NEWSLETTER 1 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE Berlin als politisches Zentrum der Bundesrepublik mit nationale Selbstverständnis der Deutschen betraf. Die dem Reichstagsgebäude, dem Kanzleramt und dem politische Debatte, die darüber geführt wurde, war al- Bundesrat ist uns Deutschen und auch den auslän- lerdings nicht voraussetzungslos. In der Gründungs- www.klett.de dischen Beobachtern inzwischen zur Selbstver- phase der Bundesrepublik wurde angesichts der ständlichkeit geworden. Unmittelbar nach der Wieder- Teilung Deutschlands in Ost und West und des Sonder- vereinigung war es allerdings keineswegs sicher, dass status Berlins vom Parlamentarischen Rat festgelegt, Berlin künftig Regierungssitz und damit Zentrum der dass Bonn der „vorläufige Sitz der Bundesorgane“ sein deutschen Bundespolitik sein würde. Am 20. Juni 1991 sollte. Diese Regelung wurde vom ersten deutschen beschloss der Deutsche in einer offenen Bundestag bestätigt, allerdings mit folgendem Zusatz: und umkämpften Abstimmung mit knapper Mehrheit „Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die den Umzug von Bonn nach Berlin. Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, Berlin – bis 1990 auch Hauptstadt der DDR – hatte als freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Regierungssitz eine Tradition, die ins Kaiserreich, die Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone durch- Weimarer Republik, aber auch in Zeit des National- geführt sind. Der Bundestag versammelt sich alsdann sozialismus zurückreicht. Danach hatte sich die Bonner in Berlin.“ Damit war eine Richtlinie für den Fall einer Republik seit ihrer Gründung im Jahr 1949 als stabil, Wiedervereinigung vorgegeben. wirtschaftlich erfolgreich und außenpolitisch verläss- Allerdings war Bonn nach über 40 Jahren auch mehr lich erwiesen. Nun sollte der Regierungs-sitz und das als ein Übergangssitz der Regierung geworden. Die Parlament wieder in die alte Hauptstadt Berlin wech- Ministerien hatten sich in Bonn eingerichtet, die ent- seln. Warum war die Abstimmung in dieser Frage der- sprechende Infrastruktur war geschaffen und vor allem art knapp und umkämpft? Und warum ging die war die Bonner Republik eine stabile Demokratie im Entscheidung zugunsten Berlins und nicht Bonns aus? Inneren und ein verlässlicher und friedlicher Partner Sollte damit letzten Endes sogar ein Stilwandel der nach außen geworden. Deshalb war es nicht selbstver- deutschen Politik verbunden sein? ständlich, dass entsprechend der Entscheidung aus dem Gründungsjahr mit der Hauptstadt auch der Sitz Die Entscheidung im Bundestag der Regierung nach Berlin verlegt werden sollte. In Klar war, dass im Prozess der Wiedervereinigung nach Artikel 2 des Einigungsvertrages wurde das weitere 1989 auch die Frage nach der Hauptstadt und dem Sitz Vorgehen festgelegt. Dort hieß es: „Hauptstadt der Regierung schnell auf die politische Tagesordnung Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von kommen würde, weil dies nicht nur eine organisato- Parlament und Regierung wird nach der Herstellung rische Frage war, sondern ein Thema, das im Kern das der Einheit Deutschlands entschieden.“

1 Das alte Bundeskanzleramt in Bonn mit der Skulptur „Large Two Forms“ von Henry Moore. Foto, 10. Oktober 1986 © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten. © Ullstein Bild GmbH (BPA), Berlin GmbH (BPA), © Ullstein Bild

AB_2016_05.indd 1 06.05.2016 09:47:25 NEWSLETTER 2 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE Die folgende Debatte wurde in der Politik über die weiter in Bonn tagen zu lassen. Demgegenüber waren bestehenden Parteigrenzen hinweg mit großer diejenigen, die Bonn favorisierten, weniger zu Zuge- Leidenschaft geführt. Der damalige Bundespräsident ständnissen bereit, weil man ein klares Ergebnis er- www.klett.de Richard von Weizsäcker setzte sich nachdrücklich für wartete. Berlin als Regierungssitz ein. Unterstützt wurde er da- Die Entscheidung des Bundestages wurde im In- und bei sowohl von Kanzler als auch von be- Ausland unterschiedlich kommentiert. Während die deutenden Politikern der Opposition, wie deutsche Presse die durch die emotionale Debatte und oder Hans-Jochen Vogel. Eine große Zahl der die Entscheidung ausgedrückte Spaltung der Republik Abgeordneten befürwortete allerdings Bonn als hervorhob und eine wirkliche Wiedervereinigung noch Regierungssitz. Dies zeigte sich in einer Umfrage vier in weiter Ferne sah, wurde im Ausland vor allem die Tage vor der Abstimmung, bei der Bonn mit 343 zu 267 historische Dimension in den Blick genommen und die Stimmen noch relativ deutlich den Vorzug erhielt. Bei Wahl Berlins als folgerichtiger und notwendiger Schritt der Abstimmung am 20. Juni stimmte das Parlament gewertet. dann aber dennoch für Berlin. Was war geschehen? Der Abstimmung war eine elfstündige Debatte vo- Berlin wird Hauptstadt rangegangen, die als Sternstunde des deutschen Nach dem Parlamentsbeschluss stand die praktische Parlamentarismus bezeichnet werden kann, weil unab- Umsetzung des Umzugs nach Berlin an. In dem Antrag hängig von Parteigrenzen um die Sache gestritten im Bundestag war festgelegt, dass in vier Jahren wurde. Im Wesentlichen gab es drei Gruppen: Die Regierung und Parlament in Berlin arbeitsfähig sein westdeutschen Politiker, die Berlin favorisierten, argu- müssten und in zehn bis zwölf Jahren die „volle mentierten, dass sich mit der Frage über den Funktionsfähigkeit Berlins als Parlaments- und Regierungssitz das nationale Schicksal entscheiden Regierungssitz“ erreicht sein sollte. Die große Heraus- würde, ohne aber genau zu sagen, was damit eigent- forderung war, dass hierbei die Funktionsfähigkeit bei- lich gemeint war. Berlin als Hauptstadt wurde in viel- der Institutionen durchgängig gewährleistet bleiben fältiger Weise als Symbol eines politischen Aufbruchs musste, was einige organisatorische Schwierigkeiten präsentiert, beispielweise im Sinne einer angemes- mit sich brachte. Zu klären blieb zudem, wie nach dem senen Repräsentation für ein wiedervereinigtes Umzug künftig die Zusammenarbeit zwischen Berlin Deutschlands. Hier wurde etwa auf die Größe und die und Bonn funktionieren sollte. Denn in dem Beschluss politische Tradition als Hauptstadt Bezug genommen. des Bundestages war vorgesehen, dass es eine Politiker aus Ostdeutschland sahen in dem Votum für Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin geben sollte, Berlin ein positives Signal zur Wiedervereinigung und die 1994 schließlich im Berlin-Bonn-Gesetz festge- „ein Symbol des Entgegenkommens“. Die Gruppe, die schrieben wurde. Festgelegt wurde darin, dass das Bonn als Sitz der Regierung erhalten wollte, argumen- Kanzleramt und 10 von 19 Ministerien nach Berlin ge- tierte ohne oder ausdrücklich gegen jedes nationale hen sollten. Zwei Drittel der Beamten sollten aber in Pathos vor allem mit wirtschaftlichen und logistischen den Ministerien in Bonn bleiben. Zunächst sollte Berlin Gesichtspunkten. Die Region Bonn, hieß es, dürfe vom als Hauptstadt ausgebaut und umgestaltet werden. Arbeitgeber Bund nicht alleine gelassen werden, eben- Der neue Regierungssitz sollte auch durch die so wurden die hohen Kosten angeführt. Aber auch die Architektur und Infrastruktur angemessen repräsen- Gefahr der Zentralisierung eines eigentlich föderalen tiert werden. Die erste Institution, die ihren Dienstsitz Staates oder die Re-Nationalisierung Deutschlands, in Berlin bezog war am 11. Januar 1994 der Bundes- wurden vorgebracht und mit der Demut und Be- präsident, der von der Bonner Villa Hammerschmidt in scheidenheit, für die Bonn symbolisch stand, argumen- das Schloss Bellevue zog. Zum Sitz des Parlaments tiert. In der Debatte spiegelte sich so neben ökono- wurde vom Ältestenrat das frühere Reichstagsgebäude mischen und logistischen Erwägungen vor allem eine bestimmt. Zur Umgestaltung des Reichstages wurde Auseinandersetzung über das nationale und politische ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, ebenso Selbstverständnis wider. für den an den Reichstag angrenzenden Spreebogen, Offensichtlich hatte die Debatte viele der Abge- wo das politische Zentrum der Bundesrepublik mit ordneten letztlich zum Umdenken bewegt. 320 der 660 Kanzleramt und Abgeordnetenhaus seinen Platz fin- anwesenden Abgeordneten stimmten für den Verbleib den sollte. Richtig Fahrt nahm die Umgestaltung in Bonn, 338 stimmten für Berlin, bei einer Enthaltung Berlins durch das Berlin-Bonn-Gesetz auf, in dem fest- und einer ungültigen Stimme. Einen entscheidenden gelegt wurde, das die Gesamtkosten des Umzugs Anteil an dem Ergebnis hatte aber auch, dass sich die 20 Milliarden D-Mark betragen durften, wovon aber Berlin-Befürworter mehr und mehr zu Zugeständnissen 4 Milliarden als Ausgleich für die Region Bonn vorgese- bereit erklärten und damit hofften, ihre Chancen ver- hen waren. Von da an wurde das Zentrum Berlins zu © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten. bessern zu können. Hierzu gehörten etwa eine einer einzigen Baustelle. Umbauten für die Ministerien Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin, ein finanzi- und Arbeiten an der Infrastruktur standen auf dem eller Ausgleich und die Zusicherung, den Bundesrat Plan. Am 4. Februar 1997 erfolgte der Spatenstich für

AB_2016_05.indd 2 06.05.2016 09:47:25 NEWSLETTER 3 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE das neue Kanzleramt. Das erste Ministerium, das sei- Eine neue Generation an Politiker etablierte sich, aber nen Sitz in Berlin bezog, war am 28. Juni 1999 passen- auch die Präsenz und die Rolle der Medien, ebenso die derweise das Bundesbauministerium. Während der von Vertretern der Wirtschaft und anderer gesellschaft- www.klett.de Bundeskanzler sich noch mit einem Übergangsquartier licher Eliten waren in Berlin anders als zuvor in Bonn. begnügen musste, kam der Bundestag am 19. April Allerdings widersprach die Mehrzahl der Beteiligten 1999 zu seiner ersten Sitzung im umgebauten Reichs- der Auffassung, dass mit dem Wechsel eine politischen tagsgebäude zusammen. Obwohl der Bundesrat zu- Zäsur verbunden gewesen sei. Der ehemalige nächst anders entschieden hatte, zog auch dieser im Bundeskanzler Kohl etwa bezeichnete die Rede von September 2000 nach Berlin. Nun waren bis auf das der „Berliner Republik“ als „ausgemachten Unsinn“ und Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe alle zentralen auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog politischen Institutionen der Bundesrepublik in Berlin konnte nicht erkennen, „dass die Berliner Republik ei- angesiedelt. ne andere sein sollte als die von Bonn“.

Andere Hauptstadt, andere Politik? Bonn und Berlin heute Durch die Wiedervereinigung hatten sich die Voraus- Auch heute ist das Bonn-Berlin-Gesetz noch in Kraft, setzungen im Inneren ebenso verändert, wie sich und die Arbeitsteilung zwischen beiden Städten be- durch das Ende des Ost-West-Konflikt die außenpoli- steht weiterhin, auch wenn sich das Verhältnis der tischen Koordinaten verschoben hatten. Dies wirkte Mitarbeiter in den Ministerien verschoben hat. sich auch auf die Politik der neuen Bundesrepublik aus. Inzwischen arbeiten etwa 40 Prozent in Bonn und Damals wie heute wurde und wird häufig behauptet, 60 Prozent in Berlin. Im Koalitionsvertrag der aktuellen dass mit dem Wechsel des Regierungssitzes von Bonn Regierung von 2013 wurde die Regelung des Berlin- nach Berlin auch ein Wandel im politischen Stil und in Bonn-Gesetzes noch einmal bestätigt, doch die De- der praktischen Politik der Bundesrepublik vollzogen batte über den Sinn und die Zweckmäßigkeit dieser worden sei. Deshalb sprechen einige von der „Berliner Regelung ist nicht beendet. Ein Versuch der Fraktion Republik“, die sie von der „Bonner Republik“ abgren- Die Linke, das Berlin-Bonn-Gesetz abzuschaffen, wurde zen. Klar ist, dass sich mit dem Umzug aus dem ver- 2012 noch von den übrigen Fraktionen mit Enthaltung hältnismäßig beschaulichen Bonn in die Metropole der SPD verhindert. Auch zukünftig wird diese Frage Berlin die Rahmenbedingungen der Politik änderten. aber wohl in der Diskussion bleiben.

2 Das neue Bundeskanzleramt im Regierungsviertel in Berlin mit der Skulptur „Berlin“ von Eduardo Chillida. Foto, 2. Oktober 2013 © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten. © Ullstein Bild GmbH (Boness/IPON), Berlin GmbH (Boness/IPON), © Ullstein Bild

AB_2016_05.indd 3 06.05.2016 09:47:27 NEWSLETTER 4 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE 3 Die Debatte Debatte nach der Identität des gemeinsamen deutschen Bei der Debatte zu den Anträgen zum Parlaments- und Staates, nach seiner Selbstdarstellung, nach seinem, un- Regierungssitz am 20. Juni 2011 im Deutschen Bundestag serem Verhältnis zur deutschen Geschichte, nach www.klett.de äußerten sich unter anderen die Politiker Norbert Blüm, Kontinuität und geschichtlichem Neuanfang zugleich,

Wolfgang Thierse, , Gerhart Baum und Konrad 55 nach unserem Verständnis von Europa, zu dem doch wohl Weiß: wieder und endgültig das östliche Europa gehört. (Beifall Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob Bündnisses 90/GRÜNE) [...] Berlin oder Bonn, ob das Parlament und die Regierung Hauptstadt Berlin – das darf nicht ein bloßes Etikett

hier oder dort angesiedelt sind – der Streit darüber darf 60 sein, hinter dem sich nichts Substantielles verbirgt.

5 uns nicht die Freude nehmen, daß wir ein Volk sind, wie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP dervereint und frei, (Beifall im ganzen Hause) und daß wir und des Bündnisses 90/GRÜNE) Die Abfindung mit soge- wieder darüber debattieren können, wo Verfassungs- nannten Repräsentativfunktionen – Berlin als Ort für be- organe in Deutschland ihren Platz nehmen. Die Spaltung sondere Anlässe –, das wäre denn doch nicht nur eine

ist überwunden, die Mauer ist gefallen, neue Gräben dür- 65 Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedri-

10 fen heute nicht aufgerissen werden. „Teilung durch Teilen gung der Bürger im Osten Deutschlands. (Beifall bei überwinden“ – kann das nicht auch das Programm einer Abgeordneten der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/ bundesstaatlichen Aufgabenverteilung zwischen Berlin GRÜNE – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) und Bonn sein? […] Wir halten den Parlamentssitz für das Herzstück einer

Der Nationalstaat, den wir uns wünschen, ist europä- 70 wirklichen Hauptstadt. Deshalb sollte der Bundestag sei-

15 isch eingebunden und regional gegliedert. Europäisierung nen Sitz in Berlin nehmen. Erst dann ist Berlin wirklich die und Regionalisierung, das sind die Pole eines modernen Hauptstadt Deutschlands. [...] Nationalstaates. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, Was spricht für Berlin? Das erste Argument: politische liebe Kolleginnen und Kollegen: Paßt in eine solche bun- Glaubwürdigkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der

desstaatliche Lösung eine alles dominierende Hauptstadt? 75 CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE) [...]

20 (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [FDP]: Ja! – Zurufe von Das zweite Argument: politische Gerechtigkeit. Die der CDU/CSU: Nein!) deutsche Einigung ist unter unerhörtem Tempodruck voll- Ich meine: Nein. Eine Hauptstadt Berlin mit Parlaments- zogen worden; sie verläuft unter extremem Problemdruck. und Regierungssitz würde, so fürchte ich, eine Sogwirkung Das hat zu Verletzungen, Ungleichgewichten, Verzerrungen

erzeugen, die auch das neugewonnene Selbstbewußtsein 80 und Benachteiligungen geführt. Ich sage das ohne jeden

25 der neuen Bundesländer unterspülte. Nicht ohne Grund Vorwurf in irgendeine Richtung. [...] verlegen Staaten mit kräftigem föderalen Selbst- Das dritte Argument: der Föderalismus, jenes unersetz- bewußtsein ihren Parlaments- und Regierungssitz nicht in liche Element der gelungenen demokratischen Kultur der die größte Stadt: Die Amerikaner verlegten ihn nicht nach Bundesrepublik. Ich denke, wir stärken den Föderalismus

New York, sondern nach Washington; die Kanadier nicht 85 eher dadurch, daß wir die Hauptstadt dorthin verlegen,

30 nach Montreal oder Toronto, sondern nach Ottawa; die wo sie inmitten der schwächeren Länder liegt, und nicht Schweizer nicht nach Zürich, sondern nach Bern. Sollten dadurch, daß wir sie unbedingt im einwohnerstärksten wir an der Klugheit und Erfahrung anderer föderaler und wirtschaftlich mächtigsten Land belassen. [...] Staaten nicht Maß nehmen? [...] Fünftes Argument: gesamtdeutsche Solidarität. Es ist

Mit Bonn verbindet sich der demokratische Neuanfang 90 meine Sorge – ich bitte um Entschuldigung –, daß die

35 unserer Geschichte. Mit Bonn verbindet sich die fried- deutsche Einigung noch immer mißlingen könnte, daß lichste und freiheitlichste Epoche unserer Geschichte. Sie jedenfalls die ökonomische, soziale und menschliche soll nie zu Ende gehen. Mit Bonn verbindet sich West- Spaltung nur allzu langsam und opferreich überwunden integration, die Grundlage für die Wiederaufnahme in die werden könnte, weil kollektive Besitzstandswahrung, die

Gemeinschaft freier Völker. Bonn hat nicht seine 95 im einzelnen immer verständlich ist, im Wege steht. Auch

40 Schuldigkeit getan und kann gehen. Mit Berlin zusammen ich erinnere an den wichtigsten Satz des vergangenen steht Bonn für eine freiheitliche und friedliche Zukunft Jahres, den Lothar de Maizière in seiner Regierungs- unseres Landes. erklärung für die große Koalition gesprochen hat: daß die Sie haben das Wort, Sie haben die Entscheidung. Wir Teilung nur durch Teilen überwunden werden kann.

bitten Sie um die Zustimmung zu unserer bundesstaatli- 100 Es geht bei der heutigen Entscheidung eben nicht nur

45 chen Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der um ein Symbol, wie die Bonn-Befürworter behaupten. Im SPD und der FDP) Gegenteil, Berlin zum Ort der Repräsentation machen zu wollen, Berlin mit dem Hauptstadttitel nur zu schmücken (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen heißt, den Osten Deutschlands mit einem Symbol abzufin- © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten.

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! […] Darüber 105 den. […] hinaus geht es generell um das Verhältnis zwischen Ost

50 und West in Deutschland. Ebenso steht die Frage zur

AB_2016_05.indd 4 06.05.2016 09:47:27 NEWSLETTER 5 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE

Dr. Gregor Gysi (PDS): Dann bitte ich Sie, doch auch noch tischen Deutschlands. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, uber etwas ganz Spezifisches nachzudenken: Seit der der CDU/ CSU und der SPD) […] www.klett.de Herstellung der Einheit am 3. Oktober 1990 gibt es nur ei- 165 Wolfgang Schäuble, Sie haben recht: Berlin ist – ich ne Stadt, in der sich diese Vereinigung tatsachlich unmit- sagte es schon – in besonderer Weise ein Symbol für

110 telbar vollzieht, weil es nun einmal die einzige geteilte Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ich stimme Ihnen aus- Stadt war. Das heißt, westliche und ostliche Probleme drücklich zu. Aber ist nicht auch Bonn ein Symbol für stoßen dort direkt aufeinander; dort findet die Vereinigung 40 Jahre erfolgreiche Demokratie, die das Ansehen der

sozusagen in kompensierter, vielleicht auch zum Teil in 170 Bundesrepublik Deutschland in der Welt begründet hat, verscharfter, vielleicht auch zum Teil in schnellerer Form ihre europäische Integration vollzogen und schließlich

115 statt. Ich finde, deshalb ist das Bekenntnis gerade zu die- auch die Chance der deutschen Einheit offengehalten ser Stadt so ungeheuer bedeutungsvoll; denn es ist die hat? Geht es nicht auch um dieses Symbol Bonn, um das einzige Ost-West-Stadt, die wir zu bieten haben. Damit wir heute ringen?

konnen wir, glaube ich, national und international Signale 175 Bonn war doch nicht die Idylle, in die sich die Politiker setzen.(Beifall bei der PDS/Linke Liste) Gestatten Sie mir vor der weltpolitischen Verantwortung geflüchtet hätten.

120 noch einen Hinweis, den ich fur wichtig halte. Es wurde in Hier wurde keine enge Politik gemacht, die man im der Presse immer wieder darauf hingewiesen, daß Berlin schlechten Sinne als provinziell bezeichnen müßte. Alle eine Stadt mit großen Problemen ist. Das stimmt. Die Parteien haben von Bonn aus dazu beigetragen, daß sich

Probleme in Bonn sind naturlich, was das außere 180 die Deutschen zu einer beispielhaften Demokratie entwi- Erscheinungsbild, auch was die innere Zerissenheit und ckelt und eine neue Verantwortung in Europa übernom-

125 vieles andere betrifft, wesentlich geringer. Aber nun frage men haben. ich: Soll ein Parlament, soll eine Regierung wirklich dort- Die Aufgabenteilung bedeutet, daß Berlin Deutschland hin gehen, wo es problemlos ist, oder sollen Parlament als Ganzes repräsentiert: mit dem Bundespräsidenten,

und Regierung nicht genau dorthin gehen, wo die mei- 185 dem Bundesrat, zusätzlichem Dienstsitz des Bundes-

130 sten Probleme eines Landes kulminieren, um sich ihnen kanzlers und auch Sitzungen des Deutschen Bundestags. direkt zu stellen und nicht den Eindruck zu hinterlassen, Aber es geht heute – da stimme ich allen Vorrednern zu daß man mit diesen Problemen eigentlich nichts zu tun – im Kern um die Entscheidung: Wo bleibt der Deutsche haben will. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Bundestag? Ich spreche mich nachdrücklich für das poli-

Sie wissen, daß die Menschen in den neuen Bundes- 190 tische Bonn aus, für das Verbleiben des Bundestags in

135 landern auf ein Zeichen warten. Ich finde, sie haben die- Bonn. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU ses Zeichen und dieses Signal verdient. und der SPD) [...] Ich weiß auch, daß es Argumente aus der Geschichte der Stadt gibt, die gegen die Stadt Berlin herangezogen Konrad Weiß (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsidentin! werden. Ich finde, daß das nicht geht. Erstens hat sich Meine Damen und Herren! Wir Deutschen sind ein selt-

140 deutsche Geschichte nie in einer Stadt allein abgespielt. 195 sames Volk: Erst leben wir als ein Volk in zwei Staaten und Zweitens finde ich, Geschichte muß man annehmen. Man hegen jahrzehntelang eine maßlose Haßliebe aufeinan- lost sie nicht dadurch, daß man Stadte meidet. Das der. Dann vereinigen wir die beiden Staaten hastig wieder scheint mir uberhaupt keine Losung zu sein. Deshalb kann und stellen nach der Hochzeitsnacht erschrocken und er- ich dieses Argument nicht akzeptieren. [...] nüchtert fest, daß in dem einen deutschen Land zwei

200 deutsche Völker wohnen, die sich so fremd sind, wie sich

145 Gerhart Rudolf Baum (FDP): Frau Präsidentin! Meine nur Verwandte fremd sein können. (Heiterkeit) Mit un- Damen und Herren! Die Begründung für Bonn ist nüch- serer Hauptstadt halten wir es nicht besser. Wie haben Sie terner und vielleicht pragmatischer. Sie ist nicht verbun- alle hier in Westdeutschland dem amputierten Berlin den mit diesem eindrucksvollen Blick in die Vergangenheit, nachgetrauert, und wie widerstrebend haben Sie sich an

nicht verbunden mit dem Bekenntnis zu Berlin als einem 205 die Hauptstadtprothese Bonn gewöhnt! Wie haben sie

150 unbezweifelbaren Symbol für die Freiheit. Das kann Bonn das gequälte, geschundene, zerrissene Berlin umhegt und nicht leisten. es 40 Jahre lang für eine bessere Zukunft am Tropf gehal- Ich stimme Wolfgang Schäuble ausdrücklich zu: es geht ten! nicht um die beiden Städte. Es wäre völlig verfehlt, diese Nun ist das Wunder geschehen: Was Sie im Westen und

beiden Städte miteinander zu vergleichen. Sie haben, 210 wir im Osten für die Zukunft erhofft hatten, könnte

155 Willy Brandt, mit Recht gesagt: Es geht um eine Gegenwart sein. Doch nun auf einmal fällt es schwer, sich Entscheidung, über unsere Zukunftsvorstellungen und von der Vergangenheit zu trennen. über unser Selbstverständnis. [...] Ich habe mein halbes Leben lang in Ostberlin gelebt, Wir leben in einer veränderten Welt. Es kann doch nicht der anderen Hälfte der Hoffnungsstadt. Überall, wohin ich © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten. darum gehen, etwas wiederherzustellen, was in dieser 215 kam, stieß ich auf Mauern. Meine Kinder sind im Schatten

160 Form nicht wiederherstellbar ist. Das heißt, die Rückkehr der Mauer großgeworden. Berlin war für mich immer zum Hauptstadtgedanken des 19. Jahrhunderts paßt nicht mehr als der Ort, in dem ich wohne. Es war eine offene, mehr in die Gegenwart eines Europas und eines föderalis- schmerzende Wunde. Es war das Symbol der Teilung.

AB_2016_05.indd 5 06.05.2016 09:47:27 NEWSLETTER 6 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE Abstimmung über den Parlaments- und Regierungssitz, 20. Juni 1991

Entscheidung im Bundestag zwischen Bonn und Berlin www.klett.de

Bundesländer Bundesländer 291 29 Bündnis 90/GRÜNE fraktionslos alte neue Berlin 214 124 66,7 % für Berlin PDS/Linke Liste 42,4 % 81,1 % Bundestag alte neue Bonn 94,5 % für 658 Abgeordnete* Berlin 54,1 % für darunter Minister Berlin und Bundeskanzler 67,1 % für 72,2 % für FDP Berlin Berlin CDU

320 338 Abgeordnete 1 46,6 % für 0 Abgeordnete Berlin 51,4 % 2 4 CSU 1 SPD 17 16,7 % fürCSU Berlin 26 53

126 110

40 8

124 146

*Anwesend 660 Abgeordnete, die ihre Stimmen abgeben, darunter 1 ungültige Stimme und 1 Enthaltung. © Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn © Bundeszentrale für politische Bildung,

Bundeszentrale für politische Bildung, 2011, www.bpb.de Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de 4 Abstimmung zum Parlaments- und Regierungssitz

Nirgends sonst in Deutschland war die Trennung so au- 245 Bundesrepublik, mit der ein demokratischer und freihei-

220 genfällig wie dort, nirgends sonst wurde die Mauer so licher deutscher Staat geschaffen worden ist. Diese alte gehaßt wie in Berlin, wo sie allgegenwärtig war. Berlin ist Bundesrepublik aber ist, nicht anders als die DDR, am auch Symbol deutscher Schuld. Der brennende Reichstag 3. Oktober 1990 untergegangen. Deutschland, dessen Sou- steht für die tiefste Niederlage der Menschlichkeit und verän uns gewählt hat, dieses Deutschland ist ein neues

225 Demokratie in Deutschland. Die rote Siegesfahne auf sei- 250 Land. Bonn gehört der alten Bundesrepublik; für uns aus nem Dach erinnert mahnend an die Opfer, die von der dem Osten ist und bleibt es fremd. (Zuruf von der CDU/ Völkergemeinschaft und von wenigen mutigen Deutschen CSU: Das ist schade!) erbracht worden sind, damit Deutschland wieder ein de- Ich gestehe gern ein: Bonn ist eine hübsche, verträum- mokratisches und menschliches Land werden konnte. te, gemütliche Stadt. Es ist bequem und sanft und eine

230 Nun, seit der Vereinigung, hat der Reichstag seine Würde 255 gefällige Residenz – eine Stadt für Leute, die alles hinter wieder. Gibt es einen Ort, der geeigneter sein könnte für sich haben. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ ein Parlament? ( [Köln] [SPD]: Ja, Bonn!) CSU, der FDP und der SPD) Berlin ist eine Weltstadt. Für keine andere Stadt hat das Berlin ist Zukunft, ist Leben, ist Spannung und Streß, Weltgewissen so laut und vernehmlich gesprochen. Für Unruhe und Bewegung. [...] Für Bonn, meine Damen und

235 keine andere Stadt wurden mehr Opfer gebracht. Meine 260 Herren, spricht viel, aber für Berlin spricht alles. Es gibt Freunde in Warschau, in Paris, in Moskau und in New York, keine Alternative für Deutschlands schlagendes Herz. ja selbst in Jerusalem verfolgen fassungslos die deutsche (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE – Beifall bei Abgeordneten Debatte. Niemand im Ausland versteht auch nur die der CDU/CSU, der FDP, der SPD und der PDS/Linke Liste) Fragestellung. Es ist ein gleicherweise romantisches wie Deutscher Bundestag – 12. Wahlperiode – 34. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1991. Zit. nach http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/12/12034. 240 komisches Duell, dem wir als Abgeordnete nun sekundie-

pdf (letzter Zugriff 12.03.2016) © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten. ren sollen. [...] Ich habe mein halbes Leben in Berlin, der Hoffnungsstadt, gewohnt. Bonn habe ich immer mit Respekt als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland betrachtet, jener

AB_2016_05.indd 6 06.05.2016 09:47:28 NEWSLETTER 7 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE 5 Symbolik der Städte Bonn und Berlin nicht nahtlos an ihre Traditionen der rheinischen Republik Der Politikwissenschaftler Oliver D’Antonio schreibt 2011 anknüpfen könne. Eine Hauptstadt Berlin galt im Osten www.klett.de über die unterschiedliche Symbolik der Städte Bonn und 55 als ein Zeichen westdeutschen Entgegenkommens. Doch Berlin: eben dies sahen viele westdeutsche Besitzstandswahrer Dabei kommt der Hauptstadtfrage, den Städten selbst, anders. ein symbolischer Bedeutungsgehalt zu, der auf Kontinuität Oliver D’Antonio, Aufbruch in die Metropole. Wie sich durch die der alten Bundesrepublik oder auf eine grundlegende Hauptstadtdebatte die Republik veränderte. Deutschland Archiv: Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, Jg. 44 (2011) Sonderheft 50 Erneuerung der politischen Agenda einer Berliner Jahre Mauerbau; S. 110–115. Zit. nach: http://www.bpb.de/geschichte/zeit- 5 Republik setzt. Bonn war zu allererst ein Provisorium. geschichte/deutschlandarchiv/53771 (letzter Aufruf 12.03.2016) Kaum einer der Politiker, die am Rhein arbeiteten oder regierten, gab der Stadt das Gefühl, mehr zu sein als eine 6 Das Berlin-Bonn-Gesetz Übergangs-, bestenfalls eine Notlösung. Trotz dieser Der Journalist Ulrich Zawatka-Gerlach äußert sich 2011 Wahrnehmung besaß Bonn seit Gründung der Bundes- zum Berlin-Bonn-Gesetz:

10 republik auch einen spezifischen Symbolcharakter. Die Jeden Monat pendeln immer noch tausende Ministerial- Wahl Bonns als provisorische Hauptstadt sollte für eine beamte zwischen Rhein und Spree. Die Bundesregierung historische Umkehr in der deutschen Geschichte stehen. rechnet 2014 mit fast 19 000 teilungsbedingten Dienst- Die Stadt signalisierte in Konrad Adenauers Kalkül nach reisen. Die Kosten im Bundeshaushalt fur die „Aufteilung

innen, aber noch mehr über die Landesgrenzen hinaus, 5 der Amts- und Dienstsitze der Bundesregierung“, die das

15 dass die Bundesrepublik ein bescheidener, föderaler Staat Finanzministerium seit 2008 dem Haushaltsausschuss des sei, der auf Machtinsignien und repräsentative Darstellung Bundestags in einem Teilungskostenbericht mitteilt, von Größe bewusst verzichte. Bonn war das Symbol zur schwankten bis einschließlich 2013 zwischen 7,7 und 10,6 Herstellung von Vertrauen in Deutschland innerhalb der Millionen Euro jahrlich. Etwa die Halfte der Ausgaben

westlichen Welt. Es kontrastierte damit mit Berlin, das in 10 entfallen auf die Ministerien fur Verteidigung, Land-

20 jenen Jahren vor allem im Ausland vielfach mit wirtschaft, Inneres und Finanzen. Im aktuellen Bericht, Preußentum, Militarismus, Nazismus und Zentralismus der Anfang April 2014 dem Bundestag vorgelegt wurde, identifiziert wurde. Dennoch blieb die geteilte Stadt lange beklagt das Finanzministerium „Erschwernisse und Zeit für viele Deutsche ein zentraler Orientierungspunkt Reibungsverluste“, die wegen der Aufteilung der

und Symbol der Freiheit im Kalten Krieg. Gerade der spä- 15 Ministerien zwischen Berlin und Bonn nicht ganzlich ver-

25 tere Bundeskanzler Willy Brandt wurde nicht müde, Berlin meidbar seien. fortwährend zur rechtmäßigen Hauptstadt zu erklären. Weit uber die Halfte der „Teilungskosten“ entfallt auf Bis in die 1960er-Jahre hinein wurde der Provisoriums- den Beamten-Shuttle per Flug und Bahn. Immerhin hat Charakter Bonns gegenüber Berlin unaufhörlich betont, die Mahnung der Haushalter im Bundestag an die

eine umfassende Hauptstadtplanung fortwährend ver- 20 Ministerialbehorden, das Pendeln zwischen Bonn und

30 tagt. Andererseits wurde mit dem Bau der Mauer in Berlin Berlin auf ein „zwingend notwendiges Maß“ zu reduzie- die deutsche Teilung zementiert. Die Westdeutschen ar- ren, Fruchte getragen. Wurden 1997 noch 111 300 rangierten sich allmählich mit Bonn. Das Provisorium er- Dienstreisen gezahlt, waren es 2013 nur noch 20 200 weiterte seine Qualitäten. Bonn stand nun auch für das Reisen. Videokonferenzen, Mails und andere Formen der

Wirtschaftswunder, einen funktionierenden Sozialstaat 25 elektronischen Kommunikation trugen dazu bei, den

35 und eine stabile Demokratie, die so viel Flexibilität auf- Shuttle-Verkehr auf ein halbwegs vernunftiges Maß zu wies, Protestbewegungen zu integrieren. Die alte Bundes- beschranken. Jedoch beklagen sich, wie intern zu horen republik galt alsbald als international geachtetes ist, auch Bundesminister uber die Zerrissenheit des Erfolgsmodell. Berlin hingegen rückte allmählich aus dem Regierungshandelns“. Die virtuelle Vernetzung sei ge-

Fokus der Westdeutschen. [...] Mit der Stadt Bonn hinge- 30 wohnungsbedurftig und konne den personlichen Kontakt

40 gen verbanden die Bürgerinnen und Bürger der DDR nicht ersetzen. [...] nichts. Sie blieb auch nach der Einheit für die meisten Die Hauptstädter können getrost davon ausgehen, dass Ostdeutschen die Hauptstadt eines anderen, gleichwohl sich das Berlin-Bonn-Gesetz in den nächsten Jahren weit- demokratisch vorbildlichen Staates. Im Dezember 1989 gehend von selbst erledigt. Und zwar unabhängig davon,

wurde auf einer Montagsdemonstration in Ost-Berlin ein 35 welches Regierungsbündnis aus der nächsten Bundes-

45 Transparent empor gehalten, das in schwarz-rot-goldener tagswahl siegreich hervorgeht. Denn die Zeit ist reif. Nicht Farbe die Fläche des vereinigten Deutschlands zeigt. Die nur logistische Probleme des zweigeteilten Regierungs- Stadt Berlin ist darauf in Form eines Herzens markiert. sitzes und die damit verbundenen Kosten sprechen dafür, Berlin erschien in der DDR als das logische Zentrum eines endlich alle Bundesministerien komplett in der Hauptstadt

50 wiedervereinigten Deutschlands. Ins Herz geschlossen 40 zu haben. Es ist auch so, dass mit jeder neuen Wahlperiode hatten viele Ostdeutsche die Stadt wohl auch nach dem junge Parlamentarier und Regierungspolitiker auf die po- © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten. 3. Oktober 1990 nicht, aber es wurde von vielen wie selbst- litische Bühne treten, denen Bonn als ehemalige Haupt- verständlich erwartet, dass eine gleichberechtigte stadt fremd geworden ist. Vereinigung stattfinden würde und die Bundesrepublik Ulrich Zawatka-Gerlach , Berlin: produktiv unruhig, unverkrampft, eine manchmal chaotische Werkstatt der Einheit. Zit. nach: http://www.bpb. de/geschichte/deutsche-einheit/20-jahre-hauptstadtbeschluss/39728/ aufbruch-in-die-metropole (letzter Aufruf 12.03.2016)

AB_2016_05.indd 7 06.05.2016 09:47:28 NEWSLETTER 8 25 Jahre Hauptstadtbeschluss GESCHICHTE

1. Erstellen Sie eine Tabelle und notieren Sie, wofür die Städte Bonn und Berlin jeweils stehen.

2. Vergleichen Sie die Bundeskanzleramtsgebäude in M1 und 2 und erklären Sie, inwiefern sie die „Bonner“ und die www.klett.de „Berliner“ Republik repräsentieren. 3. Arbeiten Sie heraus, welche Position die Redner in der Debatte vom 20. Juni 1991 jeweils vertreten und welche Argu- mente sie hierfür anführen (M3). 4. Vergleichen und beurteilen Sie die Argumente in der Debatte. 5. Analysieren Sie anhand der Grafik M4 das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier. 6. Arbeiten Sie heraus, welche Symbolik den Städten Bonn und Berlin jeweils von Oliver D’Antonio zugeschrieben wird, und erläutern Sie dies anhand der Geschichte (M5). 7. Erläutern Sie, wie Oliver D’Antonio die politische Entwicklung seit dem Wechsel des Regierungssitzes beurteilt (M5). 8. Arbeiten Sie heraus, welche Position Ulrich Zawatka-Gerlach zum Berlin-Bonn-Gesetz vertritt und nehmen Sie Stel- lung dazu (M6).

Autor: Steffen Barth © GmbH, Ernst Verlag dieser Leipzig Klett Von Druckvorlage 2016. für ist Vervielfältigung den die eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die sind Kopiergebühren abgegolten.

AB_2016_05.indd 8 06.05.2016 09:47:28