Voraussetzung ist, muß bei der Entwicklungs- sollten. politik strikt beachtet werden. Das heißt, wer diese Rahmenbedingungen nicht umsetzt, muß dies langfri- Aber leider müssen wir feststellen: Die Welt ist nicht stig bei der Entwicklungshilfe merken. so. Entweder haben wir unsere Hilfsmaßnahmen in Qualität und Quantität nicht richtig dosiert und ange- Und drittens finde ich, daß der globale Umwelt- setzt, oder die Probleme aus anderen Gründen sind schutz in den 90er Jahren weiterhin an Bedeutung schneller als unsere Hilfsmöglichkeiten gewachsen. gewinnen wird. Ich fürchte, darin steckt ein gutes Teil der Wahrheit. Insgesamt meine ich, daß Entwicklungspolitik Selbstzufrieden sich zurücklehnen kann' man in die- heute mehr denn je geeignet ist, soziale und politische sem Bereich wohl nicht. Man wird aber den Bereich Spannungen weltweit abzubauen und damit dem der Qualität, glaube ich, noch mehr als den der Quan- Frieden in der Welt zu dienen. tität überprüfen müssen, was den Hilfsansatz anbe- Recht herzlichen Dank. langt. Da bin ich eigentlich der Meinung, daß nach der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie deutschen Einheit und nach den Veränderungen, die des Abg. Helmut Esters [SPD]) damit in Osteuropa und in anderen Teilen der Welt einhergehen, die Chancen für einen neuen Realismus, möchte ich sagen, in der Entwicklungspolitik deutlich Vizepräsident Helmuth Becker: Der nächste Redner besser geworden sind, weil jetzt kein eilfertiger Wett- ist unser Kollege Werner Zywietz. bewerb mehr in der Frage, welches das bessere Sy- stem ist, das sozialistische oder die Soziale Marktwirt- schaft, auf dem Rücken der Dritte-Welt-Staaten aus- Werner Zywietz (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolle- getragen werden muß. Diese Frage ist jetzt entschie- ginnen und Kollegen! Das vereinte Deutschland den. Die Soziale Marktwirtschaft ist das bessere Sy- nimmt seine gewachsene Verantwortung auch ge- stem. Dieser Wettbewerb der Eitelkeiten zu Lasten genüber den Entwicklungsländern wahr. Dieser anderer Staaten und anderer Menschen muß schlicht- Haushalt in der Größenordnung von 8,3 Milliarden weg beendet sein. DM umfaßt auch die Übernahme der Projekte und Ich kann mich auch daran erinnern, daß ein gutes Maßnahmen, die zuvor von der DDR durchgeführt Teil der Entwicklungshilfe nach dem Motto gelaufen worden sind. Sie sind in diesem Haushalt enthalten, ist: Wenn du nicht die DDR anerkennst, dann gibt es der eine Steigerung von 3,8 % aufweist. einen kleinen Extrabonus. Diese Phasen hat es gege- Wir von der FDP stehen zu der Entwicklungshilfe, ben. Es hat auch immer ein Pokerspiel in den Syste- weil wir von der globalen Verantwortung im Sinn men gegeben. Es hat ein sowjetisches, ein kommuni- einer Weltinnenpolitik ausgehen. Ich habe hier gern stisches, ein sozialistisches System und den Versuch zur Kenntnis genommen, daß vor 30 Jahren das Mini- gegeben, den anderen, auf welche Art auch immer, zu sterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegrün- überbieten. det worden ist, und ich kann mich sehr gut daran erin- Ich sage das jetzt nicht aus einer rückwärts gerich- nern, daß ein Liberaler der erste Minister dieses Hau- teten Rechthaberei, sondern einfach deswegen, weil ses war, nämlich Walter Scheel. wir ganz klar die Schlußfolgerung daraus zu ziehen (Zuruf von der FDP: Unser Willy heißt Wal- haben. Es hat sozusagen Verbiegungen in der Ent- ter!) wicklungshilfepolitik gegeben, maches, was nicht Das charakterisiert von Beginn an unsere Einstellung sachgerecht, nicht hilfreich, nicht klar ökonomisch, zu dieser Aufgabe und unsere Kontinuität in der Ar- sondern von anderen Gesichtspunkten überlagert beit für die Dritte Welt. Die Begründung ist ganz ein- war. Diese Phase ist vorbei. fach: Wir wissen natürlich aus unserem eigenen Erle- Wir sollten darum die Beträge, die wir aus dem ben, daß Freiheit ein gewisses Minimum an Auskom- Steuergeld unserer Bevölkerung bereitstellen kön- men — um es einmal ganz platt zu sagen — voraus- nen, in eine höhere Effizienz überleiten und die Dinge setzt. Wer dieses Minimum an Auskommen nicht hat, klarer beim Namen nennen. Diese höhere Effizienz ist kann auch keine Freiheit erfahren. Wenn wir diese nach meiner Sicht ein Stück mehr Marktwirtschaft. Freiheit ermöglichen wollen, müssen wir dort, wo sie nicht aus eigener Kraft vom sozialen und materiellen Der Kollege Dr. Neuling hat auch angeführt, daß Unterbau her geschaffen werden kann, hilfreich zur der Ansatz mehr beim Kleinstgewerbe zu liegen hat. Seite stehen. Das tun wir aus voller humaner Überzeu- Der Haushalt spiegelt dafür mehrere Möglichkeiten gung. wider. Es sind nicht die Großprojekte, die vielleicht leicht zu handhaben und prestigeträchtig sind, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie den Zielen der Dritte-Welt-Politik gerecht werden, die des Abg. Dr. Uwe Holtz [SPD]) ja konzentriert sind und wohl ganz einfach lauten, die Wenn man die 30 Jahre des Bemühens, die mit dem Bevölkerung solle sich selbst ernähren können: Er- Ministerium einhergehen auch nur kursorisch und- nährungshilfe, Agrarhilfe; es ist ein Stück Gesund- nicht allzu intensiv betrachtet, kann man feststellen, heitshilfe und ist Ausbildungshilfe, alles Unterstüt- daß Hilfe eigentlich immer — das hat auch Herr Esters zungsmaßnahmen, die Menschen in den Stand setzen gesagt — Hilfe zur Selbsthilfe sein sollte und sein können, für sich selber zu sorgen. Diese Direktheit muß. Das bedeutet aber nach meinem Verständnis, des Mitteleinsatzes müssen wir, glaube ich, in Zu- daß — ich darf es einmal etwas derb sagen — die Sub- kunft mehr im Auge behalten, und zwar in beiden vention und die Unterstützung abnehmen müßten, Bereichen, in denen Entwicklungshilfe geleistet wird: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5095

Werner Zywietz im multilateralen Bereich und im bilateralen Bereich verausgabt werden muß. Wir meinen, daß das Ergeb- sowohl bei den Finanzzuweisungen als auch im tech- nis der Prüfung nicht einfach ein schlichtes Ja sein nischen Bereich. kann und daß man es nicht beim Sanktionieren der bisherigen Strukturen belassen darf. Die Überprüfung Wenn ich den Haushalt anschaue und verstehe, in Richtung Privatisierung ist ein von uns durchaus dann stelle ich fest, daß ein knappes Drittel der Hilfe ernstgemeinter Gesichtspunkt, um die Effizienz der multilateral gegeben wird. Das ist die IDA, und das Entwicklungshilfemittel zu steigern. sind UNO-Einrichtungen im weitesten Sinne des Wor- tes und einige regionale Entwicklungsbanken. Ich Vielen Dank. stelle aber auch fest, daß bei einigen dieser Organisa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tionen die Effizienz nicht so ist, wie sie sein sollte. Wir haben auch Sperrvermerke eingebaut. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Abstimmung Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt das zwischen multilateraler und bilateraler Hilfe noch Wort der Frau Kollegin Ulla Jelpke. besser werden kann. Ich habe einen gewissen Soup- çon, daß die etwas allgemeiner und entfernter gege- bene multilaterale Hilfe nicht die Wirkung erzeugt, Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! die wir in Verantwortung für den deutschen Steuer- Meine Damen und Herren! Mit einem Volumen von zahler eigentlich erzielen müßten. rund 8,1 Milliarden DM macht der Haushalt des BMZ (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gerade 1,9 % des Gesamthaushaltes aus. Faktisch ist CDU/CSU) in den letzten Jahren gespart worden. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Das Augenmerk ist aber auch auf den bilateralen Bereich zu richten, d. h. dort, wo wir Finanzzuweisun- Seit 1983 ist die Entwicklungshilfe nämlich zurückge- gen geben — und das ist nicht ganz wenig — , und gangen, die 1983 immerhin noch 2,6 % vom Gesamt- dort, wo wir technische Hilfe über die GTZ in einem haushalt ausmachte. Bereich, aber auch über viele andere Organisationen Auch in diesem Jahr wird weiter gespart. leisten, die ich jetzt nicht im einzelnen aufzählen (Unruhe) will. Der Bereich der finanziellen Zuweisungen muß auch ein Stück aus dem Fortschreiben von Finanzzu- Vizepräsident Helmuth Becker: Entschuldigung, weisungen an Länder befreit werden, die sich schon Frau Kollegin Jelpke, eine Minute bitte. — Ich bitte sehr daran gewöhnt haben. Es geht um ein Stück Fle- Sie, auch wenn die Zeit schon etwas fortgeschritten xibilität und um ein Stück Überprüfung nach heuti- ist, soviel Ruhe herzustellen, daß der Redner bzw. in gen Rahmendaten, wie sich nämlich die Länder im diesem Fall die Rednerin ihre Argumente hier vortra- Sinne der Demokratie, der Menschenrechte und des gen kann. Vielen Dank. Militäraufwandes verhalten. Ich füge aus meiner Sicht hinzu: Ich verantworte Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Sie sollten vielleicht auch nicht so gern die Vergabe deutscher Steuergel- zuhören; denn ich glaube, daß zu diesem Thema doch der, die in kleinen Beträgen eingesammelt werden, an ein bißchen mehr Opposition angezeigt wäre. — Wäh- Länder, wo in großen Beträgen und Mengen Kapital- rend der Bundeshaushalt um 3 % steigt, steigt der flucht begangen wird. Solche Länder lassen sich an Haushalt des BMZ nur um 2 %. Gemessen vor allem einer Hand gar nicht abzählen. Mir fallen da eine an den ökonomischen Kapazitäten der BRD sind die ganze Menge ein, von denen man ganz allgemein Quoten, die für Entwicklungshilfe aufgewendet wer- weiß, daß in ihnen in großem Maßstab, und zwar von den, viel zu gering. Gemessen an den jahrelangen den führenden Schichten, Kapitalflucht begangen Versprechungen der Bundesregierung, die Forde- wird. Es kann nicht im Sinne des Erfinders sein, daß rung der Vereinten Nationen zu erfüllen, wonach rei- wir das bei unseren Hilfsmaßnahmen außer acht las- che Industrieländer 0,7 % des Bruttosozialprodukts für sen. Auch ein solcher Gesichtspunkt muß in den Kri- Entwicklungshilfe aufwenden sollten, müßte dieser terienkatalog mit aufgenommen werden. Haushalt inzwischen um einige Milliarden höher lie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen. Nicht zuletzt möchte ich diesen Haushalt daran messen, daß in diesem Hause in den vergangenen Meine Damen und Herren, wir stimmen aber der Wochen und Monaten von den Regierungsfraktionen Generallinie der Entwicklungspolitik, wie sie vom Mi- im Zusammenhang mit der Asyl- und Flüchtlingspoli- nisterium konzipiert worden ist, hinsichtlich ihrer tik immer wieder betont wurde, die Ursachen von Zielsetzung, ihrer Kriterien und ihrer Dotation für bi- Krieg, Armut und Elend in den Ländern der Dritten laterale und multilaterale Hilfe zu. Welt mit beheben zu wollen. Wie leer diese Ankündi- Einen letzten Gesichtspunkt möchte ich hier noch gungen und Versprechungen waren, zeigen allein die ansprechen: Effizienzsteigerung ist für uns kein Lip- soeben genannten Fakten. penbekenntnis. Wir meinen es damit durchaus ernst Doch nun zum Konkreten: Welche Länder tatsäch- und wünschen, daß die Effizienz der Durchführungs- lich in den „Genuß" deutscher Entwicklungshilfe organisationen generell auf den Prüfstand gestellt kommen, bemißt sich nicht nach deren Bedürftigkeit. wird. Wir gehen davon aus, daß ernsthaft überprüft Vielmehr zählen andere Kriterien, z. B. wirtschafts- wird, ob alles, was an öffentlichen Mitteln zur Verfü- politische Interessen der Bundesregierung und Kapi- gung gestellt wird, durch staatliche Organisationen talinteressen von deutschen Großkonzernen und Ban- 5096 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Ulla Jelpke ken genauso wie politisch-ideologische Präferenzen sie, anders als ihre Gläubiger, das Geld zum Überle- und strategische Optionen. ben brauchen. (Zuruf von der CDU/CSU: Können Sie das Danke. einmal belegen?) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Meine Damen und Herren, unter den zehn Staaten, die im kommenden Jahr die meiste Finanzhilfe erwar- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt un- ten sollen, befindet sich mit Bangladesch auf Platz serem Kollegen Konrad Weiß das Wort. acht gerade ein einziges Land der 44 ärmsten Länder. Andererseits werden z. B. mit Israel auf Rang vier und der Türkei an fünfter Stelle Länder finanziell unter- Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr stützt, die zwar nicht zu den Ärmsten der Armen gehö- Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jahres- ren, dafür aber Krieg führen: in dem einen Fall gegen haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche das palästinensische, in dem anderen Fall gegen das Zusammenarbeit ist auch für das kommende Jahr wie- kurdische Volk. der kümmerlich geraten. Sparsamkeit ist nicht immer eine Tugend, vor allem dann nicht, wenn sie auf Ko- Meine Damen und Herren, in dieser Situation soll- sten der Ärmsten geht. ten die Ausgaben für die Entwicklungshilfe weiter Gerade 0,4 % ihres Bruttosozialproduktes werden konkret gesenkt werden. Seit 1990 sind es nämlich die Deutschen für die Entwicklungszusammenarbeit genau 400 Millionen DM im Vergleich zu dem Ansatz übrig haben; keine 2 % des Bundeshaushaltes. Mehr von 1992. als die biblischen Brosamen vom Tische des Reichen Gerade hier wäre eine Mindestanhebung von einer sind das wahrlich nicht. Milliarde DM, die ausschließlich nach dem Kriterium Dabei wissen wir alle, wie groß die Not in der Welt der Bedürftigkeit verteilt werden sollte, ein erster ist, die auch durch unseren Wohlstand mitverursacht Schritt zur Milderung der Not und des Elends. ist. Ich weiß, es ist nicht populär, das auszusprechen. Die Zeit reicht leider nicht aus, um Streichungsvor- Aber ebenso weiß ich, daß unseren Kindern morgen schläge ausführlich zu erläutern. Deshalb bringe ich ein menschenwürdiges Leben versagt bleiben wird, nur einige Beispiele. Die deutsche Wirtschaft betreibt wenn wir nicht heute teilen. keine uneigennützige Entwicklungshilfe, sondern sie (Beifall bei der SPD) ist auf der Suche nach günstigen Produktionsbedin- Das Menetekel steht seit langem an der Wand ge- gungen und Absatzmärkten. schrieben, unübersehbar. Ich wünschte mir, daß die Die in diesem Haushalt für die Wirtschaft vorgese- Bundesregierung es endlich wahrnimmt und daß ihre henen 64 Millionen DM sollten daher der Entwick- Politik endlich realistisch wird. Denn Entwicklungs- lungshilfe zukommen. Ebenso sollte man mit den Gel politik von heute ist Innenpolitik von morgen. -dern für die Ausbildung von sogenannten Fachkräften Die finanzielle Zusammenarbeit mit den südameri- — wie z. B. Atomingenieuren und Technikern — ver- kanischen Ländern wird 1992 fast verdoppelt, die Mit- fahren, die vor allem in die Lage versetzt werden sol- tel für Südasien und Ostasien werden aber gekürzt. len, Deutschlands exportierte Technologie- und Indu- Auch die Zuwendungen für die ärmste Region unserer strieanlagen bedienen zu können. Erde, die Zone südlich der Sahara, wurden um 21 Mil- lionen DM gekürzt. Meine Damen und Herren, die BRD gehört zu den fünf einflußreichsten Finanziers des Internationalen Generell ist für die LDCs ein Rückgang der absolu- Währungsfonds. Für 1992 bedeutet das rund 30 Mil- ten finanziellen Zuwendungen festzustellen, von lionen DM. Hinzu kommen 37 Millionen DM für die 1,1 Milliarden DM im Jahr 1990 auf 869 Millionen DM Mitgliedschaft. Es ist eine altbekannte Forderung, daß im kommenden Jahr; das ist ein Minus von 243 Mil- die BRD-Regierung hier endlich aussteigen soll. lionen DM. Unter den Hauptempfängern der FZ-Mittel sind verließe, Wenn die BRD-Regierung die Weltbank weiterhin solche Länder, die permanent die Men- könnte das z. B. dem Welternährungsprogramm der schenrechte verletzen. Die durchaus akzeptablen Vereinten Nationen zugute kommen. Grundsätze, die der Herr Bundesminister Spranger Das wäre sicherlich eine sinnvolle Ausgabe zur Be- unlängst mitgeteilt hat, sind im vorliegenden Haus- kämpfung der Hungersnöte. halt nur ungenügend berücksichtigt. Zum Schluß, meine Damen und Herren, möchte ich Nach China, wo willkürliche Verhaftungen und Fol- nicht versäumen, daran zu erinnern: 1992 jährt sich terungen an der Tagesordnung sind, werden weiter- zum 500. Male der Tag der Entdeckung Lateinameri- hin großzügig Mittel gepumpt. kas, die im übrigen keine war. Für 75 Millionen Men- Ebenso großzügig fließen Mittel in die Türkei, wo schen bedeutete die Invasion der Europäer in Latein- die Kurden noch immer als Menschen zweiter Klasse amerika einen meist qualvollen Tod. behandelt werden. Indonesien, Peru und Marokko, Länder also, die auf der Liste der Menschenrechtsver- Für das Gold, den Zucker, den Kaffee und nicht letzungen obenan stehen, erhalten zusammen fast zuletzt die Arbeit, mit denen die Lateinamerikaner eine Viertel Milliarde DM. und Lateinamerikanerinnen zum Reichtum Europas beigetragen haben, steht ihnen 500 Jahre danach der (Zuruf von der SPD: Skandal!) Erlaß von rund 450 Milliarden Dollar Auslandsschul- In diesem Zusammenhang muß ich auf das uner- den zu, und zwar moralisch, aber auch faktisch, weil freuliche Kapitel der militärischen und polizeilichen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5097

Konrad Weiß (Berlin) „Entwicklungshilfe" zu sprechen kommen. Diese gegenwärtigen Haushalts sind hierfür vorgesehen. Ausstattungs-, Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe in Hier sollte die Bundesregierung den Mut zu einer Höhe von 196 Millionen DM ist zwar ein Haushalts- deutlichen Erhöhung haben. Nicht zuletzt könnten titel des Auswärtigen Amtes, kann aber nicht losgelöst dadurch auch Arbeitsplätze für ostdeutsche Ausbilder von der deutschen Entwicklungspolitik betrachtet und Meister geschaffen werden, die vielleicht nicht werden. Unter den Empfängerstaaten sind auch nach die neuesten Technologien beherrschen, aber über der Herausnahme von Zaire, Malawi, Kamerun und eine solide Handwerksausbildung und eine hohe Fle- Sambia noch immer solche, die erheblichen Anlaß zu xibilität und Innovationskraft verfügen. Hier sollten Bedenken geben. Den Sicherheitskräften dieser Emp- gezielt gewachsene Bindungen zu einigen Ländern fängerländer wird eine privilegierte Ordnungsfunk- und vorhandene Sprachenkenntnisse genutzt wer- tion zugesprochen, durch die bestehende undemokra- den. tische Machtstrukturen erhalten und gefestigt wer- Die Mittel, meine Damen und Herren, die für die den. osteuropäischen Länder bereitgestellt werden sollen, So erhält Indonesien zur Ausbildung der Kriminal- scheinen mir auch nach der beantragten Erhöhung polizei und der Verkehrspolizei bis zu 2,2 Millionen um 15 Millionen DM völlig ungenügend. Vor allem DM. Dabei ist doch bekannt, daß die indonesische aber vermisse ich bisher ein Konzept der Bundesre- Polizei ein Teil der indonesischen Streitkräfte ist, jener gierung, wie diesen Ländern wirkungsvoll geholfen Streitkräfte, die sich in Osttimor und Westpapua fort- werden soll. Es ist fraglich, ob die bisherigen Instru- währender Verbrechen und Menschenrechtsverlet- mente der Entwicklungszusammenarbeit hierfür tau- zungen schuldig machen. Für mich ist nicht erkenn- gen. Ich denke, erfolgversprechend werden nur sol- bar, wie die Bundesregierung angesichts des jüngsten che Konzepte sein, die von einer multinationalen Zu- Massakers vom 12. November in Dili ihre Einschät- sammenarbeit ausgehen und die konsequent auch zung aufrechterhalten kann, daß sich die Teilnahme jene Potenzen und Restpotenzen nutzen, die in den einer größeren Zahl von Polizeioffizieren an Lehrgän- postsozialistischen Ländern ja auch vorhanden sind. gen in Deutschland positiv ausgewirkt habe. Schließlich werden wir darauf zu achten haben, daß insbesondere in der Sowjetunion auch die kleinen Oder betrachten wir , dessen Streitkräfte durch Völker und Nationalitäten berücksichtigt werden. Ausstattungshilfe in Höhe von 6 Millionen DM effi- Hier gibt es konkrete Anforderungen und Projekte, zienter gemacht werden sollen. Diese Streitkräfte sind die sich unser Ausschuß und das Bundesministerium für das malinesische Regime bis heute ein Werkzeug für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu eigen machen zur blutigen Unterdrückung und Verfolgung der Tua- sollten. reg. Die Ausschreitungen dauern an. Dies alles ist Grund genug, denke ich, daß das Hohe Haus der Bun- Vielen Dank. desregierung die geplanten Mittel für die Militärhilfe (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der für Mali streichen sollte. SPD und der PDS/Linke Liste) (Beifall des Abg. Gerd Poppe [Bündnis 90/ GRÜNE]) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- ten Damen und Herren, es war schon mühsam, dem Gerade nach dem katastrophalen Ergebnis, das die Kollegen Weiß Gehör zu verschaffen. Es spricht jetzt bundesdeutsche Ausstattungs- und Ausbildungshilfe der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenar- für den Irak hatte — Sie werden sich erinnern, daß beit, unser Kollege Carl-Dieter Spranger. Ich bitte, irakische Offiziere an Bundeswehrhochschulen aus- doch wirklich dafür zu sorgen, daß wir hier ein Klima gebildet wurden — , muß das Konzept der Ausstat- herstellen, bei dem der Redner zu hören ist. tungshilfe endlich einer kritischen Überprüfung un- terzogen werden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, ich werde die Sitzung nach § 40 der Geschäftsordnung unterbre- Unbefriedigend ist es auch, wie die Bundesregie- chen, wenn das nicht möglich ist. rung mit den Mitteln aus dem Schuldendienst der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Entwicklungsländer verfährt. Für 1992 werden Rück- PDS/Linke Liste) flüsse aus Zinsen und Tilgungen in Höhe von ca. 1,2 Milliarden DM erwartet. Unverändert gegenüber Das Wort hat der Herr Bundesminister. 1991 ist für das kommende Jahr der Wiedereinsatz dieser Mittel wiederum nur in einer Größenordnung Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- von 200 Millionen DM, also gerade 15 % der Einnah- schaftliche Zusammenarbeit: Herr Präsident! Meine men, vorgesehen. Ich fände es richtig, wenn die ver- Damen und Herren! Mit der Gründung des BMZ vor bleibende Milliarde entweder für die weitere Ent- 30 Jahren erhielt die Entwicklungshilfe weltweit zum wicklungszusammenarbeit oder aber als Äquivalent erstenmal Kabinettsrang. Dies war Ausdruck des Wil- für einen großzügigen Schuldenerlaß zugunsten der lens des Parlaments, der Bevölkerung und der Bun- ärmsten Länder genutzt würde. Das könnten wir uns desregierung, nach der Hilfe für das eigene Land in selbst in der gegenwärtig angespannten Haushalts- den Nachkriegsjahren auch anderen Menschen zu lage leisten. helfen, die sich in Not befinden. Weitaus stärker als bisher sollten in der Entwick- Heute ist das wiedervereinigte Deutschland eine lungszusammenarbeit Projekte gefördert werden, die der führenden Industrienationen und eines der wohl- der schulischen und beruflichen Ausbildung dienen. habendsten Länder der Welt. Damit ist auch dem BMZ Deutschland rühmt sich zwar immer des Exports sei- in Deutschland eine größere Verantwortung zuge- nes dualen Ausbildungssystems, aber nur 13,8 % des wachsen. Es wird zunehmend deutlich, daß die wach- 5098 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundesminister Carl-Dieter Spranger senden Probleme der Entwicklungsländer nicht an Ich möchte an dieser Stelle dem Parlament, vor al- unseren Grenzen haltmachen. Die weltweiten Wan- lem dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenar- derungs- und Flüchtlingsbewegungen, Umweltkata- beit und dem Haushaltsausschuß, herzlich Dank sa- strophen und kriegerischen Auseinandersetzungen gen für das Verständnis für unsere Anliegen und für führen uns das täglich vor Augen. die Unterstützung in den Haushaltsberatungen. Mein besonderer Dank gilt dem Bundeskanzler und den Zusammenbruch des Sozialismus in der So- Der Fraktionsvorsitzenden, die heute in der Debatte die wjetunion und in Osteuropa hat tiefgreifende Folgen Entwicklungspolitik so deutlich als herausragende für die betroffenen Menschen und führte auch zu ei- Aufgabe der Zukunft dargestellt haben. nem Umdenken in vielen Ländern der Dritten Welt. Viele Länder des Südens sind auf der Suche nach einem neuen marktwirtschaftlich orientierten Weg, Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, ge- der mit dem Aufbau demokratischer und rechtsstaat- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauch- licher Regierungsformen verbunden ist. Dies eröffnet ler? uns neue, große Chancen für kontinuierliche, langfri- stig angelegte und von ideologischen Maßstäben be- Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- freite Zusammenarbeit mit den Entwicklungslän- schaftliche Zusammenarbeit: Bitte sehr, Kollege dern. Hauchler. Nie war die Möglichkeit so groß, Entwicklungspoli- tik zielgerichtet an den drängenden weltweiten Her- Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Minister, Sie ha- ausforderungen auszurichten und auch effizient um- ben angekündigt, daß die Mittel für Entwicklungs- zusetzen. hilfe in Zukunft erhöht werden. Wie verträgt sich Die Bundesregierung hat die Weichen gestellt, um diese Aussage mit der Tatsache, daß die Mittel für diese historische Chance zu nutzen und unsere Ent- neue Zusagen in den vergangenen Jahren um etwa wicklungspolitik neu zu gestalten. 1 Milliarde DM zurückgefahren wurden? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- Die Bekämpfung der Armut, der Schutz der Umwelt, schaftliche Zusammenarbeit: Herr Kollege Hauchler, die Förderung der Bildung stehen im Mittelpunkt das ist nicht zutreffend. Zutreffend ist vielmehr eine unserer Entwicklungszusammenarbeit. Außerdem Steigerung um 7 % in zwei Jahren, in diesem Jahr um werden wir Umfang und Struktur der deutschen Hilfe 3,9 % konsequent an den Rahmenbedingungen der Emp- (Zustimmung bei der CDU/CSU) fängerländer ausrichten. Angesichts der riesigen Herausforderungen, die wir in Ich habe diese grundlegenden Elemente unserer den vergangenen zwei Jahren zu bewältigen hatten, Entwicklungszusammenarbeit in den 90er Jahren am ist das schon ein bemerkenswertes Signal. 10. Oktober an dieser Stelle erläutert und bin dankbar Innerhalb des Einzelplans 23 bleibt es dabei: Kern für die breite nationale und auch internationale Unter- der deutschen Entwicklungspolitik ist die bilaterale stützung, die ich dafür gefunden habe. Ich glaube, Zusammenarbeit. Mit 5,5 Milliarden DM sollen rund auch die Beiträge des Kollegen Esters, des Kollegen zwei Drittel — das sind etwa 67 % — der Ausgaben in Dr. Neuling und des Kollegen Zywietz von heute zei- diesen Bereich gehen. Ich gehe davon aus, daß uns die gen das hohe Maß an Übereinstimmung bei der Ent- für den Haushalt 1992 und den Nachtragshaushalt wicklungspolitik der Bundesregierung. 1991 vorliegenden Beschlußvorschläge in die Lage (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie versetzen, die in diesem Bereich fälligen Rechtsver- des Abg. Helmut Esters [SPD]) pflichtungen bedienen zu können. Der Einzelplan 23 bildet die materielle Grundlage zur (Unruhe) Umsetzung dieser Konzeption. Gegenüber dem ursprünglichen Haushaltsansatz Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, ge- 1991 soll er im Jahre 1992, so wie er jetzt dem Parla- statten Sie, daß ich Sie einen Moment unterbreche. ment zur Entscheidung vorliegt, um 3,9 % steigen. Auf — Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist der Grundlage des ebenfalls zur Verabschiedung an- eine vorgerückte Stunde. Es finden sogleich drei na- stehenden Nachtragshaushalts 1991, der einen Aus- mentliche Abstimmungen statt. Ich weiß das alles. gabenzuwachs von 150 Millionen DM vorsieht, be- Aber es muß möglich sein, daß dem Redner hier Gehör trägt der Anstieg 2 %. verschafft wird. Aussagekräftiger ist allerdings der Vergleich mit (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP dem Jahr der deutschen Einigung 1990. In den zwei und dem Bündnis 90/GRÜNE) Jahren 1991 und 1992 steigen die entwicklungspoliti- Wenn das nicht möglich ist, dann drohe ich es nicht schen Leistungen des vereinten Deutschland um eine- nur an, sondern ich mache es: Ich unterbreche die Sit- halbe Milliarde DM; das sind rund 7 %. Damit bestä- zung nach § 40 unserer Geschäftsordnung. Ich bitte tigt der Haushalt 1992 die Aussage des Bundeskanz- also um Ruhe! lers in seiner Regierungserklärung im Januar dieses (Zuruf von der SPD: § 41!) Jahres: „Wir stehen zu unserer Verantwortung für die Menschen in der Dritten Welt; wir werden als verein- — § 40! tes Deutschland unsere Entwicklungshilfe auch in Zu- (Erneuter Zuruf von der SPD: § 41! — Heiter kunft steigern. " keit) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5099

Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- stellung von Mitteln in den Nachtragshaushalt führ- schaftliche Zusammenarbeit: Herr Präsident! Meine ten, machen allerdings deutlich, wie eng der Spiel- Damen und Herren! Noch wichtiger als der quantita- raum der deutschen Entwicklungshilfe ist. Das gilt tive Zuwachs ist die Verbesserung der Qualität unse- auch für die Kapazität des BMZ. Es sind die Grenzen rer Hilfe durch ihre konsequente Ausrichtung an den dessen erreicht, was finanziell und personell verkraf- bereits vorgestellten Rahmenkriterien und den sekto- tet werden kann. Auf das Jahr 1993 richten sich des- ralen Schwerpunkten. Armutsbekämpfung und Um- halb Erwartungen und Hoffnungen nicht nur des BMZ weltschutz werden 1992 noch stärker ins Zentrum un- und all derer, die sich in Deutschland für die Belange serer Hilfe rücken. Über die Hälfte der geplanten Pro- der Dritten Welt einsetzen, sondern vor allem auch der jekte dient der Befriedigung von Grundbedürfnissen. notleidenden Menschen in den Entwicklungsländern, Nahezu 10 % der bilateralen staatlichen Hilfe werden die mehr denn je unsere Hilfe benötigen, um sich für die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung ein- selbst helfen zu können. gesetzt. Dies bedeutet eine deutliche Akzentsetzung Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. im Kampf gegen die Armut. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weiterhin hoch bleibt der Anteil für Maßnahmen im Bereich der ländlichen Entwicklung mit 38 %. Um- welt- und Ressourcenschutz bilden den dritten Schwerpunkt mit einem besonders hohen Zuwachs Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und auf zwischenzeitlich fast 28 % gegenüber 19 % im Herren, ich bedanke mich zunächst bei allen, die hier Jahre 1991. Hier sind schwerpunktmäßig Maßnah- gesessen haben und die Ermahnungen angehört ha- men zur Erhaltung des Tropenwaldes mit einem Fi- ben. Für die jetzt noch Hinzugekommenen will ich nanzvolumen von über 300 Millionen DM zu nen- sagen: Es ist schwer möglich, dem Redner vor einer nen. Abstimmung hier noch Gehör zu verschaffen. Ich bitte Ich weise im übrigen darauf hin, daß wir im Bereich auch für die Folgezeit daran zu denken, daß es jeder- der Bildung in der Zwischenzeit auf eine Quote von zeit möglich ist, die Sitzung zu unterbrechen, wenn 9 % im Vergleich zu 7 % im vergangenen Jahr gekom- der Redner sich nicht mehr durchsetzen kann. men sind. Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, Auf den multilateralen Bereich entfällt mit 2,7 Mil- kommen wir zur Abstimmung, und zwar zunächst liarden DM knapp ein Drittel der vorgesehenen Aus- über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache gaben. Es ist mein Ziel, diesen Anteil nicht mehr nen- 12/1647 zum Einzelplan 23. Die Fraktion der SPD ver- nenswert ansteigen zu lassen. Allerdings ist der Ge- langt namentliche Abstimmung. staltungsspielraum der Bundesregierung hier be- Ich eröffne die Abstimmung. — grenzt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, gibt es Die Förderung der wirtschaftlichen und gesell- noch ein Mitglied des Hauses, das noch nicht abge- schaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa stimmt hat? Kann ich davon ausgehen, daß wir die hat nach den Umwälzungen in der Sowjetunion und Abstimmung schließen können? — Ich höre und sehe der Unabhängigkeit der baltischen Staaten eine zu- keinen Widerspruch. Dann ist die Abstimmung ge- sätzliche Perspektive gewonnen. Der Übergang zu schlossen. Ich sage Ihnen das Ergebnis der Abstim- demokratischen und marktwirtschaftlichen Struktu- mung über den Änderungsantrag, sobald die Schrift- ren kann insbesondere durch Technische Hilfe, Aus- führer ausgezählt haben.* ) und Fortbildung, Beratung für die Wirtschaft sowie durch Maßnahmen der gesellschaftspolitischen Bil- Nun kommen wir zum Einzelplan 14. Dazu hat die dung und Sozialstrukturhilfe gefördert werden. Im SPD einen Änderungsantrag auf Drucksache 12/1649 Einzelplan 23 sind hierfür bilaterale Mittel in Höhe vorgelegt, über den sie namentlich abgestimmt haben von 45 Millionen DM sowie Verpflichtungsermächti- will. Wenn die Urnen wieder besetzt sind, werde ich gungen in gleicher Höhe vorgesehen. die Abstimmung zu diesem Änderungsantrag der SPD eröffnen. — Das ist der Fall. Die Abstimmung ist eröff- Meine Damen und Herren, der zur Verabschiedung net. anstehende Haushalt 1992 ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bewältigung der uns alle unmittelbar Es handelt sich um die Abstimmung über den Jä- betreffenden Aufgabe, einen Ausgleich zwischen ger 90, über den hier verhandelt worden ist. Ich will Nord und Süd herbeizuführen. Es ist ein wichtiger darauf aufmerksam machen, daß die Kollegin Frau Schritt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dr. Gisela Babel, unser Kollege , unser Kollege Burkhard Hirsch und unser Kollege Wolfgang Es ist richtig, Entwicklungspolitik ist in den Gesamt- Lüder dazu gemäß § 31 Abs. 2 der Geschäftsordnung zusammenhang der Politik eines Landes eingebettet. eine Erklärung beim Präsidium abgegeben ha- Richtig ist aber auch: Die gesamte Politik eines jeden ben.**) Landes in der einen Welt ist aufgerufen, zum Aus- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich frage: gleich zwischen Nord und Süd beizutragen. Alle Poli-- tikbereiche werden sich vermehrt daran messen las- Haben alle Mitglieder des Hauses inzwischen ihre sen müssen, welchen Beitrag sie zum Erreichen dieses Stimmkarten abgegeben? — Darf ich noch einmal bit- Ziels leisten. ten, die Türen aufzumachen, damit jeder ungehindert Zugang hat. Noch einmal die Frage: Kann ich die Entwicklungspolitik ist hier von zentraler Bedeu- tung. Die Schwierigkeiten bei der Steuerung des Ergebnis Seite 5100A *) Haushalts 1991, die u. a. zur Notwendigkeit der Ein * *) Anlage 2 5100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Helmuth Becker Abstimmung schließen? — Ich höre und sehe keinen Frau Marx Weißgerber Frau Mascher Weisskirchen (Wiesloch) Widerspruch. Dann ist die Abstimmung geschlossen, Dr. Materne Dr. Wernitz und ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu Frau Matthäus-Maier Frau Wester beginnen.* ) Frau Mattischeck Frau Westrich Frau Mehl Frau Wettig-Danielmeier Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müs- Dr. Mertens (Bottrop) Frau Dr. Wetzel sen einen Augenblick warten, bis wir das Ergebnis der Dr. Meyer (Ulm) Frau Weyel Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD zum Mosdorf Wieczorek (Duisburg) Einzelplan 23 vorliegen haben, weil wir erst dann Müller (Düsseldorf) Frau Wieczorek-Zeul Müller (Pleisweiler) Wiefelspütz über den Einzelplan abstimmen können. Ich bitte um Müller (Schweinfurt) Wimmer (Neuötting) einen Augenblick Geduld. — Frau Müller (Völklingen) Dr. de With Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich Müller (Zittau) Frau Wohlleben Müntefering Frau Wolf einen Augenblick um Gehör bitten? Wir haben das Neumann (Bramsche) Frau Zapf erste von den Schriftführern ermittelte Abstimmungs- Neumann (Gotha) ergebnis, und zwar zum Änderungsantrag der SPD Frau Dr. Niehuis PDS/LL auf Drucksache 12/1647 zum Einzelplan 23, Entwick- Dr. Niese Niggemeier Frau Bläss lungshilfe. Frau Odendahl Frau Braband Über diesen Antrag ist wie folgt abgestimmt wor- Oesinghaus Dr. Briefs Opel Frau Dr. Enkelmann den: abgegebene Stimmen: 551, ungültige: keine; mit Ostertag Frau Dr. Fischer Ja, also für den Antrag der SPD, haben gestimmt: 208, Frau Dr. Otto Dr. Gysi mit Nein haben gestimmt: 342, Enthaltungen: 1. Paterna Dr. Heuer Dr. Penner Frau Dr. Höll Pfuhl Frau Jelpke *) Ergebnis Seite 5102 A Dr. Pick Frau Lederer Reimann Dr. Modrow Endgültiges Ergebnis Fischer (Homburg) Reuschenbach Dr. Riege Frau Fuchs (Köln) Reuter Dr. Schumann (Kroppenstedt) Abgegebene Stimmen: 550; Fuhrmann Rixe Dr. Seifert Frau Ganseforth Schäfer (Offenburg) Frau Stachowa davon Gansel Frau Schaich-Walch ja: 207 Gilges Schanz Bündnis 90/GRÜNE Frau Gleicke Scheffler nein: 342 Graf Schloten Dr. Feige enthalten: 1 Großmann Schluckebier Poppe Habermann Schmidbauer (Nürnberg) Weiß (Berlin) Hacker Schmidt (Salzgitter) Ja Frau Hämmerle Frau Schmidt-Zadel Fraktionslos Hampel Dr. Schmude Frau Hanewinckel Dr. Schnell Henn SPD Frau Dr. Hartenstein Dr. Schöfberger Hasenfratz Schreiner Frau Adler Dr. Hauchler Frau Schröter Nein Andres Heistermann Schröter Antretter Heyenn Schütz CDU/CSU Bachmaier Hiller (Lübeck) Dr. Schuster Frau Barbe Hilsberg Schwanhold Frau Dr. Ackermann Bartsch Dr. Holtz Schwanitz Adam Becker (Nienberge) Horn Seidenthal Dr. Altherr Frau Becker-Inglau Frau Iwersen Frau Seuster Frau Augustin Bernrath Frau Jäger Sielaff Augustinowitz Bindig Frau Janz Frau Simm Austermann Frau Bock Dr. Janzen Singer Bargfrede Dr. Böhme (Unna) Jaunich Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Bauer Frau Brandt-Elsweier Dr. Jens Frau Dr. Sonntag-Wolgast Frau Baumeister Dr. Brecht Jung (Düsseldorf) Sorge Bayha Büchner (Speyer) Jungmann (Wittmoldt) Dr. Sperling Belle Büttner (Ingolstadt) Frau Kastner Frau Steen Bierling Frau Bulmahn Kastning Dr. Struck Dr. Blank Frau Burchardt Kirschner Tappe Frau Blank Bury Frau Klappert Frau Terborg Dr. Blens Frau Caspers-Merk Frau Klemmer Dr. Thalheim Dr. Blüm Conradi Klose Thierse Börnsen (Bönstrup) Daubertshäuser Dr. sc. Knaape Tietjen Dr. Bötsch Dr. Diederich (Berlin) Frau Kolbe Frau Titze Bohl Diller Kolbow Toetemeyer Bohlsen Frau Dr. Dobberthien Koltzsch Urbaniak Borchert Duve Kretkowski Vergin Brähmig Ebert Kuessner Vosen Breuer Dr. Eckardt Dr. Küster Wagner Frau Brudlewsky Dr. Ehmke (Bonn) Kuhlwein Wallow Brunnhuber Eich Lambinus Waltemathe Büttner (Schönebeck) Dr. Elmer Frau Lange Walter (Cochem) Buwitt Erler von Larcher Walther (Zierenberg) Carstens (Emstek) Esters Leidinger Wartenberg (Berlin) Carstensen (Nordstrand) Ewen Lennartz Frau Dr. Wegner Clemens Frau Ferner Frau Dr. Leonhard-Schmid Weiermann Dehnel Frau Fischer Frau Dr. Lucyga Frau Weiler Frau Dempwolf (Gräfenhainichen) Maaß (Herne) Weis (Stendal) Deres Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5101

Vizepräsident Helmuth Becker Deß Kraus Dr. Ruck Engelhard Frau Diemers Dr. Krause (Bonese) Dr. Rüttgers van Essen Dörflinger Krause (Dessau) Sauer (Salzgitter) Dr. Feldmann Doss Krey Sauer (Stuttgart) Friedhoff Dr. Dregger Kriedner Scharrenbroich Friedrich Echternach Kronberg Frau Schätzle Funke Ehlers Dr.-Ing. Krüger Dr. Schäuble Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Ehrbar Krziskewitz Schemken Ganschow Frau Eichhorn Dr. Lammert Scheu Genscher Engelmann Lamp Schmalz Gries Eppelmann Lattmann Schmidbauer Grüner Eylmann Dr. Laufs Schmidt (Fürth) Günther (Plauen) Frau Falk Laumann Dr. Schmidt (Halsbrücke) Dr. Guttmacher Dr. Faltlhauser Frau Dr. Lehr Schmidt (Mühlheim) Hackel Feilcke Dr. Lieberoth Frau Schmidt (Spiesen) Hansen Dr. Fell Frau Limbach Schmitz (Baesweiler) Dr. Haussmann Frau Fischer (Unna) Link (Diepholz) Dr. Schockenhoff Heinrich Fockenberg Lintner Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Hirsch Francke (Hamburg) Dr. sc. Lischewski Dr. Scholz Dr. Hitschler Frankenhauser Frau Löwisch Frhr. von Schorlemer Frau Homburger Dr. Friedrich Louven Dr. Schreiber Frau Dr. Hoth Fuchtel Lummer Schulz (Leipzig) Dr. Hoyer Ganz (St. Wendel) Dr. Luther Schwalbe Frau Geiger Hübner Maaß (Wilhelmshaven) Schwarz Irmer Geis Dr. Schwörer Frau Männle Kleinert (Hannover) Dr. von Geldern Seesing Magin Kohn Gerster (Mainz) Dr. Mahlo Seibel Dr. Kolb Gibtner Frau Marienfeld Skowron Koppelin Glos Marschewski Dr. Sopart Kubicki Göttsching Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Frau Sothmann Götz Meckelburg Spilker Dr.-Ing. Laermann Dr. Götzer Meinl Spranger Dr. Graf Lambsdorff Gres Frau Dr. Meseke Dr. Sprung Frau Leutheusser- Frau Grochtmann Dr. Meyer zu Bentrup Dr. Stavenhagen Schnarrenberger Gröbl Frau Michalk Frau Steinbach-Hermann Lüder Grotz Michels Dr. Stercken Lühr Dr. Grünewald Dr. Mildner Dr. Frhr. von Stetten Dr. Menzel Frhr. von Hammerstein Dr. Möller Stockhausen Nolting Harries Molnar Dr. Stoltenberg Dr. Ortleb Haschke (Großhennersdorf) Müller (Kirchheim) Strube Otto (Frankfurt) Haschke (Jena-Ost) Müller (Wadern) Stübgen Paintner Frau Hasselfeldt Nelle Susset Frau Peters Haungs Dr. Neuling Tillmann Frau Dr. Pohl Hauser (Esslingen) Neumann (Bremen) Dr. Uelhoff Richter (Bremerhaven) Hauser (Rednitzhembach) Nitsch Uldall Rind Heise Ost Vogel (Ennepetal) Dr. Röhl Frau Dr. Hellwig Oswald Vogt (Düren) Schäfer (Mainz) Helmrich Otto (Erfurt) Dr. Voigt (Northeim) Frau Schmalz-Jacobsen Dr. Hennig Dr. Päselt Dr. Vondran Schmidt (Dresden) Dr. h. c. Herkenrath Pesch Dr. Waffenschmidt Dr. Schmieder Hörster Petzold Dr. Waigel Schüßler Dr. Hoffacker Pfeffermann Graf von Waldburg-Zeil Frau Dr. Schwaetzer Hollerith Pfeifer Dr. Warnke Frau Sehn Dr. Hornhues Frau Pfeiffer Dr. Warrikoff Frau Seiler-Albring Hornung Dr. Pfennig Werner (Ulm) Frau Dr. Semper Hüppe Dr. Pflüger Wetzel Dr. Solms Jäger Dr. Pinger Frau Wiechatzek Dr. Starnick Frau Jaffke Pofalla Dr. Wieczorek (Auerbach) Frau Dr. von Teichman Dr. Jahn (Münster) Dr. Pohler Frau Dr. Wilms Thiele Janovsky Wilz Frau Priebus Dr. Thomae Frau Jeltsch Wimmer (Neuss) Dr. Probst Timm Dr. Jobst Frau Dr. Wisniewski Dr. Protzner Türk Dr.-Ing. Jork Pützhofen Wissmann Dr. Jüttner Frau Rahardt-Vahldieck Dr. Wittmann Frau Walz Jung (Limburg) Raidel Wittmann (Tännesberg) Dr. Weng (Gerlingen) Junghanns Dr. Ramsauer Wonneberger Wolfgramm (Göttingen) Dr. Kahl Rau Frau Wülfing Frau Würfel Kalb Rauen Würzbach Zurheide Kampeter Reddemann Frau Yzer Zywietz Dr.-Ing. Kansy Regenspurger Zeitlmann Frau Karwatzki Reichenbach Zierer Fraktionslos Kauder Dr. Reinartz Zöller Keller Frau Reinhardt Lowack Kittelmann Repnik Klein (Bremen) Dr. Rieder FDP Klinkert Dr. Riesenhuber Köhler (Hainspitz) Rode (Wietzen) Frau Albowitz Enthalten Dr. Köhler (Wolfsburg) Frau Roitzsch (Quickborn) Baum Kolbe Dr. Rose Beckmann Frau Kors Rossmanith Bredehorn FDP Koschyk Roth (Gießen) Cronenberg (Arnsberg) Kossendey Rother Eimer (Fürth) Grünbeck 5102 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Helmuth Becker Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt. Jung (Düsseldorf) Frau Dr. Sonntag-Wolgast Jungmann (Wittmoldt) Sorge Wir können jetzt zur Geschäftslage folgendes fest- Frau Kastner Dr. Sperling stellen. In der zweiten namentlichen Abstimmung ha- Kastning Frau Steen Kirschner Dr. Struck ben wir über den ersten Änderungsantrag der SPD auf Frau Klappert Tappe Drucksache 12/1649 abgestimmt; das betraf den Jä- Frau Klemmer Frau Terborg ger 90. Wir müssen auf dieses Abstimmungsergebnis Klose Dr. Thalheim warten, weil es noch einen zweiten Änderungsantrag Dr. sc. Knaape Thierse Frau Kolbe Tietjen der SPD auf der Drucksache 12/1650 gibt, über den Kolbow Frau Titze wir namentlich abstimmen müssen. Das wird gleich Koltzsch Toetemeyer geschehen. Ich bitte also noch einen Augenblick um Kretkowski Urbaniak Geduld; dann werden wir auch die zweite Abstim- Kuessner Vergin Dr. Küster Dr. Vogel mung hinter uns haben. Es folgt dann noch eine dritte Kuhlwein Vosen Abstimmung. Anschließend können wir über den Ein- Lambinus Wagner zelplan 23 sowie über den Einzelplan 14 abstimmen. Frau Lange Wallow — Das wäre mein Vorschlag. von Larcher Waltemathe Leidinger Walter (Cochem) Meine Damen und Herren, es liegt jetzt das von den Lennartz Walther (Zierenberg) Frau Dr. Leonhard-Schmid Wartenberg (Berlin) Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Frau Dr. Lucyga Frau Dr. Wegner Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD auf Maaß (Herne) Weiermann Drucksache 12/1649, zum Einzelplan 14 — ich sage Frau Marx Frau Weiler noch einmal in Klammern: Jäger 90 — vor. Abgege- Frau Mascher Weis (Stendal) Dr. Matterne Weißgerber bene Stimmen: 552. Mit Ja haben 225 Kolleginnen Frau Matthäus-Maier Weisskirchen (Wiesloch) und Kollegen gestimmt; mit Nein haben 315 Kollegin- Frau Mattischeck Dr. Wernitz nen und Kollegen gestimmt. Enthalten haben sich Frau Mehl Frau Wester 12 Kolleginnen und Kollegen. Dr. Mertens (Bottrop) Frau Westrich Dr. Meyer (Ulm) Frau Wettig-Danielmeier Mosdorf Frau Dr. Wetzel Müller (Düsseldorf) Frau Weyel Müller (Pleisweiler) Wieczorek (Duisburg) Müller (Schweinfurt) Frau Wieczorek-Zeul Endgültiges Ergebnis Conradi Frau Müller (Völklingen) Wiefelspütz Daubertshäuser Müller (Zittau) Wimmer (Neuötting) Abgegebene Stimmen: 551; Dr. Diederich (Berlin) Müntefering Dr. de With Frau Wohlleben Diller Neumann (Bramsche) Frau Wolf davon Frau Dr. Dobberthien Neumann (Gotha) Frau Zapf ja: 224 Duve Frau Dr. Niehuis Dr. Niese nein: 315 Ebert Dr. Eckardt Niggemeier enthalten: 12 Dr. Ehmke (Bonn) Frau Odendahl Eich Oesinghaus FDP Opel Dr. Elmer Ostertag Erler Baum Frau Dr. Otto Esters Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Paterna Ewen Ganschow Ja Dr. Penner Gries Frau Ferner Pfuhl Frau Fischer Heinrich Dr. Pick Dr. Hirsch CDU/CSU (Gräfenhainichen) Reimann Frau Fuchs (Verl) Hübner Reuschenbach Koppelin Nitsch Fuhrmann Reuter Frau Ganseforth Kubicki Frau Pfeiffer Rixe Lüder Gansel Schäfer (Offenburg) Gilges Dr. Schmieder Frau Schaich-Walch Dr. Thomae Frau Gleicke Schanz SPD Graf Türk Scheffler Zywietz Großmann Schloten Frau Adler Habermann Schluckebier Andres Hacker Schmidbauer (Nürnberg) Antretter Frau Hämmerle Schmidt (Salzgitter) Bachmaier Hampel Frau Schmidt-Zadel PDS/LL Frau Barbe Frau Hanewinckel Dr. Schmude Bartsch Frau Dr. Hartenstein Dr. Schnell Frau Bläss Becker (Nienberge) Hasenfratz Dr. Schöfberger Frau Braband Frau Becker-Inglau Dr. Hauchler Schreiner Dr. Briefs Bernrath Heistermann Frau Schröter Frau Dr. Enkelmann Bindig Heyenn Schröter Frau Dr. Fischer Frau Bock Hiller (Lübeck) Schütz Dr. Gysi Dr. Böhme (Unna) Hilsberg Dr. Schuster Dr. Heuer Frau Brandt-Elsweier Dr. Holtz Schwanhold Frau Dr. Höll Dr. Brecht Horn Schwanitz Frau Jelpke Büchner (Speyer) Frau Iwersen Seidenthal Frau Lederer Büttner (Ingolstadt) Frau Jäger Frau Seuster Dr. Modrow Frau Bulmahn Frau Janz Sielaff Dr. Riege Frau Burchardt Dr. Janzen Frau Simm Dr. Schumann (Kroppenstedt) Bury Jaunich Singer Dr. Seifert Frau Caspers-Merk Dr. Jens Frau Dr. Skarpelis-Sperk Frau Stachowa Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5103

Vizepräsident Helmuth Becker Bündnis 90/GRÜNE Gres Frau Michalk Dr. Frhr. von Stetten Frau Grochtmann Michels Stockhausen Dr. Feige Gröbl Dr. Mildner Dr. Stoltenberg Frau Köppe Grotz Dr. Möller Strube Schulz (Berlin) Dr. Grünewald Molnar Stübgen Weiß (Berlin) Frhr. von Hammerstein Müller (Kirchheim) Susset Harries Müller (Wadern) Tillmann Haschke (Großhennersdorf) Nelle Dr. Uelhoff Fraktionslos Frau Hasselfeldt Dr. Neuling Uldall Haungs Neumann (Bremen) Vogel (Ennepetal) Henn Hauser (Esslingen) Ost Vogt (Düren) Hauser (Rednitzhembach) Oswald Dr. Voigt (Northeim) Heise Otto (Erfurt) Dr. Vondran Frau Dr. Hellwig Dr. Päselt Dr. Waffenschmidt Nein Helmrich Pesch Dr. Waigel Dr. Hennig Petzold Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU Dr. h. c. Herkenrath Pfeffermann Dr. Warnke Hörster Pfeifer Dr. Warrikoff Frau Dr. Ackermann Dr. Hoffacker Dr. Pfennig Werner (Ulm) Adam Hollerith Dr. Pflüger Wetzel Dr. Altherr Dr. Hornhues Dr. Pinger Frau Wiechatzek Frau Augustin Hornung Pofalla Dr. Wieczorek (Auerbach) Augustinowitz Hüppe Dr. Pohler Frau Dr. Wilms Austermann Jäger Frau Priebus Wilz Bargfrede Frau Jaffke Dr. Probst Wimmer (Neuss) Dr. Bauer Dr. Jahn (Münster) Dr. Protzner Frau Dr. Wisniewski Frau Baumeister Janovsky Pützhofen Wissmann Bayha Frau Jeltsch Frau Rahardt-Vahldieck Dr. Wittmann Belle Dr. Jobst Raidel Wittmann (Tännesberg) Bierling Dr.-Ing. Jork Dr. Ramsauer Wonneberger Dr. Blank Dr. Jüttner Rau Frau Wülfing Frau Blank Jung (Limburg) Rauen Würzbach Dr. Blens Junghanns Reddemann Frau Yzer Dr. Blüm Dr. Kahl Regenspurger Zeitlmann Börnsen (Bönstrup) Kalb Reichenbach Zierer Dr. Bötsch Kampeter Dr. Reinartz Zöller Bohl Dr.-Ing. Kansy Frau Reinhardt Bohlsen Frau Karwatzki Repnik Borchert Kauder Dr. Rieder Brähmig Keller Dr. Riesenhuber FDP Breuer Kittelmann Rode (Wietzen) Frau Brudlewsky Klein (Bremen) Frau Roitzsch (Quickborn) Frau Dr. Babel Brunnhuber Klinkert Dr. Rose Beckmann Büttner (Schönebeck) Köhler (Hainspitz) Rossmanith Bredehorn Buwitt Kolbe Roth (Gießen) Cronenberg (Arnsberg) Carstens (Emstek) Frau Kors Rother Eimer (Fürth) Carstensen (Nordstrand) Koschyk Dr. Ruck Engelhard Clemens Kossendey Dr. Rüttgers van Essen Dehnel Kraus Sauer (Salzgitter) Friedhoff Frau Dempwolf Dr. Krause (Bonese) Sauer (Stuttgart) Friedrich Deres Krause (Dessau) Scharrenbroich Funke Deß Krey Frau Schätzle Genscher Frau Diemers Kriedner Dr. Schäuble Grüner Dörflinger Kronberg Schemken Günther (Plauen) Doss Dr.-Ing. Krüger Scheu Hackel Dr. Dregger Krziskewitz Schmalz Hansen Echternach Dr. Lammert Schmidbauer Dr. Haussmann Ehlers Lamp Schmidt (Fürth) Dr. Hitschler Ehrbar Lattmann Dr. Schmidt (Halsbrücke) Frau Dr. Hoth Frau Eichhorn Dr. Laufs Schmidt (Mühlheim) Dr. Hoyer Engelmann Laumann Frau Schmidt (Spiesen) Irmer Eppelmann Frau Dr. Lehr Schmitz (Baesweiler) Kleinert (Hannover) Eylmann Dr. Lieberoth Dr. Schockenhoff Kohn Frau Falk Frau Limbach Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Kolb Dr. Faltlhauser Link (Diepholz) Dr. Scholz Dr.-Ing. Laermann Feilcke Lintner Frhr. von Schorlemer Dr. Graf Lambsdorff Dr. Fell Dr. sc. Lischewski Dr. Schreiber Lühr Frau Fischer (Unna) Frau Löwisch Schulz (Leipzig) Dr. Menzel Fockenberg Louven Schwalbe Nolting Francke (Hamburg) Lummer Schwarz Dr. Ortleb Frankenhauser Dr. Luther Dr. Schwörer Otto (Frankfurt) Dr. Friedrich Maaß (Wilhelmshaven) Seesing Paintner Fritz Frau Männle Seibel Frau Peters Fuchtel Magin Skowron Richter (Bremerhaven) Ganz (St. Wendel) Dr. Mahlo Dr. Sopart Rind Frau Geiger Frau Marienfeld Frau Sothmann Dr. Röhl Geis Marschewski Spilker Schäfer (Mainz) Dr. von Geldern Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Spranger Frau Schmalz-Jacobsen Gerster (Mainz) Meckelburg Dr. Sprung Schüßler Göttsching Meinl Dr. Stavenhagen Frau Dr. Schwaetzer Götz Frau Dr. Meseke Frau Steinbach-Hermann Frau Sehn Dr. Götzer Dr. Meyer zu Bentrup Dr. Stercken Frau Seiler-Albring 5104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Helmuth Becker Frau Dr. Semper Enthalten — Darf ich diesem Beifall entnehmen, daß das Haus Dr. Solms der Änderung der Geschäftsordnung zustimmt? — Ich Dr. Starnick CDU/CSU Thiele höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so Timm Gibtner beschlossen. Dr. Weng (Gerlingen) Haschke (Jena-Ost) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich ma- Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel che einen weiteren Vorschlag. Wir müssen heute Zurheide FDP abend noch den Einzelplan 30 beraten.

Frau Albowitz Fraktionslos Dr. Feldmann Grünbeck Ich rufe also auf: Lowack Dr. Guttmacher Einzelplan 30 Frau Homburger Frau Leutheusser Geschäftsbereich des Bundesministers für For- Schnarrenberger schung und Technologie Frau Dr. Pohl Schmidt (Dresden) — Drucksachen 12/1424, 12/1600 — Frau Dr. von Teichman Berichterstattung: Frau Walz Abgeordnete Dr. Emil Schnell Dietrich Austermann Werner Zywietz Der Antrag ist also abgelehnt. Zu diesem Tagesordnungspunkt soll debattiert wer- Wir kommen nun zur letzten namentlichen Abstim- den. Die Debattenzeit ist mit einer Stunde ange- mung. Ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerk- setzt. sam machen, daß wir dann, wenn die Ergebnisse der Ich bitte mit folgendem Verfahren einverstanden zu letzten namentlichen Abstimmung ausgezählt sind, sein. Wir eröffnen jetzt die Debatte. Wenn wir nach über die Einzelpläne 23 und 14 abstimmen, aber nicht Ende einer Rede, das Ergebnis der Abstimmung über namentlich.*) Ich eröffne die Abstimmung über den Änderungsantrag zu Einzelplan 14 vorliegen ha- den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache ben, würde ich kurz unterbrechen und über die Ein- 12/1650. — zelpläne 23 und 14 abstimmen lassen. Kann ich davon Meine Damen und Herren, ich darf einmal fragen, ausgehen, daß Sie mit dieser Regelung einverstanden ob wir die Abstimmung schließen können oder ob es sind? Proteste gibt. — (Beifall bei Abgeordneten im ganzen (Widerspruch) Hause) Meine Damen und Herren, ich frage noch einmal: Das geht natürlich nur, wenn die nötige Ruhe herge- Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das bisher stellt ist, damit sich der Redner auch verständlich ma- nicht abgestimmt hat? — Kann ich davon ausgehen, chen kann. daß ich die Abstimmung schließen kann? — Ich höre Als erster hat das Wort zum Einzelplan des Bundes- und sehe keine Widerspruch. Dann ist diese Abstim- ministers für Forschung und Technologie unser Kol- mung geschlossen. Ich bitte die Schriftführer, mit der lege Dr. Emil Schnell. Ihm erteile ich jetzt das Wort. Auszählung zu beginnen, damit wir das Ergebnis über Bitte sehr. die Abstimmung zu diesem Änderungsantrag der SPD bald vorliegen haben. **) (Unruhe)

Dr. Emil Schnell (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Ich rufe vor den Abstimmungen auf: verehrten Damen und Herren! Ich befürchte, daß es Einzelplan 31 nicht einfach wird, mit Ihrer Disziplin zurechtzukom- Geschäftsbereich des Bundesministers für Bil- men. dung und Wissenschaft — Drucksachen 12/1425, 12/1600 — Vizepräsident Helmuth Becker: Es hat wirklich nur Berichterstattung: Sinn, daß wir in der Debatte fortfahren, wenn alle so Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff diszipliniert sind, daß der Redner auch sprechen kann. Carl-Ludwig Thiele Sonst muß ich die Sitzung so lange unterbrechen, bis Hinrich Kuessner die Abstimmungsergebnisse da sind. Ich bitte Sie Nach einer Vereinbarung war eine Stunde Debat- wirklich um die nötige Aufmerksamkeit — Herr tenzeit angesetzt. Inzwischen ist mir mitgeteilt wor- Dr. Emil Schnell, Sie haben das Wort. den, daß alle Redner damit einverstanden sind, daß ihre Reden zu Protokoll gegeben werden. ***) - (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Dr. Emil Schnell (SPD): Herr Präsident, wir geben Hause) die Reden nicht zu Protokoll. Nachdem mich der Kol- lege Zywietz und der Kollege Austermann indirekt gebeten haben, das nicht zu tun, machen wir das auch *) Seite 5108A **) Ergebnis Seite 5108A nicht. Ich nehme an, auch der Minister hätte darum ***) Anlage 3 gebeten. Ich bin dankbar, daß wir so verfahren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5105

Dr. Emil Schnell Meine sehr verehrten Damen und Herren, Regie- haushalt unter Berücksichtigung von Lohn- und Preis- rungen sind wie Teppiche — das ist ein altes, wenn steigerungen um real 7,2 % niedriger ausfällt als auch etwas abgewandeltes polnisches Stichwort. Sie 1982. müssen von Zeit zu Zeit ausgeklopft werden. Bevor ich zu dieser konstruktiven Kritik übergehe, möchte (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Hört! ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BMFT Hört!) für ihre gute Arbeit — besonders auch Zuarbeit — Im Vergleich zu 1982 fällt der Anteil des Forschungs- recht herzlich danken. Ich bitte die politische Leitung, haushalts am gesamten Bundeshaushalt von 2,8 % auf das im Hause zu überbringen. 2,2 %, als hätte es in diesem wichtigen Bereich die (Beifall bei der SPD) deutsche Einheit nicht gegeben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bun- Ein wesentlicher Grund dafür ist natürlich, daß desrat hatte mit Sorge festgestellt, daß der Haushalt Schattenhaushalte und heimliche — auch unheimli- des Bundesministers für Forschung und Technologie che — Schuldenberge den Spielraum der Bundesre- gegenüber 1991 um nur rund 820 Millionen DM auf gierung extrem einengen, 9,25 Milliarden DM steigt. Er meinte weiter: Der not- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Rich wendige Neuaufbau der Forschungslandschaft in den tig!) neuen Ländern darf nicht zu nachhaltigen Schäden in der Forschungslandschaft in den alten Ländern füh- ohne daß man die wirklichen Gründe ehrlich einge- ren. Dies kann sich die Bundesrepublik Deutschland steht. Ehrlichkeit wäre jetzt aber langsam angesagt, angesichts der erheblichen Forschungsanstrengun- meine Damen und Herren. gen Japans, der USA und auch Frankreichs sowohl in (Beifall bei der SPD) der Grundlagenforschung als auch in der angewand- ten Forschung nicht leisten. Unsere Bevölkerung erträgt dieses Verhalten zum Glück nicht beliebig lange. Da der Mut zur Differen- Das würde ich sofort unterschreiben, aber die große zierung fehlt, wird mit dem Rasenmäher hantiert. Das Weisheit des Bundeskabinetts kommt zu der Schluß- sind politische Signale, die man sehr ernst nehmen folgerung: Wir können und müssen es uns leisten. Die sollte. Unsere Wissenschaftler sollten deshalb ihre Zu- lapidare Antwort lautet: Nach Auffassung der Bun- rückhaltung endlich aufgeben. desregierung trägt der Forschungshaushalt 1992 den forschungspolitischen Notwendigkeiten Rechnung. (Beifall bei der SPD) Man verweist dann noch auf die Mittel im Gemein- Vergleicht man einmal in Europa den Anteil der schaftswerk Aufschwung Ost, das bekanntlich 1992 öffentlich finanzierten Ausgaben für Forschung und ausläuft. Entwicklung am jeweiligen Haushaltsvolumen, stellt Nebenbei bemerkt: Die bescheidenen Mittel für die man fest: Diese Quote steigt in Frankreich und Italien Universitäten und Hochschulen führen vielleicht kontinuierlich, während sie in Deutschland sinkt. dazu, daß das eine oder andere sanierungsbedürftige Dem Vergleich mit Japan hält Deutschland erst recht Gebäude in Ordnung gebracht werden kann. Aber nicht stand. 1989 betrug in Japan der Anteil der Aus- um sich an anspruchsvollen Projekten von For- gaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoin- schungseinrichtungen zu beteiligen, um in die Ver- landsprodukt über 3%; in Deutschland waren es bundforschung einsteigen zu können, reicht es vorne 2,88 %. Die Differenzen sind heute mit Sicherheit und hinten nicht. Die Forschung gehört in der Tat zu nicht geringer. den Verlierern der deutschen Einheit. Es gilt — und wir fordern das — , Intelligenz zu spa- Die Großforschungseinrichtungen — die DFG, die ren. Die Regierung hat es in der Hand, die Schwer- Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesell- punkte dabei zu setzen. Hier gilt in besonderem schaft —, alle, die in der deutschen Forschung ver- Maße: An den Taten wird man sie erkennen. nünftig argumentieren können, haben massiv auf die Fehlentwicklungen in der deutschen Forschungs- und (Beifall bei der SPD) Technologiepolitik hingewiesen. Niemand von den Diese Übergangsregierung spart aber genau dort, wo Verantwortlichen hat es hören wollen. es kurzfristig am leichtesten ist, Ich möchte hier einmal Ihren Freund Lothar Späth (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: anführen, der ja kein Dummer ist. Er sagte in der letz- Wieso „Übergangsregierung"?) ten Ausgabe von „highTech" : Es gibt immer noch den Trend, Forschung und Entwicklung im Westen zu be- ohne die mittel- und langfristigen katastrophalen Fol- lassen und in Ostdeutschland eher verlängerte Werk- gen auch nur ansatzweise ins Kalkül zu ziehen. Diese bänke aufzubauen. Dagegen gibt es nur ein Rezept, Übergangsregierung definiert Forschung und Tech- nämlich bei den Forschungsinvestitionen richtig zu nologie als Subventionsempfänger. klotzen. (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: - (Beifall bei der SPD) Was heißt denn hier „Übergangsregie rung" ?) Ich sage Ihnen: Tun Sie es, bevor es zu spät ist. Mir fehlt offensichtlich der Humor, diese Möllemann- Nun ist es ja nichts Besonderes, daß man bei anste- sche Fehlleistung, die vom Kabinett getragen wird, henden Stagnationen, also realen Kürzungen der fi- oder seine Rücktrittslügen zu tolerieren. nanziellen Mittel, bei steigenden Preisen und Löhnen nervös wird. Nur: Hier ist es so, daß der Forschungs- (Beifall bei der SPD) 5106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Emil Schnell Meine Damen und Herren, welch schwarzer Tag für sich nicht hat durchsetzen müssen oder wollen oder die deutsche Wissenschaft! können. Den Rest des Kabinetts betrachte ich als neu- trale Masse, die sich im Kleinkrieg um ihre Ressort- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: mittel gegenseitig zu Null ergänzt. Der Bundeskanz- Er redet von einer Übergangsregierung!) ler, den es ja auch noch gibt, bedankt sich damit auf — Übergangsregierung, das brauche ich, glaube ich, seine Weise für den jüngsten Nobelpreis und den bis- nicht zu erklären. Das ist selbstredend klar. her noch guten Stand der deutschen Wissenschaftler und Techniker im internationalen Wettbewerb. Das (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Branden- könnte allerdings bald anders aussehen. burg!) Sollte alles klappen, entstehen ab Januar Großfor- Die Militärforschung dagegen, meine Damen und schungseinrichtungen, Blaue-Liste-Einrichtungen, Herren, zählt offensichtlich nicht zu den Subventions- Bundes- und Landeseinrichtungen, Max-Planck-In- empfängern. Seit dem Antritt der Regierung Kohl stitute und Fraunhofer-Einrichtungen, in denen die — nun hören Sie gut zu — 1982 hat sich der Anteil der genannten ca. 6 500 Menschen in hochwertiger Be- Ausgaben für Verteidigungsforschung an den For- schäftigung bleiben. Doppelt so viele, meine Damen schungs- und Entwicklungsausgaben des Bundes um und Herren, und besonders die älteren, haben dage- rund 50 % erhöht, gen wenig Zukunft. Der Beschluß des Forschungsaus- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: schusses vom 12. Juni 1991 war sicher ein richtiger Sauerei!) und wichtiger Impuls zur Entschärfung der Über- gangsprobleme, wurde aber nicht für voll genommen. von 14 auf 20%, also 1,1 Milliarden DM mehr — , und Das zeigt auch die Durchschlagskraft von Ausschuß das bei der internationalen Entwicklung, dem Ende begehren und damit die Würdigung der Sacharbeit im der Konfrontation zweier Militärblöcke und des kalten Parlament. Krieges. (Beifall bei der SPD) Ich schlage Ihnen dringend vor, die für die Vertei- Selbst die Koalitionsfraktionen haben keine Chance, digung aufgewendeten Forschungsmittel zu überprü- sich in ihrer Regierung durchzusetzen. fen und schrittweise in den Haushalt des BMFG zu übertragen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sie wa (Beifall bei der SPD) ren schon immer schlapp!) Die verbleibende Ressortforschung des BMVg sollte Ein Sonderprogramm zur Einrichtung von zusätzli- einige wenige Prozent — sagen wir einmal: 3 % — der chen Stellen für ältere Wissenschaftler und Techniker Ausgaben des Bundes für F und E nicht übersteigen. über 50 Jahre, von der SPD vorgeschlagen, wurde von Das heißt auch Anwendung gleicher Kriterien von der Koalition abgelehnt. Effizienz und Nützlichkeit beim verbleibenden Teil der militärischen Forschung, wie es bei der zivilen (Zuruf von der FDP: Das stimmt doch über Forschung der Fall ist. haupt nicht!) Ich komme nun zu der Entwicklung in den neuen Ich bitte Sie, noch einmal darüber nachzudenken. Ländern: 6 500 in den neuen Ländern übrigbleibende Hier geht es um mehr als um Parteiideologie. Hier Arbeitsplätze der öffentlich geförderten Forschungs- geht es um die teilweise Erhaltung von zukunftsfähi- einrichtungen gehen bis 1995 gesamtdeutsch wahr- ger Forschungssubstanz, die wir dringend benöti- scheinlich wieder verloren. Eine reife Leistung, denke gen. ich! Herr Abgeordneter , CDU/CSU, (Beifall bei der SPD) spricht von mehr als 12 000 neuen öffentlich getrage- Als falsches politisches Signal der Koalition in der nen Arbeitsplätzen. Wahrscheinlich zählt er ABM und schwierigen Übergangs- und Startphase verstehe ich ähnliches dazu. Das ist zumindest keine seriös auf ge- auch den 10%igen kw-Vermerk in den Stellenplänen, schlüsselte Angabe auch wenn vorgegeben wird, damit den Anteil älterer (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sind Sie ge- Wissenschaftler zu sichern. Eine zusätzliche Verunsi- gen ABM?) cherung der Menschen wird das Ergebnis sein.

und täuscht über die Realität hinweg. Er soll das ein- Die Überlebenschance der Forschungs - GmbHs ist mal aufklären, wenn es geht, hier und heute. alles andere als rosig, meine Damen und Herren. Die Versäumnisse der Regierung sind unübersehbar und Der Finanzminister jedenfalls rechnet uns 6 081 folgenschwer. Da reicht es nicht aus, die Treuhand grundfinanzierte Stellen in Wirtschaftsplänen vor und oder die Industrie zu beschwören und auf ein ange- weitere 481 Bedienstete, finanziert aus Verstärkungs- messenes Engagement zu hoffen. Es hilft uns auch fonds und Drittmitteln. nicht viel weiter, Tag für Tag die angenehmen Pres- Ich kritisiere damit nachdrücklich nicht die Arbeit semitteilungen des BMFT in die Medien zu schieben, des Wissenschaftsrates, der Länderregierungen und die einseitig Positives suggerieren. Das ist Papierver- der Fachleute in den Bundesministerien, im Gegen-- schwendung, behaupte ich. teil, ich danke ausdrücklich. Ich habe im Prinzip auch (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das nichts gegen Experimentalpolitik. Nur ist dieser Ver- liegt an der Fliege des Ministers!) schiebebahnhof ein Ergebnis des fehlenden Stellen- wertes von Forschung und Technologie in den Köpfen Ich behaupte auch einmal: Die Personalausstattungen weniger Minister. Ich vermute, das sind die Minister und die Investitionsmittel für die dringend benötigten Waigel und Möllemann, Minister Riesenhuber, der Forschungsgeräte zur Angleichung der Wettbewerbs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5107

Dr. Emil Schnell fähigkeit in den neuen Instituten sind so dimensio- Wir haben uns in Fragen der Weltraumfahrt klar niert, daß ein Erfolg nicht hinreichend gesichert ist. positioniert. Wir sind hier nicht die Bremser. Interna- Mit anderen Worten: Zuviel zum Sterben, zuwenig tionale Verpflichtungen müssen beachtet werden. Der zum Leben. Ein Konzept für die Großforschungsein- Finanzrahmen dafür muß allerdings im erträglichen richtungen und Institute in Deutschland fehlt. Die Re- und angemessenen Verhältnis zum Plafond stehen, gierung hat auch hier ganz einfach versagt. meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Horst (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Nimm Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wie immer einmal die Hand aus der Tasche, und schlag schlampig!) einmal zu!) Was macht die EG-Forschungspolitik mit ihren Das ist bisher nicht der Fall. Die Mittel laufen immer über 3 Milliarden DM 1992, wovon die Bundesrepu- noch dem Phantom einer westeuropäischen Auto- blik ca. 25 % finanziert? Dazu die „Wirtschaftswoche" nomie im Weltraum hinterher. Großprojekte der un- im Telegrammstil: Milliarden ohne Konzept und Kon- bemannten und bemannten Raumfahrt können und trolle, wildes Dickicht bei der Forschungsförderung, sollten in Zukunft aber nur global angegangen wer- kaum martkfähige Produkte, Mehrfachforschung ist den. nicht auszuschließen, übrigens auch nicht bei den Legen Sie ein vernünftiges Konzept vor! Machen Forschungsprojekten verschiedener anderer Ressorts Sie die Hausaufgaben! Gehen Sie vom Plafond auf und Bundesministerien, 15 % oder besser auf noch weniger runter. Dann kön- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das nen wir in diesem Bereich wieder etwas mehr und wurde schon festgestellt!) vernünftiger miteinander gestalten. die sich gegenseitig nur unzureichend informieren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und abstimmen, wie wir es im Haushaltsausschuß Die Vertagung von wichtigen Entscheidungen zur feststellen konnten. Weltraumforschung auf der Tagung in München zeigt (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sau- wiederholt, wie es um Europa steht, auch wenn ver- erei!) sucht wird, aus der eigentlichen Misere der europäi- schen Weltraumfahrt eine Erfolgsstory zu machen. Ich Benachteiligung mittelständischer Unternehmen — befürchte, die Anstrengungen der europäischen und , SB-Projekte — bringen kaum Erfolge, meine weltweiten Koordinationen in der Forschungspolitik Damen und Herren. JESSI ist eine offene Wunde, wo — speziell in der Weltraumforschung — sind in erheb Minister Riesenhuber eingesteht, daß die Struktur lichem Maße unterkritisch. nicht stimmt, die konkret abgestimmten Schwer- punktprojekte um den 64-Megabit-Chip herum keine Die hilfreichen Ausführungen des Deutschen Indu- Freudentränen auslösen. strie- und Handelstages vom 11. November 1991 soll- ten ernst genommen werden. Sie decken sich in we- (Beifall bei der SPD) sentlichen Punkten mit unserer Kritik. Die Kosten für einen Esp rit am Tag belaufen sich z. B. Ich kann hier leider nicht auf alle Versäumnisse, auf ca. 40 000 DM. Welche kleinen und mittleren Un- Schwierigkeiten und Fehlentwicklungen der deut- ternehmen können sich das leisten, frage ich Sie? Ist schen und europäischen Forschungspolitik — und da- das Ihre mittelstandsfreundliche Politik? mit der Industriepolitik — eingehen. Da bräuchten wir (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) sehr viel Zeit. Aber zum außerordentlich wichtigen Bereich der Informationstechnik möchte ich zum — Ja, da tun Sie mir sehr leid. Schluß noch drei Bemerkungen verlieren. Es muß angenommen werden, daß erhebliche Gel- Meine Damen und Herren, verläßliche und damit der nicht da ankommen, wo sie eigentlich gewollt langfristige Rahmenbedingungen für Wissenschaft waren. Was hat es z. B. für einen Sinn, wenn lobby und Forschung, speziell im IT-Bereich, sind erforder- starke Großunternehmen in Bereichen, wo sie ohne- lich, werden aber von den offensichtlich schlecht be- hin mit weltmarktführend sind, z. B. in der Laser ratenen Politikern nicht installiert, obwohl Minister Technologie, EG-Fördermittel bekommen? Das ist mir Riesenhuber — ich zitiere — „mit den fähigsten Köp- völlig unklar. fen aus Industrie und Forschung" in den Gedanken- Abschließend heißt es — einziger Trost für die For- austausch tritt. schungsbürokraten in Brüssel — : Viele Firmen haben Die Ursachen der europäischen Wettbewerbs- sich in den acht Jahren EG-Förderung wenigstens schwäche liegen auch in der zersplitterten Firmen- einmal kennengelernt. — Ich kann da nur an die Bun- strategie. Informationstechnik ist wahrscheinlich das desregierung appellieren, in diesen Bereichen für für das gesellschaftliche und industrielle Geschehen Ordnung und Effizienz zu sorgen. Das sieht mir ganz komplexeste und dynamischste Gebiet der Zukunft nach Schlamperwirtschaft aus, und muß deshalb durch besondere Anstrengungen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch des BMFT, gefördert werden. - nach Verschleuderung von Steuergeldern. (Beifall bei der SPD) Zu einigen Details möchte ich noch kurze Ausfüh- Dazu gehört, alle Gruppen von Anwendern, For- rungen machen. Die Story zur globalen Minderaus- schern, Produzenten und Politikern — ja, einfach alle gabe möchte ich jetzt hier nicht genüßlich auftischen. gesellschaftlichen Gruppen — in das fördernde Ge- Aber ich möchte hier kurz etwas zu Fragen der Welt- spräch einzubeziehen. Zum Schluß müssen gebün- raumfahrt sagen. delte Energie, wenigstens eine europäische Strategie, 5108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Emil Schnell die auch noch auf das Leben reagieren kann, und Kirschner Frau Steen gemeinsame langfristige Anstrengungen für den in- Frau Klappert Dr. Struck Frau Klemmer Tappe ternationalen Wettbewerb sowie ein breiter gesell- Klose Frau Terborg schaftlicher Konsens bei Zukunftstechnologien her- Dr. sc. Knaape Dr. Thalheim auskommen. Frau Kolbe Thierse Kolbow Tietjen Die Regierung ist diesen Herausforderungen — für Koltzsch Frau Titze jeden nachprüfbar — nicht gewachsen. Kretkowski Toetemeyer Kuessner Urbaniak (Beifall bei der SPD) Dr. Küster Vergin Kuhlwein Dr. Vogel Nach all den vorliegenden Fakten bleibt uns nichts Lambinus Vosen anderes, als den Einzelplan 30 abzulehnen. Frau Lange Wagner von Larcher Wallow (Beifall bei der SPD) Leidinger Waltemathe Lennartz Walter (Cochem) Frau Dr. Leonhard-Schmid Walther (Zierenberg) Frau Dr. Lucyga Wartenberg (Berlin) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Maaß (Herne) Frau Dr. Wegner Herren, ich bedanke mich herzlich, daß es im Saal Frau Marx Weiermann Frau Mascher Frau Weiler einigermaßen ruhig war. Dr. Matterne Weis (Stendal) Nun verfahren wir so, wie wir vorhin vereinbart Frau Matthäus-Maier Weißgerber Frau Mattischeck Weisskirchen (Wiesloch) haben. Ich gebe zunächst das von den Schriftführern Frau Mehl Dr. Wernitz ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung Dr. Mertens (Bottrop) Frau Wester über den Änderungsantrag der SPD zum Einzel- Dr. Meyer (Ulm) Frau Westrich plan 14 auf Drucksache 12/1650 bekannt. Abgege- Mosdorf Frau Wettig-Danielmeier Müller (Düsseldorf) Frau Dr. Wetzel bene Stimmen: 563; ungültige Stimmen: keine. Mit Ja Müller (Pleisweiler) Frau Weyel haben 214, mit Nein 343 Abgeordnete gestimmt. Ent- Müller (Schweinfurt) Wieczorek (Duisburg) halten haben sich sechs Abgeordnete. Frau Müller (Völklingen) Frau Wieczorek-Zeul Müller (Zittau) Wiefelspütz Müntefering Wimmer (Neuötting) Neumann (Bramsche) Dr. de With Neumann (Gotha) Frau Wohlleben Endgültiges Ergebnis Ebert Frau Dr. Niehuis Frau Wolf Dr. Eckardt Dr. Niese Frau Zapf Abgegebene Stimmen: 560; Dr. Ehmke (Bonn) Niggemeier Eich Frau Odendahl davon Dr. Elmer Oesinghaus PDS/LL ja: 213 Erler Opel Esters Ostertag Frau Bläss nein: 341 Ewen Frau Dr. Otto Frau Braband enthalten: 6 Frau Ferner Paterna Dr. Briefs Frau Fischer Dr. Penner Frau Dr. Enkelmann (Gräfenhainichen) Pfuhl Frau Dr. Fischer Fischer (Homburg) Dr. Pick Dr. Gysi Reimann Dr. Heuer Ja Frau Fuchs (Verl) Fuhrmann Reuschenbach Frau Dr. Höll Frau Ganseforth Reuter Frau Jelpke Rixe Frau Lederer SPD Gansel Gilges Schäfer (Offenburg) Dr. Modrow Frau Gleicke Frau Schaich-Walch Dr. Riege Frau Adler Schanz Dr. Schumann (Kroppenstedt) Andres Graf Großmann Scheffler Dr. Seifert Antretter Frau Stachowa Habermann Schloten Bachmaier Schluckebier Frau Barbe Hacker Frau Hämmerle Schmidbauer (Nürnberg) Bartsch Frau Schmidt (Aachen) Bündnis 90/GRÜNE Becker (Nienberge) Hampel Frau Hanewinckel Schmidt (Salzgitter) Frau Becker-Inglau Frau Schmidt-Zadel Dr. Feige Bernrath Frau Dr. Hartenstein Poppe Hasenfratz Dr. Schmude Bindig Dr. Schnell Frau Schenk Dr. Hauchler Frau Bock Dr. Schöfberger Schulz (Berlin) Heistermann Dr. Böhme (Unna) Schreiner Dr. Ullmann Heyenn Brandt Frau Schröter Weiß (Berlin) Hiller (Lübeck) Frau Brandt-Elsweier Schröter Dr. Brecht Hilsberg Schütz Büchner (Speyer) Dr. Holtz Dr. Schuster Fraktionslos Büttner (Ingolstadt) Horn Schwanhold Frau Bulmahn Frau Iwersen Schwanitz Henn Frau Burchardt Frau Jäger Seidenthal Bury Frau Janz Frau Seuster Frau Caspers-Merk Dr. Janzen Sielaff Nein Conradi Jaunich Frau Simm Dr. Jens Daubertshäuser Singer CDU/CSU Dr. Diederich (Berlin) Jung (Düsseldorf) Frau Dr. Skarpelis-Sperk Diller Jungmann (Wittmoldt) Frau Dr. Sonntag-Wolgast Frau Dr. Ackermann Frau Dr. Dobberthien Frau Kastner Sorge Adam Duve Kastning Dr. Sperling Dr. Altherr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5109

Vizepräsident Helmuth Becker Frau Augustin Hinsken Pesch Dr. Waffenschmidt Augustinowitz Hörsken Petzold Dr. Waigel Austermann Hörster Pfeffermann Graf von Waldburg-Zeil Bargfrede Dr. Hoffacker Pfeifer Dr. Warnke Dr. Bauer Hollerith Frau Pfeiffer Dr. Warrikoff Frau Baumeister Dr. Hornhues Dr. Pfennig Werner (Ulm) Bayha Hornung Dr. Pflüger Wetzel Belle Hüppe Dr. Pinger Frau Wiechatzek Bierling Jäger Pofalla Dr. Wieczorek (Auerbach) Dr. Blank Frau Jaffke Dr. Pohler Frau Dr. Wilms Frau Blank Dr. Jahn (Münster) Frau Priebus Wilz Dr. Blens Janovsky Dr. Probst Wimmer (Neuss) Dr. Blüm Frau Jeltsch Dr. Protzner Frau Dr. Wisniewski Börnsen (Bönstrup) Dr. Jobst Pützhofen Wissmann Dr. Bötsch Dr.-Ing. Jork Frau Rahardt-Vahldieck Dr. Wittmann Bohl Dr. Jüttner Raidel Wittmann (Tännesberg) Bohlsen Jung (Limburg) Dr. Ramsauer Wonneberger Borchert Junghanns Rau Frau Wülfing Brähmig Dr. Kahl Rauen Würzbach Breuer Kalb Reddemann Frau Yzer Frau Brudlewsky Kampeter Regenspurger Zeitlmann Brunnhuber Dr.-Ing. Kansy Reichenbach Zierer Büttner (Schönebeck) Frau Karwatzki Dr. Reinartz Zöller Buwitt Kauder Frau Reinhardt Carstens (Emstek) Keller Repnik Carstensen (Nordstrand) Kittelmann Dr. Rieder FDP Clemens Klein (Bremen) Dr. Riesenhuber Dehnel Klinkert Rode (Wietzen) Frau Albowitz Frau Dempwolf Köhler (Hainspitz) Frau Roitzsch (Quickborn) Frau Dr. Babel Deres Dr. Köhler (Wolfsburg) Dr. Rose Baum Deß Kolbe Rossmanith Beckmann Frau Diemers Frau Kors Roth (Gießen) Bredehorn Dörflinger Koschyk Rother Cronenberg (Arnsberg) Doss Kossendey Dr. Ruck Eimer (Fürth) Dr. Dregger Kraus Dr. Rüttgers Engelhard Echternach Dr. Krause (Bonese) Sauer (Salzgitter) van Essen Ehlers Krause (Dessau) Sauer (Stuttgart) Dr. Feldmann Ehrbar Krey Scharrenbroich Friedhoff Frau Eichhorn Kriedner Frau Schätzle Friedrich Engelmann Kronberg Dr. Schäuble Funke Eppelmann Dr.-Ing. Krüger Schemken Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Eylmann Krziskewitz Scheu Ganschow Frau Falk Dr. Lammert Schmalz Genscher Dr. Faltlhauser Lamp Schmidbauer Gries Feilcke Lattmann Schmidt (Fürth) Grünbeck Dr. Fell Dr. Laufs Dr. Schmidt (Halsbrücke) Grüner Frau Fischer (Unna) Laumann Schmidt (Mühlheim) Günther (Plauen) Fockenberg Frau Dr. Lehr Frau Schmidt (Spiesen) Dr. Guttmacher Francke (Hamburg) Dr. Lieberoth Schmitz (Baesweiler) Hackel Frankenhauser Frau Limbach Dr. Schockenhoff Hansen Dr. Friedrich Link (Diepholz) Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Haussmann Fritz Lintner Dr. Scholz Dr. Hitschler Fuchtel Dr. sc. Lischewski Frhr. von Schorlemer Frau Homburger Ganz (St. Wendel) Frau Löwisch Dr. Schreiber Frau Dr. Hoth Frau Geiger Louven Schulz (Leipzig) Dr. Hoyer Geis Lummer Schwalbe Hübner Dr. von Geldern Dr. Luther Schwarz Irmer Gerster (Mainz) Maaß (Wilhelmshaven) Dr. Schwörer Kleinert (Hannover) Gibtner Frau Männle Seesing Kohn Glos Magin Seibel Dr. Kolb Göttsching Frau Marienfeld Skowron Koppelin Götz Marschewski Dr. Sopart Dr.-Ing. Laermann Dr. Götzer Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Frau Sothmann Dr. Graf Lambsdorff Gres Meckelburg Spilker Frau Leutheusser Frau Grochtmann Meinl Spranger Schnarrenberger Gröbl Frau Dr. Meseke Dr. Sprung Lüder Grotz Dr. Meyer zu Bentrup Dr. Stavenhagen Lühr Dr. Grünewald Frau Michalk Frau Steinbach-Hermann Dr. Menzel Frhr. von Hammerstein Michels Dr. Stercken Nolting Harries Dr. Mildner Dr. Frhr. von Stetten Dr. Ortleb Haschke (Großhennersdorf) Dr. Möller Stockhausen Otto (Frankfurt) Haschke (Jena-Ost) Molnar Dr. Stoltenberg Paintner Frau Hasselfeldt Müller (Kirchheim) Strube Frau Peters Haungs Müller (Wadern) Stübgen Frau Dr. Pohl Hauser (Esslingen) Nelle - Susset Richter (Bremerhaven) Hauser (Rednitzhembach) Dr. Neuling Tillmann Rind Hedrich Neumann (Bremen) Dr. Uelhoff Dr. Röhl Heise Nitsch Uldall Schäfer (Mainz) Frau Dr. Hellwig Ost Vogel (Ennepetal) Frau Schmalz-Jacobsen Helmrich Oswald Vogt (Düren) Schmidt (Dresden) Dr. Hennig Otto (Erfurt) Dr. Voigt (Northeim) Schüßler Dr. h. c. Herkenrath Dr. Päselt Dr. Vondran Frau Dr. Schwaetzer 5110 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Vizepräsident Helmuth Becker Frau Sehn Fraktionslos Ich bitte, daß Sie wieder die notwendige Ruhe her- Frau Seiler-Albring Lowack stellen, damit ich den nächsten Redner, unseren Kol- Frau Dr. Semper legen Dietrich Austermann, aufrufen kann. Dr. Solms Dr. Starnick Enthalten (Zurufe und große Unruhe) Frau Dr. von Teichman Thiele FDP — Einen Augenblick noch, Herr Kollege Austermann. Dr. Thomae — Alle sind nett und freundlich und befolgen die Rat- Timm Heinrich Dr. Weng (Gerlingen) Dr. Hirsch schläge des Präsidiums. Wolfgramm (Göttingen) Kubicki (Erneute, anhaltende Zurufe) Frau Würfel Dr. Schmieder Zurheide Türk Jetzt hat unser Kollege Dietrich Austermann das Zywietz Frau Walz Wort. Bitte sehr.

Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren, nachdem die beiden Meine Damen und Herren! Ich kann all die verstehen, Änderungsanträge, die die SPD zum Einzelplan 14 die soeben den Saal verlassen haben, nachdem sie die gestellt hat, abgelehnt worden sind, können wir nun Rede von Herrn Schnell gehört haben. zur Abstimmung über Einzelplan 14 in der Ausschuß- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — fassung kommen. Wer Einzelplan 14 zuzustimmen Widerspruch bei der SPD) wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- genprobe! — Stimmenthaltungen? — Dieser Einzel- Denn es ist der Eindruck entstanden, daß Forschung plan ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktion gegen etwas mit Trauer, mit beklagenswerten Zuständen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Gruppen und mit persönlichem depressivem Gefühl zu tun Bündnis 90/GRÜNE und PDS/Linke Liste angenom- hat. men. (Zuruf von der SPD: Sie haben Herrn Schnell nicht zugehört! — Weitere Zurufe von der (Beifall bei der CDU/CSU) SPD) Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt über Ich möchte einmal uns allen die Frage stellen, wie den Einzelplan 23 ab. Um das noch einmal zu kenn- der Kollege Schnell, wenn er demnächst in einer der zeichnen: Das ist der Geschäftsbereich des Bundesmi- drei neuen Großforschungseinrichtungen in den nisters für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der Än- neuen Bundesländern erscheint oder in einem der 24 derungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache neuen „Blaue Liste "-Institute oder in dem neuen Um- 12/1647 ist, wie wir vorhin festgestellt haben, abge- weltforschungsinstitut in Halle lehnt worden. (Zuruf von der CDU/CSU: Der weiß gar nicht, wo das ist!) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Mit Recht!) oder anderswo auftritt, wohl aufgenommen wird, wenn er den beklagenswerten Sachverhalt vermitteln Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ein- muß, daß wir in den nächsten fünf Jahren „bloß" zelplan 23 in der Ausschußfassung. Wer diesem Ein- 6 Milliarden DM für die Forschung in den neuen Bun- zelplan zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein desländern bereitstellen. Dann brechen alle in Tränen Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltun- aus und sagen: So kann es nicht weitergehen. gen? — Der Einzelplan 23 ist in der Ausschußfassung (Beifall bei der CDU/CSU) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Wenn man der Situation ernsthaft gerecht werden Stimmen der SPD-Fraktion und der Gruppen Bündnis will, muß man die Fakten vernünftig darstellen und 90/GRÜNE und PDS/Linke Liste angenommen. sagen, wo die Probleme in der Forschung liegen; die will ich überhaupt nicht verniedlichen. Man muß den Wir haben jetzt noch über den Einzelplan 31, den Bürgern auch sagen, was tatsächlich geleistet wird. Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung Und das ist in der Tat beträchtlich. und Wissenschaft, abzustimmen. Zu diesem Einzel- plan sind die Reden zu Protokoll gegeben worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD) Wer diesem Einzelplan in der Ausschußfassung zu- Ich will das an nur wenigen Zahlen kurz deutlich zustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- machen: Die Steigerung des Forschungsetats gegen- chen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — über dem Jahr 1991 beträgt 9,7 %. Dabei sind die Dann ist auch dieser Einzelplan mit den Stimmen der 300 Millionen DM aus dem Gemeinschaftswerk Auf- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD- schwung Ost und die 180 Millionen DM, die wir zu- Fraktion und der Gruppen Bündnis 90/GRÜNE und sätzlich für industrielle Forschung ausgeben, nicht der PDS/Linke Liste angenommen. mitgerechnet. Eine beachtliche Leistung! Insgesamt umfaßt dieser Einzelplan 9,7 Milliarden DM, während Meine Damen und Herren, wir wollen — ich habe sich der für dieses Jahr auf 8,4 Milliarden DM belief. noch eine Reihe von Wortmeldungen — jetzt in der Wenn das keine bedeutsame Steigerung ist, Aussprache fortfahren. Danach kommen wir noch zur Abstimmung über den Einzelplan 30: Forschung und (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Technologie. Eben!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5111

Dietrich Austermann weiß ich nicht, ob die SPD-Kollegen überhaupt noch ministeriums ersehen — , daß Forschungsanstrengun- rechnen können. gen, vor allen Dingen für anwendungsbezogene For- schung, verstärkt werden müssen, um die Innova- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das tionsfähigkeit der Unternehmen zu steigern. Dies haben die noch nie gekonnt!) hilft selbstverständlich gerade auch den Unterneh- Nörgeln, maulen, miesmachen, lieber Kollege men in den neuen Bundesländern, die vor allem auf Schnell, ist einfach zuwenig, wenn man sich dem Innovationen setzen und alte Produktionsverfahren Thema sachgerecht nähern will. nicht fortsetzen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zur Lage der Mikroelektronik in Deutschland ist fol- Ich möchte mich deshalb kurz den Themen wid- gendes zu sagen: Wir wissen, daß sie nicht nur für die men, um die es tatsächlich geht. Bereiche Datenverarbeitung, Informations- und Kom- munikationstechnik eine Schlüsseltechnologie dar- (Zuruf von der SPD: Ausgerechnet Sie!) stellt, sondern auch für wichtige Wirtschaftszweige, Das wichtigste Thema ist sicher die Frage: Wie kön- wie Maschinen- und Apparatebau sowie Fahrzeug- nen wir die Forschungspolitik in den neuen Bundes- bau. ländern unter Nutzung der dort vorhandenen Beson- derheiten und Qualitäten in die Forschungslandschaft (Dr. Peter Struck [SPD]: Sagen Sie einmal der alten Bundesländer einbetten? Wie können wir etwas zu Schleswig-Holstein, Herr Auster — zweitens — die technologischen Rahmenbedin- mann!) gungen in der Bundesrepublik insgesamt verbessern? — Ich komme dazu. Wie können wir — drittens — Schlüsseltechnologien in der Aufholjagd, die wir mit Amerikanern und Japa- Das Zukunftskonzept der Informationstechnik der nern austragen, einen entschiedeneren Impuls ge- Bundesrepublik aus dem Jahr 1989 muß dringend ben? fortgeschrieben werden; dazu zwingt nicht zuletzt die Wiedervereinigung. Trotz der erheblichen Förderung (Josef Vosen [SPD]: Fragen Sie uns! Wir wis- in den letzten Jahren, die auch die Wissenschaft in sen das!) diesem Feld ausgebaut hat, müssen wir mehr tun; und — Ich werde die Frage gleich beantworten, Herr Vo- wir tun dies. sen, damit Sie etwas mit nach Kalkar nehmen können — zur eigenen Weiterbildung und zur Information Ih- Jetzt komme ich zu Ihrem Stichwort, Herr Kollege rer Genossen dort. — Wir werden schließlich — vier- Struck: Wir tun dies, indem wir eine Fülle von Einrich- tens — die Frage beantworten müssen, wie wir die tungen schaffen, die im Verbund gemeinsam die Mi- Raumfahrt weiter betreiben und wie es — fünftens — kroelektronik voranbringen sollen. Dazu gehört mit der Zukunft der Großforschungseinrichtungen selbstverständlich das neue Institut ISIT in Itzehoe, aussehen soll. aber auch SIGAN in Hannover, MATZ in Hamburg und viele andere mehr. Der Verbund der Fraunhofer Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in den Gesellschaft gehört dazu, ebenso das Zentralinstitut kommenden Jahrzehnten hängt von der Beherr- für Mikroelektronik in Dresden. Ich glaube, daß der schung bestimmter kritischer Technologien ab. Haushalt des Forschungsministers in diesem Bereich (Dr. Peter Struck [SPD]: Donnerwetter!) für 1992 deutliche Impulse setzt. — Ich habe den Eindruck, daß sich viele von Ihnen mit Jeder dritte Arbeitsplatz in den alten Bundeslän- diesen neuen Technologien nur ungern befassen; des- dern hängt vom Export ab und damit von der interna- halb muß das hier deutlich gesagt werden. tionalen Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb sind Innova- Das amerikanische Wirtschaftsministerium hat in tionen unbedingt erforderlich. umfangreichen Untersuchungen neu auftretende Was haben wir in diesem Jahr tatsächlich getan? Technologien identifiziert, die im Jahr 2000 hohe Bei- träge zum Markt leisten können. Etwa die Hälfte des (Detlev von Larcher [SPD]: Nichts!) Umsatzes der Zukunft werden neue Materialien, fort- geschrittene Halbleiter, Höchstleistungsrechner, —Dies kann nur derjenige behaupten, der die Fakten computerintegrierte Fertigung ausmachen. nicht kennt oder der sie nicht sehen will, lieber Kol- lege. Eine wesentliche Rolle dürften die Energiefor- schung, vor allem für erneuerbare Energien und ratio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nelle Energieverwendung, sowie Biotechnologie und 600 Millionen DM sind für Projekte in den neuen nachwachsende Rohstoffe spielen. Bundesländern bereitgestellt worden. Es ist erfreu- Es muß eine Aufgabe der künftigen Forschungspo- lich, daß sie auch umgesetzt wurden. Eine Überbrük- litik sein, immer wieder neue Themen aufzuspüren kungsfinanzierung konnte für Projekte industrieller und im Wettbewerb mit Japan und den USA mitzuhal- Forschungseinrichtungen in den neuen Bundeslän- ten. - dern über die Treuhandanstalt, das Forschungsmini- Bezüglich der Mikroelektronik läuft Europa Gefahr sterium und das Wirtschaftsministe rium erreicht wer- zurückzubleiben; gleiches gilt für Hochleistungsme- den. talle und für die Umwelttechnologie im weitesten Im Nachtragshaushalt, der in dieser Woche be- Sinne. schlossen wird, werden weitere 50 Millionen DM Internationale Bestandsaufnahmen machen deut- noch für dieses Jahr für Forschungs-GmbHs bewil- lich — dies kann man aus dem Etat des Forschungs ligt. 5112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dietrich Austermann Ich glaube, daß es falsch ist, wenn der Kollege Späth schungseinrichtung in Halle/Leipzig mit 400 Mitar- aus anderer Perspektive und anderer Interessenlage beitern angesprochen. Dies ist ja auch nicht nichts, von einer „verlängerten Werkbank" redet. Wenn man sondern dies ist ein erster wesentlicher Schritt, um die sich tatsächlich mit den Fakten befaßt — ich sage es Versäumnisse der sozialistischen Kommandowirt- noch einmal — , stellt man fest: 3 Forschungseinrich- schaft, d. h. die Sünden im Bereich des Umweltschut- tungen, 24 Blaue-Liste-Institute, viele Einrichtungen, zes, auszugleichen. die früher bei der AdW waren und jetzt bei den Hoch- Auf dem Gebiet der Biotechnologie werden in Jena schulen der Länder sind, viele andere private Institute wesentliche Forschungskapazitäten am IMB und am und die Forschungseinrichtungen, die weiter unter- HKI geschaffen. Ein anderer Schwerpunkt wird in stützt werden — 180 Millionen im kommenden Berlin-Buch mit einer weiteren Großforschungsein- Jahr — , sind programmiert. Technologieorientierte richtung entstehen. Unternehmensgründungen werden gefördert. Tech- nologie- und Gründerzentren werden mit 40 Millio- Ich glaube, daß gute Chancen bestehen. Wir müs- nen DM unterstützt. Dies ist eine gewaltige Leistung, sen sie nur richtig nutzen. Wir dürfen nur nicht denen, die sich sehen lassen kann, und die man den Lands- die daran beteiligt sind, die davon profitieren sollen leuten in den neuen Bundesländern als Zeichen der und die die geistigen Werte schaffen, die danach in Hoffnung vermitteln sollte, die Wirtschaft fließen, von vorneherein den Mut neh- men. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich als letztes Thema die Weltraumfor- aber nicht mit einem Ton, der den Eindruck erweckt, schung ansprechen. es wäre soeben ein naher Verwandter gestorben, wie man gerade zur Kenntnis habe nehmen müssen. (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Zurufe von der SPD: Aha!) (Detlev von Larcher [SPD]: Ungeheuerlich!) Die Weltraumforschung hat uns bis in die Bereini- Darüber hinaus muß man feststellen, was unsere gungssitzung des Haushaltsausschusses beschäftigt. Forschungsgesellschaften tun und getan haben. Her- Die Finanzierung der drei Großprojekte — Ariane 5, ausragend ist die Anstrengung der Fraunhofer-Ge- Hermes und Columbus — war fraglich geworden, sellschaft zu nennen, weniger herausragend die der nachdem sich das Projekt Hermes um 40 % teurer dar- Max-Planck-Gesellschaft. stellte, als dies ursprünglich angenommen wurde. Es Immerhin steigen die Mittelzuweisungen an die schien auch nicht mehr den technologischen Nutzen Fraunhofer-Gesellschaft auf Grund der Investitionen zu bringen, der ursprünglich in dem ehemals kohärent in den neuen Bundesländern im kommenden Jahr um gedachten Weltraumprogramm vorgesehen war. 82 % , bei der Max-Planck-Gesellschaft um lediglich (Josef Vosen [SPD]: Ziemlich spät erkannt!) 8,9 % — Der Unterschied zwischen uns beiden ist der, daß (Detlev von Larcher [SPD]: Das hat Ihnen der wir nach wie vor die Auffassung vertreten, daß diese Herr Riesenhuber aufgeschrieben!) drei Großprojekte unterstützungswürdig sind, Ein weiterer Punkt, den man in diesem Zusammen- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Auch hang erwähnen muß, betrifft das, was im neuen Jahr neu in Angriff zu nehmen ist. Das ist ein Thema, das wenn sie nicht sinnvoll sind! Das ist interes weniger mit den neuen Bundesländern als vielmehr sant!) mit den alten zusammenhängt. Das ist die Situation während Sie von vorneherein, außer bei der kommu- der Großforschungseinrichtungen. Wenn wir die For- nalen Neuordnung und beim Schulwesen, alles, was schung in den neuen Bundesländern generell auf den groß ist, ablehnen. Prüfstand stellen und dort eine Bewertung durch den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wissenschaftsrat durchführen lassen, muß dies selbst- verständlich auch für die Großforschungseinrichtun- Dies geschieht bei Ihnen wahrscheinlich deshalb, weil gen in den alten Bundesländern gelten. Das kann aber dies alles eine Größe überschreitet, die zu begreifen eben nicht mit der Rasenmähermethode geschehen. Sie nicht mehr in der Lage sind. (Josef Vosen [SPD]: Genau!) (Dr. Peter Struck [SPD]: Na! Jetzt werden Sie aber wirklich polemisch!) Man kann nicht sagen: Wir müssen generell sparen. Die Kollegen der Koalition haben im Forschungsaus- Wir sind zu der Meinung gelangt, daß diese drei schuß deutlich gemacht — — Projekte in einem vernünftigen Zeitraum und im Rah- men der uns zur Verfügung stehenden Mittel realisiert (Josef Vosen [SPD]: Sagen Sie das Herrn Rie- werden sollen. Aber die bemannte Raumfahrt darf senhuber!) nicht dazu führen, daß die Wettbewerbsfähigkeit der — Herr Vosen, ich weiß nicht, ob Sie sich dem ange- Wirtschaft leidet und die Forschungsanstrengungen schlossen hab en — : Di e Großforschungseinrichtun- in anderen Bereichen erdrückt werden. Deshalb wird gen brauchen mehr Flexibilität und das Handwerks- die bemannte Raumfahrt zeitlich gestreckt. Aber im- - zeug, um den neuen Anforderungen besser gerecht zu merhin, über 1,5 Milliarden DM sprechen dafür, daß werden. wir uns aus dem internationalen Bereich und aus der Lassen Sie mich wenige Sätze zum Bereich der Um- europäischen Zusammenarbeit nicht verabschieden weltforschung sagen, der einen Schwerpunkt in den wollen. neuen Bundesländern bildet. Ich habe bereits das neu Ich denke, daß die Zeit der Überlegung bis Ende zu schaffende Umweltforschungszentrum als Großfor nächsten Jahres genutzt werden kann, um vernünf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5113

Dietrich Austermann tige Entwicklungen voranzubringen und zu klaren werke schießen an der Küste wie Pilze aus dem Bo- Entscheidungen zu kommen. Wir stehen zur Weiter- den. entwicklung der Ariane 5. Wir stehen zum Raumfahrt- (Dr. Peter Struck [SPD ] : Alles gegen euren projekt Columbus. Wir sind der Meinung, daß das Pro- Widerstand durchgesetzt! — Peter Harry jekt Hermes technologisch weiter erforscht werden Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Und soll. bei Vosen in der Gemeinde nicht eine An Die Verbindung von Luft- und Raumfahrt und Um- lage!) weltschutz drängt sich nach den Erfahrungen der — Obwohl er sich alle Mühe gibt, Wind zu machen. technologischen Möglichkeiten auf. Wir haben des- Sonnenkraft wird in einem 1 000-Dächer-Pro- halb über den Entwurf der Regierung hinaus im Be- gramm erprobt, Geothermie erhält vor allen Dingen in reich des Umweltschutzes die Entwicklung eines Hö- Mecklenburg-Vorpommern eine Chance. henflugzeugs Strato 2C für den Einsatz in extremen Flughöhen finanziell vorgesehen. Dabei werden neue Ergänzend dazu wollen wir die Chancen der nach- Wege beschritten, die der Atmosphärenforschung, wachsenden Rohstoffe nutzen. 50 Millionen DM wer- der Kommunikation, der Erdbeobachtung, dem Kata- den dafür im kommenden Jahr bereitgestellt — nicht strophenschutz und dem Krisenmanagement sowie nur deswegen, weil wir die gewaltigen Sorgen und vielen anderen Dingen mehr dienen. Ich glaube, daß Probleme unserer Landwirtschaft sehen. Ich wünsche sich inzwischen herumgesprochen hat, daß dieses mir, daß es gelingt, im kommenden Jahr eine Mana- Projekt sinnvoll ist und andere ersetzen soll, die statt gement-Zentrale oder vielleicht eine Stiftung der dessen vorgesehen waren und die national in dieser Energieversorgungsunternehmen zu schaffen, die Größenordnung nicht zu bewältigen sind, wie z. B. sich darum kümmert, wie wir nachwachsende Roh- das Projekt Atmos. stoffe noch stärker umsetzen, wie wir die Vermark- tung von der Landwirtschaft in die Industrie besser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ausnutzen und organisieren können.

Lassen Sie mich wenige Sätze zur Energiepolitik (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD ] : Stichwort sagen. Ein Kollege von der SPD hat heute vormittag in Rapsöl!) der Debatte zum Kanzleretat das Thema Energiepoli- Zum Schluß bleibt anzumerken, daß anders als frü- tik angesprochen. Hans-Ulrich Klose glaubte auch, her bei den Abstimmungen über einzelne Titel und beklagen zu müssen, wie gewaltig sich die Last durch Kapitel, Herr Kollege Diederich, weitgehende Über- CO2, vor allem für den südlichen Teil der Erde, dar- einstimmung in den Beratungen im Haushaltsaus- stellt. Eigentlich hätte man annehmen können, daß schuß auch mit der Opposition erreicht werden Herr Klose, nachdem er 1981 als Bürgermeister in konnte. Es bleibt zu hoffen, daß sich die SPD von ihrer Hamburg wegen seiner Position im Bereich der Kern- technologiefeindlichen Grundsatzkritik an bestimm- energie zurücktreten mußte, heute sagt: Deshalb bin ten Großprojekten ich, Hans-Ulrich Klose — wie wir — , für die konse- (Widerspruch bei der SPD) quente Anwendung der umweltfreundlichen, der sparsamen, der wirtschaftlichen und sicheren Kern- und an wichtigen Forschungsgebieten der Zukunft energie. abwendet. Der Forschungshaushalt gibt eine Chance — nicht nur für die neuen Bundesländer. (Dr. Peter Struck [SPD]: Nun reicht es aber! Ich bedanke mich für das Zuhören. Erzählen Sie doch keinen Quatsch! Jetzt geht es aber wirklich zu weit!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD ] : Platitüden Das gleiche hätte ich von Herrn Scheer erwartet, der Austermann!) nach Herrn Klose gesprochen hat. Wir haben die Mittel für Kernenergie nicht deshalb zurückgeführt, weil wir gegen Kernenergie sind, son- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dern weil wir die Auffassung vertreten, daß dies jetzt Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten eine Aufgabe der Energieversorgungsunternehmen Dr. Gerhard Riege das Wort. ist.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Er kann es nicht las- Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- sen, dieser Austermann! — Josef Vosen dent! Meine Damen und Herren! Der Voranschlag für [SPD]: Abwegig!) den Forschungshaushalt enthält ganz gewiß be- stimmte höhere Ansätze im Vergleich zu 1991. Aber Die Mittel, die wir dafür bereitstellen, dienen in erster ich meine, daß die Proportionalität angesichts des Zu- Linie den Forschungsprojekten und der Beseitigung wachses durch die fünf neuen Bundesländer nicht von Altlasten; ein Beitrag, den die Bundesregierung gegeben ist und daß in dieser Zeit bevorstehende Per- aus den Forschungsprojekten übernommen hat. - sonalkosten es uns auch schwermachen werden, mit Die letzten Anmerkungen sollen der erneuerbaren dem zu haushalten, was an Zuwachs nominell da ist. Energiequellen und den rationellen Energieverwen- Meines Erachtens gibt es eine faktische Begren- dung dienen. Das, was dort in den letzten Jahren ge- zung. leistet worden ist, kann sich sehen lassen: Wind, Was- Für die institutionelle Förderung in den neuen serkraft, Geothermie und vor allem Sonnenenergie Bundesländern sind insgesamt 585 Millionen DM aus- können in Breitentests erforscht werden. Windkraft- gewiesen. Ich sehe auch da eine deutliche Dispropor- 5114 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Dr. Gerhard Riege tion, weil im gesamten Bundesgebiet dafür ein mehr gesiedelt ist und in den neuen Bundesländern nicht in als sechsmal höherer Betrag ausgewiesen ist. entsprechendem Maße gefördert wird. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: So ist (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Warum?) das!) Ich sehe auf Grund dieser Situation auch eine nega- Bezogen auf die Großforschungseinrichtungen, die tive Auswirkung auf die Hochschulen. Eine Rückwir- für die neuen Bundesländer vorgesehen sind, ist die kung auf die Lehre ist nicht auszuschließen. Ich habe Disproportion noch größer. bei verschiedenen Industriepartnern im Bereich von Wissenschaft und Technik nachgefragt. Sie erklären, In diesem Zusammenhang erlaube ich mir auf fol- daß, soweit Potentiale erhalten sind, in beträchtlichem gendes hinzuweisen: drei Großforschungseinrich- Maße eine Orientierung hin zu Industriepartnern der tungen in den neuen Bundesländern bei einem alten Bundesländer erfolgt. Das wird auch von der 90%igen Förderungsanteil durch den Bund. 24 Blaue- Universität her so gesehen. In den alten Bundeslän- Liste-Institute sind bei einer Beteiligung von Bund dern werden die Partner gesucht, und zwar vor allen und Ländern von jeweils 50 : 50 vorgesehen. Das Dingen deshalb, weil die entsprechende Partnerschaft heißt, die ohnehin mit finanziellen Schwierigkeiten auf dem Gebiet der neuen Bundesländer nicht mög- stark belasteten Länder im Osten haben einen ungün- lich ist. stigeren Finanzierungsschlüssel. Das heißt, daß die noch vorhandenen Ostpotentiale ( [Nordstrand] [CDU/ die westlichen Gebiete in einem bestimmten Maße CSU]: Wieso das denn?) auch stärken und deren Wirtschaft insoweit günstig beeinflussen. Wenn Sie sich im Bereich dessen um- Insofern kommt eine stärkere Belastung hinzu. schauen, was der Industrieforschung und der Hoch- Ich verkenne dabei nicht, daß in diesen Entwicklun- schulforschung zuzuordnen war und ist, so müssen gen — das gilt ebenfalls für die Blaue-Liste-Insti- wir, soweit ich das habe ermitteln können, feststellen, tute — natürlich auch neue inhaltliche Möglichkeiten daß junge, kreative Wissenschaftler angesichts der für die Entwicklung der Forschung bestehen, für ein Bedingungen, die wir gegenwärtig vorfinden, wegge- höheres Maß an Modernität und an Effektivität. gangen sind und daß sie ihren Platz in der Wissen- schaft, in der Forschung, in der Technik der alten Bun- Wir haben unter den 24 Blaue-Liste-Instituten nicht desländer oder im Ausland gefunden haben. eine, die gesellschaftswissenschaftlichen Charakter trägt. (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wie gerne wären die in den letzten (Zuruf von der CDU/CSU: Aus gutem 20 Jahren weggegangen!) Grund!) — Wir haben gegenwärtig einen größeren Weggang Ich finde, daß die Entwicklungen, die in diesem als jemals zuvor in der Entwicklung der DDR auf die- Haushalt zu vollziehen sind, auch zu negativen Kon- sem Gebiet. sequenzen in den alten Bundesländern führen. Tei- lung ist hier erforderlich. Sie wird auch in einem be- (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ stimmten Maße praktiziert. Ich verstehe, daß es bei CSU]: Diese Bemerkung ist ja wohl unerhört! den Institutionen in den alten Bundesländern, die sich — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) im Rahmen des begrenzten Haushalts bewegen müs- — Diese Bemerkung ist belegbar. sen, auch Unmut gibt. Die hauptsächlichen Reserven würde ich — wie auch mein Vorredner — im Bereich (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ der Militärforschung sehen, die zu reduzieren wäre. CSU]: Das ist ja fies, was Sie da sagen!) Ich möchte auf folgendes aufmerksam machen. In Wenn Sie sich in den Wissenschaftszentren, die zur der Anhörung unseres Ausschusses wurde von ver- Debatte stehen, umschauen, dann werden Sie feststel- schiedenen Seiten unbestritten festgestellt, daß die len, um wie viele hochqualifizierte Fachkräfte es sich Industrieforschung im Bereich der neuen Bundeslän- handelt. der bereits zu 80 % nicht mehr existiert. Dafür gibt es (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ verschiedene Gründe. Ein Hauptgrund ist die Privati- CSU]: Sie wollen uns doch nicht erzählen, sierungspolitik der Treuhand. Das hat für die Indu- daß es ihnen vorher besser ging und daß sie strie natürlich Wirkung in die Zukunft hinein, und es sich wohler gefühlt haben!) hat darüber hinaus auch Wirkung für die Gesellschaft. Ich denke, es sind langfristig negative Wirkungen. —Das ist nicht die Frage. Es geht um die Frage, wo die Potentiale vorhanden sind, wo sie bleiben, wie sie sich Hier ist das Wort von der verlängerten Werkbank bewegen und was der Grund dafür ist. oder von den verlängerten Werkbänken gefallen. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Wenn sie (Josef Vosen [SPD]: Da ist was dran!) früher weg gekonnt hätten, wären sie auch schon früher weggegangen!) — Da ist etwas dran. — Ich möchte es modifizieren,- nämlich insofern, als mit dem, was an neuen Potentia- Das heißt: Wenn uns so hochqualifizierte Leute ver- len in der Industrie aufgebaut wird, auch moderne lassen, dann hat das nicht nur in einem quantitativen Produktion verbunden ist. Mir scheint vor allem, daß Maße, sondern auch in einem höheren — qualitiati- die eigentliche Innovationskraft, sozusagen das, was ven — Maße Rückstände in bezug auf das Niveau der die Originalität der wissenschaftlich-technischen Ent- Forschung zur Folge. Wir befinden uns in einer Situa- wicklung ausmacht, in den alten Bundesländern an tion, in der das intellektuelle Potential in den Wissen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5115

Dr. Gerhard Riege schaftszentren auf dem Gebiet der neuen Bundeslän- lich ein Effektivitätsmoment, dem ich nicht beipflich- der in Frage steht und in der wir uns überlegen müs- ten kann. Ich kann es verstehen, aber ich kann es nicht sen, welche Möglichkeiten es gibt, um das zu ändern. unterstützen. Es gibt sicher verschiedene Möglichkeiten, dieses Dieser Zusammenhang von Entindustrialisierung Potential so zu erhalten, daß es unter den Bedingun- im Osten und Wissenschaftsentwicklung, Technik- gen, unter denen auch die Indust rie wieder mehr Auf- entwicklung muß nach meinem Erachten gesehen traggeber sein kann, wieder vernünftig zum Einsatz werden. Er ist anders, als ihn der Ministerpräsident gebracht werden kann. von Thüringen gestern darstellte. (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Was schla- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Rede war aber gen Sie denn vor?) nicht schlecht!) — Eine Möglichkeit würde, so scheint mir, darin be- — Ich habe nicht die Aufgabe, die Rede des Minister- stehen, die ABM-Stellen — heute ist das Wort von der präsidenten im einzelnen zu beurteilen. Aber die „Hängematte" verwandt worden — vielleicht geziel- Wirklichkeit in seinem Raum Thüringen, über die er ter einzusetzen. Ich sehe in der ABM keine für Wis- zu sprechen in der Lage gewesen wäre, ist eine andere senschafts- und Technikkader besonders günstige Lö- als die, die gestern in diesem großen Saal, dargestellt sung, aber eine Chance. worden ist. Wenn man davon ausgeht, daß es im Gebiet der Es wäre Zeit und Anlaß, über andere Aspekte des neuen Bundesländer eigentlich vier große Zentren Forschungsplanes zu sprechen. Meine Zeit ist abge- von Wissenschaft und Technik gibt, die historisch ge- laufen. wachsen sind — Berlin, Raum Dresden, Raum Jena Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. und vielleicht Raum Halle/Leipzig — , so könnte ich (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und mir vorstellen, daß es sinnvoll wäre, in diesen Berei- beim Bündnis 90/GRÜNE) chen Konzentrationen vorzunehmen, um entspre- chende Potentiale zu erhalten, bis die entsprechenden Möglichkeiten der Industrie, sie zu stimulieren und Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ihre Leistung aufzunehmen, wieder gegeben ist. Wir Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege We rner Zy- sind — so würde ich es sehen — in der Zwangslage, wietz. uns um das Erhalten dieses kreativen Potentials zu bemühen. Werner Zywietz (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolle- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist ginnen und Kollegen! Auch die vielleicht mildernden richtig!) Umstände der späten Stunde rechtfertigen es nicht, Bitte stellen Sie sich folgende Situation vor. Wir ein so trauriges und t ristes Bild über die Forschungs- haben in Jena im Moment etwa 20 000 Arbeitslose. Es landschaft in den fünf neuen Bundesländern, in der gibt die offizielle Aussage des Amtes für Arbeit, daß Ex-DDR zu zeichnen. Das geht an der Sache vorbei. zum 1. Januar 1992 aus dem Bereich von Zeiss, von Ich fürchte, es könnte darin die Gefahr liegen, daß viel Akademieeinrichtungen und anderen wissenschafts- von dem Goodwill, der im Parlament zweifelsohne intensiven Einrichtungen weitere 20 000 hinzukom- breit vorhanden ist, eher abgebremst werden und da- men. Das werden bei einer Stadt in einer Größenord- durch Schaden entstehen könnte. nung von rund 100 000 Einwohnern 40 000 Leute sein. Ich habe nachgelesen und stelle fest, daß der Kol- Das ist nicht nur ein individuelles Problem, daß ist ein lege Dr. Schnell bei der zweiten und dritten Beratung kommunales, ein soziales, ein gesellschaftliches Pro- des Etats 1991 noch vor der Sommerpause im Juni blem. Dabei handelt es sich um hochqualifizierte — er wird sich daran erinnern — in seinen Anmerkun- Facharbeiter, um Wissenschaftler und Techniker. gen noch daran gezweifelt hat, ob überhaupt eine Hier wird doch die Dimension des Problems deut- Großforschungsanstalt im Gebiet der neuen Bundes- lich. länder installiert werden könnte. Er hat sehr skepti- Wenn es im Einigungsvertrag heißt, daß es uns um sche Anmerkungen gemacht. eine ausgewogene Forschungslandschaft gehen Jetzt, noch nicht einmal ein halbes Jahr später, sind sollte, dann muß man diese Fragen sehen und versu- es drei. Der Wissenschaftsrat hat die sortierende Ar- chen, Lösungen zu finden, die dieses Potential so er- beit, was zukunftsträchtig und zukunftsfähig ist, weit- halten, damit eine Ungleichgewichtigkeit, die jetzt gehend durchgeführt. Es sind etwa 1,6 Milliarden DM vorhanden ist, nicht weiter erhalten bleibt und sogar für die institutionelle Förderung, für die Projektförde- noch ausgedehnt wird. Vielleicht — ich bitte das zu rung im Rahmen dieses 9,2-Milliarden-Haushalts vor- bedenken — könnte es möglich sein, solche ABM- gesehen; alles Zahlen und Fakten in kurzer Zeit, die Stellen gezielt, sozusagen zweckgebunden für diese man gut darstellen kann. Zentren und Regionen einzusetzen. Ich bin davon entfernt zu sagen: A lles ist in Ord- Dazu würde es natürlich auch einer neuen Sicht- nung. An vielen Ecken und Kanten ist die Verwirkli- weise bedürfen. Wir haben in Diskussionen mit den chung der deutschen Einheit noch mit Schwierigkei- Vertretern der Ämter für Arbeit, die gut organisiert ten versehen. Es wäre aber kontraproduktiv und und auskunftsträchtig sind, z. B. das Argument ge- schädlich, das alles so beiseite zu wischen und hier hört: Wir können auf diesem Wege nur etwas unter- abends zwischen 10 und 11 Uhr so ein negatives Bild stützen, was arbeitsmarktwirksam ist; wenn das nicht zu zeichnen. Das trifft die Fakten nicht und schadet der Fall ist — da kann der wissenschaftliche Gehalt nur im weiteren. noch so groß sein —, fördern wir nicht. Das ist natür- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 5116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Werner Zywietz Wenn ich mir diesen Haushalt anschaue, muß ich geradlinig erreichen. Das ist wohl auch eine Frage, sagen: Ich bin aus der Sicht der FDP und auch persön- über die diskutiert werden muß und bei der auch an- lich recht zufrieden damit. Ich will auch sagen, dere, außerhalb der Wissenschaft, ein Anrecht haben, warum. diese Kriterien an die Wissenschaft heranzutragen. Das erlauben wir uns auch in einer solchen Debatte. (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Typisch!) ( [SPD]: Wir setzen Sie auf —Sie fordern nur 1 Milliarde DM. Aber wenn ich den ganzen Tag der Debatte verfolge, sehe ich, daß Sie die Hälfte oder ein Drittel Ihrer Diäten! Dann sehen wir, ob Sie dabei so gründlich bleiben, überall 1 Milliarde DM mehr fordern, und beim Jä- wie Sie jetzt sind!) ger 90 wollen Sie dann alles einsparen. —Ich bin schlank genug, und meine Diäten verdiene (Edelgard Bulmahn [SPD]: Wir haben auch ich. durchaus Kürzungsvorschläge! — Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch nicht wahr!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wegen Ihrer Figur Beim Einzelplan 23, bei der Entwicklungshilfe, 1 Mil- brauchen Sie sich nicht zu schämen!) liarde DM drauf, hier 1 Milliarde DM drauf; das kann — Lassen wir das; es wird sonst zu bunt. man den ganzen Tag über verfolgen. Überall soll Ich will auf die Dinge nicht im einzelnen eingehen. 1 Milliarde DM drauf. Ich stelle nur fest: Der Haushalt paßt in die Situation. Der einzige Antrag zum Einsparen bezieht sich auf Er wird den Ansprüchen der Forschung und Techno- den Jäger 90; der finanziert das alles angeblich. Aber logie im wesentlichen gerecht und paßt in die haus- so geht es dann doch: Der Kollege Helmut Wieczorek haltspolitische Landschaft, so wie sie von der Regie- hat die Eingangsrede gehalten und hat das große dra- rung sachgerecht vertreten wird. matische Gemälde der Verschuldung gemalt. Aber wenn es auf der anderen Seite darum geht, den Gürtel (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Die ist all etwas enger zu schnallen und vernünftig zu sparen gemein düster! Das ist richtig! — Josef Vosen —ich nehme den Begriff des intelligenten Sparens [SPD]: Er paßt zur Regierung!) auf — , dann Fehlanzeige. Dann kommt nichts außer Dem muß man gerecht werden. Man kann nicht ein- einem Klagelied. fach nur Show-Anträge stellen und sozusagen ausbre- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — chen wollen, ohne daß es Sinn gibt. Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Bei Ihnen (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Was Sie ist Fehlanzeige!) machen, ist reine Schönfärberei!) Sie bringen die Enden nicht zusammen. Das ist es. In der Kürze der Zeit möchte ich noch auf zwei, drei (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dinge eingehen: Ex-DDR und Forschungslandschaft Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben die An- sind angesprochen worden. Der weitere Prozeß nach träge nicht gelesen!) der Vorarbeit des Wissenschaftlichen Rates — er ist in der Tat ein Prozeß des Selektierens und des Dotie- — Die habe ich gelesen, jedenfalls soweit es nötig rens — wird weitergehen. Dieser Prozeß heißt für ist. mich auch durchaus parlamentarischer Lernprozeß. (Detlev von Larcher [SPD]: „Soweit es nötig Das ist nicht in einem Jahr erledigt, sondern da wird ist" ! Und dann so eine Rede!) auch die eine oder andere Nachbetrachtung oder Kor- rektur vonnöten sein. Es fällt doch niemandem ein — Ich sortiere das Papier immer, soweit es nötig ist. Stein aus der Krone, das so zu sehen und auch so zu Nein, das ganze Bild paßt nicht, was Sie zeichnen. handhaben. Wir von der FDP lassen uns nicht davon anstecken. Aber ich möchte noch auf einen zweiten Bereich zu Dieser 9,2-Milliarden-Haushalt ist kein Haushalt, mit sprechen kommen, weil auch er einer ist, von dem ich dem man füllhorngleich durch die Forschungs- und sage: Der Haushalt ist in Ordnung. Er ist in Ordnung, Techniklandschaft gehen und den man einfach so weil er auch viel parlamentarische Einflußnahme zu fortschreiben kann. Das ist er gewiß nicht. Aber er ist verzeichnen hat. auch kein Haushalt, der so knapp geschneidert ist, daß die Forschungslandschaft zusammenbricht, we- (Edelgard Bulmahn [SPD]: Aha! — Josef Vo der bei uns noch in der Ex-DDR. Daß ein bißchen sen [SPD]: Itzehoe!) schlank gemacht wird, daß ein bißchen Ehrgeiz ge- Ich muß sagen, auch das ist gut. Das Haus und der weckt wird, daß ein bißchen mehr das ökonomische Minister sind selbstbewußt genug, um das zu verkraf- Prinzip — auch im Bereich der hehren Wissen- ten. Es wird niemand in Sack und Asche gehen. Aber schaft — angewandt wird, das kann überhaupt nicht ein so beweglicher und so bewegender Haushalt wie schlecht sein. dieser — — (Josef Vosen [SPD]: Forscher müssen arm (Zuruf von der SPD: Beweglich?) sein!) - — Beweglich in dem Sinne, daß es hier keine gesetz- Ich habe während des Studiums der Betriebswirt- lichen Vorgaben gibt, sondern weil durch Stellenplan schaft gelernt, daß das Mini-Max-Prinzip ein ganz und Projektmittel sehr viel gestaltet werden kann. einfaches Prinzip sei. Es bedeutet nämlich, ein vorge- Bewegend nach vorn, weil dies natürlich ein Zu- gebenes Ziel auf effizienteste Weise zu erreichen. Das kunftshaushalt ist — ganz klar — , der Inspiration und gilt auch in der Wissenschaft. Sie ist frei, die Ziele zu Anregung in die Wirtschaft und in die Gesellschaft definieren, aber sie muß sie möglichst ökonomisch, hinein geben soll. Insofern ist er ein im wahrsten Sinne Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5117

Werner Zywietz des Wortes bewegender Haushalt für diesen Be- Werner Zywietz (FDP) : Wenn Sie nichts dagegen reich. haben; ich habe nichts dagegen. Wir haben so kolle- Ich komme auf die parlamentarische Handschrift. gial zusammengearbeitet, daß das ein Gebot des An- Die FDP hat in vergangenen Debatten angemerkt, daß standes ist. mit hoher Wahrscheinlichkeit die Förderung der drei Projekte, die angesprochen worden sind, so nicht wei- Vizepräsident Helmuth Becker: Dann bitte ich Sie tergeführt werden kann. Insofern glaube ich, daß mit aber, zum Schluß zu kommen. Hilfe der Kolleginnen und Kollegen im Fachausschuß Bitte sehr. und vieler anderer, die sich dieser Sache angenom- men haben, eine Trendwende zum Realistischen und Dr. Emil Schnell (SPD): Stimmen Sie mir nicht zu, zum Finanzierbaren mit mehr Augenmaß für Kosten- daß Wissenschaftler, die man — ich will es einmal Nutzen-Relationen eingeleitet worden ist. Der Haus- brutal ausdrücken — aus dem Verkehr zieht, d. h. von halt atmet das; das finde ich gut. Das ist eine parla- ihrer eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit entfernt, mentarische Handschrift und eine parlamentarische nach mehreren Jahren keine Chance mehr haben, in Mitwirkung, auf die die meisten der Anwesenden — den wissenschaftlichen Prozeß wieder einzusteigen, sicherlich auch andere — mit Berechtigung durchaus und damit jetzt eigentlich ein Riesenpotential verlo- stolz sein können. rengeht, das man nie wieder reaktivieren kann? Die Handschrift wird aber auch dadurch deutlich, daß wir für eine Einnahmevermehrung gesorgt ha- Werner Zywietz (FDP): Ich sehe das persönliche ben, beispielsweise dadurch, daß eine Uranreserve, Problem und auch das Problem — aber das kann ich die aus energiepolitischen Gründen nicht mehr gehal- schwerer einschätzen — der Reaktivierung. Dennoch ten wird, etwas schneller und damit einnahmeschaf- meine ich, daß es keine gute Politik ist, sozusagen ein fend veräußert wird. Wir haben auch ein bißchen beim ABM-Programm für Akademiker oder Wissenschaft- schrittweisen Abbau der globalen Minderausgabe ler einzuführen. geholfen. Auch das ist ein Zurückführen auf den par- (Detlev von Larcher [SPD]: Das machen Sie lamentarischen Pfad der Tugend, nämlich das Bud- doch schon lange!) getrecht mehr beim Parlament anzusiedeln und der Denn darauf würde das hinauslaufen. Ich wundere Exekutive nicht so viele Gestaltungsspielräume zu mich ein bißchen, daß diese Frage aus den SPD-Rei- überlassen. Das finde ich in dieser Abfolge durchaus hen kommt. Wenn man den Maßstab der Fairneß oder in Ordnung. der Gleichgewichtigkeit anlegen würde, müßte man Was die inhaltlichen Akzente anbelangt: Wir haben noch ganz andere Bevölkerungsgruppen mit Pro- Forschung reduziert dort, wo wir sie mit Anstand re- grammen bedienen. duzieren können: Im Kohleforschungsbereich ist (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ge schon so vieles über so viele Jahre — um nicht zu schieht doch!) sagen: Jahrzehnte — geschehen. Auch im Nuklearbe- Ich finde das einseitig und nicht fair und deswegen in reich, im Bereich der Kernenergie haben wir redu- der pauschalen Art — jedenfalls wie ich das bisher im ziert. Das ist nach meiner Meinung voll in Ordnung. Haushaltsausschuß verstanden habe — für nicht be- Wir haben bei und bei alternativen Energien ratio- rechtigt. neller Energieverwendung zugelegt. Wir haben auch bei der Umweltforschung zugelegt. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, jetzt Akzente in der Mikroelektronik — Kollege Auster- noch einen Schlußsatz. mann hat sie angedeutet — sind durchaus gesetzt worden. In der Raumfahrt sind andere Akzente ge- Werner Zywietz (FDP) : Einen Schlußsatz? setzt worden: Sie ist schlanker und auf der Zeitachse gestreckt. Das kann ich jetzt nicht weiter ausführen. (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Das alles ist in Ordnung. CSU]: Den hat er gar nicht mehr! — Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Ich möchte nur noch anmerken: Weil auch über die Denke Dir einen Satz aus!) deutsche Forschungslandschaft gesprochen wurde, Ich bin froh, daß wir so viele Akzente aus dem par- möchte ich den Bogen noch weiter spannen und auf lamentarischen Raum in den Haushalt gesetzt haben, die Sowjetunion hinweisen. Ich möchte die Regie- daß wir die Raumfahrt etwas schlanker gemacht ha- rung, den Minister bitten, all die Möglichkeiten, die ben sich aus den erfolgten Veränderungen ergeben, zu sichten, zu sortieren und mit Engagement Kooperatio- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Wo nen und Übernahmen zu suchen. Das ist nicht nur eine denn?) Aufgabe, die beispielsweise von Frankreich oder den und das wir die Forschungslandschaft der Ex-DDR in Vereinigten Staaten von Amerika gemacht werden angemessener Weise gefördert haben. Über all das könnte. Auch uns steht sie gut an. bin ich froh. - Herr Minister, Sie sind schon so oft gelobt worden. Sie sehen es mir vielleicht nach, wenn ich in einem Schlußsatz nicht Sie noch einmal lobend bedenke Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Zy- — obwohl ich auch das gerne täte — , sondern den wietz, Sie haben die Redezeit längst überschritten. neben Ihnen sitzenden Parlamentarischen Staatsse- Aber jetzt hat sich der Kollege Dr. Schnell gemeldet. kretär. Ich habe die Haushaltsberatungen in diesem Er will Sie etwas fragen. Lassen Sie das zu? Jahr als vom Hause besonders gut begleitet empfun- 5118 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Werner Zywietz den. Es ist seitens der politischen Führung nicht im- Ihnen auch hierzu einen Vergleich anbieten: Die Aus- mer nur die Position der Bürokratie vertreten worden, gaben des Staates — jetzt vergleiche ich nur die Staa- sondern durchaus mit viel Einfühlungsvermögen dort ten; denn davon sprachen Sie — für zivile Forschung nach Kompromissen gesucht worden, wo es nötig war. liegen bei den USA und Japan, auch bei Großbritan- Das fand ich in Ordnung. nien und Kanada — Sie können auch andere nehmen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — immer um 0,5 To des Bruttosozialproduktes. In Deutschland liegen die Ausgaben der öffentlichen Hand für die zivile Forschung nicht bei 0,5 %, son- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich habe schon dern fast bei 1,0 43/0, genau genommen bei 0,95 %. lange nicht mehr solch einen langen Schlußsatz ge- (Josef Vosen [SPD]: Herr Riesenhuber, das ist hört. doch nicht korrekt, was Sie sagen!) Nun hat der Herr Bundesminister für Forschung und Wir sind hier in einer absoluten Spitzenposition im Technologie, Herr Riesenhuber, das Wort. internationalen Vergleich, (Josef Vosen [SPD]: Und die militärische For Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- schung?) schung und Technologie: Herr Präsident! Meine sehr und zwar mit einer Vielfalt des Systems, das erstens verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich für zivile Forschung sehr hochhält und zweitens die de- diese sehr sachliche Debatte. Ich möchte gerne einige zentrale Arbeit zwischen Bund und Ländern in einer Schwerpunkte aufgreifen, die Sie hier gesetzt ha- guten Weise ermöglicht. Ich glaube, dies hält auch in ben. diesem Jahr. Die erste Frage betrifft das Volumen des Haushalts Wenn Sie jetzt hier fordern, lieber Herr Vosen, daß selbst. Es ist ohne Zweifel ein Haushalt, der unter sehr wir die Militärforschung einfügen, dann bin ich ganz strengen Bedingungen von Sparsamkeit steht, der der fasziniert von Ihrem Sinneswandel. Solidität verpflichtet ist, der aber auch die Aufgaben, die wir zu erfüllen haben, in einer vernünftigen Weise (Josef Vosen [SPD]: Das tue ich nicht!) anzugehen erlaubt. Ich habe von Ihnen immer eine ganz andere Diskus- Herr Austermann hat dargestellt, wie dieser Haus- sion erlebt. Ich sage, daß die zivile Forschung, die halt gewachsen ist, nämlich um 9,7 %. — Der Bundes- neue Techniken, neue Wissenschaften, neue Märkte haushalt insgesamt ist um knapp 3 % gewachsen. Dies ermöglicht und die Umwelt schützt, in den anderen ist ein gutes Ergebnis. Aber die Aufgaben, die wir Nationen gut angelegt, aber bei uns ausgezeichnet haben — dies ist völlig zu Recht dargestellt worden —, angelegt ist. sind auch außerordentlich groß. (Beifall bei der CDU/CSU — Josef Vosen Wenn man noch die Mittel aus dem Gemeinschafts- [SPD]: Aber es ist nur die halbe Wahrheit!) werk Aufschwung Ost dazunimmt, erreicht man in der Tat die Zahl, die Herr Zywietz genannt hat: Wir Sehen Sie sich die gesamte Strategie an, wie wir die haben über 1,6 Milliarden DM zur Verfügung, die wir Mittel im Bereich des Umweltschutzes und der Vor- in diesem Jahr in den neuen Bundesländern einsetzen sorgeforschung stetig gesteigert haben. Auch in die- können. Die Höhe dieses Betrages halte ich für gut. sem Jahr steigt das Budget für die Gesundheitsfor- Die Mittel werden in der Strategie, die wir jetzt ange- schung um 17 %, das für die Umweltforschung um legt haben, auch richtig eingesetzt. 15 %. Wir gewinnen hier neues Potential dazu, mit großer Stärke auch in den neuen Bundesländern, und Ich möchte zu vier Punkten sehr kurze Bemerkun- wir werden es für diese Strategie nutzen. gen machen, die erste zur Haushaltsstrategie insge- samt, die zweite zu den neuen Bundesländern, die Wir haben in anderen Bereichen zurückgefahren. dritte zur Frage des Weltraums und die vierte zu der Es gab eine Diskussion über den Subventionsabbau. europäischen Strategie. Erst da wurde mir wirklich klar — um das einmal mit angemessener Behutsamkeit zu sagen —, mit wel- Zur Frage der Strategie des Haushalts insgesamt chem Rigorismus der Forschungsminister — auch im möchte ich sagen: Wir haben Stetigkeit in Bereichen Vergleich zu dem Gesamtprofil dessen, was in ande- angelegt, wo Stetigkeit auch jetzt noch trägt. Die ren Ressorts möglich gewesen ist — Finanzhilfen ins- Grundlagenforschung hat ein hohes Niveau erreicht; an mittlere und große Unternehmen abge- sie umfaßt 40 % des Haushalts. Herr Schnell hat hier besondere baut hat. In einer Zeit, wo hier über Subventionen und gefragt: Wie stellt sich insgesamt im internationalen dabei über sehr hohe Beträge gesprochen worden ist, Vergleich unser Haushalt dar? Er hat nach anderen sind im Forschungshaushalt die Zuwendungen an europäischen Staaten gefragt; er hat nach Japan, nach Großunternehmen um 60 % zurückgeführt worden, den USA gefragt. nicht deshalb, weil wir einen Vorbehalt gegen Groß- Ich möchte diese Frage hier nur von zwei Seiten unternehmen hätten — genauso wie wir, da hat Herr angehen: Es gibt kein anderes Land unter den großen Austermann recht, auch keinen Vorbehalt gegen Industrienationen, das eine so starke Grundlagenfor-- Kerntechnik haben — , sondern deswegen, weil wir schung hat wie die Deutschen. Die USA und Japan der Überzeugung sind, daß sie diese Aufgaben aus stecken 12 oder 13 To ihres nationalen Forschungs- eigener Kraft erfüllen können, daß es nicht Aufgabe budgets in die Grundlagenforschung. Wir liegen um des Staates ist, hier mit Subventionen etwas voranzu- die Hälfte höher: bei 19 %. bringen, daß es Bereiche gibt, wo wir neue Strukturen Sie haben darüber gesprochen, Herr Schnell, wie und Signale und Ziele setzen können, daß es Bereiche groß der Anteil am Bruttosozialprodukt ist. Ich darf hochriskanter und langfristiger Technik gibt, daß wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5119

Bundesminister Dr. Heinz Riesenhuber aber darauf vertrauen, daß es die Innovationskraft der gie, die wir angelegt haben: Zurückhaltung des Staa- Unternehmen erlaubt, aus ihren eigenen Erträgen Zu- tes schafft Freiheit für die Unternehmen. kunft und Forschung zu erwirtschaften. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir in diesem Gesamtkonzept die Strategie Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, ge- im einzelnen anlegen, dann ist ein Bereich relevant statten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Vo- — auch darauf ist von Herrn Zywietz und Herrn Aus- sen? termann mit Recht hingewiesen worden — : die Frage, neu vor- wie wir in diesen Jahren Schlüsseltechniken Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- anbringen. Das ist ein Bereich, der in den letzten Jah- schung und Technologie: Ja, wenn er sich traut. ren weit überproportional gesteigert worden ist. Wir haben die Mittel dafür in den letzten acht Jahren fast verdoppelt. Hier haben wir einen Bereich, in dem wir Josef Vosen (SPD): Herr Riesenhuber, Sie haben auch in den nächsten Jahren wachsende Aufwendun- hier zwar eine historische Wahrheit zum Ausdruck gen haben werden. gebracht, die ich nicht bestreite. Das ist aber keine Antwort auf meine Frage gewesen. Abgesehen von (Abg. Josef Vosen [SPD] meldet sich zu einer diesem einmaligen Ereignis 1982, welches ich nicht Zwischenfrage) bestreite, ist aber bis 1990 Ihr Forschungshaushalt seit — Welche, wird gleich Herr Vosen erfragen. vielen, vielen Jahren kontinuierlich unterdurch- (Heiterkeit) schnittlich gestiegen. Das war meine Frage! Sie kön- nen das mit dem Hinweis auf ein einmaliges Ereignis im ersten Haushaltsjahr nicht beantworten. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Vosen? Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminster für For- schung und Technologie: Also um das jetzt einmal mit Bundesminister für For- Dr. Heinz Riesenhuber, einfachen Worten zu sagen, lieber Herr Kollege Vo- schung und Technologie: Es wird mir eine Ehre sen: sein. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie von dem Haushalt 1982 — einschließlich Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr Kol- lege Vosen. des Nachtragshaushalts — den Nachtragshaushalt abziehen, kommen Sie auf einen Betrag, der um 600 Millionen DM kleiner ist. Wenn Sie es darauf be- Josef Vosen (SPD) : Herr Riesenhuber, Sie wissen ja, ziehen und dann den Zuwachs von damals auf heute, da wir uns immer um Sachlichkeit auch in der Aus- auf 9,25 Milliarden DM, nehmen, dann bekommen schußarbeit bemühen. Wenn Sie jetzt hier die heile Sie einen Zuwachs, der durchaus in der Größenord- Welt schildern, können Sie mir dann bitte sagen, nug des Zuwachses des Gesamthaushaltes liegt. Dies warum seit 1982 der Forschungshaushalt im Verhält- ist eine Sache, die ich für durchaus vernünftig halte. immer unterdurchschnittlich nis zum Bundeshaushalt Ich war nie dafür, einen höheren Staatsanteil zu gestiegen ist? Ist das eine heile Welt? haben. Der Ausweis des Erfolges ist nicht, daß man mehr Geld ausgibt. Der Ausweis des Erfolges ist, daß Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- die Landschaft gut ist. schung und Technologie: Dazu kann ich zwei Berner- Ich kann mit Freude feststellen, daß wir nicht nur kungen hilfreich beitragen. auf den Weltmärkten außerordentlich erfolgreich Die erste ist diese: Der Haushalt 1982 war ein außer- sind, einschließlich des Mittelstandes, sondern daß ordentlich hoher Haushalt. Dies hatte einen Grund: wir seit 1984 in jedem Jahr — mit einer Ausnahme; es Wir hatten in jenem Jahr noch Schulden von 600 Mil- gibt auch einmal Lücken — zwei, drei Nobelpreisträ- lionen DM, die eine frühere Regierung, Ihnen eng ver- ger hatten. traut, für den Hochtemperaturreaktor und für den (Josef Vosen [SPD]: Das haben Sie auch noch Schnellen Brüter hat auflaufen lassen. gemacht?) (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Nun muß ich hinzufügen, daß ich nie gesagt habe, das Diese 600 Millionen DM mußte die Bundesregierung sei ein Verdienst dieser glanzvollen Bundesregierung, mit einem Nachtragshaushalt abtragen. Damit haben die zweifellos eine gute Bundesregierung ist. wir im Haushalt 1982 einen außerordentlich hohen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Plafond gehabt. der FDP) Die zweite, lieber Herr Vosen, ist diese: Wir haben Aber man wird hier doch noch mit Freude feststellen 1982 schon gesagt — dies ist unsere Politik — , daß wir können, daß uns hier etwas gelungen ist. Wissen Sie, es nicht als unsere Aufgabe ansehen, mit wachsenden Herr Vosen, es ist ein alter Satz: Es kommt nicht dar- Zuwendungen an die Unternehmen die Forschung auf an, daß man ein großes Netz hat. Es kommt darauf voranzubringen. Wir haben gesagt: Wir fahren die an, daß man dicke Fische fängt. Finanzzuwendungen an die Unternehmen zurück. In der Zeit ist gegen alle Prognosen die Forschungska- (Zurufe von der FDP: Sehr gut!) pazität der Wirtschaft stärker gestiegen, als es irgend Wir haben hier also eine Strategie anzulegen, die jemand vorhergesehen hat, stärker als in igendeinem neben allem, was an gleichmäßiger Entwicklung ei- der vorhergehenden Jahre. Genau das ist die Strate- ner komplexen Forschungslandschaft möglich wer- 5120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundesminster Dr. Heinz Riesenhuber den muß, auch das Neue mit großer Nachrücklichkeit Hier entsteht jetzt ein Programm mit einer großen aufzugreifen erlaubt. Dynamik, bei dem wir nun die Strukturen neu entwik- Ich bedanke mich besonders für die Hinweise, die keln. Wenn es uns gelingt, Allianzen mit den USA Herr Austermann im Zusammenhang mit Informa- herzustellen, wie sie zwischen zwei großen Firmen tionstechnik und Mikroelektronik gegeben hat. jetzt entstehen — — (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Siemens (Lothar Fischer [Homburg] [SPD]: Er ist ja macht das doch, nicht Sie!) auch sonst immer so hilfreich!) — Ich sagte „uns". Ich spreche jetzt hier auch als — Zweifellos in einer brüderlichen Verbundenheit in Deutscher. Ist das nicht erlaubt? der Sache, der wir alle gemeinsam verpflichtet sind. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber Sie Auch Sie, lieber Herr Kollege Fischer, habe ich in schmücken sich mit Federn, mit denen Sie der Weltraumdebatte mit großer Freude erlebt. Viel- nichts zu tun haben!) leicht sage ich noch etwas dazu. Die faszinierende Ich bin hier in der „community" in einer gemeinsa- Einheitlichkeit, die Herr Schnell hier dargestellt hat, men Verantwortung wie ein Mann aus der Firma oder habe ich mit ganz unterschiedlichen Akzenten von wie ein Mann aus der Wissenschaft. Wenn wir nicht Ihrer Fraktion gehört. Es wirkt außerordentlich faszi- lernen, komplementär zwischen Staat und Wissen- nierend, schaft und Wirtschaft zusammenzuarbeiten, werden (Josef Vosen [SPD]: Sagen Sie nichts! Heben wir keine erfolgreichen Strategien entwickeln. Sie drei Finger hoch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die unterschiedlichen Aussagen verschiedener Kolle- Insofern spreche ich hier in aller Bescheidenheit von gen, die wir hier in einer Reihe sehen, miteinander zu „wir". vergleichen. Solche Fragen haben wir genauso bei neuen Gebie- (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist bei Ihnen ten anzugehen, wenn wir über die Nanotechnologien in bezug auf den Kollegen Austermann ja und die Biosensoren, wenn wir über Dünnschichttech- ähnlich!) niken oder über den Eurocomputer reden. Dies sind Bereiche, in die wir neu einzusteigen haben. —Ja, mit einem einzigen Unterschied: Wir fühlen uns Meine lieben Kollegen, ich möchte hier nur einige der Sache so verpflichtet, daß wir zu offensichtlich sehr wenige Bemerkungen zu den neuen Bundeslän- deckungsgleichen Ergebnissen kommen, dern machen. Ich kann es deshalb sehr kurz machen, (Beifall bei der CDU/CSU — Lothar Fischer weil die Lage dort von mehreren Kollegen, insbeson- [Homburg] [SPD]: Zu welchen?) dere von Herrn Austermann und Herrn Zywietz, durchaus zutreffend dargestellt worden ist. Von A bis beispielsweise in der Informationstechnik, Herr Z stimmt es hier offensichtlich. Fischer, und zwar insofern, als wir hier einen Bereich haben, bei dem wir einerseits durchaus der Auffas- Ich möchte festhalten: Die Anstrengungen in bezug sung sind, daß sich hier die große Dynamik der Unter- auf das, war wir einbringen, sind außerordentlich nehmen entfalten muß; andererseits brauchen Sie ein groß. Jetzt könnte man über die Vielfalt der Land- Widerlager. Deshalb haben wir jetzt die vielfältigen schaft sprechen. Wir könnten darüber reden, daß der neuen Institute der Fraunhofer-Gesellschaft und die Wissenschaftsrat mit einem einzigartigen Tempo in neuen Institute in den neuen Bundesländern aufge- begrenzter Zeit seine Entscheidungen getroffen hat. baut, die sich mit Kraft entwickeln. Wir werden euro- Wir könnten darüber sprechen, daß wir uns alle an- päische Projekte voranbringen. strengen, sämtliche Arbeitsverträge bis zum Jahres- ende unterzubringen. Wir könnten darüber sprechen, Herr Schnell sagte mit einer sorgenzerfurchten daß wir neue Strukturen entwickeln. Das Umweltfor- Miene, die uns alle sehr bewegt hat, daß JESSI in schungszentrum ist ja nicht nur ein Mehr vom Glei- einem grauenvollen Zustand sei. chen; es ist eine komplexe und einzigartige Struktur, (Dr. Emil Schnell [SPD]: Das sind Ihre indem hier über ein Zentrum, das hauptamtlich und Worte!) dauerhaft arbeitet, Verbünde organisiert werden, die, vom mittelständischen Unternehmer bis zu den Uni- — Das sind wirklich nicht meine Worte, bei allem versitätsinstituten, bei wechselnden Allianzen Strate- Respekt und bei aller Liebe. Ich habe nie von einem gien einbringen. grauenvollen Zustand gesprochen, sondern folgendes (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie haben aber gesagt: Wir sind mit JESSI in eine erste Vorphase reichlich Phantasie!) gestartet; diese begann Anfang dieses Jahres. Wir haben betont: Wir wollen in dieser Zeit die Strukturen neu entwickeln. Vizepräsident Helmut Becker: Herr Minister, sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage zuzulassen? (Zurufe von der SPD) — Entschuldigung, wenn ich hier zu verkürzt spreche. JESSI ist ein Projekt, mit dem der 64-Megabit-Chip in Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- europäischer Zusammenarbeit hergestellt werden schung und Technologie: Wenn Sie meine Uhr so- lange anhalten. soll. Wir wollen uns mit allen Europäern zusammen- setzen. Wenn uns Amerikaner hilfreich beiseite tre- ten, dann sind sie uns als Partner herzlich willkom- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich halte die Uhr men. immer an. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5121

Vizepräsident Helmuth Becker Bitte sehr, Herr Kollege Schnell. sik und eventuell auch bei einigen anderen Einrich- tungen nicht der Fall sein wird, frage ich noch einmal. Dr. Emil Schnell (SPD): Herr Minister Riesenhuber, Es geht nur um die Übergangsfinanzierung von höch- Sie haben eben gesagt, daß Sie alle Arbeitsverträge stens einem Monat, weil bis dahin die Einstellungen bis zum Jahresende unterbringen wollen. Ich muß Sie auf jeden Fall gewährleistet werden können. Was ja doch einmal durch eine Frage dazu bringen, daß Sie wird passieren, wenn es bis zum Jahresende nicht in vielleicht etwas Wichtiges sagen. Richtung Einstellungen vorwärtsgeht? Ich bitte Sie, (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Das wird das den Mitarbeitern noch vor Weihnachten, bevor es dir nicht gelingen! — Bundesminister an den Festtagen zu großer Unruhe kommt, zu sagen. Dr. Heinz Riesenhuber: Wenn wir uns alle Es ist nämlich abzusehen, daß es Probleme geben gemeinsam anstrengen, geht es vielleicht wird. Sie wissen das auch. doch!) Es ist ja bekannt, daß es wahrscheinlich einige Ein- Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- richtungen nicht schaffen werden, bis zum Jahres- schung und Technologie: Herr Kollege Schnell, was ende ihre Arbeitsverträge unter Dach und Fach zu ich gemacht habe, ist folgendes. Wir sind in der gestri- bringen. Welche Strategie gibt es, um die Überbrük- gen Besprechung noch einmal sämtliche Institute kungen zu finanzieren? Diese Frage habe ich schon im durchgegangen, bei denen Zweifel bestehen. Die Pro- Haushaltsausschuß gestellt und würde nun, da Sie bleme liegen, wie Sie wissen, in der Regel nicht beim mehrere Wochen Bedenkzeit hatten, gerne wissen, Bund. Ich möchte das hier mit Behutsamkeit andeu- wie das Problem gelöst werden soll. ten. Wir haben uns mit den Ländern ins Benehmen gesetzt und haben die zuversichtliche Hoffnung, daß Bundesminister für For- Dr. Heinz Riesenhuber, wir es noch hinbekommen. Was ich nicht will, ist, daß schung und Technologie: Lieber Herr Kollege eine Sache auseinanderfällt, weil die ganze Ge- Schnell, ich habe das mit den Ministern aus den neuen schichte administrativ nicht klappt. Lassen Sie mir die Bundesländern besprochen. Ich glaube, daß, wenn Freiheit, das anzugehen, ohne daß ich jetzt mit An- nicht alle Arbeitsverträge hinzukriegen sind, doch kündigungen arbeite. Denn das ist ein Stil, der mir praktisch in allen Fällen die Einstellungszusagen hin- nicht liegt. ausgehen können. Ich weiß, daß die Mitarbeiter, aber auch die verantwortlichen Wissenschaftler in den Ich möchte noch den Punkt aufgreifen, den Herr Gründungskommissionen die Wochenenden durchta- Professor Riege angesprochen hat. Herr Riege, Sie gen, um die Arbeit zu schaffen, daß sich also jeder aufs sprachen von der Frage der ABM. Ich möchte das jetzt äußerste anstrengt, das hinzubekommen. nicht vertiefen, kann es hier auch nicht. Es wird Ihnen Eines möchte ich allerdings mit aller Entschieden- erinnerlich sein, daß wir mit dem Bundesarbeitsmini- heit festhalten: Ich habe es immer für falsch gehalten, ster eine Struktur von ABMs vereinbart haben, die wir irgendwelche Überbrückungs- und Verlängerungs- im Frühsommer dieses Jahres bekanntgemacht ha- strategien, womöglich noch mit offenem Ende, zu fah- ben. Ich habe alle eingeladen, damit so schnell wie ren. Herr Kollege Schnell, wenn wir nicht präzise eine möglich zu starten. Wir haben Programme zur Grün- Zäsur machen und uns alle daran halten, daß wir es bis dung von Unternehmen angeboten. Wir haben Bera- zu diesem Zeitpunkt schaffen, bekommen wir eine tung beim Übergang in andere Berufe angeboten. Ich Hängepartie, die nicht nur für die Institute problema- spreche jetzt exemplarisch vom AdW-Bereich. Wir tisch ist, sondern vor allem dazu führt, daß die Mitar- müßten ergänzend noch eine ganz andere Diskussion beiter noch länger in Ungewißheit sind. Wir müssen führen. zu einer Situation kommen, in der die Mitarbeiter über (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die Ar ihre Arbeit nachdenken können, weil ihre persönliche beitsverwaltung spielt vor Ort nicht immer Situation geklärt ist. Deswegen haben wir auf diese mit!) Entscheidung äußersten Druck ausgeübt. — Ich könnte Ihnen einen Vortrag halten, warum es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wo nicht lief. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Wir haben mit dem Arbeitsminister eine Regelung verein- Dr. Emil Schnell (SPD): Darf ich nachfragen? bart, die tragfähig ist. Jedem einzelnen Fall werden wir nachgehen. Einen solchen Fall habe ich vor zwei Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Tagen von einem Kollegen, der hier im Saal ist, auf Schnell möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Ich den Tisch bekommen. Manches, was von den Leuten bitte alle, daran zu denken, in welcher zeitlichen Lage berichtet wird, die sagen, es werde nichts getan, trifft wir sind. — Ich halte die Uhr an. Ihre Redezeit wird nicht zu. nicht beschnitten, Herr Minister. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Aber manches schon!) Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- schung und Technologie: Ich bin da entspannt, Herr Wenn mir gesagt wird, daß 42 Projekte angemeldet Präsident. sind, zu diesem Termin beim Arbeitsamt aber nur 4 - eingereicht waren, sind wir in einer etwas kuriosen Vizepräsident Helmuth Becker: Also eine Zwi- Lage. Das hier auseinanderzunehmen sprengt den schenfrage des Kollegen Schnell, bitte. Rahmen der Debatte. Wir werden aber jedem Einzel- fall nachgehen, damit jeder, der Initiative entfalten Dr. Emil Schnell (SPD): Nachdem es hier so ruhig ist, will, weiß: Wir wollen seinen Erfolg, und wir wollen bin auch ich ganz entspannt. Ich muß nachhaken. ihm helfen, daß er in eine Zukunft durchstarten kann, Nachdem bekannt ist, daß das z. B. bei der Astrophy- in der wir ihn brauchen und er uns braucht und wir 5122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Bundesminister Dr. Heinz Riesenhuber gemeinsam für Deutschland etwas erreichen kön- len in dieser Zeit unter den Bedingungen äußerster nen. Sparsamkeit alles so optimieren, daß am Ende des kommenden Jahres über eine dauerhafte und tragfä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hige Strategie entschieden werden kann. Für die Ent- Meine sehr verehrten Damen und Herren, erlauben scheidung, wie diese Strategie im einzelnen aussieht, Sie mir noch sehr kurze Bemerkungen — dies kann brauchen wir die Kompetenz aller hier in Deutsch- hier alles nur in Stichworten erfolgen — zum Bereich land: der Industrie, der DLR, der Dara; wir brauchen der Weltraumforschung. Die Verhandlungen, die wir aber auch die Kompetenz der Partner in anderen Län- in München zu führen hatten, fanden in einer extrem dern. schwierigen Lage statt. Ich bin den Partnern außeror- dentlich dankbar dafür, daß sie trotz einer vollständi- (Josef Vosen [SPD]: Die SPD nicht verges- gen Änderung der Verhandlungssituation einen Be- sen.) schluß akzeptiert haben, der meines Erachtens in der — Die SPD ist von einer solchen konstruktiven Mit- Sache völlig richtig ist. Der Herr Bundeskanzler hat hilfe, daß ich das nur mit Begeisterung aufnehmen mit Präsident Mitterrand die Grundlagen dafür ge- kann. Ich bin sicher, daß Sie uns auch im nächsten schaffen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit Jahr als eine außerordentlich hilfreiche Opposition hat gut gehalten. Aber sie ist natürlich nur in Verbin- erhalten bleiben werden. dung mit der Partnerschaft mit den anderen europäi- schen Nationen tragfähig. Nur das kann die Zukunft (Josef Vosen [SPD]: Nächstes Jahr ja!) für die ESA sein. Wir haben eine außerordentlich faszinierende Ar- (Wolf-Michael Cathenhusen [SPD]: Aber wie beit mit völlig unterschiedlichen Aufgaben vor uns. Sie es bezahlen können, wissen Sie nicht!) Aber eines ist in den kommenden Jahren die vor- dringliche Aufgabe: Wir wollen als Deutschland ins- Die Elemente des Konzepts sind folgende: Wir wol- len in einem Jahr prüfen, was dann in einer völlig gesamt erfolgreich sein. Dazu müssen die neuen Bun- geänderten Weltlage an neuen Koalitionen möglich desländer so schnell wie möglich so stark wie möglich werden. Wir müssen alle Regionen unseres Landes ist. Wenn der Sowjetblock zusammenbricht, bilden mit ihren Ressourcen ausnutzen, wenn unser kleines Wettbewerb und Konkurrenz nach wie vor durchaus eine interessante Aufgabe, aber die Möglichkeiten Land auf den Weltmärkten nicht nur Konkurrent, son- dern auch Partner sein soll. der Kooperation sind größer als je zuvor. (Wolf-Michael Cathenhusen [SPD]: Das sa- Wenn Deutschland, mitten in Europa liegend, an gen Sie seit Jahren!) der Gestalt des künftigen Europa mitarbeiten soll, mit der Kraft der Wissenschaft, aus der Freiheit der Wis- Es wäre einfach falsch, wenn wir in dieser Situation senschaft und aus dem Unternehmungsgeist der nicht die Möglichkeit nutzen würden, gemeinsam Wirtschaft, dann müssen wir in diesen Jahren die neue Strategien aufzubauen. Genauso ist es ange- Grundlage dafür schaffen: der Staat in seiner Verant- legt. wortung, in Respekt vor der Freiheit der Wissenschaft, (Josef Vosen [SPD]: Sie bekennen sich zu aber im Vertrauen auf den Unternehmungsgeist der unserer Politik! Endlich machen Sie das, was Unternehmer. wir seit zwei oder drei Jahren sagen!) Schönen Dank. Wenn das Ihre bescheidende Art ist, mir zu applau- — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieren, dann nehme ich das mit Dankbarkeit entge- gen. Ich freue mich, daß Sie es hier mit Nachdrück- lichkeit unterstützen. (Josef Vosen [SPD]: Endlich sind Sie so -weit!) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und — Herr Vosen, es war fast unmöglich, eine Politik zu Herren, wir sind damit am Ende der Aussprache über betreiben, die die SPD nicht unterstützt, weil die SPD den Haushalt für Forschung und Technologie. für jede mögliche Politik massive und deutliche Aus- sagen gemacht hatte. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 30 in der Ausschußfassung? — Gegen- (Josef Vosen [SPD]: Sie folgen uns!) probe! — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 30 Man mußte sich nur das Entsprechende aussuchen. ist in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Ko- Sie haben die Strategie so raffiniert angelegt, daß, was alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion immer wir entscheiden, irgend jemand von Ihnen dies der SPD und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE sowie schon gesagt hatte. Insofern war das eine ganz vor- der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. zügliche Strategie, die ich als außerordentlich hilf- Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die reich empfunden habe. Sie hilft uns, eine dynamische- heutige Sitzung liegen weitere Wortmeldungen nicht Zukunft aufzubauen. vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist uns Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. No- gelungen, im Einvernehmen mit den Partnern die Ko- vember 1991, 9 Uhr ein. sten für die Weltraumforschung im nächsten Jahr um Die Sitzung ist geschlossen. bescheidende 5 % zu senken. Dies bedeutet immerhin ein Volumen von einer Viertelmilliarde DM. Wir wol (Schluß der Sitzung. 23.24 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5123*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Gisela Babel, Gerhart entschuldigt bis Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder Abgeordnete(r) einschließlich (alle FDP) zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 27. 11. 91 Fraktion der SPD zu Einzelplan 14 - Drucksache 12/1649 Blunck, Lieselott SPD 27. 11. 91 * * Böhm (Melsungen), CDU/CSU 27. 11. 91 * * Wir können unsere Zustimmung dazu nicht geben, Wilfried die Entwicklung des Jägers 90 fortzusetzen. Catenhusen, SPD 27. 11.91 Wir halten es nicht für vertretbar, den Jäger 90 wei- Wolf-Michael ter zu entwickeln, da er nicht in Produktion gehen Clemens, Joachim CDU/CSU 27. 11. 91 darf. Der Jäger 90 ist kostspielig, aber nicht kostbar. Er ist nicht notwendig, wie jedermann aus der inter- Dr. Däubler-Gmelin, SPD 27. 11. 91 Herta nationalen Lage erkennen kann. Insbesondere ist die ehemalige Bedrohung durch die ehemalige Sowjet- Doppmeier, Hubert CDU/CSU 27. 11. 91 union weggefallen. Der bloße Hinweis auf bestehende Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 27. 11. 91 Verträge über die Entwicklung des Jägers 90 ist so- lange ohne Bedeutung, wie nicht einmal versucht Dr. Funke-Schmitt-Rink, FDP 27. 11. 91 wird, über ihre Aufhebung oder Änderung zu verhan- Margret deln. Huonker, Gunter SPD 27. 11. 91 Wir haben kein Zutrauen in die reale Entschei- Koschnick, Hans SPD 27. 11. 91 dungsfreiheit des Deutschen Bundestages, wenn die Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 27. 11. 91 Entwicklung einmal abgeschlossen sein wird. Wir be- Günther fürchten, daß der sogenannte Sachzwang, der Druck aus den verschiedensten Interessen heraus, so groß CDU/CSU 27. 11. 91 * * Lenzer, Christian sein wird, daß mit der Produktion begonnen werden Lüder, Wolfgang FDP 27. 11. 91 wird. Die selbstbewußten Äußerungen der Indust rie, Marten, Günter CDU/CSU 27. 11. 91 * * wonach der Entwicklung quasi selbstverständlich die Produktion folgen müsse, weil anderes nicht vernünf- Meißner, Herbert SPD 27. 11. 91 tig sei, bestätigen diese unsere Einschätzung. Mischnick, Wolfgang FDP 27. 11. 91 Wir halten es für erforderlich, daß mit dem Haushalt Dr. Müller, Günther CDU/CSU 27. 11. 91 * * 1992 ein Zeichen gesetzt wird, daß der Deutsche Bun- Nolte, Claudia CDU/CSU 27. 11. 91 destag sowohl Konsequenzen aus der militärischen Entspannung in der Welt als auch aus den Bedürfnis- Dr. Paziorek, Peter Paul CDU/CSU 27. 11. 91 sen der Armut in Osteuropa und in der Dritten Welt

Dr. Pfaff, Martin SPD 27. 11. 91 zieht. Armutsbekämpfung muß Vorrang vor Militär- Reddemann, Gerhard CDU/CSU 27. 11. 91 * optionen haben. Rempe, Walter SPD 27. 11. 91 Wir stimmen deswegen dem SPD-Antrag auf Drucksache 12/1649 zu. Dr. Scheer, Hermann SPD 27. 11. 91 Schulte (Hameln), SPD 27. 11. 91 Brigitte Schuster, Hans Paul FDP 27. 11. 91 Anlage 3 Hermann Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzelplan 31 SPD 27. 11. 91 Seidenthal, Bodo - Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung Dr. Soell, Hartmut SPD 27. 11. 91 * * und Wissenschaft Steiner, Heinz-Alfred SPD 27. 11. 91 * * Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 27. 11. 91 Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Der Etat des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft beläuft Voigt (Frankfurt), SPD 27. 11. 91 sich im Haushaltsjahr 1992 auf fast 6,5 Milliarden DM. Karsten D. Das entspricht im Vergleich zum Vorjahr einer Steige- Wollenberger, Vera Bündnis 27. 11. 91 rung von 4,5 %. Eine wesentliche Ursache für diese 90/GRÜNE Steigerung ist die Aufstockung der Mittel für die be- Zierer, Benno CDU/CSU 27. 11. 91 * * rufliche Bildung und Berufsbildungsförderung. Hier wurde der Ansatz um 43 % erhöht. Der Bereich Hoch- schule und Wissenschaft weist zwar einen wesentlich * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates geringeren Anstieg auf, aber der Vergleich der abso- * * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union luten Zahlen der beiden genannten Kapitel (berufli- 5124* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

che Bildung ca. 455 Millionen, Hochschule und Wis- sen diese Multiplikatoren, denen die jungen Auszu- senschaft fast 3 Milliarden) zeigt die Dominanz dieses bildenden anvertraut sind, an marktwirtschaftliche Sektors. In beiden Bereichen sind große Herausforde- Prinzipien herangeführt werden. Mit einer Steigerung rungen zu bewältigen, um unseren wichtigsten von 5 Millionen DM unterstreichen wir noch einmal Trumpf in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die Bedeutung dieser Projekte und bieten zugleich die die hervorragende Ausbildung unserer Jugend, auch Möglichkeit, die Weiterbildung der Ausbilder zu in- in Zukunft gewährleisten zu können. tensivieren, so daß das Fundament für eine dauerhafte Veränderung verbreitert wird. Im Bereich der beruflichen Bildung ist die Lage zur Zeit gespalten: Von besonderer Bedeutung scheint mir auch die Im westlichen Teil Deutschlands bleiben im lauf en- Motivation zur Weiterbildung in den Bet rieben zu den Ausbildungsjahr 130 000 Ausbildungsplätze un- sein. Hier tut dringend ein Bewußtseinswandel der besetzt. Ein gefährliches Signal für das breite und Beschäftigten not, wenn die Leiterin des Arbeitsamtes sichere Fundament unserer Wirtschaft: Hier wird der Sondershausen, wie am 9. September 1991 in der FAZ praktisch und technisch qualifizierte Facharbeiter, der zu lesen war, „das Interesse an der Weiterbildung ,er- gut ausgebildete und selbständig zupackende Hand- schütternd gering' (nennt, und) vor allem in den Groß- werker gebraucht. Deshalb müssen sich die für die betrieben (...) viele Leute ,erst einen Topf richtig aus- Schulausbildung im wesentlichen zuständigen Bun- schöpfen' (wollten), also bis zum Jahresende die Kurz- desländer nachdrücklich fragen lassen, ob die Haupt- arbeiterregelung genießen, dann ,eine Abfindung und Realschulen schwerpunktmäßig auf diese prakti- kassieren' und sich erst danach qualifizieren". An die- sche Ausbildung ausgerichtet sind. Mit Recht wird ser Stelle drängt sich der Schluß auf, daß man mit Geld immer mehr beklagt, daß die Schulen auf ein schlim- zwar einiges, aber eben doch nicht alles, z. B. keinen mes Mittelmaß gebracht werden: für die Hochbegab- raschen Bewußtseinswandel, bewegen kann. Oder ten werden sie langweiliger; immer schwerer und un- sollte es beim Kurzarbeitergeld lieber etwas weniger, erträglicher für jene, die eine Abneigung gegen alles dafür bei der Weiterbildung etwas mehr sein? Ich Theoretische haben. Der geplante Wegfall der Schul- meine schon! Aus diesem Grund begrüße ich die Ein- noten in den Grundschulen Hessens und die bereits richtung eines neuen Titels zur Entwicklung von re- verfügte Abschaffung der Schulempfehlung für die gionalen beruflichen Weiterbildungshilfen mit weiterführenden Schulen in Rheinland-Pfalz erzeu- 5,5 Millionen DM. Mit Hilfe dieses Ansatzes soll der gen einen einseitigen Druck auf das Gymnasium, der aktuelle regionale Weiterbildungsbedarf in Unterneh- seinem Ziel, der Hochschulreife, ebensosehr schadet, men ermittelt werden. Aus diesen Informationen kön- wiewenig er einer gediegenen Vorbereitung für die nen dann Empfehlungen für die Unternehmen, beson- berufliche Bildung nützt. Daß jeder zehnte junge ders aber für die betroffenen Arbeitnehmer abgeleitet Mensch ohne Berufsabschluß bleibt und damit von werden. Auf diese Weise lassen sich komparative re- Arbeitslosigkeit besonders bedroht ist, ist eine Frage, gionale Vorteile herauskristallisieren und die vielge- auf die vor allem die Schulpolitiker der Länder eine stellten Fragen: In welcher Richtung soll ich mich Antwort geben müssen, aber eben auch ein Problem, denn weiterbilden? Wo liegen meine größten Chan- das uns alle angeht. cen? besser beantworten. Im Osten herrscht allen Unkenrufen zum Trotz Am 1. Oktober 1991 nahmen 21 junge Facharbeiter, keine dramatische Lehrstellensituation. Dennoch gibt davon 13 Frauen am Einführungsseminar der Begab- es hier strukturelle Defizite. Zwar findet jeder Ausbil- tenförderung berufliche Bildung in Schwerin teil, die dungswillige eine Lehrstelle, aber immer noch bilden ersten von 3 200 in diesem Jahr. Gefördert werden zuwenig Betriebe aus. So sind die überbetrieblichen können anspruchsvolle berufsspezifische fachliche Ausbildungsstätten ausgelastet, während in den Be- Qualifikationen, aber auch soziale Fähigkeiten, die trieben zuwenig junge Menschen eine Möglichkeit sowohl den Bedürfnissen der jungen Berufstätigen als finden, das Gelernte hinterher auch in anderen Unter- auch den Erwartungen der späteren Arbeitgeber ge- nehmen anzuwenden. recht werden. Für dieses Programm sind im Haushalt 1992 18 Millionen DM vorgesehen, das entspricht ei- Zur Förderung der betrieblichen Ausbildung in den ner Steigerungsrate von 80 % . Mittelfristiges Ziel wird fünf neuen Bundesländern sind 1992 175 Millionen es sein, dieses Programm finanziell ähnlich auszustat- DM vorgesehen; das entspricht einer Steigerung von ten wie die Begabtenförderung an den Hochschu- 133 % . Die Ankündigung dieses 5000-Mark-Pro- len. gramms der Bundesregierung in diesem Jahr hatte Signalwirkung für den Lehrstellenmarkt Ost. Mit der Insgesamt müssen wir die strukturellen Ungleich- Aufstockung verstärken wir dieses Signal und bieten gewichte zwischen beruflicher Bildung einerseits und zugleich mehr kleinen und mittelständigen Unterneh- der akademischen Laufbahn andererseits beseitigen, men die Möglichkeit, Ausbildungsplätze zu schaffen. um die Attraktivität des in der Welt vielbewunderten Zu begrüßen ist aber auch die gestiegene Verantwor- Systems der dualen Ausbildung auch für die Zukunft tung vor allem im Handwerk für den eigenen Berufs- zu sichern. nachwuchs, denn wer zu spät ausbildet, den bestraft Das Kapitel Hochschule und Wissenschaft enthält der Markt! die beiden Hochschulsonderprogramme I und II, die Der nachhaltigen Strukturverbesserung in den bei- wie mit den Ländern vereinbart weitergeführt wer- getretenen Ländern dienen auch die Förderungsmaß- den, um die Situation an unseren Hochschulen weiter nahmen zur Qualifizierung von Personal der berufli- zu verbessern. Nicht mehr im Einzelplan 31 veran- chen Bildung. Da die Ausbilder bisher überwiegend in schlagt sind die 1,32 Milliarden DM, die der Bund Form eines Staatsmonopols ausgebildet wurden, müs- 1992 im Rahmen des Erneuerungsprogramms für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5125*

Hochschule und Forschung in den neuen Bundeslän- den es sogar rund 7 Milliarden DM — geht in die rich- dern bereitstellt. Sie werden jetzt im Einzelplan 60 tige Richtung. etatisiert. Die Frage ist: Reagiert die Politik im Bereich Bil- Herausgreifen möchte ich die Studentenwohn- dung und Wissenschaft damit in ausreichender und raumförderung. Hier hat der Bund im Westen wie im geeigneter Weise auf die Herausforderungen des Ei- Osten eine große Verantwortung, die weit über den nigungsprozesses? Bildungsetat hinausreicht. Für ca. 1,6 Millionen Stu- Stolz verkünden Regierung und Koalition: Die Zahl denten stehen in den alten Bundesländern nur der offenen Ausbildungsplätze betrug in den neuen 140 000 mit öffentlichen Mitteln geförderte und ver- Ländern am 30. September 1991 6 608 und in den gleichsweise preiswerte Wohnungen zur Verfügung. alten sogar 128 534. Im Osten waren zu diesem Zeit- Studenten werden vorübergehend in Turnhallen, punkt nur noch ca. 2 000 Jugendliche auf der Suche Containern, ja sogar in Bauwagen untergebracht. An- nach einem Ausbildungsplatz. Dabei wurde aber gesichts dieser Zustände halte ich es für dringend übersehen, daß über den Verbleib von rund 45 000 geboten, sowohl das Deutsche Studentenwerk als Bewerbe rinnen und Bewerbern aus den neuen Län- auch private Investoren verstärkt für den Bau von Stu- dern noch nichts bekannt ist. Sind sie doch in größerer dentenwohnungen in frei werdenden Kasernenge Zahl als vermutet in die alten Länder abgewandert? bäuden zu gewinnen. Der Bund ist hier besonders in Haben sie resigniert und auf eine Ausbildung verzich- der Verantwortung, die kritische Situation zu ent- tet, oder haben sie weiterführende allgemeinbildende schärfen, und sollte sich nicht nur am besten Angebot Angebote wahrgenommen? Dies sind unbeantwortete für die Immobilien orientieren, sondern die optimale Fragen. Lösung im Interesse unserer Studenten und damit letztendlich auch im wohlverstandenen Interesse un- Zweifel sind auch noch auszuräumen, was die Qua- serer Volkswirtschaft suchen. lität der Ausbildung angeht, womit jedoch der Dank an alle, die sich für die Bereitstellung von Ausbil- Zum Schluß möchte ich es nicht versäumen, ein Pro- dungsplätzen in den neuen Ländern eingesetzt ha- blem besonderer Güte im Hochschulbereich anzu- ben, nicht geschmälert werden soll. Die weitere Ent- sprechen. Warum leisten wir uns in unserer Haupt- wicklung von Angebot und Nachfrage nach Ausbil- stadt Berlin mehrere Universitäten, von denen die dungsplätzen im nächsten Jahr wird nicht nur von uns eine, die Humboldt-Universität, mehr mit internen kritisch beobachtet. Schwierigkeiten zu kämpfen hat, als sich auf ihre ori- ginären Aufgaben zu konzentrieren? Ja, die Zustände Die Kollegin von der FDP Frau Funke-Schmitt-Rink sagte am 14. November hier im Bundestag: Womög- dort gipfeln darin, daß für die Verbesserung der Aus- bildung dringend benötigte Gastdozenten davor zu- lich kommt es 1992 im Osten zu einer Berufsbildungs- rückschrecken, sich hier zu engagieren. Zerschlagen katastrophe und einer Welle von Ausbildungsflücht- wir den gordischen Knoten der alten Seilschaften und lingen in den Westen. bilden aus der Freien Universität Berlin und der Hum- Leider muß die Warnung der Kollegin ernst genom- boldt-Universität eine Freie Humboldt-Universität men werden. In Gesprächen mit jungen Leuten in Berlin! Forschung und Lehre rückten wieder in den meinem Wahlkreis in Vorpommern wird mir immer Vordergrund, der Verwaltungsapparat könnte ver- wieder vorgehalten: Wo ist der Arbeitsplatz, für den kleinert und die frei werdenden Mittel für Investitio- wir ausgebildet werden? In der Region fehlen sicht- nen in die Zukunft aufgewandt werden. bare Zeichen für das Entstehen von neuen Arbeits- plätzen. Man hört vor allem von Entlassungen und Ersatzmaßnahmen wie ABM und Kurzarbeit Null. Es Hinrich Kuessner (SPD): Die Zeit nach Abschluß der fehlt eine gezielte Strukturpolitik, wie man sie z. B. bei deutschen Einheit rast dahin — so empfindet man es, der Stahlkrise im Westen praktiziert hat. Auf die tief- wenn man in den neuen Ländern für politische Ent- greifenden strukturellen Veränderungen im Ruhrge- scheidungen mitverantwortlich ist. Die Menschen er- biet und im Saarland antwortete man zu Recht mit warten schnelle und wirksame Entscheidungen für einem Sonderprogramm für diese Montanregionen. die Umgestaltung der Gesellschaft, Entscheidungen, die sie positiv spüren und die für das Neue stehen. Ich will nicht leugnen, daß man Zeichen des Neu- beginns auch in Vorpommern sieht. Besonders gilt In dieser Woche verabschieden wir den zweiten dies für die Baubranche. Aber bisher bringt alles nicht gesamtdeutschen Haushalt. Bei der Verwirklichung viele Arbeitsplätze. Der Bürger sieht noch nicht, wo- der Einheit spielen Bildung und Wissenschaft eine hin die Fahrt geht, und kann sich darum nicht darauf zentrale Rolle. Das gilt gleichermaßen für den Osten einstellen. wie für den Westen Deutschlands. Investitionen in diesem Bereich sind Investitionen in unsere Zukunft. Die hohe Zahl der außerbetrieblichen Ausbildungs- Denn eine gute Ausbildung ist das beste Fundament plätze — ca. 38 000 = 35 % aller Lehrlinge im Osten — für eine erfolgreiche Berufstätigkeit und damit für die ist ein Zeichen dafür, daß es noch nicht in die richtige Entwicklung unserer Wirtschaft. Richtung geht. Noch können die Handwerksbetriebe - in den neuen Ländern ihre Ausbildungsfunktion nicht Die Erhöhung des Haushaltsvolumens für den Be- wahrnehmen. Dies ist kein Vorwurf, sondern eine reich Bildung und Wissenschaft auf rund 6,5 Milliar- Aufforderung, gemeinsam darüber nachzudenken, den DM im Jahr 1992 — und wenn man die im Ein- was in der Übergangssituation getan werden kann, zelplan 60 „versteckten" Bildungsausgaben im Ge- um das Recht auf eine qualifizierte Ausbildung für alle meinschaftswerk Aufschwung Ost sowie für das Jugendlichen zu verwirklichen. Anträge der SPD la- Hochschulerneuerungsprogramm hinzurechnet, wer- gen mehrfach auf dem Tisch, um das Programm der 5126* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991

Förderung der bet rieblichen Ausbildung im Osten Die negativen Entwicklungen im Rechtsextremis- auszuweiten und effizient zu gestalten. Die Koalition mus zeigen, daß wir hier keine Zeit haben. Soziale hat sie niedergestimmt, und sie unterstützt damit eine Probleme verstärken Spannungen und erzeugen Ge- falsche Entwicklung. Es muß alles getan werden, daß walt. Bildung ist eine wichtige Waffe dagegen. wir schnell von der außerbetrieblichen Ausbildung vor allem in Helferberufen wegkommen. Es besteht Trotz der vielen offenen Ausbildungsplätze im We- sonst die Gefahr, daß in die Arbeitslosigkeit hinein sten gibt es auch dort ungelöste Ausbildungspro- ausgebildet wird. bleme. Eine EMNID-Umfrage hat ergeben, daß 14 % der jungen Menschen eines Jahrgangs keinen Ausbil- Von der außerbetrieblichen Ausbildung sind in ei- dungsabschluß haben. Die Zahl der jugendlichen nem hohen Maße Mädchen betroffen. Dies ist ein gra- Langzeitarbeitslosen ist beträchtlich. Die etwa vierendes Problem und kann nicht verharmlost wer- 1,7 Millionen Jugendliche, die seit 1970 ohne eine den. Nicht selten beklagen sich Frauen und Mädchen qualifizierte Ausbildung geblieben sind, sind hier be- in den neuen Ländern über spürbare Benachteiligun- sonders gefährdet. gen, Gleichheit vor dem Gesetz reicht nicht aus. Benö- tigt wird eine gezielte Förderung in der Beruf sausbil- Auch hier zeigt sich, daß in den alten Bundeslän- dung, auch in sogenannten Männerberufen. Diese dern mehr Anstrengungen unternommen werden Förderung muß beim Übergang in den Beruf fortge- müssen, damit die Zahl der Jugendlichen ohne Quali- setzt werden. Die Vereinbarkeit von Beruf und Fami- fizierung geringer wird. Arbeitgeber und Berufsschu- lie ist ein gesamtdeutsches Thema, das noch nicht len sind aufgerufen, die Anstrengungen zu verstär- abgehakt werden kann. Dies ist auch nicht nur ein ken, damit die Abbrecherquote gesenkt und sozialpä- Frauenthema. dagogische Förderung Lernschwacher intensiviert wird. Kein richtiger Weg ist nach Meinung der SPD Im Osten muß die Qualität der beruflichen Ausbil- die Verkürzung der Berufsausbildung für sogenannte dung insgesamt schneller angehoben werden. Auch praktisch Begabte. wenn die SPD viel weitergehende Vorschläge ge- macht hat, ist zu begrüßen, daß im Haushalt '92 der Der Bund hat eine besondere Verantwortung für Ansatz für die Qualifizierung von Personal der beruf- diese benachteiligten Gruppen. Staatliche Bildungs- lichen Bildung um 5 Millionen DM angehoben wurde politik muß allen gleiche Bildungschancen eröffnen. und ein Titel für die Entwicklung von regionalen be- Ich erkenne im Haushalt '92 nicht die Programme, die ruflichen Weiterbildungshilfen mit einem Ansatz von auf die Lernbedürfnisse aller Jugendlichen genügend 5,5 Millionen DM geschaffen wurde. Das Umsetzen reagieren. all dieser Mittel muß schnell und gezielt erfolgen. Auf diesem Gebiet geht mir vieles zu langsam. Wer Den Jugendlichen in Deutschland wird bescheinigt, sich dafür lobt, daß er die Einheit schnell vollzogen daß die Bereitschaft zum Lernen bei vielen vorhanden hat, darf nun nicht ins Schneckentempo verfallen. Ge- ist, ja, sie war noch nie so groß wie heute. Darum muß rade die jungen Menschen müssen jetzt eine solide unser Bildungssystem jetzt ausgebaut und umgebaut Ausbildung erhalten. Nur so kann die Angleichung werden, um den Anforderungen der Jugendlichen, der Lebensverhältnisse in Deutschland noch in die- aber auch der Erwachsenen sowie den Anforderun- sem Jahrhundert erreicht werden. Gerade die Jugend gen von Gesellschaft und Wirtschaft gewachsen zu brauchen wir dazu. Das Einsetzen der Milliarden im sein. Die Wiedereinführung von Zulassungsbeschrän- Osten hat nur Sinn, wenn dadurch Aktivitäten ausge- kungen an den Hochschulen ist nach Meinung der löst werden. Bei der beruflichen Bildung wird das SPD ein falscher Weg. Daß viele junge Menschen gute noch nicht genügend sichtbar. In den Berufsschulen Ausbildungen an Hochschulen anstreben, sollten wir ist dringender Handlungsbedarf, auch von seiten des nicht verhindern. Um den Einsatz öffentlicher Mittel Bundes über das Programm Aufschwung Ost hinaus. an den Hochschulen wirkungsvoller zu machen, sind Personell und sächlich muß die Ausstattung verbes- andere Überlegungen notwendig. sert werden. Das Geldausgeben auf diesem Gebiet Arbeitsmarktforscher sagen auch einen höheren geht mir zu langsam, und ich bezweifle, daß das Geld Bedarf für die nächste Zukunft voraus. Die Pro- immer zukunftsträchtig genug eingesetzt wird. gramme im Haushalt '92 sind dafür nicht ausreichend. Immer wieder werde ich auf Unzulänglichkeiten in Neben der Reform der inneren Struktur der Hoch- der Lehrmittelausstattung angesprochen. Dem Greifs- schulen müssen die Sonderprogramme neu überdacht walder Seminar des Landesinstitutes für Schule und werden. Dazu ist der Nachholbedarf der Universitäten Ausbildung stehen für den Aufbau einer Bibliothek in den neuen Ländern zu berücksichtigen. Gemein- kaum Mittel zur Verfügung. Die Qualität der Referen- sam setzen sich alle Fraktionen im Ausschuß für Bil- darausbildung ist somit gefährdet. Sicher das ist zual- dung und Wissenschaft für eine Anhebung der Mittel lererst Ländersache. für den Hochschulbau ein. In den Bund-Länder-Gre- mien müssen die Überlegungen zu einem Hochschul Auch für die Beschaffung der Schulbücher ist der - entwicklungsplan — als Teil eines neuen Bildungs- Bund nicht zutändig. Eine Bonner Lehrerin sammelt planes — rasch beginnen. für Greifswalder Schulen Schulbücher. Und das wird immer noch gerne angenommen. Es zeigt nur, daß auf Ich will nur auf einen Punkt hinweisen: Für die Stu- dem Sektor der Bildung noch viel Sand im Getriebe dentenwohnraumförderung wurde der Ansatz '92 um steckt. In Mecklenburg-Vorpommern kann es natür- 50 Millionen DM auf 200 Millionen DM erhöht. Dieses lich auch daran liegen, daß dieser Bereich nicht ge- Geld steht nur den Hochschulen im Westen zur Ver- rade von kompetenten Leuten vertreten wird. fügung. Die Hochschulen in den neuen Ländern kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5127* nen theoretisch der Vereinbarung zwischen dem ausgabe zum Opfer fallen. Wer die globale Minder- Bund und den Ländern beitreten. Aber es fehlen die ausgabe zu einem festen Haushaltstitel macht, ist finanziellen Voraussetzungen, da die Länder 30 — um es vorsichtig zu formulieren — an der aktiven und die Träger 40 % der Kosten zu tragen haben. Dies Haushaltspolitik des Parlamentes nicht interessiert. läßt sich nicht realisieren. Für 1991/92 sind darum Das kann und darf nicht unser Interesse sein. Mittel im Programm Aufschwung Ost vorgesehen. Der Einzelhaushalt für Bildung und Wissenschaft Dieses Programm muß in den neuen Ländern aber wird den Anforderungen und Herausforderungen un- weitergehen. Die Wohnheimplätze in den neuen Län- serer Zeit nicht gerecht. Die SPD lehnt ihn darum dern sind oft in einem unzumutbaren Zustand. Auch ab. das führt zu Abwanderungen. Hier muß schnell über weitergehende Maßnahmen nachgedacht werden. Der Versorgungsgrad mit Wohnheimplätzen der Stu- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (FDP): Der Etat denten in den neuen Ländern liegt mit 75 % weit über des Bundesbildungsministers weist in diesem Jahr dem der alten Länder. Dort betrug er 1990 9,3 %. Aber wieder eine überdurchschnittliche Steigerung aus. Es man darf nicht übersehen, daß die Wohnraumsitua- ist ein Anstieg um 4,5 % auf rund 6,5 Milliarden DM. tion in den neuen Ländern insgesamt mit riesigen Pro- Die Regierung hat also erhebliche finanzielle Anstren- blemen behaftet ist. Außerdem wird die Studenten- gungen unternommen, auch wenn nicht alle ge- zahl an den Hochschulen in den neuen Ländern stei- wünschten Maßnahmen abgedeckt werden können. gen. Die Universität Greifswald hat z. B. nicht einmal Wichtige wegweisende Schlüsselentscheidungen 3 900 Studenten. Der Bedarf an Studienplätzen für sind jedoch in dem Haushaltsplan enthalten. Studenten aus den neuen Ländern wird in den näch- 1. Der Aus- und Neubau von Hochschulen wird um sten Jahren erheblich zunehmen. In der DDR war die 300 Millionen auf 1,6 Milliarden DM aufgestockt. Möglichkeit zum Studium nur wenigen gegeben. Eine Reduzierung von Studentenwohnheimplätzen ist 2. Für das Ausbildungsplatzförderungsprogramm in keine Lösung. Auch darf das Programm der Studen- den neuen Ländern sind 1992 175 Millionen DM ein- tenwohnraumförderung im Osten nicht zu Lasten des gestellt. Programms im Westen gefahren werden. Es ist dort 3. Mit der Verdoppelung der Mittel auf 20 Millionen ebenso notwendig. DM soll die in diesem Jahr begonnene Begabtenför- Uns allen in diesem Haus ist sicher bewußt, daß eine derung in der beruflichen Bildung 1992 ausgebaut friedliche und demokratische Entwicklung im geein- werden. Damit ist für den Bereich der beruflichen Bil- ten Deutschland nur zusammen mit unseren Nach- dung eine Ausgabensteigerung um mehr als 43 % vor- barn in Ost und West und Nord und Süd möglich ist. gesehen. Für die Förderung der Zusammenarbeit mit anderen 4. Rund 250 Millionen DM sind für das Erneue- Staaten und mit internationalen Organisationen auf rungsprogramm für Hochschule und Forschung in den dem Gebiet von Bildung und Wissenschaft sind im neuen Bundesländern vorgesehen. Haushalt bescheidene Mittel eingesetzt. Die Zu- schüsse für Investitionen in Mittel- und Osteuropa Der Bundesbildungsminister hat zu Recht die Erhö- sind von 3 Millionen DM 1991 auf 4 Millionen DM hung der BAföG-Leistung um 6 % gefordert. Es geht 1992 erhöht worden. Das ist bei der Größe der Auf- um die Anpassung der BAföG-Grundbeträge an die gabe ein kleiner Betrag. Noch bedenklicher ist, daß kräftig gestiegenen Lebenshaltungskosten im Osten. der Betrag 1991 wohl nicht ausgeschöpft wird. Sicher Ein Hinauszögern der Gleichstellung der ostdeut- gibt es große Schwierigkeiten, wenn man in Mittel- schen Studenten würde den Abwanderungstrend und Osteuropa etwas machen will. Das kann doch Richtung West dramatisch verstärken. Doch über ber- aber nur bedeuten, daß Einsatzbereitschaft und Ein- stende Hörsäle können die Hochschulen in West- fallsreichtum verstärkt werden. Auf neue Herausfor- deutschland schon zur Genüge klagen. Die Aufbau- derungen muß man mit neuen Ideen antworten. probleme im Osten dürfen uns nicht den Blick auf die offenkundigen Probleme im Westen versperren. Des- Oder sollen hier schöne politische Titel geschrieben wegen möchte ich an dieser Stelle auf zwei Bereiche werden, mit denen man sich in der Öffentlichkeit dieses Haushalts eingehen, die noch mehr als bisher schmückt, aber die in Wirklichkeit nicht realisiert wer- Schwerpunkte der zukünftigen Bildungspolitik sein den sollen? Meine Skepsis ist nicht ganz aus der Luft müssen. gegriffen. Schon im Haushalt '91 stand eine globale Das ist zum einen die Weiterbildung des dualen Minderausgabe von 50 Millionen DM; 1992 beträgt Systems in Richtung auf die Gleichwertigkeit von all- sie 42,5 Millionen DM. Was politische Prosa ist und gemeiner und beruflicher Bildung und zum zweiten was Wirklichkeit werden soll, kann also nicht erkannt die Hochschulausbildung. werden. Die globale Minderausgabe ist ein untaugli- ches haushaltspolitisches Mittel. Beim ersten gesamt- Die Bildungsreform der 70er Jahre hatte vor allem deutschen Bundeshaushalt hatte ich dafür noch ge- das Postulat der Chancengleichheit und die soziale wisses Verständnis. Es gibt bisher keine Erklärung Öffnung des Bildungswesens zum Ziel. Die Bildungs- seitens der Bundesregierung, daß auf dieses Mittel- politik der 90er Jahre muß die soziale Integration der künftig verzichtet wird. Theoretisch ist es z. B. mög- Jugendlichen über eine bildungsadäquate Beschäfti- lich, daß die Ansätze für Qualifizierung von Personal gung im Beruf gewährleisten. Und deshalb begrüßen der beruflichen Bildung, für Entwicklung von regio- wir Liberale ausdrücklich die Zielsetzung der Regie- nalen beruflichen Weiterbildungshilfen und für Mo- rung, die berufliche Bildung als gleichwertigen Teil dernisierung und Ausstattung beruflicher Bildungs- des Bildungswesens auszubauen. Ein Schritt in diese stätten in den neuen Ländern der globalen Minder Richtung ist das Programm der beruflichen Begabten- 5128* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 förderung. Diese muß in den nächsten Jahren auf eine lich im Wettbewerb mit der Wirtschaft gewonnen wer- Größenordnung wie im Hochschulbereich kommen. den. Zwischen Wirtschaft und Fachhochschule erge- ben sich mittlerweile derart hohe Einkommensunter- Die Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Be- schiede, daß es immer schwieriger sein wird, die Pro- rufstätige ohne Abitur ist vor allem dann zu erwägen, fessuren mit qualifizierten Persönlichkeiten zu beset- wenn man das Ziel nicht aus dem Auge verliert, Be- zen. Leider konnten der Haushaltsausschuß und das rufsausbildung attraktiver zu machen. Denn über ei- Hohe Haus nicht der Empfehlung des Wissenschafts- nes sind wir uns alle klar: Die Wachstumsbremse un- rates für eine deutliche Erhöhung der C-3-Stellen fol serer Volkswirtschaft in den nächsten Jahren wird der gen. Immerhin war die Verbesserung des Schlüssels Facharbeitermangel sein, und die Bildungspolitik der auf 60 (C 3) zu 40 (C 2) ein Schritt in die richtige Rich- 90er Jahre muß diesen Mangel beheben, indem sie tung. der beruflichen Bildung den Makel der Minderwertig- keit nimmt. Fazit: Wir müssen mehrere Instrumente zur glei- chen Zeit anwenden. Bund und Länder müssen zu- Im vereinten Deutschland haben wir 1991 mehr Stu- sammen tragfähige Konzepte erarbeiten, und zwar dierende als Lehrlinge (1,7 Millionen zu 1,5 Millio- unter dem Leitsatz, daß die Investitionen in Bildung nen). Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren haben und Wissenschaft die wichtigsten Investitionen in die zu 31 To inzwischen die Hochschulreife, und die mei- Zukunft unserer Gesellschaft sind. Und vielleicht muß sten möchten auch studieren. Aber was heißt das der Bund mehr Kompetenzen bekommen, wenn die heute? Überlange Studienzeiten, Zunahme von unzu- Länder versagen. mutbaren Lehr- und Lernsituationen, Fachwechsel, Studienabbrüche und ungewisse Zukunftsaussichten. Ein Numerus clausus in zahlreichen weiteren Fä- Dr. Rainer Ortleb Bundesminister für Bildung und chern, wie ihn die Hochschulrektorenkonferenz ver- Wissenschaft: Der von der Bundesregierung vorge- langt, ist zu verstehen, aber von Bildungspolitikern/ legte Entwurf für den Haushalt 1992 des Bundesmini- innen nicht zu vertreten. Die erhebliche Steigerung sters für Bildung und Wissenschaft sieht Ausgaben in der Hochschulförderungsmittel im Haushalt 1991 und Höhe von insgesamt 6,451 Milliarden DM vor. Gegen- die konsequente Weiterführung des Ansatzes in 1992 über dem diesjährigen Haushalt bedeutet dies einen sind zukunftsweisend. Aber die FDP wird auch in überdurchschnittlichen Anstieg um 4,5 % . Die Bun- Zukunft gemeinsam mit dem Bundesbildungsminister desregierung dokumentiert damit den hohen Stellen- dafür kämpfen, weitere Erhöhungen der Mittel zur wert, den sie Bildung und Wissenschaft beimißt. Modernisierung und den Ausbau der Hochschulen einsetzen zu können. Der Entwurf des Einzelplans 31 bietet eine solide finanzielle Basis zur Lösung der im Jahre 1992 zu Trotz der auf 1,6 Milliarden DM erhöhten Bundes- bewältigenden Aufgaben. Im Mittelpunkt der An- mittel für den Hochschulneubau und der zur Lösung strengungen stehen auch im kommenden Jahr der der anstehenden Probleme in den Hochschulsonder- weitere Ausbau sowie inhaltliche und strukturelle programmen zur Verfügung stehenden Beträge wer- Verbesserungen von Bildung und Wissenschaft in den den wir es nicht zulassen, daß die Länder in ihrem neuen Ländern. Daneben gilt es, die notwendigen Verantwortungsbereich — und das heißt personelle Reformen in den alten Bundesländern fortzuführen. und materielle Ausstattung der Universitäten und Die Ansätze des Haushaltsentwurfs tragen dieser Auf- Fachhochschulen — untätig die Hände verschränken gabe und damit einer weiteren erfolgreichen Entwick- und die gestiegenen Studentenzahlen hilflos ignorie- lung von Bildung und Wissenschaft im geeinten ren. Deutschland Rechnung. Wir müssen ohne ideologische Scheuklappen über Folgende Punkte des Haushaltsentwurfs 1992 neue Wege nachdenken. Einige Stichworte: möchte ich besonders herausstellen: — fachspezifische Hochschuleingangsprüfungen, Erstens. Der beruflichen Bildung gelten besondere — rigorose Prüfungen nach der ersten Studien- Anstrengungen. Die hierfür vorgesehenen Ausgaben etappe, sollen um mehr als 40 % steigen. — Kurzstudiengänge mit attraktiven Abschlüssen. Hauptaufgabe wird erneut sein, allen Jugendlichen Wir müssen da allerdings auch die Wirtschaft und in den neuen Ländern einen Ausbildungsplatz anzu- die Studierenden davon überzeugen, daß diese Ab- bieten. Die nahezu ausgeglichene Lehrstellenbilanz schlüsse etwas wert sind. In diesem Zusammenhang dieses Herbstes ist eine hervorragende Ausgangsposi- sind vor allem die Fachhochschulen mit ihrem kürze- tion. Allerdings muß im nächsten Jahr der Anteil der ren Studium auszubauen. betrieblichen Ausbildungsplätze noch erheblich ge- steigert werden. Für das Ausbildungsförderungspro- Die Fachhochschulen attraktiver zu gestalten ist gramm stehen — nach 75 Millionen DM im laufenden aber auch verbunden mit einigen Fragen, die in näch- Jahr — im Jahre 1992 weitere 175 Millionen DM zur ster Zeit zu klären sind und sicherlich Proteste provo- Verfügung. Daraus können für Bet riebe mit bis zu zieren werden. Ich meine die beamtenrechtliche Lauf- - 20 Beschäftigten Zuschüsse in Höhe von 5 000 DM pro bahn. Muß es auf ewig festgezimmert sein, daß Fach- eingestelltem Auszubildenden finanziert werden. Die hochschulabsolventen im öffentlichen Dienst mit A 9/ Bundesregierung sieht in dieser Maßnahme gleichzei- A 10 anfangen, während Absolventen der Hochschu- tig einen wirksamen Beitrag zum Auf- und Ausbau len bei A 13 einsteigen? einer gesunden mittelständischen Wirtschaftsstruktur Ein zweiter Punkt: Professoren für die Fachhoch- und damit des dualen Systems, in dem gerade klei- schulen zu gewinnen ist schwierig. Sie müssen näm nere Betriebe eine wichtige Rolle spielen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 5129*

Für die Förderung überbetrieblicher Berufsbil- den Finanzbedarf für die alten und neuen Länder auf dungsstätten sind die Mittel um 17 Millionen DM auf insgesamt 2 Milliarden DM jährlich an Bundesmitteln. insgesamt 130 Millionen DM aufgestockt worden. Die Ich kann die hinter dieser Aussage stehende Sicht der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten sind zu ei- Entwicklungstendenzen des Bedarfs und der Ausbau- nem unverzichtbaren Strukturelement der dualen Be- notwendigkeiten durchaus nachvollziehen. Konkret rufsausbildung geworden. Sie tragen wesentlich zur werden wir darüber beim Haushalt 1993 sprechen Verbesserung der Qualität der beruflichen Ausbil- müssen. Eines aber halte ich heute schon in aller Deut- dung bei. Das Netz der überbetrieblichen Berufsbil- lichkeit fest: Eine Politik flächendeckender Zugangs- dungsstätten wird nunmehr auch auf die neuen Län- beschränkungen werde ich nicht akzeptieren. der ausgedehnt. Die Planung sieht dort die Errichtung von 7 000 Werkstattplätzen vor. Wichtiges Element der Offenhaltungspolitik und der Steigerung der Leistungsfähigkeit von Forschung Zur Verbesserung der Qualität der beruflichen Bil- und Lehre bleiben die laufenden Hochschulsonder- dung in den neuen Ländern gehört auch die Qualifi- programme. Sie werden gemeinsam mit den Ländern zierung des Personals. Gegenüber dem laufenden weitergeführt. Für das Hochschulsonderprogramm I Jahr werden die Mittel um ein Viertel auf 25 Millionen stehen 1992 150 Millionen DM zur Verfügung. Für das DM erhöht. Daneben sind für die Modernisierung der in diesem Jahr angelaufene Hochschulsonderpro- Ausstattung beruflicher Ausbildungsstätten in den gramm II, das insbesondere der Förderung des wis- neuen Ländern nach 8 Millionen DM in diesem Jahr senschaftlichen Nachwuchses, der Förderung von weitere 8 Millionen DM im Jahre 1992 veranschlagt. Frauen in der Wissenschaft, der Stärkung der Fach- Erstmals sind 5,5 Millionen DM zur Entwicklung re- hochschulen und der Intensivierung der europäischen gionaler beruflicher Weiterbildungshilfen in den Zusammenarbeit im Hochschulwesen dient, sind im neuen Ländern vorgesehen. Etatentwurf 165,9 Millionen DM veranschlagt. Ich bin Hinweisen möchte ich auf die schwierige Situation erfreut darüber, daß es gelungen ist, in diesem Pro- an den Berufsschulen in den neuen Ländern. Hier gramm deutliche Schwerpunkte bei der Frauenförde- besteht dringender Handlungsbedarf der dafür zu- rung, z. B. durch die Einführung neuer Wiederein- ständigen Länder und Kommunen, denn eine lei- stiegsstipendien und von Kinderbetreuungszuschlä- stungsfähige Berufsschule ist notwendig für eine hohe gen zu Stipendien, zu setzen. Qualität des dualen Systems der Berufsausbildung. Als Beitrag des Bundes für die Förderung der For- In diesem Jahr ist die vom Bundesminister für Bil- schung soll die Deutsche Forschungsgemeinschaft dung und Wissenschaft ins Leben gerufene Begabten- insgesamt rund 860 Millionen DM an Bundesmitteln förderung in der beruflichen Bildung angelaufen. Wie erhalten. Dabei werden die für die Allgemeine For- dringlich es war, diese Lücke zu schließen, zeigt die schungsförderung und die Sonderforschungsbereiche große Zahl vorliegender Anträge. Ich darf an dieser vorgesehenen Mittel der DFG für die alten Länder um Stelle noch einmal betonen, daß es hierbei um die die vom Bundeskanzler und den Regierungschefs der Förderung der berufsbegleitenden Weiterbildung be- Länder vorgesehene Rate von 5 % steigen. Für die gabter junger Berufstätiger geht, die im Beruf bleiben neuen Länder ist im Hinblick auf den Nachholbedarf wollen. Der Haushaltsentwurf für 1992 sieht fast eine ein höherer Aufwuchs gegenüber dem Vorjahr vorge- Verdoppelung der Mittel gegenüber 1991 auf 18 Mil- sehen, so daß die DFG-Mittel für die Allgemeine For- lionen DM vor. Mittelfristiges Ziel ist es, für diese För- schungsförderung und die Sonderforschungsbereiche derung eine ähnliche Größenordnung wie bei der Be- um insgesamt rund 7 % steigen werden. gabtenförderung im Hochschulbereich zu erreichen. Erstmals sieht der Entwurf des Einzelplans 31 einen Zweitens. Die Sicherung und Stärkung der Lei- Ansatz zur Förderung von angewandter Forschung stungsfähigkeit von Lehre und Forschung an den und Entwicklung an Fachhochschulen vor. Dadurch Hochschulen in den alten und den neuen Ländern hat soll die Basis für ein stärkeres Engagement der Fach- angesichts weiter steigender Studentenzahlen für die hochschulen in Vorhaben der angewandten For- Bundesregierung höchste Priorität. schung und Entwicklung, die für die Qualität und den Die Ausgaben für den Aus- und Neubau von Hoch- Praxisbezug der Lehre von erheblicher Bedeutung schulen im vorliegenden Haushaltsentwurf liegen mit sind, in allen dort vertretenen Fachbereichen geschaf- 1,6 Milliarden DM auf dem hohen Niveau des Jahres fen werden. Die Förderung soll im Rahmen eines ge- 1991. Die Bundesregierung schafft damit bei anhal- meinsamen Bund-Länder-Programms auf der Grund- tend hoher Nachfrage nach Studienplätzen und den lage einer Vereinbarung nach Art. 91 b des Grundge- dringend notwendigen Sanierungs- und Ausbaumaß- setzes erfolgen. Ich gehe davon aus, daß die Länder nahmen in den neuen Ländern die finanzielle Grund- die Möglichkeit ergreifen werden, sich an diesem Pro- lage für die erforderlichen Baumaßnahmen und die gramm zu beteiligen. zunehmend wichtiger werdende Ausstattung mit mo- Für das „Erneuerungsprogramm für Hochschule dernen Großgeräten für Forschung und Lehre. Zu- und Forschung in den neuen Ländern", das Bund und sammen mit dem von den Ländern aufzubringenden Länder im Juli dieses Jahres unterzeichnet haben, Anteil stehen damit 3,2 Milliarden DM für den Hoch- sind für 1992 rund eine halbe Milliarde DM vorgese- schulbau zur Verfügung. Circa 600 Millionen DM ent- hen (nur für 1992 im Einzelplan 60). Mit diesem Pro- fallen davon auf die neuen Länder. gramm, an dessen Umsetzung die Verwaltungen der Der Bedarf dieser Länder wird in den nächsten Jah- neuen Länder mit Nachdruck arbeiten, wird die ren deutlich steigen, wenn die Planung der dringen- Grundlage für den Neuaufbau von Hochschule und den Sanierungs- und Ausbaumaßnahmen weiter fort- Wissenschaft in den neuen Ländern und Berlin mit geschritten ist. Der Wissenschaftsrat schätzt ab 1993 dem Ziel der Verbesserung von Qualität in Forschung 5130* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. November 1991 und Lehre geschaffen. Dabei geht es neben verschie- von 48,6 Millionen DM im laufenden Jahr auf knapp denen Maßnahmen zur personellen Erneuerung und 61 Millionen DM steigen. Dieser Mittelansatz trägt zur Verbesserung der Ausstattung der Hochschulen dazu bei, die Weiterbildung zu einem gleichwertigen und ihrer Infrastruktur auch um die Eingliederung von Teil des Bildungswesens weiter auszubauen und in Forschern und Forschergruppen der Akademien der den neuen Ländern eine plurale, bedarfsgerechte ehemaligen DDR in die Hochschulen und um die För- Weiterbildungsstruktur zu schaffen. derung neuer Einrichtungen des außeruniversitären Fünftens. Die Bundesregierung beabsichtigt, auch Forschungsbereichs. im Jahre 1992 die Förderung von Auslandsaufenthal- Für Maßnahmen beim Studentenwohnraumbau im ten deutscher Hochschulabsolventen und Studenten Rahmen des Förderungsprogramms von 1990 bis 1994 sowie des Austausches von Wissenschaftlern mit dem sind nach 150 Millionen DM für 1991 im Jahre 1992 Ausland — auch im Hinblick auf die Entwicklung in 200 Millionen DM vorgesehen. In dem genannten den mittel- und osteuropäischen Staaten — weiter Zeitraum werden unter Berücksichtigung auch der auszubauen. Dafür sollen 60 Millionen DM zur Verfü- von den Ländern und Trägern von Maßnahmen auf- gung stehen. zubringenden Mittel Investitionen in Höhe von mehr Sechstens. Die Zuschüsse an die Begabtenförde- als 2 Milliarden DM mobilisiert, um der Wohnungsnot rungswerke, die Stipendien an Studenten und junge der Studenten zu begegnen. Nachwuchswissenschaftler vergeben, werden auf ins- gesamt 113,6 Millionen DM, einschließlich 27 Millio- Drittens. Die veranschlagten Mittel für Leistungen nen DM für die Promotionsförderung, aufgestockt. nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz lie- Dazu kommen weitere 16,3 Millionen DM für die För- gen mit 2,7 Milliarden DM knapp über dem Ansatz derung von Postdoktoranden, die von der DFG als Sti- von 1991. Sie werden ausreichen, um alle Berechtig- pendien vergeben werden. ten zu fördern. Dabei ist berücksichtigt, daß durch ein 15. BAföG-Änderungsgesetz u. a. Bedarfssätze und Der Entwurf des Einzelplans 31 des Bundeshaus- Freibeträge zum Herbst 1992 angepaßt werden sol- halts für 1992 bietet insgesamt eine solide finanzielle len. Grundlage, die vor uns liegenden Aufgaben in Bil- dung und Wissenschaft im vereinten Deutschland zu Viertens. Die Mittel für Maßnahmen auf dem Gebiet bewältigen. Ich danke den Berichterstattern und dem der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung und Haushaltsausschuß für ihre Unterstützung und bitte für Zuschüsse an Weiterbildungseinrichtungen sollen um Ihre Zustimmung zum Etatentwurf.