Plenarprotokoll 12/200

Deutscher

Stenographischer Bericht

200. Sitzung

Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abge dem Zweiten Gesetz zur Umsetzung des ordneten Dr. 17313A Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- - tumsprogramms (Drucksachen 12/5510, Verzicht der Abgeordneten Dr. Hedda 12/5872, 12/5903, 12/5930, 12/6266, Meseke auf die Mitgliedschaft im Deut- 12/6376) schen Bundestag 17313A Dr. CDU/CSU 17314A Eintritt der Abgeordneten Maria Anna Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU (Erklä Hiebing in den Deutschen Bundestag . 17313A rung) 17315C Erweiterung der Tagesordnung 17313B Dr. Peter Struck SPD (Erklärung) . . . 17316B Hermann Rind F.D.P. 17317 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung des Petra Bläss PDS/Linke Liste 17318A Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu Zusatztagesordnungspunkt 9: dem Gesetz zur Bekämpfung des Miß- Vereinbarte Debatte zur Pflegeversi- brauchs und zur Bereinigung des Steu- cherung errechts- (Mißbrauchsbekämpfungs und Steuerbereinigungsgesetz (Druck- Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU . . 17319C sachen 12/5630, 12/5764, 12/5940, Julius Louven CDU/CSU 17320C 12/6078, 12/6123, 12/6267, 12/6358) Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . 17321 A in Verbindung mit Walter Schöler SPD 17323 A Zusatztagesordnungspunkt 7: Rudolf Dreßler SPD 17323 C Beratung der Beschlußempfehlung des Dr. Heribert Blens CDU/CSU 17324 C Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu Dr. Hermann Otto Sohns F.D.P. 17326B, 17326C dem Ersten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 17327B tumsprogramms (Drucksachen 12/5502, Dr. Gisela Babel F.D.P. 17329 C 12/5871, 12/5902, 12/5929, 12/6266, 12/6375) Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 17331 B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN 17332A, 17335 D Zusatztagesordnungspunkt 8: Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA . 17333A Beratung der Beschlußempfehlung des Rudolf Dreßler SPD 17334 A Ausschusses nach Artikel 77 des Grund gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu Dr. Walter Hitschler F.D.P. (Erklärung) 17335B

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Zusatztagesordnungspunkt 10: Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 17352 B Beratung der Beschlußempfehlung des SPD 17352 C Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu DIE GRÜNEN 17352 D dem Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit Dr. SPD 17354 D (Pflege-Versicherungsgesetz) (Druck- Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 17356D sachen 12/5262, 12/5617, 12/5761, Gerhart Rudolf Baum F D P 17358A 12/5891, 12/5920, 12/5952, 12/6094, 12/6424) Dr. Ulrich Janzen SPD 17359 C Dr. Roswitha Wisniewski CDU/CSU . . 17361A in Verbindung mit Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions Zusatztagesordnungspunkt 11: los 17362 B Beratung der Beschlußempfehlung des Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 17363 B Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu Tagesordnungspunkt 17: dem Entgeltfortzahlungsgesetz (Druck- Beratung der Beschlußempfehlung und sachen 12/5263, 12/5616, 12/5760, des Berichts des Ausschusses für Frauen 12/5772, 12/5798, 12/5906, 12/6425) 17336A und Jugend zu dem Entschließungs- Namentliche Abstimmung 17336B antrag der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/ Ergebnis 17337 D DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Hanna Zusatztagesordnungspunkt 12: Wolf, weiterer Abgeordneter und der Beratung der Beschlußempfehlung und Fraktion der SPD: Lage der Frauen- des Berichts des Auswärtigen Ausschus- und Mädchenhäuser und gesetzgeberi- ses zu der Unterrichtung durch die Bun- - scher Handlungsbedarf (Drucksachen desregierung: Bericht der Bundesregie- 12/2243, 12/3909, 12/4623, 12/5347) . 17364B rung fiber das Planungs- und Genehmi- gungsverfahren bei Baumaßnahmen im Tagesordnungspunkt 18: Bereich deutscher Schulen im Ausland Beratung der Beschlußempfehlung und (Drucksachen 12/4069, 12/6294) . . 17336C des Berichts des Ausschusses für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zusatztagesordnungspunkt 13: zu dem Antrag der Abgeordneten Beratung des Antrags der Fraktionen Dr. Klaus Kübler, Friedhelm Julius Beu- der CDU/CSU und F.D.P.: Förderung cher, weiterer Abgeordneter und der der beruflichen Weiterbildung (Druck- Fraktion der SPD: Hilfen zur Stillegung sache 12/6426) der RBMK-Reaktoren in Rußland, der Ukraine und Litauen (Drucksachen Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 12/4783, 12/6356) 17364 C (Erklärung nach § 31 GO) . . 17336D, 17337 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU (Erklärung Nächste Sitzung 17365 C nach § 31 GO) 17336D, 17337 A Dr. Peter Struck SPD (Erklärung nach § 31 Anlage 1 GO) 17337 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . 17366* A Tagesordnungspunkt 16: Anlage 2 Beratung der Großen Anfrage der Abge- ordneten Freimut Duve, Evelin Fischer Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten (Gräfenhainichen), Ingrid Becker-Ing- Arne Fuhrmann (SPD) zur Abstimmung lau, weiterer Abgeordneter und der über die Beschlußempfehlung des Vermitt- Fraktion der SPD: Lage der Kultur lungsausschusses zu dem Zweiten Gesetz in den neuen Ländern (Drucksache -zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs 12/4399) und Wachstumsprogramms (Zusatztages- ordnungspunkt 8) 17367* A Freimut Duve SPD 17340A Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU 17342D, 17352 A Anlage 3 Wolfgang Lüder F.D.P. 17343 D Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 17344 D (Fürth) (F.D.P) zur Abstim- F.D.P. 17345 D mung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Ersten Dr. PDS/Linke Liste . . 17348C Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsoli- Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ dierungs- und Wachstumsprogramms (Zu- DIE GRÜNEN 17350B satztagesordnungspunkt 7) 17367* B

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Anlage 4 CDU/CSU 17370* C Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Dr. Edith Niehuis SPD 17372* B nungspunkt 16 (Große Anfrage zur Lage der Kultur in den neuen Ländern) Dr. Sigrid Semper F D P 17374* D Dr. Helga Otto SPD 17367* C Petra Bläss PDS/Linke Liste 17375* D , Parl. Staatssekretärin Anlage 5 BMFJ 17376* C Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- tion der SPD zur Großen Anfrage: Lage der Anlage 7 Kultur in den neuen Ländern (Tagesord- nungspunkt 16) Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 18 (Antrag: Hilfen zur Dr.-Ing. Rainer Jork, Dr. Roswitha Wis- Stillegung der RBMK-Reaktoren in Ruß- niewski, , Dr. Dietrich land, der Ukraine und Litauen) Mahlo (alle CDU/CSU) 17368* D Dr. Klaus Kubier SPD 17377* C CDU/CSU 17369* A Klaus Harries CDU/CSU 17378* C Anlage 6 Gerhart Rudolf Baum F D P 17379* A Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister nungspunkt 17 (Lage der Frauen- und Mäd- BMU 17379* D chenhäuser und gesetzgeberischer Hand- lungsbedarf) Anlage 8 Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ - NEN 17369* B Amtliche Mitteilungen 17380* C

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200. Sitzung

Bonn, den 10. Dezember 1993

Beginn: 9.01 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 9. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) und Kollegen, ich eröffne die 200. Sitzung des zu dem Entgeltfortzahlungsgesetz — Drucksachen 12/5263, 12. Deutschen Bundestages. 12/5616, 12/5760, 12/5772, 12/5798, 12/5906, 12/6425 —

An diesem Tag feiert Kollege Dr. Alfred Dregger 10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des seinen 73. Geburtstag. Ich spreche ihm die besten Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu der Unterrich- Glückwünsche des Hauses aus. tung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregie- rung über das Planungs- und Genehmigungsverfahren bei (Beifall) Baumaßnahmen im Bereich deutscher Schulen im Ausland — Drucksachen 12/4069, 12/6294 — Sodann teile ich Ihnen mit, daß die frühere Kollegin Dr. Hedda Meseke am 6. Dezember 1993 auf ihre 11. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet F.D.P.: Förderung der beruflichen Weiterbildung — Druck- hat. Als ihre Nachfolgerin hat die Abgeordnete Maria sache 12/6426 — Anna Hiebing am 8. Dezember 1993 die Mitglied- Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist es so schaft im Deutschen Bundestag erworben. beschlossen. (Beifall) Ich begrüße die neue Kollegin — sie kommt aus der Landwirtschaft — ganz herzlich. Ich rufe die Zusatzpunkte 6 bis 8 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereini- der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. gung des Steuerrechts (Mißbrauchsbekämp- 6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach fungs- und Steuerbereinigungsgesetz — Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu StMBG) dem Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (Mißbrauchsbekampfungs- — Drucksachen 12/5630, 12/5764, 12/5940, und Steuerbereinigungsgesetz — StMBG) — Drucksachen 12/5630, 12/5764, 12/5940, 12/6078, 12/6123, 12/6267, 12/6078, 12/6123, 12/6267, 12/6358 — 12/6358 — Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heribert Blens 7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidie- ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des rungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) — Drucksa- Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- chen 12/5502, 12/5871, 12/5902, 12/5929, 12/6266, gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem 12/6375 — Ersten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, 7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu (1. SKWPG) dem Zweiten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidie- rungs- und Wachstumsprogramms (2. SKWPG) — Drucksa- — Drucksachen 12/5502, 12/5871, 12/5902, chen 12/5510, 12/5872, 12/5903, 12/5930, 12/6266, 12/6376 — 12/5929, 12/6266, 12/6375 — Berichterstattung: 7. Vereinbarte Debatte zur Pflegeversicherung Abgeordneter Dr. Heribert Blens 8. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- dem Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz — Pfle- geVG) — Drucksachen 12/5262, 12/5617, 12/5761, 12/5891, (Vermittlungsausschuß) zu dem Zweiten 12/5920, 12/5952, 12/6094, 12/6424 — Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Kon- 17314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth solidierungs- und Wachstumsprogramms Für ältere Langzeitarbeitslose sollte sich an den (2. SKWPG) Bezug des Arbeitslosengeldes von rund drei Jahren — Drucksachen 12/5510, 12/5872, 12/5903, ebenfalls zwei Jahre Arbeitslosenhilfe anschließen. 12/5930, 12/6266, 12/6376 — Insgesamt sollte also bei älteren Langzeitarbeitslosen der Unterhalt etwa fünf Jahre lang von der Bundesan- Berichterstattung: stalt finanziert werden. Nach Ablauf dieser Zeit sollte Abgeordneter Dr. Heribert Blens dann die Sozialhilfe, die von den Kommunen zu Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — erbringen ist, die Unterhaltsleistungen übernehmen. Das ist der Fall. Herr Dr. Blens! Der Vermittlungsausschuß schlägt nun vor, die Begrenzung der Zahlung von Arbeitslosenhilfe im Anschluß an das Arbeitslosengeld auf die Dauer von Dr. Heribert Blens (CDU/CSU): Frau Präsidentin! zwei Jahren aufzuheben. Das heißt, Arbeitslosenhilfe Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsaus- wird wie bisher weiter ohne zeitliche Begrenzung schuß hatte bei diesen Gesetzen, insbesondere bei gezahlt, den beiden Spargesetzen, eine Anzahl außergewöhn lich weitgehender Forderungen des Bundesrates auf ( [SPD]: Sehr vernünftig!) dem Tisch liegen. Ich will Ihnen das einmal kurz so daß es insoweit keine neue Belastung der Kommu- vorlesen, damit Sie wissen, worum es ging. Der nen dadurch gibt, daß sie wegfallende Arbeitslosen- Bundesrat hatte unter Berufung auf seinen Finanzaus- hilfe durch zusätzliche Sozialhilfeleistungen ersetzen schuß folgendes gefordert — ich zitiere aus dem müßten, wie es nach dem Bundestagsbeschluß der Protokoll des Finanzausschusses —: Im wesentlichen Fall gewesen wäre. sind folgende Maßnahmen der Spargesetze zurückzu- Die sogenannte originäre Arbeitslosenhilfe für nehmen: die Kürzung des Arbeitslosengeldes, die Arbeitslose, die vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit Kürzung der Arbeitslosenhilfe und deren Befristung nicht in einem versicherungspflichtigen Arbeitsver- auf zwei Jahre, die Kürzung des Unterhaltsgeldes, die hältnis gestanden haben oder die nach sehr kurzer Kürzung des Übergangsgeldes, die Kürzung des Kurz- versicherungspflichtiger Tätigkeit noch keinen arbeiter- und Schlechtwettergeldes, die Nichterstat- - Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld haben, wird auf tung der Mutterschaftspauschale an die gesetzlichen die Dauer eines Jahres beschränkt. Das ist eine Krankenversicherungen, die Nichtanpassung des Verschlechterung für die Arbeitslosen gegenüber BAföG an die gestiegenen Lebenshaltungskosten und dem Bundestagsbeschluß; denn nach dem Bundes- Anrechnung des Kindergeldes beim BAföG, die tagsbeschluß wäre auch die originäre Arbeitslosen- Nichtanpassung der Sozialhilfe im Zeitraum 1. Juli hilfe für zwei Jahre zu zahlen gewesen. 1994 bis 30. Juni 1995, die höhere Kostenbeteiligung der Zivildienststellen, die generelle Verpflichtung der (Hermann Rind [F.D.P.]: Das ist sinnvoll! Das Kommunen, für alle Sozialhilfeempfänger Gelegen- wurde von Mischnick durchgesetzt!) heiten zu gemeinnütziger Arbeit zu schaffen. Lassen Sie mich zur Bewe rtung etwas sagen. Tatsa- Meine Damen und Herren, wenn der Vermittlungs- che ist: Für Langzeitarbeitslose hätte sich durch den ausschuß dem gefolgt wäre, dann wäre von den Bundestagsbeschluß, was die Höhe der Leistungen Spargesetzen nichts mehr übriggeblieben, außer angeht, im wesentlichen nichts geändert, und zwar einem: der Erhöhung der Mineralölsteuer zum 1. Ja- deshalb nicht, weil Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe nuar 1994. Ich denke, für einen Ausschuß, der Kom- der Höhe nach in etwa gleich sind. In Ostdeutschland promisse zwischen den Beschlüssen des Bundestages ist die Sozialhilfe sogar weitgehend höher als die und des Bundesrates zu suchen hat, wäre das völlig Arbeitslosenhilfe, weil in ostdeutschen Ländern die unakzeptabel gewesen. Sozialhilfe den westdeutschen St andard fast erreicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. hat, während die Löhne und Gehälter, an denen sich — Gerd Andres [SPD]: Das ist wirklich eine die Arbeitslosenhilfe orientiert, noch erheblich unter tolle Logik!) dem westdeutschen Niveau liegen. —Kompromiß heißt immer gegenseitiges Nachgeben. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Bun- Das ist das Wesen des Kompromisses, ob einem das destagsbeschluß und dem, was der Vermittlungsaus- nun gefällt oder nicht. schuß vorschlägt, liegt also nicht in der Höhe der Leistungen für die Leistungsbezieher, sondern der Wir haben deshalb einen Kompromiß gesucht und entscheidende Unterschied besteht darin, wer der gefunden, wobei aus dem großen Katalog des Bundes- Zahlungspflichtige ist. Bei der Arbeitslosenhilfe zahlt rates drei Punkte herausgenommen und dazu Rege- der Bund, bei der Sozialhilfe hätten die Gemeinden lungen vorgeschlagen worden sind, die vom Bundes- gezahlt. Wir schlagen jetzt vor, das wieder seitens des tagsbeschluß abweichen. Bundes zu übernehmen. Zum ersten Spargesetz haben wir folgendes gesagt. Meine Damen und Herren, im Kern geht es bei Der Bundestag hatte die Begrenzung der Arbeitslo- dieser Auseinandersetzung um einen Finanzstreit senhilfe auf die Dauer von zwei Jahren beschlossen. zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Das hängt Das heißt, bei jüngeren Langzeitarbeitslosen sollte nun einfach damit zusammen, daß in der derzeitigen nach einem Jahr Arbeitslosengeld zwei Jahre Arbeits- Situation die Finanzdecke für den Staat insgesamt, für losenhilfe von der Bundesanstalt gezahlt werden. Das Bund, Länder und Gemeinden, erstens immer dünner heißt, insgesamt sollte drei Jahre lang bei jüngeren und zweitens immer kleiner wird. Langzeitarbeitslosen der Unterhalt von der Bundesan- stalt finanziert werden. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Kürzer!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17315

Dr. Heribert Blens Unter dieser immer dünneren und immer kleineren Aber es ist auch niemand zu 100 % unzufrieden. Das Decke liegen der Bundesfinanzminister, Länderfi- ist der Vorteil der anderen Seite. Ich glaube, entschei- nanzminister und Kämmerer. Wenn es dem Bundesfi- dend ist, daß es gelungen ist, zu verhindern, daß das nanzminister gelingt, sich ein Stück der Decke her- Sparpaket, von dem der Haushalt 1994 abhängt, an überzuziehen, dann erfriert dem Kämmerer der Hin- einer Zweidrittelmehrheit des Bundesrates am 17. De- tern, und das hat er nicht gerne. Das ist die Situa- zember scheitert. Das drohte, und das ist verhindert. tion. Es ist durch den Kompromiß, wenn er heute angenom- men wird, sichergestellt, daß Einsparungen in Höhe (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und von 20,6 Milliarden DM sicher über die Bühne gehen der F.D.P.) und damit der Haushalt 1994 gefahren werden Meine Damen und Herren, wir haben im Vermitt- kann. lungsausschuß die Decke mm wieder ein Stückchen in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Richtung der Kämmerer gezogen, mit entsprechend negativen Folgen für den Bundesfinanzminister. — Das ist das, was wir zum ersten Spargesetz vorschla- Nach der Geschäfts- gen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: ordnung ist jetzt eine Aussprache nicht zulässig. Beim zweiten Spargesetz geht es u. a. um den Vielmehr geben die Vertreter der einzelnen Fraktio- Anstieg der Regelsätze der Sozialhilfe. Nach dem nen und Gruppen Erklärungen ab. Es beginnt die Bundestagsbeschluß sollten die Regelsätze, begin- größte Fraktion. nend mit dem 1. Juli 1993, im ersten Jahr nur um 2 %, Herr Dr. Rüttgers! im darauffolgenden Jahr, von Mitte 1994 bis Mitte 1995, um 0 % und im dritten Jahr uni bis zu 3 angepaßt werden. Wir haben das insofern geändert — und empfehlen Ihnen Zustimmung dazu —, als wir Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! in allen drei Jahren eine Steigerung von 2 % zulassen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist das wollen, allerdings mit einer Einschränkung: Wir größte Sparpaket, das in dieser Legislaturpe riode geschnürt worden ist, haben dazugesagt — das ist im Gesetzentwurf so - formuliert —, daß die Sozialhilfe auch innerhalb (Hermann Rind [F.D.P.]: Überhaupt in der dieses Rahmens von 2 % auf keinen Fall stärker Bundesrepublik!) ansteigen darf als die Nettolöhne und -gehälter. Wenn das heute hier abschließend behandelt wird. Ich will Sie bedenken, daß wir nicht ausschließen können, daß ganz zu Beginn sagen, daß ich froh darüber bin, Nettolöhne und -gehälter in den nächsten Jahren um 0 % steigen, dann heißt das, daß auch die Sozialhilfe (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Daß die nur um 0 % ansteigen kann. Es ergibt sich also kleinen Leute mehr zahlen dürfen!) gegenüber dem Bundestagsbeschluß möglicherweise daß es möglich geworden ist, im Vermittlungsaus- überhaupt keine Veränderung. Das muß man der schuß einen Kompromiß zu erzielen. Das heißt kon- Ehrlichkeit halber natürlich dazusagen. kret, daß die Mehrheit der SPD-geführten Länder dem Es ging noch um einen weiteren Punkt, zu dem wir Kompromiß im Vermittlungsausschuß zugestimmt einen Vorschlag machen, nämlich um die Verpflich- hat. tung der Sozialhilfeempfänger zu gemeinnützigen (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Arbeiten. Diese Verpflichtung bleibt uneinge- Es ist einfach bei denjenigen in der SPD, die in schränkt erhalten. Es ändert sich nur eines, nämlich Regierungsverantwortung stehen, deutlich gewor- die bedingungslose Verpflichtung der Kommunen, für den, daß es nicht nur um Sparen und Konsolidierung Sozialhilfeempfänger auch Arbeitsplätze zur Verfü- geht, sondern vor allen Dingen um Wachstum und gung zu stellen. Die Kommunen haben — ich meine: neue Arbeitsplätze durch Konsolidierung und durch mit vernünftigen Argumenten —, unterstützt von den Sparen. kommunalen Spitzenverbänden, darauf hingewiesen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß es ihnen nicht ohne jede Bedingung möglich ist, diese Arbeitsplätze zu schaffen und zur Verfügung zu Meine Damen und Herren, deshalb finde ich es stellen. Ich denke, diesen vernünftigen Argumenten unverständlich, daß die SPD-Fraktion gleich dem galt es Rechnung zu tragen. Deshalb haben wir aus wichtigsten Spargesetz nicht zustimmen wi ll. der strikten Muß-Vorschrift des Gesetzes eine Soll- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist unglaublich! — Vorschrift gemacht. „Sollen" heißt nach der Recht- Zurufe von der SPD) sprechung, daß m an in der Regel so verfahren muß. Aber „in der Regel" bedeutet, daß es auch Ausnah- Auf der einen Seite für Steuererhöhungen, aber auf men gibt. der anderen Seite gegen Sparen zu sein mag zwar sozialdemokratischer Tradition entsprechen, aber es Meine Damen und Herren, insgesamt: Es ist ein hilft nicht unserer Wirtschaft, es hilft nicht den Men- Kompromiß. Ich sagte eben schon, daß ein Kompromiß schen, die heute nach Arbeit suchen. durch gegenseitiges Nachgeben zustande kommt. Bei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — gegenseitigem Nachgeben ist niemand zu 100 % Detlev von Larcher [SPD]: Das sagen wir gar zufrieden. nicht! — Weitere Zurufe von der SPD) (Ina Albowitz [F.D.P.]: Glücklich auch — Sie können hier schreien, soviel Sie wollen: Zwi nicht!) schen Ihren Reden auf den Parteitagen und Ihrem 17316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Jürgen Rüttgers Handeln gibt es eine Glaubwürdigkeitslücke, die von Arbeitnehmer in den letzten Jahren erkämpft Tag zu Tag größer wird. haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der [Köln] [SPD]: Sie verdrehen die CDU/CSU) Tatsachen! — Weitere Zurufe von der SPD) Herr Kollege Rüttgers, wenn Sie glauben, daß m an mit Ich frage Sie, meine Damen und Herren, und gerade diesem Sozialabbau unsere Wirtschaft sanieren diejenigen, die hier so laut rufen: Wie l ange wollen Sie könnte, zu Lasten der Bauarbeiter, denen das denn eigentlich noch mit gespaltener Zunge reden? Schlechtwettergeld gestrichen wird, zu Lasten der (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Wie lange Arbeitslosenhilfeempfänger, der Sozialhilfeempfän- wollen Sie noch demontieren? — Weitere ger, dann sage ich Ihnen: Dazu werden Sie nie auch Zurufe von der SPD) nur eine einzige Stimme von der sozialdemokrati- schen Bundestagsfraktion bekommen. Ihre Sparbekenntnisse sind Lippenbekenntnisse. Jede Mark, die die Koalition einspart, muß gegen (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Da habt Ihr Ihren Widerstand durchgesetzt werden. doch mitgemacht! Ist der Lafontaine kein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Sozialdemokrat?) Peter Conradi [SPD]: Er muß eine Erklärung Meine Damen und Herren aus der Koalition, wir abgeben! Es ist keine Aussprache vorgese- haben anstrengende Sitzungen im Vermittlungsaus- hen!) schuß gehabt. Die Art und Weise, wie Herr Rüttgers Sie beklagen, daß die Abgaben und die Arbeitsko- hier geredet hat, ist nicht unser Stil im Vermittlungs- sten zu hoch seien, Sie sind aber nicht bereit, im ausschuß. Da geht es vornehmer zu. Sozialbereich Einsparungen vorzunehmen. Das paßt (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Gott sei Dank!) einfach nicht zusammen. In der Sache betone ich: Wir Sozialdemokraten haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — gefordert — und im Gegensatz zu Ihren unwahren Zurufe von der SPD) Behauptungen hier, Herr Kollege Rüttgers, auch Sie sagen, die Steuern seien zu hoch, und fordern- Finanzierungsvorschläge für unsere Forderungen tatsächlich nichts anderes, als jeden Tag eine neue gemacht —, Steuer zu erhöhen. (Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) [CDU/CSU]: Steuererhöhungen!) Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit, das daß weder das Arbeitslosengeld noch die Arbeitslo- ist die Widersprüchlichkeit Ihres Handelns. Deshalb senhilfe gekürzt wird, daß das Schlechtwettergeld finde ich die Ablehnung des wichtigsten Spargesetzes nicht gekürzt wird und nicht gestrichen wird. Wir durch die SPD-Opposition blamabel. haben erreicht — darauf sind wir stolz —, daß Arbeits- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Mehr als blamabel!) losenhilfeempfänger niemals in die Sozialhilfe fal- len. Die CDU/CSU-Fraktion ist nicht froh über diesen (Beifall bei der SPD) Kompromiß — wir hätten noch mehr sparen kön- nen —, wir werden ihm aber zustimmen, weil dies Das ist nur uns und unserem Einsatz zu verdanken. wichtig ist für die Konsolidierung, für Wachstum und Ich habe Ihnen in inoffiziellen und in offiziellen für neue Arbeitsplätze. Gesprächen immer gesagt: Wenn es Finanznöte gibt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — die niemand bestreitet, dann tragen aber nicht wir die Gerd Andres [SPD]: So ein Wadenbeißer! — Verantwortung dafür, sondern der Herr Grünewald Weiterer Zuruf von der SPD: Endzeitbrülle- oder sein Chef, der Herr Waigel. Das wollte ich hier rei! ) noch einmal sagen. Wer macht denn die ganze Zeit a ll die Schulden? (Beifall bei der SPD — Ing rid Matthäus Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Maier [SPD]: Wo ist der Waigel denn?) der Kollege Dr. Peter Struck. Wir haben gesagt: Warum haben Sie nicht den Mut (Rudolf Dreßler [SPD]: Zum Rücktritt!) Dr. Peter Struck (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Beitrag des Kollegen Rütt- — den auch, ja; warum haben Sie nicht den Mut gers sprach für sich. zurückzutreten? —, den Solidarzuschlag, der ab 1. Ja- nuar 1995 die Steuerzahler wieder belasten soll, um (Beifall bei der SPD — Beifall bei der CDU/ ein Viertel- oder ein halbes Jahr vorzuziehen? Denn CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) dann bräuchten Sie die gesamten sozialen Schweine- Diese Art der Polemik ist mir völlig fremd. reien, die Sie jetzt vorhaben, nicht zu machen. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) Ich werde nur sachlich argumentieren. Warum soll es nicht möglich sein, insbesondere Ich weise darauf hin, daß das sogenannte erste diejenigen, die von ihrer finanziellen Situation her Spargesetz kein Spargesetz ist, sondern ein Gesetz mit können, solidarisch zu beteiligen? Es geht um eine dem Abbau sämtlicher sozialer Rechte, die sich Verhinderung von Sozialabbau, und deshalb wird die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17313

Dr. Peter Struck SPD-Bundestagsfraktion dem ersten Spargesetz nicht Gemeinden das zu geben, was den Gemeinden zustimmen. zusteht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Wir haben den Umsatzsteueranteil der Länder um der Kollege Hermann Rind. sieben Punkte verbessert mit dem Ziel, daß sie ihre Kommunen ausstatten können.

Hermann Rind (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Kolleginnen und Kollegen! Das, was der Herr Struck Ich will es so sagen: Die L ander — und zwar die hier gerade vorgeführt hat, ist wieder einmal das SPD-Länder in vorderster Front — haben hier keine typische Verschleierungsmanöver der SPD. Gelegenheit ausgelassen, ihre Mehrheit im Bundesrat (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — auszunutzen, um den Bund auszuplündern. Die Beute Widerspruch bei der SPD) haben die Länder allerdings selbst behalten und nicht Er sagt: Hättet ihr den Solidaritätszuschlag ein halbes mit den Kommunen geteilt. Jahr früher eingeführt, dann hätten wir all diese (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Maßnahmen nicht gebraucht. Herr Struck, Sie glau- ten der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: ben dieses Geschwätz doch selbst nicht. Unerhört!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Meine Damen und Herren, es wurde hier noch kein ten der CDU/CSU) Wort zum Steuerbereinigungsgesetz gesagt. Deswe- Das wäre ein einmaliger Effekt mit Mehreinnahmen gen will ich hier noch kurz anmerken, daß alle für ein halbes Jahr gewesen. Dagegen wären gestan- ideologisch verbrämten Vorhaben der SPD geschei- den: dauerhafte Verpflichtungen beim Bund und eine tert sind. Aufgabe des Sparprogramms. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ja, schön! — Hans (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die größten Ideo Seien Sie in diesem Punkt doch wenigstens ehrlich. - logen sind die Freien Demokraten!) Abgesehen davon, Herr Struck, haben Sie ja noch — Wenn Sie so laut schreien, Herr Büttner, will ich andere Vorschläge gemacht, nämlich die Mineralöl- Ihnen das an drei Beispielen deutlich machen. steuer noch über die 16 Pfennige hinaus zu erhöhen, die wir für die Bahnreform benötigen. Sie wollten noch Erstes Beispiel. Die 80 000-DM-Grenze für Pkw mehr draufsatteln ohne Rücksicht auf die konjunktu- wirkt arbeitsplatzvernichtend bei Daimler-Benz und relle Lage und die Wirtschaftslage im Jahr 1994; die bei BMW. Wollen Sie das? Offensichtlich ja. scheint Sie überhaupt nicht zu interessieren. (Widerspruch bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich finde, daß es hier Zweites Beispiel. Streichung der Abzugsfähigkeit auch zum ehrlichen Umgang gehört zu sagen, daß die von Bewirtungskosten. Wir haben hier aufgenom- Belastung der Arbeitslosenversicherung mit der men, wozu wir stehen: Mißbrauchsbekämpfung in Arbeitslosenhilfe praktisch auf Lebenszeit — wenn wirksamer Weise. Ich will das nicht weiter ausfüh- einer ein Leben lang nicht mehr ins Arbeitsleben ren. zurückfindet — nicht Aufgabe der Arbeitslosenversi- (Zuruf von der SPD: Ist auch besser so!) cherung ist, sondern des unteren Sozialsicherungssy- stems, der Sozialhilfe. Nur, das muß ich Ihnen schon sagen: Wenn Ihre (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Vorstellungen Platz gegriffen hätten, hätten Sie Zig Widerspruch bei der SPD — Anke Fuchs tausende Arbeitsplätze in der Gastronomie vernich- [Köln] [SPD]: So denken Sie! Das ist tet. typisch!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Wir wollen hier ganz ehrlich miteinander diskutieren. Widerspruch bei der SPD) Die Arbeitslosenversicherung hat nicht die Aufgabe Drittes Beispiel. Ich sage Ihnen auch etwas zu dem zu übernehmen, für den betroffenen Personenkreis Reizwort „hauswirtschaftliche Beschäftigungsver- praktisch lebenslänglich einzutreten. hältnisse". (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Anke (Zuruf von der SPD: Der macht sich doch Fuchs [Köln] [SPD]: Sie sollten sich schä- lächerlich!) men!) Das sind Beiträge der Beitragszahler, die hier auf dem Mittlerweile gibt es einen breiten Konsens — nur nicht Spiel stehen. innerhalb der SPD —, daß mit der Abzugsfähigkeit für Familien mit Kleinkindern und für Familien mit Behin- Es geht hier um die Frage der Ebenenverschiebung, derten bei sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- ob diese Belastungen vom Bund auf die Gemeinden gungsverhältnissen reguläre Arbeitsverhältnisse ge- verlagert werden können. Da sage ich Ihnen: Wenn sichert werden. Sie wollten auch das abschaffen. Sie sich heute bei den Gemeinden hochfeiern lassen wollen, dann seien Sie bitte auch ganz ehrlich und (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Det geben Sie zu, daß der Bund den Ländern in den letzten lev von Larcher [SPD]: Sie argumentieren Jahren mehrfach die Möglichkeit gegeben hat, den ideologisch!) 17318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Hermann Rind Meine Damen und Herren, hier wird eine Debatte bedingten Lasten keinesfalls beseitigt, sondern mit unter dem Vorzeichen des Sozialen geführt. In Wirk- der Rücknahme der ursprünglich geplanten Senkung lichkeit stecken Maßnahmen dahinter, die alles des Beitrages für die Arbeitslosenversicherung noch andere als sozial sind und Arbeitsplätze vernichten. verschärft wird. Durch die Beibehaltung des Beitrags- Zu den Spargesetzen. Wir haben eine neue Bela- satzes für die Bundesanstalt für Arbeit wird den stung des Bundes, mit der wir fertig werden müssen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Das ist eine schwere Aufgabe, eine schwere Hypothek Arbeitgebern allein im kommenden Jahr ein einseiti- für uns. Deswegen fällt es uns nicht leicht, unter ges Sonderopfer von 2,5 Milliarden DM aufgebürdet. diesem Aspekt den Beschlüssen des Vermittlungsaus- Der Vermittlungsausschuß hat die Ch ance leider nicht schusses zuzustimmen. Wir tun dies jedoch im genutzt, die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung Bewußtsein, daß wir insgesamt ein Sparvolumen von einheitsbedingter Lasten zu beseitigen. deutlich über 20 Milliarden DM, fast 23 Milliarden Die für die Sozialhilfe vorgesehene Regelung wird DM, erhalten haben. Deswegen wird die F.D.P.- zu einer realen Absenkung des Existenzminimums Fraktion zustimmen. führen. Vom Bedarfsdeckungsprinzip als einem zen- Vielen Dank. tralen Element des Bundessozialhilfegesetzes wird (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) damit Abstand genommen. Die Einführung der ohnehin entwürdigenden Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzte spricht Arbeitspflicht ins BSHG stellt eine weitere Verschär- Frau Blass. fung der Lage der Sozialhilfeberechtigten in diesem Lande dar. Davon, daß Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger — so Herr Kollege Dreßler — nun Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! nicht hinten runterrutschen, kann also absolut keine Meine Damen und Herren! Nicht nur die Gewerk- Rede sein. schaften sind enttäuscht über den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Mit der Entscheidung, die Arbeitslosenhilfe nicht Bundesrat zum Steuerbereinigungsgesetz und zum auf zwei Jahre zu begrenzen und den Sozialhilfebe- Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm. rechtigten far 1995 keine Nullrunde zu verordnen, Auch wenn von einigen der geplanten einschneiden- - haben sich die Regierungsparteien im Vermittlungs- den Kürzungen wieder Abstand genommen wurde, ausschuß offensichtlich dem Druck der Kommunen und ihrer vernichtenden Kritik an gehen die Einschnitte nach wie vor eindeutig zu der Bonner Sparpo- Lasten der sozial Schwachen in diesem Lande, der litik gebeugt; gewiß ein Erfolg für sie, aber nur ein Empfängerinnen und Empfänger der Leistungen der Tropfen auf den heißen Stein. Denn trotz des Kompro- Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsmarktpoli- misses im Vermittlungsausschuß bleibt beim Sparpa- tik. Wie man das, Herr Kollege Struck, als eine — ich ket nämlich das Grundproblem der zunehmenden zitiere Sie — „gute Nachricht für die Bedürftigen in Lastenverteilung vom Bund auf die Kommunen. der Bundesrepublik" bezeichnen kann, ist mir völlig Vor allem durch die Kürzungen bei den Lohnersatz- unverständlich. leistungen kommen durch das Sparpaket in seiner Von den geplanten Kürzungen im Haushalt der jetzigen Form nach Einschätzung des Deutschen Bundesanstalt für Arbeit wurde nichts zurückgenom- Landkreistages ab 1994 finanzielle Lastenverlagerun- men. Nahezu alle Leistungen im beitragsfinanzierten gen vom Bund auf die kommunalen Sozialhilfeetats in System werden gekürzt. Dies reicht von der Absen- einem Umfang von jährlich ca. 2 Milliarden DM kung des Arbeitslosengeldes, des Kurzarbeitergeldes, zustande. Damit werden die ohnehin gewaltigen des Eingliederungsgeldes und der Eingliederungs- Belastungen der Kommunen durch die Sozialhilfe hilfe bis zu der Absenkung des Unterhaltsgeldes, der vom Bund zusätzlich in die Höhe getrieben, und die Verschärfung der Sperrzeitregelung und der Ver- Gefahr des sozialen und finanziellen Kollapses der schlechterung des Bemessungszeitraumes für die Kommunen ist keineswegs gebannt. Ermittlung von Lohnersatzleistungen. Mit etwa 3 Milliarden DM Mehrausgaben soll das Mit dem Abbau des Schlechtwettergeldes und der weitere Anwachsen der Armut in Deutschl and Umwandlung des Rechtsanspruchs auf berufliche zunächst abgemildert werden, für die SPD offenbar Weiterbildung in eine Kann-Leistung werden gleich- ein ausreichender Grund, den anderen massiven falls zentrale Elemente des Arbeitsförderungsgeset- Sozialkürzungen zuzustimmen. Und auch wenn die zes gefährdet. 20,6 Milliarden DM werden nach wie SPD heute hier nein sagt, ist bereits signalisiert vor zu Lasten von Arbeitslosen, Kurzarbeitenden, worden, daß es eine satte Mehrheit im Bundesrat für Umschülerinnen und Umschülern, Bezieherinnen und den faulen Kompromiß geben wird. Es bleibt zu Beziehern von Eingliederungshilfen und Zivildienst- hoffen, meine Damen und Herren, daß dieser parla- leistenden eingespart. mentarischen Kungelei wenigstens außerparlamenta- Herr Blens, ich bin entsetzt, daß in Ihrer Rede nicht risch ein entschiedener Widerstand entgegengesetzt ein einziges Mal das Wo rt „Betroffene", oder „Men- wird. schen" vorkam. Es geht in der Tat nicht nur um Zahlen (Hermann Rind [F.D.P.]: Der Vermittlungs bei diesen Gesetzen. ausschuß ist ein Verfassungsorgan, Frau Kol (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Hermann legin, keine Kungelei!) Rind [F.D.P.]: Er hat nur berichtet!) Der DGB hat gestern an uns Abgeordnete appel- Zu Recht spricht der DGB davon, daß zudem die liert, aus sozialstaatlicher und finanzpolitischer Ver- soziale Schieflage bei der Finanzierung der einheits antwortung diesem die wirtschaftlichen und sozialen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17319

Petra Blass Probleme verschärfenden Programm zur Umsetzung Ich weise darauf hin, daß die Beschlußempfehlun- des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsgesetzes gen des Vermittlungsausschusses zum Pflege-Versi- auch nach dem faulen Kompromiß des Vermittlungs- cherungsgesetz und zum Entgeltfortzahlungsgesetz ausschusses nicht zuzustimmen. Die PDS/Linke Liste als nächste Tagesordnungspunkte aufgerufen wer- ist sich dieser Verantwortung bewußt und sagt nein zu den. Die Abstimmung wird namentlich erfolgen. ihm. Das Wort zur Berichterstattung hat zunächst Herr (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Oh-Rufe Vogt. bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wolfgang Vogt (Düren) (CDU/CSU): Frau Präsiden- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Bläss, trotzdem tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der muß ich noch einmal sagen: Der Vermittlungsaus- Bundesrat hat in allgemeiner Form am 15. Oktober

schuß ist nicht der Ort parlamentarischer Kungelei, 1993 — — sondern der Kompromißfindung. (Unruhe) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Nach dieser Berichterstattung mit Erklärungen leb- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Darf ich kurz um haftesten Debattencharakters kommen wir zur Ab- Unterbrechung bitten? Diejenigen, die den Saal ver- stimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 lassen möchten, tun das bitte jetzt. Dann bitte ich, dem Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, Redner zuzuhören. daß im Deutschen Bundestag über die in den drei Beschlußempfehlungen vorgeschlagenen Änderun- gen jeweils gemeinsam abzustimmen ist. Wolfgang Vogt (Dünen) (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat am 15. Oktober 1993 in Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver- allgemeiner Form zum Entgeltfortzahlungsgesetz und mittlungsausschusses auf Drucksache 12/6358, Miß- am 5. November 1993 zum Pflegeversicherungsgesetz brauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsge- den Vermittlungsausschuß angerufen. Der Vermitt- setz? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die - lungsausschuß hat gestern abschließend beraten. Beschlußempfehlung ist mehrheitlich angenommen bei Gegenstimmen der PDS/Linke Liste, einigen Ihm lag zunächst ein Beschlußentwurf der SPD und Gegenstimmen der SPD und zwei Enthaltungen. der A-Länder vor, der mit Stimmengleichheit abge- lehnt wurde. Danach wurde über einen Beschlußent- Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver- mittlungsausschusses auf Drucksache 12/6375, Erstes wurf der CDU/CSU, der F.D.P. und der B-Länder abgestimmt. Dieser Beschlußentwurf fand die Mehr- -Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs heit im Vermittlungsausschuß. und Wachstumsprogramms? — Gegenprobe! — Ent- haltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen die Beiden Beschlußentwurfen waren viele Teile ge- Stimmen der SPD und PDS/Linke Liste bei einer meinsam. Das war das Resultat der vielen Vorgesprä- Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN che, die außerhalb des Vermittlungsausschusses und angenommen. in ihm zum Entgeltfortzahlungsgesetz und zum Pfle- Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver- geversicherungsgesetz geführt worden sind. Umstrit- mittlungsausschusses auf Drucksache 12/6376, Zwei- ten blieb vor allem eine Frage, nämlich: Wie kann tes- Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs verhindert werden, daß durch die Pflegeversicherung erhöht werden? und Wachstumsprogramms? — Gegenprobe! — Ent- die Lohnzusatzkosten haltungen? — Dazu möchte ich hervorheben: Im Vermittlungsaus- schuß war nicht umstritten, daß kompensiert werden (Hermann Rind [F.D.P.]: Die SPD ist gespal- muß. Nicht das Ob, sondern nur das Wie war umstrit- ten!) ten. Deshalb glaube ich, Frau Kollegin Fuchs, daß es Die Beschlußempfehlung ist mehrheitlich angenom- auch für die weiteren Auseinandersetzungen keinen men bei Gegenstimmen aus der SPD, der PDS/Linke Spielraum mehr für Totschlagargumente wie „Lohn- Liste und einer Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE raub" und anderes gibt. Solche Argumente haben GRÜNEN. deshalb im Vermittlungsausschuß auch keine Rolle Ich gebe noch bekannt, daß Arne Fuhrmann eine gespielt. Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben hat ). — Im Moment wird mir noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge eine Erklärung des Kollegen Norbe rt Eimer vorgelegt, ordneten der F.D.P.) die ebenfalls zu Protokoll gegeben wird **). Ich fasse die Beschlüsse des Vermittlungsausschus- ses zusammen: Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Erstens. Der Vermittlungsausschuß schlägt Lei- Vereinbarte Debatte zur Pflegeversicherung stungsverbesserungen vor. Bei der stationären Pflege Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für soll der Wert der Pflegeleistungen von durchschnitt- die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe lich 2 100 auf 2 500 DM, maximal auf 2 800 DM ich keinen Widerspruch, und wir verfahren so. angehoben werden. Es ist eine Härteklausel für ca. 5 % der Pflegebedürftigen vorgesehen. Sie können

*) Anlage 2 weitere Pflegeleistungen im Wert von 500 DM, also **) Anlage 3 insgesamt monatlich 3 300 DM erhalten. Bei der 17320 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Wolfgang Vogt (Düren) häuslichen Pflege wird der Wert der Pflegeleistungen gerecht geworden ist, zwischen Bundestag und Bun- in der Pflegestufe III von 2 100 auf 2 250 DM angeho- desrat einen tragfähigen Kompromiß zu erarbeiten. ben. Auch für die Stufe III wird eine Härteklausel (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eingeführt, wonach zwei weitere Pflegeeinsätze pro Tag möglich sind, maximaler Wert 3 750 DM. Ich bedanke mich bei allen, die dabei mitgewirkt haben, auch bei denen, die sich mit ihren Vorstellun- Diese Leistungsverbesserungen erfordern 2,35 Mil- gen nicht haben durchsetzen können. liarden DM. Sie sind wesentlich für die Pflegebedürf- Vielen Dank. tigen und die Schwerstpflegebedürftigen in unserer Gesellschaft vorgesehen. Die Mittel für diese Lei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stungsverbesserungen sind vorhanden, weil sich die Beitragseinnahmen gegenüber 1991 entsprechend erhöhen werden. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wir treten jetzt in die Aussprache ein. Als erster spricht der Kollege Ju Zweitens. Der Vermittlungsausschuß trägt dem lius Louven. Begehren der Länder nach dualer Finanzierung Rechnung. Die Länder übernehmen die Investitions- kosten der Pflegeeinrichtungen; sie regeln die Einzel- heiten in eigener Zuständigkeit. Julius Louven (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Wolf- Drittens. In den neuen Bundesländern besteht bei gang Vogt hat soeben das Ergebnis des Vermittlungs- den Pflegeeinrichtungen ein ganz erheblicher Nach- ausschusses dargestellt. Ich will den einen oder ande- holbedarf. Deshalb werden aus der Pflegeversiche- ren Punkt noch ein wenig bewerten. rung jährlich für die Dauer von sieben Jahren 800 Mil- Der Vermittlungsausschuß hat in dieser Woche in lionen DM zur Verfügung gestellt, um diesen Nach- schwieriger Zeit und in großer Verantwortung, wie ich holbedarf auszugleichen; immerhin eine Summe von meine, hervorragende Arbeit geleistet. Über das Spar- 5,6 Milliarden DM. Auch dieses Ergebnis des Vermitt- paket haben wir vorhin abgestimmt; die Beschlüsse lungsausschusses kann sich, glaube ich, sehen las- zur Pflegeversicherung sind heute ebenfalls zu fas- sen. - sen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Der Bundesrat hat in sechs Punkten sein Vermitt- der F.D.P.) lungsbegehren begründet. Zu diesen Punkten möchte ich kurz Stellung nehmen. Wir haben uns nicht darauf Viertens zum Inkrafttreten des Gesetzes: Das verständigen können, die Vorschläge der SPD zum Gesetz soll nach dem Beschluß des Vermittlungsaus- versicherten Personenkreis zu übernehmen. Unser schusses am 1. April 1994 in Kraft treten, die Vorschrif- Sozialversicherungssystem kennt keine Volksversi- ten über die ambulanten Leistungen am 1. Juli 1994, cherung. Von daher meinen wir, daß mit unserem die über die stationären Leistungen am 1. Juli 1996. Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversi- Ich habe dies an dieser Stelle dargestellt, damit klar cherung" der richtige Weg beschritten wird, zumal bis wird, in welchen Stufenfolgen die Kompensation in auf ganz wenige Ausnahmen zukünftig alle pflege- Kraft treten soll. versichert sein werden. Wir wollen, wie ich gesagt habe, keine Erhöhung Wir konnten uns auch nicht dazu entschließen, einer der Lohnzusatzkosten wegen der Pflegeversicherung. Änderung der Beitragsbemessungsgrenze zuzustim- Deshalb hat der Vermittlungsausschuß mit Mehrheit men. beschlossen, daß es am 1. April 1994 zunächst zur (Jan Oostergetelo [SPD]: Warum nicht?) Absenkung des Feiertagslohns bei den zehn bundes- einheitlichen Feiertagen um 10 % kommt. Diese Dies haben wir für nicht sinnvoll gehalten, insbeson- Absenkung kann durch den Arbeitnehmer mit einem dere deshalb, weil es aus organisatorischen Gründen Verzicht auf einen Urlaubstag vermieden werden. Auf nicht klug wäre, in der Krankenversicherung, die die beides kann verzichtet werden, wenn ein Land in Pflegeversicherung ja organisiert, eigener Zuständigkeit einen Wochenfeiertag (Jan Oostergetelo [SPD]: Haben Sie kein streicht. andereres Argument?) Am 1. Juli 1996, also an dem Datum, an dem die eine andere Beitragsbemessungsgrenze zu haben. Vorschriften über die stationären Pflegeleistungen in (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Die Bei Kraft treten, wird der Feiertagslohn um weitere 10 % tragsbemessungsgrenze erhöhen!) gesenkt. Diese Senkung kann wiederum durch Ver- zicht auf einen weiteren Urlaubstag vermieden wer- — Wir haben uns, Herr Urbaniak, darauf verständigt den. Die Länder haben auch hier die Möglichkeit, — jetzt komme ich zu den Punkten, bei denen wir durch Streichung eines Wochenfeiertags die Absen- Einvernehmen hatten —, in der Definition der Pflege- kung des Feiertagslohns oder den Verzicht auf einen stufen den Vorschlägen der SPD zu folgen. Wir haben Urlaubstag auszugleichen. bei der Leistungshöhe — darauf hat Wolfgang Vogt schon hingewiesen — erhebliche Verbesserungen Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten verabreden können, insbesondere für Schwerstpfle- schien es oft so, als würden sich die politischen Kräfte gebedürftige. Die Härte-Klausel in der stationären in diesem Lande bei der gesetzlichen Pflegeversiche- Pflege, die für etwa 5 % der Pflegefälle in Frage rung gegenseitig blockieren. Ich möchte hervorhe- kommt, sieht zukünftig Leistungen bis maximal 3 300 ben, daß der Vermittlungsausschuß seiner Aufgabe DM vor, und das auf der Basis der Zahlen von 1994. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17321

Julius Louven Auch in der häuslichen Pflege haben wir Verbesse- Keine Einigung hat es in der Frage der Kompensa- rungen für die Schwerstpflegefälle vorgenommen. tion gegeben. Ich bin darüber eigentlich sehr erstaunt Hier sind künftig für einen bestimmten Prozentsatz und auch sehr traurig. Wenn ich, Herr Dreßler, Ihre der Schwerstpflegefälle fünf Pflegeeinsätze am Tag markigen Worte von gestern höre, daß es im Bundes- möglich; es steht eine Summe von 3 750 DM zur rat keine Zustimmung geben wird, Verfügung. (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie sein finsteres Gesicht jetzt sehen könn Wir haben uns darauf verständigen müssen, von der ten!) monistischen Finanzierung — obwohl sie die moder- dann frage ich mich, ob Sie das wirklich vor der nere gewesen wäre — auf Grund des Widerstandes deutschen Öffentlichkeit und vor den 1,6 oder 1,7 Mil- aller Länder Abstand zu nehmen. Wir haben uns jetzt lionen Pflegebedürftigen verantworten wollen. auf die duale Finanzierung verständigt, wobei sich die Länder verpflichten, einen entsprechenden Be trag (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang der Ersparnis in der Sozialhilfe für Pflegeeinrichtun- Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Und ob er das zu gen zur Verfügung zu stellen. bestimmen hat! — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das müssen Sie gerade sagen!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Louven, gestat- Mit uns können die Leistungen ab dem nächsten ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sei- Jahr gezahlt werden. Ich denke, die Pflegebedürfti- fert? gen haben lange genug warten müssen. Wenn Sie nun nicht bereit sind, bei der Kompensa- Julius Louven (CDU/CSU): Bitte sehr, Herr Kollege tion einen weiteren Schritt zu tun, Seifert. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum eigent lich?) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Kollege Louven, die Anhebung der Summen für die häusliche so kann ich eigentlich nur mein Erstaunen zum Pflege auf maximal 3 750 DM klingt ja sehr gut. Ausdruck bringen. ( [CDU/CSU]: Ist sie ja - (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Warum auch!) eigentlich über Kompensation? — Weitere Meinen Sie auch — und sind Sie bereit, das in das Zurufe von der SPD) Gesetz zu schreiben —, daß die Menschen, die sich — Ich habe schon bei der Verabschiedung des Gesetz- ihre Pflege mit selbst ausgesuchten Menschen nach entwurfs, Herr Kollege, darauf hingewiesen, daß wir dem sogenannten Arbeitgebermodell, also dem Assi- in der Tat eine Überkompensation vorsehen. stenzmodell, organisieren wollen, diese Sachleistun- (Zurufe von der SPD: Aha!) gen in Anspruch nehmen können, oder sind sie auf die Geldleistungen angewiesen, die wesentlich geringer — Ja, ich habe dies doch schon einmal von diesem Pult sind, nämlich 1 200 DM? aus gesagt. — Aber dies sehen wir als Beitrag zum Standort Deutschland. Julius Louven (CDU/CSU): Herr Kollege Seifert, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zunächst muß ich sagen: Sie sind ja derjenige gewe- Lachen bei der SPD und der PDS/Linke sen, der immer gesagt hat, die Leistungen sind zu Liste) niedrig. Jetzt gehe ich doch davon aus, daß Sie Meine Damen und Herren von der SPD, es kann darüber erfreut sind, daß die Leistungen wesentlich Ihnen doch nun wirklich nicht verborgen geblieben erhöht werden. sein (Rudolf Dreßler [SPD]: 150 DM sind wesent- lich höher? Machen Sie sich doch nicht (Zuruf des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] lächerlich!) [SPD]) — Lieber Herr Dreßler, Sie haben doch der Leistungs- - Herr Büttner, nun bleiben Sie doch einmal ganz erhöhung zugestimmt. Wie können Sie jetzt davon ruhig —, wie schwierig derzeit die Situation für die reden, daß sei eine lächerliche Erhöhung. Wirtschaft ist. (Beifall bei der CDU/CSU — Rudolf Dreßler (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aha! Weiter!) [SPD]: Ihr habt gekürzt, nicht erhöht!) Ich vertraue darauf, daß der Bundesrat hier einsichtig Zu Ihrer Frage, Herr Seifert, habe ich ja darauf sein wird. hingewiesen, was bei Sachleistungen möglich ist und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) was an Barleistungen geleistet werden kann. Meine Damen und Herren, bezüglich des Nachhol- Frau Simonis, Ministerpräsidentin von Schleswig Holstein, hat ja schon im Sommer vorgeschlagen, bedarfs in den neuen Ländern haben wir — ich denke, darauf können wir alle stolz sein — eine Regelung (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Vernünftige gefunden, die es den neuen Ländern ermöglicht, Frau!) Pflegeeinrichtungen nun auch schnell schaffen zu zur Finanzierung der Pflegeversicherung drei können. Über sieben Jahre hinweg werden jeweils 800 Millionen DM für die Investitionsförderung zur Feiertage zu streichen. Verfügung gestellt. Das ist eine Summe, die sich sehen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha! — lassen kann. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Die ist klug!) 17322 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Julius Louven Und ihr Kollege Rappe hat noch in der vorigen Woche Sie, meine Damen und Herren, müssen dies verant- in einer Presseerklärung zum Ausdruck gebracht, worten. man solle sich darauf verständigen, zwei Feiertage zu streichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!) Die taktischen Spielchen müssen ein Ende haben. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren von (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Eben! der Opposition: Mit der Frage der Kompensation und Hören Sie doch auf damit! — Rudolf Dreßler hier insbesondere mit dem Vorschlag, Feiertage zu [SPD]: Sehr wahr! Fassen Sie sich einmal an streichen, aber auch mit unseren Vorschlägen aus die eigene Nase!) dem Entgeltfortzahlungsgesetz habe ich in Versamm- lungen die wenigsten Probleme. Wenn Sie heute die Kommentare seriöser Zeitungen lesen, Herr Dreßler, dann sollten Sie sich wirklich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — überlegen, was Sie tun und ob es der richtige Weg ist, Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bäckermeister, ist wenn Sie jetzt einen derar tigen Druck auf den Bun- klar!) desrat ausüben. Die Bürger ertragen es nicht mehr. Die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland — — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zurufe von der SPD) Die Entscheidung zur Pflegeversicherung — ich — Bitte sehr. sage dies auch im Hinblick auf möglicherweise wei- (Anke Fuchs [Köln] [SPD): Gehen Sie einmal tergehende taktische Spielchen, auf die Sie hoffen mit zu meinen Versammlungen!) könnten — fällt heute im Bundestag — Wissen Sie, in Ihren Versammlungen wird das so (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: G anz sein, daß Sie erst die Bürger aufhetzen und sich dann schamloses Verhalten, was Sie an den Tag darüber wundern, daß sie für vernünftige Lösungen legen! — Ina Albowitz [F.D.P.]: Was?) nicht aufgeschlossen sind. und nächsten Freitag im Bundesrat. Wer nächsten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Freitag im Bundesrat die Pflegeversicherung schei- Die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland sind tern läßt, nach meiner festen Überzeugung bereit, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sind Sie!) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Daß die Kleinen alles bezahlen und die Großen hat dafür die Verantwortung zu tragen und muß dies nichts! Das ist Ihre Methode!) den Bürgern in Deutschland deutlich machen. für die Pflegeversicherung Opfer zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Vor allem den 1. Mai!) Meine Damen und Herren, Ihre Sorge, daß zuviel Meine Damen und Herren, wenn ich auf den gespart wird, teilen wir in dieser schwierigen wirt- Bundesrat vertraue, schaftlichen Situa tion nicht. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das tun wir (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Vorhin auch!) haben Sie es selber gesagt!) dann deshalb, weil er ja gefordert hat, daß auch Wir werden in Zukunft weiter sparen müssen. Das hinsichtlich der notwendigen Entlastung der Träger wissen Sie auch. der Sozialhilfe Verbesserungen vorgesehen werden müssen. Nun haben wir diese Verbesserungen Ich appelliere an Sie, auf den Bundesrat Einfluß zu erreicht, und es waren doch die Kommunalpoliti- nehmen, ker, — (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Machen wir!) (Zuruf des Abg. H ans Büttner [Ingolstadt] daß er in der nächsten Woche der Pflegeversicherung [SPD]) zustimmt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Büttner, jetzt ist es gut! Es ist schon schlimm genug, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Es ist schlimm genug, was Sie gemacht haben!) Julius Louven (CDU/CSU): — die uns immer wieder aufgefordert haben, die Pflegeversicherung nun end- daß wir, wenn die Pflegeversicherung in der nächsten lich zu verwirklichen. Jetzt werden die Kommunen Woche verabschiedet werden kann, eine Verschie- erhebliche Beträge einsparen, und dann wollen Sie zu bung um weitere drei Monate hinnehmen müssen. dieser Pflegeversicherung nein sagen? Ich möchte noch ein paar Sätze zur Finanzierung (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist eine sagen. Verschiedene haben erstaunt gefragt: Wie ist Steuerumlage auf die Kleinen zu Lasten der es möglich, daß zusätzliche Mittel zur Verfügung Reichen!) stehen? Diese Mittel kommen nicht dadurch zustande, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17323

Julius Louven daß wir die Beiträge erhöhen. Es bleibt bei 1 % und, dann werden wir der deutschen Öffentlichkeit und wenn die zweite Stufe eingeführt wird, bei 1,7 %. den Pflegebedürftigen sagen, welche Leistungen (Walter Schöler [SPD]: Ihre Rechnung war ihnen durch die SPD vorenthalten werden. von vornherein falsch! Das wissen Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — doch!) Detlev von Larcher [SPD]: Darum geht es — Herr Schöler, wir haben uns im Wahlkreis darüber Ihnen, nur darum!) unterhalten. Ich habe Ihnen an vielen Stellen vortra- gen können, wie Sie falsch liegen. Wenn Sie schon Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Zwischenrufe machen, sollten Sie sich zuvor sachkun- Herr Kollege Rudolf Dreßler. dig machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Demagoge!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, durch Mehreinnahmen und durch Umschichtungen stehen 2,35 Milliarden Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! Meine DM für die Leistungsausweitungen zur Verfügung. Damen und Herren! Ich will zunächst ganz persönlich Wir greifen keinerlei Rücklagen an. Durch Verschie- sagen, daß wir heute zum wiederholten Male eines bung der Leistungen um drei Monate nach Inkrafttre- der wesentlichsten sozialen Probleme dieses Jahr- ten der Beitragspflicht wird eine Rücklage geschaffen, zehnts, die Absicherung des Lebensrisikos der Pflege- die als Sicherheitsrücklage bestehen bleibt. bedürftigkeit, diskutieren. Daß diese abermalige Debatte geführt wird, ohne daß eine Lösung für die Menschen, zumal für die Be troffenen, in Sicht ist, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Louven, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schö- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sie brauchen nur ler? im Bundesrat zuzustimmen!) ist das für mich eigentlich Bedrückende. Julius Louven (CDU/CSU): Bitte sehr. (Beifall bei der SPD) Eine gemeinsame Lösung, der eine große Mehrheit Walter Schöler (SPD): Herr Kollege Louven, zu Ihrer in diesem Hause zustimmen könnte, wäre möglich. Sachkunde wollte ich fragen: Wie sachkundig sind Sie- Aber sie wird von einer Minderheit bewußt und bei der Bearbeitung dieses Gesetzentwurfs vorgegan- gezielt verhindert. gen, daß Sie bereits nach wenigen Wochen darauf (Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ stolz sind — das haben Sie gerade erklärt —, all die CSU]: Von Ihnen! — Beifall des Abg. Heri Änderungen, zu denen Sie im Vermittlungsausschuß bert Scharrenbroich [CDU/CSU]) gebracht worden sind, hier vertreten zu dürfen? Wenn Anders ausgedrückt, meine Damen und Herren: es nach Ihnen gegangen wäre, wäre doch überhaupt Eine Minderheit dieses Hauses kujoniert die Mehrheit nichts passiert. des Parlaments mit ihren Gruppeninteressen und (Beifall bei der SPD) Egoismen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Julius Louven (CDU/CSU): Herr Schöler, diese Seifert [PDS/Linke Liste]) Sachkunde will ich Ihnen gerne erläutern. Wir haben Die Mehrheit der anderen Parteien dieser Koalition, — dafür sind wir dem Arbeitsminister dankbar — bestehend aus CDU und CSU, ist auch in dieser Frage in allen Bereichen sehr vorsichtig gerechnet. nicht mehr in der Lage, ihren Anspruch als Volkspar- (Zurufe von der SPD: Oh!) tei einzulösen und die Interessen der großen Mehrheit Denn wir führen einen völlig neuen Versicherungs- unserer Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. zweig ein. Wir haben immer erklärt: Es darf keinen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja höheren Beitragssatz als 1 % bzw. 1,7 % geben. Wenn Seifert [PDS/Linke Liste]) nun aber festgestellt wird, daß wir auf Grund höherer Die CDU/CSU verzichtet auf ihren Gestaltungsan- Einnahmen und Umschichtungen 2,35 Milliarden DM spruch und opfert ihn auf dem Koalitionsaltar aus mehr zur Verfügung haben, sollten wir darüber froh Gründen des bloßen Machterhalts, meine Damen und sein. Das hat nichts mit mangelnder Sachkunde zu Herren. tun, Herr Schöler. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert der F.D.P.) [PDS/Linke Liste]) Meine Damen und Herren, ich will es noch einmal Jeder in diesem Hause weiß, daß auf Grund der sagen: Wir teilen nicht die Sorge, daß zuviel gespart unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Bundes- wird. Für die Wirtschaft ist das ein richtiges Signal. tag und Bundesrat nur eine parteiübergreifende Denn wir wissen, wie die Verbände der Wirtschaft in gemeinsame Lösung möglich ist. Jeder weiß also der jetzigen schwierigen Zeit zur Pflegeversicherung auch, daß man sich von den jeweiligen eigenen stehen. Idealvorstellungen wegbewegen und auf einen Ich fordere Sie auf, alles zu tun, damit die Pflege- gemeinsamen Kompromiß zusteuern muß. Wir alle versicherung im nächsten Jahr in Kraft treten kann. kennen die Lösungsvorschläge der SPD-Fraktion zur Wenn Sie sich verweigern, Pflegeversicherung, die wir in einem Gesetzentwurf (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Dann tut hier vorgelegt haben und welche die Mehrheit dieses das dem Land gut!) Hauses vor wenigen Wochen niedergestimmt hat. 17324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Rudolf Dreßler Meine Damen und Herren, wir wollen eine Pflegever- die Unterschiede wieder meilenweit auseinanderdrif- sicherung, in der alle Bürgerinnen und Bürger, vom ten lassen. Sozialhilfeempfänger bis zum Bundeskanzler und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja vom Arbeiter bis zum Beamten, Mitglied sind. Seifert [PDS/Linke Liste]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Blüm, weil Sie immer so getan haben, als DIE GRÜNEN) verträten auch Sie diese Meinung, hätte ich von Ihnen wenigstens erwartet, daß Sie, wenn sich ein solcher Wir wollen eine Pflegeversicherung, in die alle ein- Beschluß bemerkbar macht, zwar aus Gründen des zahlen und alle im Fall der Fälle ihre Leistungen Koalitionszwangs, aus Gründen der Disziplin im Kabi- erhalten. Wir wollen ein Solidarmodell ohne Extra- nett mitmachen, aber wenigstens die Statur besitzen, touren für bestimmte Gruppen; denn wir brauchen hier zu erklären, was sich gestern gegenüber unserer alle Bürgerinnen und Bürger als Beitragszahler. Übereinkunft alles verschlechtert hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke Liste]) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dreßler, gestat- Das hier vorgelegte Ergebnis des Vermittlungsaus- ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten schusses, beschlossen von der Mehrheit aus CDU/ Blens? CSU und F.D.P., sieht völlig anders aus. Wir wollen, daß sich auch höhere Einkommen angemessen an der Finanzierung der Pflegeversicherung beteiligen. Rudolf Dreßler (SPD): Ja, natürlich. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Keine Extra -wurst!) Dr. Heribert Blens (CDU/CSU): Herr Dreßler, wür- den Sie mir als Mitglied der Unterkommission des Deshalb ging der SPD-Gesetzentwurf von einer Vermittlungsausschusses zur Pflegeversicherung be- Grenze des beitragspflichtigen Einkommens entspre- stätigen, daß es dort über die Höhe der Pflegeleistun- chend der in der gesetzlichen Rentenversicherung gen keine Einigkeit gegeben hat und daß der Unter- — das sind 7 600 DM im Monat — ab Januar 1994 schied zwischen Ihrem und unserem Konzept darin aus. besteht, daß Sie 800 Millionen DM in die zusätzliche Erhöhung der Pflegeleistungen stecken wollen, wäh- Auch dies sieht die Koalition anders. Sie wollte sich rend wir 800 Millionen DM für sieben Jahre, also bis auf die Grenze in der Krankenversicherung beschrän- zum Jahre 2000, zur Sanierung und zum Ausbau der ken. Pflegeeinrichtungen in Ostdeutschland einsetzen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wollen? Aus guten Gründen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wir wollen die Leistungen der Pflege sowohl in der Zurufe von der SPD)

Haus - als auch in der Heimpflege so ausgestalten, daß möglichst niemand mehr aus Gründen der Pflege Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Blens, ich bestä- Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz in tige Ihnen erstens, daß das, was ich hier in Zahlen Anspruch nehmen muß. berichtet habe, nämlich diese Kürzungen, von Ihnen gestern durchgesetzt worden ist und daß Sie die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Übereinkunft über die höheren Leistungen immer Seifert [PDS/Linke Liste]) unter dem Vorbehalt zugestanden haben, daß die SPD Das, was hier heute zur Verabschiedung ansteht, einen Eingriff in die Tarifautonomie mitmacht. Aber wird diesem Anspruch noch nicht einmal in Ansätzen das ändert nichts daran, daß wir uns hinsichtlich des gerecht; denn das, was diese Koalition in ihren Berich- Leistungsrahmens einig gewesen sind und daß Sie die ten zu erklären vermeidet, ist, daß ein in der Unter- von mir genannten Summen gestern gekürzt haben. kommission des Vermittlungsausschusses überein- Das ist Faktum, meine Damen und Herren. stimmend festgeleger Betrag für die häusliche Pflege (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der in der dritten Stufe in Höhe von 2 800 DM gestern im CDU/CSU) Vermittlungsausschuß um 550 DM reduziert worden Herr Blens, ich bestätige Ihnen zweitens, daß Sie ist. gestern mit Ihrer Mehrheit beschlossen haben, daß (Zurufe von der SPD: Unerhört!) Arbeiter und Angestellte in Deutschland mit Beiträ- Das, was hier verschwiegen wird, ist, daß eine gen zu einem Sozialversicherungssystem — wo ist übereinstimmende Festlegung für die Kurzzeitpflege eigentlich Herr Präsident Murmann von den Arbeit- gestern im Vermittlungsausschuß um 700 DM gekürzt geberverbänden? — ganz allein knapp 6 Milliarden worden ist. DM für Investitionen im Osten bezahlen müssen und daß Sie, Herr Blens, Herr Kohl, Herr Blüm und ich, die (Zurufe von der SPD: Unglaublich! Pfui!) Beamten, Selbständigen und Freiberufler an der Das, was diese Koalition hier heute verschweigt, ist, Finanzierung dieser Maßnahme wiederum nicht daß eine übereinstimmende Festlegung zur Urlaubs- beteiligt wurden. Das bestätige ich Ihnen! pflege ebenfalls um 700 DM gekürzt worden ist. (Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall beim Reden Sie hier nicht so, Herr Blüm, als hätte es hier nur Bündnis 90/DIE GRÜNEN — Zurufe von der minimale Unterschiede gegeben. Sie haben gestern SPD: Pfui!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17325

Rudolf Dreßler Ich frage von dieser Stelle noch einmal den Bundes- bewußt in Kauf oder führt es gar gezielt herbei, meine sozialminister: Sind das keine Riesenunterschiede in Damen und Herren. den ordnungspolitischen Wertvorstellungen über die Gestaltung unserer Sozialversicherungssysteme? (Beifall bei der SPD) Die Fakten sind völlig eindeutig: Vier große Schritte (Beifall bei der SPD) der SPD, Herr Zöller, aber keine Bewegung bei der Es ist unseriös, wenn Sie in der Öffentlichkeit so tun, Union! Das heißt für mich: Sie wollen die Pflege in als ginge es hier nur um einen Feiertag. Nein, meine Wahrheit gar nicht. Damen und Herren, es geht hier um eine ordnungs- politische Weichenstellung gegen das Fortbestehen (Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ unserer gegenwärtigen Sozialversicherungssysteme CSU]: Unverschämt! — Weitere Zurufe von — urn nichts anderes. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Nun, meine Damen und Herren, lacht die F.D.P. Ich könnte das auch anders formulieren: Vielleicht dürfen Trotz dieses Sachverhalts — um zu dokumentieren Sie es um des Erhalts der Koalition willen nicht und zu unterstreichen, daß die SPD diese Pflegege- wollen. setzgebung will — haben wir auf zentrale Forderun- gen in unserem Gesetzentwurf verzichtet. (Widerspruch bei der F.D.P.) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!) Herr Solms mag sich noch so sehr in 20 Debatten zu diesem Thema hier im Hause an das Pult stellen und Sie können mir glauben, daß mir das schwergefallen mit treuherzigem Augenaufschlag beteuern: Die ist, Herr Rüttgers. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie F.D.P. will die Pflege. Frau Babel, es stimmt mit Ihrer einmal die Fähigkeit besessen hätten, Kompromisse parteitaktischen und koalitionstaktischen Taktiererei für die Pflegebedürftigen in dem Maße einzubringen, nicht überein, was Sie hier förmlich zu Protokoll wie unsere Gruppe das in diesen Verhandlungen geben. getan hat. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der F.D.P.) Meine Damen und Herren, wir haben auf unsere Vorstellungen zur Höhe des beitragspflichtigen Ein- Gerade am Beispiel dieser Kompensation läßt sich kommens verzichtet. Wir haben auf unsere Vorstel- das deutlich machen. Ich will die Zahlen noch einmal lungen über den Versichertenkreis verzichtet. Wir nennen. Nach Berechnungen des Bundesarbeitsmini- sind den Vorschlägen der Koalition zu dem finanziel- steriums — übrigens unter Mitarbeit eines F.D.P.- len Rahmen und zur Höhe des Beitragssatzes in der Repräsentanten — Pflegeversicherung gefolgt. Wir haben mögliche Lei- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann nicht stungsverbesserungen innerhalb des Finanzrahmens wahr sein!) festgelegt, beträgt die Bruttobelastung der Arbeitgeberseite (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ durch die Einführung der Pflegeversicherung etwas CSU]: Das war bei euch alles falsch!) mehr als 13 Milliarden DM. Durch steuerliche Absetz- und es waren — ich wiederhole es — gemeinsam barkeit der Beiträge, durch Verlagerung von Leistun- ausgehandelte Leistungsverbesserungen. Und wir gen aus der Krankenversicherung in die Pflege und haben für dieses Gesetz schweren Herzens das Prinzip durch Mißbrauchsbekämpfung wurde aus dieser der Kompensation von Arbeitgeberbeiträgen dem Bruttobelastung letztlich — diese Zahlen sind wie- Grunde nach akzeptiert derum vom Arbeitsministerium, also der Bundesregie- rung, unter Beiziehung eines F.D.P.-Repräsentanten; (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ wir wollen das immer bitte festhalten — eine Netto- CSU]) belastung, die mit 7,9 Milliarden DM ausgewiesen und mit der Abschaffung eines Feiertages eine Rege- wird. Die Abschaffung eines Feiertages bringt der lung vorgeschlagen, die die Pflegeversicherung für Arbeitgeberseite — wieder nach Berechnungen des die Unternehmen kostenneutral werden ließ. Bundessozialministeriums unter Hinzuziehung eines F.D.P.-Vertreters — eine Entlastung von über 9 Mil- In allen vier zentralen Punkten sind wir also der liarden DM. Diese Entlastung haben wir mit der Koalition im Vermittlungsverfahren mit unserem Vor- Abschaffung eines Feiertages vorgeschlagen. schlag entgegengekommen und haben sogar Ihre Position bei der Suche nach einem Kompromiß über- Meine Damen und Herren, nun wollen wir uns nommen. Und das Ergebnis war: Die Koalition hat sich einmal der Mengenlehre zuwenden: nicht bewegt. (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU und (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Richtig!) der F.D.P) Sie ist keinen Schritt auf die Position der SPD zuge- 7,9 Milliarden DM Belastung — — gangen. (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt ja — Zu mehr sind Sie ja augenscheinlich nicht mehr gar nicht!) fähig; ich muß Ihnen hier ja wohl auf die Sprünge Und weil sich die Koalition nicht bewegt hat, steht fest: helfen — — Sie nimmt das Scheitern der Pflegeversicherung (Beifall bei der SPD) 17326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dreßler, gestat- Gründlich wie ich bin, haben wir uns beim Ifo- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms? Institut erkundigt. Das Ifo-Institut hat dementiert, Ihnen diese Zahlen gegeben zu haben. Rudolf Dreßler (SPD): Sofort, Herr Solms, eine (Zurufe von der SPD — Dr. Gisela Babel Sekunde! — Und damit es Ihnen hilft — wir sind im [F.D.P.]: Die sind veröffentlicht!) Augenblick immer noch beim kleinen Einmaleins —: Daraufhin haben Sie, Herr Solms, erklärt, Sie hätten 7,9 Milliarden DM Belastung, über 9 Milliarden Ent- sich gar nicht beim Ifo-Institut erkundigt, sondern lastung! Dies ist ein solides finanzielles Ergebnis, mit hätten nur die Zahlen des Ho - Instituts als Grundlage dem — Herr Solms, um Sie zu zitieren — wir auf der für Ihre Berechnung genommen. Nun gut, wenn Sie sicheren Seite sind. das innerhalb von 48 Stunden dann plötzlich so sehen, Diese Zahlen machen aber auch deutlich, daß die sei das dahingestellt. Abschaffung eines Feiertags zur Kompensation der (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie Lohnnebenkosten mehr als ausreicht, und, meine machen sich doch lächerlich!) Damen und Herren, zwei Kabinettsmitglieder, näm- lich der Bundessozialminister und der Bundesgesund- Nun komme ich zu einem Faktum. Der Kernpunkt heitsminister, haben in der Öffentlichkeit in Zeitungs- ist, daß Sie bei Ihren Zahlen 220 Arbeitstage im Jahr interviews dies ausdrücklich bestätigt. Ja, wenn sich zugrunde legen und das Bundesarbeitsministerium die Opposition auf Regierungsmitglieder beruft und 209 Tage, weil es die Fehltage in Deutschland, die ihre Vorschläge macht, was soll Sie denn noch tun! jeder betriebswirtschaftlichen Berechnung als Grund- lage dienen müssen, korrekt eingerechnet hat. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: So ist es!) Es geht aber nicht nach der Methode, meine Damen und Herren: Sie sind mit Ihren eigenen Zahlen wider- Herr Solms schlägt sie drauf, macht daraus eine legt, also funktioniert das nicht; wir müssen eine neue Rechnung, die dann plötzlich aus einer sauberen Position formulieren, damit wir die Kosten höhertrei- Rechnung von 9 Milliarden bzw. 9,8 Milliarden DM ben. — Das funktioniert weder hier im Deutschen 6,8 Milliarden DM macht. Herr Solms, so können Sie Bundestag noch im Bundesrat, meine Damen und mit uns hier nicht umgehen. Herren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dreßler, gestat- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Solms. ten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Sohns?

Dr. (F.D.P.): Herr Kollege Rudolf Dreßler (SPD): Gleich. — Sie können das in Dreßler, nachdem wir uns über diese Zahlenrechne- der Öffentlichkeit weiter behaupten, wie Sie wollen. reien ja schon öfter auseinandergesetzt haben und Sie Es geht nicht an, daß Zahlenwerke, die einer parla- anscheinend mir und meinen Berechnungen nicht mentarischen Opposition, die einem Vermittlungs- glauben: Wären Sie bereit, zuzugestehen, daß die ausschuß übereinstimmend von einer Bundesregie- sechs wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsti- rung vorgelegt werden, wenn sie plötzlich für die SPD tute in ihrem Herbstgutachten — das hätten Sie ja sprechen, von der F.D.P., die nach einer Umfrage von nachlesen können, übrigens auch das von Ihnen heute morgen noch 5 % Wähleranteil in Deutschland zitierte DIW — zu dem gleichen Ergebnis der Berech- besitzt, nungen kommen, weil Sie die gleiche Methode (Beifall bei der SPD) anwenden, die wir angewendet haben? Und zwar plötzlich so degene riert werden. Herr Solms, das Spiel bringt dann ein Feiertag etwa 6,8 Milliarden DM läuft hier nicht, damit das klar ist. Entlastung. Wenn Sie sich noch besser informiert hätten, hätten Sie das schon am 7. Mai in der „Wirt- (Beifall bei der SPD) schaftswoche" gelesen, die da mit Bezug auf das Bitte schön. Ifo-Institut in München zu dem Ergebnis kommt, daß solch eine Berechnung zweifelsfrei 6,8 Milliarden DM Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Solms. erbringt. Also, wären Sie bereit, zuzugestehen, daß diese Wirtschaftsinstitute meine Berechnungen bestä- tigen? Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Herr Dreßler, einmal alle Polemik beiseite! (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Lachen bei der SPD) — Ich rede hier über ganz nüchterne Zahlen. — Wären Rudolf Dreßler (SPD): Herr Sohns, ich bin dazu nicht Sie bereit, zuzugeben, daß ich immer nur gesagt habe, nur nicht bereit, sondern erlaube mir jetzt in meiner daß wir die Berechnungsmethoden der wirtschafts- Antwort — Frau Präsidentin, das mache ich wegen der Uhrzeit —, Sie nur auf ein paar wirtschaftliche Fakten wissenschaftlichen Forschungsinstitute, hier insbe- sondere des Ifo-Instituts, herangezogen haben, hinzuweisen; denn das Kümmern ums Detail erhellt auch das Bewußtsein für ökonomische Zusammen- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: War schon hänge. Sie, Herr Solms, haben uns im Kanzleramt u. a. wieder ein Rückzieher!) ein Papier zur Berechnung dieser Vorgänge überge- daß sich auf Basis dieser Berechnungsmethoden ein ben und haben sich dabei auf das Ifo-Institut beru- Ergebnis von 6,8 Milliarden DM ergibt und daß ich f en. — zweitens — dies jetzt mit Hinweis auf das Herbst- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17327

Dr. Hermann Otto Solms gutachten der wirtschaftswissenschaftlichen For- über — Plural — Sie in den letzten Tagen alles schungsinstitute ergänzt habe, die alle sechs einhellig veröffentlicht hat, zum Maßstab für die Haltung Ihrer zu dem Ergebnis kommen, daß dies die richtige Fraktion nehmen? Berechnungsmethode ist und dann auch die richtige (Beifall bei der SPD — Heribert Scharren Zahl ist? broich [CDU/CSU]: Bleiben Sie bei den zwei (Beifall bei der F.D.P. — Ing rid Matthäus- Feiertagen von Frau Simonis! Das reicht!) Maier [SPD]: Die Bundesregierung hatte fal- — Aber ich bitte Sie! Das ist doch das Recht von Herrn sche!) Geißler, das Recht von Frau Simonis. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich bin ein Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Solms, ich will Anhänger von Voltaire. Er hat einmal gesagt: Ich bin ausdrücklich sagen: Ich habe Ihnen das eben schon zwar nicht Ihrer Meinung, aber ich werde dafür bestätigt. Ich habe Ihnen doch erzählt, daß Sie das im kämpfen, daß Sie sie äußern dürfen. Kanzleramt in der zweiten Runde ausdrücklich so erklärt haben, nachdem ich Sie daraufhin angespro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen habe. Ich habe nur gesagt, das war 48 Stunden der F.D.P. und des Abg. Dr. Ilja Seife rt später. Ist ja in Ordnung. Ich habe hier dann nur [PDS/Linke Liste]) begründet, auf welcher Berechnungsgrundlage das Das sollten Sie sich in Ihrer Fraktion einmal vergegen- passiert ist. wärtigen. Das ist doch völlig klar; das ist doch über- Nun kann doch kein Mitglied der CDU/CSU- oder haupt kein Streitpunkt. F.D.P.-Fraktion, wenn es noch ernst genommen wer- Verwechseln Sie doch bitte nicht die Meinungs- und den will, bestreiten, daß die Berechnungsgrundlage die Redefreiheit mit einer dezidierten Posi tion der von Herrn Blüm und seines Ministe riums von 209 Ar- deutschen Sozialdemokratie. Bei uns herrscht nun beitstagen exakt dem Durchschnitt entspricht. Es ist einmal Rede- und Meinungsfreiheit. doch keine Berechnungsgrundlage, von 220 Arbeits- (Beifall bei der SPD) tagen auszugehen, die in Deutschland objektiv nie geleistet wurden. Das lerne ich doch im ersten Seme- ster der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dreßler, gestat- ten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Fuchtel? (Beifall bei der SPD — Jochen Feilcke [CDU/ - CSU]: Im ersten Semester beschäftigen die sich mit Propädeutika!) Rudolf Dreßler (SPD):Aber natürlich.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Kollege weitere Frage des Kollegen Fuchtel? Dreßler, könnte es sein, daß Sie heute nacht noch etwas in dem Märchen Aschenputtel gelesen haben: Rudolf Dreßler (SPD): Ja, selbstverständlich, Frau Die guten ins Töpfchen und die schlechten ins Kröpf- Präsidentin. chen? Das ist umgekehrt. Bringen Sie das jetzt nicht etwas durcheinander? (CDU/CSU): Herr Kollege Hans-Joachim Fuchtel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dreßler, wollen Sie behaupten, daß die Ministerpräsi- der F.D.P.) dentin des Landes Schleswig-Holstein, Frau Simonis, die der SPD angehört, und Kollege Rappe, der eben- falls ein sehr wichtiges Mitglied Ihrer Fraktion ist, das Rudolf Dreßler (SPD): Ich will Ihnen auf diese mehr kleine Einmaleins verlernt haben? Die haben nämlich ironische Frage eine ganz ernste Antwort geben. vorgeschlagen, daß man hier drei oder zwei Tage Ausgerechnet mir den Vorwurf zu machen — ausge- ansetzen sollte? Aber Sie wollen uns hier weismachen, rechnet mir! —, ich sei kompromißunfähig oder daß man weniger als einen Tag benötigen würde? -unwillig, das, muß ich Ihnen sagen, nehme ich nicht mehr auf die leichte Schulter. Ich habe mich in diesem Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege, was ich Ihnen Hause bei der Rentengesetzgebung, bei der Renten ausdrücklich bestätigen kann, ist, daß ich, wie Sie sich Überleitungsgesetzgebung, bei der Korrektur des unschwer vorstellen können, nach dieser Zeitungsbe- Renten- Überleitungsgesetzes und beim Gesund- richterstattung mit meiner Freundin Heide Simonis heitsstrukturgesetz persönlich dafür eingesetzt, einen mündlich diesen Vorgang zu eruieren versucht habe. parteiübergreifenden Konsens zu erzielen. Ich berichte hier — völlig wertfrei —: Frau Simonis hat (Beifall bei der SPD) mir erklärt, daß dies von ihr nicht gesagt worden Ich darf Ihnen versichern, das ist mir in meiner Partei sei. nicht leichtgefallen. Ich habe viele Argumente tage- (Julius Louven [CDU/CSU]: Sie hat es nie und wochenlang benutzen müssen, um meine Über- widerrufen!) zeugung in meiner Fraktion mehrheitsfähig zu — Nun seien Sie einmal ganz ruhig, keine Aufregung! machen. — Sie habe zwei Feiertage vorgeschlagen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Angeber! — (Julius Louven [CDU/CSU]: Das wäre auch Gegenruf der Abg. Ingrid Matthäus-Maier schon etwas!) [SPD]: Angeber? Sie wissen doch, was er — Entschuldigen Sie bitte, Herr Louven. Soll ich jetzt gemacht hat!) vieles von dem neben Ihnen sitzenden, von mir sehr Ich habe mir manche Kritik anhören müssen; das ging geschätzten Herrn Geißler, was er als CDU-Mitglied bis unter die Gürtellinie. 17328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Rudolf Dreßler Ich habe mir gestern abend — um auf Ihre ironische Ich will also noch einmal sagen — in der Zusam- Frage zurückzukommen — Gedanken darüber menfassung —: Pflege zu mißbrauchen, um Arbeitge- gemacht, ob ich in meiner Art, zu Kompromissen bern durch Lohn- und Gehaltskürzungen mehr als bereit zu sein, einen Fehler gemacht habe. Nach der 10 Milliarden DM zusätzlich zu schenken, Vergegenwärtigung dessen, was ich mit Herrn Schar- ping und Herrn Müntefering in diese Vermittlungs- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ja!) gespräche an Kompromißbereitschaft eingebracht habe, habe ich mir gestern gesagt, daß ich bis an die ist gegenüber unserer Posi tion ein Riesenunterschied. Grenze nicht nur dessen, was ich mir zumuten darf, Arbeiter und Angestellte durch Sozialversicherungs- sondern auch dessen, was ich meiner Partei und ihrem beiträge mit knapp 6 Milliarden DM für Investitions- Selbstverständnis zumuten darf, gegangen bin. Des- maßnahmen heranzuziehen und Abgeordnete, Mini- halb habe ich mir nicht ironische Gedanken gemacht, ster, Staatssekretäre, Beamte und Selbständige nicht Herr Fuchtel, sondern wegen der Sache, um die es hier heranzuziehen, ist ein Riesenunterschied zu unserer geht, sehr ernste. Position.

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]). Meine Damen und Herren, ich will noch einen mich sehr bewegenden Punkt ansprechen dürfen. Ich Die häusliche Pflege als Vorrang aufzugeben, bestreite nicht, daß es einen Grundsatz zwischen den indem man ihr noch 2 250 DM und in der stationären am Verhandlungstisch im Vermittlungsverfahren Be- Pflege 2 800 DM zugesteht, und damit den Druck auf teiligten gab, der unstrittig schien. Das war der die stationäre Pflege zu erhöhen, ist für die SPD ein Grundsatz, daß die Modernisierung der Pflegeheime riesengroßer Unterschied zu unserer Position. in einer Art Anschubfinanzierung Ost als eine Auf- gabe zu verstehen ist, die aus der deutschen Einheit (Beifall bei der SPD) folgt, eine Aufgabe also, an deren Finanzierung sich Es ist ein riesengroßer Unterschied zu unserer Auffas- alle zu beteiligen haben. sung, die Kurzzeitpflege um 700 DM gegenüber den Nachdem ich gestern im Vermittlungsausschuß ler- Möglichkeiten zu kürzen, die Urlaubspflege um nen mußte, daß die Koalition im Zusammenhang mit 700 DM zu kürzen und in der häuslichen Pflege die diesem Thema die Steuerfinanzierung als Konse- Stufe II um 300 DM zu kürzen. quenz daraus aufgegeben hat und die Finanzierung Die stationäre Pflege wieder den Beitragszahlern, und zwar nur den Arbei- erst am 1. Juli 1996 einzufüh- ren, also erst in zweieinhalb Jahren, ist zu der SPD- tern und Angestellten, aufdrücken will, war für mich Position zur Entlastung der Kommunen und Gemein- einer der entscheidenden ordnungspolitischen Ge- den ein riesengroßer Unterschied. Die Verbindlich- sichtspunkte in diesem Streit erneut auf der Tagesord- nung. keit der Reinvesti tion der freiwerdenden Mittel in die Institution Pflege, zu der die Koalition nicht bereit war Nun hat die Koalition das durchgesetzt. Ich will an — theoretisch könnten damit also demnächst B-7- dieser Stelle nur sagen: Sie müssen langsam erklären, Ausbauten stattfinden —, ist für die SPD ein substan- ob mehr dahintersteckt als nur Finanznot. Denn wenn tielles Element, also ein riesengroßer Unterschied zu das so Gesetz würde — das will ich dem Hohen Hause unserer Position. sagen —, würden für die Kriegsopferversorgung 650 Millionen DM, die sowieso gezahlt werden müs- Meine Damen und Herren, die SPD war bereit — sie sen, von der Pflegekasse gezahlt. Das heißt, wenn hat dies im Vermittlungsverfahren durch ihren Vor- diese 650 Millionen DM, die sowieso gezahlt werden schlag untermauert —, eine Reihe von ihr wich tigen müssen, jetzt von der Pflege übernommen werden, Grundsätzen hintanzustellen, um zu einer Lösung in dann hielte ich es, weil es sich dabei um Steuergelder der Frage der Pflege zu kommen. Das haben wir nicht handelt, für angemessen, daß diese für den Anschub getan, um der Regierung zu gefallen, sondern wir Ost zur Verfügung gestellt werden. haben das um der be troffenen Menschen willen getan. Bei den Ländern sind es 160 Millionen DM. Alle (Beifall bei Abgeordneten der SPD) SPD-Länder haben diese 160 Millionen DM sofort zur Verfügung gestellt. Die B-Länder, die CDU/CSU- und CDU/CSU und F.D.P. haben dieses weitreichende F.D.P.-regierten Länder, haben darauf beharrt, daß Angebot in den Wind geschlagen. Sie sollten dabei diese Investitionsaufgabe des Staates nur Arbeiter bedenken, daß Angebote nicht unbegrenzt wieder- und Angestellte mit ihren Beitragsgeldern überneh- holt werden. men. Ich will von dieser Stelle aus den Städten und (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unglaub- Gemeinden sagen, die unter den Millionenlasten, die lich!) ihnen die Regierung aufgebürdet hat, ihre H and- lungsspielräume verloren haben: Diese Bundesregie- Das ist für mich ein schwerwiegender Vorgang in rung will ihnen, den Bürgermeistern, Gemeinderäten, diesem Gesetzgebungsverfahren, auf den ich auf- Stadtverordneten, in zweieinhalb Jahren, ab dem merksam machen will. 1. Juli 1996, Entlastung verschaffen und den Pflege- bedürftigen in den Heimen helfen. Eine neue Bundes- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja regierung ab Oktober 1994 wird ausreichend Zeit Seifert [PDS/Linke Liste]) haben, den Pflegebedürftigen in den Heimen, den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17329

Rudolf Dreßler Städten und Gemeinden diese Hilfe durch sozialde- auch hitzig. Ich möchte Sie noch einmal bitten, auch mokratische Initiative früher zu besorgen. bei Zwischenrufen auf den Sprachgebrauch zu ach- (Beifall bei der SPD) ten. Worte wie „aufhetzen", „Angeber" oder „Dema- goge" gehören nicht hierher. Wir vermeiden sie auch Zum Schluß möchte ich an die Koalitionsabgeord- in engagierten Debatten. neten appellieren: Streiten wir uns um die Inhalte, streiten wir uns um die Systematik! Aber hören Sie (Zustimmung bei der SPD) auf, der deutschen Sozialdemokratie, die seit Jahren Das Wort hat Frau Dr. Babel. für Pflege kämpft, (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir auch! —Dr.Walter Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Franz Altherr [CDU/CSU]: Ihr habt zwölf Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang an die Jahre Zeit gehabt! — Weitere Zurufe von der Adresse der Sozialdemokraten ganz klar und deutlich CDU/CSU und der F.D.P.) sagen: Die F.D.P. will die Pflegeversicherung. zu unterstellen, wir wollten dieses Institut nicht! (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD) ten der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Gerd Andres [SPD]: Klammheimliche Wir werden uns das auch nicht weiter gefallen lassen, Freude!) weil es schlicht und ergreifend infam wäre. Die SPD-Bundestagsfraktion steht für eine Pervertierung Wir stimmen heute über den Vorschlag des Vermitt- unserer Sozialversicherungssysteme nicht zur Verfü- lungsausschusses ab. gung (Detlev von Larcher [SPD]: Nicht reden, han (Beifall bei der SPD — Heribert Scharrenbro- deln!) ich [CDU/CSU]: Der Umbau des Sozialstaa- Dieser Vorschlag verändert die Grundstruktur der tes ist für die SPD eine Pervertierung! — Pflegeversicherung nicht. Er bringt durch Umschich- Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der tungen verbesserte Leistungen, aber für die F.D.P. war F.D.P.) wichtig, daß die Koalition sich an vier Grundbedin- gungen gehalten hat: keine Veränderung des versi- Wir werden, weil das ein Stück des Sozialstaates ist, - auch bereit sein, unseren Sozialstaat zu verteidigen. cherten Personenkreises, keine Veränderung der Bei- tragsbemessungsgrenze, keine Ausdehnung des Ko- Ich habe heute morgen gehört, daß die jüngste stenrahmens von 1,7 % Beitragssatz Situation der Koalition sehr bedenklich ist, was die Prozentzahlen des Meinungsbildes in der Bevölke- (Gerd Andres [SPD]: Keine Kompromißbe rung angeht. Die CDU/CSU kam auf 31 %, die F.D.P. reitschaft! ) auf 5 %, meine Partei, die SPD, auf 43 %. und Festhalten an einer ausreichenden und vor allem an einer dauerhaften Kompensation. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Deswegen ma- chen Sie sich Sorgen! — Dr. Walter Franz (Beifall bei der F.D.P. — Gerd Andres [SPD]: Altherr [CDU/CSU]: Hochmut kommt vor Alles klar: keine Kompromißbereitschaft!) dem Fall!) Das ist gelungen, In der deutschen Bevölkerung hat sich wahrscheinlich (Zuruf von der SPD: Kein Eingriff in Privile das Signal, daß Sie mit einem wichtigen politischen gien!) Instrument auf dem Rücken von Betroffenen zu spie- und insofern beschließen wir heute in einer Art vierten len beginnen, herumgesprochen. Lesung über den Gesetzentwurf der Koalition. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Koalition bot das Bild der Geschlossenheit, Wir werden dafür sorgen, daß es sich weiter herum- (Lachen bei der SPD) spricht, denn das lassen wir nicht mit uns machen: der Unbeirrbarkeit und der Nervenstärke in den (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wir Verhandlungen mit der SPD und den Ländern. Das auch nicht!) führte zu diesem überraschenden Erfolg — ich würde zwei Jahre Verhandlungen mit der SPD verweigern, sagen, einem Etappensieg — einer knappen Mehrheit eine verabredete Verhandlung in Windhagen boykot- im Vermittlungsausschuß. Es war die Einsicht der tieren und heute so tun, als hätten Sie ein weißes Länder, daß der Vorschlag der Koalition, in vielen Hemd bei der Bewerkstelligung dieses Gesetzge- Punkten fast identisch mit dem Vorschlag der SPD, der bungsverfahrens. Das Gegenteil ist der Fall! tragfähigere war und daß ihn abzulehnen mehr Nachteile bringen würde, als wenn man ihn annimmt. (Anhaltender Beifall bei der SPD — Zurufe Auf diese Einsicht bauen wir auch bei der Entschei- von der CDU/CSU: Weiter! — Aufstehen! — dung des Bundesrates in der nächsten Woche. Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es geht ten der CDU/CSU) nicht um die Pflege, es geht um Prozente! Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Um Macht!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Babel, gestat- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert? Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß wir bereits Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen eine Verzögerung von einer halben Stunde haben. Ich und Kollegen! Die Debatte ist engagiert und sicherlich mache den Vorschlag, jetzt erst mal fortzufahren. 17330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ja, ich möchte fortfahren. von 6 Milliarden DM vorliegen, mindestens zur Hälfte Er hat ja gleich die Gelegenheit, selber zu spre- zum Aufbau der Infrastruktur verwenden. chen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Hoffentlich tun sie Meine Damen und Herren, wir haben schon gehört es!) wie der Vorschlag aussieht: Die durchschnittlichen Leistungen für den stationären Bereich bei Schwerst- Ich komme jetzt zu dem für den Erfolg des Vermitt- pflegebedürftigkeit heben wir von 2 100 auf 2 500 DM lungsverfahrens vielleicht ausschlaggebenden Punkt, an; das sind 400 DM mehr. Im ambulanten Bereich der Anschubfinanzierung im Osten: sieben Jahre lang heben wir die Sachleistungen von 2 100 auf 2 250 DM 800 Millionen DM aus der Pflegeversicherung in den an. Wir haben für beide Bereiche ganz wich tige neuen Bundesländern für Investitionen. Härtefallregelungen getroffen, die es uns ermögli- (Beifall bei der F.D.P.) chen, in der stationären Pflege bei besonders Schwerstpflegebedürftigen, z. B. Krebskranken im Daß dieses Geld bitter nötig ist, wird jeder bestätigen, Endstadium, 3 300 DM auszugeben. Wir wissen auch der sich dort umgesehen hat. Sicherlich ist es wie- fünf Einsätze im ambulanten Bereich — — derum ein Systemfehler, daß Beitragszahler der Pfle- geversicherung zur „Entwicklungshilfe" herangezo- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Listel: Aber Sie gen werden; das will keiner beschönigen. Allerdings, wissen doch, daß das nicht reicht!) meine Damen und Herren, gibt es zu diesem Vor- — Herr Seifert, ich sage Ihnen das hier in allem E rnst: schlag keine realis tische Alternative. Wenn Sie noch immer sagen, das alles reiche nicht, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne dann frage ich Sie, wieviel Sie der heutigen Wirt- ten der CDU/CSU) schaft, den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern noch zumuten wollen, mehr zu leisten. Das ist eine Man kann hier nicht den Bundeshaushalt heranzie- enorme Kostenverbesserung. Sie sollten sie in Ihrem hen; das wäre unrealistisch. Es ist unwahr, wenn Sie Beitrag eigentlich auch anerkennen. sagen, Herr Dreßler, daß alle Länder bereit gewesen wären, den ihnen zufließenden Teil von 120 Millionen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- - DM beizutragen. Das, was wir im Vermittlungsverfah- ten der CDU/CSU) ren gehört haben, war etwas anderes. Das heißt, es Die Leistungsverbesserungen sind enorm. Die Zahl gab nur diese Möglichkeit, einer solche Anschubfi- der Pflegebedürftigen, die auf Grund dieser beschlos- nanzierung. senen Leistungen jetzt mit ihrem Einkommen aus der Das wurde durch eine veränderte Annahme der Sozialhilfe herauskommen werden, wird größer, als Inanspruchnahme der Pflegeversicherung bei Kurz- wir es angenommen hatten. zeitpflege und der Rentenversicherung finanziert. Ich Die ambulanten Leistungen entsprechend anzuhe- darf verraten, daß in meiner Fraktion, die dem Vor- ben, um dem Grundsatz „ambulant vor stationär" zu schlag zustimmt, an dieser Stelle meines Berichtes genügen, ist in der jetzigen Lage nicht möglich fröhliches Lachen ausbrach: So finanzieren Sozialpo- gewesen. Die Kostensätze sind hier in Zukunft aber litiker. Uns eint aber die Hoffnung, daß der Kosten- vorrangig anzupassen. Nur deswegen ist § 26 Satz 2 rahmen solide ist und hält. gestrichen worden. Meine Damen und Herren, der Vorschlag des Ver- Der Begriff der Pflegebedürftigkeit in der ersten mittlungsausschusses enthält also handgreifliche Stufe ist verändert worden, und zwar auch auf Wunsch Vorteile für die Lander, er enthält große Entlastungen der Sozialdemokraten, wonach zwei und nicht drei für die Sozialhilfeträger, und vor allem enthält er tägliche Verrichtungen, bei denen der Bedürftige große Hilfe für die Pflegebedürftigen und ihre Fami- Hilfe braucht, für die Leistungsberechtigung ausrei- lien. chen sollen. Hoffentlich sind unsere Befürchtungen, daß es hier zu einer unerwartet hohen Inanspruch- Kann die Opposition noch nein sagen? Kann sie, die maßgeblich durch Verhandlungen mitgewirkt hat, all nahme kommen wird, unbegründet. das weiterhin aufrechterhalten, was sie damals sagte, Die monistische Finanzierung, bei der die Länder weswegen sie die Pflegeversicherung ablehnte? Zuschüsse zur Investitionsförderung in die Pflege- Damals lauteten Ihre Punkte: Sie ist unsolidarisch, sie kasse hätten zahlen sollen, um eine einheitliche bringt zuwenig Leistungen. Heute stimmen Sie den Finanzierung zu gewährleisten, ist zum Bedauern der Grundprinzipien zu. Die Leistungen sind verbessert. F.D.P. nicht im Gesetz verankert. Es ist nunmehr an Alle diese Argumente sind weggefallen. Können Sie den Ländern, ihrer Verantwortung gerecht zu werden verantworten, daß am 1. Juli 1994 Leistungen nicht und von den ersparten Mitteln die Infrastruktur, d. h. gezahlt werden? Können Sie verantworten, daß die ausreichende Plätze in Pflegeheimen, zur Verfügung Länder im Osten ihre Einrichtungen nicht fördern zu stellen. können? Ich appelliere an die Länder, die teilweise in einer Meine Damen und Herren, selbst die Kompensa- merkwürdigen, widersprüchlichen Haltung sehr gern tion, die Abschaffung eines Feiertages, hat die SPD den Bundesgesetzgeber beauftragt hätten, sie mehr dem Grunde nach doch anerkannt. Damit hat sie doch zu verpflichten — diese Verpflichtung gibt es jetzt zu erkennen gegeben, daß sie es richtig findet, wenn nicht, dafür aber eine moralisch-politische —, daß sie wir die Wirtschaft nicht belasten. Es geht allein noch dieser Verantwortung gerecht werden und nun auch um die Frage, in welchem Ausmaß diese Kompensa- die ersparten Mittel, die hier in der Größenordnung tion erfolgen soll. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17331

Dr. Gisela Babel Ich widerspreche den Aussagen, die meinen, wir Jetzt, meine Damen und Herren, bieten Sie ein hätten eine Überkompensation. angebliches Kompromißpapier an. Das sieht im ersten (Zuruf von der SPD: Das hat Herr Louven Moment so aus, als ob sich für die Betroffenen irgend aber eben gesagt!) etwas verbessert hätte. Die Sachleistungen sind erheblich angehoben worden. Bitte vergessen Sie nicht: Es war Absicht der Koalition, nicht eine Momentaufnahme bei der Frage der Kom- (Rudolf Dreßler [SPD]: 150 Mark!) pensation zu machen. Nein, wir wollen eine langfri- Aber, meine Damen und Herren, warum die Sachlei- stige und eine tragfähige Kompensation. Wir wollen stungen? sagen können: Dies rechtfertigt, daß wir heute, in diesen schwierigen Zeiten, eine umlagefinanzierte Es handelt sich hier, genau genommen, um ein Pflegevericherung machen. unheimlich gutes Konjunkturprogramm für professio- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nelle Pflegeanbieter und für private Versicherungen. ten der CDU/CSU) Das sind nicht die, um die es mir geht. Mir geht es um diejenigen, die auf assistierende Hilfe angewiesen Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sind und die sich das selbst organisieren können und sind Opfer eines falschen Kurses, vielleicht einer wollen. Darum geht es. Die anderen werden nicht fehlerhaften Politikberatung. Herr Dreßler, ich sage schlechtergestellt, wenn diejenigen, die das soge- Ihnen: Fallende soll man nicht treten, aber dieser Tag nannte Arbeitgebermodell benutz en wollen, wenig- ist für Sie eine Niederlage. Alles, was Sie über das stens die Chance haben, es zu tun. Schicksal der Pflegeversicherung hier gesagt haben, ist falsch gewesen. Deswegen begrüße ich die Anhebung der Sätze, insbesondere mit den Härteklauseln, durch deren (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Anwendung bei häuslicher Pflege bis zu 3 750 DM ten der CDU/CSU) erreicht werden sollen. Allerdings handelt es sich Ich habe hier gesagt: Die Länder werden nicht nach dabei um Sachleistungen. Deswegen stelle ich hier der Pfeife der Sozialdemokraten tanzen. Und ich einen Antrag und bitte Sie, meine Damen und Herren prophezeie: Es gibt im Bundesrat zu dieser Pflegever- von der Koalition, ihm zuzustimmen. Frau Babel, ich sicherung eine Mehrheit. - nehme an, Sie werden mir zustimmen können, denn (Zuruf von der SPD: Das werden wir ja ich verlange keine neue Leistung, sondern nur eine sehen!) Modifizierung der Auszahlung der von Ihnen bereits Ich bedanke mich. beschlossenen. Ich beantrage also, in das Gesetz aufzunehmen, daß Sachleistungen — inklusive aller (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Sozialleistungen — in voller Höhe auch für solche Pflegebedürftigen zu zahlen sind, die sich ihre assi- nach dem sogenannten Arbeitgeber- Als nächster spricht stierende Pflege Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: modell selbst organisieren, Assistentinnen und Assi- der Kollege Ilja Seifert. stenten selbst aussuchen, sie anlernen und einset- zen. Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Wie gesagt, ich verlange keine zusätzliche Lei- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dreß- stung, sondern nur, daß das, was Sie als Sachleistung ler, es kämpft natürlich nicht nur die deutsche Sozial- zahlen wollen, den Menschen zur Verfügung steht, demokratie um eine vernünftige Absicherung der die sich das selbst organisieren wollen. Pflege, sondern in erster Linie kämpfen die Betroffe- nen. Das möchte ich von Ihnen — bei aller Anerken- (Hermann Rind [F.D.P.]: Hätten Sie das nicht nung Ihrer Leistungen — doch gern auch einmal ein bißchen früher in die Diskussion einbrin gehört haben. gen können?) (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei — Das habe ich seit Jahr und Tag in die Diskussion Abgeordneten der SPD) eingebracht, Sie haben es nur leider nicht berücksich- Ich erinnere Sie an den 23. November dieses Jahres, tigt. Es liegt ein ganzer Gesetzentwurf von uns vor, der den Tag, an dem der Vermittlungsausschuß das erste wesentlich höhere Leistungen vorsieht. Aber wenig- Mal zusammenkam. Da standen in bitterer Kälte vor stens das könnten Sie machen. dem Haus des Bundesrates 40 oder 50 Menschen mit Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß die SPD schwersten Behinderungen, und sie kamen nicht und insbesondere ihre Ministerpräsidentin und ihre hinein. Das gelang erst nach längerem Bemühen von Ministerpräsidenten standhaft bleiben und diesem Frau Däubler-Gmelin. Einstieg in den Ausstieg aus dem Sozialstaat nicht Herr Blüm, auch Sie werden sich sicher an dieses zustimmen werden. Aber insgesamt geht es darum, Gespräch erinnern; denn Sie kamen ja am nächsten daß den Menschen, die auf assistierende und anlei- Tag zu mir und sagten mir, wie peinlich es Ihnen war, tende Pflege angewiesen sind, geholfen wird. Das ist daß diese Menschen die Mühsal auf sich genommen mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf leider nicht hatten, in dieser Kälte zu Ihnen zu kommen, urn mit der Fall. Deswegen müssen wir ihn nach wie vor Ihnen zu reden und Ihnen zu sagen: So bitte nicht! Das ablehnen. war die einzige Botschaft, die diese Menschen Ihnen, Ich danke für die Aufmerksamkeit. Herr Dreßler, Ihnen, Herr Blüm, Frau Däubler-Gmelin und auch Herrn Rau, dem Vorsitzenden des Vermitt- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei lungsausschusses, übermitteln wollten. Abgeordneten der SPD) 17332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Die Ausflüchte der Bundesregierung, die zur eige- der Kollege Konrad Weiß. nen Ehrenrettung gar der Opposition die Schuld an (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist nie im ll, sind ebenso durch- diesem Versagen zuschieben wi Ausschuß gewesen!) sichtig wie zwecklos. (Zuruf von der SPD: Und erbärmlich sind sie!) Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Bundeskanzler ist geistig offensichtlich längst Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zurückgetreten und überläßt das Regieren denen, die Bedingungen, unter denen die heutige Bundestags- gerade Lust und Laune dazu haben. Mit Richtlinien- debatte stattfindet, haben mit parlamentarischer Kul- kompetenz jedenfalls hat der S treit um die Pflegever- tur nun wirklich nichts mehr zu tun. Die Abgeordne- sicherung nichts mehr zu tun. Wie kann ein verant- ten, die nicht zu den erlauchten Fraktionen gehören, wortlicher Regierungschef nur so nachlässig sein und durften am Ticker das unwürdige Gerangel zwischen ausgerechnet der Partei die Entscheidung überlassen, der Noch-Regierung und der SPD verfolgen. die erklärtermaßen zu keinem Zeitpunkt eine soziale Buchstäblich in letzter Minute wurde eine Abstim- Absicherung des Pflegerisikos wollte? mung auf die Tagesordnung gesetzt, die nur noch eine (Zuruf von der F.D.P.: Eine Unverschämt ritualisierte Farce ist. Die Drucksachen, die heute zur heit!) Beschlußfassung vorliegen, wurden uns heute mor- gen auf den Schreibtisch gelegt. Dabei hat die Regie- Der Arbeitsminister wurde dabei ganz nebenbei aus rungskoalition durch ihre überschlauen und unnöti- dem Verkehr gezogen. gen taktischen Manöver den Zeitdruck selber ver- Die wirklichen Leidtragenden sitzen nicht hier in schuldet, unter den die Diskussion über die Pfegever- diesem Haus und nicht mit am Verhandlungstisch. Für sicherung geraten ist. die pflegebedürftigen Menschen und ihre Familien, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat von Anfang an die aber auch für die ehrenamtlichen und professionellen absurde Trennung der Finanzierung von den Inhalten Pflegekräfte hat sich die Hoffnung auf Besserung der Pflegeversicherung für töricht und unverantwort- zerschlagen. lich gehalten. Unsere schlimmsten Befürchtungen - Auch für die Träger der Sozialhilfe ist das Fiasko sind leider eingetroffen. komplett. Ohne finanzielle Entlastung durch die Pfle- Ich verstehe die Bürgerinnen und Bürger nur allzu geversicherung wird der geringe Handlungsspiel- gut, die das Pflegespektakel fassungslos verfolgen raum der Kommunen völlig abgeschnürt. Die Bundes- und sich über die plumpe Hanswurstelei der agieren- regierung provoziert auf diese Weise verstärkte Unsi- den Parteien erregen. Zwar hat die Mehrheit im cherheit in unsicheren Zeiten. Vermittlungsausschuß den Vorhang über den letzten Hinzu kommt die große Verunsicherung über die Akt des unwürdigen Spiels fallen lassen, doch gleich- angebliche Kompensation für die Arbeitgeber. Auch zeitig steht schon fest, daß der Bundesrat in genau Regierungsvertreter haben mittlerweile öffentlich einer Woche das Stück erneut auf den Spielplan eingeräumt — und auch der Kollege Louven hat das bringen wird. Eine Neuinszenierung der Groteske heute hier wieder getan —, daß das Entgeltfortzah- wird für die kommende Saison vorsorglich schon lungsgesetz mitnichten der Finanzierung der Pflege- angekündigt. Es wäre zum Totlachen, wenn es nicht versicherung dienen soll, sondern ein milliarden- so ernst wäre. Haben Sie denn wirklich nach dem schweres Geschenk an die Wirtschaft darstellt. Wahlergebnis in Brandenburg noch nicht begriffen, Als ich vor Monaten in diesem Haus davor wa rnte, wohin dieses Land geht, welche Folgen eine solche bin ich von Ihnen praktisch niedergeschrien worden. Politik im Land für die Bürgerinnen und Bürger „Alles frei erfunden! ", hielten Sie mir vor. Ich frage Sie hat? heute: Wer von jenen, die damals über mich in Meine Damen und Herren, es muß in aller Deutlich- ungerechten Zo rn gerieten, erhebt nun seine Stimme keit gesagt werden: Mit ihren taktischen Manövern gegen Herrn Solms? hat die Koalition die Pflegeversicherung aufs fahrläs- Sollte die Bundesregierung es wagen, das Entgelt- sigste in Gefahr gebracht und sich selbst ein politi- fortzahlungsgesetz ohne Einführung einer sozialen sches Armutszeugnis sondergleichen ausgestellt. Am Pflegeversicherung in Kraft zu setzen, so desavouiert Ende einer 20jährigen Debatte über die Absicherung sie auch den Bundespräsidenten. BÜNDNIS 90/DIE des Risikos der Pflegebedürftigkeit steht das sture GRÜNEN erwartet vom Bundespräsidenten, daß er egoistische Nein einer F.D.P., die ihren senil werden- das Entgeltfortzahlungsgesetz nicht unterschreibt, den Partner loszuwerden trachtet, ohne selbst dafür bevor nicht die Einführung der Pflegeversicherung die Verantwortung zu übernehmen. fest gesichert ist. Das unwürdige Gerangel um die Pflegeversiche- rung hat mit verantwortlicher Politik nichts mehr zu Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird es auch wei- tun. Womit die Bundesregierung in Wahrheit spielt, terhin ein erstrangiges Ziel bleiben, eine solidarische sind die Nöte und Hoffnungen der pflegebedürftigen Absicherung des Pflegerisikos einzuführen. In der Menschen in diesem Land. Dies vor allem ist unent- nächsten Legislaturpe riode werden wir unter verän- schuldbar. Der Bundeskanzler hat wiederholt die derten Machtverhältnissen das, was diese Koalition nicht zustande bringt, alsbald umsetzen. Diese Bun- Beeendigung des Pflegenotstandes noch in dieser Legislaturperiode versprochen. Daß er wieder einmal desregierung, meine Damen und Herren, ist längst ein Versprechen brechen wird, liegt auf der Hand. Die selbst zum Pflegefall geworden. Enttäuschung der Betroffenen wird schlimm sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17333

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in dieser Ich mache jetzt noch eine fast taktische Bemerkung, Debatte spricht der Bundesarbeitsminister Dr. Norbert obwohl ich mich heute morgen an Taktik gar nicht Blüm. halten wollte: Wenn die Pflegeversicherung jetzt scheitert, dann wird dieses Thema zehn Jahre lang nicht mehr auf der Tagesordnung stehen. So nahe vor Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und dem Ziel waren wir noch nie. Es handelt sich nur noch Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und um zwei Zentimeter. Wer sie jetzt scheitern läßt, hat Herren! Über das Pflegegesetz ist viel debattiert vielleicht recht gehabt und taktisch vielleicht klug worden. Es hat einen langen Weg hinter sich. Wir gehandelt, er hat aber die Pflegebedürftigen im Stich haben den Weg begonnen in Gesprächen mit den gelassen. Darum geht es: ja oder nein. kommunalen Spitzenverbänden — die Kommunal- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) politiker sind nahe am Problem —, mit den Wohl- fahrtsverbänden — das sind die, die eine der Haupt- Ich will mich wiederum an die SPD wenden. Ich lasten bei der Bewältigung des Problems tragen —, bestreite doch gar nicht Ihr Verdienst, daß in den mit Familienangehörigen. So ist dieses Gesetz Gesprächen mit Ihnen unser Gesetz besser geworden gewachsen — mit großen Anstrengungen in meiner ist. Ich mache es gar nicht kleinkariert; ich sage: Es ist Partei, in der Koalition und mit dem Versuch, einen besser geworden. Wir haben die Leistungen bei der parteiübergreifenden Konsens zu finden. Das tut der stationären Pflege von 2 100 DM auf 2 800 DM Sache gut. Das gilt auch für die Mühe und die angehoben, ähnliches gilt — Frau Babel und Herr Anstrengungen, die wir in diesen Konsens gesteckt Louven haben es ja heute morgen schon vorgetra- haben. gen — für die ambulante Pflege. Es handelt sich um handfeste Verbesserungen in Höhe von 2,3 Milliarden Wir waren an mancher Abzweigung, und mancher DM. In den Gesprächen mit Ihnen ist das Gesetz Weg hätte in die Sackgasse geführt. Jetzt gibt es noch verbessert worden. Stellen Sie Ihr Licht doch nicht zwei Stationen: heute der Bundestag und in einer unter den Scheffel. Daß Sie am Ende zwar recht Woche der Bundesrat. gehabt haben, das Gesetz aber nicht zustande gekom- Der langen Rede kurzer Sinn: Wir können die men ist, das werden Sie doch als Sozialpolitiker nicht Debatte noch ein paar Stunden so weiterführen wie verantworten wollen. - heute morgen, am Schluß zählt nur Ja oder Nein. Es ist richtig, wir haben über weitere Leistungsver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) besserungen gesprochen. Sie haben einen Umfang Ich habe heute morgen versucht, mir die ganze von 800 Millionen DM. Ich sage es noch einmal, meine Debatte mit den Ohren eines Pflegebedürftigen anzu- Damen und Herren: Wir sind uns über Verbesserun- hören. Ich habe mir heute morgen auch die Direkt- gen in Höhe von 2,3 Milliarden DM einig, über solche übertragung in ein Pflegeheim vorgestellt. Ich habe in Höhe von 800 Millionen DM nicht. Aber diese mir heute morgen vorgestellt, alle Reden — meine 800 Millionen DM verschenken wir nicht. Wir nehmen eigene können Sie genauso kritisch betrachten — mit sie und geben sie für die Pflegeheime in den neuen den Ohren einer Mutter zu hören, die ihr schwerst- Ländern aus. Auch das ist doch wohl eine soziale pflegebedürftiges Kind seit zehn Jahren pflegt. Tat. (Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht seit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 30 Jahren!) ordneten der F.D.P.) Diese Frau fragt heute morgen nicht, ob Rudi Dreßler Ich lade jeden zum Besuch solcher Pflegeheime ein. oder Norbert Blüm recht hat. Das ist für sie völlig Was in manchen dieser Pflegeheime gemacht wird uninteressant. Sie fragt nur: Kommt die Pflegeversi- und wie es dort aussieht, steht in Konflikt mit der cherung, oder kommt sie nicht? Das ist die einzige Menschenwürde. Deshalb haben diese Pflegeheime Frage! erste Priorität. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Richtig ist es, wenn der Kollege Dreßler gesagt hat: Warum soll das eigentlich die Pflegekasse bezahlen? Sie interessiert sich nicht dafür, welche Partei recht Diese Frage stelle auch ich. Aber, lieber Kollege hat und welche Partei unrecht hat oder wer am Schluß Dreßler, hätten Sie dem Bund bei der Abstimmung den Schwarzen Peter hat. Das ist alles passé und heute morgen 2,5 Milliarden DM mehr gelassen, hätte uninteressant. er diese 800 Millionen DM aus der Bundeskasse Lieber Kollege Dreßler, ich will Ihnen ausdrücklich bezahlen können. Das ist ganz einfach. bestätigen, daß Sie große Kraft in den Konsens gesteckt haben, ob es gern gehört wird oder nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich bin wie Sie ordnungspolitisch der Meinung: Eigentlich müßten alle diese Leistung bezahlen. Nur, Aber am Schluß nutzt es Ihnen gar nichts, zu sagen: wenn der Bund kein Geld hat und Sie es ihm nicht Das Haus ist abgebrannt, aber ich habe recht gehabt. geben, sage ich Ihnen: Sie können dem Bund doch Welche Politik ist denn das? Jetzt zählt: Kommt die nicht erst das Geld aus der Tasche nehmen und sich Pflegeversicherung, oder kommt sie nicht? dann anschließend beschweren, daß er seine ord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nungspolitischen Leistungen nicht erbringt. der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Vor dieser Verantwortung stehen wir heute. ordneten der F.D.P.) 17334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, — Keine Angst. Ich habe die Berechnungen des gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bundesarbeitsministeriums überhaupt nicht zurück- Dreßler? zunehmen, damit Sie nicht meinen, ich rede mit zwei Zungen. Nein, ich bleibe dabei. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Bevor wir aber diese Frage geklärt haben, bevor Sozialordnung: Bitte. sich die Rechner geeinigt haben, brauchten wir min- destens 20 Jahre. Wenn ich manchen Ihrer Theoreti- Rudolf Dreßler (SPD): Herr Bundesminister, stim- ker beim Wort nehme, dann bringt eine Arbeitszeit- men Sie mir zu, daß diese 800 Millionen DM, aufgeteilt verlängerung gar nichts. Damit ist überhaupt keine in 640 Millionen DM Bundesleistung für die Kriegs- Entlastung verbunden. Dann muß man mit Null rech- opferversorgung und 160 Millionen Leistungen der nen. Sie sehen, wir können diese scholastische Länder für die Kriegsopferversorgung — das macht Debatte noch zehn Jahre führen, und dann warten die 800 Millionen DM —, heute aus der Bundeskasse Pflegebedürftigen noch zehn Jahre auf eine Ant- bezahlt werden müßten, wenn die Pflegegesetzge- wort. bung nicht käme, und daß diese Mittel, da sie von der Pflege, wenn sie kommt, übernommen werden, nicht (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) zusätzlich aufgebracht werden müssen, sondern zur Ich sage Ihnen: Die Entlastung der Arbeitskosten Verfügung stehen? Halten Sie es nicht unter dem wäre auch ohne die Pflegeversicherung ein Gebot der Gesichtspunkt der für die Anschubfinanzierung Ost Stunde. Es stellt sich durchaus die Frage, ob wir, das zur Verfügung stehenden Mittel für ordnungspolitisch Land mit den meisten Urlaubstagen, mit den meisten und auch sozialpolitisch gerechter, wenn diese Mittel Feiertagen und mit den meisten Fehlzeiten, auf die- der Steuerzahler dann für die Investitionen im Osten sem Platz stehen bleiben und gleichzeitig die Arbeits- Deutschlands verwandt werden? losigkeit beseitigen können. Da habe ich meine Zwei- (Beifall bei der SPD) fel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und der F.D.P.) Sozialordnung: Ich stimme Ihnen ordnungspolitisch - Ich bin kein Sozialpolitiker, der auf der einen Seite ausdrücklich zu, wenn Sie mir darin zustimmen: für den sozialen Fortschritt ist und auf der anderen Hätten Sie dem Bund 2,5 Milliarden DM mehr gelas- Seite Arbeitsplätze gefährdet. Das kann nicht der Sinn sen, hätten wir die 800 Millionen DM dreimal zahlen der Sozialpolitik sein. können. Wenn der Bund nichts hat, frage ich: Sollen wir in die Mehrverschuldung, sollen wir in die Höher- Meine Damen und Herren, wir sind — man begreift verschuldung gehen? es ja gar nicht, daß es in Sachen Kompensation an Zentimetern scheitert — aufeinander zugegangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sagen Sie nicht, Sie hätten sich allein bewegt. Wir Das treibt die Preise hoch und gefährdet die Arbeits- haben in Sachen Kompensation zuerst zwei Karenz plätze. Das kann doch nicht normal sein. tage vorgeschlagen, dann haben wir sie um des lieben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Friedens, der Einheit und des Konsenses willen auf- der F.D.P.) gegeben. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Ordnungspoli- Wir sind zum zweiten Schritt gegangen, zur Ein- tisch bewerte ich das so wie Sie. Aber ich bin ein schränkung der Lohnfortzahlung an Feiertagen oder Pragmatiker. Bevor die Ordnungspolitik in den Him- wahlweise zum Verzicht auf zwei Urlaubstage. Dann mel entschwindet, helfe ich den Menschen hier auf sind wir wieder einen Schritt weitergegangen, weil Erden und gebe Ihnen die 800 Millionen DM aus der das auch noch nicht konsensfähig war. Wir haben die Kasse. Alternative geboten, daß man durch zwei Feiertage (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das Ganze beseitigen könnte. der F.D.P.) Ich komme jetzt zum vierten Schritt. Im vierten Ich bin ein großer Ordnungspolitiker, aber noch ein Schritt haben wir gesagt, jetzt stufen wir die viel größerer Pragmatiker. Wo nichts ist, kann ich Feiertagsregelung. Es ging dabei im ersten Schritt nichts verlangen. Wenn Sie dem Finanzminister Mit- genauso wie bei der SPD um einen Feiertag und im tel aus der Hand genommen haben, können Sie sich zweiten Schritt, in zweieinhalb Jahren, um zwei anschließend nicht beschweren, daß er zuwenig Feiertage. hat. Ich sage, wer das zum Opfer erklärt, wer diesen Ich komme jetzt zur Entlastung und zur Kompensa- kleinen Unterschied angesichts derer, um die es geht, tion des Arbeitgeberbeitrags. Ich möchte noch einmal nämlich um die Pflegebedürftigen, zum Opfer erklärt, klarstellen: Es handelt sich um eine Entlastung der der hat die Proportionen nicht erkannt, der macht Arbeitskosten. Es handelt sich nicht um ein Geschenk kleinkarierte parteitaktische Spiele. Wenn es darum an die Arbeitgeber. geht, nun endlich — — (Widerspruch bei der SPD) (Lebhafter Beifall der CDU/CSU und der An der Entlastung der Arbeitskosten sind die Arbeit- F.D.P.) nehmer mindestens so interessiert wie die Arbeit- Erklären Sie bitte die zwei Feiertage nicht zum geber. Das hat etwas mit Arbeitsplätzen zu tim. Teufelszeug, denn es gibt mehr als einen Sozialdemo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kraten, der sie auch vorgeschlagen hat. Insofern der F.D.P. — Zurufe von der SPD) können Sie das jetzt nicht zum Tabu erklären. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17335

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Ich sage, und zwar auch in Richtung auf die Ent- der selbst an keiner einzigen Sitzung des Ausschus- scheidung hier — vorletzte Station, dann Bundes- ses, in der die Pflegeversicherung behandelt wurde, rat —: Wer mit Nein stimmt, wortreich oder nicht teilgenommen hat und der sich hier sozusagen als wortreich, erklärt, er habe recht gehabt oder nicht, Verteidiger der Pflegebedürftigen aufgespielt hat. So wer wegen Rechnungen mit Nein stimmt, wer immer können Sie mit uns nicht umgehen, die wir von Ideologie oder Ordnungspolitik wortreich macht, der Anfang an alle für eine Pflegeversicherung eingetre- stimmt gegen 1,2 Millionen Pflebedürftige zu Hause ten sind. und gegen Millionen von Familienangehörigen, der (Zurufe von der SPD — Gerd Andres [SPD]: stimmt gegen 450 000 Menschen in den Heimen. Klammheimliche Freude kommt auf!) Ich frage die Länder und die Kommunen, die doch — Jawohl, wir haben nur eine andere Pflegeversiche- mit guten Gründen sagen, das Wasser steht uns bis rung gewollt, zum Hals, ob sie nur aus ideologischen oder parteitak- tischen Gründen auf 8 Milliarden DM Entlastung ihrer (Weitere Zurufe von der SPD) Sozialhilfe durch das Pflegegesetz verzichten wol- nämlich eine Pflegeversicherung im Kapitaldek- len. kungsverfahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Wei der F.D.P.) tere Zurufe von der SPD) Nur mit Ja oder Nein antworten, nicht mehr viele — Jawohl. Dazu stehe ich auch heute noch. — Da Worte. Ich frage die fünf neuen Bundesländer, ob sie können Sie nicht hingehen und hier den Vorwurf in sieben Jahren jeweils auf 800 Millionen Investi- erheben, wir seien gegen eine Pflegeversicherung tionsmittel für ihre Pflegeheime verzichten wollen und wollten sie verhindern. Wir lassen uns dieses — 7 mal 800 Millionen DM, nur um anschließend zu Etikett der sozialen Kälte aus wahltaktischen Grün- sagen, sie hätten recht gehabt, sie hätten besser den nicht anhängen. gerechnet. 7 mal auf 800 Millionen DM zu verzichten, heißt 7 mal 800 Millionen DM an den neuen Ländern (Erneute lebhafte Zurufe von der SPD) vorbeigehen zu lassen, obwohl das auch eine Beschäf- Ich darf Ihnen sagen, daß ohne das hartnäckige tigungswirkung hätte, was ja nicht nur für die Heime Verhandeln der F.D.P.-Vertreter gut ist. - (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben doch kein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) soziales Gewissen!) Ich frage die, die mit Nein stimmen, ob sie auf die eine solide Finanzierung dieser Pflegeversicherung in Beschäftigungschance für über 150 000 Menschen, dieser jetzt vorliegenden Form nicht zustande gekom- die nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit men wäre. durch die Pflegeversicherung eine neue Beschäfti- gung bekommen werden — mehr als in manchem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Beschäftigungsprogramm —, verzichten wollen. ten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, einschließlich der Öffentlichkeit: Der Worte sind genug gewechselt. Jetzt geht es nur um Ja oder Nein. Wer nein sagt, läßt Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und die Pflegebedürftigen im Stich. Da kann er noch so Herren, nach unserer Geschäftsordnung hat der Kol- recht haben, er läßt sie im Stich. lege Konrad Weiß das Recht zu antworten. Bitte (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ sehr. CSU — Beifall bei der F.D.P. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Pfui! Pfui! — Weitere Zurufe von der SPD: Pfui! Pfui!) Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, Ihre Argumentation ist erbärmlich. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Beifall bei der SPD) Herren, zu einer Kurzintervention gemäß § 27 der Ich habe an jeder Diskussion teilgenommen, die hier Geschäftsordnung hat unser Kollege Dr. Walter Hit- im Hohen Hause, im Plenum, zur Pflegeversicherung schler das Wort. stattgefunden hat. (Zurufe von der SPD: Ach du lieber Gott! — (Zurufe von der F.D.P.) Muß das sein! — Uns bleibt nichts erspart!) Sie wissen selbst, daß unsere Fraktion über acht Abgeordnete verfügt und wir alle Mitglieder in meh- Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine reren Ausschüssen sind. Ich habe als Mitglied des Damen und Herren! Ich möchte mich für mich und für Innenausschusses mehrfach und intensiv mitberaten meine Kollegen gegen die Vorwürfe, die der Kollege über die Pflegeversicherung. Ich bin nämlich Mitglied Dreßler, aber insbesondere der Kollege Weiß gegen des Innenausschusses und nicht des Ausschusses für mich und meine Partei erhoben hat, wir wären gegen Arbeit und Sozialordnung, wie Sie mir hier unterstel- die Pflegeversicherung, in aller Form verwahren. len. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Wenn ich nicht in Ihren Ausschuß komme, dann hat CDU/CSU) das überhaupt nichts zu sagen, weil ich mich natürlich Ich weise diese Vorwürfe zurück und sage, daß mit den Protokollen befasse und weil ich natürlich insbesondere der Kollege Weiß dazu kein Recht hat, etwas von der Sache verstehe. 17336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Konrad Weiß (Berlin) Ich weise mit Entschiedenheit zurück, in welcher bekanntgeben können und jetzt in der Sitzung fort- unfairen Art und Weise fahren. — Dann bitte ich Sie aber, Platz zu nehmen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, weil wir jetzt zu einer Reihe von Abstimmungen über der SPD und der PDS/Linke Liste) Tagesordnungspunkte kommen, bei denen keine Aussprache vorgesehen ist. von den großen Parteien mit unserer kleinen Fraktion umgegangen wird. Ich bin nicht in den Bundestag Ich rufe Zusatzpunkt 12 der Tagesordnung auf: gekommen, um mir das von Ihnen sagen zu lassen. Beratung der Beschlußempfehlung und des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- und der SPD sowie bei Abgeordneten der schuß) zu der Unterrichtung durch die Bundes- PDS/Linke Liste) regierung Bericht der Bundesregierung fiber das Pla- nungs- und Genehmigungsverfahren bei Bau- Vizepräsident Helmuth Becker: Vor der Abstim- maßnahmen im Bereich deutscher Schulen im mung hat gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung der Ausland Kollege Dr. Wolfg ang Weng das Wort. — Er verzich- — Drucksachen 12/4069, 12/6294 — tet. Berichterstattung: Dann schließe ich die Aussprache. Abgeordnete Dr. Hans-Günther Toetemeyer Ich rufe nun die Zusatzpunkte 10 und 11 auf: Ulrich Irmer ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- Eine Aussprache ist, wie angekündigt, nicht vorge- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes sehen. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Auswär- sozialen Absicherung des Risikos der Pflege- tigen Ausschusses auf Drucksache 12/6294? — Die bedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz — Gegenprobe! —Stimmenthaltungen? —Ich stelle fest, PflegeVG) daß die Beschlußempfehlung einstimmig angenom- — Drucksachen 12/5262, 12/5617, 12/5761, men worden ist. 12/5891, 12/5920, 12/5952, 12/6094, 12/6424 — Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 13 der Tagesord- Berichterstattung: nung auf: Abgeordneter Wolfgang Vogt (Düren) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- CSU und F.D.P. schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Förderung der beruflichen Weiterbildung (Vermittlungsausschuß) zu dem Entgeltfort- zahlungsgesetz — Drucksache 12/6426 — Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen. — Drucksachen 12/5263, 12/5616, 12/5760, Das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung 12/5772, 12/5798, 12/5906, 12/6425 — wünscht unser Kollege Dr. Wolfgang Weng. — Bitte, Berichterstattung: Kollege Weng. Abgeordneter Wolfgang Vogt (Düren) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä- Das ist nicht der Fall. Da auch sonst keine weiteren sident! Meine Damen und Herren! Ich will dem Ziel Wortmeldungen vorliegen, kommen wir zur Abstim- dieses Antrags nicht widersprechen und werde ihm mung. deshalb zustimmen. Ich stelle aber fest: Dieser Antrag Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 verändert die Zweckbindung eines Haushaltsansat- Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im zes und ist ohne jede Beratung im zuständigen Haus- Deutschen Bundestag über Änderungen zu beiden haltsausschuß zustande gekommen. Es sprechen gute Gesetzen gemeinsam abzustimmen ist. Wir stimmen Gründe gegen die Art der Finanzierung des definier- also in einer einzigen Abstimmung über die Beschluß- ten Ziels. Da dieser unser Beschluß keine rechtliche empfehlungen des Vermittlungsausschußes auf den Bindewirkung für die Bundesregierung hat, fordere Drucksachen 12/6424 und 12/6425, Pflege-Versiche- ich die Bundesregierung auf, vor der Umsetzung rungsgesetz und Entgeltfortzahlungsgesetz ab. Die dieses Antrags den zuständigen Fachausschuß, also Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. den Haushaltsausschuß, damit zu befassen. Ich eröffne die Abstimmung. Vizepräsident Helmuth Becker: Gemäß § 31 unserer Ich frage: Ist ein Mitglied hier im Saal oder draußen Geschäftsordnung hat nun unser Kollege Dr. Jürgen in der Wandelhalle, das noch nicht abgestimmt hat? — Rüttgers das Wort. Wir stellen fest, daß alle anwesenden Mitglieder ihre Stimme abgegeben haben. Ich schließe deshalb die Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Mit Schrecken Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Aus- und Bedauern nehme ich von dieser unglaublichen zählung zu beginnen *). Tatsache Kenntnis, daß der Haushaltsausschuß vorher Meine Damen und Herren, ich hoffe auf Ihr Einver- nicht befaßt worden ist. Ich bitte tausendmal urn ständnis, daß wir das Ergebnis der Abstimmung später Entschuldigung; es soll nicht wieder vorkommen. Aber wir sollten es beschließen, denn wir helfen den *) Ergebnis Seite 17337D Menschen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17337

Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Wort- dieser Formalie scheitern lassen, dies um so weniger, meldung gemäß §31 unserer Geschäftsordnung von als der Kollege Weng als haushaltspolitischer Spre- unserem Kollegen Dr. Peter Struck. cher der F.D.P.-Fraktion von sich aus gesagt hat, daß er diese Sache formal zwar moniere, aber im Inhaltli- chen zustimmen wolle. Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damen und Herren Kollegen! Die Argumenta tion des Kollegen Wolfgang Weng überzeugt mich vollständig. Man kann eine solche Maßnahme nicht durchführen, Vizepräsident Helmuth Becker: Jetzt hat sich der ohne den Haushaltsausschuß einzuschalten. Den Kollege Dr. Weng noch einmal gemeldet. Bitte sehr. Menschen wird auch noch geholfen, wenn sich der Haushaltsausschuß im Januar mit dieser Frage beschäftigt. Das Inkrafttreten kann man verschieben. (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä- Deshalb unterstütze ich den Antrag des Kollegen Dr. Wolfgang Weng sident! Meine Damen und Herren! Ich bin zu Beginn Weng. meiner Ausführungen wahrscheinlich nicht von allen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Er hat akustisch genau verstanden worden. Deshalb sage keinen Antrag gestellt!) ich: Wir können hier keine detallierte inhaltliche Diskussion führen; das sehe ich auch. Ich kann zwar nicht jedem Argument, das der Kollege Rüttgers Vizepräsident Helmuth Becker: Ein schriftlicher gerade vorgetragen hat, in der Sache folgen. Aber ich Antrag liegt uns nicht vor. glaube, das ist hier auch nicht Gegenstand der Ver- (Dr. Peter Struck [SPD]: Dann beantrage ich handlung. das, Herr Präsident!) Ich habe ausdrücklich erklärt, daß ich dem Ziel des Jetzt noch einmal der Kollege Dr. Rüttgers. Antrags nicht widerspreche und ihm in der Konse- quenz zustimme. Deshalb habe ich auch keinen förm- lichen Überweisungsantrag gestellt; ich würde einen Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Ich will kurz solchen auch nicht unterstützen wollen. versuchen, Klarheit zu schaffen. Es handelt sich um - (Freimut Duve [SPD]: Das ist Koalitionstreue! einen Antrag, der zu einem Tagesordnungspunkt — Gegenruf des Abg. Gerhart Rudolf Baum eingebracht wurde, der von allen Fraktionen seit [F.D.P.]: Das hat er vorher schon gesagt!) Wochen diskutiert wird. Es geht konkret darum, daß wir versuchen, bei Meisterprüfungen dadurch eine Ich meine trotzdem, daß die Bundesregierung gut Hilfestellung zu geben, daß dafür ein Kreditprogramm beraten ist, meiner Empfehlung, meiner Bitte, meiner im Bereich der KfW aufgelegt wird. Dazu gibt es eine Aufforderung zu folgen, die ich im Rahmen meiner Vorlage der Bundesregierung, die bei den Fraktionen Ausführungen gemacht habe. — zugegebenermaßen kurzfristig — eingegangen ist. Insofern — ich glaube darauf etwas humorvoll einge- hen zu können — ist die Bemerkung des Kollegen Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Weng in der Sache natürlich richtig. Das hätte norma- Dr. Struck, bleibt Ihr Antrag aufrechterhalten? lerweise in den Haushaltsausschuß gehört. (Dr. Peter Struck [SPD]: Selbstverständlich, Es geht darum, daß diese Maßnahme zum 1. Januar Herr Präsident!) 1994 in Kraft treten und der jetzt offene Rechtszustand — Dann stimmen wir über den Antrag des Kollegen im Hinblick auf die Ermächtigung der Kreditanstalt Dr. Struck ab, den hier vorliegenden Antrag der für Wiederaufbau durch unseren Beschluß hier besei- Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. an den tigt werden soll. Anderenfalls würde diese Maß- Haushaltsausschuß zu überweisen. Wer stimmt für nahme, auf die viele H andwerker warten, zum 1. Ja- diesen Antrag? — Die Gegenprobe! — Das letztere nuar 1994 nicht in Kraft treten können. war die Mehrheit. Damit ist der Antrag abgelehnt. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Also machen Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über wir es jetzt!) den vorliegenden Antrag: Wer stimmt für den Antrag Vor diesem Hintergrund sollten wir, meine ich, jetzt der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf nicht formalistisch sein. Es handelt sich um einen Drucksache 12/6426? — Die Gegenprobe! — Stimm- Beschluß zu diesem Verfahren, der dann in der enthaltungen? — Der Antrag ist mit der gleichen Verantwortung der Bundesregierung und der Kredit- Mehrheit angenommen. anstalt für Wiederaufbau durchgeführt wird. Es (Freimut Duve [SPD]: Das ist das Wengener besteht immer noch, Kollege Peter Struck, die Mög- Abkommen gewesen!) lichkeit — falls wir hier der Meinung sind, daß wir Bevor ich den nächsten Punkt der Tagesordnung nach dem Start dieses Programms im Januar daran aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern noch Änderungen vornehmen, daß wir das Mittelvo- und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der lumen im Haushaltsausschuß noch aufstocken sollten namentlichen Abstimmung über die Beschlußemp- oder dergleichen —, alles das noch im Januar im fehlungen des Vermittlungsausschusses zum Pflege Haushaltsausschuß und in den anderen Fachaus- Versicherungs- und Entgeltfortzahlungsgesetz auf schüssen zu beraten. den Drucksachen 12/6424 und 12/6425 mitteilen. Ich finde, wir sollten das, nachdem wir es übrigens Abgegebene Stimmen: 516. Mit Ja haben 292, mit vorher auch so besprochen haben, hier jetzt nicht an Nein 217 gestimmt; Enthaltungen: 7. 17338 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker Endgültiges Ergebnis Haschke (Jena), Udo Molnar, Thomas Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Hasselfeldt, Gerda Müller (Kirchheim), Elmar Uldall, Gunnar Abgegebene Stimmen: 515; Haungs, Rainer Müller (Wesseling), Alfons Verhülsdonk, Roswitha davon: Hauser (Esslingen), Otto Nelle, Engelbert Vogt (Duren), Wolfgang Hauser (Rednitzhembach), Neumann (Bremen), Bernd Dr. Waffenschmidt, Horst ja: 292 Hansgeorg Niedenthal, Erhard Graf von Waldburg-Zeil, Alois Heise, Manfred Nitsch, Johannes Dr. nein: 216 Warnke, Jürgen Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Nolte, Claudia Dr. Warrikoff, Alexander enthalten: 7 Dr. Herr, Norbert Ost, Friedhelm Werner (Ulm), Herbert Hiebing, Maria Anna Oswald, Eduard Wetzel, Kersten Hinsken, Ernst Otto (Erfu rt), Norbert Wiechatzek, Gabriele Ja Hintze, Peter Dr. Päselt, Gerhard Dr. Wieczorek (Auerbach), Hörsken, Heinz-Adolf Dr. Paziorek, Peter Bertram CDU/CSU Hörster, Joachim Pesch, Hans-Wilhelm Dr. Wilms, Dorothee Dr. Hoffacker, Paul Petzold, Ulrich Wilz, Bernd Dr. Ackermann, Else Dr. Hornhues, Karl-Heinz Pfeifer, Anton Wimmer (Neuss), Willy Adam, Ulrich Hornung, Siegfried Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Wisniewski, Roswitha Dr. Altherr, Walter Franz Hüppe, Hubert Pofalla, Ronald Wissmann, Matthias Augustin, Anneliese Jäger, Claus Dr. Pohler, Hermann Dr. Wittmann, Fritz Augustinowitz, Jürgen Jaffke, Susanne Priebus, Rosemarie Wittmann (Tännesberg), Austermann, Dietrich Janovsky, Georg Dr. Probst, Albert Simon Bargfrede, Heinz-Günter Jeltsch, Karin Dr. Protzner, Bernd Wonneberger, Michael Dr. Bauer, Wolf Dr. Jobst, Dionys Pützhofen, Dieter Wülfing, Elke Baumeister, Brigitte Dr.-Ing. Jork, Rainer Raidel, Hans Würzbach, Peter Kurt Belle, Meinrad Dr. Jüttner, Egon Dr. Ramsauer, Peter Yzer, Cornelia Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Jung (Limburg), Michael Rau, Rolf Zeitlmann, Wolfgang Bierling, Hans-Dirk Junghanns, Ulrich Dr. Reinartz, Bertold Zierer, Benno Dr. Blank, Joseph-Theodor Kalb, Bartholomäus Reinhardt, Erika Zöller, Wolfgang Dr. Blens, Heribert Kampeter, Steffen Repnik, Hans-, Peter Karwatzki, Irmgard Dr. Rieder, Norbert Dr. Blüm, Norbert Kauder, Volker Riegert, Klaus F.D.P. ria Dr. Böhmer, Ma Keller, Peter Ringkamp, Werner Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Klein (Bremen), Günter Rode (Wietzen), Helmut Albowitz, Ina Dr. Bötsch, Wolfgang Klein (München), Hans Rönsch (Wiesbaden), Dr. Babel, Gisela Bohl, Friedrich Klinkert, Ulrich Hannelore Baum, Gerhart Rudolf Bohlsen, Wilfried Köhler (Hainspitz), Romer, Franz Beckmann, Klaus Borchert, Jochen Hans-Ulrich Dr. Rose, Klaus Bredehorn, Günther Brähmig, Klaus Dr. Köhler (Wolfsburg), Rossmanith, Kurt J. Engelhard, Hans A. Breuer, Paul Volkmar Roth (Gießen), Adolf van Essen, Jörg Brunnhuber, Georg Kolbe, Manfred Rother, Heinz Funke, Rainer Bühler (Bruchsal), Klaus Kors, Eva-Maria Dr. Ruck, Christian Dr. Funke-Schmitt-Rink, Buwitt, Dankward Koschyk, Hartmut Rühe, Volker Margret Carstensen (Nordstrand), Kossendey, Thomas Dr. Rüttgers, Jürgen Gallus, Georg Peter Harry Kraus, Rudolf Sauer (Salzgitter), Helmut Genscher, Hans-Diet rich Dehnel, Wolfgang Krause (Dessau), Wolfgang Sauer (Stuttga rt), Roland Gries, Ekkehard Dempwolf, Gertrud Krey, Franz Heinrich Schätzle, Ortrun Günther (Plauen), Joachim Deres, Karl Kronberg, Heinz-Jürgen Dr. Schäuble, Wolfgang Dr. Guttmacher, Karlheinz Deß, Albert Krziskewitz, Reiner Scharrenbroich, Heribert Hansen, Dirk Diemers, Renate Lamers, Karl Schell, Manfred Dr. Hirsch, Burkhard Dörflinger, Werner Dr. Lammert, Norbert Schemken, Heinz Dr. Hitschler, Walter Dr. Dregger, Alfred Lamp, Helmut Scheu, Gerhard Dr. Hoyer, Werner Echternach, Jürgen Dr. Laufs, Paul Schmalz, Ulrich Kleinert (Hannover), Detlef Ehlers, Wolfgang Laumann, Karl-Josef Schmidbauer, Bernd Dr. Kolb, Heinrich L. Eichhorn, Maria Lehne, Klaus-Heiner Schmidt (Fürth), Christian Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Engelmann, Wolfgang Lenzer, Christian Schmidt (Mülheim), Andreas Leutheusser-Schnarrenberger, Eppelmann, Rainer Dr. Lieberoth, Immo Schmidt (Spiesen), Trudi Sabine Erler (Waldbrunn), Wolfgang Limbach, Editha Schmitz (Baesweiler), Lüder, Wolfgang Eylmann, Horst Link (Diepholz), Walter Hans Peter Lühr, Uwe Eymer, Anke Lintner, Eduard Dr. Scholz, Rupe rt Dr. Menzel, Bruno Falk, Ilse Dr. Lippold (Offenbach), Frhr. von Schorlemer, Nolting, Günther Friedrich Dr. Faltlhauser, Kurt Klaus W. Reinhard Paintner, Johann Feilcke, Jochen Dr. Lischewski, Manfred Schulhoff, Wolfgang Peters, Lisa Dr. Fell, Karl H. Löwisch, Sigrun Dr. Schulte (Schwäbisch Dr. Pohl, Eva Fischer (Hamburg), Dirk Lohmann (Lüdenscheid), Gmünd), Dieter Richter (Bremerhaven), Fockenberg, Winfried Wolfgang Schwalbe, Clemens Manfred Frankenhauser, Herbert Louven, Julius Schwarz, Stefan Rind, Hermann Dr. Friedrich, Gerhard Dr. Luther, Michael Dr. Schwörer, Hermann Dr. Röhl, Klaus Fritz, Erich G. Maaß (Wilhelmshaven), Erich Seehofer, Horst Schäfer (Mainz), Helmut Fuchtel, Hans-Joachim Männle, Ursula Seesing, Heinrich Schmalz-Jacobsen, Co rnelia Ganz (St. Wendel), Johannes Magin, Theo Seiters, Rudolf Schmidt (Dresden), Arno Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Dr. Mahlo, Dietrich Sikora, Jürgen Dr. Schmieder, Jürgen Geiger, Michaela Marschewski, Erwin Sothmann, Bärbel Dr. Schnittler, Christoph Geis, Norbert Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Spilker, Karl-Heinz Seiler-Albring, Ursula Dr. Geißler, Heiner Martin Dr. Sprung, Rudolf Dr. Semper, Sigrid Gibtner, Horst Meckelburg, Wolfgang Steinbach-Hermann, Erika Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Göhner, Reinhard Dr. Merkel, Angela Dr. Stercken, Hans Dr. Starnick, Jürgen Göttsching, Martin Dr. Meyer zu Bentrup, Strube, Hans-Gerd Dr. Thomae, Dieter Götz, Peter Reinhard Stübgen, Michael Timm, Jürgen Gres, Joachim Michalk, Maria Dr. Süssmuth, Rita Türk, Jürgen Dr. Grünewald, Joachim Michels, Meinolf Susset, Egon Dr. Weng (Gerlingen), Günther (Duisburg), Horst Dr. Mildner, Klaus Tillmann, Ferdi Wolfgang Harries, Klaus Dr. Möller, Franz Dr. Töpfer, Klaus Würfel, Uta Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17339

Vizepräsident Helmuth Becker Fraktionslos Dr. Holtz, Uwe Schöler, Walter Homburger, Birgit Huonker, Gunter Schreiner, Ottmar Kohn, Roland Dr. Krause (Bonese), Ibrügger, Lothar Schütz, Dietmar Koppelin, Jürgen Rudolf Karl Iwersen, Gabriele Dr. Schuster, R. We rner Zywietz, Werner Jäger, Renate Schwanhold, Ernst Janz, Ilse Schwanitz, Rolf Dr. Janzen, Ulrich Seidenthal, Bodo PDS/Linke Liste Jaunich, Horst Seuster, Lisa Nein Dr. Jens, Uwe Sielaff, Horst Bläss, Petra Kastner, Susanne Simm, Erika Dr. Enkelmann, Dagmar CDU/CSU Kastning, Ernst Singer, Johannes Dr. Fischer, Ursula Kemper, Hans-Peter Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Vondran, Ruprecht Kirschner, Klaus Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Jelpke, Ulla Klappert, Marianne Sorge, Wieland Dr. Keller, Dietmar Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Dr. Sperling, Diet rich Lederer, Andrea Klemmer, Siegrun Steen, Antje-Ma rie Dr. Modrow, Hans SPD Klose, Hans-Ulrich Steiner, Heinz-Alfred Philipp, Ingeborg Dr. Knaape, Hans-Hinrich Stiegler, Ludwig Dr. Schumann (Kroppenstedt), Adler, Brigitte Kolbow, Walter Dr. Struck, Peter Fritz Andres, Gerd Koltzsch, Rolf Terborg, Margitta Dr. Seifert, Ilja Antretter, Robe rt Koschnick, Hans Dr. Thalheim, Gerald Stachowa, Angela Bachmaier, Hermann Kubatschka, Horst Thierse, Wolfgang Bartsch, Holger Dr. Kübler, Klaus Titze-Stecher, Uta Becker (Nienberge), Helmuth Kuessner, Hinrich Toetemeyer, Hans-Günther BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Becker-Inglau, Ing rid Dr. Küster, Uwe Urbaniak, Hans-Eberhard Berger, Hans Kuhlwein, Eckart Vergin, Siegfried Köppe, Ingrid Bernrath, Hans Gottfried Lambinus, Uwe Verheugen, Günter Poppe, Gerd Beucher, Friedhelm Julius Lange, Brigitte Dr. Vogel, Hans-Jochen Schenk, Christina Bindig, Rudolf von Larcher, Detlev Voigt (Frankfurt), Karsten D. Schulz (Berlin), Werner Blunck (Uetersen), Lieselott Leidinger, Robert Wallow, Hans Weiß (Berlin), Konrad Bock, Thea Lennartz, Klaus Walter (Cochem), Ralf Dr. Böhme (Unna), Ulrich Lörcher, Christa Dr. Wegner, Konstanze Börnsen (Ritterhude), Arne Lohmann (Witten), Klaus Weiermann, Wolfgang Fraktionslos Brandt-Elsweier, Anni Dr. Lucyga, Christine Weiler, Barbara Dr. Brecht, Eberhard Maaß (Herne), Dieter Weis (Stendal), Reinhard Dr. Briefs, Ulrich Büchler (Hof), Hans Marx, Dorle Weisheit, Matthias Büchner (Speyer), Peter Mascher, Ulrike Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. von Bülow, Andreas Matschie, Christoph Dr. Wernitz, Axel Büttner (Ingolstadt), Hans Matthäus-Maier, Ingrid Westrich, Lydia Bulmahn, Edelgard Mattischeck, Heide Dr. Wetzel, Margrit Enthalten Burchardt, Ursula Meißner, Herbert Weyel, Gudrun Bury, Hans Martin Dr. Mertens (Bottrop), Dr. Wieczorek, Norbert CDU/CSU Caspers-Merk, Marion Franz-Josef Heidemarie Wieczorek-Zeul, Catenhusen, Wolf-Michael Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Wiefelspütz, Dieter Büttner (Schönebeck), Conradi, Peter Mosdorf, Siegmar Dr. de With, Hans Hartmut Daubertshäuser, Klaus Müller (Düsseldorf), Michael Wittich, Berthold Doss, Hansjürgen Dr. Diederich (Berlin), Nils Müller (Zittau), Christian Wohlleben, Verena Grochtmann, Elisabeth Diller, Karl Neumann (Bramsche), Volker Wolf, Hanna Rauen, Peter Harald Dr. Dobberthien, Marliese Dr. Niehuis, Edith Schulz (Leipzig), Gerhard Dreßler, Rudolf Dr. Niese, Rolf Seibel, Wilfried Duve, Freimut Niggemeier, Horst F.D.P. Ebert, Eike Odendahl, Doris Dr. Eckardt, Peter Oesinghaus, Günter Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. Dr. Ehmke (Bonn), Horst Oostergetelo, Jan Grüner, Martin Eich, Ludwig Opel, Manfred Heinrich, Ulrich Schüßler, Gerhard Dr. Elmer, Konrad Ostertag, Adolf Esters, Helmut Dr. Otto, Helga Ewen, Carl Palis, Kurt Ferner, Elke Paterna, Peter Die Beschlußempfehlungen sind angenommen. Fischer (Gräfenhainichen), Dr. Penner, Willfried Evelin Peter (Kassel), Horst Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Fischer (Homburg), Lothar Dr. Pfaff, Martin Formanski, Norbe rt Pfuhl, Albert Tagesordnungspunkt 16 auf: Fuchs (Köln), Anke Poß, Joachim Fuchs (Verl), Katrin Purps, Rudolf Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Fuhrmann, Arne Reimann, Manfred ten Freimut Duve, Evelin Fischer (Gräfenhaini- Gansel, Norbert Rennebach, Renate chen), Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeord- Gilges, Konrad Reschke, Otto neter und der Fraktion der SPD Gleicke, Iris Reuter, Bernd Dr. Glotz, Peter Rixe, Günter Lage der Kultur in den neuen Ländern Graf, Günter Schaich-Walch, Gudrun Haack (Extertal), Schanz, Dieter — Drucksache 12/4399 — Karl Hermann Scheffler, Siegfried Habermann, Michael Schily, Otto Ich weise darauf hin, daß die Antwort der Bundes- Hacker, Hans-Joachim Schloten, Dieter regierung zu dieser Großen Anfrage zwischenzeitlich Hampel, Manfred Schluckebier, Günter eingegangen ist. Sie liegt Ihnen auf Drucksache Hanewinckel, Christel Schmidbauer (Nürnberg), Dr. Hartenstein, Liesel Horst 12/6385 vor. Es liegt außerdem ein Entschließungsan- Hasenfratz, Klaus Schmidt (Aachen), Ursula trag der Fraktion der SPD vor. Heistermann, Dieter Schmidt-Zadel, Regina Hiller (Lübeck), Reinhold Dr. Schmude, Jürgen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Hilsberg, Stephan Dr. Schöfberger, Rudolf Aussprache eine Zeit von zwei Stunden vorgesehen. 17340 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das daß die Förderbemühungen der letzten drei Jahre so beschlossen. dadurch nachträglich ad absurdum geführt wür- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst den. Es bleibt zu bezweifeln, daß es dann schnel- unserem Kollegen Freimut Duve das Wort. ler gelingen wird, die von uns allen herbeige- wünschte innere Einheit aller Deutschen zu voll- enden. Der Brief schließt: Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- nen und Kollegen! Geld wird in Raten gezahlt, Es muß deshalb — und dies kann gar nicht Abschiede auch. Heute begehen wir den Abschied beschwörend genug betont werden — Aufgabe dieser Bundesregierung aus einer übernommenen und Programm Ihrer Regierung sein, die Kultur- Verantwortung, einer übernommenen Verpflichtung, förderung der letzten drei Jahre mit ausreichen- einer gemeinsam mit uns eingeschlagenen Politik. den Mitteln fortzuführen. Aus dem Abschied auf Raten scheint ein dramatischer Absturz zu werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ger Das ist, glaube ich, die Stimme nicht nur dieses einen hart Rudolf Baum [F.D.P.]: Nur keine Drama Bürgermeisters, sondern aller Bürgermeister und a ller -tik!) Landräte in den neuen Bundesländern, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Ich habe darum bewußt Die peinliche Bemühung der Unionsfraktion, diese einen überparteilichen, nicht parteigebundenen Debatte heute morgen nicht zu führen, entspricht der Oberbürgermeister zitiert. Er ist ebenso verzweifelt unwürdigen Form, in der dieser Abschied von der wie seine Kollegen. Politik des Bundeskanzlers durch den Finanzminister eingeläutet worden war. Es gibt Trauerfeiern mit Kultur ist Ländersache — das sagt sich so schön —, Würde, es gibt das peinliche Verscharren irgendwo in aber die Zukunft der sozialen Kultur unseres Landes der Ecke des Friedhofs, und selbst wer gestern noch liegt in den Städten und Gemeinden. Wenn in ihnen trauerte, drückt sich jetzt vor dem offenen Wort. Ich die Zivilität zusammenbricht, dann würde auch unser habe von einigen Ihrer Kollegen aus den neuen Land zusammenbrechen. - Ländern gehört, daß sie deshalb, weil Sie zu dem nicht (Beifall bei der SPD) Stellung nehmen wollen, was hier jetzt passiert, ungern hier heute dazu reden würden. Zu dieser Zivilität, von der wir nach dem Zusammen- fall der kommunistischen Staaten und auch nach dem Der Bund legt seine Finanzhilfe für Ostdeutschland Zusammenbruch der DDR immer wieder gesprochen endgültig still. Es trifft die am härtesten, die für das hatten, gehört die Kultur, gehören die traditionellen soziale und kulturelle Gewebe unseres Landes die Theater ebenso wie die neuen künstlerischen Initiati- größte, unmittelbare Verantwortung tragen: die ven, das soziokulturelle Zentrum ebenso wie die Städte und Gemeinden. Nicht mit meinen, sondern Nachbarschafts-Begegnungsstätte. mit den Worten des Oberbürgermeisters der Stadt Frankfurt an der Oder will ich das Drama schildern. Er Die Christliche und Demokratische Union Deutsch- hat gestern an den Bundeskanzler geschrieben — ich lands hat das private Gewaltfernsehen in unserem zitiere —: Lande durchgesetzt, jetzt trägt sie die Hauptverant- wortung für den Rückzug des Staates aus dieser Sie haben seinerzeit kulturpolitische Weitsicht zivilisatorischen Verantwortung für die Kulturpolitik bewiesen, in den neuen Bundesländern. — wir teilen dieses Lob — (Beifall bei der SPD) als Sie sich auf der Grundlage des Einigungsver- trages dazu verstanden, die Kultur Ostdeutsch- Ich persönlich empfinde daher diese Debatte wirklich lands durch ein Strukturförderungsprogramm zu als Verabschiedung. Wir mußten die Bundesregie- stützen. Diese Förderung hat den Erhalt unver- rung und die Mehrheit des Hauses zu dieser Debatte zichtbarer Bestandteile des deutschen Geistes- erst zwingen; das wissen Sie. Zweimal ist um Ver- und Kulturlebens in Ostdeutschland ermöglicht. schiebung der Antwort auf unsere Große Anfrage Sie wurde von den beteiligten Bürgerinnen und gebeten worden. Noch gestern abend wurde ich Bürgern zugleich als eine Aufforderung verstan- aufgefordert, auf die Debatte zu verzichten. Es ist auch den, vertrauensvoll nach vorn zu blicken und den eine Verabschiedung aus einer gemeinsamen An- Kulturstandort Deutschland engagiert und un- strengung, an der wir Sozialdemokraten von Anfang beirrt zu sichern und das kulturelle Ansehen an ganz entscheidend mitgewirkt hatten. unserer wiedergewonnenen Nation in und vor (Ina Albowitz [F.D.P.]: Na!) aller Welt stärken zu helfen. — Na, gut, wir werden auch Ihr „Na" nachher hören. Aber zum Schluß, zum Ende der Bundesförderung — Diese Kulturkoalition aller Parteien stimmt nicht heißt es in diesem B rief an den Bundeskanzler: mehr. Es ist ... vorauszusehen, daß die kulturelle Sub- In der großen Kulturdebatte vom November 1984, stanz als Herr Dr. Dregger damals die Debatte eröffnete, — und darum ging es ja — habe ich hier Günter Grass zitiert: im ehemaligen Beitrittsgebiet und damit in Bevor es überhaupt eine deutsche Nation gab, Deutschland großen Schaden nehmen wird und gab es Klopstock und Lessing, eine deutsche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17341

Freimut Duve Literatur. Deutschland ist 100 Jahre vor Bismarck Deutschen auch über eine längere Zeit von allen durch deutsche Schriftsteller und Philosophen, getragen werden können. die den Geist der Aufklärung durch dieses Land (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und wehen ließen, kraft der Sprache geeint worden. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aus diesem Geist hat meine Fraktion bereits im Hier ist ein Wort zu den großen Leistungen der Dezember 1989, wenige Wochen nach dem Fa ll der kleinen Kulturabteilung des Innenministeriums an- Mauer, einen Antrag vorbereitet und im Januar 1990 gebracht. Ich nenne Herrn von Köckritz und Herrn eingebracht, in dem wir die Grundlage für die spätere Hieronymus, die beide aus dem Dienst ausgeschieden Bundesverantwortung im Einigungsvertrag sehen. sind, Herrn Ackermann und ihre Mitarbeiter. Es ist übrigens schändlich, über diesen ersten von (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sie nennen Sozialdemokraten lange vor der staatlichen Vereini- sie zu Recht!) gung gemachten Schritt zur Schaffung einer gemein- In ganz kurzer Zeit haben sie ein Konzept erarbeitet samen kulturpolitischen Institution aller Deutschen und eine Form der Hilfe gefunden, die den Auftrag des hinwegzugehen, ihn gar nicht wahrzunehmen und Einigungsvertrags erfüllte. Mit Kreativität und Ge- immer wieder mit wüsten Angriffen auf Persönlichkei- schwindigkeit — Geschwindigkeit, die bei einer ten aus unserer Partei zu antworten, z. B. auf unseren Administration selten ist — ist der Zusammenbruch Präsidentschaftskandidaten Johannes Rau. Ich finde vieler Kultureinrichtungen der ehemaligen DDR ver- das schändlich, wenn Sie nicht genau wissen, wie die hindert worden. Entwicklung und die Diskussion in diesem Hause, zu einer Gemeinsamkeit zu kommen, gewesen sind. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sehr rich -tig!) (Beifall bei der SPD) Bonn hat keine Kultur betrieben, aber die Basis dafür Die erste Initia tive zu einer gemeinsamen Ins titution geschaffen, daß sich Kunst und Kultur aus der staatli- — lange vor der Diskussion um Art. 23 des Grundge- chen Verklammerung der alten Zeit lösen und neue setzes — ist von meiner Fraktion ergriffen und bereits Formen suchen konnten. Es ist in diesem Gebiet nicht im Januar 1990 eingebracht worden. wie in vielen anderen Bereichen einfach „abgewik- kelt" worden. Mitte März 1990 habe ich in einem längeren Appell 1990, 1991 und 1992 hat also die von vielen befürch- in der „Zeit" gefragt: tete Kulturtragödie nicht stattgefunden, jedenfalls Wie sieht künftig staatsferne, freie und individu- nicht die materielle und institutionelle. Dazu haben elle Kultur aus? Wie die Kultur des Zusammenle- wir alle hier im Bund unseren Beitrag geleistet, bens in einer Welt zunehmender innerer Gewalt- übrigens weit mehr als die westlichen Bundesländer, bereitschaft? die oft so kritisch mit den kulturellen Miniaktivitäten des Bundes umgehen. Herr Kollege Baum, Sie weisen — Das war im März 1990. Wir haben die Gewalt dann darauf immer besonders gerne hin. bekommen. Die Tragödie könnte aber jetzt eintreten, wenn sich Wo bleibt das in der DDR so mißbrauchte Erbe des die Befürchtungen des Frankfurter Bürgermeisters Humanismus, aus dem unsere Verfassungskultur bewahrheiten sollten. An Warnungen davor hat es stammt? Wer wird auf Dauer bei uns jenes knappe nicht gefehlt: Im Ap ril 1993 haben die Grenzlandräte Gut „kulturelle Öffentlichkeit" garantieren und Sachsens eine gemeinsame Resolution verfaßt, aus finanzieren, nachdem sich die so schändlich der ich zitiere: bevormundeten Bürger der DDR gesehnt hat- Die Landräte nehmen mit großer Besorgnis von ten? dem von der Bundesregierung Ende 1994 geplan- ten Auslaufen der Übergangsfinanzierungskultur Die Antwort auf solche Vorstöße — ich erinnere an nach Artikel 35 Einigungsvertrag Kenntnis. die vorzüglichen Analysen der kulturellen Lage Ost- deutschlands z. B. von Dieter Zimmer in der „Zeit", Die Landräte verwiesen in diesem Zusammenhang der darauf immer wieder hingewiesen hat — war auf die in ihrem Bereich weit über dem Bundesdurch- Art. 35 des Einigungsvertrages. Damals haben alle schnitt liegende Arbeitslosigkeit und die damit ver- Fraktionen an einem Str ang gezogen und die Kultur- bundene Abwanderung in Ballungsgebiete sowie das glocke in Schwingung gebracht. Sie hat geläutet. Sie Ansteigen von Kriminalität und Rechtsradikalismus. hat vielleicht manche in Ostdeutschland auch geläu- Dann stimmen 18 Landräte ausdrücklich den Plä- tert: Insgesamt über 3 Milliarden DM hat der Bund den nen des Innenministeriums zu, die Bundesverantwor- fünf Ländern und Berlin gezahlt. tung über 1994 hinaus zu sichern. Denn das war das „Zeit kaufen" hatte ich diese Verpflichtung damals Signal, das die Bundesregierung damals noch an alle genannt. Uns war klar: Das muß degressiv geschehen Leute in den neuen Ländern gegeben hat. Heinz und kann in dieser Form nicht für ewig gelten. Aber Eggert, der sächsische Innenminister und stellvertre- allen war auch klar: Wenn der Bund über Jahrzehnte tende CDU-Vorsitzende, stimmt dieser Beurteilung die Benachteiligung des sogenannten Zonenrandge- seinerseits am 16. Juli ohne jede Einschränkung zu. biets mit Hunderten von Millionen finanziert hatte, Dann, wenige Monate später, kommt der Hammer von Kassel bis Hof — noch in diesem Jahr sollen dafür — ich darf ja nicht sagen: die Sichel; meine Mitarbei- fast 50 Millionen DM gezahlt worden sein —, dann terin hat mir gesagt, das solle ich lieber nicht sagen; müssen die Kosten für die kulturelle Vereinigung der ich sage es aber doch, weil es ein hübsches Bild ist —: 17342 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Freimut Duve Der selbsternannte Kulturminister des Bundes, Herr Der Bund zieht sich zurück und läßt die glühenden Waigel, begründet in der FAZ vom 26. August die Landschaften allein. neue Kulturenthaltung des Bundes. Er desavouiert (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Schönes seinen Kollegen Kanther, der gerade erst ins Amt Bild!) gekommen war. Er bespricht sich nicht mit ihm, sondern meint, nun könne er die Kulturpolitik über- Aus dem Standort Deutschl and könnte der Brandort nehmen. Deutschland werden, wenn in Städten und Gemein- den die kulturellen Netze für die Menschen, für die (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Da ist das Alten wie für die Jungen, für die Arbeitslosen, zerrei- letzte Wort noch nicht gesprochen!) ßen. Die Zahlen der Besucher von Kulturveranstaltun- Ich weiß aus dem Haus, daß das auch ein Bruch gen haben — nach dem Abfall der ersten Jahre — einer bestimmten Kabinettsdisziplin gewesen ist. Er schon wieder drastisch zugenommen. Wenn jetzt geht über die Vorschläge des Fachressorts hinweg Einrichtungen schließen müßten, dann würde auch und verkündet dies nicht im Kabinett, nicht in einer die bisherige Leistung gefährdet. gemeinsamen Besprechung und auch nicht in einer Ich will noch einmal an die Zonenrandförderung Vorbesprechung mit Parlamentariern, sondern in der erinnern. Vier Bundesländer — Schleswig-Holstein, FAZ. Das ist vielleicht der öffentliche Ort, an dem man Niedersachsen, Hessen und Bayern — haben vom sozusagen Ressortpolitik betr eibt. Bund von 1982 bis 1989, also bis zum Fall der Mauer, (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Pseudo jährlich insgesamt weit über 110 Millionen DM, zwi- politik! ) schen 111 Millionen DM und 131 Millionen DM, bekommen. Niemand hatte ihn dazu autorisiert. Uns Oppositions- Wir wußten, warum, und warum wir dem immer fraktion hatte man am 18. August gebeten, der Ver- zugestimmt haben. Niemand hat das damals Über- schiebung der Beantwortung unserer Großen Anfrage gangsfinanzierung genannt. Das war auf Dauer ange- zuzustimmen. legt und wäre weiter gezahlt worden, wenn die - Einheit nicht gekommen wäre. Für die Narben der Waigel begründet den Rückzug nicht mit der Kas- Trennung insgesamt über 30 Milliarden DM für kul- senlage, sondern vor allem mit der Verfassungslage, turelle und soziale Aufgaben in den vier genannten nicht ohne seine bayerischen Schäfchen in Bamberg Ländern über viele Jahrzehnte — für die Heilung der und Bayreuth ins Trockene zu bringen. Ich habe gar Einheit knapp 3 Milliarden DM für vier Jahre! nichts gegen die beiden wich tigen Kultureinrichtun- Nun ist ein Trick gefunden worden; Sie wissen es. gen. Man hat mir vorgeworfen, weil ich das woanders Wir sollen ihn nicht kritisieren, damit er nicht noch auch schon einmal gesagt habe, ich hätte etwas gegen gefährdet werde, hat man mir gesagt. Also, so kann ich Wagner. die Aufgabe der Opposi tion nicht verstehen: 250 Mil- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Gut, daß Sie lionen DM aus einem Fonds, der dem Bund gar nicht das jetzt richtigstellen!) gehört, sondern dessen Mittel längst den Ländern zugestanden worden waren. Wir werden sehen, ob Ein Sozialdemokrat würde nie wagen, irgend etwas dieses Bezahlen aus fremder Tasche funktioniert. gegen Wagner zu haben. Aber es ist zuwenig, es sind keine Bundesmittel, und es schmälert die Mittel der neuen Länder für andere Der Artikel Waigels erschien wenige Tage, nach- Aufgaben. dem sein Kollege Kanther dem sächsischen Kulturmi- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Genau nister geschrieben hatte, er hoffe mit Hilfe des Kanz- das!) lers auf eine Fortführung der Zahlungen, und wenige Wochen nach einem dringenden Appell des Kanzler- Die Antwort der Bundesregierung auf unsere freundes Biedenkopf, um Schaden von der kulturellen Anfrage ist daher unbefriedigend. Sie stellt den Substanz abzuwenden. Zustand bis 1993 richtig dar, geht aber nicht auf die entstandene bedrohliche Lage bei Wegfall des Bonner (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Was? Geldes ein. Sein Freund? Ich weiß nicht!) Ich finde, der Bundeskanzler hat sein Vertrauen verspielt. Er wollte die geistig-moralische Wende. — Ist er denn nicht sein Freund? Jetzt kämpft er mit dem geistig-moralischen Ende der Bundesregierung Kohl. Seit dieser Regierungserklärung des Finanzmini- sters kann sich die Opposition an die Gemeinsamkeit (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und der Kulturpolitik für die neuen Länder, die wir so dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lange geübt hatten, nicht mehr gebunden fühlen, vor allem deswegen nicht, weil uns Stellungnahmen aus Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und den Kulturministerien der neuen Länder vorliegen. Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Rai- Sie weisen sehr präzise darauf hin, wie stark gerade ner Jork. die Entwicklung eigener Förderungsstrukturen, also das Aufbauen des Eigenen, bestimmt ist von der Zusicherung, auch über 1994 hinaus Bundesmittel zu Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident! bekommen. Auch wenn man etwas Eigenes aufbauen Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Überein- will, braucht man eine Überbrückungshilfe. stimmung und Ausfüllung des Art. 35 des Einigungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17343

Dr.-Ing. Rainer Jork vertrages, ist durch die Bundesregierung die Über- Bundesregierung wird nun ein Ausweg aufgezeigt. gangsfinanzierung der Kultur in den neuen Bundes- Ich sehe dabei jedoch eine Menge Fragezeichen: ländern mit ca. 3,3 Milliarden DM gesichert worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Das betraf z. B. die Teilprogramme zur Substanzerhal- Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) tung, für die Infrastruktur und den Denkmalschutz. So zur Höhe, Verfügbarkeit, Zuordnung und Glaubwür- konnte in der ersten Übergangszeit, in der die neuen digkeit. Bundesländer noch nicht über ein ausreichendes eigenes Steuer- und Finanzeinkommen verfügten, die (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke kulturelle Substanz erhalten und gefördert werden. Es Liste) ist mir ein besonderes Bedürfnis, der Bundesregierung dafür sehr herzlich zu danken. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Dr. Jork, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Ich freue mich auch über die zunehmende Achtung gen Baum? und Akzeptanz ostdeutschen Kulturgutes durch Gäste aus den alten Bundesländern und dem Ausland. Am vergangenen Wochenende erlebte ich rund um den Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ich würde gerne Dresdener Striezelmarkt, in der Kreuzkirche, an der erst zum Ende kommen; vielleicht erübrigt sich dann Semperoper und am Sitz der Dresdener Philharmonie, die Frage. Ich sehe, daß ich ohnehin möglicherweise was vielfältige, lebende Kultur bedeutet. Zeitprobleme habe. Können wir das dann im Anschluß klären? In den letzten Wochen haben wir in diesem Hohen (Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Ja!) Haus um Lösungen und Akzeptanz für den Bundes- haushalt gestritten. Kürzungen und Einschränkungen Ich sage dies bewußt — deshalb wollte ich jetzt nicht erzeugten, je nach eigener Befassung und Interessen- unterbrechen — im Zusammenhang damit, daß im lage, Befangenheit oder Sensibilität, mehr oder weni- Bundeshaushalt sowohl die frühere Zonenrandförde- ger kritische Reaktionen. Natürlich bleibt die Arbeits- rung als auch die Förderung bestimmter kultureller losigkeit, die unzureichende Arbeitsorganisation für Einrichtungen durch den Bund, z. B. in Bonn und die Wirtschaft das Hauptproblem in Gesamtdeutsch- Bayern, weitergeführt werden. Ich bitte die Bundesre- land, aber zunehmend auch die entsprechende Vor- gierung, zu prüfen, ob die gedachte Summe nicht doch - aussetzung im kulturellen Bereich. auf den Bedarfsbetrag von ca. 500 Millionen DM erhöht werden kann. Für überaus schmerzlich, ja gefährlich halte ich die (Beifall des Abg. Dr. Dietrich Mahlo [CDU/ Streichung der Übergangsfinanzierung Kultur für die CSU] sowie bei der SPD und dem BÜND neuen Bundesländer. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, PDS/Linke Liste und Es geht insgesamt um die weitere Beseitigung der dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Folgen der deutschen Teilung. Natürlich kündigte sich das bereits mit dem kw (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Sehr Vermerk im Haushalt 1993 an. wahr!) (Freimut Duve [SPD]: „kw" gleich „Kultur Mit dem Blick nach Osteuropa spielen dabei auch weg"!) auswärtige Gesichtspunkte eine Rolle. (Freimut Duve [SPD]: Sie sind ja noch kriti — „kw", das sei gesagt, heißt „kann wegfallen"; scher als ich!) vielleicht ist das nicht jedem, der hier zuhört, bekannt. — Dieser Vermerk stand aus meiner Sicht und der — Wir sind immer selbstkritisch. Aber wir wollen Sicht der sächsischen Staatsregierung bereits im natürlich abwägen, was wir können und was wir Widerspruch sowohl zum Einigungsvertrag, in dem wollen. Da sind wir in einem stärkeren Konflikt als Sie, diese Hilfe bis zum Wirksamwerden des Bund- Herr Duve. Das macht es uns ein bißchen schwerer. Länder-Finanzausgleichs, also 1995, zugesagt wurde, Deshalb habe ich mir sehr wohl überlegt, was ich als auch zu der realen Finanzkraft, dem Steuerauf- sage. kommen der neuen Bundesländer. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Völlig klar! — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Was Es entspricht nicht den Tatsachen, wenn behauptet haben denn die Mitglieder der CDU/CSU im wird, die Beendigung der Übergangsfinanzierung im Haushaltsausschuß gemacht?) Haushalt 1993 sei angesichts des Föderalen Konsoli- dierungsprogramms auf ausdrücklichen Wunsch des Deutschen Bundestages erfolgt. Ich kann mich daran Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege nicht erinnern. Dr. Jork, der Kollege Lüder hat sich zu einer Zwi- schenfrage gemeldet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Gut, Herr Lüder. In der Haushaltsdebatte am 9. September 1992 Da ich ohnehin unterbrochen habe, ist das nur recht sagte der Bundeskanzler eine insgesamt befriedi- und billig. gende Lösung zu. Das sind für die Be troffenen im Jahre 1993 ca. 650 Millionen DM und 1994 ca. Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Kollege, da Sie das 500 Millionen DM. Mit der Zuordnung von 250 Mil- Wort „Zuordnung" hinsichtlich der 250 Millionen DM lionen DM für 1994 aus dem ehemaligen DDR- verwendet haben, frage ich, ob Ihnen der Passus in Parteivermögen mit Sicherheitsgarantien durch die Anlage II Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt III des 17344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Wolfgang Lüder Einigungsvertrags bekannt ist, wonach die unabhän- gen von gesamtdeutschem und europäischem R ang gige Kommission, die erst entscheiden kann, wenn sie ab 1995 auch in den neuen Bundesländern vom Bund Geld hat, Parteivermögen, das sie den Berechtigten gefördert und unterstützt werden. nicht zuordnen kann, nur „zugunsten gemeinnütziger (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der PDS/ Zwecke, insbesondere der wirtschaft lichen Umstruk- Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE turierung, in dem in Artikel 3 des Vertrages "— also GRÜNEN) den neuen Bundesländern, „genannten Gebiet" ver- Dabei kann das Ziel nicht in einer Umverteilung von wenden darf? West nach Ost bestehen. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: War rich- Die Kultusministerkonferenz hat Kriterien für die tig zitiert!) Förderung von kulturellen Aufgaben und Einrichtun- gen erarbeitet, die von gesamtdeutscher und europäi- scher Bedeutung sind. Auf dieser Grundlage gilt es Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Kollege, ich jetzt rasch zu konstruktiven Entscheidungen und sehe das direkt im Zusammenhang mit meinem Satz, Vereinbarungen zu kommen. Die sächsische Staatsre- daß ich eine Menge Fragezeichen sehe. gierung ist beispielsweise sehr an weiteren konkreten (Beifall bei der SPD) Absprachen und Vereinbarungen zur sogenannten Wahrscheinlich hat sich das gerade überdeckt. Ich Leuchtturmförderung interessiert. kann nur bestätigen, daß ich Probleme sehe. Deshalb Bezogen auf die aktuelle Situation kann ein Ausset- möchte ich auch gerne an dieser Stelle weiterreden. zen der bisher so wesentlichen Hilfe zu einer extre- Ich sehe mindestens Nachdenk-, aber auch Hand- men Gefährdung des Erreichten führen. Erfolgreiche lungsbedarf. Maßnahmen sollten nicht abgebrochen werden, Wenn es um die Frage geht, was die neuen Bundes- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Sehr länder in das gemeinsame Deutschland einbringen, gut!) dann ist das für mich neben dem Willen zum Aufbau sonst besteht die Gefahr, daß Kirchen und historische vor allem ein wesentlicher Bestandteil gesamtdeut- Gebäude zerfallen. scher nationaler Kultur. - (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) DIE GRÜNEN — Hans-Günther Toetemeyer Im Rahmen der europäischen Staaten ist Deutschland [SPD]: Das ist der Punkt!) eben nicht nur geprägt durch Wirtschaft und Wissen- Kulturelle Güter kann ich nicht fiskalisch mit Maschi- schaft, sondern vor allem durch gelebte und erlebbare nen und Betrieben gleichsetzen. Ein Orchester kann Kultur. Eine sichtbare Gefährdung gesamtdeutscher man eben nicht wie eine Maschine in Ölpapier packen kultureller Substanz durch Vernachlässigung in einer und nach zwei Jahren Lagerzeit wieder in Betrieb Übergangszeit bedeutet Verzicht auf identitätsstif- setzen. tende Wirkung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Natürlich waren und sind auch die neuen Bundes- Das hervorragende Angebot deutscher Kultur länder selber in der Pflicht, durch Strukturreformen betrifft in einer Zeit zunehmenden Egoismus und und Veränderungen Überangebote wirksam zu redu- wachsenden Extremismus ein besonderes kostbares zieren. In Sachsen wurden und werden Kostenredu- zu hütendes Erbe und Gut. Nehmen wir es an! zierungen u. a. durch Zusammenlegung, Schließun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen und Personalabbau erreicht. Die Staatsoper Dres- DIE GRÜNEN — Zuruf von der F.D.P.: Sie den reduzierte beispielsweise bis 1992 ihren Personal- kritisieren hier laufend den Bundesinnenmi bestand auf 85 %, die Landesbühnen Sachsen auf nister!) 83 %. Durch Fusion wurde die Vogtlandphilharmonie auf 57 % der Musiker verringert. Das Deutsch-Sorbi- Wir dürfen uns nicht über einen Orientierungsdrang sche Volkstheater Bautzen setzte durch Fusion mit der und eine eventuell fragwürdige Auswegsuche durch Lausitzer Philharmonie bis zum 1. August 1992 Menschen in den neuen Bundesländern wundern, 145 Beschäftigte frei. Das nur als Beispiele aus Sach- wenn ihnen nach den Betrieben bzw. Arbeitsplätzen sen. — in die sie bekanntermaßen viel mehr eingebunden waren, als man hier im allgemeinen weiß — auch die Es entstehen Programme zur langfristigen Kultur- für sie wesentliche kulturelle Identität in Frage förderung mit nationaler Bedeutung. Der Bund hat gestellt wird. auch hierfür Hilfe angekündigt, die angesichts der realen Wirtschaftslage in den neuen Bundesländern, Herr Kollege also des nur langsam steigenden eigenen Steuerauf- Vizepräsident Helmuth Becker: Dr. Jork, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- kommens, und der Personalkostensteigerungen erfor- gen Weng? derlich ist. Diese Vereinbarungen zur längerfristigen Stützung der deutschen Kulturlandschaft in den neuen Bundesländern können eine wirksame Hilfe Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Bitte. sein. Die nationale Verantwortung für Kultur als lebens- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege notwendiges Element jeder Gemeinschaft, die unbe- Weng. schadet der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes auch der Bund mitträgt, geht nicht 1994 zu Ende. Es ist Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- dringend notwendig, daß Aufgaben und Einrichtun- lege, es ist unverhältnismäßig problemlos, hier Dinge Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17345

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) darzustellen, die wünschenswert sind, und dafür auch die erforderliche Reife, auch andere Kulturen und Applaus zu erhalten. Darf ich Sie in Kenntnis der Ausländer im eigenen Land zu verstehen. Im kulturel- Verantwortung Ihrer Fraktion fragen: Haben Sie, len Umfeld entfaltet sich die Seele des Individuums. wenn Sie sich für den SPD-Antrag aussprechen und Kunst und Kultur waren in der DDR auch Fluchtstellen dieses für Ihre Fraktion tun, berücksichtigt, daß über für seelisch Bedrängte. Tun wir mehr gegen ein die Finanzierung von einer halben Milliarde DM an seelenloses Umfeld! Ausgaben zusätzlich im nächsten Jahr hier nicht das Ich sage hier jenen, die meinen, ostdeutsche Kultur- geringste gesagt wird? Glauben Sie tatsächlich, daß förderung käme allein den neuen Bundesländern Ihre Fraktion, für die Sie meines Erachtens sprechen zugute: Ostdeutsche Kulturförderung ist für uns a lle, — deswegen frage ich —, hier einer unfinanzierten für eine gesamtdeutsche Identität. Ausgabe von einer halben Milliarde DM nachher in dieser Rumpfbesetzung vielleicht mit 20: 15 Stimmen (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) locker zwischen Tür und Angel Zustimmung erteilen Ostdeutsche Kulturförderung ist für ein Deutschl and würde? in Europa. Ostdeutsche Kulturförderung ist für die (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Nehmen Zukunft, für die Jugend in einem Umfeld zunehmen- Sie die 600 Millionen von Somalia, dann den Werteverfalls. haben Sie das Geld! Es ist Quatsch, solche (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE „Argumente" zu bringen!) GRÜNEN]: Sehr richtig!) Ostdeutsche Kulturförderung heißt erhalten, behüten, Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Kollege, ich weitergeben. Ostdeutsche Kulturförderung ist Symbol muß Ihre Frage in zwei Teile gliedern. Als erstes geht für Gemeinsinn und deutsche Mitmenschlichkeit. es um die Frage der Finanzierung. Die empfinde ich Kultur in den neuen Bundesländern ist ererbt von genauso wie Sie. Vielleicht ist Ihnen entgangen, daß unseren Vätern. ich darum gebeten habe, zu prüfen, ob man den Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deutsche Betrag von 250 Millionen DM, die aus dem Parteiver- Kultur erhalten und hüten! Bekennen wir uns zu mögen zur Diskussion stehen, aus dem Topf erhöhen unserer Kultur als nationalem Identitätsträger! kann, weil ich die Haushaltszwänge, die Sie formuliert haben, ebenso empfinde wie Sie. Ich danke. Wir können nicht wie in der vorhergehenden Dis- (Beifall im ganzen Hause) kussion erörtern, wie wir die Sozialausgaben erhöhen und jetzt über Kulturausgaben debattieren und am Schluß eine zunehmende Neuverschuldung in Kauf nehmen. Das ist der Konflikt, den ich empfinde wie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Sie. Herren! Ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kolle- gin Ina Albowitz. Zu der zweiten Frage. Für mich steht jetzt nicht die Bestätigung des Antrages der SPD zur Diskussion; der ist aus meiner Sicht gar nicht aufgerufen. Wenn Sie aber fragen, möchte ich dazu erklären, daß ich diesem Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Antrag nicht zustimmen und mein Abstimmungsver- verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Duve, ich halten schriftlich begründen werde, weil darin Passa- bin ein bißchen verwundert, daß die SPD-Fraktion auf gen sind, die erstens eine Erhöhung über das ohnehin der Aufsetzung der Aussprache über die Große Geforderte enthalten und zweitens sagen, daß sich die Anfrage für die heutige Sitzung bestanden hat. Bundesregierung nicht im klaren sei, was die Förde- rung der Arbeitsmaßnahmen für die Kultur bedeutet. Ich bin in mehrfacher Hinsicht verwundert. Erstens Die zweite Aussage halte ich für falsch und die erste bin ich verwundert, weil wir im letzten Vierteljahr für unzumutbar. Das sind die Probleme, die ich aber schon mehrfach Gelegenheit hatten, bei der Lesung nicht im Zusammenhang mit dem Gesagten sehe. des Bundeshaushalts über die Kultur zu reden. Wir haben uns dabei ja untereinander ausgetauscht. (Freimut Duve [SPD]: Aber Sie können doch der Überweisung zustimmen!) Zum anderen bin natürlich auch ich verwundert — das geht an die Adresse der Bundesregierung —, Ich möchte mit Ihnen gemeinsam und auch im Sinne daß eine Große Anfrage vom 17. Februar erst kurz vor des Zusammenwirkens in unserer Fraktion dazu bei- Aufsetzen beantwortet wird. tragen, daß wir die Lücke, die ich als schmerzlich empfinde — ich möchte das, was ich eben gesagt (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der habe, wiederholen —, schließen. SPD und der PDS/Linke Liste — Freimut Duve [SPD]: Erzwungen worden ist!) Ich habe auch gesagt — das sehe ich in dem Zusammenhang mit den Fragezeichen usw. —: Ich Ich sage das durchaus selbstkritisch, auch mit dem kann nicht laufend fordern, ohne mir Gedanken zu Appell an die Bundesregierung: So sollte man nicht machen, wo ich seriös die Finanzierung sichere. Das mit dem Parlament umgehen. ist der Konflikt — ich habe es schon angedeutet —, in Ich hätte trotzdem gewünscht, Herr Kollege Duve, dem wir hier stehen, wenn wir meinen, Verantwor- daß wir den Punkt heute abgesetzt hätten; nicht, weil tung wahrnehmen zu müssen. mir die Kultur nicht besonders wichtig wäre — dar- Ich darf fortfahren. Vor allem ein eigenes stabiles über sind wir uns wohl einig —, sondern in Anbetracht kulturelles Selbstverständnis und Bewußtsein liefert dessen, was wir vorher auf der Tagesordnung hatten, 17346 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Ina Albowitz und des mäßigen Interesses an diesem zweiten Tages- Bundesländern eine der wich tigsten Aufgaben ordnungspunkt. gesamtstaatlicher Verantwortung sieht. (Freimut Duve [SPD]: Sie können doch nicht (Beifall des Abg. Gerhart Rudolf Baum wegen Geld die Debatte absetzen! Wir sind [F.D.P.] und bei der SPD) doch das Parlament!) Denn Kunst und Kultur waren gerade zu Zeiten der — Sie haben völlig recht. Wir sind ja in der Sache gar staatlichen Teilung Deutschlands eine wesentliche nicht auseinander. Ich hätte mir nur ein größeres Grundlage der fortbestehenden inneren Einheit der Forum und mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Das Nation. war in dem Petitum. Es geht also in der Sache nicht um eine Angelegen- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der heit, die sich hier im Hause eine Fraktion allein auf die SPD) Fahnen schreiben kann, sondern um einen weiteren Schritt zur Herstellung der Einheit Deutschlands, und Manchmal sollten Sie die Leute ausreden lassen. Das die geht uns alle an. Dabei sollten wir nicht vergessen, gilt auch für die Kollegen. daß der Bestand gerade der kulturellen Infrastruktur Es ist dem überragenden Stellenwert der deutschen in den neuen Bundesländern von wesentlicher Bedeu- Kultur angemessen, daß wir in einem Rückblick nach tung für die Menschen vor Ort ist. fast drei Jahren Bundesförderung Zwischenbilanz Die Bestandsaufnahme der Bundesregierung zur ziehen; denn die Bundesrepublik Deutschland ist Lage der Kultur in den neuen Ländern zeigt, daß es nicht nur von jeher ein Rechts- und Sozialstaat, trotz der erheblichen wirtschaftlichen Probleme und sondern auch ein Kulturstaat. Engpässe in den öffentlichen Haushalten bisher weit- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) gehend gelungen ist, die Gefahr für die ostdeutsche Kultur abzuwenden. Allerdings, ohne das große finan- Das bedeutet, daß die Förderung von Kunst und Kultur zielle Engagement des Bundes — das kann ich als nicht im freien Ermessen des Staates liegt, sondern zu Berichterstatterin meiner Fraktion beurteilen — läge seinen Pflichten gehört. Deshalb bin ich auch der heute verbrannte Erde vor uns. Die neuen Länder und Meinung, daß sich Kulturpolitik und die damit ver- Kommunen waren nach Herstellung der deutschen bundenen Aufgaben nicht auf die hinlänglich Einheit zur Finanzierung ihrer kulturellen Einrichtun- bekannten und immer wieder auch in diesem Hause gen nicht mehr in der Lage. diskutierten Verfassungsfragen bzw. auf die jeweils passende Interpreta tion des Einigungsvertrages redu- (Zuruf von der SPD: Richtig!) zieren lassen. An dieser Stelle muß man sich, glaube ich, noch Kultur hat einen hohen Stellenwert in unserer einmal — um der Problematik gerecht zu werden — Gesellschaft, weil sie von besonderer Bedeutung für den Status quo im Jahre 1990 vor Augen führen. das Selbstverständnis und die Identität der Menschen Zahlreiche Theater, Spielstätten, Orchester, Museen in unserem Land ist. Darüber hinaus ist das deutsche und viele andere kulturelle Einrichtungen standen vor Kulturgut aber — das sollten wir in Anbetracht der der Frage: Wie soll es weitergehen? Lage, in der sich die Bundesrepublik befindet, beden- Für die wertvolle Bausubstanz fehlte vielfach schon ken — für das Ansehen der Deutschen auch außerhalb seit dem Ersten Weltkrieg das Geld für die notwendige unserer Landesgrenzen von außergewöhnlicher Be- und kontinuierliche Pflege. Historisch und kulturell deutung. bedeutenden Einrichtungen drohte unwiederbring- Willkommen ist mir die Debatte auch, weil wir bei lich der Verfall bzw. die sofortige Schließung. Der dieser Gelegenheit bestehende falsche Vorstellungen Bund hat reagiert, er hat angemessen reagie rt, und er ausräumen können und die Fakten im Bereich der hat durch sein Engagement Einbrüche in der ostdeut- Kulturförderung in den neuen Bundesländern noch schen Kulturlandschaft verhindert. einmal diskutieren können. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Vorab noch eine Bemerkung, Herr Kollege Duve Zu diesem Zweck haben wir ein Programm — und — es wäre schön, wenn Sie zuhören würden —: Die ich beziehe uns alle ein, Herr Kollege Duve —, ein Große Anfrage und der heute vorgelegte Entschlie- Programm Übergangsfinanzierung Kultur als freiwil- ßungsantrag sollen — ich hoffe, es ist nicht so, denn lige Bundesaufgabe in Gang gesetzt. Im Rahmen des Ihre Eingangsbemerkungen haben mich eines ande- Substanzerhaltungsprogramms, das nicht der pau- ren belehrt — doch wohl die Vermutung aufkommen schalen Verstärkung der Kulturhaushalte der L ander lassen, als stelle sich allein die SPD der Verantwor- diente, sondern der Existenzsicherung einzelner Ein- tung für den Erhalt der kulturellen Substanz in den richtungen und Veranstaltungen gewidmet war und neuen Bundesländern. ist, wurden auf Vorschlag der Länder in Abstimmung mit einem Fachgremium, das vom Innenminister (Freimut Duve [SPD]: In großem Maße ja, berufen wurde, einzelne Vorhaben ausgewählt, die aber nicht allein! — Gerhart Rudolf Baum der Bund in seine finanzielle Förderung einbezogen [F.D.P.]: Die SPD-Länder stehen abseits!) hat. Im juristischen Sprachgebrauch nennt man das einen Das Infrastrukturprogramm als ein weiterer Teil untauglichen Versuch. der kulturellen Übergangsfinanzierung in den neuen Ich möchte hier für meine Fraktion und auch für Ländern diente und dient dazu, die Kulturbereiche in mich ganz persönlich klarstellen, daß die F.D.P. in den Gebietskörperschaften strukturell zu erneuern dem Erhalt der kulturellen Substanz in den neuen und regionale Benachteiligungen auszugleichen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17347

Ina Albowitz Es werden kulturelle Aktivitäten im Bereich der Obwohl die Kulturförderung in diesem Sonderpro- darstellenden Kunst, Musik, Literatur, Film, Medien gramm zeitlich begrenzt war und bereits für 1993 noch und andere Dinge gefördert. einmal verlängert wurde, wissen wir heute, daß die Ein dritter Komplex der Übergangsfinanzierung Bundesländer auch 1994 noch nicht in der Lage sind, ihre eigene Verantwortung zum Erhalt ihrer kulturel- betrifft den Denkmalschutz. Dieses Programm dient der Sicherung, Erhaltung und Restaurierung von len Substanz wahrzunehmen. unbeweglichen Kulturdenkmälern und we rtvollen (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist historischen Bauten, wie z. B. der Frauenkirche in richtig! Zuruf von der SPD: Das ist ja sehr Dresden, um ein Beispiel zu nennen. interessant!) Ihre Vorhaltungen, meine Damen und Herren von — Sehr verehrte Frau Kollegin, ich möchte Sie ja nicht der SPD, kann ich nicht nachvollziehen — und ich maßregeln, aber wenn Sie öfter im Plenum gewesen sage das auch mit Ernst, Herr Duve —, wenn Sie wären und auch die Haushaltsreden gehört oder sagen, daß der Bund Kunst und Kultur in den vergan- nachgelesen hätten, hätten Sie gewußt, daß ich das genen zwei Jahren nicht ausreichend unterstützt hat. alles schon mal bei der ersten Lesung des Haushal- Natürlich ist das immer eine Frage, wie m an die tes 06, bei der Verabschiedung des Haushaltes 06 Prioritäten setzt. gesagt und Presseerklärungen dazu gemacht habe. Wir sind da überhaupt nicht auseinander. Manchmal (Freimut Duve [SPD]: Das hat keiner ist es wichtig, sich auch mit dem Counterpart auf den gesagt!) anderen Seiten zu beschäftigen. — Dann hoffe ich, ich habe Sie da nicht mißverstan- den. Dann nehme ich das auch so zurück. (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Dafür gibt es meines Erachtens auch mehrere (Freimut Duve [SPD]: Bisher war das gut, Gründe. aber jetzt? — Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- (Freimut Duve [SPD]: Es ist schön, Ihr Coun frage) terpart zu sein!) — Herr Kollege Jork, ich möchte gern im Zusammen- — Vielen Dank. - hang weiterreden, wir sind eh schon arg spät in der Zum einen ist dies auch maßgeblich darauf zurück- Zeit, aber vielleicht hören Sie bis zu Ende zu. zuführen, daß es in den Ländern an eigenen Kultur- Immerhin haben der Deutsche Bundestag und die konzepten fehlt. Es ist längst an der Zeit, daß die Bundesregierung zur Ausstattung der Übergangsfi- neuen Länder und Berlin diese Konzeptionen erarbei- nanzierung im Haushalt des Bundesministeriums des ten. Auch diese Forderung stelle ich hier nicht zum Innern 1991 950 Millionen DM, 1992 830 Millionen erstenmal. Hier kann Beispiel sein — und das muß DM und für das laufende Jahr 650 Millionen DM zur man ganz deutlich sagen —, was das L and Sachsen Verfügung gestellt. gemacht hat. Dort hat m an nämlich ein Kulturraum- gesetz verabschiedet, demzufolge Zweckverbände (Freimut Duve [SPD]: Das begrüßen wir!) gebildet werden und Kreise und kreisfreie Gemein- Damit liegt das Engagement des Bundes im Bereich den sich zu Kulturräumen zusammenschließen, deren der Kulturförderung in Ostdeutschland bereits bei Aufgabe die finanzielle Förderung der regional 2,5 Milliarden DM, meine Damen und Herren — 2 500 bedeutsamen Kultureinrichtungen durch eine Um- Millionen DM! Ich betone das. Das hört sich viel lage ist. Das ist ein erster Schritt in die richtige deutlicher an, als wenn man nur „2,5 Milliarden" Richtung zur Stabilisierung der eigenen Kultur. sagt. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Nimmt man die Förderung von Kultureinrichtungen CDU/CSU) von besonderer Bedeutung noch hinzu, sind es sogar Meine Damen und Herren, leider geht es eben nicht 3,3 Milliarden DM. Vorwürfe unzureichender Bun- in allen Bundesländern so. Deshalb können wir, desunterstützung sind also völlig unangemessen. glaube ich, immer nur appellieren und hoffen, daß das (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Die hat in den nächsten Wochen und Monaten weiter fo rt keiner erhoben!) -schreitet. — Ja, das weiß ich nicht. Ich habe auch schon andere Vor dem Hintergrund, meine Damen und Herren, Töne hier im Haus gehört. daß der Bund im Jahre 1994 allerdings den Fonds Vor dem Hintergrund, daß in den neuen Bundeslän- Deutsche Einheit auf 10,5 Milliarden DM aufgestockt dern eine wesentlich höhere Dichte an Kultureinrich- hat, ist es zwingend erforderlich, daß in den Länder- tungen als im Westen herrscht, können aber — ich kabinetten die Mittel für die Kulturbelange eingestellt denke, so ehrlich müssen wir sein — nicht alle Kinos, werden, damit auch dort die Kultur den nötigen Theater, Museen erhalten bleiben. Das Überangebot Stellenwert erhält. muß zu Schließungen führen, und hier fordern die Ja, Frau Kollegin, so ist das. Wir können nicht immer Gesetze auch des kulturellen Wettbewerbs ihren nur in Bonn das Geld bereitstellen und dann sagen, Tribut, so schmerzlich die Schließung von einzelnen wir nehmen es für alles andere. Wenn der Kollege Jork Einrichtungen für die betroffenen Menschen auch ist. eben sagte, daß Kultur auch ein Wirtschaftsfaktor sei Das kulturelle Netz ist jedoch nicht zerrissen, wer — völlig unbestritten! —, dann, denke ich, muß m an immer auch dies behaupten möchte, und die für das auch an die Länderkabinette den Appell richten, dafür kulturelle Leben essentielle Kontinuität wurde und etwas zu tun, weil Kultur und der ganze Bereich wird fortgesetzt. darum herum auch eine wirkliche Stärkung der Wirt- 17348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Ina Albowitz schaftskraft in den neuen Ländern bedeuten können. weil das auch nicht zur Glaubwürdigkeit dieses Die dafür erforderliche Überzeugungsarbeit können Hauses beiträgt. Es trägt deshalb nicht zur Glaubwür- wir vielleicht alle gemeinsam leisten. digkeit bei, weil wir den Leuten sagen müssen: Es geht nicht! Wir müssen einen Weg in anderer Richtung Meine Damen und Herren, ich lasse den Passus über finden, und ab 1995 ist die Länderhoheit in der das Vermögen der Unabhängigen Kommission jetzt deutschen Kultur eh gefordert. — Vielen Dank, Herr aus, weil ich dazu mehrfach geredet habe. Wir sind Präsident. uns, glaube ich, alle einig, daß hier ein Weg gefunden werden könnte, wenn die Unabhängige Kommission, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der die Treuhand, der Bundestag, die Bundesregierung CDU/CSU) gemeinsam zu der Überzeugung kämen, daß es hier einen Weg gibt. Ich bin kein Jurist, muß aber sagen, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und daß ich Kultureinrichtungen immer auch als gemein- Herren! Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Diet- nützig empfunden habe. mar Keller. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das ist unbe- stritten!) Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Wenn das so ist, dann, denke ich, ist der Gesetzestext, dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich der sich mit der Unabhängigen Kommission und ihrer habe natürlich große Schwierigkeiten, wenn wir in Handlungsmaxime beschäftigt, in diesem Bereich diesem Haus völlig zu Recht über die Notwendigkeit, durchaus auch interpretationsfähig. Darüber möchte den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern, spre- ich mir allerdings nicht den Kopf zerbrechen. Das muß chen und zur gleichen Zeit die Rotstifte bei Wissen- die Unabhängige Kommission tun, das muß die Treu- schaft, Forschung, Technologie und Kultur ansetzen. hand tun. Dafür ist auch die Bundesregierung da. Das Jeder weiß, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland müssen diese Gremien gemeinsam tun. nicht nur von Investitionen und neuer Technik, son dem auch sehr stark von der Kreativität und den Herr Kollege Duve, ich habe schon vor gut 14 Tagen Innovationen von Menschen geprägt wird. Jeder hier in diesem Haus gesagt, daß wir gemeinsam einen - weiß, daß ein Buch, ein Theaterbesuch, ein Konzert- Weg suchen und das auch in der Sache völlig unpole- besuch, kulturelle Selbstbetätigung wesentlich dazu misch debattieren sollten. Wenn auch die neuen beitragen, daß die Menschen produktiver und schöp- Länder damit einverstanden sind — und die Signale, ferischer ihre Arbeit erfüllen. die ich habe, deuten das an —, dann ist das ein Ich sage das auch deshalb, weil ich Sorge habe, daß gangbarer Weg, wie wir den neuen Ländern in diesem vergessen worden ist, daß Art. 35 des Einigungsver- Bereich noch einmal helfen können, unabhängig von trages eigentlich ein ungeliebtes Kind gewesen ist. Ich dem Thema Spitzenkulturförderung, das ab 1995 darf daran erinnern, daß in den ersten beiden Entwür- sowieso neu debattiert werden muß. Darüber hätten fen des Einigungsvertrages dieser Artikel nicht ent- wir übrigens schon 1993 debattieren müssen, weil wir halten gewesen ist und daß es einer Erklärung des da auch neue Grundlagen schaffen müssen. Im übri- Kulturausschusses der frei gewählten Volkskammer gen wird das ein schwieriger Weg. Ich denke, daß und des Bundes der Freien Künstler der DDR bedurft mein Kollege Baum gleich noch etwas dazu sagen hatte, damit die Verhandlungsdelegationen beider wird. Seiten sich mit dieser Frage überhaupt beschäftig- Lassen Sie mich zum Abschluß doch noch einen Satz ten. zum Entschließungsantrag sagen, Herr Kollege Duve: Wenn wir heute, nach drei Jahren, feststellen, daß Wir wundern uns ja eigentlich immer über die Politik- dieses Kind ungeliebt geboren ist und sich auch sehr verdrossenheit der Menschen draußen und darüber, schwer entwickelt, dann weiß ich um das Für und daß sie mit uns nicht zufrieden sind. Das hat, glaube Wider. Ich weiß, daß die Bundesregierung und der ich, auch etwas damit zu tun, daß wir immer doppel- Bund große Anstrengungen unternommen haben, um züngig reden. traditionelle Einrichtungen, wie Theater, Museen, (Freimut Duve [SPD]: Was?) Orchester, weitgehend zu erhalten. Ich möchte das ausdrücklich würdigen und sagen: Ich halte es für eine — Bitte, lassen Sie mich das ausführen! Ich meine das große Leistung des Bundes, daß die Grundstruktur sehr ernst. kultureller Tätigkeit und kultureller Betätigung erhal- Wir können uns doch nicht 14 Tage nach Verab- ten bleiben konnte. Es wird sich langfristig auszah- schiedung des Bundeshaushalts, der im Bundesrat len. noch Zustimmung finden muß, hinstellen und eine Ich weiß aber ebenfalls, daß es zu einem Nieder- weitere halbe Milliarde ungedeckt fordern, gang im Bereich der Breitenkultur gekommen ist und (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: daß die Anzahl der Kinos, der Jugendclubs, der Aber die SPD kann das!) Kulturhäuser, der Bibliotheken, die geschlossen wor- den sind, ein Maß erreicht hat, wo man eigentlich obwohl wir wissen, daß es ein Scheck auf die Zukunft sagen muß, daß jedes weitere Institut oder jede ist, der nicht eingelöst werden kann, weil das nicht weitere Bibliothek, die jetzt geschlossen werden müs- realisierbar ist. sen, zu viel ist. Mit Ihrem Antrag bin ich inhaltlich in vielen Punk- Ich weiß, daß nach marktwirtschaftlichen Prinzi- ten einverstanden. Was den 249er Teil angeht, müs- pien gerechnet werden muß. Ich weiß, daß in der DDR sen wir, glaube ich, darüber reden. Was die Finanzie- im Bereich der Kultur manches finanziert wurde, wo rung angeht bin ich mit Ihnen nicht einverstanden, nicht nach dem Nutzen und der Effizienz gefragt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17349

Dr. Dietmar Keller worden ist. Aber ich weiß ebenfalls, daß jeder Strich Sechstens. Wir dürfen nicht vergessen — und auch im Bereich der Kultur bestehen bleibt und daß jedes das gehört zum kulturellen Alltag in den neuen geschlossene Kino für Jahrzehnte wenn nicht für Bundesländern —, daß es kaum noch sozialverträgli- immer geschlossen bleibt. Denn überall dort, wo der che Preise, insbesondere im Theater- und Konzertbe- Strich im Bereich der Kultur angesetzt worden ist, ist reich gibt und daß die Veränderung der Preisstruktu- es unerhört schwierig, das irgendwann einmal ren naturgemäß auch zu einer sozialen Veränderung zurückzunehmen. der Besucherstruktur geführt hat. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Siebtens. Viele Künstler und im Bereich der Kultur Anfrage der SPD formuliert: Tätige sind nicht mehr in ihrem Beruf tätig. Es sind Menschen, die sich irgendwann einmal für eine künst- Kulturelle Substanz in den neuen Ländern blieb lerische Tätigkeit entschieden haben, die etwas in die erhalten, und die kulturelle Grundversorgung geistige Landschaft in Deutschland einzubringen wurde im wesentlichen der in den alten Ländern haben, die aber nicht mehr gebraucht werden. Nicht entsprechend gestaltet. gebraucht wird geistiges Poten tial. Das ist ein Verlust und schafft individuelle Spannungen, die nicht dazu Ich möchte in bezug auf diesen Satz, dem m an so im beitragen werden, daß die komplizierten Bedingun- Prinzip zwar zustimmen kann, acht Einwände geltend gen des Zusammenwachsens beider deutscher Staa- machen. ten ausreichend und schnell erfüllt werden können. Erstens. Trotz der in den vergangenen drei Jahren Achtens. Ich möchte darauf verweisen, daß wir uns gewährten finanziellen Unterstützung haben eine darüber im klaren sein müssen, daß, wenn wir jetzt Reihe wichtiger kultureller Institutionen geschlossen den Stift für 1994 ansetzen, wir auch vieles in Frage werden müssen, bzw. es sind Reduzierungen vorge- stellen, was völlig zu Recht 1991 bis 1993 geschaffen nommen worden, die zu einer Senkung des kulturel- worden ist. Vieles, was sozusagen mühsam am Leben len Leistungsvermögens geführt haben, und Um- erhalten worden ist, wird mit den Streichungen für das strukturierung und Modernisierung sind nicht in dem Jahr 1994 gefährdet. Tempo angestrebt worden, wie es notwendig gewe- Ich halte es für einen Roßtäuschertrick, wenn wir sen wäre. jetzt über die 250 Millionen DM sprechen. Mir wäre es Zweitens. Nach wie vor — darüber besteht ja hier im sympathisch gewesen, die Bundesregierung hätte Hohen Haus Übereinstimmung — sind die Länder und gesagt, sie hat alle gesetzlichen Voraussetzungen Kommunen der neuen Bundesländer noch nicht in der geschaffen und mit der Parteienkommission darüber Lage — sie werden für einen längeren Zeitraum nicht gesprochen und Festlegungen getroffen, daß diese in der Lage sein —, ein angemessenes Verhältnis 250 Millionen DM garantiert sind. Ich weiß, daß diese zwischen kostenintensiven etablierten Institutionen 250 Millionen DM natürlich nicht das Problem lösen und neuen Kulturaktivitäten herzustellen und gleich- werden. Es wäre aber zumindest ein Ansatz gewe- zeitig die bauliche Erhaltung bzw. die notwendigen sen. Maßnahmen für die Weiterarbeit dieser Institutionen Ich möchte noch einmal wiederholen, was die PDS zu sichern. hier schon mehrfach gesagt hat. Die Treuhand und die Unabhängige Parteienkommission sitzen auf einem Drittens. Mit großer Sorge — auch darüber besteht Vermögen von 500 Millionen DM der PDS. Wir haben Übereinstimmung in diesem Hause — müssen wir darauf verzichtet. Wenn dieses Vermögen schnell sagen, daß die Kürzungsstriche offensichtlich junge umgesetzt werden könnte, wenn es für die Kultur zur Menschen am meisten be troffen haben. Wenn der Verfügung gestellt werden könnte, würden wir Rotstift bei den Möglichkeiten für eine kulturelle zumindest für das Jahr 1994 eine Lösung haben, die Freizeitbeschäftigung jüngerer Menschen ansetzt, größere Einbrüche verhindert. wissen wir, wohin das führen kann. Jugend auf der Straße ist nicht nur für die geistige Einheit Deutsch- Wenn ich über die neuen Bundesländer spreche, lands eine Gefahr, sondern vor allem eine Gefahr für sage ich aber auch: Ich fühle mich auch für die das Leben, die Lebenserwartung und Lebenshaltung Erhaltung der kulturellen Leistungen in den Altlän- dieser Menschen. dern verantwortlich. Das, was mit dem Haushaltsplan 1994 an Streichungen bei kulturellen Projekten, Insti- Viertens. Ende 1992 waren 28 % der Mitarbeiter tutionen und Kulturverbänden, die in 40 Jahren mit und Mitarbeiterinnen im kulturellen Bereich in ABM- Bedacht, Verantwortungsbewußtsein und Behutsam- Stellen tätig. Wir wissen, daß hier ein großer Strich keit entwickelt worden sind und die in sehr starkem gemacht worden ist und daß die Anzahl derer, die im Maße das geistig-kulturelle Leben in den alten Bun- kulturellen Bereich auf ABM-Stellen gearbeitet desländern geprägt haben, vorgenommen wurde, haben um mindestens die Hälfte reduziert worden ist. bringt einen Verlust in Gang, der Deutschland nicht Es betrifft vor allem ABM-Stellen, die im Bereich der gut zu Gesicht steht. Ich glaube, es ist noch Zeit für die kulturellen Freizeit und des kulturellen Alltags ange- Bundesregierung vorhanden, Änderungen vorzu- siedelt sind, so daß sich der Trend, Striche in der schlagen. Freizeitkultur zu machen, bei der Entscheidung, ABM-Stellen zu streichen, fortsetzen wird. Ich sehe das alles nicht nur im Bereich der Kultur, sondern ich sehe diese Striche auch auf Gebieten, auf Fünftens. Wir wissen heute auch schon, daß nach denen ich es nicht für möglich gehalten hätte, daß dort 1995 der neue Bund-Länder-Finanzausgleich nicht Striche vorgenommen werden. So hat z. B. das Bun- alle Probleme lösen wird und daß die neuen L ander desbauministerium vor, die RBBau K VII im Zuge der auch weiterhin der Hilfe des Bundes bedürfen. Sparmaßnahmen des Bundes zur Disposi tion zu stel- 17350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Dietmar Keller len. Damit wird die Kunst am Bau in Frage gestellt. struktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrich- Jeder weiß, was Kunst am Bau, eine moderne Archi- tungen mitzufinanzieren, zu früh entzogen hat. tektur, für die visuelle, ästhetische und kulturelle Bildung der Menschen bedeutet. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Tut es doch noch!) (Freimut Duve [SPD]: Das wurde im Laufe der Woche verhindert!) Zwar wurden in dem Haushaltsjahr 1991 bis 1993 hierfür insgesamt 2,6 Milliarden DM aufgewendet — Wenn es diese Woche verhindert worden ist, nehme — ein respektabler Betrag, und ich weiß das durchaus ich das dankbar zur Kenntnis. zu schätzen und zu würdigen —, aber dennoch war Ich bitte also — ich sage: ich bitte — die Bundesre- eben dieser Betrag nicht ausreichend, um die einge- gierung, und ich bitte dieses Hohe Haus, zu überle- gangene Bestandsgarantie zu erfüllen. gen, was getan werden kann, damit es zu keinem Mit dem Haushaltsjahr 1994 will der Bund sich nun größeren kulturellen Einbruch im Osten Deutschlands gänzlich aus seiner Verantwortung stehlen. Statt kommt. ordentlicher Haushaltsmittel will er 250 Millionen DM Ein kultureller Einbruch wird verhindern, daß der aus dem Vermögen der Parteien und Massenorgani- schwierige Weg des Zusammenwachsens von uns sationen abzweigen, also Geld, das den Ostdeutschen gemeistert wird. Er wird vor allem dazu führen, daß ohnehin gehört. Im Klartext bedeutet dies: 1994 betei- junge Menschen keine Chance mehr haben, durch ligt sich der Bund nicht mehr an der Förderung der kulturelle Selbstbetätigung und durch sozialerträgli- kulturellen Infrastruktur in den ostdeutschen Ländern che Beteiligung an Kunst, Literatur, Musik und Thea- und nimmt entgegen seiner Verpflichtungen aus dem ter eine Lebenshoffnung zu haben, eine Lebenserwar- Einigungsvertrag in Kauf, daß die Kultur do rt Schaden tung zu finden und sich in dieser Gesellschaft als nimmt. vollwertige Bürger zurechtzufinden. Zweifellos war es die Unerfahrenheit der DDR- Danke schön. Unterhändler, vielleicht auch ihre Gutgläubigkeit, (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei daß sie den Zusagen der Bundesrepublik Deutsch- Abgeordneten der SPD) land bedingungslos Glauben geschenkt und Zeit- räume nicht genau festgelegt haben. Ein Blick in die ostdeutsche Kulturlandschaft genügt, um zu wissen, daß der Zeitpunkt längst noch nicht gekommen ist, wo Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und die Länder zwischen Ostsee und Thüringer Wald aus Herren, ich wi ll nur eine Bemerkung machen: Ich eigener Kraft Kultur und Kunst finanzieren könnten. hoffe, daß niemand in diesem Hause versucht, Roß- täuschertricks anzuwenden. Mit einem wirtschaftlichen Desaster in dem Aus- Das Wort hat jetzt unser Kollege Konrad Weiß. maße, wie wir es zu beklagen haben, hatten die Parteien, die dem Einigungsvertrag zugestimmt haben, offenbar nicht gerechnet. Um so wich tiger wäre es nun, die Realität in Ostdeutschland zur Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kenntnis zu nehmen und die notwendige Übergangs- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- finanzierung weiterhin zu leisten. gen! Mit der Wiedervereinigung war uns die Aufgabe zugefallen, zwei deutsche Kulturen, die sich nicht nur Zu Recht fordern die ostdeutschen Länder und inhaltlich, sondern auch strukturell gänzlich verschie- Kommunen mindestens bis 1994 noch die Übergangs- den entwickelt hatten, zusammenzuführen. So hilf- finanzierung in Höhe von 500 Millionen DM. Ich kann reich die These von der deutschen Kulturnation vor nicht einsehen, daß einerseits 700 Millionen DM quasi der Wiedervereinigung war, so sehr war sie einem über Nacht als Gastgeschenk für die chinesischen gleichberechtigten Integrationsprozeß danach hin- Kommunisten dem Bundeskanzler zur Verfügung derlich; denn nicht anders als in allen anderen Berei- gestellt werden, aber andererseits nicht 500 Millionen chen hieß das Übernahme der westdeutschen Struk- DM für Kultur und Kunst in den ostdeutschen Bundes- turen in Ostdeutschland. ländern aufzubringen sein sollen. Es war sehr bald klar, daß dies einen erheblichen (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: So können Sie Kulturverlust in Ostdeutschland zur Folge haben das doch nicht sagen! — Zurufe von der SPD würde. Deswegen war es das Bemühen der DDR- und der CDU/CSU) Unterhändler und der DDR-Volkskammer, im Eini- Die Gesamtausgaben des Bundes für Kunst und gungsvertrag eine Bestandsgarantie für die ostdeut- Kultur machen 1994, aus den verschiedenen Einzel- sche Kultur zu verankern. plänen extrahiert, etwa 1,1 Milliarden DM aus. Von So heißt es im Art. 35 Abs. 2: Die kulturelle Substanz den 16 % Einsparungen, die das Bundesministerium in dem in Art. 3 genannten Gebiet — damit ist die DDR des Innern zu erbringen hatte, wurde 28 % dem gemeint — darf keinen Schaden nehmen. — Gegen Kulturhaushalt entnommen; das sind 150 Millionen Buchstaben und Geist dieses Art. 35 des Einigungs- DM. 1992 haben Bund, Länder und Kommunen insge- vertrages hat die Bundesrepublik Deutschland nach samt 14 Milliarden DM für Kultur aufgewendet, rund der Wiedervereinigung folgenschwer verstoßen. Sie 1 % ihrer Haushalte. 1994 hingegen werden diese ist ihrer eingegangenen Verpflichtung vor allem Aufwendungen nur noch 0,5 % ausmachen. Laut Pro- dadurch nicht gerecht geworden, daß sich der Bund tokoll der Arbeitsgruppe „Zur Erhaltung der Kultur- nun seiner Verpflichtung aus Art. 35 Abs. 7, nämlich landschaft" beim BMI vom 15. Oktober 1992 hatte — ich zitiere — zur Förderung der kulturellen Infra- Bundeskanzler Kohl jedoch für die Übergangsfinan- Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17351

Konrad Weiß (Berlin) ziereng im Jahre 1994 noch einmal 500 Millionen DM lin und Brandenburg bzw. des Desinteresses der alten zugesagt. Dort steht ganz eindeutig und unzweifel- Länder ist diese Chance mittlerweile endgültig ver- haft: Kanzlerzusage über 500 Millionen DM für 1994. tan. Ich frage mich ebenso wie die zahllosen Bürgerinnen Die rigorose Sparpolitik des Bundes und die Finanz- und Bürger im Osten: Was sind die Versprechen dieser schwäche der ostdeutschen Länder und Kommunen Bundesregierung wert? haben zu unwiederbringlichen Verlusten und irrepa- (Ina Albowitz [F.D.P.]: 10,5 Milliarden DM rablen Schäden in der ostdeutschen Kulturlandschaft Deutsche Einheit!) geführt. Nicht nur die überdimensionierten SED- Kultursaurier haben nicht überlebt, sondern auch Das Wahldesaster in Brandenburg, liebe Kollegen, zahlreiche kleine Kunst- und Kulturinitiativen, die mit den Stimmengewinnen für die SED-Nachfahren entweder aus der Opposition zur DDR entstanden ist auch die Quittung für die gebrochenen Verspre- waren oder aber die neue Freiheit nach der Wende chungen des Kanzlers und für den rücksichtslosen genutzt hatten. Die Vernachlässigung der Soziokul- Kulturabbau im Osten. Dabei sind gerade Kunst und tur, die in Ostdeutschland als Reaktion auf Zensur und Kultur unerläßlich für den Aufbau einer zivilen Bür- Staatskultur entstanden war, ist geradezu sträflich. gergesellschaft in den ostdeutschen Ländern, die noch Das ist tief zu bedauern. immer unter den Folgen der realsozialistischen Ent- mündigung und Gleichmacherei zu leiden hat. Das Verlustregister in Ostdeutschland ist lang: Die Kinolandschaft ist verödet. Jedes zweite Filmtheater BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hält es für einen gra- im Osten ist geschlossen. Namhafte Orchester wurden vierenden Fehler, wenn sich der Bund angesichts der aufgelöst, so das Leipziger Rundfunkblasorchester zivilisatorischen Krise in Deutschland seiner kultur- oder das Defa-Sinfonieorchester. Einige Theater politischen Verantwortung mehr und mehr entzieht. haben ihren Spielbetrieb eingestellt. 40 % aller Wir brauchen nicht weniger Bundeskulturpolitik, son- Jugendzentren und 15 % der Kulturhäuser bleiben zu. dern mehr. Bei allem Respekt vor der in den alten In den ländlichen Regionen wurden Bibliotheken und Bundesländern gewachsenen und weithin bewährten Musikschulen geschlossen. Eine Reihe wichtiger kulturellen Autonomie der Länder müssen wir ange- Kunst- und Kulturverbände ist gefährdet. sichts der gegenwärtigen Kulturkrise über eine Auf- gabenverlagerung nachdenken. Ich hielte es für- In Frankfurt an der Oder — ich will dieses Beispiel angemessen, wenn der Deutsche Bundestag durch die nennen, Kollege Duve, weil Sie das vorhin schon Einrichtung eines Hauptausschusses für Kultur damit angesprochen haben — mußten in den letzten drei beginnen würde. Jahren 150 Mitarbeiter aus dem städtischen Kulturbe- reich freigesetzt werden. Die Streichung von Bundes- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Eine alte mitteln hätte neue Entlassungen zur Folge, und das in Forderung der F.D.P.!) einer Situation, da die Schmerzgrenze beim Personal- — Wunderbar, wenn wir uns da einig sind. abbau ohnehin schon erreicht ist. Eine neue Bundesregierung wird versuchen müs- Wenn z. B. das Frankfurter Theater geschlossen sen, durch ein Bundeskulturministerium, mindestens werden muß, heißt das, daß 100 Mitarbeiter und aber durch einen Kulturbeauftragten dem im Span- Künstler, die keine Chance haben, wieder eine Arbeit nungsfeld zwischen Europa und den Regionen ste- zu bekommen, auf der Straße liegen. henden Kulturauftrag des Bundes besser gerecht zu Ein weiteres Beispiel: Die Städtische Musikschule werden. Deutschland braucht einen kooperativen mit 1 500 Schülern wird bislang mit 15 % aus Bundes- Kulturföderalismus, der über die Länderzäune hin- mitteln unterstützt. Deren Streichung hat zwangsläu- weg eine europäische Kulturpolitik möglich macht. fig die Reduzierung der Schülerzahl und die Entlas- Das beste Beispiel, das die engen Grenzen der sung von Lehrern zur Folge. Zukünftig muß die Stadt bisherigen Länderautonomie belegt, ist die deutsche Frankfurt zwei Drittel ihres Kulturetats selbst aufbrin- Praxis der Filmförderung. Während Frankreichs gen, hat aber bereits heute ein Haushaltsdefizit von national geförderte Filmproduktion einen Marktanteil 38 Millionen DM. von 35 % hält, sind es in Deutschland knapp 10 %. Meine Damen und Herren, Sie alle kennen das Angesichts der enormen wirtschaftlichen Potenzen Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag. In Fr ank- der audiovisuellen Medien ist das eine beklagens- furt an der Oder wurde die PDS mit fast 34 % stärkste werte Schwäche. Dabei schätzen Fachleute, daß in Partei im Rathaus. Man muß schon blind und taub diesem Bereich in Europa 1,5 bis 2 Millionen neue sein, wenn man die Zusammenhänge nicht erkennt. Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Aber auch Einrichtungen von nationaler oder Das setzt natürlich eine supranationale Struktur- europäischer Bedeutung erhalten unzureichende politik voraus, mindestens aber eine nationale. Die Mittel und sind dadurch in ihrer Arbeitsmöglichkeit Länder allein sind mit entsprechenden Strukturpro- beschränkt oder gar gefährdet. Als Beispiel seien das grammen überfordert. Die Treuhand, das Land Bran- Bauhaus Dessau, die Stiftung Weimarer Klassik, das denburg und Berlin konnten und wollten das enorme Ernst-Busch-Haus in Berlin oder das Hans-Fallada- Potential der Babelsberger Studios nicht nutzen. Haus genannt. Dabei boten die vorzüglich ausgebildeten Filmarbei- ter und die ausbaufähigen Produktionskapazitäten Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt einzigartige Standortvorteile, die Babelsberg zum den vorliegenden Entschließungsantrag der SPD voll europäischen Hollywood hätten machen können. und ganz und fordert die Bundesregierung nach- Infolge des Kompetenzgerangels zwischen Bund, Ber drücklich auf, ihren Verpflichtungen aus dem Eini- 17352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Konrad Weiß (Berlin) gungsvertrag nachzukommen und keine Tricks anzu- sogenannten Parteivermögen 250 Millionen DM zur wenden, um mit der Finanzierung zurechtzukommen, Verfügung zu stellen. Diese Empfehlung liegt jetzt der sondern ihren Verpflichtungen so, wie es im Eini- zuständigen Unabhängigen Kommission zur Über- gungsvertrag formuliert ist, gerecht zu werden, damit prüfung des Vermögens der Parteien und Massenor- — das wollen wir doch alle — die kulturelle Substanz ganisationen der DDR zur Beschlußfassung vor. Wenn in den ostdeutschen Ländern nicht weiterhin Schaden dem zugestimmt wird, kann ab Anfang 1994, d. h. nimmt. rechtzeitig, mit der Auszahlung dieser Mittel begon- (Beifall bei der SPD — Freimut Duve [SPD]: nen werden. Das walte Kohl!) (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Und wenn nicht zugestimmt wird?) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, jetzt erhält das Wort zu einer Zwischenbemer- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Lint- kung gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung der ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kollege Dr. Rainer Jork. Duve? — Bitte, Kollege Duve.

(CDU/CSU): Ich möchte ganz Dr.-Ing. Rainer Jork Freimut Duve (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ihnen kurz folgendes sagen, um Mißverständnissen vorzu- bekannt, was diese Kommission, sozusagen qua Insti- beugen. Erstens. Der Wiederaufbau der Frauenkirche tution, also mit ihren Mitarbeitern und durch die von erfolgt zu einem ganz wesentlichen Anteil durch diesen zu erbringende Arbeit, kostet? Könnte die Spenden, Benefizkonzerte usw. Bundesregierung mir darüber Auskunft geben? Wie Zweitens. Herr Keller, die Bundesregierung hat für viele Mitarbeiter hat diese Kommission? die 250 Millionen DM eine Sicherheitsgarantie gege- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Über 150!) ben. Ich habe vorhin gesagt, daß ich dafür sehr dankbar bin. Eduard Lintner, Danke. Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Herr Kollege Duve, ich kann Ihnen sagen, daß der Be trag von 250 Millionen DM Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und davon jedenfalls nicht tangiert wird. Herren, jetzt erhält das Wo rt der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, unser (Heiterkeit — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Kollege Eduard Lintner. Vielleicht erhöht wird!) (Freimut Duve [SPD]: Da müßte eigentlich Ich glaube, das ist in diesem Zusammenhang das Herr Waigel kommen! Der ist doch der Kul- Entscheidende. turmann! ) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Lint- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- ner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kolle- minister des Innern: Herr Kollege Duve, die Ge- gen Weiß? schäftsordnung der Bundesregierung ist nicht geän- dert worden. Wir sind innerhalb der Bundesregierung Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- nach wie vor für den Kulturbereich zuständig. minister des Innern: Herr Kollege Weiß, bitte schön. (Freimut Duve [SPD]: Das mußte mal gesagt werden!) Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Problematik, daß natürlich der Finanzminister Ich würde Sie gern fragen, Herr Staatssekretär, was involviert ist, wenn Haushaltspläne erstellt werden die Bundesregierung zu tun beabsichtigt, wenn die und Geld benötigt wird, und zwar nicht nur im Unabhängige Kommission der Freigabe der 250 Mil- Innenbereich, ist nicht neu. Daß es Schwierigkeiten lionen DM nicht zustimmen sollte. gibt, bestimmte Beträge aufzubringen, ist auch nicht (Freimut Duve [SPD] und Gerhart Rudolf neu. So gesehen sind wir hier in einer wohlvertrauten Baum [F.D.P.]: Das ist eine gute Frage!) Situation. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- zunächst eine Bemerkung zum Ablauf und zum Stand minister des Innern: Herr Kollege Weiß, Sie wissen des Verfahrens. Wie Sie wissen, war die Bundesregie- vielleicht — jedenfalls haben Sie das in der Zeitung rung bis zum Schluß bemüht, trotz der bekannten lesen können —, daß die Bundesregierung für den Finanzsituation des Bundes nach Wegen zu suchen, Fall, daß diese Summe entgegen dem Zweck, dem die Übergangsfinanzierung im Jahre 1994 sicherzu- dieses Vermögen zugeführt werden soll, nicht freige- stellen, um so den neuen Ländern zu helfen, kulturelle geben würde, das damit zusammenhängende Risiko Substanz zu erhalten, bis sie dann ab dem Jahre 1995, zu übernehmen gedenkt. d. h. mit dem Wirksamwerden der neuen, zwischen (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Eine gute Bund und Ländern ausgehandelten Aufteilung der Antwort!) Anteile am Steueraufkommen, dafür selbständig Sorge tragen können. Für das Übergangsjahr 1994 Die beabsichtigte Zurverfügungstellung von 250 Mil- wurde die Abstimmung zwischen dem Bund und den lionen DM ist also keine leere Versprechung, wie Sie neuen Ländern erst in dieser Woche — genauer unterstellen. gesagt: am Montag — mit dem Ergebnis abgeschlos- (Freimut Duve [SPD]: Sie sind also auch in sen, für die Kulturförderung im nächsten Jahr aus dem der Lage, es zu leisten!?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17353

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner Man muß sich bei der Bewertung dieses Ergebnis- Herstellung der deutschen Einheit insgesamt 2,6 Mil- ses bewußt sein, meine Damen und Herren, daß die liarden DM für die Übergangsfinanzierung Kultur Bundesregierung — entgegen ihrer ursprünglichen, aufgebracht hat. Davon haben sowohl national von den neuen Ländern seinerzeit mitgetragenen bedeutsame Kultureinrichtungen als auch die soge- Absicht — die Förderung über das Jahr 1992 hinaus nannte kleine Kultur in den Kommunen profitiert. um jetzt zwei Jahre bis Ende 1994 verlängert hat — Dabei ist das Bundesinnenministerium — im übrigen und dies trotz der bekannten Enge der Bundesfinan- anerkanntermaßen — flexibel und unbürokratisch bis zen. Mehr zu fordern mag denen, die für die Finanzen an die Grenze dessen gegangen, was nach Haushalts- des Jahres 1994 und später letztlich nicht einzustehen recht und Verfassung möglich ist. haben, (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das (Freimut Duve [SPD]: Später müssen wir das stimmt!) alles tragen!) Man kann dies mit einer Zahl verdeutlichen: Im als probates Mittel erscheinen. Mit Seriosität, meine ersten Jahr 1991 sind rund 4 000 kulturelle Institutio- Damen und Herren von der SPD, hat aber die Forde- nen in den neuen Ländern mit einem Bundeszuschuß rung, nun eben mal schnell 500 Millionen DM herbei- bedacht worden. Dies geschah zu einer Zeit, in der die zuschaffen, nichts zu tun. kommunalen Verwaltungen umstrukturiert und die (Freimut Duve [SPD]: Wir werden ja regieren Landesverwaltungen neu eingerichtet wurden. müssen!) Meine Damen und Herren, diese Leistung zur Hier handelt es sich um eine Schaufensteraktion, Erhaltung der kulturellen Substanz in den neuen (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Herr Duve, Ländern wird leider nicht von allen, die hier mitdis- haben Sie die SPD-Länder einmal aufgef or kutieren, genügend gewürdigt. Denn es ging ja nicht -dert, ihren Beitrag zu leisten? Mit welchem .nur darum — und dazu jetzt zwei Beispiele —, etwa Erfolg? — Null!) Bibliotheken offenzuhalten, sondern es mußte auch das Angebot an Büchern — um bei diesem Beispiel zu die leicht zu durchschauen ist. bleiben — grundlegend erneuert werden. Es ging In der Großen Anfrage der Fraktion der SPD werden eben nicht nur um die Finanzierung einer bestimmten neben dem Aspekt der Finanzierung für 1994 vor Kultureinrichtung, sondern es mußte auch bei der allem zwei Probleme thematisiert: Verlauf und Ergeb- Trägerschaft dezentralisiert und die Verantwortung nis der kulturellen Übergangsfinanzierung von 1991 der Kommunen erst neu begründet werden. bis 1993 sowie Pläne des Bundes zur Kulturförderung nach Beendigung der Übergangsfinanzierung. Meine Damen und Herren, die Kultur ist auch heute — natürlich besonders in den neuen Ländern — ein Zunächst, meine Damen und Herren von der Oppo- Anker, der den Menschen Halt und Sicherheit, der sition, sind wir Ihnen dankbar, daß es damit eine ihnen Vertrautheit ermöglicht, auch do rt, wo die Möglichkeit gibt, einer breiteren Öffentlichkeit über radikalen Veränderungen in den äußeren Lebensum- die Kulturförderung des Bundes in den neuen Ländern ständen dies nicht gestatten. Dazu kam die Rückbe- zusammenfassend und mit genauen Zahlen belegt zu sinnung auf Traditionen, die den Menschen eigentlich berichten. immer am Herzen gelegen haben. Das im Kulturleben Wenn ich die bekannten Standpunkte vergleiche, so unschätzbare freiwillige und persönliche Engage- dann ist es wohl berechtigt, festzustellen, daß die ment vor Ort wurde nicht mehr reglementiert, und Übergangsfinanzierung der Jahre 1991 bis 1993 flugs kam es zu einer Explosion von privaten Initiati- eigentlich von allen als ein äußerst erfolgreiches ven im Kulturbereich. Ich glaube, es sind in Deutsch- Unternehmen im Rahmen des Bemühens um die land in so kurzer Zeit noch nie so viele Vereine und Herstellung der inneren Einheit der Deutschen Vereinigungen gegründet worden wie seit 1991 in gewertet wird. den fünf neuen Ländern. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sehr richtig!) Soweit es ging, haben die Städte und Gemeinden Der Bund hat sein im Einigungsvertrag — der schon sich mit Bundesunterstützung bemüht, hier rettender mehrfach zitierte Art. 35 ist hier einschlägig — gege- Engel zu spielen. Statt Kleinstbibliotheken gibt es nun benes Wort gehalten, und zwar in einem Maße, wie es Fahrbibliotheken. Statt staatlich geführter Jugend- von vielen gar nicht erwartet wurde. In einer für clubs gibt es private Jugendzentren. Dennoch will ich unsere Verfassung und in unserer Geschichte einma- natürlich nicht verschweigen, daß für strukturschwa- ligen Weise hat er mitgeholfen, daß die neuen Länder che Gebiete und beispielsweise im Bereich der in einem Kernbereich ihrer Zuständigkeit trotz Jugendkultur mehr getan werden müßte. Nach Lage schwierigster Wirtschafts- und Finanzprobleme un- der Verfassung und auch nach Sachlage ist das aber eingeschränkt handlungsfähig geblieben sind. Dieses nicht Aufgabe des Bundes. überaus positive Beispiel einer unkomplizierten, frei- Meine Damen und Herren, das Fazit der Kulturför- willigen Hilfsaktion des Bundes sollte nicht in Verges- derung des Bundes nach der deutschen Einigung senheit geraten und auch nicht zerredet werden. bleibt dennoch positiv. Die Leistung des Bundes war (Freimut Duve [SPD]: Auch nicht vom Fi- beachtlich, und sie war entsprechend unserer Verfas- nanzminister!) sungslage nicht zwangsläufig. Es ist und bleibt eine große Leistung dieser Regie- Ich danke in diesem Zusammenhang für die Mitwir- rung, meine Damen und Herren, daß sie neben kung und Unterstützung den Vertretern aller Fraktio- anderen Kulturprogrammen in den drei Jahren nach nen in diesem Hohen Hause. 17354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner Die Lösung, meine Damen und Herren, die jetzt für als günstig. Dennoch bitte ich, wenn sich Spielräume das Übergangsjahr 1994 gefunden wurde, soll die Zeit auftun sollten, uns wieder gemeinsam in dem Bemü- bis zum 1. Januar 1995 überbrücken; denn danach ist hen zu unterstützen, das Mögliche für diesen Bereich es allerdings unabweisbar, daß die Lander und Kom- der Kultur zu tun. munen den Bund endgültig ablösen, um ihre Ver- Dabei kann man getrost davon ausgehen, daß im antwortung genauso wie die alten Bundesländer Kulturbereich mit relativ wenig Mitteln eine große zu übernehmen. Der Bund-Länder-Finanzausgleich Wirkung entfaltet werden kann. Das gilt nicht nur für schafft dazu die finanziellen Voraussetzungen, daß die Kultureinrichtungen von gesamtstaatlicher Be- die Lander auch im Kulturbereich ohne eine flächen- deutung und internationaler Ausstrahlung, das gilt deckende Bundesförderung das kulturelle Leben in auch für die kleinen, regional bedeutsamen Projekte wünschenswertem Umfang aufrechterhalten können. und Objekte, sind sie doch häufig Zeichen für Hoff- Ab 1995 stellt sich dann vor allem die Frage, auf nung und Aufschwung. welchen Gebieten der Bund dann schwerpunktmäßig tätig sein soll. Kultur stiftet Zusammengehörigkeitsgefühl, auch über geistige, politische und geographische Grenzen In den unmittelbar vor uns liegenden Monaten hinweg. Heute kann Kultur deshalb dabei helfen, werden sich Bundesregierung und auch die Damen immer noch vorhandene Gräben zwischen Ost und und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundesta- West in Deutschland abzubauen. Viele Westdeutsche ges eine Meinung bilden müssen über die Konstruk- haben im übrigen inzwischen erfahren, daß in der tion und die Höhe der Kulturförderung ab 1995. Die Kultur in den neuen Ländern bewundernswe rte Lei- Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage stungen vollbracht worden sind. Sie haben Städte enthält hierzu Vorschläge. Die Vorschläge basieren besucht und gerade kulturelle Einrichtungen dort im wesentlichen auf dem Bericht der Arbeitsgruppe besonders attraktiv gefunden. Ostdeutsche können „Erhaltung der Kulturlandschaft" aus dem Jahre wiederum mit Stolz und Selbstbewußtsein auf diese 1992. Ich will mit meinem Beitrag heute einer Diskus- Beispiele verweisen. Stichworte wären Weimar, Dres- sion nicht vorgreifen, sondern nur einige Aspekte des den, Schwerin. Auch daran gilt es bei diesen Bemü- Vorschlages akzentuieren. hungen anzuknüpfen, zugegeben mit bescheidene- Seit 40 Jahren engagiert sich der Bund nunmehr bei ren Mitteln, aber unbeirrt und im Bewußtsein des national bedeutsamen Kultureinrichtungen in den langen Atems von Geschichte und Kultur. alten Ländern. Für 1995 und danach muß jetzt ent- Vielen Dank. schieden werden, bei welchen kulturellen Einrich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. in Übereinstim- tungen von nationaler Bedeutung sowie bei Abgeordneten der SPD) mung mit den betroffenen Ländern ein weiteres Engagement des Bundes begründbar und auch wün- schenswert ist. Hier wird es einen Abgleich zwischen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und den alten und den neuen Bundesländern geben müs- Herren, jetzt hat unsere Frau Kollegin Christine sen. Dabei ist Sorge dafür zu tragen, daß der Nach- Lucyga das Wort. holbedarf der neuen Länder nicht gänzlich geleugnet wird. Ein großes Problem, meine Damen und Herren, in Dr. Christine Lucyga (SPD): Herr Präsident! Liebe den neuen Ländern ist der infrastrukturelle Nachhol- Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, ganz bedarf; wir wissen das. Selbst wenn es in der bevor- so begeistert wie Sie bin ich von der Antwort der stehenden Zeit im großen und ganzen gelingen sollte, Bundesregierung auf unsere Große Anfrage nun nicht viele kulturelle Einrichtungen am Leben zu erhalten, und noch weniger davon, daß Sie von Februar bis jetzt so ist doch die Kraft der Kommunen nicht ausreichend, gebraucht haben, um unsere Anfrage zu beantworten. sie auch noch zu modernisieren. Darüber hinaus wurde mir beim Lesen aber auch klar, daß man eine Aussprache zur Lage der Kultur in den Dreierlei Wege sind zur Lösung vorgeschlagen neuen Ländern nicht an der Grundsatzfrage vorbei worden. führen kann, was Kultur in unserer Gesellschaft Erstens. Der Bund sollte in ausgesuchten Sonderfäl- bedeutet. Da liest sich die Antwort streckenweise wie len bei Baumaßnahmen im Kulturbereich in den ein Erfolgsdokument der Bundesregierung und zeich- neuen Ländern einen Zuschuß geben. net ein Bild, wie der Bundeskanzler immer so sagt, blühender Kulturlandschaften, kommt zu dem Ergeb- Zweitens. Der Bund sollte in den besonders struk- nis, daß der Erhalt der kulturellen Substanz weitest- turschwachen Gebieten — etwa an der Ostgrenze — gehend gelungen sei, was wohl indirekt nahelegt, daß bei der Entwicklung der kulturellen Infrastruktur der Bund seine Hausaufgaben als erledigt betrachten helfen. kann. Drittens. Es sollte geprüft werden, ob der Bund über Entsprechend oft sehe ich die primäre kulturpoliti- die Denkmalpflege für national bedeutsame Kultur- sche Verantwortung der Lander und Kommunen einrichtungen hinaus in den neuen Bundesländern in betont. Genau hier müssen wir doch in die Problema- bestimmten Fällen zusätzlich bei der Pflege der ein- tik hineingehen, denn die Haltung der Bundesregie- zelnen Denkmale hilft. rung, sich selbst zu bescheinigen, daß die Verpflich- Ich fürchte, meine Damen und Herren, man wird bis tungen des Einigungsvertrags nun erfüllt und damit auf weiteres davon ausgehen müssen, daß sich solche auch der Ausstieg aus der kulturpolitischen Mitver- Pläne beim Bund finanziell nicht verwirklichen lassen, antwortung gekommen sei, gefährdet nachhaltig denn die Kassenlage ist bekanntermaßen alles andere alles, was mit erheblichen Mühen und unter bisher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17355

Dr. Christine Lucyga angemessener Beteiligung des Bundes in den neuen Die Wirklichkeit sieht anders aus: Schon jetzt hat die Ländern aufgebaut wurde. Verschuldung der ostdeutschen L ander ein Niveau analog den in den alten Bundesländern erreicht, aber (Beifall bei der SPD) in wesentlich kürzerer Zeit und bei erheblichen Mehr- Es kann nicht in unserem Sinne sein, daß das belastungen. erhebliche finanzielle Engagement von Bund, Län- Die Kommunen sind noch ärger dran. dern und Kommunen durch Wegfall von weiterhin dringend erforderlichen Mitteln so gut wie umsonst (Ina Albowitz [F.D.P.]: Dann frage ich mich gewesen sein soll, denn wer jetzt auf halbem Wege eigentlich, warum sie das Geld westdeut umkehrt, muß damit rechnen, daß die bisher gelei- schen Kommunen ausleihen!) stete Kulturförderung schlichtweg in den Sand gesetzt — Das ist nicht wahr; ich nenne Ihnen dazu gleich ein wurde. Beispiel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sehr gut!) Tabellen und Statistiken im Antworttext sprechen dazu eine eigene Sprache. Durch eine Vielzahl von Im Durchschnitt haben die ostdeutschen Kommunen Aktivitäten und Transfers wurde vor allen Dingen in nur 20 % bis ein Drittel der Einnahmen vergleichbarer den Jahren 1991 und 1992 entsprechend der Regelung westdeutscher Städte und Gemeinden zur Verfügung. des Einigungsvertrags, daß die kulturelle Substanz Es kommt aber der Löwenanteil an Kulturausgaben nicht zu Schaden kommen dürfe, die kulturelle Infra- auf sie zu. struktur aus- und umgebaut. Aber die Zahlenangaben (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist belegen auch den immer noch bestehenden Mitfinan- das Faktum! Richtig!) zierungsbedarf für die Kultur in den neuen Ländern, und der Prozeß der infrastrukturellen Umschichtung Angesichts ihrer geradezu dramatischen Finanznot ist ist noch längst nicht abgeschlossen. es ohnehin dringend angeraten, über die von ostdeut- schen Kulturpolitikern geforderte Neuordnung der Ich möchte an dieser Stelle im übrigen nachdrück- öffentlichen Kulturfinanzierung ernsthaft nachzu- lich daran erinnern, daß die Vereinbarungen des denken, um zu verhindern, daß hier finanzielle Lasten Art. 35 des Einigungsvertrags im Konsens aller demo-- einseitig auf die Kommunen abgewälzt werden. kratischen Kräfte zustande gekommen sind und Ver- fassungsrang haben müssen. Diesen Konsens kann (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Richtig, die Bundesregierung jetzt nicht einseitig durch Aus- das ist der entscheidende Punkt!) stieg aus der Kulturförderung aufkündigen. Die Einsparungen des Bundes haben immer einen (Beifall bei der SPD) Lawineneffekt gehabt. Sie werden von den Ländern größtenteils an die Kommunen weitergereicht, und Im übrigen können sich auch die von Zweckoptimis- diese haben keine andere Wahl, als sich ihrerseits auf mus geprägten Antworten auf unsere Anfrage nicht ganz erbitterte Verteilungskämpfe einzulassen. an der Feststellung vorbeimogeln, daß trotz der in den vergangenen Jahren gewährten finanziellen Unter- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Richtig! stützung der Verlust zahlreicher Kulturinstitutionen So ist es! — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Die eben nicht verhindert, die Umstrukturierung und armen Lander!) Sanierung wichtiger Kultureinrichtungen nicht er- Die vorgesehenen Einsparungen der Bundesregie- reicht werden konnte. rung im Kulturbereich werden also ganz unmittelbare Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich die Auswirkungen in Richtung massiven Kulturabbaus Frage, wie Länder und Kommunen angesichts der von haben. der Bundesregierung immer wieder demonstrativ (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Warum ist der betonten kulturellen Eigenverantwortung mit den Finanzausgleich noch nicht in Kraft?) ungelösten Problemen der Kulturlandschaft im Osten Deutschlands fertig werden sollen. — Reden Sie oder rede ich jetzt? Sie kommen noch dran, Herr Baum. Jetzt rede ich! (Ina Albowitz [F.D.P.]: Verfassung ist schon Verfassung, Frau Kollegin!) (Beifall bei der SPD — Freimut Duve [SPD]: Sie kennen unsere Rostocker Kollegin noch Abzusehen ist schon jetzt, daß ein K. w.-Vermerk nicht, Herr Baum! — Gegenruf des Abg. für die Kulturförderung der neuen Bundesländer Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das scheint zwangsläufig zu weiterem exzessiven Gebrauch des auch Ihnen so zu ergehen bei ihr!) Rotstifts in den regionalen Kulturetats führen muß. — Herr Baum, Sie kommen noch dran, habe ich (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sie sitzen mit gesagt. Ihren Ländern so im Glashaus! Finanzaus (Beifall bei der SPD) gleich erst ab 1995!) Die Gefahr liegt nahe, daß den Kommunen ständig Das von der Bundesregierung gebrauchte Argu- die Rolle des Schwarzen Peters zugedacht ist. Auch ment einer für kulturelle Investitionen zu nutzenden die für 1994 noch einmal in Aussicht gestellte Finanz- verbesserten finanziellen Leistungskraft der Lander hilfe von 250 Millionen DM aus dem Vermögen der ist schlichtweg Wunschdenken; denn wer so argu- Altparteien der DDR kann daran nichts ändern, zumal mentiert, muß die vergangenen zwei Jahre verschla- es sich um Mittel handelt, die ohnehin mit wirtschaft- fen haben. lich-sozialer Zweckbindung den neuen Bundeslän- 17356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Christine Lucyga dern zustehen. Dazu kann man wirklich nicht nur vor „Pumpe" gehören, das mit Fördermitteln aus dem Weihnachten „schöne Bescherung" sagen. Infrastrukturprogramm begonnen wurde und für 1994 Ein weiterer Aspekt kultureller Arbeit im kommu- nochmals auf Finanzhilfe angewiesen ist. Für viele nalen Bereich muß hier noch angesprochen werden. Jugendliche würden damit Kulturangebote ausfallen, durch die sich auch Kulturgewohnheiten herausgebil- Durch den absehbaren Wegfall von AB - Maßnahmen sind vor allem die gerade erst entstandenen soziokul- det haben, was gerade in Zeiten von Krise und turellen Zentren in ihrem Bestand ernsthaft gefähr- Orientierungslosigkeit wichtiger denn je ist. det. Herr Präsident, Sie melden sich bereits. Aber Herr Baum hat mich ständig gestört. Kann ich noch eine (Zustimung des Abg. Hans-Günther Toete- halbe Minute länger reden? meyer [SPD] und des Abg. Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]) (Heiterkeit) Den Stellenwert, aber auch die Gefährdungen dieses Wer wie die Bundesregierung ständig vom Werte Bereichs hat die Bundesregierung in ihrem Antwort- verfall unserer Gesellschaft redet, muß auch bereit text definiert. Ihren Aussagen über eine gezielt sein, diesem Werteverfall etwas Substan tielles entge- bedarfsorientierte Jugendkulturarbeit ist insofern nur genzusetzen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die zuzustimmen. ständig den Bundespräsidenten zitieren. Aber seine Mahnung, daß Kultur eine wesentliche Substanz ist, Aber als widersprüchlich ist doch zu kommentieren, um die es in der Politik gehen sollte, darf hier nicht wenn ungeachtet der Tatsache, daß noch ca. 40 % der ungehört bleiben. Jugendsozialarbeit und der kulturellen Jugendarbeit (Beifall bei der SPD) nur über AB-Maßnahmen durchgeführt werden kön- nen, die Bundesregierung davon spricht, daß AB- Der Umgang mit Kultur sagt viel über die jeweilige Maßnahmen die Verantwortlichkeit der Länder und politische Kultur eines Landes. Kultur ist nicht lebens- Kommunen nicht ersetzen können. Die vielgepriese- notwendig für jeden, aber überlebensnotwendig für nen Regelungen des § 249 h AFG scheitern aber nach uns alle. Die Bundesregierung ist aufgerufen, in einschlägiger Erfahrung vor Ort zumeist schon am diesem Sinne zu handeln. Aufbringen der notwendigen Komplementärmittel. - (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Es kann doch einfach nicht so hingenommen wer- sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktions den, wenn z. B. in meiner Heimatstadt Rostock die los]) inzwischen weit über die Region hinaus bekannte Jugendkunstschule Arthus aus finanziellen Gründen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und das Aus erleben müßte. Arthus macht Jugendkultur- Herren, eine kurze Bemerkung zur Geschäftslage. Wir arbeit im besten Sinne. Mehr als 600 Kinder haben haben nach den hier vorliegenden Wortmeldungen hier jede Woche die Gelegenheit, auf unterschiedlich- mit dieser Debatte etwa noch eine Stunde zu tun. Zu sten Feldern selber künstlerisch tätig zu sein. Die den dann folgenden Tagesordnungspunkten ist be an regelmäßig in den Wohngebieten durchgeführten -tragt worden, daß die Redner ihre Reden zu Protokoll Veranstaltungen zeigen, wieviel Kreativität schon in geben — darüber muß beim Aufruf des jeweiligen Kindern steckt, wenn man sie richtig entwickelt. Punktes abgestimmt werden —, so daß die Sitzung (Beifall bei der SPD) kurz nach 14 Uhr beendet sein könnte. Den engagierten Erziehern, Eltern und Kommunal- Nun erteile ich unserem Kollegen Dr. Dietrich politikern, die der Stadt Rostock bisher mit viel per- Mahlo das Wort. sönlichem Ehrgeiz diese Möglichkeit erhalten haben, kann man gar nicht genug danken. Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! Was aber geschieht, wenn diese Maßnahme aus- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte läuft und mit kommunalen Mitteln der Fortbestand mir eigentlich zurechtgelegt, etwas aus speziell Berli- nicht gesichert werden kann? Denn in den Etat der ner Sicht zu der Situation zu sagen. Aber erlauben Sie Kommune reißen schon jetzt die Pflichtausgaben im mir vorab noch eine Bemerkung. Kulturbereich — Theater, Museen, Bibliotheken, Wenn ich das, was namentlich Sie, Herr Duve, Jugendzentren — wesentlich tiefere Löcher, als über- gesagt haben, Revue passieren lasse, dann muß ich haupt zu stopfen sind. Die im Februar dieses Jahres feststellen, daß Ihre eigene Große Anfrage und die über die Kommune verhängte Haushaltssperre hat wegen Verspätung so vehement kritisierte Antwort diese Dramatik deutlich gemacht. der Bundesregierung offensichtlich nicht Ihr Interesse Oder was geschieht mit der „Compagnie de Come- finden. Denn wir reden ja hier ausschließlich über die", die zwei Jahre ABM-gefördert wurde? Im Jahre Geld, so wichtig das ist. 1994 läuft die ABM aus. Stadt und Kommune allein (Freimut Duve [SPD]: Ach nö!) wären nicht in der Lage, das Ende dieser hervorragen- Ich fühle mich in diesem Sinne hier eigentlich fehl am den freien Truppe, die übrigens auch schon in Bonn zu Platze, im Gegensatz zu Frau Albowitz; denn dann erleben war und manchem in guter Erinnerung ist, zu wären in der Tat die Haushälter gefragt. Sie sind die verhindern. Richtigen, wenn es darum geht, die Abwägung zwi- Institutionelle Förderung oder Projektförderung schen Bedürfnissen auf der einen und Bedürfnissen für städtische Museen, Konservatorium bzw. Musik- auf der anderen Seite vorzunehmen. schule müßten gekürzt werden oder ganz entfallen. Als Kulturpolitiker habe natürlich auch ich zwei Dazu würde auch das soziokulturelle Zentrum Seelen in meiner Brust und kann vieles, was hier Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17357

Dr. Dietrich Mahlo gesagt worden ist — auch das Kritische —, mittragen. geistige Wahrnehmung von Hauptstadtfunktionen Aber es ist ein bißchen wenig, wenn die Opposition unverzichtbar sind, zu vernichten. immer nur sagt: mehr, mehr, mehr! Das ist Ihre einzige Botschaft. Daß wir unter dem Diktat leerer Kassen (Beifall des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/ stehen, wissen Sie. Aus Ihrem leidenschaftlichen CSU] ) Beitrag zum letzten Tagesordnungspunkt werden Sie, Zwar gibt es zwischen der Stadt und der Bundesre- Herr Weiß, ja noch in Erinnerung haben, wie die gierung in bezug auf die Hauptstadt einen Koopera- Situation in Deutschland ist. Selbst wenn man in der tionsvertrag, dieser ist aber noch nicht konkretisiert. Opposition ist und das Geld, das man fordert, nicht zu Es ist auch heute kritikwürdigerweise nicht einmal erwirtschaften braucht, sollte man das vielleicht doch klar, wann und wie diese Vertragsausfüllung vorge- in einem gewissen Umfang berücksichtigen. nommen wird. Es muß daher für die vorhandenen kulturellen Einrichtungen nach dem Auslaufen der Herr Duve, daß Sie unter den ersten waren, die Übergangsfinanzierung ab 1995 bis zu dem Zeit- einen Antrag gestellt haben, daß Geld ausgegeben punkt, zu dem dann endlich der Umzug von Parlament werden soll, ehrt Sie natürlich. und Regierung nach Berlin zu realisieren ist, also (Freimut Duve [SPD]: Nein, da ist von Geld mindestens bis 1998, eine finanzielle Überleitungsre- noch gar nicht die Rede!) gelung gefunden werden, damit die kulturellen Ein- richtungen zumindest in ihrer Substanz vorhanden Aber Anträge stellen können wir alle; die Frage ist, sind, wenn die Hauptstadt anfängt zu funktionieren. woher das Geld kommt. Das Berlin des ersten Drittels dieses Jahrhunderts, (Freimut Duve [SPD]: Sie haben das mißver- von seinen preußischen Ursprüngen, die ich nicht standen! Es ging um eine Institution, die wir geringschätze, emanzipiert, war ein Weltereignis zur deutschen Einheit im Januar 1990 gefor- oder, um mit Benn zu sprechen, „ein Stück des großen dert haben, als andere davon noch gar nicht Abendlandes". Vieles davon ist verschwunden, aber sprachen, z. B. der Bundeskanzler!) vieles ist noch da, trotz aller Katastrophen noch immer eine bauhistorisch bedeutende Gestalt, Architektur- — Okay, das sei Ihnen unbenommen. reste einer einstmaligen Weltstadt, die darauf warten, Apropos Bundeskanzler. Eines kann ich Ihnen aus in ein neu zu entstehendes Ganzes einbezogen zu eigenem Wissen sagen: Wenn es einem Menschen zu werden. verdanken ist, daß die Übergangsfinanzierung so In Berlin steht heute ein deutscher Louvre, Kunst der gelaufen ist, wie sie bisher gelaufen ist, nämlich mit Welt in einzigartiger Konstellation und Qualität, der der Förderung von 4 000 Objekten, dann diesem neu geordnet, neu präsentiert, neu behaust sein wi ll. Mann. Das muß ich nebenbei dankbar anmerken. In Berlin ist neuere Geschichte in ihren deprimieren- den, aber auch in ihren glänzenden Momenten, auch (Beifall bei der CDU/CSU) in ihren kulturellen Hochleistungen präsent. Die Stadt Berlin steht in der Reihe der Bundesländer, aber in besitzt vielleicht als einzige in Deutschland auch eine mancher Hinsicht ist seine Position natürlich beson- alternative Kunstszene, die insgesamt darauf wartet, ders exponiert: 40 Jahre lang totes Ende zweier wieder stärker in unser nationales politisches Leben Weltsysteme, hat Berlin durch die partielle Zugehö- einbezogen zu werden. rigkeit zur westlichen Welt einerseits gewisse Vor- Die Kultur — das gilt vor allem für die großen teile. Andererseits sind hier wie unter einem Brenn- verwöhnten Einrichtungen — muß allerdings freiwil- glas die Probleme besonders stark: mehr Arbeitslose lig oder gezwungenermaßen Abschied nehmen von in Berlin, als in der Stadt Bonn überhaupt Menschen verkalkten Strukturen, Überbürokratisierungen, Ma- wohnen. Deutschland befindet sich eben in einer terialverschwendung, Phantasiegagen. Die Kultur krassen Anpassungskrise. Nirgends sind die Wider- muß sich die Sonderrolle, die wir ihr wünschen, durch sprüche, die Brüche, die abrupten Veränderungen eine Art Selbstreinigung verdienen. Aber ebenso und der Kontrast zwischen den Hoffnungen und den wenig wie sich der Staat aus dem Umweltschutz, der Realitäten schärfer als in dieser Stadt. Volksbildung, dem Naturschutz zurückziehen darf, (V o r s i tz : Vizepräsident Hans Klein) darf er das aus der Kultur tun. Jeder Rückzug führt zu amerikanischen Verhältnissen: eine Handvoll Spit- Das gilt eben auch für den kulturellen Bereich. In der zenorchester, im übrigen Kulturwüste. Unterwerfen Zeit, in der die Stadt bereits einen Hauptstadtan- wir die Kultur nicht automatisch allen Sparquoten. Sie spruch einlösen soll, ohne aber schon den Vorteil eines spielt uns mehr ein, als ihre bescheidene Dotierung funktionierenden Regierungssitzes zu haben, droht ahnen läßt. Was wir hier sparen, müssen wir bei den sie in kultureller Hinsicht finanziell in ein Loch zu Etats für Werbung, Wirtschaft, Soziales, Inneres;, fallen. Schule doppelt draufpacken. Art. 35 des Einigungsvertrages — er ist schon Die Stadt Berlin hat historisch nicht zum ersten Mal genannt worden — gilt auch für Berlin. Berlin hat vor existentiellen Fragen wie jetzt gestanden. Denken bisher in der Zeit zwischen 1991 und 1993 für seine wir an die Errichtung ihrer Universität durch Harden- gewissermaßen nationalrepräsentativen Einrichtun- berg und Humboldt und andere im Moment ihres gen im Ostteil bedeutende Mittel erhalten, was ich größten Elends und ihrer tiefsten Demütigung. Wir hier dankbar erwähnen möchte. Aber für 1994 ist eben vertrauen darauf, daß auch die Bewältigung unserer nur ein verschwindend kleiner Betrag vorgesehen. Er heutigen Aufgabe nicht über unsere Macht und über droht essentielle Kultureinrichtungen, die für die unsere Kräfte geht. 17358 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Dietrich Mahlo Ich danke Ihnen. ganz unmöglich, damit habe ich überhaupt nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. gerechnet, daß wir 750 Millionen DM bekommen sowie bei Abgeordneten der SPD) hätten. Das hätten auch Sie als Regierungspartei aus keinem Bundeshaushalt herausschneiden können. (Beifall des Abg. Dr. Dietrich Mahlo [CDU/ Herr Kollege Gerhart Vizepräsident Hans Klein: CSU]) Baum, Sie haben das Wort. Der Fehler war im übrigen, daß nicht von Anfang an etwas im Bundeshaushalt st and. Herr Seiters hätte Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Herr Präsident! kämpfen müssen, etwas in diesen Haushalt hineinzu- Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig, daß bekommen. Kunst und Kultur ein Auftrag des Gesamtstaates, des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland sind sowie des Abg. Freimut Duve [SPD]) — das haben wir hier oft diskutiert —, nicht nur als Abwehrrecht, sondern auch als Aufforderung zum Denn so war für den Haushaltsausschuß ungeheuer Tun. Wir müssen die Rahmenbedingungen setzen. schwierig, aus diesem engen Ressort noch etwas Das hat der Bund in den letzten Jahren auch im herauszuholen; das war im Grunde unmöglich. Nur so Hinblick auf die Übergangsfinanzierung in einer ist dieser Weg zu verstehen, der merkwürdig ist. Weise getan, die ich nicht für möglich gehalten Wir werden sehr darauf achten, daß die Verwal- hätte, tungsvereinbarung zustande kommt, daß sie realisiert (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) wird, daß die Mittel zweckgebunden verwendet wer- den. Wir haben keinen unmittelbaren Zugriff auf die wenn ich mich daran erinnere, wie mühsam es im Treuhand. Wir werden auf dem Wege über die Kon- Laufe der Jahre war, in den Bundesetat kulturelle trolle des Finanzministeriums wachen, daß die Mittel Mittel für gesamtstaatliche Aufgaben einzustellen. zweckgebunden zur Verfügung stehen. Das ist wich- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tig. Das war ein Erfolg, auf den wir stolz sein können. Ich weiß als Sachse das, was Sie hier gesagt haben, Jetzt reden wir über die Situation, die sich im Jahre genau einzuschätzen. Ich kenne die kulturellen Ein- 1994 stellt. Ich rede nicht mehr über die Situation im richtungen noch aus meiner Jugend. Ich habe als Jahre 1995. Die Situation in 1994 habe auch ich mir kleiner Junge noch in der Frauenkirche gesessen. Ich anders vorgestellt. Wir brauchen uns hier wirklich habe noch Erinnerungen, ich weiß, was der Striezel- nicht gegenseitig zu überzeugen, wie wichtig die markt ist, ich kenne die Oper, das weiß ich alles. Ich Substanzerhaltung ist; sie wird überhaupt nicht in brauche nicht überzeugt zu werden. Ich weiß, was es Frage gestellt. Es wird nur gefragt: Wie ist das zu in einer Situation, wo es in einer schwierigen mate- finanzieren, und wer finanziert das? riellen Lage um die kulturelle Identität geht, gerade Da, Herr Duve, hat mich Ihre Haltung etwas gestört, für die Kulturförderung bedeutet, übrigens nicht nur der Bundesregierung ein bißchen in Nebentönen zu in den neuen Bundesländern. unterstellen, das Motiv sei ein kulturfeindliches, die Herr Kollege Mahlo, Sie kommen aus einer glück- Kultur solle hier ge troffen werden. Das Motiv ist lichen Stadt. Ich habe in den Zeitungen gelesen: Über bestimmt von Haushaltszwängen, an denen die Län- 5 % Steigerung des Kulturhaushaltes in Berlin. Das sei der mitgewirkt haben, auch die SPD-regierten Län- der Stadt gegönnt. Jede Mark für die Kultur sei ihr der. Ich frage mich: Wo waren die Länder bei der gegönnt. In Köln haben wir drastische Reduzierungen Übergangsfinanzierung? des Kulturhaushalts: im Jahre 1993 eine 30%ige (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kürzung des Zuschußbedarfs, bei den freien Trägern 40 % Kürzung. Die Kulturförderung ist eine Uraufgabe der Länder. Die alten Länder hätten dazu beitragen können. Ich will das jetzt nicht aufrechnen. Ich will nur sagen: Gekürzt werden muß überall. Auch in den Eine zweite Bemerkung: Es war ein Komplott der alten Bundesländern werden Theater geschlossen alten Bundesländer, den Finanzausgleich erst 1995 in werden, auch andere Einrichtungen werden nicht Kraft treten zu lassen. Hätte man das früher getan, mehr so finanziert werden können wie bisher. hätten die neuen Bundesländer einen größeren Bewe- gungsspielraum gehabt. Übrigens muß man sich auch vor Augen halten, daß sich der Bund in Weimar, in Potsdam, in Berlin bei der (Freimut Duve [SPD]: Es war mehr ein Kom Preussischen Stiftung erheblich engagiert. Hier -pott als ein Komplott!) nimmt er seine Aufgaben wahr. Wir haben allen Eine dritte Bemerkung: Es kann doch nicht sein, daß Anlaß, dafür zu danken, daß dies so reibungslos nach jedem Ergebnis einer Sitzung des Vermittlungs- läuft. ausschusses die Länder mehr Geld vom Bund abzie- Neben der Übergangsfinanzierung möchte ich noch hen und Sie, die Sie Mehrheit im Bundesrat haben, auf einen zweiten Punkt eingehen. Das ist die Ankün- von uns dann immer neue Leistungen fordern, die wir digung des Bundesfinanzministers am 26. August nicht mehr erbringen können. 1993 in der „FAZ", die Sie, Herr Duve, erwähnt haben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dort stellt er die gesamtstaatliche Verantwortung des Ina Albowitz [F.D.P.]: Das erzeugt Politikver- Bundes ab 1995 in Frage. Ich widerspreche ihm drossenheit!) hier. Ich möchte sagen, daß mir die 250 Millionen DM — ich (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und hoffe, sie sind tragbar — sehr schwerfallen. Aber es ist dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17359

Gerhart Rudolf Baum Ich möchte sagen, daß dies so, wie es angekündigt wenn überall gekürzt wird, die Pflicht haben, den ist, zur Beendigung der Dauerförderung von kulturel- Menschen, die hier tätig sind, eine Perspektive zu len Institutionen wie Schillergesellschaft, Freies Deut- geben, die dann auch trägt, und sie nicht in Unsicher- sches Hochstift, Deutsche Akademie für Sprache und heit zu lassen. Dichtung, Städel, Kinemathek-Stiftung usw. führen Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Das ist würde. Es würde die Projektförderung des Bundes in eine Aufgabe auch des Bundesparlaments. Es wäre den Fonds, die wir gemeinsam für Kunst, Literatur, traurig, wenn sich dieses Gesamtparlament nicht Soziokultur geschaffen haben, gefährden. Die Förde- regelmäßig mit Kulturpolitik befassen würde. Wir rung der überregional tätigen Verbände wäre gefähr- werden das auch im nächsten Jahr tun. Meine Frak- det, wenn man das so machen würde. Ich hoffe, daß es tion wird darauf drängen. Ich nehme an, wir sind uns nicht dazu kommt. einig, daß wir diese Verantwortung des Bundes für Es gibt eine Gesamtverantwortung des Bundes für kulturelle Aufgaben, auch für die Rahmenbedingun- bundesstaatliche kulturelle Einrichtungen und Pro- gen im Steuerrecht, im Stiftungsrecht, im Urheber- jekte, die sich bewährt hat. In diese Rolle können die recht, überfraktionell wahrnehmen. In diesem Sinne Länder gar nicht eintreten, weil es über ihre eigene sollten wir unsere Anstrengungen im nächsten Jahr Zuständigkeit und auch über ihr eigenes Interesse fortsetzen und verstärken. hinausgeht. Danke. Ich möchte an dieser Stelle dem langjährigen Leiter (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der der Kulturabteilung im Bundesinnenministerium, SPD) Dr. von Köckritz, danken, der am Aufbau dieser neuen Identität des Bundes wesentlich beteiligt war. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Ulrich Janzen. SPD) Ich möchte seinem Nachfolger, Professor Bergsdorf, wünschen, daß er diese Aufgabe erfolgreich fortfüh- Dr. Ulrich Janzen (SPD): Herr Präsident! Liebe ren kann — er hat dazu in unserem Unterausschuß wenige Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren einige Vorstellungen entwickelt — und eben nicht heute über Kultur. Ich möchte meine kurzen Ausfüh- zum Nachlaßverwalter der kulturpolitischen Aktivitä- rungen mit der Erinnerung an die vorgestern dort ten des Bundes wird. oben erfolgte Auszeichnung des Architekten Beh- risch mit dem Deutschen Architekturpreis 1993 für (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der dieses Haus und diesen Saal beginnen. SPD) (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) Wir müssen überprüfen, das ist richtig; aber in Die aus diesem Anlaß gehaltenen Reden — u. a. von diesem Geist und nicht mit dem Ziel, diese Verantwor- unserer Präsidentin, Frau Professor Süssmuth — tung im Kern in Frage zu stellen. waren im Grunde keine Auseinandersetzung mit Sehr interessant ist, daß sich die Kultusministerkon- Architektur — natürlich auch darüber —, sie waren im ferenz jetzt gemeldet hat und von ihrem Beschluß von wesentlichen Kulturbeiträge, die ich lieber hier im 1987 endgültig Abstand nimmt. Dort hat sie dem Bund Saal gehört hätte als dort oben neben der Treppe. ja weitere Zuständigkeiten verweigert. Jetzt bittet sie (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD] — um die Fortführung der Zuständigkeiten des Bundes Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Und mit dem und stellt ihre Kompetenzüberlegungen ganz hintan. Publikum!) Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Unter dem Druck der finanziellen Verhältnisse wird plötzlich Ich bin mir nicht sicher, ob hier falsche organisatori- dem Bund die Kompetenz nicht mehr bestritten — sche Entscheidungen getroffen wurden oder — was immerhin ein Schritt vorwärts. schlimmer wäre — ob es gar keinem bewußt gewor- den ist, daß bei einer solchen Platzentscheidung Meine Damen und Herren, ich erwarte, daß die bereits die Kultur beginnt. Bundesregierung Anfang des nächsten Jahres zu Bevor ich nun versuchen möchte, die Kultursitua- einer abgestimmten Meinung kommt. Ich setze meine tion in den neuen Ländern zu umschreiben, noch ein Hoffnung auch auf den Bundesinnenminister. Er ist, Satz gewissermaßen als Leitfaden der Betrachtung wenn Sie so wollen, der Kulturminister des Bundes. aus der Laudatio von Professor Ostertag während der Hier kann es nicht Entscheidungen geben, die erwähnten Preisverleihung. Er lautete: „Nur die Dar- irgendwo auf Beamtenebene ge troffen werden. Hier stellung des Außergewöhnlichen geht an der Realität muß sich die Bundesregierung zu einer politischen vorbei." Dieser Satz erscheint mir natürlich auf die Entscheidung durchringen, welcher Stellenwert zu- Tendenz der gegenwärtigen Kulturförderung an künftig der Gesamtverantwortung des Bundes für die -wendbar zu sein. Kultur zukommt. In unserer Großen Anfrage haben wir allgemeine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Fragen gestellt, sind teilweise sehr konkret geworden, Dieser Streit, diese Unsicherheit, die jetzt bestehen haben auch Zahlen genannt und solche ebenso gefor- — was will der Bund, was wollen die Länder, wie geht dert. Die nun vorliegende Antwort ist trotz der langen das schließlich aus? —, dürfen nicht auf dem Rücken Bearbeitungszeit und trotz der teilweisen Ausführlich- der Betroffenen ausgetragen werden. Es muß bald keit nichts weiter als die Ansammlung von Rechtfer- eine verläßliche Perspektive für die Kulturpolitik des tigungen. Was fehlt, das sind die konkreten Zukunfts- Bundes erkennbar sein. Ich meine, daß wir, gerade aussichten, die zu Hoffnungen Anlaß geben. Kompe- 17360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Ulrich Janzen tenzgerangel zwischen Bund und Ländern ist zwi- aus dem Boden wachsenden Supermärkte in den schen den Zeilen zum Nachteil der Betroffenen ein- Speckgürteln der ostdeutschen Gemeinden nimmt? deutig ablesbar. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Fest steht — und das ist auch der Antwort zu GRÜNEN]: Doch, ich!) entnehmen —, daß in den die eigent- neuen Ländern Nein, Dinosaurier, das sind die Bestseller der Gegen- liche Kulturkrise erst nach der Einführung des Län- wart! derfinanzausgleichs im Jahre 1995 beginnt. Es ist unschwer zu erkennen, daß bei den großen Haushalts- Auch das Kompetenzgerangel zwischen Bund, Län- problemen in den Kommunen und Ländern die Wich- dern und Gemeinden, wer in der Kultur nun eigentlich tung der Verteilung des wenigen Geldes kaum zugun- nichts darf oder wer was nicht zu machen braucht, sten der Kultur ausfallen wird, denn die Innova tions- erschwert die gesamtpolitische Situation in dieser kraft, die von der Kultur ausgeht, wird in den Rathäu- nicht nur finanziell schwierigen Phase natürlich sern und Amtsstuben nach wie vor nicht erkannt. zusätzlich. Wie ist das möglich? Ich erinnere mich sehr gut an Auch das zunehmend erkennbare Bestreben der die Jahre 1945 bis 1955. Es waren wohl die schwersten Gemeinden, sich durch Privatisierungen nun auch in Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir trotz der der Kultur der Verantwortung zu entziehen, wider- Stromsperren, trotz der Lebensmittelkarten und der spricht voll den gewollten Errungenschaften des sich Wohnungsnot in vollen Sälen auf den Bühnen von befreienden Bürgertums im vorigen Jahrhundert, Gaststätten Theateraufführungen erleben konnten, nämlich Kunst und Kultur der Macht einzelner zu die uns froh gestimmt haben, als wir nächtelang nach entziehen. Es ist nun auch im Osten verbreitete Opernkarten anstanden, weil wir E rich Kleiber in Gewohnheit geworden, sich bei Sponsoren — z. B. bei Dresden in der tausendsten Freischütz-Aufführung Sparkassen, die die Zinsen ihrer Sparkunden niedrig hören wollten, und zwar nicht im schwarzen Anzug — halten — zu bedanken, weil sie ein Kulturerlebnis nicht weil es, wie heute teilweise, so Mode war, ermöglichten. Kultur in Abhängigkeit und am Bettel- sondern weil es keinen gab. In Polen wurden zu der stab! Zeit Danzig und Warschau im historischen S til ebenso- Ich sage dies alles, weil ich glaube, daß die Kultur- wiederaufgebaut wie die zahlreichen zerstörten Kir- situation in Ostdeutschland nur die Spitze des Eisber- chen im Lande. ges ist, dessen Unterwasserausdehnung weit über die Und heute? Trotz hoher Arbeitslosigkeit — mit Grenzen dieses Territoriums hinausgeht. ABM, Vorruhestand und ähnlichem sind das in mei- (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions nem Wahlkreis fast 50 % — haben wir wieder stei- los]: Sehr richtig!) gende Besucherzahlen im Theater, zunehmende Buchausleihen in den Bibliotheken, großen Besuch im Man sollte sich hüten, alles nur dem mangelnden Geld Tierpark, also steigendes Kulturbedürfnis. Und wie zuzuschreiben. Die Ursachen liegen nach meiner reagiert die Politik? Einsparen, umstrukturieren, Ansicht mehr auf der Seite der politischen Verant- erneuern — das sind die Schlagwörter, hinter denen wortlichkeit, und die beginnt hier im Parlament. sich heute jeder versteckt und diese dann immer Ich möchte mich zu dessen Befindlichkeit zur Kultur weiter nach unten durchreicht. Da ganz unten keine hier nicht weiter verbreiten. Das bedürfte wirklich Antworten mehr gefunden werden, beginnt dann dort einer grundsätzlichen Debatte. das Sterben. Gestatten Sie mir noch eine einzige spezifische So drohte die Schweriner Kultusministerin Schnoor Bemerkung zur Antwort auf unsere Anfrage. Da spielt z. B. den Theatern S tralsund und Greifswald im Falle der sogenannte Kulturgroschen, ein Relikt der ehe- der Verweigerung einer Fusion die gänzliche Strei- maligen DDR-Kulturpolitik, eine Rolle. Die Antwort ist chung der Fördermittel an — sie bezog sich dabei wieder einmal — ich möchte fast sagen: wie immer — übrigens auf Bonn —, und die braven Abgeordneten eine rechtspolitische Verstrickung, die eine Unlösbar- der Bürgerschaften glaubten es auch und beschlossen keit vorprogrammiert. Schwerfälliger geht es wirklich es. nicht mehr. Natürlich wagt man sich nicht an die „Großen" der Dabei ist es doch sehr einfach, für jede Eintrittskarte Kultur, an das Außergewöhnliche direkt, wie Staats- je Kultureinrichtung zusätzlich zehn Pfennig zu kas- oper Berlin und Dresden, aber der Versuch, die sieren, wie bei den Aufschlägen für Sonderbriefmar- Staatskapelle Dresden und die Dresdner Philharmo- ken. Dieses Geld kann dann direkt in einen großen nie zu vereinigen, wurde schon unternommen. Und Kulturtopf fließen. Ob das nun Steuer genannt werden wenn es nicht den Kurt Masur aus der Wende 1989 muß, wage ich zu bezweifeln. Fest steht dann wenig- geben würde, sähe es um das Gewandhausorchester stens, daß sich nur die an der zusätzlichen Finanzie- Leipzig sicher auch schlechter aus, als dies ohnehin rung der Kultur beteiligen, die diese auch wollen. Oft schon ist. Das eigentliche Problem liegt wohl in der heißt es ja, der Kulturetat komme nur einer kleinen geistig-moralischen Wende, weniger an der des Lobby zugute. Herbstes 1989. Oder besteht da vielleicht sogar ein Zusammenhang? Schließen wir uns doch zusammen, formulieren wir einen Antrag als Beschlußvorlage und füllen damit Der Begriff „Kultur als Bedürfnis " verliert mehr und unsere Kulturkassen. Dann wäre aus der heutigen mehr an Bedeutung. Ist es nicht erschütternd, daß kein Debatte wenigstens etwas Konkretes herausgekom- Mensch mehr Anstoß an der Häßlichkeit der wie Pilze men. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17361

Dr. Ulrich Janzen Ich habe auf weitere Details der Kulturszene Ost Bundeskanzlers zu danken, daß, vorfinanziert vom verzichtet, weil man all diese den Medien entnehmen Bund, 250 Millionen DM des von der Unabhängigen kann. Ich wollte versuchen, die Argumente über die Kommission Parteivermögen verwalteten Geldes Problematik Ost auf einen grundsätzlichen Pfad zu zweckgebunden für kulturelle Einrichtungen und lenken: Wenn sich der Stellenwert Kultur in dieser Aufgaben in den neuen Bundesländern den Finanz- vorwiegend durch ein Besitzstandsdenken geprägten ministern der neuen Bundesländer zur Verfügung Gesellschaft nicht verändert, ist die fast unlösbare gestellt werden. Es ist also nicht so, wie Herr Duve Aufgabe „Kultur Ost" nicht zu vermitteln. eingangs sagte, nämlich daß uns ein Abschied der In diesem Saal gibt es unendlich viele Debatten. Zu Kulturförderung des Bundes bevorsteht. den Fragen der Kultur sind es auf jeden Fall zuwenig. (Beifall bei der CDU/CSU) Und das ist auch schon eine der Ursachen unserer Misere, über die wir heute hier sprechen. Insgesamt kann für die zukünftige Kulturpolitik des Bundes vielmehr festgestellt werden, daß sie seit dem (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste 2. Dezember 1993 in eine neue Phase eingetreten ist. sowie des Abg Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos] Herr Baum wies darauf hin, daß durch den an jenem und des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] Tag einstimmig gefaßten Beschluß der Kultusmi- [fraktionslos] ) nisterkonferenz die Kulturförderung des Bundes eine neue Grundlage erhalten hat, die es verbietet, länger Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Professor davon zu sprechen — wie es leider manchmal auch im Wisniewski, Sie haben das Wort. Deutschen Bundestag geschah —, daß Kulturpolitik allein Sache der Länder und Kommunen sei und daß Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Herr Präsi- somit auch nur ein sehr begrenzter Anspruch auf dent! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Finanzmittel des Bundes für die Kulturförderung Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD- bestehe. Fraktion zur Lage der Kultur in den neuen Ländern Im März 1987 hatten die Länder anläßlich der läßt erkennen, mit welcher Sorgfalt und mit welch Errichtung der Kulturstiftung der Länder noch erklärt, beträchtlichen Finanzmitteln die Bundesregierung daß der Bund außerhalb der Tätigkeit dieser Stiftung die ihr mit Art. 35 des Einigungsvertrages übertragene keine neuen Aktivitäten im innerstaatlichen Kultur- Aufgabe, die kulturelle Substanz in den neuen Län- bereich ergreifen dürfe. Diese Haltung wurde jetzt dern zu erhalten, bis in das laufende Haushaltsjahr revidiert. Es wurde anerkannt, daß im Zug der deut- hinein wahrgenommen hat. schen Einheit Bundesregierung und neue Länder 1993 erfolgt — es ist mehrfach gesagt worden — gemeinsam kulturelle Einrichtungen über die beste- die Neuordnung des gesamtstaatlichen Finanzaus- henden Absprachen hinaus fördern mußten und gleichs. Danach werden die neuen Länder ab 1995 gefördert haben. Daraus ergab sich eine prinzipielle voll in den Finanzausgleich einbezogen. Für 1993 und Neuordnung. 1994 wurde der Fonds Deutsche Einheit zugunsten So ist also letztlich, wenn man so will, die deutsche der neuen Bundesländer um insgesamt 10 Millarden Einheit mit ihren neuen kulturellen Gegebenheiten DM aufgestockt. Es wurde natürlich erwartet, daß Ursache dafür, daß ein langersehnter Wunsch der diese Umschichtungen den kulturellen Belangen in Kulturpolitiker Erfüllung findet. Denn Gegenstand den neuen Bundesländern zugute kommen würden. der Kulturförderung des Bundes sollen nach diesen Herr Kollege Baum hat schon auf die Verantwortung Abmachungen entsprechend der bisherigen Praxis der alten Bundesländer dabei hingewiesen. Kunst- und Kulturvorhaben oder Einrichtungen von Deshalb sah sich der Bund berechtigt, im Haushalt überregionaler Bedeutung sein. Hinzu kommen als 1993 letztmalig 600 Millionen DM zur Substanzerhal- bundespolitische Kulturaufgaben die Beseitigung der tung und Förderung der kulturellen Infrastruktur und deutschen Teilung und die auswärtige Kulturpolitik. 50 Millionen DM zur Sicherung und Erhaltung unbe- weglicher Kulturdenkmäler und wertvoller histori- Die Länder haben Kriterien für kulturelle Förde- scher Bauten einzustellen. Natürlich haben wir Kul- rungsmaßnahmen des Bundes festgelegt, die ein- turpolitiker vehement — wenn auch leider vergeb- leuchtend sind und sich von selbst verstehen: künst- lich — versucht, die Übergangsfinanzierung für 1994 lerische und kulturelle Qualität, innovative kulturelle „zu retten". Bedeutung, Einzigartigkeit bzw. herausragende Stel- lung, europäische und interna tionale Ausstrahlung. Man muß aber auch sehen, daß gleichzeitig mit den schon erwähnten Umschichtungen der finanzpoliti- Diese einstimmig getroffenen Feststellungen der sche Handlungsspielraum der Länder durch die Länder bilden, so meine ich, eine gute Grundlage für Abgabe von sieben Umsatzsteuerpunkten vom Bund die Weiterentwicklung der Kulturpolitik des Bundes an die Länder deutlich verbessert wurde. Dies hätte und für die begonnenen Gespräche zwischen Bundes- eigentlich dazu führen müssen, daß sich — ich sagte es regierung und Landesregierungen über die Auswahl schon — die alten Bundesländer entsprechend ihrer kultureller Einrichtungen und Projekte, an deren föderalen Verantwortung und im Rahmen ihrer Mög- Finanzierung sich der Bund ab 1995 beteiligen soll. lichkeiten an den kulturellen Hilfen für die neuen Der Bund sollte — das ist sicher übereinstimmende Länder beteiligten. Das geschah nicht. Meinung dieses Parlaments — diese Gestaltungsmög- Vor diesem Hintergrund ist die Notlösung zu sehen, lichkeiten in Übereinstimmung mit den Ländern die für 1994 für die Fortsetzung der „Übergangsfinan- intensiv nutzen. zierung Kultur" gefunden werden konnte. Es ist dem Die gegenwärtigen beängstigenden Erscheinungen Einsatz vieler, insbesondere aber dem Einsatz des einer Brutalisierung und Entkultivierung der Gesell- 17362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Roswitha Wisniewski schalt lassen Befürchtungen wachsen, daß die Grund- Mittelbau weitgehend zusammengebrochen ist. Er ist lagen eines geregelten menschlichen Zusammenle- parallel mit vielen anderen Strukturen zusammenge- bens zumindest in einigen der Industrienationen stark brochen. gefährdet sind. Zu den Kräften, die dringend der In der DDR hatte das Aktivierung bedürften, um diese Gefahren zu bannen, nationale deutsche Kulturerbe in der Tat einen hohen Stellenwert. In allen Völkern gehört die Kulturpolitik, gehört insbesondere auch die des früheren Ostblocks gab es eine Förderung der überregionale, gesamtstaatliche Kulturpolitik des jeweiligen nationalen Kulturen. An diesem Maßstab Bundes, um die Bedeutung des Staates und der vielen wird auch heutige Kultur gemessen. Wir hatten Mu- Institutionen, die einen Staat tragen, für den einzelnen sikolympiaden. Es gab Wettbewerbe für Poesie und Menschen begreiflich zu machen. Malen. Es gab eine kulturelle Breite, die auch weitge- Dies kann, so lehrte es jüngst eine Anhörung zum hend zusammengebrochen ist. Thema Gewalt, nicht allein durch Information, son- dern nur durch organisatorische Einbindung in Erfah- Gesellschaftliche Tätigkeit, die jeder DDR-Bürger rungsmodelle geschehen. Wo dies durch Familie und irgendwie ausüben mußte, konnte auch in Form von eine intakte gesellschaftliche Umwelt mit Vereinen, Kultur abgeleistet werden. Das ersparte vielen Leh- Kirchen, auch Parteien nicht mehr gewährleistet ist, rern, Kindern und vielen weiteren Menschen eine sind unterstützende Einrichtungen dringend notwen- andere gesellschaftspolitische Mitarbeit. Es gab einen dig. Kultur- und Sozialfonds. Im Bereich der neuen Länder ist deshalb die Unter- In den Betrieben, auf den Dörfern war auch die LPG stützung von Jugendkultureinrichtungen und -veran- Träger der Kultur. Auch das ist zusammengebrochen. staltungen von höchster Bedeutung. Man kann die Daran müssen wir zukünftige deutsche Kulturpolitik Bundesregierung nur ermutigen, wie bisher und messen. Es ist ja nicht gleichmäßig die Hälfte zusam- womöglich noch stärker und wo immer möglich in mengebrochen, sondern in vielen Gebieten ist fast geeigneter Weise — etwa im Rahmen der politischen alles zusammengebrochen. Die Kulturhäuser auf den Bildungsarbeit, hier gibt es ja eine Bundeszuständig- Dörfern sind dicht. keit — bei dieser Aufgabe mitzuwirken. Nur in zwei Punkten ist etwas in der Breite erhalten Es geht längerfristig gesehen um die Sicherung worden oder wieder neu hinzugekommen. Die Kir- unserer freiheitlichen Demokratie. Deshalb bedarf es chengemeinden haben weitgehend unbeeinflußt von der besseren Koordinierung und Verzahnung von ihrem zusammenbrechenden kulturellen Umfeld die Kulturvermittlung und politischer Bildung, ein Auf- Pflege christlicher deutscher Nationalkultur erhal- gabenfeld, das Bundestag und Bundesregierung zu ten. Die Chöre sind, genauso wie vorher, da. ihrem besonderen Anliegen machen sollten. Eines ist hinzugekommen. Ostdeutsche und sude- Der vorgelegte Entschließungsantrag der SPD- tendeutsche Kultur können jetzt auch in Mittel- Fraktion enthält vieles, was gewiß auch von den deutschland wieder offen gepflegt werden. Das wird anderen Fraktionen des Bundestages bejaht und auch getan. Es ist nur schade, daß in den Heimatver- unterstützt wird. Er enthält aber auch manches, was triebenenverbänden meist nur alte Menschen noch da angesichts der angespannten Finanzlage von der sind, die ihre Tradition pflegen können. CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus Verantwortung für das Ganze nicht mitgetragen werden kann. Ich komme nun zu den Zielen der zukünftigen deutschen Kulturpolitik: Wir wären gern bereit, darüber im einzelnen in den Ausschüssen zu diskutieren, um zu gemeinsamen Erstens. Auf allen Ebenen muß das nationale Kul- Vorschlägen zu kommen. Bei sofortiger Entscheidung turerbe erhalten werden, solange die Träger dieses sind wir leider zur Ablehnung gezwungen. Erbes noch da sind. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Zweitens. Wir müssen ehrenamtliche Kulturarbeit fördern, nicht nur materiell, sondern auch öffentlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Drittens. Wir brauchen eine Umstellung der Fern- sehprogramme; kurz gesagt: Weg von Sex und Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Otto Gewalt, hin zu einer positiven Darstellung auch der gibt Ihren Redebeitrag zu Protokoll,*) wenn das Haus Volkskunst und der breiten Kultur. Hier müssen damit einverstanden ist. — Dagegen erhebt sich kein wesentlich andere Sendezeiten eingeführt werden. Widerspruch. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Mehr Tier Ich erteile als nächstem dem Kollegen Dr. Rudolf-filme!) Krause das Wort. — Das auch. Viertens. Kulturelle Selbstbetätigung an allen Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Schulen — nicht nur an Gymnasien —, also auch an Präsident! Meine Damen und Herren! Als ehemaliger Hauptschulen und an Berufsschulen. Thomaner in Leipzig und natürlich auch als Tierarzt auf dem Lande möchte ich schon zur Kultur in den Fünftens. Wir brauchen eine aktive Einbeziehung neuen Ländern sprechen. der Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Wenn man in den ländlichen Gegenden sagt: es ist Vorruheständler in eine aktive Kultur. Hier ist noch nichts mehr los, dann meint man, daß der kulturelle sehr vieles im argen und sehr vieles zu tun. Sechstens. Es muß in allen Veranstaltungen auch *) Anlage 4 wieder gesungen werden, und Kindern und Jugend- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17363

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) lichen muß Gelegenheit gegeben werden, ihre Kunst Um nur ein Beispiel dieser anderen Kulturpolitik darzustellen, wie es in der DDR üblich war; denn der aus Frankreich zu nennen: Das Land hat einen eige- Fonds hieß Kultur- und Sozialfonds. Es mußte ein nen Beauftragten mit umfangreichem Apparat bestimmter Teil für Kultur ausgegeben werden. In — beim Präsidenten der Republik angesiedelt — für meinen Veranstaltungen, und das sind ja mehrere pro die Fragen der Frankophonie. Woche, dränge ich darauf, daß wieder gesungen und Doch was jetzt hier in Deutschland im Zusammen- Kultur angehört wird. hang mit dem, was wir hier heute debattieren, Siebentens. Man muß natürlich auch, das wurde geschieht, stellt selbst vor dem Hintergrund der etwas heute schon gesagt, Ausgaben des Staates verglei- kulturabgewandten preußisch-deutschen Traditionen chen. Wenn steigende Ausgaben für Europa, für alles in den Schatten. Die Kulturpolitik wird gerupft andere Länder — ich denke nur an die zig Milliarden wie kein anderer Politikbereich. für Rußland —, wenn für den Nahen Osten, wenn auch (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das stimmt für Hunderttausende zu uns kommende Immigranten aus aller Welt Milliarden ausgegeben werden und doch nicht!) immer neue Milliarden hinzukommen, darf das nicht — Das stimmt sehr wohl, Herr Baum. Das wissen zu Lasten der Finanzierung der deutschen National- Sie. kultur gehen. Wir müssen unsere kulturelle Identität Der Kulturetat des Bundes ist fast halbiert worden bewahren. — von 1 420 Millionen DM auf 816 Millionen DM. Achtens. Kultur muß eine gesamtgesellschaftliche Dabei war der Kulturetat schon 1993 rigoros gekürzt Aufgabe bleiben und jetzt auch wieder werden. Auch worden. da muß man sich in Mitteldeutschland an dem hohen kulturellen Anspruch der DDR messen. Es darf dort (Zuruf von der F.D.P.: Nicht einmal lesen! — auf Dauer keinen Abstieg geben. Ina Albowitz [F.D.P.]: Auch das ist nicht wahr!) Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Es geht bei der Kulturförderung nicht um Geld. Es geht um die — Ich weiß, das paßt Ihnen nicht. Aber es ist so. Setzung gesellschaftlicher Normen. Es geht um die Ich kenne nur eine Position im Haushalt, die ähnlich Ausgestaltung eines nationalen Grundrechts eines gerupft wurde, nämlich die Friedens- und Konfliktfor- jeden Volkes, und das heißt natürlich für unser deut- schung, und auch das ist symptomatisch. sches Volk auch: Bewahrung und Wiederaufleben einer deutschen Nationalkultur, nicht nur in Mittel- Auf der anderen Seite — m an kann es nur immer deutschland, sondern überall da, wieder ansprechen —: Der Rüstungshaushalt bleibt trotz ersatzlosen Wegfalls des traditionellen Feindes (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wo bin ich eigentlich im Osten fast unverändert auf der Höhe von etwas hier?) unter 50 Milliarden DM. 2,5 Milliarden DM werden wo Deutsche auf dieser Erde sind. zur Versorgung von Berufssoldaten der früheren Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche Wehrmacht und von Angehörigen des Reichsarbeits- schöne Feiertage. dienstes ausgegeben. Und bei all diesen Prozessen sind besonders die neuen Länder nega tiv betroffen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das Glas bitte stehenlassen!) Mit dem ersatzlosen Auslaufen der Übergangsfi- nanzierung von 1993 auf 1994 wird im übrigen meines Erachtens der Einigungsvertrag gebrochen. Der hatte Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Ulrich nämlich dem Bund diese Aufgabe unbefristet übertra- Briefs, Sie haben das Wort. gen. (Zuruf von der F.D.P.: Stimmt auch nicht!)

Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Der Kulturbereich, der Bereich künstlerischer Pro- Meine Damen und Herren! Einige werden gleich in jekte und Initiativen, ist, wie ich z. B. von guten der Tat ein bißchen zu leiden haben. Nach inzwischen Freunden und Freundinnen aus dem Bereich freier sieben Jahren parlamentarischer Erfahrung in diesem Theater und aus dem Büro für ungewöhnliche Maß- Haus: Es gibt nichts, was in diesem Haus einen so nahmen in Berlin-Kreuzberg erfahren habe, geringen Stellenwert hat wie Kultur und Kulturpoli- (Lachen bei der F.D.P.) tik. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Also, Herr Kollege!) auch noch zusätzlich stark be troffen vom Wegfall von ABM-Stellen. Auch das wiederum betrifft besonders Das ist nicht nur ein Ergebnis des föderalen Aufbaus stark den Osten. der Bundesrepublik. Es ist irgendwie auch Bestandteil deutscher Tradition und deutschen Selbstverständnis- Da kann man nur sagen: Die Katastrophe ist kom- ses. Der kulturabgewandte Industrie-, Junker- und plett. Es werden mit der Fast-Halbierung der Kultur- Soldatenstaat Preußen lebt insofern durchaus wei- ausgaben des Bundes und mit anderen Sparmaßnah- ter. men wesentliche Existenzgrundlagen von Kultur und (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist unglaublich!) Kunst im gesamten Land angegriffen. Dabei geht es um weniger als 2 Promille des Bundeshaushalts. So Unser französisches Nachbarland ist da ganz gering ist der Mittelaufwand. anders. Da ist es gerade auch der Staat, der das Land und insbesondere Paris zu einer Kulturmetropole Daß diese Politik nicht nur staatspolitisch verfehlt gemacht hat, an die Deutschland und deutsche Städte ist, sondern auch zur gesellschaftlichen Verwahrlo- heute nicht und wohl niemals heranreichen werden. sung von integrationsbedürftigen Menschen insbe- 17364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Dr. Ulrich Briefs sondere im Osten beiträgt, sei nur angemerkt. Treiben Lage der Frauen- und Mädchenhäuser und Sie mit dieser Politik nicht noch mehr arbeitslose gesetzgeberischer Handlungsbedarf Jugendliche vor allen Dingen in die Videotheken und — Drucksachen 12/2243, 12/3909, 12/4623, vor die Bildschirme des Po rno-, Brutalo- und Sensa- 12/5347 — tionsfernsehens, jenes Po rno-, Brutalo- und Sensa- tionsfernsehens, das erst durch Ihre falsche Weichen- Berichterstatter: stellung Anfang der 80er Jahre in der Medienpolitik Abgeordnete Ilse Falk Dr. Sigri — die auflagenlose und unkontrollierte Zulassung von d Semper Hanna Wolf Privatsendern — möglich geworden ist? Treiben Sie damit nicht vor allem Jugendliche in den reizlosen Sämtliche Debattenteilnehmer haben ihre Beiträge grauen Plattenbaughettos des Ostens in die Arme der zu Protokoll gegeben *). Habe ich dafür das Einver- rechtsradikalen Rattenfänger? ständnis des Hauses? — Das ist der Fall. Deutschland ist wegen der Angriffe auf Ausländer Dann kommen wir zur Abstimmung über die so schlecht angesehen wie lange nicht mehr. Ein Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Mittel, um dem etwas entgegenzusetzen, ist die Jugend zu dem Entschließungsantrag der Gruppe Arbeit der Goethe-Institute. Aus eigener Erfahrung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der weiß ich, welch wichtige positiv vermittelnde Funk- Fraktion der SPD zur Lage der Frauen- und Mädchen- tion etwa das Goethe-Institut in Paris hat. Statt den häuser, Drucksache 12/5347. Der Ausschuß empfiehlt, Goethe-Instituten aber die benötigten zusätzlichen den Entschließungsantrag auf Drucksache 12/4623 70 Stellen — z. B. für Neueröffnungen in Kiew und abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Alma-Ata — zu geben, sollen in den Goethe-Instituten lung? — Wer stimmt dagegen? — Die Antragsteller 110 Stellen eingespart werden. selbst sind nicht im Saal. Wer enthält sich der Stimme? Wir werden mit dieser Debatte, die zudem ziemlich — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. am Ende der Tagesordnung für dieses Jahr überhaupt und vor selbst für dieses Haus besonders dünn besetz- ten Rängen stattfindet, die Bedeutungslosigkeit der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Kulturpolitik nicht ändern. Dazu bedarf es sehr viel Beratung der Beschlußempfehlung und des gründlicherer und umfassenderer Prozesse der Neu- Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- orientierung der Politik auf Bundesebene insgesamt. schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu Das Entscheidende können die Bürger und Bürgerin- dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Küb- nen und gerade auch die künstlerisch Tätigen des ler, Friedhelm Julius Beucher, Siegrun Klem- Landes allerdings selbst tun, nämlich Druck auf die mer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gelegentlich etwas schwerfälligen Kolosse, die Par- der SPD teien, ausüben und bei der Wahl im nächsten Jahr Hilfen zur Stillegung der RBMK-Reaktoren in dafür sorgen, daß kulturbewußte und nicht kulturin- Rußland, der Ukraine und Litauen differente Kräfte wie die derzeitigen Koalitionspar- — Drucksachen 12/4783, 12/6356 — teien in der Zukunft auf Bundesebene das Sagen haben werden. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Harald Kahl Herr Präsident, ich danke Ihnen. Dr. Klaus Kübler Gerhart Rudolf Baum Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Auch hier sind wir in derselben Geschäftsordnungs- sprache. situation: Sämtliche Rednerinnen und Redner haben ihre Beiträge zu Protokoll gegeben.* *) Ist das Haus Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache damit einverstanden? — Dies ist der Fall. 12/6416, zu dem die Kollegen Jork, Wisniewski, Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Junghanns, Mahlo und Michalk Erklärungen gemäß empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der haben' ). Wer stimmt für den Entschließungsantrag? Fraktion der SPD zu Hilfen für die Stillegung der — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der RBMK-Reaktoren in Rußland, der Ukraine und Stimme? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Litauen auf Drucksache 12/6356. Der Ausschuß emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4783 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf: Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Die Be- Beratung der Beschlußempfehlung und des schlußempfehlung ist angenommen. Berichts des Ausschusses für Frauen und Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Druck- Jugend (14. Ausschuß) zu dem Entschließungs- sache 12/6356 empfiehlt der Ausschuß für Umwelt, antrag der Abgeordneten Chris tina Schenk Naturschutz und Reaktorsicherheit die Annahme und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschluß- zur Großen Anfrage der Abgeordneten empfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, , sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist weiterer Abgeordneter und der Fraktion der angenommen. SPD *) Anlage 6 *) Anlage 5 **) Anlage 7 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17365

Vizepräsident Hans Klein Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung der und die Freude am Schenken mit in das für uns alle vermutlich letzten Sitzung des Deutschen Bundesta- sicher nicht leicht werdende Jahr 1994. ges in diesem Jahr. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, den 12. Januar 1994, 13 Uhr (Ina Albowitz [F.D.P.]: Herr Präsident, nicht ein, falls nicht vorher eine Sondersitzung verlangt so pessimistisch!) wird. Ich wünsche Ihnen, meine verehrten Kolleginnen Die Sitzung ist geschlossen. und Kollegen, gesegnete Weihnachten und ein glück- liches neues Jahr. Nehmen Sie die Festtagsstimmung (Schluß der Sitzung: 13.48 Uhr) 17366* Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Dr. Matterne, Dietmar SPD 10.12.93 entschuldigt bis Mehl, Ulrike SPD 10.12.93 Abgeordneter) einschließlich Mischnick, Wolfgang F.D.P. 10.12.93 Barbe, Angelika SPD 10.12.93 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 10.12.93 Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 10.12.93 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 10.12.93 * Michaela Müller (Pleisweiler), SPD 10.12.93 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 10.12.93* Albrecht Wilfried Müiler (Völklingen), SPD 10.12.93 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 10.12.93 Jutta Burchardt, Ulla SPD 10.12.93 Müller (Wadern), CDU/CSU 10.12.93 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 10.12.93 Hans-Werner Peter Harry Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 10.12.93 Cronenberg (Arnsberg), F.D.P. 10.12.93 Neumann (Gotha), SPD 10.12.93 Dieter-Julius Gerhard Dr. Däubler-Gmelin, SPD 10.12.93 Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 10.12.93 Herta Otto (Frankfurt), F.D.P. 10.12.93 Ehrbar, Udo CDU/CSU 10.12.93 Hans-Joachim Erler, Gernot SPD 10.12.93 Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 10.12.93 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 10.12.93 *** Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 10.12.93 Francke (Hamburg), CDU/CSU 10.12.93 Dr. Pick, Eckhart SPD 10.12.93 Klaus Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 10.12.93 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 10.12.93 Susanne Dr. Fuchs, Ruth PDS/LL 10.12.93 Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 10.12.93 Ganschow, Jörg F.D.P. 10.12.93 Hermann Gattermann, Hans H. F.D.P. 10.12.93 Rawe, Wilhelm CDU/CSU 10.12.93 Dr. Gautier, Fritz SPD 10.12.93 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 10.12.93 * Gerster (Mainz), CDU/CSU 10.12.93 Reichenbach, Klaus CDU/CSU 10.12.93 Johannes von Renesse, Margot SPD 10.12.93 Glos, Michael CDU/CSU 10.12.93 Reuschenbach, Peter W. SPD 10.12.93 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 10.12.93 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 10.12.93 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 10.12.93 Ingrid Großmann, Achim SPD 10.12.93 Dr. Scheer, Hermann SPD 10.12.93 Grünbeck, Josef F.D.P. 10.12.93 Schmidt (Nürnberg), SPD 10.12.93 Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 10.12.93 Renate Haack (Extertal), SPD 10.12.93 von Schmude, Michael CDU/CSU 10.12.93 Karl-Hermann Dr. Schnell, Emil SPD 10.12.93 Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 10.12.93 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 10.12.93 Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 10.12.93 Carl-Detlev Andreas Dr. Hellwig, Renate CDU/CSU 10.12.93 Schulte (Hameln), SPD 10.12.93 ** Henn, Bernd PDS/LL 10.12.93 Brigitte Heyenn, Günther SPD 10.12.93 Skowron, Werner H. CDU/CSU 10.12.93 Dr. Hoth, Sigrid F.D.P. 10.12.93 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 10.12.93 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 10.12.93 Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 10.12.93 Jungmann (Wittmoldt), SPD 10.12.93 Wolfgang Horst Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 10.12.93 Dr.-Ing. Kansy, Dietmar CDU/CSU 10.12.93 Dr. von Teichman, F.D.P. 10.12.93 Kiechle, Ignaz CDU/CSU 10.12.93 Cornelia Kittelmann, Peter CDU/CSU 10.12.93 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 10.12.93 Körper, Fritz Rudolf SPD 10.12.93 Dr. Ullmann, Wolfgang BÜNDNIS 10.12.93 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 10.12.93 90/DIE Kolbe, Regina SPD 10.12.93 GRÜNEN Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 10.12.93 Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 10.12.93 Günther Friedrich Kriedner, Arnulf CDU/CSU 10.12.93 Wagner, Hans Georg SPD 10.12.93 Dr. Lehr, Ursula CDU/CSU 10.12.93 Walz, Ingrid F.D.P. 10.12.93 Lowack, Ortwin fraktionslos 10.12.93 Wartenberg (Berlin), SPD 10.12.93 Lummer, Heinrich CDU/CSU 10.12.93 * Gerd Dr. Luther, Michael CDU/CSU 10.12.93 Weißgerber, Gunter SPD 10.12.93 Marienfeldt, Claire CDU/CSU 10.12.93 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 10.12.93 Marten, Günter CDU/CSU 10.12.93 Gert Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17367*

entschuldigt bis Obgleich ich dem vorliegenden Gesetz nicht Abgeordnete(r) einschließlich zustimmen dürfte, Werde ich mit Blick auf die notwen- digen Einsparungen dem gesamten SKWPG-Gesetz- Welt, Jochen SPD 10.12.93 espaket meine Stimme nicht versagen. Wester, Hildegard SPD 10.12.93 Die von mir angezweifelte Verfassungsmäßigkeit Wieczorek (Duisburg), SPD 10.12.93 der o. a. Regelungen zu den Einkommensgrenzen Helmut wird durch das Bundesverfassungsgericht näher zu Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 10.12.93 prüfen und ggf. zu ändern sein. Insofern kann ich den Wolfgramm (Göttingen), F.D.P. 10.12.93 vorliegenden Haushalt 1994 nicht in Frage stellen. Torsten

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Anlage 4 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- lung *** für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentari- Zu Protokoll gegebene Rede schen Union zu Tagesordnungspunkt 16 (Große Anfrage zur Lage der Kultur in den neuen Ländern)

Dr. Helga Otto (SPD): In Krisenzeiten sind Weisheit Anlage 2 und Weitsicht gefragt. Erklärung nach § 31 GO Arbeit und Kultur spielen im Leben des Einzelnen, des Abgeordneten Arne Fuhrmann (SPD) aber auch für das harmonische Zusammenleben der zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung Menschen eine große Rolle. Nimmt man ihm beides, des Vermittlungsausschusses zu dem riskiert man, daß er die Orientierung verliert und Zweiten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, scheinbar abnormale Verhaltensweisen auftreten. Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms Aggression, Depression und Abwanderung sind nur (Zusatztagesordnungspunkt 8) einige, die wir bereits alle kennen, aber die Verant- wortlichen in der Regierung sind nicht gewillt, die Mit Genugtuung nehme ich zur Kenntnis, daß die Vorboten eines herannahenden möglichen Unheils Sozialhilfe nicht eingefroren, sondern um 2 Prozent wahrzunehmen. Dabei brauchen sie nur ihren Blick erhöht, angekoppelt an die Höhe der voraussichtli- nach Osten zu wenden. chen Entwicklung der durchschnittlichen Nettolohn- Kultur hilft den Menschen bei der Bewältigung und -gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer ab schwerer oder ungewohnter Lebenssituationen. Den Januar 1994 gezahlt wird. Die Änderung der Ver- Beweis dafür lieferten die Menschen auch in der Zeit pflichtung der Gemeinden zum Angebot von Arbeits- der SED-Diktatur. Musik, klassische Literatur und plätzen für Sozialhilfeempfänger von einer Mußbe- Volkskunst wurden gepflegt. Wohl im Kollektiv in die stimmung in eine Sollbestimmung wird von mir befür- Konzertsäle gelockt, entwickelten sie bis zu einfach- wortet. sten Menschen hin ein Kulturverhalten, daß ich Die Einschränkungen bei den Trägern von Zivil- zumindest als förderungswürdig be trachten möchte. diensten und die damit verbundenen Streichungen Theater, Konzertsäle, Bibliotheken und Museen sind der dringend notwendigen Mittel im Bereich der Orte der Begegnung auf hohem Niveau. Sie sind die mobilen und stationären Hilfsdienste machen es mir beste Therapie gegen aggressives Verhalten und nicht möglich, diesem Spargesetz zuzustimmen. dienen der Befriedung und der Kultur des Zusammen- Darüber hinaus habe ich erhebliche verfassungs- lebens. rechtliche Bedenken, denn der Artikel 12a GG wird Besonders die Kultur des Meinungsstreites muß durch Streichungen bei unmittelbaren Leistungen an gelebt und geübt werden, denn während zweier Zivildienstleistende berührt. vorausgegangener Diktaturen war die Auseinander- setzung mit Andersdenkenden nicht gefragt. Gerade haben wir diese zarten Pflänzchen der Anlage 3 soziokulturellen Begegnungsstätten gehegt und dem Geiste die Freiheit wiedergegeben, damit begonnen, Erklärung nach § 31 GO unsere bis zu mehreren hundert Jahren alten Theater des Abgeordneten Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.) und Museen zu restaurieren, da setzt der Rotstift unter zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung Bruch eines Versprechens des Kanzlers selbst, für des Vermittlungsausschusses zu dem 1994 500 Millionen für die Kulturförderung bereitzu- Ersten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, stellen, ohne daß der Länderfinanzausgleich schon da Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms wäre, so drastisch an, daß die Kommunen das kalte (Zusatztagesordnungspunkt 7) Entsetzen gepackt hat ob dieser Sparmaßnahme. Meine Damen und Herren, haben Sie überhaupt Bereits anläßlich der Verabschiedung des eine Ahnung davon, was sich in den ostdeutschen 1. SKWPG habe ich darauf hingewiesen, daß dieses Kommunalhaushalten abspielt? Glauben Sie denn, Gesetz durch die Einführung neuer Einkommens- Sie könnten drei Jahre nach der formalen Einheit grenzen beim Erziehungsgeld und beim Drittkinder- Deutschlands wieder zur Tagesordnung übergehen? geld vermutlich verfassungswidrig ist. Ich frage Sie im Namen meiner Kolleginnen und 17368* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Kollegen aus den Kommunen und Ländern Ost- — oder in einer zweiten Variante: Gesamtabbau von deutschlands, was Sie den Leuten drüben noch zumu- 120 Stellen, Schließung des Schauspielhauses, künst- ten wollen? Verlangen Sie von uns, daß wir den lerische Abwertung der Robert-Schumann-Philhar- Leuten erklären, es sei nur ein Witz gewesen mit den monie zum Stadttheater-Orchester und Einstellung blühenden Landschaften und wir schließen jetzt mal der Sinfoniekonzerte der Stadthalle, Schließung der so ein Puppentheater oder eine Bibliothek! Ich will Sparte Ballett mit Reduzierung des Opernchors. Ihnen gleich noch ein paar Beispiele nennen, damit Ich denke, das kann man einer Bevölkerung und Sie den Ernst der Lage begreifen. Seit 1989 sind einer Universitätsstadt nicht zumuten. Schließlich ist 20 000 Entlassungsbriefe im Kulturbereich der neuen Kultur auch ein Standortfaktor. Die Leistungskraft Länder abgeschickt worden. ostdeutscher Kommunen ist ohne Länderfinanzaus- Trotzdem konnte so manches Museum, Archiv, gleich bei nur geringen eigenen Einnahmen und Bibliothek oder Jugendclub, Musikgruppe oder ständig steigenden Belastungen am Ende. Wissen Sie, Laienspieltheater durch ABM-Maßnahmen mühsam daß ausgerechnet die Kunststadt Dresden ernsthaft bis heute gerettet werden. Die Reduzierung der ABM- erwägt, das Kulturdezernat abzuschaffen? Stellen hat hier schon tiefe Wunden geschnitten. Der Verweis auf den Verzicht auf Straßenbau oder Kleine Kommunen haben gerade einmal 16 Prozent andere Dinge hilft hier auch nicht weiter. In Chemnitz der Kulturarbeiter in festen Anstellungen. Diese brechen die Straßentunnel- bzw. -brücken zusam- ABM-Maßnahmen waren kein herausgeworfenes men, Hunderte von Kilometern Wasserleitungen und Geld, sondern wertvolle Kulturarbeit. Abwasserleitungen müssen ebenso dringend gelegt Ein Beispiel aus Leipzig: Im Bereich Kultur werden werden. Es fehlen Wohnheime für die Studenten — 1994 insgesamt mehr als 225 Stellen abgebaut. Außer- kein Wunder, wenn ein Bürgermeister nur noch Scha- dem mußte die Stadt auf Grund des Wegfalls von ABM densbegrenzung machen kann. Er kann auch jede institutionelle Förderung für freie Kulturträger über- Mark nur einmal ausgeben. nehmen, was zu Lasten von Projektförderung geht. Für die wertvolle finanzielle, aber auch personelle Fusionierung von Ensembles und Reduzierung der Hilfe für den Erhalt von Kultureinrichtungen, an Aufführungen sind ebenfalls vorgesehen. Hinzu denen wir in Sachsen so reich sind, die Unterstützung kommt eine Senkung von Sachkosten um 13 Prozent von Theatern, Kunstsammlungen, Bibliotheken und und die Steigerung von Einnahmen um 7 Prozent. auch für die vielen persönlichen Kontakte mit dem Dieser Plan basiert aber auf einem Bundeszuschuß Ziele, wieder eine einheitliche aber doch regionale im Substanzerhaltungsprogramm von 85 Prozent des typische Kulturlandschaft zu schaffen, bedanke ich Zuschusses von 1992, tatsächlich wird er aber nur mich im Namen meiner ostdeutschen Mitbürgerinnen 50 Prozent erreichen. So entstehen schwere Defizite und Mitbürger beim Bund und den zahlreichen Hel- schon 1993. Was soll werden, wenn entgegen für die fern. neuen Bundesländer vom Kanzler versprochenen Aber es darf einfach nicht sein, daß wir alles weitere 500 Millionen DM Übergangsfinanzierung für 1994 dem Diktat der leeren Kassen überlassen. Damit nur wieder die Hälfte des Geldes und dann noch aus schieben wir die Verantwortung für den Verlust unsicherem Topf kommt? weiterer Kulturstätten sowie des mühsamen Neuan- Die drohende Schließung von Spielstätten — das fangs bei den sozio-kulturellen Einrichtungen an die Schauspielhaus ist in akuter Gefahr —, Kulturhäusern armen Leute in den Stadtparlamenten weiter, die und Stadtteilbibliotheken und nicht zuletzt eine dra- dann gezwungen sind, von allen Übeln das vermeint- stische Kürzung von Personal durch Reduzierung der lich kleinste zu wählen. ABM wäre auch vor der dort studierenden Jugend Ich warne auch von dieser Stelle aus noch einmal unverantwortlich. dringlich vor den Folgen, die Massenarbeitslosigkeit Und das ist in einer Messestadt, die sich gerade gepaart mit Identitätsverlust in einem Volk anrichten aufmacht, aus dem Trümmerfeld — machen Sie sich kann. Deshalb fordere ich Sie auf, eine Korrektur einmal die Mühe und gehen Sie zu Fuß durch Leipzig! dieses schwerwiegenden Fehlers vorzunehmen. — eine ganz normale Messestadt zu werden! Beispiel Chemnitz: Chemnitz mit 300 000 Einwoh- nern und einer Technischen Universität besitzt keine Landeseinrichtungen und erhält demzufolge auch viel weniger Zuweisungen von Bund und Land. Insgesamt Anlage 5 bestehen beachtliche Disproportionen zu den großen sächsischen Städten Dresden und Leipzig. Zudem ist Erklärungen nach § 31 GO Chemnitz die klassische Stadt der Deindustrialisie- zur Abstimmung über den Entschließungsantrag rung. Trotz sparsam eingesetzter Mittel (z. B. für der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage: Inszenierungen verbrauchte die Semperoper Dresden Lage der Kultur in den neuen Ländern 2,8 Millionen DM, die neu restaurierte Chemnitzer (Tagesordnungspunkt 16) Oper nur 0,787 Millionen DM) drohen bei drastischer Kürzung der Mittel weitere Einbrüche im Angebot auf kulturellem Gebiet. Bereits errechnet wurde bei Dr.-Ing. Rainer Jork, Dr. Roswitha Wisniewski, einem Defizit von 9 Millionen DM für 1994 Schließung Ulrich Junghanns und Dr. Dietrich Mahlo (alle CDU/ des Opernhauses und des Musiktheaters, Reduzie- CSU): Neben sinnvollen Aussagen und Forderungen rung des Theaters auf Schauspiel und Puppentheater enthält der Antrag in Drucksache 12/6416 folgende Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17369*

Aussagen, die uns eine Zustimmung nicht möglich gend Frauenhäuser gibt und daß diese finanziell machen: ausreichend abgesichert werden. Anders kann das beschämende, über ein Jahrzehnt andauernde Hin 1. Übereinstimmend war bisher stets ein Bedarf von und Her in bezug auf die Frage, wer denn nun 500 Millionen DM formuliert worden für die Kultur- zuständig ist für die Frauenhausfinanzierung, nicht förderung der neuen Bundesländer im Jahr 1994. erklärt werden. Wenn nun im Antrag in Ergänzung zur Bereitstel- lungszusage von 250 Millionen DM „weitere 500 Ich habe mir anläßlich der heutigen Debatte einmal Millionen DM für das Jahr 1994" gefordert werden, die Mühe gemacht, in den Annalen zu stöbern: heißt das für uns — angesichts der Notwendigkeit, Ausgaben, z. B. auch im Sozialbereich, zu limitieren — Das erste Frauenhaus wurde 1976 in Berlin gegrün- Forderungen und Realisierungsmöglichkeiten zu det. Bereits im ersten Jahr seines Bestehens mußte es 615 Frauen und 730 Kinder aufnehmen. überblicken. 2. Die Aussage, „daß die Bundesregierung die Bedeu- Von 1977 bis 1980 wurde dieses Haus als Modell- tung der AB-Maßnahmen für Kunst und Kultur" .. . projekt des Bundesministeriums für Frauen, Fami lie, nicht erkannt hat, ist angesichts der Realitäten in den Jugend und Gesundheit wissenschaftlich begleitet. neuen Bundesländern falsch. Im Sommer 1980 wurde die Bundesregierung dazu Wir kommen zu dem Eindruck, daß angesichts aufgefordert, einen Bericht über die Frage abzuge- dieser beiden Diskrepanzen die Kulturförderung in ben, ob bundesgesetzliche Grundlagen zur Finanzie- den neuen Bundesländern nicht wirklich gewollt wird, rung von Frauenhäusern geschaffen werden könn- sondern vielmehr parteipolitisch auf Kosten der Kultur ten. und der Kulturschaffenden mißbraucht werden so ll. In dem Bericht, de r von der CDU/CSU-F.D.P.- Koalition erst im Sommer 1983 vorgelegt wurde, Maria Michalk (CDU/CSU): Der Bund hat mit der bestreitet die Bundesregierung ihre Zuständigkeit, Protokollnotiz Nr. 14 zu Artikel 35 des Einigungsver- wobei sie sich auf die Zustimmung der Länder zu trages die Verpflichtung übernommen, zur Bewah- dieser Auffassung beruft. rung und Fortentwicklung der sorbischen Kultur und Im Januar 1984 machte sich der damalige Minister on — eine besondere Herausforderung im ver- - Traditi für Frauen, Familie, Jugend und Gesundheit, Heiner einten Deutschland — Unterstützung zu geben. Dar- Geißler, das Thema Frauenhäuser öffentlichkeits- auf aufbauend ist die Stiftung für das sorbische Volk wirksam zu eigen, wozu die TAZ damals schrieb: geschaffen worden, an der sich der Bund seit drei „Geißler mag keine Frauenhäuser, und deshalb setzt Jahren zu 50 Prozent beteiligt. Die weiteren 50 Pro- er sich nach außen hin für deren Erhalt ein. Das mag zent werden zu zwei Dritteln vom Freistaat Sachsen zwar widersprüchlich klingen, gehört aber zur and Brandenburg getra- und zu einem Drittel vom L bewährten Strategie im politischen Alltag." Der Ein- gen. Als Vorsitzende des Parlamentarischen Beirates satz des Ministers erschöpfte sich in der Tat in der dieser Stiftung begrüße ich ausdrücklich das fortwäh- Erteilung eines kurzen Nachhilfeunterrichtes an die rende Engagement des Bundes. Durch die Arbeit im Sozialämter über die Frage, wie sie das Bundessozial- Parlamentarischen Beirat konnte ich mich von der hilfegesetz (BSHG) auszulegen haben. An dem Tatbe- Wahrnehmung der Verantwortung durch den Bund stand der Finanzierung nach BSHG, dem „Kopfgeld", überzeugen und möchte an dieser Stelle als Sorbin der das von den autonomen Frauenhäusern zurecht seit Bundesregierung dafür danken. jeher abgelehnt wurde, änderte sich nichts. Deshalb kann ich dem Entschließungsantrag nicht meine Zustimmung geben. Im November 1984 brachten die Grünen, die damals erstmalig im Parlament vertreten waren, den Gesetz- entwurf zur Errichtung einer Bundesstiftung zur Finanzierung von Frauenhäusern in den Bundestag ein. Anlage 6 Fast zur gleichen Zeit legte das Komitee für Grund- rechte und Demokratie eine Petition vor, die von Zu Protokoll gegebene Reden 12 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern un- zu Tagesordnungspunkt 17 (Lage der Frauen- und terstützt wurde und in der ein Bundesgesetz zur Mädchenhäuser und gesetzgeberischer Handlungs Finanzierung der Frauenhäuser gefordert wurde. bedarf) Frau Dr. Ute Gerhard, heute Professorin an der Uni- versität in Frankfurt/Main, die den interessierten Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es Mitgliedern dieses Hauses aus der Anhörung der ist eigentlich kein Wunder, daß eine Regierung, die Verfassungskommission mittlerweile bekannt sein sich kontinuierlich weigert, wirksame Maßnahmen dürfte, lieferte damals eine hervorragende Begrün- gegen die Gewalt gegen Frauen zu ergreifen — wie dung für diese Petition, in der sie all diejenigen Lügen zum Beispiel die Einführung der Bestrafung der Ver- strafte, die die Gesetzeskompetenz und die finanzielle gewaltigung in der Ehe —, sich ebenfalls weigert, die Zuständigkeit des Bundes von sich wiesen. Die Schutzräume für Frauen, die vor dieser Gewalt flüch- Zuständigkeit des Bundes ergibt sich ganz eindeutig ten — sprich die Frauenhäuser —, wirksam zu unter- aus Artikel 74 GG Nr. 7 in Verbindung mit Artikel 72 stützen. Anders gesagt: Wer dafür ist, daß die Verge- GG Abs. 2. Zudem handelt es sich bei dem Schutz von waltigung innerhalb der Ehe weiterhin erlaubt bleibt, Frauen vor innerfamiliärer Gewalt um die Wahrung wird logischerweise nicht dafür sein, daß es genü- von Grund- und Menschenrechten von Frauen, um 17370* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 den Schutz ihrer Menschenwürde (Art. 1 GG), um die und wie das Thema hier in Zukunft behandelt werden freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), um die soll. Durchsetzung von Gleichberechtigung (Art. 3 GG) Wenn es dabei bleibt, daß ein Bundesfinanzierungs- und um die Schutzpflicht des Staates für jede Mutter gesetz von der großen Mehrheit abgelehnt wird, weil (Art. 6 GG). Juristisch ergibt sich die Zuständigkeit des frau dadurch eher eine Verschlechterung der gegen- Bundes schon daraus ganz eindeutig. Aus welchen wärtigen Situation befürchtet, dann werden wir uns Mitteln die Frauenhäuser zu finanzieren sind bzw. wie im Bundestag in dieser Hinsicht nicht mehr engagie- die Kosten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ren. aufgeteilt werden, ist aber eine politische Frage. Die Art und Weise, wie sie entschieden wird, ist ein Ich selbst halte es jedoch für sinnvoll, so ein Gesetz Gradmesser dafür, wie glaubwürdig die verschiede- in Zusammenarbeit mit den autonomen Frauenhäu- nen frauenpolitischen Bekundungen der verschiede- sern zu erarbeiten und einzubringen — schon weil nen Parteien sind. damit einmal mehr deutlich gemacht werden kann, wer hier auf welcher Seite steht. 1984 stellt die ZIF (die Zentrale Informationsstelle für Frauenhäuser) übrigens ebenfalls die Forderung Niemand soll sich mehr mit dem Thema Frauenhaus nach einer bundesgesetzlichen Regelung auf, in der profilieren können, ohne beweisen zu müssen, daß er genau ausgeführt wurde, welche Leistungen vom oder sie bereit sind, mehr zu unternehmen, als hier Bund, von den Ländern und welche von den Kommu- schöne Reden zu halten. nen zu tragen seien. Damit sprang diese Organisa tion der autonomen Frauenbewegung ganz deutlich über Ilse Falk (CDU/CSU): „... fehlende Frauenhäuser, ihren eigenen Schatten. Denn die autonomen Frauen- finanzielle Existenzprobleme bestehender Häuser, häuser schauen einer Bundesgesetzgebung, die ihren ständige Überfüllung und viel zu wenig feste Stellen Arbeitsbereich betrifft, zurecht nicht nur mit Freude kennzeichnen die Situa tion. Zum anderen weiten sich entgegen. Schließlich ist dies ein patriarchaler Staat, die Arbeit und die Arbeitsbereiche der Frauenhäuser und Frauen haben grundsätzlich recht, wenn sie immer mehr aus. " So heißt es in dem uns zur Abstim- befürchten, daß von so einem Gesetz nicht nur Gutes mung vorliegenden Entschließungsantrag der zu erwarten ist. Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und diese Ein- schätzung ist zweifellos richtig. Allein die Existenz 1986 stellte die SPD-Fraktion ein Frauenhausfinan- von 232 Frauenhäusern in den alten Ländern und die zierungsgesetz vor. Sie veranstaltete eine Anhörung Gründung von rund 121 solcher Einrichtungen in den und bekam viel Presseöffentlichkeit ... und ließ ihren neuen Bundesländern in den wenigen Jahren seit der Entwurf dann schließlich „aus Rücksicht auf die Wiedervereinigung verdeutlicht schon den großen Länder" doch lieber in der Schublade ... Bedarf und die Notwendigkeit zur Einrichtung solcher 1988 legte die Bundesregierung ihren ausführlichen Schutzhäuser. Dennoch ist der Bedarf durch dieses Bericht zur Lage der Frauenhäuser vor, indem sie die scheinbar große Angebot noch längst nicht gedeckt. Probleme der Frauenhäuser teilweise detaillie rt dar- Wie es in dem Entschließungsantrag heißt, haben stellte, ohne daraus allerdings irgendwelche politi- die Träger von Frauenhäusern mit drei großen Pro- schen Konsequenzen zu ziehen oder praktische blembereichen zu kämpfen: 1. der permanenten Lösungen anzubieten. Überbelegung, 2. der personellen Situation und 3. — 1990 stellten die Grünen ihren Antrag „Männerge- was Ursache der ersten beiden Bereiche ist — der walt gegen Frauen und Mädchen — Maßnahmen zur Finanzierung. Absicherung und Unterstützung der Arbeit der Da Frau Parlamentarische Staatssekretärin Yzer die Frauenhäuser und die Mitverantwortung der Bundes- schwierige Finanzierungsfrage in ihrer Rede bereits regierung", der wohl unter dem Einfluß der Gegne- erörtert hat, möchte ich auf die ersten beiden Punkte rinnen eines Bundesgesetzes innerhalb der autono- zunächst näher eingehen, um dann aber die grund- men Frauenhausbewegung entstand und einen rein sätzliche Frage der Notwendigkeit von Frauenhäu- deklamatorischen Charakter hatte. sern kritisch zu beleuchten: In der 12. Legislaturpe riode ging es dann rapide Erstens. Die ständige Überfüllung von Frauenhäu- bergab mit der Behandlung des Themas Frauenhäu- sern ist zum einen Teil Folge des statistisch nachweis- ser im Deutschen Bundestag, obwohl gerade die baren Anstiegs von Gewalttätigkeiten. Zum zweiten Verschlechterung ihrer Lage das Gegenteil hätte sind notwendige Plätze besonders für akute Notfälle bewirken müssen. Die Große Anfrage der SPD nach deshalb oft blockiert, weil die angespannte Situation dem „Wo" und „Wieviel" und die Antwort der Bun- auf dem Wohnungsmarkt Frauen und vor allem desregierung darauf sind ebensowenig dazu geeig- Frauen mit Kindern kaum Chancen läßt, das Frauen- net, eine Lösung aufzuzeigen, wie mein eigener haus nach einer Phase der Stabilisierung wieder zu Entschließungsantrag dazu, was ich hier durchaus verlassen. Die Verweildauer im Frauenhaus wird auf selbstkritisch bemerken wi ll. Die Argumente, die die diese Weise über das Notwendige hinaus ausge- Bundesregierung im Ausschuß für Frauen und Jugend dehnt. gegen eine Bundesgesetzgebung anführte, waren Nicht nur die Förderung und Einrichtung von allerdings dieselben, die schon 1984 von Frau Prof. Frauenhäusern fällt in die Kompetenz der Länder. Ihre Gerhard umfassend widerlegt wurden .. . Pflicht ist es auch, durch entsprechende Ausführungs- Ich vertrete heute folgende Posi tion: Die autonomen richtlinien zum Wohnungsbindungsgesetz der Inten- Frauenhäuser müssen sich erneut überlegen, was sie tion der Bundesregierung zu folgen, Frauen und von den ihnen nahestehenden Abgeordneten wollen Frauen mit Kindern als privilegierte Personengruppe Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17371*

zu behandeln, die dringend auf Wohnraum angewie- einer für sie ausweglosen Lage als letzte Möglichkeit sen ist. Die Länder sind explizit im Rahmen des oft nur die Flucht in ein Frauenhaus. Und dabei hat Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom Juli jede Frau, die dort sofort aufgenommen werden kann, 1992 auf die Möglichkeit hingewiesen worden, Wohn- noch „Glück gehabt" — im Vergleich zu vielen (den berechtigungsscheine auch an Wohngemeinschaften meisten) ihrer Leidensgenossinnen. Mit dem ,,Ein aus Frauenhäusern zu erteilen. TM ins Frauenhaus beginnt dann für Frau und Kinder eine Situation der Unsicherheit in ungewohn- Zweitens. Die Problematik im Personal- und Stel- ter Umgebung mit unbekannten Leuten. Der Kontakt lenbereich stellt sich von Land zu Land unterschied- lich dar — vor allem durch höchst divergierende zum sozialen Umfeld wird abrupt unter- bzw. ganz abgebrochen. Nach der Erfahrung mit Gewalt wird Vorstellungen in bezug auf den Bedarf. Die meisten die eigene Existenz erneut auf andere A zusätzlichen Stellen werden für die Kinder- und rt in Frage gestellt. Nachbetreuung gefordert. Die Kürzung finanzieller Mittel allgemein und die Streichung oder Nicht Warum kommt es soweit? Ich möchte einmal den Bewilligung von ABM-Stellen bedroht die Frauen- Täter und seine Mo tivation außer acht lassen. Wo sind häuser existentiell. Die Bundesregierung kann mit eigentlich die Familienangehörigen, der Freundes- Sonderprogrammen und Modellprojekten, z. B. Fort- kreis, die Nachbarn in einem solchen Fa ll? Wo die bildungen für Frauenhausmitarbeiterinnen, immer mutigen Erzieher, der aufmerksame Postbote, die nur über einen begrenzten Zeitraum finanziell helfen Lebensmittelhändlerin an der Ecke? Sind sie nicht alle und fördern. Die kontinuierliche Sicherung der froh, wenn das „Problem", von dem man „ja so nichts Frauenhausarbeit muß in den Ländern und Gemein- mitgekriegt hatte", besei tigt ist? Weggeschoben mit den erfolgen. Frau und Kindern in ein Frauenhaus? In einem Gebäude weggeschlossen, von dem es nicht mal eine Der Entschließungsantrag von BÜNDNIS 90/DIE richtige Adresse gibt? , Aber „Hauptsache in Sicher- GRÜNEN enthält über den in Teilen zutreffenden heit"? Problemaufriß hinaus leider keine angemessenen Vorschläge zur Lösung, insbesondere zur Finanzie- Verdrängung ist bei den Be troffenen, bei den rungssituation von Frauenhäusern. Die explizite Opfern von Gewalt, ebenso eine Ursache für das Bevorzugung autonomer Frauenhausarbeit durch Andauern von Gewalt wie bei denen, die im nahen mehr oder andere Mitentscheidungsrechte gegen- - sozialen Umfeld helfen könnten—und es unterlassen. über Trägern aus Verbänden, Kirchen oder Städten Weil sie aus Angst und Unsicherheit lieber weg- widerspricht dem Grundsatz der Gleichbehandlung. schauen und wegschieben. Fragen Sie sich selbst Entsprechend der Beschlußempfehlung des Aus- einmal ganz ernsthaft nach Ihrer eigenen Reaktion auf schusses Frauen und Jugend lehnt die CDU/CSU- Gewalt, die Sie bei anderen wahrnehmen. Fraktion den Entschließungsantrag deshalb ab. Mich haben trotz aller bedrückenden Schilderun- Ich möchte aber in einem mir wich tig erscheinen- gen der Fachleute bei dieser Anhörung deshalb sehr den Punkt die Diskussion vertiefen: dem steigenden die konkreten Fragen von zwei oder drei der im Bedarf an Schutzräumen für Frauen und Kinder als Publikum Anwesenden be troffen, die alle in eine Folge zunehmender Gewalt. ähnliche Richtung gingen: „Ich höre aus der Wohnung nebenan regelmäßig Jammern und Weinen. Was „Warum eigentlich benötigen wir Frauenhäuser?" kann ich tun? An wen soll ich mich wenden? Soll ich „Wo eigentlich liegen die Ursachen für den gestiege- die Familie selbst ansprechen? Darf ich das über- nen Bedarf?" haupt?" Hier wurde mir ganz deutlich, wie groß Vor wenigen Wochen habe ich in Wesel eine Unsicherheit und Unkenntnis darüber sind, ob es Anhörung mit Expertinnen und Experten zum Thema denn legitim sei, sich „einzumischen", eine Beobach- „Gewalt in Familien — Gewalt gegen Frauen" veran- tung quasi zu veröffentlichen, evtl. sogar mutmaßliche staltet. Von ausnahmslos allen Sachverständigen aus Täter zu beschuldigen. Dahinter stehen oft Fragen den Beratungsstellen, der Justiz, Kripo, Medizin usw. wie: „Was passiert mir, wenn — oder wenn nicht ...?" wurde die enorme Zunahme von Gewalt gegen „ Wie stehe ich dann vor den Nachbarn da?" „Kann ich Frauen und Kinder bestätigt — und zwar quantitativ auch anonym bleiben?" und qualitativ! Die Leiterin eines der beiden Frauen- Eine mögliche Antwort auf diese Unkenntnis und häuser in meinem Wahlkreis berichtete, daß sie im Angst heißt: Prävention. letzten Jahr allein 120 Frauen habe abweisen müssen und — als Beispiel für den qualitativen Gewaltan- Prävention bedeutet zunächst einmal konkret stieg — daß die sogenannten „Härtefall-Scheidun- Opferschutz durch Aufklärung, Stärkung des Selbst- gen" erheblich zugenommen hätten. Ihre Kernaus- bewußtseins bei potentiellen Gewaltopfern und ent- sage lautete jedoch: „Frauenhäuser sind eine hilflose sprechendes Training. Reaktion der Gesellschaft auf das Gewaltproblem", Prävention heißt aber auch für Täter, sich mit ihrer oder schärfer formuliert: Mit den Frauenhäusern Gewalttätigkeit auseinanderzusetzen. — also der Schaffung von Institutionen — zieht sich die Gesellschaft aus ihrer eigentlichen Verantwortung für Prävention muß sich zum dritten auch an das die Verhinderung von Gewalt gegenüber Frauen und Umfeld richten, in dem Gewalt geschieht oder gesche- Kindern zurück. hen könnte. Notwendig ist hier die Informa tion über Gewaltformen und Gewalttäter und ganz besonders Betrachten wir die Existenz von Frauenhäusern Hilfestellung für das eigene Verhalten im konkreten einmal aus diesem Blickwinkel. Geschlagenen und Fall. Denn alle qualifizierten Fachleute und Bera- mißhandelten Frauen und ihren Kindern bleibt in tungsstellen machen keinen Sinn, wenn sie nicht in 17372* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Anspruch genommen werden oder ihre Zuständigkeit Informationswege benutzt und insofern weite Ver- unklar bleibt. Hier kann z. B. durch die Bildung von breitung finden könnte, und zum anderen, daß nicht „Fachteams" oder „Helferkonferenzen" auf regiona- nur die Opfer, d. h. die Frauen, angesprochen werden, ler Ebene, d. h. durch die Vernetzung der vorhande- sondern auch die Täter, die Männer. Als ich das nen Angebote, noch eine Menge verbessert wer- Kampagneninfo „Gewalt gegen Frauen" gelesen den. habe — weitere Informationen stehen uns im Moment nicht zur Verfügung —, sind mir einige, aber starke Prävention heißt schließlich auch, daß wir entschie- Bedenken gegen den Ansatz dieser Kampagne den die Ursachen beseitigen, die Gewaltbereitschaft gekommen, weil ein falsch gewählter Ansatz die fördern, zu Gewaltanwendung führen und sie unter- erhoffte Wirkung erheblich beeinträchtigen kann. halten. Die Diskussion darüber wird in der letzten Zeit ausführlich und kontrovers geführt — die genannten Im Mai 1992 besuchte eine Delega tion des Aus- Faktoren sind Ihnen hinlänglich bekannt, deshalb schusses für Frauen und Jugend in Stockholm das möchte ich hier nur betonen: Tatsache ist, daß Gewalt „Haus aller Frauen" und traf dort Cecilia Önfelt, die in allen gesellschaftlichen Bereichen zunimmt und in Gründerin dieses Frauenhauses, die uns ein von ihr allen sozialen Schichten vorkommt. verfaßtes Buch anläßlich des 10jährigen Bestehens Gewalt geht uns also alle an! Jede Frau und jeder des „Hauses aller Frauen" überreichte. Diese Frau Mann sollte daher den Mut, aber auch die Möglichkeit und ihre Arbeit haben uns damals sehr beeindruckt, haben, in seinem ganz begrenzten, persönlichen unabhängig von der Fraktionszugehörigkeit. In dem Umfeld gegen Gewalt vorzugehen. Wenn wir damit Kapitel „Warum schlagen Männer Frauen?" setzt sich erreichen, daß sich die Gewaltspirale nicht immer Cecilia Önfelt mit den Ursachen männlicher Gewalt- weiter fortsetzt, kommen wir als Gesellschaft insge- tätigkeit auseinander, dem Thema also, dem sich auch samt weiter als mit der Forderung nach immer mehr ein Teil der neuen Kampagne des Ministeriums wid- größeren Frauenhäusern! met. Sie zitiert den ersten Eindruck einer in Frauen- bereitschaftsdiensten erfahrenen norwegischen Um meine Aussage zu wiederholen: Frauen- und Theologin, die zudem in Norwegen über Gewalt Mädchenhäuser sind als Zuflucht und Schutzräume gegen Frauen geforscht hatte, als diese nach Schwe- existentiell wichtig für mißhandelte Frauen und Kin- den kam, wie folgt: „Als ich zum ersten Mal nach der in Notsituationen. Die Gewalterfahrung mit Schweden kam, war ich völlig schockiert darüber, daß geschultem Personal zu verarbeiten, eine therapeuti- man die Mißhandlung psychologisierte.... Das ist so sche Hilfe in Anspruch zu nehmen, Gesprächsange- falsch, wie es nur sein kann." bote zu nutzen und konkrete Lebenshilfe zu bekom- men einschließlich einer Nachbetreuung — dies a lles Ich denke, das trifft auch für den Ansatz der Kam- sind ganz wichtige Bausteine der Frauenhausarbeit pagne des Ministeriums, was die Zielgruppe „Män- und konkrete Hilfe für Frauen und Frauen mit Kin- ner" angeht, zu. Die beschriebene Informationsbro- dern. schüre für Männer deutet diese psychologisierende Richtung an, aber auch das geplante Einzelplakat mit Ich warne aber davor, diesen Einrichtungen und dem Slogan „Gewalt gegen Frauen zerstört. Auch ihrem Fachpersonal die Aufgabe aufzubürden, ein Männer". Männer sollen sich, so die Zielsetzung der Problem zu lösen, das wir in unserer Gesellschaft Kampagne, der psychosozialen Ursachen und Wir- haben und das uns alle angeht! kungen ihrer Gewaltanwendung bewußt werden ohne Schuldzuweisung. Was ist so bedenklich an Dr. Edith Niehuis (SPD): Die Große Anfrage zur solch einem Ansatz? In den ersten Reaktionen in Lage der Frauen- und Mädchenhäuser und zum Deutschland auf diesen Plakattext wird darauf auf- gesetzgeberischen Handlungsbedarf und die Be- merksam gemacht, daß Opfer und Täter durch diesen schlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Slogan auf eine gleiche Ebene gestellt werden und so Jugend geben uns in diesem Jahr zum zweiten Mal eher ein Täter- denn ein Opferschutz vermittelt Gelegenheit, die Gewalt gegen Frauen in diesem werde. Was wäre das für eine fatale Wirkung, wenn Parlament zu debattieren. Dieses ist gut so, weil man sich am Ende die Täter mehr beachtet fühlten als die das Problem immer wieder in die Öffentlichkeit tragen Opfer von Gewalt? Diese bedenkliche Schieflage muß. Dennoch werden Bewußtseinsbildung und Auf- entsteht eben leicht, wenn man den Hintergrund für klärung nicht ausreichen, wenn es an den notwendi- männliche Gewalt unzureichenderweise nur psycho- gen praktischen und gesetzgeberischen Rahmenbe- logisiert. Diese Interpretationsschieflage hätte bei der dingungen mangelt. Weil beides notwendig ist und Kampagne verhindert werden können, wenn auch zusammenhängt, möchte ich zu diesen beiden Aufga- andere Gründe, die zu männlicher Gewalt führen, benbereichen etwas sagen. ernstgenommen worden wären. Zur Gewaltproblematik hat das Bundesministerium Nachdem Cecilia Önfelt in ihrem Buch „Zehn Jahre für Frauen und Jugend und seine Vorgängerinnen so im ,Haus aller Frauen' " die psychologisierende Sicht- manche Studie anfertigen lassen, einige Modellpro- weise ablehnt, schreibt sie weiter: „Ich sehe es statt jekte gefördert und auch versucht, Aufklärung und dessen als die letzte Konsequenz der geschlechtsspe- Bewußtseinsbildung zu betreiben. Und am heutigen zifischen Macht an, die Männer über Frauen haben. Tag findet ein Kongreß als Auftakt zu einer neuen Es besteht kein qualitativer, sondern nur ein graduel- breit angelegten Kampagne des Ministeriums für ler Unterschied zwischen der sichtbaren Gewalt und Frauen und Jugend zum Thema „Gewalt gegen der alltäglichen Unterdrückung, der Frauen in der Frauen" statt. Positiv an der Kampagne ist zweierlei: Männergesellschaft ausgesetzt sind. Denn es ist ja so, Zum einen, daß die Kampagne viele unterschiedliche niemand kann bestreiten, daß es die Männer sind, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17373* in der Gesellschaft die Macht haben. Es sind die chen Vergewaltigung auch die eheliche Vergewalti- Männer, die die Gesellschaft definieren, sie haben das gung mit ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Ich ,Auslegungsprivileg' . " würde zu gerne einmal eine Erklärung von Ihnen hören, warum die Ehefrau von ihrem Ehemann verge- Diese Analyse, die nicht neu ist, die man nur waltigt werden darf, andere, unverheiratete Frauen auszusprechen wagen muß, findet sich in dem 23sei- aber nicht. Hat es nicht etwas damit zu tun, daß Sie tigen Kampagneninfo „Gewalt gegen Frauen" nur in dem Ehemann nach wie vor Macht über seine Ehefrau einem einzigen Spiegelstrich, und zwar in einer zugestehen? zurückhaltenden Aussage, in der von „der männli- chen Inanspruchnahme der ,normalen Machtstruktu- Und wissen Sie denn nicht, daß es Ehefrauen und ren' " die Rede ist. Wissen Sie, wenn man in einer Mütter sind, die in den Frauenhäusern Schutz suchen gutgemeinten Kampagne die Dinge nicht beim müssen, daß das Thema „Gewalt gegen Frauen" in Namen nennt, die Menschen sogar auf eine falsche erster Linie das Thema „Gewalt des Ehemanns gegen Fährte setzt, dann verspielt man nicht nur auf eine seine Ehefrau" ist im stillen Kämmerlein, außerhalb fahrlässige Art und Weise die ohnehin begrenzten der Öffentlichkeit? Wie kann m an guten Gewissens Möglichkeiten einer Aufklärungskampagne in der seitens der Bundesregierung eine Kampagne „Gewalt Ursachenbekämpfung von Gewalt. Nein, dann läßt gegen Frauen" eröffnen, wenn m an als Gesetzgeber man auch zu, daß die Täter sich nicht erkannt und zugleich naheliegende Möglichkeiten, die Frauen vor damit hinterfragt fühlen und eben nicht den Weg der Gewalt zu schützen, verweigert? Hier klafft eine Besserung antreten und — was das Schlimmste ist — Lücke, die die Frauen in Deutschl and nicht unkom- die Opfer sich auf diese Weise vernachlässigt fühlen mentiert hinnehmen können; eine Lücke, die zugleich könnten. zeigt, daß Frauen nicht nur in einer Männergesell- Es ist aus meiner Sicht ärgerlich, daß das Geld, das schaft leben, sondern auch von einer Bundesregie- für diese Kampagne ausgegeben wird, nicht sinnvol- rung regiert werden, die ungeniert ihre männliche ler eingesetzt wird. Was aber noch schlimmer ist: Macht auslebt. Wenn man sich so drückt, die Ursachen von männli- In diesem Zusammenhang komme ich zu einem cher Gewalt beim Namen zu nennen, dann verpaßt weiteren Punkt. Wir warten darauf, daß im Deutschen man auch die wenigen Chancen, der Gewalt gegen Bundestag endlich eine Strafrechtsänderung zur 2. Frauen den Nährboden zu entziehen. Wenn es dar- und 3. Lesung eingebracht wird, der alle Ausschüsse, über hinaus aber noch weitere politische Felder gibt, auch der federführende Rechtsausschuß, mehrheit- wo eine Regierung sich gleichermaßen vor den not- lich, z. T. einstimmig zugestimmt haben. Es geht um wendigen Konsequenzen in der Bekämpfung männli- das Ruhen der Verjährungsfrist bei sexuellem Miß- cher Gewalt drückt, dann wird aus einem Einzelfall brauch von Kindern bis zum 18. Lebensjahr des systematische Politik. Opfers, eine Strafrechtsänderung, die im Sinne der In diesem Zusammenhang komme ich zu den Opfer längst überfällig ist. Es erfüllt mich mit Entset- gesetzgeberischen Rahmenbedingungen, die auch zen, wenn ich sehe, wie einige Abgeordnete der F.D.P. notwendig sind, um Aufklärungskampagnen erfolg- im Rechtsausschuß mit allen recht durchsichtigen reich zu machen. Wenn Sie in dem Kampagneninfo Tricks versuchen, die Verabschiedung dieser Straf- „Gewalt gegen Frauen" auf Seite 3 zu Recht feststel- rechtsänderung in diesem Parlament zu verhindern. len, daß es keinen neutralen, „objektiven", sondern Auch hier frage ich mich: Was treibt diese Abgeord- nur einen subjektiven Gewaltbegriff gibt, und darum neten, das zu verhindern, was die Beratungsstellen, in Ihrer Kampagne nach dem Grundsatz verfahren: die Opfer, die sich artikulieren, die Anhörung zum Gewalt ist das, was Frauen als Gewalt empfinden, Thema im Bundestag fordern? Nämlich sich auf diese dann muß ich doch zurückfragen, in welchem Gesetz Weise ein wenig schützend vor die Opfer sexuellen die Regierung diesem richtigen Grundsatz gerecht Mißbrauchs zu stellen? Ich habe darauf keine Ant- wird. Das Gegenteil ist der Fall: In dem von der wort. Zudem zeugt dieses Verhalten von einem Bundesregierung vorgelegten Gleichberechtigungs- gestörten Verhältnis zu demokratischen Meinungsbil- gesetz wird diese subjektorientierte Gewaltdefinition dungsprozessen, aber auch von der Unkollegialität aus der Sicht des Gewaltopfers ausdrücklich abge- den Kolleginnen und Kollegen gegenüber, die sich lehnt, nämlich in dem Gesetz zum Schutz der Beschäf- intensiv und mit Erfolg um diese fraktionsübergrei- tigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. In fende Mehrheit bemüht haben im Sinne der Opfer diesem Gesetz bevorzugt die Bundesregierung den sexuellen Mißbrauchs. Ich kann an dieser Stelle nur objektiven Gewaltbegriff, beschrieben mit Worten an die, die es angeht, appellieren, die Blockade wie „vorsätzlich, eindeutig und erkennbar" . Und aufzugeben um des Ansehens des Parlaments wi llen, dieses, obwohl wir wissen, daß es zwischen sexueller aber auch um ihres eigenen Ansehens willen. Denn zu Belästigung und sexueller Gewalt keine prinzipiellen, leicht kann man so in den Geruch kommen, aktiven sondern nur graduelle Unterschiede gibt. Wer einer- Täterschutz betreiben zu wollen. seits weiß, daß nur die subjektorientierte Gewaltdefi- Nun will ich nicht behaupten, daß wir keine Gewalt nition wirklich trägt, andererseits diese Gewaltdefini- gegen Frauen und Kinder mehr hätten und alle tion im eigenen Gesetzgebungsverfahren ausdrück- lich vermeidet, muß sich unterstellen lassen, an einem Frauenhäuser schließen könnten, wenn die Bundesre- wirkungsvollen Gesetz kein Interesse zu haben. gierung alle gesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfte, die Täter auch mit Strafen zu bedrohen; aber ich Gleiches gilt für das Verhalten der Koalitionsfrak- behaupte, daß das Unterlassen dieser strafrechtlichen tionen gegenüber dem bisher vergeblichen Versuch Möglichkeiten ein Klima in der Gesellschaft nährt, das der SPD-Bundestagsfraktion, neben der außereheli- Gewalt gegen Frauen, Macht der Männer über Frauen 17374* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 verharmlost. Wer noch Zweifel haben sollte, daß der finanziellen Belastungen vom Bund auf die Kommu- wirkliche Nährboden für Gewalt gegen Frauen in der nen natürlich Auswirkungen auf die Frauenhausfi- vorherrschenden männlichen Machtstruktur liegt, nanzierung haben können. Ich wi ll dieses nicht noch sollte sich einmal intensiver mit den entsetzlichen einmal darstellen, nur zusammenfassen, daß viele Auswirkungen des zunehmenden Frauenhandels von bundespolitische Entscheidungen erheblich zu Lasten Süd nach Nord, von Ost nach West beschäftigen. der Frauenhäuser und ihrer Bewohnerinnen gegan- Nirgendwo wird deutlicher, daß zunehmendes gen sind. Machtgefälle von Männern zu Frauen zu zunehmen- Frau Ministerin Merkel macht es sich einfach zu der und brutalerer Gewalt von Männern gegen leicht, wenn sie, wie in der ersten Debatte zu diesem Frauen führt. Wer die Anhörung des Ausschusses für Thema, ein Frauenhausgesetz für wünschenswert Frauen und Jugend zum Thema „Frauenhandel" erachtet, dann aber im Undifferenzie rten und Unver- verfolgt hat, wird dieser Aussage nur zustimmen bindlichen bleibt. Dieses Undifferenzierte und Unver- können. Vielen dieser in Deutschland mißhandelten bindliche hat System. Eine Ministerin, die etwas für Frauen hilft noch nicht einmal die Infrastruktur der notwendig erachtet, muß einen Entwurf vorlegen, Frauenhäuser, weil sie in dem Moment, in dem sie sich aber keine vagen Eckpunkte, die innerhalb der Bun- von ihren gewalttätigen Ehemännern trennen, auf desregierung noch nicht einmal abgestimmt sind, wie Grund der Fassung des § 19 des Ausländergesetzes sie es im Frühjahr letzten Jahres getan hat. Wer so kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben. Ihnen vage und unverbindlich vorgeht, schürt in den Län- bieten wir nicht den Zufluchtsort Frauenhaus, sondern dern Skepsis gegenüber einem Frauenhausrahmen- die Abschiebung und den kriminellen Männern die gesetz. Diese Skepsis gibt es nicht nur in den Ländern Straffreiheit. im Westen, sondern auch in den Ländern im Osten, Das Fazit aus all dem, was ich gesagt habe, ist: Es und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, weil man mit mangelt dieser Bundesregierung sichtbar an dem Recht ahnt, daß die Bundesregierung nicht gewillt ist, Willen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. sich in einem Bundesgesetz auch finanziell an der In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal Frauenhausfinanzierung zu beteiligen, sondern allen- falls nur Maßstäbe und Richtlinien festlegen wi zu der Frage, ob wir ein Bundesrahmengesetz im ll. In Hinblick auf die Frauenhäuser brauchen, ein Punkt, diesem letztgenannten Punkt liegt der weitere Grund für die Skepsis: Ich habe Ihnen ausführlich dargelegt, der schon in der ersten Debatte eine Rolle spielte. wie die Bundesregierung sich regelrecht weigert, Frauenhausfinanzierung ist eine öffentliche Aufgabe. Insofern haben alle politischen Ebenen dafür Sorge zu wirksame Gesetze zum Thema „Gewalt gegen tragen, daß Frauenhäuser, ob autonome oder in kirch- Frauen" vorzulegen. Zudem wissen alle — und die licher oder anderer Trägerschaft, in ihrer Existenz Anhörung des Ausschusses für Frauen und Jugend hat nicht bedroht sind, und sie so auszustatten, daß sie dieses mehr als deutlich gezeigt —, wie zahn- und ihrer Arbeit auch gut nachkommen können. Hier gibt bißlos das einzige von der Bundesregierung vorge- legte frauenpolitisch relevante Gesetz, nämlich das es noch einiges zu tun, wie wir alle wissen. Gleichberechtigungsgesetz, ist. Woher sollen die Län- Die Bundesebene hat viele Möglichkeiten, die der unter diesen Umständen die Hoffnung nehmen, Frauenhausarbeit zu unterstützen: Durch eine gute daß ein Frauenhausrahmengesetz, von dieser Bun- Wohnungspolitik zum Beispiel, damit die Frauenhäu- desregierung formuliert, vernünftige Maßstäbe setzen ser nicht schon aus dem Grund überbelegt sind, weil könnte? Man traut dieser Regierung keine gute Frau- Frauen das Frauenhaus nicht verlassen können, weil enpolitik mehr zu, und insofern ist es besser, ihr keine sie keine Wohnung finden. Es ist mittlerweile überall weiteren frauenpolitischen Bundeskompetenzen zu bekannt, daß die Kohl-Regierung gerade in der Woh- geben. nungspolitik eklatant versagt hat. Wenn Sie diesen weit verbreiteten Eindruck wider- Und was ist denn in diesem Zusammenhang aus der legen wollen, dann wird die Bundesregierung in den Ankündigung der Bundesregierung in der Antwort nächsten Monaten dieses beweisen müssen. Beispiele auf die Große Anfrage zur Lage der Frauenhäuser für notwendige Gesetzesinitiativen habe ich Ihnen geworden, den § 1361 b BGB hinsichtlich der prakti- genannt. Insofern macht auch der Entschließungsan- schen Auswirkungen zu überprüfen? Die Frage, ob die trag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenig Sinn, weil mißhandelte Ehefrau mit ihren Kindern die alte Ehe- es nur einiges konkretisiert, dem wir zum Teil auch wohnung bewohnen kann oder der gewalttätige zustimmen, aber nicht geeignet ist, als Vorlage für Mann, ist doch eine ganz entscheidende Frage. Ein bundespolitische Eckpunkte zum Thema Frauenhäu- Jahr nach der Behauptung der Bundesregierung, sie ser zu dienen. Darum hat die SPD sich im Ausschuß für überprüfe, wäre es schon lange mehr als angebracht Frauen und Jugend in der Abstimmung zu diesem gewesen, die Ergebnisse dieser Überprüfung und Entschließungsantrag der Stimme enthalten. Und wir gegebenenfalls die notwendigen Initiativen der Bun- werden uns auch bei der Abstimmung über die desregierung vorzustellen. Beschlußempfehlung der Stimme enthalten. Ich will in diesem Zusammenhang nicht noch ein- mal darstellen, wie sich die ständigen Kürzungen im Dr. Sigrid Semper (F.D.P.): Frauen suchen den Arbeitsförderungsgesetz natürlich besonders nega tiv Schutzraum Frauenhaus auf, um Mißhandlungen, auf die Arbeit in den Frauenhäusern ausgewirkt körperliche Gewalt, Drohungen und Beschimpfungen haben, ganze Frauenprojekte zerstört haben, wie sowie der Isolierung, ökonomischer Unterdrückung, Kürzungen im BSHG, in der Sozialhilfe natürlich Zwang und Vergeltung zu entkommen. Zumeist ist negative Auswirkungen auf die Frauenhausfinanzie- der Mißhandler der Ehemann oder Lebenspartner. rung haben, wie die systematische Verlagerung der Mit der Wiedervereinigung sind Frauenhäuser in den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17375* neuen Ländern so weit von den Frauen akzeptiert nach den Gründen für Gewalttätigkeit. Die meist worden, daß es viele Frauen gibt, die ohne eine genannte Antwort war der Verlust des Arbeitsplatzes Unterkunft im Frauenhaus kurzfristig vor dem Nichts des Mannes. Der Zusammenhang zwischen wirt- stehen würden. Dies belegt auch eine Studie des schaftlichen Aspekten und sozialen Verhaltensweisen Landes Sachsen-Anhalt, die noch bis zum 31. Dezem- wird hier deutlich sichtbar. Alkoholkonsum war in fast ber 1993 läuft, deren Ergebnisse aber schon jetzt jedem Fall der Gewaltausübung mit im Spiel. Aber vorveröffentlicht wurden. 91 Prozent der mißhandel- nicht nur Frauen, sondern häufig sind es auch Kinder, ten Frauen gaben an, daß ihr Aufenthalt im Frauen- die den Repressalien des Mannes ausgesetzt sind. haus eine große Lebenshilfe gewesen sei. 30 Prozent Nach der Untersuchung haben 15 Prozent der Männer davon meinten sogar, auch in Zukunft noch die Hilfe den Versuch des sexuellen Mißbrauchs an ihren der Frauenhäuser zu benötigen. Daher müssen wir Kindern unternommen, 10 Prozent ihn tatsächlich dafür Sorge tragen, daß das glücklicherweise schon durchgeführt. auf hohem Niveau befindliche Netz in Ostdeutschland Damit hier kein Mißverständnis entsteht: Natürlich weiter ausgebaut und langfristig finanziell gesichert sind nicht alle Männer so, und natürlich gibt es auch wird. Es geht jedoch nicht an, daß regionale Entschei- Gewalt gegen Männer. Aber es ist eine bedauerns- dungen auf den Bund abgewälzt werden sollen. Der werte Tatsache, daß immer noch Frauen in der Regel Bund hat mit den Frauenhaus-Modellprojekten Berlin die Opfer von Gewalt sind. Für die Frauen in den und Rendsburg seine Aufgaben erfüllt und wich tige neuen Bundesländern besteht die besondere Situa- Aufklärungsarbeit in der Frauenarbeit geleistet. Dar- tion, daß es in der DDR Frauenhäuser nicht gab. Für überhinaus hat der Bund mit einer Anschubfinanzie- das SED-Regime gab es die Problematik Gewalt in der rung von 1,2 Millionen DM 47 neugegründeten Frau- Partnerschaft nicht, der gesamte Bereich wurde weit- enhäusern in den neuen Ländern auf die Sprünge gehend tabuisiert. Und auch in der Bundesrepublik ist geholfen. Damit hat der Bund wichtige Impluse für dieses Thema wenig in der Öffentlichkeit vertreten. den Aufbau der Frauen- und Mädchenhäuser in Viele ostdeutsche Frauen mußten sich mit der neuen Ostdeutschland gegeben. Situation nach der Wende erst einmal auseinanderset- Langfristig sinnvoller aber ist eine Finanzregelung zen. Inzwischen sind die Frauenhäuser als Anlaufsta- auf regionaler Ebene. Hier sind die Kommunen und tion sehr gefragt. Länder gefordert, die z. B. bisher auch die Frage nach Meine Damen und Herren, körperliche Gewalt einem Bundesrahmengesetz zur Finanzierung der gegen Frauen in der Fami lie, ausgeübt von den Frauenhäuser abgelehnt haben. Ich halte das auch für eigenen Ehemännern oder Partnern, ist ein Eingriff in vernünftig. Die Frage der Frauenhäuser muß regional die Unversehrtheit des menschlichen Körpers und mit entschieden werden. In Zukunft wird es so sein, daß der Gefährdung von Gesundheit und Leben verbun- mehr und mehr private Investoren im Verbund mit den. Ein erster Schritt zu ihrer Eindämmung und den Kommunen und Ländern in die Finanzierung mit Reduzierung ist ihre Offenlegung durch die For- eingebunden werden. Der Staat kann diesen Bereich schung, verbunden mit einer konsequenten Umset- auf Dauer nicht ausfüllen. Es ist ein liberales Prinzip, zung durch die Politik. Dazu gehört es auch, dafür zu sich selbst zu organisieren und nicht bei jeder Gele- sorgen, daß die geflüchteten Frauen möglichst schnell genheit den Staat herbeizurufen. Bei aller Problema- eine Wohnung erhalten. Hier müssen wir noch einiges tik gibt es positive Beispiele, die zeigen, was mit ein tun. Erst wenn wir aber die Öffentlichkeit genügend wenig Engagement alles möglich ist. In Leipzig wurde für dieses so schlimme Thema sensibilisiert haben, direkt nach der Wende ein Frauenhaus mit einer besteht eine reelle Chance eines Tages auf Frauen- Kapazität von 25 Personen errichtet. Durch den wach- häuser verzichten zu können. Helfen Sie dabei mit, senden Bedarf war es nur eine Frage der Zeit, wann daß es gelingt!!! neue Räume her mußten. Im nächsten Jahr werden in Leipzig zwei neue Frauenhäuser mit einer Zusatzka- Die F.D.P. lehnt den Entschließungsantrag von pazität von 65 Personen entstehen. Die Finanzierung BÜNDNIS 90 ab, da er keine Finanzierungsgrundlage ist durch freie Träger, die Kommune und das Land hat. Sachsen gesichert. Selbst eine Übernahme der Perso- nalkosten nach dem sächsischen Personalschlüssel Petra Bläss (PDS/Linke Liste): „Die Würde des wurde erreicht. So werden ab 1994 also insgesamt Menschen ist unantastbar. " Was sich in A rt. 1 unseres rund 90 Plätze für hilfsbedürftige Frauen und Kinder Grundgesetzes so selbstverständlich liest, ist leider in Leipzig zur Verfügung stehen. nicht immer gesellschaftliche Realität. Lassen Sie mich jetzt noch einmal zu der Untersu- Gerade Frauen erleiden Gewalt in Familie, in der chung des Landes Sachsen-Anhalt kommen. Die Stu- Öffentlichkeit, an ihrem Arbeitsplatz. die wirft viele neue Fragen auf, gibt aber der Politik Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftli- auch Handlungsanweisungen. So wichtig Konzepte ches Problem, dem wir uns nicht nur am Internationa- zur Finanzierung von Frauenhäusern auch sind, so len Tag der Menschenrechte widmen wollen. muß die Zielrichtung doch sein, sie insgesamt über- flüssig zu machen. Ich zitiere aus der Untersuchung: Im Blickpunkt unseres Interesses stehen zuallererst Auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Gewalt- die betroffenen Frauen. Ihnen muß Hilfe und Schutz ausübung antworteten 23 Prozent der Frauen, ihr zuteil werden. Partner sei von Anfang an gewalttätig gewesen. Bei Es soll erreicht werden, daß eine intensive Ausein- 51 Prozent wurde er es erst im Laufe der Zeit, und bei andersetzung mit den Ursachen von Gewalt gegen 20 Prozent war die Gewalttätigkeit erst am Schluß Frauen stattfindet und die Prävention mehr Gewicht aufgetreten. Interessant ist die Antwort auf die Frage erhält. 17376* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Soweit die Sonntagsrede, genauer gesagt: der Ein- Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- ladungstext von Bundesministerin Merkel zum heute ministerin für Frauen und Jugend: In der ersten zeitgleich stattfindenden Kongreß „Gewalt gegen Aussprache über die Lage der Frauen- und Mädchen- Frauen — ein Thema für Männer". häuser vor einem dreiviertel Jahr haben wir überein- stimmend festgestellt, daß die Situa tion in vielen Mit der Annahme der heute zur Abstimmung ste- Städten und Gemeinden der neuen wie der alten henden Beschlußempfehlung zum gesetzgeberischen Bundesländer besorgniserregend ist. Denn noch Handlungsbedarf bei Frauen- und Mädchenhäusern immer ist es so, daß Frauenhäuser zu häufig nicht die lehnt die Mehrheit des Bundestages ab, die dauer- Anerkennung finden, die ihnen die Gesellschaft hafte Finanzierung von Frauenhäusern (unter Wah- zukommen lassen müßte. Es ist schon aberwitzig, rung ihrer vollen Autonomie) sicherzustellen und zur wenn ihr Bedarf mancherorts überhaupt in Frage Beseitigung der Wohnungsnot der in Frauenhäusern gestellt wird. Dabei sprechen die Zahlen für sich. lebenden Frauen beizutragen. Nach vorsichtigen Schätzungen suchen jährlich rund Das ist mehr als ein trauriges Signal zum Tag der 40 000 Frauen mit ihren Kindern Zuflucht und Schutz Menschenrechte, die bekanntlich nicht teilbar sind in Frauenhäusern. Die Frauenhäuser werden von und zu denen damit genauso ein Leben in Selbstbe- dreimal soviel Frauen angefragt, wie sie aufnehmen stimmung und Würde auch für Frauen gehört. können. Und mit diesen Frauen ist natürlich die Aufnahme vieler Kinder verbunden. Frauenhäuser entstanden aus der Frauenbewegung heraus als ein Versuch, das Problem von Gewalt Wie wir wissen, liegt die Verantwortung für die gegen Frauen in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu Förderung von Frauenhäusern bei den Ländern und bringen. Dadurch gelang es der Frauenbewegung, Gemeinden. Trotz der bekannten Probleme beim neben den anderen Hilfen für Frauen, die psychischen Wettbewerb um die Verteilung der kommunalen und physischen Gewaltanwendungen öffentlich zu Finanzmittel ist festzustellen, daß sich im Durchschnitt machen, die sich in den etablierten, angeblich Schutz jedenfalls die Finanzierungsmöglichkeiten für die bietenden Privatsphären von Ehen und Beziehungen Frauenhausarbeit in den letzten Jahren kontinuierlich abspielen. Dieser Schritt in die Öffentlichkeit machte verbessert haben. Die meisten Länder haben Richtli- es für Frauen eher möglich, aus der alltäglichen nien zur Förderung ihrer Frauenhäuser erlassen, in Gewalterfahrung herauszutreten und zu erleben, daß einigen sind sogar Gesetze in der Diskussion, in denen ihre Erfahrung rein individue lles Schicksal ist. verbindliche Förderungen festgeschrieben werden sollen. Auch die Finanzierungsmittel wurden in fast Doch insbesondere durch die Mittelkürzungen im allen Bundesländern erhöht. Und ich möchte hervor- ABM-Bereich sind mehr und mehr autonome Frauen- heben, daß gerade auch in den neuen Bundesländern, häuser in ihrer Existenz gefährdet. Mangel herrscht deren finanzielle Situa tion ja besonders angespannt nicht nur an Planstellen, sondern auch an Platz und ist, ebenfalls nicht unerhebliche Zuwendungen an die Sachmitteln. Viele Zufluchtswohnungen und Schutz- Frauenhäuser gezahlt werden. Nicht zuletzt hilft hier, räume für Frauen mußten bereits geschlossen wer- wie Sie sicherlich wissen, das Arbeitsförderungsin- den. strument des § 249h, mit dem der Bund den Ländern Wie lange wollen die Koalitionsparteien noch an und Gemeinden nicht zuletzt Flexibilität beim Ausbau ihrer doppelzüngigen Strategie festhalten, einerseits gemeinnütziger Einrichtungen gegeben hat. die zunehmende Gewalt gegen Frauen zu beklagen Übrigens, es sei noch einmal daran erinnert, daß in und andererseits mit ihrer konkreten Politik der Arbeit der ehemaligen DDR „Gewalt gegen Frauen" weder mit den Betroffenen und der Prävention die materielle wissenschaftlich noch politisch diskutiert wurde. Erst Basis zu entziehen? seit der Wende ist das Thema enttabuisiert. Vor allem in den Städten bildeten sich daraufhin sehr rasch Die angesichts der Mittelkürzungen für Beratungs- Initiativen, und es wurden erstmals Frauenhäuser stellen gegen sexuelle Gewalt an Frauen und Mäd- eingerichtet. chen gemachte Feststellung der Bundesarbeitsge- meinschaft der kommunalen Frauenbüros war alar- Die Bundesregierung stellte 1991 im Rahmen eines mierend genug, sie ist leider auch auf die Situation der Sonderprogrammes zur Anschubfinanzierung von autonomen Frauenhäuser übertragbar: Frauenhäusern in den neuen Bundesländern 1,2 Mil- lionen DM zur Verfügung, mit denen 47 neugegrün- „Es ist unzumutbar, daß Frauen auch nach 20 Jah- deten Frauenhäusern finanziell weitergeholfen wer- ren Erfahrung in der Projektarbeit unbezahlt oder den konnte. Hinzu kam die Finanzierung von Fortbil- unterbezahlt die Arbeit mit Opfern männlicher dungsveranstaltungen für Frauenhausmitarbeiterin- Gewalt leisten sollen. Die notwendige innova tive nen in den neuen Bundesländern. Im Frühjahr 1993 Arbeit, die von diesen Projekten ausgegangen ist und standen schon 92 der insgesamt 324 Frauenhäuser der ausgeht, kann wegen der alltäglichen Existenz- Bundesrepublik in den neuen Bundesländern. Mitt- kämpfe und ungewisser Zukunftsperspektiven nicht lerweile gibt es dort bereits 121. Sie sind alle seit der mehr geleistet werden." Wende geschaffen worden. Dies ist eine stattliche und vorzeigbare Aufbauleistung. Ich appelliere deshalb dringend an Sie, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, mit der Annahme des Entschlie- Die Bundesebene stand lange Jahre im Zentrum der ßungsantrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Finanzierungsforderungen. Die Entwicklung zeigt Zeichen in die richtige Richtung zu setzen: Die Dimen- jedoch, daß sie eine immer geringere Rolle in der sion von Gewalt gegen Frauen nicht länger zu igno- praktischen Frauenhauspolitik vor Ort spielt. rieren und endlich wirksame Schritte zu ihrer Verhin- Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die Forderung derung zu gehen. nach einem Bundesfrauenhausfinanzierungsgesetz Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17377* kaum mehr erhoben wird. Der Bund könnte ohnhin denen sich oft genug schwere Straftaten verbergen, nur ein Rahmengesetz erlassen, um die Frauenhaus- Zurückhaltung. Das Bundesministerium für Frauen finanzierung soweit wie möglich bundesweit zu ver- und Jugend wird deshalb gemeinsam mit dem Berli einheitlichen. Entsprechende Vorstöße des Bundes- -ner Senat nach amerikanischem Vorbild ein Interven- ministeriums für Frauen und Jugend trafen bei den tionsprojekt gegen häusliche Gewalt durchführen. meisten Bundesländern allerdings auf erhebliche Ziel ist es, sowohl den Rückhalt der be troffenen Bedenken. Fast alle Länder sind der Auffassung, daß Frauen bei Polizei und Justiz zu stärken als auch mit sie die Art und Weise wie auch die Höhe ihrer den Tätern Trainingskurse durchzuführen, die ihr Frauenhausförderung selbst regeln können. Ohnehin soziales Verhalten ändern sollen. sei nur so gewährleistet, daß die besonderen regiona- Ich möchte aber auch hier deutlich sagen: Der len Verhältnisse auch genügend berücksichtigt wür- Schutz der Frauen hat für uns politische Priorität, den. zumal wir noch weit entfernt sind von einem flächen- Auch bei den Frauenhäusern selbst nehmen die deckenden Netz von Unterstützungsangeboten für Stimmen zu, die sich gegen ein Bundesrahmengesetz die von Gewalt be troffenen Frauen. aussprechen. Ich denke, daß damit das Thema „Bun- Das Thema „Gewalt gegen Frauen und Kinder" ist desgesetz" vom Tisch ist, zumal sich in den Bundes- ein bitteres Thema in unserer Gesellschaft. Wir müs- ländern zur Zeit eine günstigere Entwicklung der sen uns ihm stellen und dürfen es nicht zu verdrängen Frauenhausfinanzierung abzeichnet. versuchen. Meine Damen und Herren, seit Bestehen der Frau- enhäuser suchen Frauen mit ihren Kindern dort Schutz vor physischer und psychischer Gewalt durch ihre männlichen Partner. „Gewalt gegen Frauen" ist aber häufig noch immer ein gesellschaftliches Tabu- Anlage 7 Thema. Das Bundesministerium für Frauen und Jugend hat deshalb heute die Kampagne „ Gewalt gegen Frauen — Ein Thema für Männer" gestartet. Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 18 Den Auftakt bildet ein heute hier in Bonn stattfinden- (Antrag: Hilfen zur Stillegung der Fachkongreß. - der RBMK-Reaktoren in Rußland, Wir richten uns mit der Kampagne an Männer und der Ukraine und Litauen) Frauen. Die Frauen wollen wir ermutigen, sich inten- siv und selbstbewußt mit dem Thema auseinanderzu- setzen. Die aktiven Frauen vor Ort wollen wir in Dr. Klaus Kübler (SPD): Radioaktive Substanzen aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl verteilen sich Veranstaltungen einbeziehen, die sie maßgeblich mit- offenbar schneller als angenommen in der Umwelt. So bestimmen und die sie in ihrer Arbeit unterstützen urteilt der russische Geochemiker Waleri Kopejkin sollen. heute in Kiew: „Wenn wir die internationalen Grenz- Zentrale Aussage in Richtung der Männer ist: Wer werte für Strontium 90 hier einführen würden, müßte Gewalt gegen Frauen übt, verletzt und schadet nicht Kiew entsiedelt werden." nur den Frauen, sondern fügt sich selbst Schaden zu. Wie ist die Sicherheitssituation der Tschernobyl Es muß uns darum gehen, Männer in die Diskussion Reaktoren? einzubinden. Nur durch die Einbeziehung von Män- nern wird es möglich sein, ein Klima zu schaffen, das Erstens. Die RBMK-Reaktoren, von denen es 15 zum schrittweisen Abbau von Gewalt gegen Frauen gibt, sind betriebs- und sicherheitstechnisch veraltet, beiträgt. Natürlich sind nicht alle Männer Täter. Aber ökologisch unverantwortlich und in ihrer ökonomi- wir müssen „die Männer" ansprechen, damit sie sich schen Funktion mehr als fragwürdig. Das Argument, gegen Gewalt gegen Frauen und Kinder engagie- Tschernobyl sei zur Stromversorgung der Ukraine ren. unabdingbar notwendig, ist neu und wurde noch vor zwei Jahren nicht gebraucht. Auch war während der Die Kampagne spricht daher insbesondere auch längeren Abschaltungsphase der Blöcke 2 und 4 von Männer als Vertreter von Institutionen an, die sich mit Tschernobyl von Stromengpässen nicht die Rede. Tätern und Opfern dieser Gewalt zu befassen haben, Noch unglaubwürdiger wird die ukrainische Haltung, wie Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter. Und aber auch die der Abnehmerländer, wenn S trom aus wir wollen auch die Männer unterstützen, die öffent- Tschernobyl exportiert beziehungsweise importiert lich für die Frauen und gegen die Täter Stellung wird. Dies ist ein Skandal, sowohl für die Ukraine wie beziehen. für die Abnehmerländer. Aus der Fachdiskussion hat sich immer mehr die Zweitens. Der Schadensumfang des Tschernobyl Notwendigkeit ergeben, nicht nur die Opfer von Unfalls wird heute auf 20 bis 30 Milliarden DM Gewalt in den Blick zu nehmen. Vielmehr muß es auch geschätzt. Wahrscheinlicher ist eine Schadensfolge- darum gehen, präventive Maßnahmen zu ergreifen, höhe von 100 bis 150 Milliarden DM. G anz abgesehen die auf die Täter abzielen. Gewalt gegen Frauen von dem unendlichen menschlichen Leid in der kommt sehr häufig im sogenannten Nahbereich vor. Ukraine, in Rußland und insbesondere in Weißruß- Das hat zur Folge, daß insbesondere die Möglichkei- land. ten des Strafrechts nicht ausgeschöpft werden. Sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft Drittens. Der Betrieb wird täglich unsicherer üben bei sogenannten Beziehungsdelikten, hinter durch 17378* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

— die sich ständig und massiv verschlechternde Akt gegenüber der Bundesrepublik Deutschl and. Der Finanzausstattung der Kernenergie-Wirtschaft unbefristete Weiterbetrieb von Tschernobyl ist poli- und der Kernenergie-Betriebe, weil die Kunden tisch ein unverantwortliches Verhalten mit direkten zahlungsunfähig sind. Das erhöht dramatisch das großen Gefahren für die deutsche Bevölkerung und Unfall-Risiko von Tschernobyl; ein Affront gegenüber Deutschland. Normalerweise — die zunehmenden Reparatur- und Wartungsdefi- würde man von kriminellem Verhalten sprechen müs- zite bei dem sicherheitstechnisch maroden Ke rn sen. -kraftwerk Tschernobyl; CDU und F.D.P. sprechen in diesem Zusammen- — die wachsende Demoralisierung und Demotivie- hang immer gerne zum Beispiel von der Souveränität rung der Belegschaften; der Ukraine. Das träfe zu, wenn es nur eine ukraini- sche Be — den sich beschleunigenden Verfall fester staatli- troffenheit gäbe. Aber es gibt auch eine cher Ordnungen, staatlicher Kontroll- und Auf- deutsche und eine europäische Betroffenheit. Gegen- sichtsmechanismen, die schon in Normalzeiten über der Ukraine muß meines Erachtens also auch große Zuverlässigkeitsprobleme hatten, insbeson- geprüft werden, wenn sie an ihrer unverantwort lichen dere auch in der Ukraine; Tschernobyl-Politik festhält, ob nicht Sanktionen angewendet werden müssen. — ein vorliegendes vernichtendes Gutachten über den Brandschutz über Tschernobyl, das in den Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion schöpft Schubladen der EU liegt. deshalb alle politischen und wirtschaftlichen Mög- lichkeiten aus, die Ukraine zu einer Überprüfung ihrer Bei dieser Situati on also, bei der der Weiterbetrieb Tschernobyl-Politik zu veranlassen. Die Koalitions- der RBMK-Reaktoren, insbesondere auch der der Entschließung ist ohne jeden Biß. Deshalb bitte ich Tschernobyl-Reaktoren, einem Verhalten gleich- Sie, die völlig unzureichende Koalitions-Entschlie- kommt, das das Leben mit tickenden Zeitbomben mit ßung abzulehnen und dem SPD-Antrag zuzustimmen. Auswirkungen auf ganz Europa bewußt in Kauf Nur dieser ist geeignet, der Ukraine den Ernst der nimmt, müssen in Deutschland, bei der EU, bei der Situation klar zu machen. IEAO die Alarmglocken schrillen. Die Koalition scheint aber nur bereit zu sein, ein Glöckchen klingeln- zu lassen. Bundesregierung und Koalition wollen Klaus Harries (CDU/CSU): Der vor 10 Jahren gebor außer einer Verurteilung des kürzlich gefaßten stene und inzwischen von der Ukraine wieder in Beschlusses des ukrainischen Parlamentes, Tscherno- Betrieb genommene Reaktor von Tschernobyl be- byl entgegen bisherigen Parlamentsbeschlusses un- schäftigt regelmäßig den Deutschen Bundestag. Dafür befristet weiterzubetreiben, nur noch gewährleisten, gibt es stichhaltige Gründe: daß deutsche Finanzmittel nicht in die Nachrüstung der RBMK-Reaktoren fließen. Auch dies müßte noch Die damalige Explosion hat Tod und Verderben einmal genau überprüft werden. Das ist schon deshalb über das weite Umland von Tschernobyl gebracht und zuwenig, weil es im Grunde nicht mehr ist als das hat weite Teile Europas radioaktiv mehr und weniger Aussprechen von Selbstverständlichkeiten, einer Po- verstrahlt. Fachleute sind übereinstimmend der Mei- litikerunart, die nur immer mehr zur Politikerverdros- nung, daß eine ähnliche Explosion und Katastrophe senheit beiträgt. wiederkehren kann. Diese Gefahr besteht nicht nur Die Bundesregierung ist aber aus eigenem Recht, für den Reaktor in Tschernobyl, sie besteht für alle nämlich ihrer Schutzverpflichtung gegenüber der Reaktoren à la Tschernobyl, wie sie in Litauen, in deutschen Bevölkerung vor atomarer Verseuchung, Rußland, in der Ukraine und auch in Bulgarien laufen und betrieben werden. gehalten, sich aktiv einzuschalten. Das, was Bundes- regierung und Koalitionsfraktionen bereit sind zu Daher hat die Bundesregierung nicht nur eine beschließen, ist bei weitem zuwenig, zu passiv, ist mahnende und warnende Stimme gegenüber den faktisch eine Kapitulation vor einer ganz unbestritte- Verantwortlichen erhoben und die Abschaltung die- nen höchstgefährlichen Situation mit größter Trag- ser gefährlichen Reaktoren verlangt. Im Verbund und weite. gemeinsam mit der EG und anderen Mächten war und Der entscheidende Unterschied der Haltung der ist die Bundesregierung beinahe federführend für SPD zur Haltung der Bundesregierung und der Koali- Verhandlungen mit der Ukraine, mit Rußland und tionsfraktionen ist, daß wir verlangen, daß massiver allen anderen verantwortlichen Ländern, um einen politischer — und ich füge hinzu: gegebenenfalls auch Dauerbetrieb dieser gefährlichen Reaktoren zu ver- wirtschaftlicher — Druck, insbesondere auf die hindern. Ukraine, aber nicht nur auf die Ukraine, ausgeübt Die Ukraine hat entgegen früherer Zusagen und wird, zugleich aber auch Hilfe angeboten wird, um die Versprechen den Reaktor von Tschernobyl wieder in Ukraine zu veranlassen, ihre Tschernobyl-Politik zu Betrieb genommen. In diesem Jahr sollte er an sich überprüfen. Entsprechendes gilt auch für Rußland und abgeschaltet werden. M an zögert, diese Entschei- Litauen. Deutschl and hilft und gibt zig Milliarden, und dung der Regierung in Kiew als bösartig und verant- die Bundesregierung ist nicht in der Lage oder willens, wortungslos hinzustellen. Die Ukraine ist in einer ihre Möglichkeiten voll und konsequent auszuschöp- absolut verzweifelten Situa tion: Sie weigert sich, im fen. Lande lagernde Raketen und Atombomben zu ent- Die Situation ist so riskant, daß diplomatische Rück- schärfen bzw. den Russen zu übergeben, weil m an in sichten völlig fehl am Platz sind. Das Verhalten der Furcht vor diesem Bruderland lebt. Man fürchtet um Ukraine ist mehr als ein üblicher unfreundlicher die eigene Unabhängigkeit. Die wirtschaftliche Lage Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993 17379* ist verzweifelt. Man hat keine eigenen Energiequel- rer Not heraus weiterbetrieben werden. Die Verwen- len. dung der Mittel muß verläßlich kontrolliert werden. Man ist auf Importe, die wegen der schlechten Die Koalitionsfraktionen haben diese Haltung der Wirtschaftslage kaum zu bezahlen sind, angewiesen. Bundesregierung bekräftigt und unterstützt. Es ist Diese Notlage muß man kennen und wissen, um die bedauerlich, daß die SPD dem nicht zustimmen Entscheidung zwar nicht zu akzeptieren, aber zu konnte. Diese Haltung widersp richt dem breiten Kon- verstehen. Dies ändert aber nichts daran, daß eine sens, den wir zur Reaktorsicherheit in den Staaten der erneute Katastrophe in der Ukraine oder in den GUS und Osteuropas haben. anderen genannten Ländern unermeßliches Leid über Mit dem Verhandlungsauftrag an die Bundesregie- Betroffene und Unschuldige bringen kann oder sogar rung, auf die Stillegung der RBMK-Reaktoren hinzu- wird. Von daher dürfen Bundesregierung und andere wirken, will die SPD den Eindruck von Untätigkeit der Industrieländer nicht nachlassen, zu fordern, daß ein Bundesregierung erwecken. Der Antrag geht fehl. Wir Dauerbetrieb unverantwortlich ist, daß die Reaktoren lehnen ihn daher ab. Die Bundesregierung hat zu auf Sicht abgeschaltet werden müssen und daß des- diesem Thema von Anfang an international eine wegen nur eingeschränkt finanzielle Zuwendungen Meinungsführerschaft übernommen. Bundesumwelt- zur Verbesserung der Sicherheit vom Westen gewährt minister Töpfer hat zuletzt bei seinem Besuch in der werden dürfen. Es muß weiter dafür gesorgt werden, Ukraine im Januar dieses Jahres auf die Abschaltung daß durch Ausbildung von Fachleuten für die Kern der Tschernobyl-Blöcke gedrängt. Die SPD muß zur tigung gröbster Fehler-kraftwerke und durch Besei Kenntnis nehmen, daß die Bundesregierung — auch Sicherheitsmaßnahmen im sachgerechten und zu ver- zusammen mit anderen Regierungen — letztlich keine tetenden Umfang geleistet werden. Dies ist, wie so oft Verfügungsgewalt über die Abschalttermine hat. in der Politik, die Quadratur des Kreises. Wir sind aber gezwungen, diese Sisyphusarbeit zu unternehmen. Wir müssen die Kooperation mit Osteuropa allge- mein auf dem Felde der Energiepoli tik verstärken. Das heißt Modernisierung von Kohlekraftwerken, Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Der Weiterbetrieb Förderung von Wasserkraft und alternativer Energie. der RBMK-Reaktoren ist ein Tanz auf dem Vulkan. Die internationalen Hilfsprogramme sollten auch Diese Sorge treibt uns alle um, und deswegen disku- - dazu von der deutschen Wirtschaft genutzt werden tieren wir heute zum wiederholten und sicher nicht können. In diesem Zusammenhang bedauern wir es zum letztenmal über die Reaktorsicherheit in den sehr, daß es durch die Blockadepolitik einer Mehrheit Staaten der GUS und Osteuropas. Der Beschluß des in der SPD nicht gelungen ist, mit Herrn Schröder zu ukrainischen Parlaments, die Tschernobyl- Reaktoren einem Energiekonsens zu gelangen. Wie können wir wieder in Betrieb zu nehmen, kann nicht unsere energiepolitisch in West- und Osteuropa zusammen- Zustimmung finden. Dies widersp richt deutschen und arbeiten, wenn wir nicht in unserem eigenen Lande internationalen Sicherheitsbedenken. uns über einige Grundelemente einigen, wie z. B. die Entsorgung, das Energiesparen, die künftige Rolle der Dieser Vorgang zeigt aber auch die verzweifelte Kohle, der Kernenergie und der erneuerbaren Ener- Situation in der Ukraine, in Litauen, Rußland wie auch gie. Aber die Gespräche werden weiter wirken. Diese zum Beispiel in Bulgarien. Der Energieengpaß, verur- Woche wurde von dem Kabinett das Artikelgesetz, mit sacht durch Energieverschwendung und veraltete dem Teilergebnisse des Energiekonsenses aufgenom- Anlagen und verschärft durch den Winter, zwingt zum men werden, verabschiedet. Wir werden darüber in Weiterbetrieb der Kernreaktoren, auch der alten und der ersten Sitzungswoche des nächsten Jahres disku- durch Nachrüstung nicht wirklich sicherzumachen- tieren. den RBMK-Reaktoren. Gaslieferungen aus Rußland in die Ukraine sind reduziert worden. In Litauen deckt der Nuklearstrom aus Ignalia 50 % des Strombe- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, darfs. Naturschutz und Reaktorsicherheit: Der heute zur Debatte stehende Antrag der Fraktion der SPD „Hil- Wir können die Staaten nicht zum Abschalten fen zur Stillegung der RBMK-Reaktoren in Rußland, zwingen. Aber die multilaterale Hilfe zum Bau moder- der Ukraine und Litauen" enthält keine neuen Anre- ner sparsamer Ersatzkraftwerke, zur Nachrüstung der -gungen zur Unterstützung der Länder, die RBMK Reaktoren und zum Stopp der ungeheuren Energie- Reaktoren betreiben. Er trägt außerdem den wirt- verschwendung muß endlich greifen. Die Zeit der schaftlichen Gegebenheiten dieser Länder nicht Studien ist vorbei. Rechnung und verkennt deren Souveränität. Weder multilaterale noch deutsche Mittel dürfen für Fakten sind, daß die Bundesregierung sich bereits eine auf den Dauerbetrieb ausgelegte Nachrüstung unmittelbar nach dem Unfall in Tschernobyl 1986 mit der RBMK-Reaktoren verwandt werden. Es ist richtig, der Analyse des Hergangs und der Bewertung der daß sich die Bundesregierung hierfür bei der G-7 und Sicherheit der RMBK-Reaktoren befaßt hat. Auf bei der Europäischen Union einsetzt. Mittel aus dem Betreiben der Bundesregierung war die Sicherheit der G-7 Fonds sowie aus den PHARE- und TACIS- Kernkraftwerke sowje tischer Bauart ein zentrales Programmen dürfen nicht dem Weiterbetrieb der Thema des Münchner Weltwirtschaftsgipfels 1992. RBMK-Reaktoren dienen. Dies gilt auch für die jetzt Sie hat sich frühzeitig für Hilfsmaßnahmen für die aufgelegte Euratom-Anleihe, ein neues Kreditpro- GUS und MOE-Staaten insbesondere auf internatio- gramm der Europäischen Union. Die dringenden naler Ebene eingesetzt. Im Rahmen des Kanzlerbe- Sicherheitsnachrüstungen müssen aber finanziert suchs im Juni 1993 auch in der Ukraine, bei dem auch werden, wenn diese unsicheren Reaktoren aus schie eine Gemeinsame Erklärung über die Grundlagen der 17380* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Dezember 1993

Beziehungen zwischen den beiden Staaten vom Bun- Die Bundesregierung hält weiterhin ein solidari- deskanzler und dem ukrainischen Präsidenten, Kravt- sches internationales Vorgehen (Hilfsprogramm), wie chuk, unterzeichnet worden ist, die das beiderseitige es von der G-7 beim Weltwirtschaftsgipfel 1992 in starke Interesse an einer weiteren engen Zusammen- München beschlossen und von der G-24 in Ang riff arbeit auf dem Gebiet der kerntechnischen Sicherheit genommen wurde, für notwendig und zweckmäßig. hervorhebt, wurden auch im SPD-Antrag angespro- chene Fragen erneut behandelt. Entsprechend der Die Bundesregierung betont hierbei ihre Meinung, Bedeutung der bilateralen Zusammenarbeit zwischen daß auch durch multilaterale Hilfen keine Mittel für Deutschland und der Ukraine auf dem Gebiet der eine auf Dauerbetrieb ausgelegte Nachrüstung der kerntechnischen Sicherheit habe ich mit dem Vorsit- RBMK-Reaktoren zur Verfügung gestellt werden dür- zenden des Staatskommitees für Atomsicherheit und fen. Auch die von anderen Staaten für Osteuropa und Strahlenschutz der Ukraine, Herrn Shteinberg, ein die GUS vorgesehenen und zur Verfügung stehenden Abkommen über Fragen gemeinsamen Interesses im Mittel zur Verbesserung der Sicherheit in Kernkraft- Zusammenhang mit kerntechnischer Sicherheit und werken sollen nur projekt- und zweckgebunden ver- Strahlenschutz unterzeichnet. Dabei habe ich mich geben werden. Die Verwendung der zur Verfügung erneut dafür eingesetzt, daß die RBMK-Reaktoren aus gestellten Mittel muß verläßlich kontrolliert werden, Sicherheitsgründen so schnell wie möglich abge- um zu verhindern, daß mit diesen Mitteln der Dauer- schaltet werden. betrieb von RBMK-Reaktoren erreicht wird. - Die sicherheitstechnische Bewertung der RBMK Die Bundesregierung wird sich — wie bisher —auch Reaktoren ist unverändert. Die Bundesregierung ist weiter für die energiepolitische Zusammenarbeit mit sich mit ihren westlichen Partnern einig in der Beur- den Staaten Mittel- und Osteuropas einsetzen, um die teilung, daß alle RBMK-Reaktoren zum frühestmögli- einseitige Abhängigkeit von der Kernenergie abzu- chen Zeitpunkt endgültig abgeschaltet werden müs- bauen. sen. Die Bundesregierung hat sich entschieden gegen den Beschluß des Ukrainischen Parlaments gewandt, die Tschernobyl-Reaktoren nicht, wie 1991 beschlos- sen, spätestens Ende 1993 außer Be trieb zu nehmen. Anlage 8 Dieser Beschluß wurde offensichtlich durch die wirt- Amtliche Mitteilungen schaftliche (Not)Situation in der Ukraine und deren Mangel an elektrischer Energie — zumal für den anstehenden Winter — erzwungen. Die Ukraine Die Gruppe der PDS/Linke Liste hat mit Schreiben vom 8. Dezember 1993 mitgeteilt, daß sie ihren Antrag Aufbauplan Ostdeutschland befindet sich in einer schwierigen wirtschaftlichen — Drucksache 12/5671 — zurückzieht. Situation, da die Gaslieferungen aus Rußland um 60 bis 80 % zurückgegangen seien. Grundsätzlich liegt Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß eine ähnlich schwierige wirtschaftliche Situation aber der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von auch in den anderen RBMK-Reaktoren be treibenden einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Länder vor. Innenausschuß Die Bundesregierung wird — unterstützt von der Drucksache 11/8264 Entschließung des Umweltausschusses — weiterhin Drucksache 12/2384 Drucksache 12/3789 gemeinsam mit den westlichen Partnern auf die Drucksache 12/4977 Regierungen Rußlands, der Ukraine und Litauens Ausschuß für Wirtschaft einwirken, daß alle RBMK-Reaktoren zum frühest- Drucksache 12/4850 möglichen Zeitpunkt abgeschaltet werden. Drucksache 12/4899