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Deutscher

Stenographischer Bericht

28. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Inhalt:

Begrüßung des Speakers des Repräsentan- Dr. PDS/Linke Liste 2085 A tenhauses von Malaysia und einer parla- mentarischen Delegation 2061 A Arnulf Kriedner CDU/CSU 2085 B Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 2086 C Erweiterung der Tagesordnung 2061 B Dr. , Bundeskanzler 2091 A Begrüßung der Vizepräsidentin des Natio- nalrates der Republik Österreich . . . . 2068 B Wolfgang Roth SPD 2102 C CDU/CSU 2106 C Tagesordnungspunkt I: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 2086 C Fortsetzung der Zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Namentliche Abstimmung 2107 C Entwurfs eines Gesetzes über die Fest- stellung des Bundeshaushaltsplans für Ergebnis 2111 A das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz (Drucksachen 12/100, 12/494) 1991) Einzelplan 09 Geschäftsbereich des Bundesministers für Einzelplan 04 Wirtschaft (Drucksachen 12/509, 12/530) Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und , Präsident des Senats der des Bundeskanzleramtes (Drucksachen Freien Hansestadt Bremen 2107 D 12/504, 12/530) Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 2113 A Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 2061 D Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . . 2115B Josef Grünbeck FDP 2116B, 2124 A Volker Rühe CDU/CSU 2068 B Ernst Waltemathe SPD . . . 2117A, 2128B SPD 2070 C Bernd Henn PDS/Linke Liste 2117 D

Norbert Gansel SPD 2071D Ernst Hinsken CDU/CSU 2119A, 2121D, 2133 B Dr. Otto Lambsdorff FDP 2076 B Clemens Schwalbe CDU/CSU 2119C

Ingrid Matthäus-Maier SPD 2080 C () Bündnis 90/GRÜNE 2120A Volker Jung (Düsseldorf) SPD 2123 B Dr. PDS/Linke Liste 2081 D Jürgen W. Möllemann, Bundesminister Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/CSU 2084 D BMWi 2125A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. , Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wolfgang Roth SPD 2126B Einzelplan 12

Stephan Hilsberg SPD 2127 B Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr (Drucksachen 12/512, 12/530) Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 2129A Ernst Waltemathe SPD 2163 A Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . 2130B CDU/CSU 2164 D Elke Wülfing CDU/CSU 2130D Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . 2165 D Lieselott Blunck SPD 2131 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2167 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 2132 C Werner Zywietz FDP 2169 D Hansjürgen Doss CDU/CSU 2135A PDS/Linke Liste 2172 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 2135 C Dr. Günther Krause, Bundesminister BMV 2173A

Einzelplan 16 Ernst Kastning SPD 2174 C Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. SPD 2175 A (Drucksachen 12/516, 12/530) Einzelplan 25 Hans Georg Wagner SPD 2137 D Geschäftsbereich des Bundesministers für Michael von Schmude CDU/CSU . . . 2140D Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Drucksachen 12/526, 12/530) 2177 C Hans Georg Wagner SPD . . . 2143A, 2149 C

Jutta Braband PDS/Linke Liste 2143 C Einzelplan 13

Ina Albowitz FDP 2144 D Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation (Drucksachen Dr. Klaus-Peter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2147A 12/513, 12/530) 2177 C

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . . 2149B Einzelplan 23 Marion Caspers-Merk SPD 2153B Geschäftsbereich des Bundesministers für Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 2155 B wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksa- chen 12/525, 12/530) 2177 D Ulrich Klinkert CDU/CSU 2155 D Haushaltsgesetz 1991 (Drucksachen 12/531, 12/532) 2177 D Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags der Gruppe Bünd- Tagesordnungspunkt II: nis 90/GRÜNE: Einsetzung eines Un- tersuchungsausschusses (Drucksache Beratung der Beschlußempfehlung des 12/629) Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Der Fi- in Verbindung mit nanzplan des Bundes 1990 bis 1994 (Drucksachen 12/101, 12/494, 12/533) 2178A Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung des Antrags der Fraktion der Nächste Sitzung 2178 C SPD: Einsetzung eines Untersuchungs- ausschusses (Drucksache 12/654) Anlage 1 Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . . 2157B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 2179* A Dr. Peter Struck SPD 2157 D Anlage 2 Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 2159B Zu Protokoll gegebene Rede zum Einzel- Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 2160D plan 30 — Geschäftsbereich des Bundesmi- Uwe Lühr FDP 2161C nisters für Forschung und Technologie (Drucksachen 12/524, 12/530) Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 2162 B Dr. , Bundesminister Hans-Jürgen Kronberg CDU/CSU . . . 2162C BMFT 2179* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 III

Anlage 3 Manfred Kolbe CDU/CSU 2192* A

Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel- Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 2193* B plan 25 — Geschäftsbereich des Bundesmi- nisters für Raumordnung, Bauwesen und Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 2194* C Städtebau (Drucksachen 12/526, 12/530) Werner Zywietz FDP 2195* C Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 2181 C Dr. Christan Schwarz-Schilling, Bundesmini- Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 2183* C ster BMPT 2196* B Carl-Ludwig Thiele FDP 2185* C Anlage 5 Hans-Wilhelm Pesch CDU/CSU 2186' C Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel- Gabriele Iwersen SPD 2187* C plan 23 — Geschäftsbereich des Bundesmi- nisters für wirtschaftliche Zusammenarbeit Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 2189' D (Drucksachen 12/525, 12/530)

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer, Bundesmini Dr. Christian Neuling CDU/CSU 2198* C sterin BMBau 2190* C Helmut Esters SPD 2200* C Anlage 4 Werner Zywietz FDP 2202* A Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel- plan 13 — Geschäftsbereich des Bundesmi-- Dr. PDS/Linke Liste . . . 2203* B nisters für Post und Telekommunikation (Drucksachen 12/513, 12/530) Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 2204*' D

28. Sitzung

Bonn, den 6. Juni 1991

Beginn: 9.01 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Einzelplan 04 liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröff- Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des net. Bundeskanzleramtes — Drucksachen 12/504, 12/530 — Ich möchte zunächst auf der Ehrentribüne den Speaker des Repräsentantenhauses von Malaysia, Berichterstatter: Abgeordnete Rudi Walther Herrn Tan Sri Zahir, mit seiner parlamentarischen- Delegation ganz herzlich im Deutschen Bundestag Dietrich Austermann begrüßen. Carl-Ludwig Thiele Ich weise darauf hin, daß über diesen Einzelplan (Beifall im ganzen Hause) gegen 13.30 Uhr namentlich abgestimmt wird. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Sie sind von Berlin nach Bonn gekommen und reisen die Aussprache vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe nach Baden-Württemberg. Sie sind an der Zusam- keinen Widerspruch. menarbeit mit uns in einer Weise interessiert, daß ich uns nur wünschen kann, daß weiterhin enge parla- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Mini- mentarische Beziehungen zwischen unseren beiden sterpräsident Engholm. (I Ländern gepflegt werden. Ich wünsche Ihrem Besuch Ministerpräsident (Schleswig-Hol- einen guten Verlauf. Björn Engholm stein): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Ich möchte eine Bemerkung an den Anfang stellen, verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die mit der Altbundeskanzler vor kur- Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkt zem, wie ich glaube, der großen Mehrheit unseres liste aufgeführt: Volkes und auch vielen in diesem Hohen Hause aus dem Herzen gesprochen hat. Helmut Schmidt sagte: 1. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: „Selbst wenn die deutsche Einheit dreimal so teuer Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache käme,wie es sich gegenwärtig abzeichnet, und teuer 12/629- nicht nur im materiellen, sondern vielmehr auch im seelischen und geistigen Sinne, selbst dann würden 2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/654 — wir doch nicht auf die Einheit verzichten wollen." (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP 3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten und dem Bündnis 90/GRÜNE) Entwurfs eines . .. Gesetzes zur Änderung des Grundgeset- zes (Artikel 146 GG) — Drucksache 12/656 — — Ich wollte mir wenigstens einmal zu Beginn meiner Rede den Luxus des Beifalls des ganzen Hauses gön- 4. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten nen. Entwurfs eines Gesetzes über das Verfahren zur Durchfüh- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) rung des Volksentscheides nach Artikel 146 Absatz 2 des Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2) — Drucksache Meine Damen und Herren, dieser schlichte Satz 12/657 — umschreibt die Bedeutung und die Größe der Kraftan- strengung, vor der wir alle stehen. Viele in unserem Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Volk und auch in der Politik — und ich denke, nicht zuletzt die Sozialdemokraten im letzten Jahr der gro- Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort: ßen Wahlauseinandersetzung — haben das so gese- hen. Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- Allein die Bundesregierung ist mit verstelltem Blick nes Gesetzes über die Feststellung des Bundes- auf diese Dinge zugegangen. haushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, GRÜNE — Lachen bei der CDU/CSU und der ) /494 12 FDP) 2062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) Wir könnten nach meiner Einschätzung auf dem Weg den Fundamenten dieser Republik gehört gewiß nicht zur Bewältigung dieser unglaublichen nationalen An- zuletzt ein intakter und lebensfähiger Föderalismus. strengung weiter sein, wenn die Bundesregierung von Anbeginn an die Realität im Auge gehabt und den (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr Mut zur Wahrheit besessen hätte. wahr!) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Leistungsfähige und finanzstarke Länder mit lebendi- GRÜNE) gen und gestaltungsstarken Kommunen sind eine Statt aber den Menschen im Osten die volle Wahr- zentrale Voraussetzung für die Entwicklung unseres heit über die ökonomischen und sozialen Folgen der Landes. Einigung zu sagen und die Bürgerinnen und Bürger im Westen über die Notwendigkeit langfristiger, tief- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ greifender und großer Opfer voll aufzuklären, wurden GRÜNE) wir im Osten wie im Westen — ich weiß nicht, aus Wer den Ländern und den Gemeinden an den Le- welchem Grunde; vielleicht nur blauäugig — hinters bensnerv, insbesondere den finanziellen Lebensnerv, Licht geführt. geht, wer ihnen damit die Grundlage für die Zukunfts- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gestaltung vor der Haustür der Menschen nimmt, der GRÜNE) geht an den Lebensnerv des gesamten Gemeinwe- sens. Die jüngste Erfahrung zeigt — das ist eine Lehre für alle, die Politik machen — : Wer leere Vesprechungen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ und Täuschungen sät, der muß Mißtrauen und Skep- GRÜNE) sis ernten. Das sind die schlechtesten Wegbereiter. (Beifall bei der SPD) Wir stehen heute in der neuen Bundesrepublik vor einer Situation, von der man sagen kann, es gebe ein Wir sind nun, meine Damen und Herren, nach lan- tief zerklüftetes, mindestens dreigeteiltes Ländersy- gen Jahren einer schmerzlichen Trennung und — stem. nicht zu vergessen — insgesamt fast zwei Generatio- nen der Unfreiheit im Osten Deutschlands ein Staat Da ist die Erste Welt; dazu zähle ich Hessen, Bayern, geworden. Das ist ein Glück, wie es Völkern in der Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Diese Geschichte nur selten zuteil wurde. Ich weiß, die Länder sind auch heute noch stark genug, um ihre Freude darüber in diesem Hause ist ungeteilt. Zukunft selbsttätig zu gestalten. Aber wenn Sie mit Herrn Streibl sprechen, dann wird er Ihnen sagen, die (Beifall bei der SPD) Grenzen der finanziellen Autonomie seien auch schon Jetzt kommt es darauf an, daß aus diesem Glück bei ihm in Sicht. nicht neues Unglück für die Menschen im Osten Deutschlands wird. Um es deutlicher zu sagen: Es darf Da ist die Zweite Welt: das Saarland, Bremen, kein neues deutsches Trauma geben, das Trauma der Schleswig-Holstein und, ich vermute, mit Abstand Teilung in Einheit. Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Diese Länder haben ihre finanzielle Gestaltungskraft bereits weit- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gehend verloren. GRÜNE) Ich sage das deshalb so nachdrücklich, weil ich (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben die glaube, daß dann, wenn wir die Einheit sozial und Kommunen ausgehungert! Das haben doch ökonomisch nicht verwirklichen, verhängnisvolle Fol- Sie gemacht!) gen nicht nur für unser Volk, sondern auch für den europäischen Einigungsprozeß vor der Tür stünden. — In welchem Umfang Sie daran mitgewirkt haben, will ich heute morgen nicht auflisten. Niemand würde gerade uns Deutschen zutrauen, das große gemeinsame europäische Haus mitbauen zu Da ist schließlich die Dritte Welt. Das sind die ost- können, wenn uns nicht einmal der Bau des bundes- deutschen Länder, für die der Föderalismus eine un- deutschen Eigenheimes gelänge. glaublich identitätsstiftende Kraft ist, wo der Födera- (Beifall bei der SPD) lismus finanzpolitisch aber nur formal auf dem Papier steht und sich nicht wirklich entfalten kann. Meine Partei wird deshalb darum ringen, daß die Einheit ökonomisch kraftvoll und sozial vorbildlich (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gestaltet wird. Das heißt, wir werden alles tun, was wir GRÜNE) als Sozialdemokraten können, um nicht zuzulassen, daß auf Dauer im Zug zur Einheit eine Holzklasse für Es ist, meine Damen und Herren, vornehm ausge- die Bürgerinnen und Bürger des Ostens und eine drückt, bedrückend, daß die Bundesregierung die Ko- Plüschklasse für die des Westens existiert. sten der deutschen Einheit zunächst verkannt, dann (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ verniedlicht und dann weggetäuscht hat, um nach der Bundestagswahl bruchstückweise mit der Wahrheit GRÜNE — [CDU/CSU]: Und eine Jet-set-Klasse!) ans Licht zu kommen. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist nur er- (Dr. [CDU/CSU]: Täuschen reichbar, wenn wir die Fundamente, auf denen unsere Sie doch nicht! Sagen Sie selber die Wahr- Republik steht, stärken, statt sie zu schwächen. Zu heit!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2063

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) Ich stimme Frau Matthäus-Maier zu, die gesagt hat: lenruhig zusieht, wie Länder und Gemeinden weiter Wahrscheinlich sind wir bei der Bundesregierung von ausbluten. der Wahrheit noch Lichtjahre entfernt. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Volker GRÜNE) Rühe [CDU/CSU]: Pfui!) Am Ende dieses Weges hängen zwei D rittel oder mehr der Länder und Gemeinden an der goldenen Leine Bedrückend ist auch, daß die Bundesregierung ein des Bundes und am finanzpolitischen Zügel des Bun- Steuer- und Abgabenpaket vorlegt, das sozial völlig desfinanzministers. asymmetrisch ist. Es ist unter Solidaritätsgesichts- punkten eine Absurdität, Bezieher kleiner Einkom- Mit dieser Politik — ich bitte Sie, das ernst zu neh- men kräftig zu belasten, jetzt auch noch Bergleuten men; die meisten von Ihnen kommen ja aus Wahlkrei- ans Existenzleder zu wollen und zugleich die Großen sen in Ländern und Gemeinden, in denen sie direkt unserer Gesellschaft mit Vermögensteuerstreichel- gewählt werden — wird der Föderalismus ausgehöhlt einheiten zu versehen. und die Macht der Zentrale gestärkt. Dies ist eindeu- tig wider den Geist unserer Verfassung. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ GRÜNE) Linke Liste) Ich sage Ihnen, es ist verhängnisvoll auch für das, Aber für uns als Länder und für unsere Gemeinden was Menschen empfinden, wenn sie sehen, daß wir besonders bedrückend ist etwas anderes. Wir haben uns zunehmend für den Aufbau des Ostens finanziell uns im Einigungsprozeß nachdrücklich engagiert. engagieren — was selbstverständlich ist —. Wenn sie zugleich sehen, daß in den schwachen Ländern und (Widerspruch bei der CDU/CSU — Volker den ausgebluteten Kommunen in den Kindergärten Rühe [CDU/CSU]: Spät! — F riedrich Bohl - der Putz von den Wänden herunterrieselt, wird die [CDU/CSU]: 1,5 Millionen! Wer täuscht hier Lust zum Teilen dadurch nicht gefördert. eigentlich?) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Wir haben aus eigenen Mitteln, bevor die Bundesre- GRÜNE — Dietrich Austermann [CDU/ gierung anfing, auch nur einen Finger zu rühren, ei- CSU]: Das ist eine ganz schwere Verzerrung! genständig Programme im Osten finanziert und die Wo lebt ihr eigentlich? Das ist eine Beleidi ersten Personaltransfers vorgenommen. gung für die Kommunalpolitiker! — F riedrich Bohl [CDU/CSU]: Wie viele neue Planstellen (Beifall bei der SPD — Friedrich Bohl [CDU/ haben Sie denn geschaffen? Sie hatten doch CSU]: Das ist doch die Unwahrheit! Das ist Geld!) lächerlich! Sie haben die Taschen zugehal ten! Geizkragen!) — Herr Austermann hat gerade eingeworfen — ich wiederhole es, weil Sie es nicht alle gehört haben —, Wir zahlen als Bundesländer bis zum Jahr 2025 in das sei eine Beleidigung für die Kommunalpolitiker. den Fonds Deutsche Einheit. Damit diejenigen unter ch Austermann [CDU/CSU]: Ein- Ihnen, die natürlich keine Ahnung haben, wie es in (Dietri den Ländern aussieht, wissen, was das heißt: Für ein schließlich Ihrer neuen Kommunalverfas- kleines Land wie Schleswig-Holstein bedeutet allein sung!) der Fonds Deutsche Einheit eine Belastung von über Herr Austermann, ich wäre fast geneigt, Ihnen anzu- 6 Milliarden DM. Wer darüber lacht, hat das Mandat bieten, mit Ihnen die vielfältigen Etappen Ihrer Kom- nicht verdient, mit dem er hier sitzt. munalpolitik einmal nachzuwandern, um Ihnen do rt die Klassenzimmer, wo es so aussieht, zu zeigen. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. (Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann [PDS/Linke Liste] — Zuruf von der CDU/ [CDU/CSU]: Das können wir gerne machen! CSU: Ganze vier Richter haben Sie ge — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Sie leben auf schickt!) dem Mond! — Zuruf des Abg. [FDP]) Sie wissen, daß wir in einem schwierigen Prozeß das — Herrn Kubickis Zwischenruf habe ich nicht gehört. Steueraufkommen so verteilt haben, daß alle Ostpart- Das ist vielleicht besser so. ner inzwischen daran partizipieren. Vor uns steht — wir wissen noch nicht, in welchen Größenordnun- Meine Damen und Herren, wir haben gestern den gen, weil uns die endgültigen Planungen der Bundes- 100. Geburtstag der IG Metall in Frankfurt gefeiert. regierung nicht bekannt sind — ein ständiger Verlust (Zuruf von der CDU/CSU: Da fiel auch der von Bundesmitteln bei Gemeinschaftsaufgaben und Putz von den Wänden!) sonstigen Projekten. Das heißt, wir — auch die schwä- cheren unter uns Ländern — tragen diese Lasten, weil Auch viele, die heute hier sitzen, sind gestern dort wir wollen, daß Deutschland so schnell wie möglich gewesen. sozial und wirtschaftlich zusammenwächst. (Zuruf von der CDU/CSU: Da rieselte der Kalk!) Wir haben jedoch kein Verständnis dafür — das sollten Sie eigentlich begreifen — , daß sich der Bund — Der eine oder andere, den ich noch von früher jetzt allein neue Finanzquellen erschließt, aber see- kenne, hat zu der Zeit, als wir gemeinsam im Parla- 2064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) ment saßen, intelligentere Zwischenrufe gemacht. punkt, daß wir alle Teil des Weltwirtschaftssystems Das lange Sitzen schleift offensichtlich ab. sind; da liegt eine große Verantwortung. Aber daß die ökologische Umgestaltung der gesamten Industrie- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie ha und Konsumgesellschaft, von der wir wissen, daß sie ben auch bessere Reden gehalten! — Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Sie waren keine Alternative kennt, als Thema am Kabinettstisch schon damals nicht besser!) keinen Platz hat, offenbart die Perspektivenlosigkeit der Regierung. Das Motto des gestrigen Geburtstages der IG Metall lautete: „Dem Leben Zukunft geben". Wie sieht es mit (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ „Dem Leben Zukunft geben" in der Realität unserer GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Waren Politik aus? Daß nach bald einem Jahrzehnt wirt- Sie Mäuschen unter dem Tisch?) schaftlichen Booms in der Bundesrepublik die Zahl Daß schließlich Millionen Menschen in aller Welt der Armen in unserer Gesellschaft gewachsen ist ihre Heimat verlassen müssen und sich zunehmend — siehe die Zahl der Sozialhilfeempfänger — , ist für auf den Weg in die reicheren Staaten des Westens eine reiche Republik extrem beschämend. machen, dafür kann man keine nationale Regierung (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ verantwortlich machen. GRÜNE) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Damit kein falscher Eindruck entsteht: Niemand kann der Regierung einen Vorwurf daraus machen, Aber daß in Bonn das Asylrecht zu einer va riablen daß es überhaupt Armut gibt. Aber daß eine Regie- Abwehrmasse dieses Problems gemacht wird, statt ein rung keine Konzepte zur Bekämpfung der Armut ent- modernes Einwanderungsrecht — auch europäisch — wirft und daß wir nach den vielfältigen Kürzungen in zu schaffen, ist ein Versäumnis. der Sozialpolitik wieder auf dem Weg sind, aus Sozial- (Beifall bei der SPD) politik so etwas wie Wohltätigkeit zu machen, das ist bedrückend. - Ich glaube, hinter alldem, was man an Perspektiven in der Regierungspolitik vermißt, steht so etwas wie (Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann ein tiefer ideologischer Unterschied, wobei ich inzwi- [CDU/CSU]: Und unwahr! — Karl Stockhau schen fest davon überzeugt bin, daß die Ideologen sen [CDU/CSU]: Jetzt baut er wieder Papp ihren Platz mehr in der Rechten Deutschlands haben kameraden auf!) denn in der Linken. Wir machen der Regierung auch nicht den Vorwurf, daß es auf den deutschen Straßen mehr Kraftfahr- (Beifall bei der SPD) zeuge gibt. Dahinter steht eine ausgeprägte Vorstellung, die (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ unsterbliche Idee des Laisser-faire, nämlich daß sich CSU]: Arme SPD!) Probleme im Selbstlauf regulieren. Aber daß Sie den öffentlichen Verkehr in den letzten (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Davon Jahren ständig weiter schwächten und die deutschen kennt er etwas!) Straßen ins Chaos laufen ließen, das offenbart eine Daß viele, die bei Ihnen sitzen — nicht zuletzt auch in bedrückende Perspektivlosigkeit. der liberalen Partei — , dieser Idee anhängen, ist seit (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ langem bekannt. Deshalb müssen Sie sich auch nicht GRÜNE) schämen, denn Sie stehen doch meistens dazu. Daß es Wohnungsungleichgewichte bei sich (Zuruf von der FDP: Was soll denn das?) schnell entwickelnden Gesellschaften gibt, wird jeder Regierung passieren können. Aber daß eine Regie- Ich muß nur sagen: Eine Politik, die glaubt, man rung — noch zu einem Zeitpunkt, da bereits sichtbar könne menschliche Nöte, strukturelle Defizite sich im Hunderttausende auf der Suche nach bezahlbaren Selbstlauf erledigen lassen, versagt vor den großen Wohnungen sind — von Vollversorgung spricht, ist für Gestaltungsaufgaben unserer Zeit und der Zukunft. mich völlig unverständlich. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Manfred Opel [SPD]: Meine Damen und Herren, die Gestaltung der so- Das tut weh! — Karl Stockhausen [CDU/ zialen Einheit Deutschlands und die Bewältigung un- CSU] : „Neue Heimat" ! ) serer großen Zukunftsaufgaben erfordert Opfer von Der Vorsitzende der IG Metall, Herr Steinkühler, uns allen, im Westen wie im Osten. Wer Opfer ver- hat gestern beim IG-Metall-Jubiläum gesagt, die langt, muß Opfer gerecht verteilen; denn wir wissen, Menschheit stehe über kurz oder lang vor der Exi- daß die Menschen nur dann bereit sind, sich an Op- stenzfrage ihrer eigenen Gattung, wenn sie weiter so fern zu beteiligen, wenn sie wissen, daß es dabei ge- verantwortungslos mit den Gütern der Erde um- recht zugeht. Sozialdemokraten haben Ihnen dazu gehe. seit langem vernünftige Vorschläge gemacht. (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er an der ( [CDU/CSU]: Welche?) richtigen Stelle gesagt!) — Frau Matthäus-Maier hat das gestern in aller Aus- Daß die Umweltzerstörung global in einem un- führlichkeit wiederholt. glaublichen Maß voranschreitet, dafür können wir alle nur bedingt etwas — außer unter dem Gesichts- (Zurufe von der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2065

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) — Die Kollegen sind wohl nicht hier gewesen. dingungen Arbeitslosenquoten von 2 % und weniger haben. Daß es funktioniert, kann man in Skandina- (Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann vien sehr deutlich sehen. [CDU/CSU]: Warum wohl? — Jochen Bor chert [CDU/CSU]: Wir haben nachgelesen!) (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ —Mit Verlaub, ich habe die Debatte dort verfolgt, wo CSU — Gerhard O. Pfeffermann [CDU/ auch Sie es gelegentlich tun: am Bildschirm. CSU]: Wann waren Sie denn das letzte Mal dort? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Bei der IG Me tall?) — Sagen Sie mir doch einmal, wie hoch Sie die Ar- Ich wiederhole gern, was Sie nicht gehört haben: beitslosigkeit in Schweden oder Norwegen nach Ihrer Wir sind für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe Kenntnis einschätzen! für Besserverdienende, aber nicht für die Belastung in (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Wir sind hier der Breite und besonders der unteren Schichten unse- doch nicht in der Klippschule! — Weitere res Volkes. Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ —Es gilt das gute alte deutsche Sprichwort: Erst infor- GRÜNE — Dietrich Austermann [CDU/ mieren, dann denken und dann zwischenrufen. Das CSU] : Und bei der Mineralölsteuer und der macht allemal mehr Sinn! Mehrwertsteuer?) Wir schlagen Ihnen vor, eine befristete Arbeitsmarkt- (Beifall bei der SPD — abgabe zu erheben, damit einen Solidaritätsbeitrag [CDU/CSU]: Das gilt auch für den Redner!) auch die leisten, die in der Vergangenheit frei ausge- Wir haben vorgeschlagen, die industrielle Substanz gangen sind. und die industrielle Struktur in den östlichen Ländern (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nicht völlig zusammenbrechen zu lassen, sondern das - GRÜNE) zu sanieren, was konkurrenzfähig gemacht werden Wir schlagen Ihnen — darüber ist gestern nachdrück- kann, um es anschließend zu privatisieren. Wir sind, lich gesprochen worden — über harte, aber sozial ver- wie ich glaube, auf diesem Weg inzwischen eine tretbare Sparmaßnahmen hinaus insbesondere den Etappe weiter — was ich für einen Fortschritt halte —. Verzicht auf neue militärische Großprojekte vor, de- (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: ren Nutzen für die Zukunft allseits in Zweifel gezogen Wer ist „wir"?) wird. — „Wir" heißt doch wohl, daß das eine gemeinsame (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Angelegenheit des deutschen Volkes und des gesam- Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]) ten Parlaments und nicht nur der CDU/CSU-Fraktion Ich schlage Ihnen, damit wir im Föderalismus ein ist. Stück neuen Ausgleichs schaffen, ferner vor: Beteili- gen Sie die Länder und die Gemeinden am Mineralöl- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ steueraufkommen zur Kompensation ihrer überpro- GRÜNE) portional starken Belastungen, die sie jetzt zu ver- Flächendeckende Beschäftigungsgesellschaften zeichnen haben! könnten ein richtiger Weg dafür sein. (Beifall bei der SPD) Wir müssen in die Infrastruktur investieren, von Meine Damen und Herren, vor uns liegt kein kurzer Verkehrswegen über Telekommunikation, von Alt- Zeitabschnitt, sondern, wie ich glaube, ein ganzes stadtsanierung bis Umweltschutz. Jahrzehnt einer immensen Anstrengung für den Auf- bau und die Modernisierung der fünf neuen Länder im (Hubert Doppmeier [CDU/CSU]: Was ge Osten Deutschlands ebenso wie für die Lösung der schieht denn zur Zeit?) bisher ungelösten großen Zukunftsaufgaben. Die Tal- sohle in den neuen Ländern läßt sich verkürzen, wenn — Lassen Sie mich doch ausreden! dieses Haus den Vorschlägen folgt, die die SPD in Ich empfehle Ihnen dringend, sich als Vorbild das ihrem Nationalen Aufbauplan gemacht hat. von Ihnen früher einmal verlachte, von der soziallibe- Sie kennen die Punkte. Ich werde sie sehr kurz wie- ralen Koalition gemachte Zukunftsinvestitionspro- dergeben. Wir haben Ihnen vorgeschlagen — das gramm anzusehen. Dann wissen Sie, wie man so et- wäre wirklich eine Innovation großen Stils in der Ar- was macht. beitsmarktpolitik — , jetzt mit aller Kraft ausschließ- (Beifall bei der SPD — Dr. Klaus-Dieter lich neue Arbeit und Qualifizierung zu fördern, aber Uelhoff [CDU/CSU]: Millionen Arbeitslose!) nicht die nutzlose Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der FDP und dem Bündnis 90/ Wir brauchen eine nachhaltige weitere Verstär- GRÜNE — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wo kung beim Aufbau des öffentlichen Dienstes. Ich leben Sie denn? — Zuruf von der CDU/CSU: glaube, daß wir unsere Kommunen insgesamt ermun- Kommen Sie doch mal gucken!) tern könnten, in partnerschaftlicher Zusammenarbeit den Gemeinden im Osten Deutschlands noch ein —Ich fahre mit Ihnen einmal dorthin, wo dieses Prin- Stück mehr Unterstützung zu geben. zip angewandt wird und wo wir, weil dieses Prinzip angewandt wird, unter vergleichbaren Weltmarktbe (Beifall bei der SPD) 2066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) Dabei muß dem Aufbau des demokratischen Rechts- die Folgen dieses Versagens auch die Volkswirtschaft wesens ein besonderes Gewicht zukommen. Bei aller im westlichen Teil Deutschlands immens gefährden. Bedeutung von Eigentumsfragen muß die neue Rich- Also müssen wir durch und den Weg erfolgreich been- terschaft wesentlich dazu beitragen, erlittenes Un- den. recht für die Opfer des alten stalinistischen Systems wiedergutzumachen. (Beifall bei der SPD) Um Herrn Austermann und Herrn Kubicki ein Stück (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ entgegenzukommen: GRÜNE und der FDP — Ing rid Matthäus Maier [SPD]: Warum klatschen Sie von der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das finde CDU/CSU denn nicht? — Gegenruf des Abg. ich gemein, daß Sie uns beide zusammen Jochen Borche rt [CDU/CSU]: Es muß etwas nennen!) Vernünftiges sein!) Wir können es ja mit der norddeutschen Devise hal- Ich bin wie mein Freund , ten, die lautet: Es ist besser, heute unter Opfern Dei- che zu bauen, als darauf zu hoffen, die Flut nehme (Zurufe von der CDU/CSU) Vernunft an. auf dessen Buckel und gegen dessen Wahrhaftigkeit (Beifall bei der SPD) Sie eine Wahl gewonnen haben — da sollte schon ein Stück Dankbarkeit vorhanden sein! —, Meine Damen und Herren, würde man dem Motto der gestrigen Tagung der IG Metall, „Dem Leben (Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann Zukunft geben", folgen, dann hieße das auch, den [CDU/CSU]: Was hat denn Helmut Schmidt Neubeginn in Deutschland nach der Einigung der dazu gesagt? — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Deutschen für eine neue Periode der Reformen in Daß es an Lafontaine liegt, wenn die SPD die Deutschland zu nutzen. Es ist meine Überzeugung Wahl verliert, hat Schmidt gesagt!) und die meiner Fraktion und meiner Partei, Entschul- - und die Sozialdemokraten der Meinung, daß wir scho- digung, Hans-Jochen: unserer Fraktion und meiner nungslos die Wahrheit sagen müssen. Partei: (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Zitieren (Heiterkeit — Dr. Hans Jochen Vogel [SPD]: Sie mal Schmidt, was er über Lafontaine ge So ist es gut!) sagt hat!) Wer sich nicht weitgestreckte Ziele setzt, der tritt auf Die Wahrheit ist: Der Weg zum Ziel der inneren Ein- der Stelle. — Oder um es mit Gustav Heinemann zu heit der Deutschen wird schwerer, er wird dornenvol- sagen: Wer nicht verändert, der wird auch das verlie- ler, und er wird länger, als es die größten Berufsopti- ren, was er zu behalten wünscht. Das heißt, es spricht misten dieser Regierung dem deutschen Volk erzählt alles für Reformen. haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Mir scheinen starke neue Impulse in der Wi rt GRÜNE) ftspolitik nötig. Wer das Buch von Konrad Seitz,-scha Man muß dem Internationalen Währungsfonds der eine wichtige Funktion innehat, über die japani- nicht auf Heller und Pfennig folgen. Wenn aber der sche Herausforderung gelesen hat, der weiß, die Kon- IWF prognostiziert, daß wir für ein Jahrzehnt Investi- kurrenz in der Welt schläft nicht. tionen in einer Größenordnung von 1,7 Billionen DM (Volker Rühe [CDU/CSU]: Der ist nicht für benötigen,davon mehr als ein D rittel im öffentlichen die 35-Stunden-Woche!) Bereich, dann zeigt das die Dimension, vor der wir stehen. Wer die Zahlen des sächsischen Ministerprä- Wir sind als nationale Volkswirtschaft möglicherweise sidenten im Kopf hat, der kommt im zu klein, um dieser Herausforderung gewachsen zu großen und ganzen zu ähnlichen Einschätzungen der sein. Wenn ich aber frage, wo die industriepolitische Größenordnung. Das sind immense Herausforderun- Antwort der Bundesregierung auf diese Herausforde- gen. rung ist, dann suche ich, aber finde nichts. Ich bin trotz der Dimension und der Größenordnung (Beifall bei der SPD) dieser Aufgabe sicher, daß wir den Weg erfolgreich Statt dessen stoße ich immer wieder auf diesen unsin- beenden werden. Wir werden ihn erfolgreich been- nigen ideologischen Streit „Wirtschaft oder Staat" den, wenn besonders die Menschen in Ostdeutsch- oder gar „Wirtschaft gegen Staat". Dabei wissen wir, land das sichere Gefühl haben, daß wir sie auch auf daß in komplexen Wettbewerbsstrukturen der Welt einer längeren Wegstrecke solidarisch begleiten und nur der obsiegen und seinen Platz sichern kann, der nicht im Stich lassen. ein vernünftiges Miteinander des Staates und einer (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ hochinnovativen Wirtschaft organisiert. GRÜNE) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Wir werden den Weg erfolgreich beenden, weil wir GRÜNE) wissen, daß es zur Bewältigung dieser Aufgabe keine Wo Konservative diesem falschen Antagonismus von Alternative gibt, weder eine soziale noch eine ökono- Wirtschaft oder Staat hinterhergelaufen sind, etwa mische Alternative. Versagen wir dabei sozial, verlie- Frau Thatcher oder Herr Reagan, da hat es der gesam- ren wir unsere moralische Legitimation. Versagen wir ten Volkswirtschaft und auch den großen Unterneh- beim Aufbau des Ostens ökonomisch, dann werden men bitter weh getan. Diese Alternative ist die falsche, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2067

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) sie gehört in den Müllhaufen der Wirtschaftsge- Ein Land, das so hochgradig verwoben ist mit der gan- schichte. zen Welt, das ein Drittel seines Volkseinkommens aus dem Handel mit der ganzen Welt bezieht, enthält de- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ nen, die aus der ganzen Welt bei uns leben, das Mit- GRÜNE) bestimmungsrecht bei Kommunalwahlen vor! Ein un- Wir brauchen weitreichende Perspektiven in der verständlicher Zustand! Umweltpolitik, worüber sich in diesem Hause alle grundsätzlich einig sind. Es spricht alles dafür, um ein (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE) Beispiel zu nennen, daß wir heute noch einmal in einer riesigen Kraftanstrengung so viel Geld, so viel Schließlich und nicht endlich: Ich glaube, daß wir Innovationsmut, so viel Phantasie in die Entwicklung wirklich mutigere Schritte zur Gleichstellung der neuer Energiepfade investieren, wie wir es weiland Frauen in unserem Land brauchen. mit der Kernenergie getan haben. Es wäre auch tech- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nologisch ein riesiger Schritt in die Zukunft. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ (Beifall bei der SPD) Linke Liste) Es spricht alles dafür, eine grundlegende Reform Die Gesellschaft und auch die Politik sind auf diesem der Verkehrspolitik in die Wege zu leiten, um die Wege nach wie vor außergewöhnlich zögerlich. Wir verstopften Straßen und die erstickenden Städte da- brauchen die in der Geschichte verschütteten Werte durch zu entlasten, daß der öffentliche Personennah- der Frauen, wir brauchen die Talente der Frauen zum verkehr eine neue Chance bekommt. Aufbau neuer Strukturen in unserer Gesellschaft. Es (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der führen- GRÜNE) den Politik, dem Elend der Ungleichstellung endlich ein Ende zu bereiten. Ich glaube, daß es unserer neuen Republik auch gut anstünde — — - (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: „Neue und der PDS/Linke Liste) Republik"?) Ich habe es hier noch miterlebt: Vor knapp neun — Doch, sind wir. Jahren trat die Bundesregierung unter dem Anspruch (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Wollen an, eine geistig-moralische Erneuerung in Deutsch- Sie eine neue Republik?) land herbeizuführen. — Wir sind auf dem Wege zu einer neuen Republik, (Zurufe von der SPD — Gegenruf des Abg. indem zwei Teile zusammengewachsen sind. Das Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Bei euch bringt wirklich eine neue Qualität mit sich. ist es uns nicht gelungen!) (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch Wir haben damals alle gestaunt, und jene, die gerade [CDU/CSU]: Eine neue Qualität ja, aber nicht mehr an der Regierung waren, waren — das nicht eine neue Republik!) kann man ja sagen — tief beeindruckt und haben gedacht, nun komme ein Jahrzehnt tiefgreifender, vor — Herr Kollege Bötsch, wenn ich sagen würde: „die allem auch moralischer Erneuerung. alte Republik", dann würden 16, 17 Millionen Men- schen sagen, irgend etwas möchte ich in das Neue (Zuruf von der CDU/CSU: Die Einheit!) auch einbringen. Wenn man heute dezent fragt, was aus diesem großen (Beifall bei der SPD) Anspruch geworden ist, wo er auch in Ihren Bilanzen Lassen wir es dabei, daß es ein rheto rischer und kein wieder einmal aufgetaucht ist, dann muß man lange ff scheint — selbst bei den deut- ideologischer Konflikt sei. suchen. Dieser Beg ri schen Kabarettisten — in Vergessenheit geraten zu Ich glaube, daß wir neue Anläufe für mehr Libera- sein. lität und Toleranz in Deutschland brauchen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Hans (Zuruf von der CDU/CSU: Das hört die FDP Klein [München] [CDU/CSU]: Sie haben sich gern!) diese Rede wohl in jenen Kreisen schreiben Warum eigentlich wagen wir nicht gemeinsam, in ei- lassen!) ner Streitfrage, die so quer durch alle Fronten unseres Sie müssen zugeben: Was man in den Zeitungen über Volkes geht wie die Frage des Regierungssitzes, dem die Koalitionsdiskussionen liest, spricht auch nicht un- Volk die endgültige Entscheidung zu überlassen? bedingt für die Erfüllung dieses Anspruchs. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD) GRÜNE) Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ist es an Warum eigentlich gibt es einen so tiefen und erbitter- der Zeit, daß es in unserem Land wieder mehr politi- ten Streit um die Frage, ob die Ausländer in Deutsch- sche und auch geistige Führung gibt, eine Führung, land nicht wenigstens ein kommunales Wahlrecht be- die Ziele vorgibt, die Perspektiven aufzeigt, die Kräfte kommen? im Volke bündelt, die Menschen Mut macht, sie her- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ ausfordert und mitreißt. Wir haben wohl selten eine so GRÜNE — Zustimmung des Abg. Dr. Wolf große Chance gehabt wie bei dem Prozeß der Eini- gang Weng [Gerungen] [FDP]) gung der Deutschen, aus der Selbstzufriedenheit, der 2068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) Gemächlichkeit und der gelegentlichen Lethargie gen in dieser Rede zunächst zu dieser Wahl zum Vor- herauszukommen und im letzten Jahrzehnt zu zeigen, sitzenden gratulieren. wozu wir fähig sind. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ der CDU/CSU und der FDP) GRÜNE) — Sehen Sie, jetzt habe auch ich es geschafft, am Ich möchte, daß wir am Ende dieses Jahrzehnts sagen Anfang von allen Beifall zu bekommen. können, wir hätten Deutschland mit gemeinsamer (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Im Nach- Kraft aufgebaut, ein Deutschland, in dem fast alle ahmen waren Sie schon immer gut!) Menschen eine sichere Zukunft haben und sich nicht vor der Zukunft fürchten müssen, ein Deutschland, in Ich möchte aber auch unseren Respekt für die Ar- dem eine starke Ökonomie allen ausreichend Arbeit beitsleistung ausdrücken, aber nicht nur dafür, son- und Einkommen verschafft, ein Deutschland, von dem dern auch für die Leistung für die deutsche Demokra- die Welt sagt, es sei ökologisch vorbildlich und setze tie, die Ihr Vorgänger Hans-Jochen Vogel in diesem seine ganze Kraft für den Erhalt seiner Umwelt ein, ein Amt vollbracht hat. Deutschland, in dem Frauen nicht mehr — wie heute (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD noch — benachteiligt werden, und ein Deutschland, in und dem Bündnis 90/GRÜNE) dem auch neue Möglichkeiten der Mitbestimmung des Volkes in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft Beim Thema Arbeitsleistung fällt mir natürlich et- erschlossen worden sind, was ein. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ar GRÜNE) beitslose z. B.!) und vor allem ein Deutschland, das seine neue Größe Björn Engholm, Sie haben mal gesagt, so hart wie Hel- und seine Kraft dazu nutzt, wirtschaftlich, sozial, öko- mut Kohl und Jochen Vogel wollten Sie nun doch logisch die schwächeren in Europa und in- der Welt zu nicht arbeiten. Die müßten verrückt sein, so hart zu unterstützen, aber nicht für andere Dinge. arbeiten. Dann muß ich Ihnen sagen: Mit dem Amt, was Sie jetzt übernommen haben, und dem, welches (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Sie möglicherweise anstreben, müssen Sie sich schon GRÜNE) in die Nähe der Arbeitsbelastung von Hans-Jochen Meine Damen und Herren, hierin liegt eine riesige Vogel und Helmut Kohl bewegen. Herausforderung unserer Generation und derjenigen, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und die jetzt in politischer Verantwortung stehen. Hierin der FDP — Zuruf der Abg. Ing rid Matthäus liegt eine unglaubliche Chance derer, die dieses Jahr- Maier [SPD] — Weitere Zurufe von der zehnt politisch zu gestalten haben. Diese Chance nut- SPD) zen heißt, unsere Zukunft sichern. Diese Chance ver- passen heißt, die eigene Zukunft verpassen. — Daran kann doch gar nicht gezweifelt werden. Auch ich gehöre zu der Generation. Auch ich habe (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD Schwierigkeiten, mich an der Arbeitsbelastung von und Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Helmut Kohl und Hans-Jochen Vogel zu orientieren. Dr. Hans-Jochen Vogel gratuliert Minister Aber ich versuche es zumindest. Die Verantwortung, präsident Björn Engholm — Zurufe von der die Sie, Herr Engholm, übernommen haben, ist natür- CDU/CSU: Aha!) lich ungeheuer groß, und die Aufgaben in diesem Lande kann man nur mit einer Einstellung bewälti- gen, wie sie der Bundeskanzler und auch der Hans- Jochen Vogel in den letzten Jahren gehabt haben. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Herren! Darf ich, bevor ich das Wort an den Abgeord- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und neten Volker Rühe weitergebe, Ihre Aufmerksamkeit der FDP) auf einen österreichischen Gast lenken? — Auf der Herr Engholm, Sie haben dann Helmut Schmidt zi- Ehrentribüne hat die Vizepräsidentin des Nationalra- tiert und gesagt, wir müßten alle Kosten aufbringen, tes der Republik Österreich Platz genommen, Frau wie groß sie immer sind, damit die Einheit ein Erfolg Dr. Heide Schmidt, ist. Dem kann man nur zustimmen. Nur: Wie war denn (Beifall im ganzen Hause) Ihre Politik in den eineinhalb Jahren, als es darauf die ich ganz herzlich begrüßen möchte. ankam? Das war doch eine Politik der Entsolidarisie- rung des deutschen Volkes, die die SPD betrieben Nun hat der Abgeordnete Volker Rühe das Wort. hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben doch unseren Mitbürgern im Westen gesagt Volker Rühe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe „Der Helmut Kohl gibt das ganze Geld im Osten aus", Kolleginnen und Kollegen! Lieber Björn Engholm, und im Osten haben Sie gesagt „Der Helmut Kohl gibt (Zurufe von der SPD) euch immer noch nicht genug". Das war doch die dop- — Entschuldigung, wir kennen uns schon länger, und pelzüngige Politik, die Sie betrieben haben, eine Poli- zwar auch aus diesem Hause — , das war Ihre erste tik der Entsolidarisierung. Damit muß endlich Schluß Rede im Bundestag nach Ihrer Wahl zum Vorsitzen- gemacht werden. den der SPD. Deswegen möchte ich trotz vieler Passa (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2069

Volker Rühe Ich habe ein besonders krasses Beispiel mitge- Ich muß Ihnen sagen — ich fange einmal an mit der bracht, für das Sie sich sicherlich schämen werden. Rede des Bundeskanzlers am 19. Dezember 1989 in Dresden —, daß der Bundeskanzler von Anfang an (Zurufe von der CDU/CSU) —ich habe es in auch miterlebt —, sich gera- —Nein, es ist nicht die „Bild"-Zeitung. Es ist die „Zei- dezu der Begeisterung entgegenstemmend, tung am Sonntag", herausgegeben vom SPD-Partei- (Zuruf von der SPD: Und jetzt?) vorstand, Ausgabe vom 18. November 1990. Da heißt es: „Schöne Bescherung. Leere Regale vor Weihnach- auf die Schwierigkeiten des Weges hingewiesen ten. Kunden empört. Lieferungen in den Osten ver- hat. knappen Angebot. " (Unruhe und Widerspruch bei der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui!) —Entschuldigung! Der Bundeskanzler hat am 19. De- Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat sich zember 1989 in Dresden gesagt: damals hinter die Leute gestellt, denen es schon eine (Zurufe von der SPD) zu große Last für die Wiedervereinigung war, daß sie einmal ein paar Tage auf ihren Videorecorder warten „Lassen Sie mich angesichts dieser Begeisterung, die mußten. Das ist doch eine Schande! mich so erfreut, sagen, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft sein wird. " Und er hat das immer wieder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — holt und auf die Opfer hingewiesen. Er hat dann aller- Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! — dings hinzugefügt: Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ein echter Rühe!) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Keine Steu ererhöhung!) — Entschuldigung, das ist eine echte SPD hier, Frau Däubler-Gmelin, eine echte SPD-Zeitung. Sie sind „Aber ich bin sicher, gemeinsam werden wir es schaf- mitverantwortlich. - fen. " (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ein echter (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Keine Steu Rühe! Und immer gegeneinander!) ererhöhung!) Dann muß man sich anhören, was die saarländische Sehen Sie, das ist das, was die Menschen bei Ihnen Landesregierung noch heute sagt. Sie sagt: Liebe In- vermißt haben, nämlich daß Sie sagen: Ihr seid uns vestoren, in der ehemaligen DDR, in den neuen Bun- herzlich willkommen, und gemeinsam werden wir es desländern ist das zu unsicher. Kommt ins Saarland! schaffen. — Das hat man von Ihnen nicht gehört. (Zuruf von der FDP: Unglaublich! — Zuruf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — von der CDU/CSU: Pfui! — Weitere Zu- Zurufe von der SPD) rufe) Herr Engholm, Sie haben soeben noch einmal den Ist das die Solidarität, die gelebte Solidarität? Versuch gemacht, das Ergebnis der Bundestagswahl mit dem Mythos der Wahrhaftigkeit zu erklären, den (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Sie hier für sich in Anspruch nehmen. CDU/CSU: Freund Lafontaine! — Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ein echter Rühe!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Steuerlüge heißt das Ding!) Das heißt: Anspruch und Wirklichkeit gehen weit aus- einander. Deswegen will ich schon einmal einen Augenblick darüber sprechen, warum es denn zu diesem Wahler- (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Immer das gebnis gekommen ist. gleiche! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sa gen Sie mal was zur Arbeitslosigkeit!) Tatsache ist doch, daß sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bequem in der Zweistaatlichkeit Deswegen finde ich, Herr Engholm, daß in diese eingerichtet hatte, Debatte auch ein Wort der Anerkennung für die Steu- erzahler, auch im Westen, gehört, wenn in diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Haushalt 90 Milliarden DM, also fast jede vierte Mark, siehe SPD/SED-Papier. Noch an dem Tage, an dem einheitsgebunden ausgegeben wird. Das ist gelebte die Mauer niederging, sprach Herr Momper vom Volk Solidarität der Regierungspolitik. der DDR. Sie sprechen heute davon, wie wichtig es ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das deutsche Volk zu einigen. Lafontaine machte Druck auf die Bundestagsfraktion, den Vertrag über Herr Engholm, Sie haben dann, wie auf dem Partei- die Wirtschafts- und Währungsunion zu verhindern. tag, so auch hier wieder, versucht, einen Mythos der Nein, wir sind gewählt worden, weil wir erstens Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch zu nehmen und haben im Zusammenhang mit uns diesmal nicht ge- konsequent und glaubwürdig für die deutsche Einheit sagt „übers Ohr gehauen" , aber Sie haben gesagt eingetreten sind, Herr Engholm. „hinters Licht geführt", „Täuschung " und was Sie da (Beifall bei der CDU/CSU) noch alles an schlimmen Vokabeln verwandt haben. Zweitens. Die Menschen, insbesondere im östlichen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Paß auf! — Teil Deutschlands, wollten den Sozialismus in wel- Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wahl- cher Form auch immer als untaugliche Utopie abwäh- lügner! ) len. Deswegen haben sie die Partei gewählt, die die 2070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe größte Distanz zum Sozialismus hatte. Das waren hätten einen historischen Fehler gemacht, wenn wir nicht Sie. Das waren wir, und das bleiben wir auch. Ihnen gefolgt wären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ordneten der FDP) Wir haben Fehler gemacht. Aber nur durch uns sind Sie haben damals von einem dritten Weg gespro- große, nicht wieder gutzumachende historische Feh- chen. Es gibt bei Ihnen schon jetzt wieder Leute, die ler vermieden worden. Deswegen sage ich Ihnen: sagen, es sei auch eine Chance, daß der reale Sozia- Meine Partei ist stolz darauf, in einer zentralen Frage lismus gescheitert sei; denn jetzt könne man wieder der deutschen Politik nicht versagt, sondern die rich- über die Utopie sprechen und sozusagen einen näch- tigen historischen, politischen Entscheidungen getrof- sten Anlauf machen. Nein, Sie sind nicht gewählt wor- fen zu haben. den, weil Sie in der damaligen Auseinandersetzung (Beifall bei der CDU/CSU — Ministerpräsi die Distanz zum Sozialismus nicht glaubwürdig einge- dent Björn Engholm [Schleswig-Holstein] halten haben. wird von Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste] beglückwünscht — Zurufe von der (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Oh!) SPD: !) — Jetzt nimmt er schon die Glückwünsche von Herrn — Ich kenne natürlich auch Hamburg. Aber jetzt re- Gysi entgegen. Ich dachte, diese Zeiten wären vor- den wir doch über Ihre Behauptung, wir hätten uns bei. den Wahlsieg erschlichen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der SPD) Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können es Deswegen sage ich Ihnen, warum wir diese histori- nicht lassen! — Dr. Hans-Jochen Vogel schen Bundestagswahlen gewonnen haben. [SPD]: Sowas mieses!) Die Wähler haben sich drittens für die- Union ent- schieden, weil sie ihr als Partei der Sozialen Markt- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter wirtschaft am ehesten zutrauten, mit den ungeheuren Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Problemen der deutschen Einheit fertig zu werden. neten Duve? (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr glaubwürdig!) Volker Rühe (CDU/CSU): Bitte, ja. Auch die Menschen in den neuen Bundesländern wußten doch, daß Sie 1982 abtreten mußten, weil Sie Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Rühe, stimmen mit den wirtschaftlichen Problemen des westlichen Sie mir darin zu, daß es guter parlamentarischer Deutschlands nicht fertig wurden. Brauch ist, daß man sich, wenn jemand, der Mitglied des deutschen Parlaments ist, einem seinen Glück- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wunsch ausspricht oder irgend etwas sagt, mit ihm ordneten der FDP — Wolfgang Roth [SPD]: unterhält und daß es ein schlechter parlamentarischer Deshalb hat Helmut Schmidt einen so guten Stil ist, wenn man dies zur politischen Propaganda Ruf!) mißbraucht, wie Sie es soeben getan haben? Warum sollte man ausgerechnet Ihrer Partei, die mit (Beifall bei der SPD) der Luxussituation hier im Westen, die man potentiell schaffen kann, nicht fertig wird, zutrauen — auch (CDU/CSU): Es ist guter parlamentari- heute noch —, mit den Wirtschaftsproblemen und den Volker Rühe scher Stil, wenn Herr Engholm, mit dem ich ja hier sozialen Problemen Gesamtdeutschlands fertig zu argumentiere, zuhört. Sich von Herrn Gysi gratulieren werden? Das war doch der Punkt. lassen kann er auch noch später. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Auch die Regierungskoalition hat Fehler gemacht. ordneten der FDP — Widerspruch bei der Das haben wir deutlich gemacht. Die Kosten zur Be- SPD) seitigung der Erblast des Sozialismus sind falsch ein- Wir sind als CDU stolz darauf, das Ziel erreicht zu geschätzt worden. Es wäre aus heutiger Sicht richtig haben, mit dem wir 1982 angetreten sind: Frieden gewesen, die Frage einer möglichen Steuererhöhung schaffen mit weniger Waffen. — Gegen den erbitter- offenzulassen. ten Widerstand der SPD und ihrer Sympathisanten haben wir den NATO-Doppelbeschluß in der Bundes- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Hört! Hört!) republik durchgesetzt und damit den Weg frei ge- Aber jetzt lassen Sie uns einmal über die Fehler spre- macht für ein Umdenken in der sowjetischen Führung chen, die vermieden worden sind. und einen internationalen Abrüstungsprozeß ohne Beispiel. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das war ein bißchen schnell, Herr Kollege!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben einen entscheidenden Fehler nicht ge- Die reale Abrüstung, die heute auf Grund des Ab- macht. Als sich die historische Chance zur Einheit bot, baus der politischen Spannungen in Europa möglich da haben wir entschieden gehandelt, während Sie auf ist, geht weit über die kühnsten Träume hinaus, die Verzögerung und Langsamkeit setzten. Heute wissen manche Anfang der 80er Jahre gehabt haben. wir: Wir hätten diese historische Chance verpaßt, wir (Zuruf von der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2071

Volker Rühe Die Sozialdemokraten haben den Wunsch nach —Wir haben Herrn Engholm auch nicht durch Fragen Wiedervereinigung lange Zeit als eine Belastung un- unterbrochen. seres Verhältnisses zu den europäischen Nachbarn (Norbert Gansel [SPD]: So geht man nicht mit angesehen. — Wir sind stolz darauf, das große Ziel der Zitaten um, Herr Rühe!) deutschen Einheit mit den Nachbarn erreicht zu ha- — Sie können ja fragen, wenn ich es im Zusammen- ben. Deutsche Einheit und europäische Einheit — das hang vorgetragen habe. gehört zusammen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gansel, wenn der FDP) Sie einen Augenblick warten! Sie erhalten gleich das Wir sind schließlich auch stolz darauf, einen wesent- Wort als Fragesteller. lichen Beitrag dazu zu leisten, die Spaltung Europas zu überwinden und den jungen Demokratien im Volker Rühe (CDU/CSU): Richard Schröder, der Osten die Heimkehr nach Europa zu erleichtern. Vorsitzende der SPD in der , hat in ei- nem Artikel in der „Zeit" unter der Überschrift „Ohne Das sind natürlich nicht alles Erfolge allein unserer Unrecht in Frieden leben" folgendes gesagt: Politik. Das mindeste, was eine Rechtsgemeinschaft ga- (Freimut Duve [SPD]: Ist nicht wahr?!) rantieren muß, ist das Existenzrecht ihrer Mitglie- Ohne den Prozeß tiefgreifender politischer Wandlun- der, und zwar nicht nur der edlen und mächtigen. gen in Europa hätten wir das so nicht erreichen kön- Saddam Hussein hat ein Mitglied der Staatenge- nen. Aber wahr ist auch: Ohne die klaren politischen meinschaft liquidiert, was auf individualrechtli- Grundsätze, die von Konrad Adenauer bis Helmut cher Ebene dem Mord entspricht. Wenn dies un- Kohl für die CDU immer verbindlich waren, wäre all gestraft möglich ist, dann allerdings haben wir dies nicht erreicht worden. Deswegen sind wir stolz Grund zur Resignation. Kuwait hat innenpoliti- auf dieses Ergebnis unserer Politik. - sche Reformen nötig. Aber das ist eine andere Frage. Auch im Völkerrecht muß Euthanasie ver- (Beifall bei der CDU/CSU) boten sein. Herr Engholm, Sie haben in vielen Punkten sehr Mich würde interessieren, ob Sie hinter dieser Aus- vage gesprochen. Deswegen möchte ich jetzt eine sage von Richard Schröder stehen. Ich kann nur voll Reihe von sehr konkreten Fragen an Sie richten. Sie unterstreichen, was dieser Sozialdemokrat gesagt haben sich z. B. dem ganzen Feld der Außen- und hat. Sicherheitspolitik überhaupt nicht gewidmet. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge weiß nicht, wie man eine so große Volkspartei anfüh- ordneten der FDP) ren will, wie man den Anspruch auf Regierungsver- antwortung stellen kann, ohne daß man im Deutschen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Bundestag klipp und klar über die Fragen der Außen- Rühe, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage? und Sicherheitspolitik Auskunft gibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Volker Rühe (CDU/CSU): Ja. ordneten der FDP) Sie sind ja schon in der Golfkrise und im Golfkrieg Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gansel! durch große Schweigsamkeit aufgefallen. Norbert Gansel (SPD): Herr Kollege Rühe, würden (Zuruf der Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin Sie bitte erstens zur Kenntnis nehmen, [SPD]) (Zuruf von der CDU/CSU: Keine Frage!) Herr Gansel hat auf dem Parteitag gesagt: Wenn man daß ich das von Ihnen zitierte Wort über den Unter- einem blutigen Diktator militärisch in den Arm zu fal- schied zwischen moralischer und moralisierender Po- len versucht, und andere stehen dann beiseite — ist litik auf dem Bremer SPD-Parteitag im Zusammen- das moralisch, oder ist das moralisierend? — Er hat für hang mit der Diskussion über Blauhelme, also über sich die Antwort gegeben: Das ist moralisierend. friedenserhaltende Missionen der UNO, gesagt habe? (Zurufe von der SPD) Zweitens. Wenn es Ihnen darum geht, einem Diktator in den Arm zu fallen, warum haben dann die Regie- Richard Schröder, der frühere Vorsitzende der SPD rungsparteien nicht während des Golfkriegs im Bun- Fraktion in der Volkskammer, hat in einem Artikel destag eine Verfassungsänderung beantragt, um un- (Abg. Norbert Gansel [SPD] meldet sich zu ter der Führung der Ame rikaner auf der Grundlage einer Zwischenfrage) von UNO-Beschlüssen mit deutschen Soldaten und deutschen Wehrpflichtigen am Golfkrieg beteiligt zu — lassen Sie es mich einmal im Zusammenhang dar- sein? Warum stellen Sie diese Frage erst jetzt? stellen — (Norbert Gansel [SPD]: Sie haben mich ange- Volker Rühe (CDU/CSU): Das ist ja wohl unglaub- sprochen!) lich, angesichts Ihres Verhaltens in der Golfkrise, wo in der „Zeit" — — Sie es uns unmöglich machen wollten, ein Mindest- maß an Solidarität mit den Verbündeten zu wahren, (Norbert Gansel [SPD]: Sie haben mich und wo Sie gegen jede Zahlungen an die Verbünde- falsch zitiert, Herr Kollege!) ten waren, jetzt eine solche Frage aufzuwerfen. Es war 2072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe doch beschämend, wie Sie sich damals verhalten ha- Besonders überrascht hat mich die Bemerkung über ben. das Buch von Konrad Seitz. Da ich das Buch selber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelesen habe und auch viel mit dem Verfasser gespro- chen habe, freue ich mich zunächst einmal, daß Sie es Im übrigen hat sich die Blauhelmdiskussion doch aus ansprechen. Daß aber ausgerechnet Sie uns Japan als der Situation des Golfkrieges ergeben. Vorbild hier vorhalten, wo Sie ansonsten für die 35- Herr Gansel, wir waren doch zusammen in Israel. Stunden-Woche und ähnliches eintreten, dazu kann Deswegen ist es so beschämend, daß dazu kein Wort ich nur sagen: Sie haben ein weites Feld der Arbeit in von Björn Engholm gekommen ist. Es kommt doch Ihrer Partei, um dort die Japaner als unser Vorbild darauf an, konkrete Friedenspolitik zu machen. Das durchzusetzen. heißt: Wie bekommt der Israeli in den Wohnungen (Beifall bei der CDU/CSU) und Straßen von Tel Aviv seinen Frieden vor den Scud-Raketen? Den bekommt man doch nicht durch Ich frage Sie: Wie stehen Sie zu dem Industrie- Moralisieren und durch Schweigen; das wissen Sie standort Bundesrepublik in Europa? Wir wollen, daß doch ganz genau. Es geht doch um konkrete Frie- durch die staatlichen Rahmenbedingungen deutsche denspolitik. Unternehmen nicht schlechtergestellt sind als ihre Konkurrenten in den europäischen Nachbarstaaten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Deswegen, Herr Engholm, frage ich Sie ganz konkret: Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist Wie stehen Sie zu Plänen, die Wettbewerbsfähigkeit doch unglaublich, was Sie da sagen! Sie lü unserer Industrie und damit auch die Arbeitsplätze in gen schon wieder! Moralisch abqualifi Deutschland durch eine Reform der Unternehmens- ziert!) besteuerung zu sichern? Auch dazu muß ein Wort Lafontaine hat im vergangenen Jahr, unwiderspro- kommen, wenn Ihnen die Wettbewerbsfähigkeit am chen von der Parteiführung, gefordert, daß die Bun- Herzen liegt. deswehr auf 200 000 bis 230 000 Mann -verkleinert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird. Sie haben auf Ihrem SPD-Parteitag jetzt sogar beschlossen, langfristig alle Streitkräfte überflüssig zu Sie haben dann über das Asylproblem gesprochen. machen. Herr Engholm, ich frage Sie: Stehen Sie zu Es gibt eine größere und wachsende Zahl von sozial- einer Bundeswehr in einer Größenordnung von demokratischen Bürgermeistern, die begreifen, daß es 370 000 Mann? Stehen Sie zu dem Auftrag der Bun- mit dem Mißbrauch des Asylrechts so nicht weiterge- deswehr, zu unseren Streitkräften? Auch dazu hätte hen kann. Aber auch dazu gibt es von Ihnen keine ich mir ein Wort gewünscht. konkreten Angebote, sondern nur eine leere Formel: Wir brauchten ein modernes Einwanderungsrecht. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Nur wenn es um Stationierung vor Ort geht, dann ja!) Nun frage ich Sie, Herr Engholm: Was meinen Sie damit? Meinen Sie, daß wir Quoten einführen sollen Wie sehen Sie die Rolle der NATO? und Ausländer nur quotiert in unser Land kommen (Freimut Duve [SPD]: Ist das wirklich die sollen, oder sind Sie mit uns der Meinung, daß wir eine Rede eines führenden CDU-Politikers?) Grundgesetzänderung brauchen, um den Asylmiß- brauch abzuwenden und gemeinsam mit unseren eu- In dem Beschluß, den Sie auf Ihrem Parteitag gefaßt ropäischen Nachbarn Standards zu schaffen? haben, kommt die NATO nur im negativen Sinne vor. Es wird der Abzug aller Ame rikaner gefordert, und es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wird davor gewarnt, daß aus der NATO ein Bündnis ordneten der FDP) Nord gegen Süd wird. Mit einer solchen Formel „modernes Einwanderungs- Für uns bleibt die NATO die Grundlage unserer recht" — alles, was modern ist, ist ja gut — werden Sie Sicherheit. Dort schaffen Ame rikaner und Europäer nicht durchkommen. Sie müssen hier Farbe beken- die gemeinsame Sicherheit, die wir auch in Zukunft nen, was Sie wirklich wollen. brauchen. Es gibt kein Wort von Ihnen, wie Sie zu Ich finde, wir hätten auch ein Wort von Ihnen zur dieser Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft Verfassungsdiskussion gebraucht, denn hier gibt es stehen. sehr weitreichende Vorstellungen in Ihrer Partei. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben sich zur Volksabstimmung in der Frage des Regierungssitzes bekannt. Ich muß Ihnen sagen: Das Wir wollen den raschen Aufbau in den neuen Bun- ist eine Politik, die unser Land zutiefst spalten würde. desländern. Sie haben es selbst angesprochen, daß Deswegen unterstütze ich alle diejenigen, die sich um wir wenig Zeit haben. Der Verkehrsminister hat un- einen Konsens bemühen, damit es am 20. Juni hier in konventionelle Wege vorgeschlagen, diesem Raum eine befriedende Lösung gibt. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — damit schneller gebaut werden kann. Sie wissen, was Manfred Opel [SPD]: Sie stört das Volk offen- das auch für Schleswig-Holstein bedeutet. Ich frage sichtlich!) Sie ganz konkret, Herr Engholm: Wie stehen Sie zu einem Beschleunigungsgesetz? Wie stehen Sie dazu, Wir müssen die Verfassung europatauglich machen. daß wir bürokratische Hürden abschaffen müssen, um (Wolfgang Roth [SPD]: Ist die Schweiz zu- schnell Fortschritte für unsere Mitbürger zu errei- tiefst gespalten?) chen? — Wer uns mit der Schweiz vergleichen will — von der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Größenordnung her — und wer im übrigen die Pro- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2073

Volker Rühe blerne dort nicht sieht, der hat nicht begriffen, was wir neuen Bundesländern gibt, die sehr problemgeladen uns aufladen würden, wenn wir plebiszitäre Elemente ist. in unsere Verfassung einführten. Ich finde, wir müssen uns mit der Frage auseinan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dersetzen, ob wirklich der Vergleich zwischen Dres- den und Köln, Rostock und München überhaupt legi- Wir haben eine gute Verfassung, eine Verfassung, tim ist. Wer heute solche Vergleiche anstellt, verbin- die nach innen und außen Stabilität und Vertrauen det doch damit die Erwartung, daß bereits im Jahr 1 signalisiert. Deswegen auch die Frage an Sie: Wollen des wiedervereinigten Deutschland die Spuren von Sie eine ganz andere Verfassung? Wollen Sie dort z. B. 40 Jahren gescheitertem Sozialismus beseitigt sind. Rechte hineinschreiben wie das Verfassungsrecht auf Eine solche Betrachtungsweise ist doch unrealistisch Arbeit und andere, die nur ein Staat garantieren und für die politische Diskussion nicht brauchbar. könnte, der auch wirklich über die Produktionsmittel verfügt? Der richtige Vergleichsmaßstab für die Lage in den neuen Ländern findet sich in der Gegenüberstellung (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Du lieber mit den anderen ehemals sozialistischen Staaten. Und Gott, nein!) dann müssen Sie feststellen: Es gibt einen gewaltigen Wer heute eine ganz neue Verfassung fordert, Fortschritt in Deutschland. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: „Neue (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Republik" haben die gesagt!) Umfragen zeigen, daß die Hoffnung zunimmt. Der der muß sich fragen lassen, ob er nicht in Wirklichkeit wirtschaftliche Strukturwandel ist in Gang gekom- auch eine ganz neue Gesellschaftsordnung, einen men. Über 1 600 Betriebe wurden bereits privatisiert. ganz neuen Staat fordert. Das kann nicht unser Ziel Seit Anfang 1990 sind rund 350 000 Bet riebe, vor al- sein. lem im Dienstleistungsbereich und im Handwerk, neu entstanden, ferner 2 Millionen neue Beschäftigungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verhältnisse im Zeitraum November 1989 bis zum Die Wirtschafts- und Währungsunion ist vor weni- heutigen Tage. Allein in diesem Jahr 50 Milliarden ger als einem Jahr in Kraft getreten. Die deutsche Ein- DM öffentliche Investitionen zur Modernisierung der heit wurde vor acht Monaten vollzogen. Ich finde, es Infrastruktur. Ich meine, alle diese Zahlen stehen ist wichtig, in dieser Situation den Menschen in den eben auch für eine Wende zum Besseren. neuen Ländern auch Mut und Zuversicht zu vermit- Erstmals nehmen auch die Rentner an einem teln, gegen Resignation und Zukunftsangst anzuge- System des dynamischen Fortschritts teil. Norbert hen. Deshalb möchte ich ausdrücklich den sächsi- Blüm hat es hier vorgestern angesprochen: Innerhalb schen Bischöfen danken, die in der Woche vor Pfing- von 12 Monaten sind die Renten im Schnitt um 66 % sten gemeinsam festgestellt haben: gestiegen. Deswegen möchte ich angesichts der An- Die bereits gewonnene Freiheit, die wachsende griffe, die auch vorgestern wieder gegen Norbert Einheit und die demokratische Grundordnung Blüm gefahren worden sind, sagen: Wir sind dem Ar- sind bei weitem wertvoller als der noch nicht er- beitsminister, der sich von der ersten Minute an mit reichte wirtschaftliche Aufschwung. heißem Herzen für die Wiedervereinigung und auch für die soziale Einheit in Deutschland eingesetzt Ich finde, das sollte ein Satz sein, der von allen Par- hat, teien in diesem Parlament mitgetragen wird. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat denn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Sozialunion gemacht?) bei Abgeordneten der SPD) für die großen Erfolge dankbar, die er hier bereits Die Wiederherstellung der Einheit hat allen Deut- durchgesetzt hat, z. B. für die Rentner. schen Vorteile gebracht. Unfreiheit, Unrecht und Tei- lung wurden überwunden. Aber wir sollten — und wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind dazu bereit — in der Diskussion, die wir führen, Die Sozialdemokraten — ob es ihnen gefällt oder nicht den Fehler machen, je nach parteipolitischem nicht — Standpunkt die Realität entweder in Rosarot oder in (Freimut Duve [SPD]: Ihre Rede ist weit mehr Tiefschwarz zu beschreiben, wobei sich das ohnehin heiße Luft als Substanz!) überkreuzt: die Roten schwarzmalen und die Schwar- zen rosarot. Das ist nicht überzeugend. Probleme dür- müssen sich entscheiden: Wollen Sie an dem schwie- fen nicht verniedlicht werden, aber Erfolge auch nicht rigen Aufbau in den neuen Bundesländern konstruk- unterschlagen werden. tiv mitarbeiten, oder wollen Sie auf den Marktplätzen die Krise schüren? Sie müssen sich entscheiden: Wol- Wer von Kosten und Lasten redet, der sollte gerech- len Sie Mut machen, oder wollen Sie miesmachen? terweise auch von den Chancen und den Erträgen Und Sie müssen sich auch entscheiden, ob Ihre Sym- sprechen. Die Fakten, die es schon heute auf der Ha- pathie dem Eierwerfer von Halle oder den Menschen benseite einer Zwischenbilanz gibt, dürfen nicht un- gehört, die anpacken und versuchen, die Wende zum terschlagen werden. Besseren in Deutschland wirklich herbeizuführen. Später wird auf die sehr gute wirtschaftliche Situa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tion im Westen hingewiesen werden, auf den höch- sten Beschäftigungsstand seit Kriegsende. Das ändert Es gibt in Ihren Reihen ganz interessante Vorgänge: nichts daran, daß es eine tiefe Anpassungskrise in den Der Ministerpräsident von , Herr Stolpe, 2074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe hat sich auch in dieser Woche wieder lobend dahin auch nicht reibungslos zu bewältigen. Es gibt an den geäußert, wie vernünftig die Politik für die Herstel- Universitäten der neuen Länder — übrigens nicht nur lung der inneren Einheit Deutschlands sei, welche dort — sicherlich mehr als 10 000 Werke, in denen die Fortschritte es gegeben habe und daß es nicht um Umwandlung einer „kapitalistischen" Wirtschaft in zusätzliche Vorschläge gehe, sondern jetzt darauf an- eine sozialistische beschrieben wird. Aber weltweit komme, die schon gemachten Vorschläge auch umzu- existiert — das ist meine Behauptung — nicht ein ein- setzen. ziges wissenschaftliches Werk, das den umgekehrten Weg beschreiben würde. Auf Ihrem Parteitag hat er ganz anders geredet. Das will ich ihm einmal einen Moment lang nicht vorwer- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: So ist fen. Viel interessanter ist, was man sagen muß, um auf es!) einem SPD-Parteitag gewählt zu werden. Das ist doch das eigentlich Interessante daran. Wir alle betreten hier Neuland. Es wäre doch absurd, daraus einen politischen Vorwurf zu konstruieren (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so oder gar die Behauptung aufzustellen, man verfüge wie bei Abgeordneten der FDP) über andere und neue Rezepte, die schneller und bes- Es ist schon bestürzend, daß ein Mann, der zwölf Mo- ser zum Ziel führen würden, als wir uns das vorge- nate — darauf beruht ja auch seine Popularität; ich nommen haben. schätze ihn sehr, ich kenne ihn lange — die Wahrheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesagt hat, Herr Engholm, nämlich daß es Fortschritte gibt, daß die Politik der Bundesregierung völlig richtig Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern ist — er hat mir wörtlich gesagt, als ich ihn besucht wird oft mit dem Aufbau in den 50er Jahren in der habe: Die Lage ist weit besser als die Stimmung —, alten Bundesrepublik verglichen. Richtig an diesem das Kreuz hat, zu Ihrem Parteitag gehen zu müssen Vergleich ist, daß der Aufschwung auch damals nicht und sich dort wählen zu lassen. Und dort sagt er genau über Nacht gekommen ist. Es bedurfte damals mehre- das Gegenteil dessen, was er sonst gesagt- hat. Das rer Jahre harter Arbeit, bis ein erster bescheidener sagt nichts gegen Stolpe, aber das sagt alles gegen die Wohlstand erreicht worden war. Aber wie ungleich Art der Diskussion in Ihrer Partei. Denn Stolpe ist sind doch die Rahmenbedingungen, unter denen sich schnell wieder zu seinen alten Aussagen zurückge- der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß heute kehrt. vollzieht. Während der Marshallplan — es ist eine ganz wichtige Zahl, die ich jetzt nenne, und die Älte- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ren werden sich genau daran erinnern, und die Jün- Freimut Duve [SPD]: Das war ein gewaltiger geren müssen das wissen — für jeden Einwohner im rhetorischer Sieg, den Sie da gerade errun Westen Deutschlands seinerzeit 800 DM vorsah, sind gen haben! — Dr. Herta Däubler-Gmelin es heute 6 100 DM pro Bürger in den neuen Bundes- [SPD]: Salto mortale rückwärts!) ländern, die im Rahmen des Gemeinschaftswerkes Ich denke aber, über einen Punkt sollte es zwischen Aufschwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Ich Demokraten keinen Dissens geben: Der Weg in finde, das ist ein historisch bedeutender Einsatz, der Deutschlands gemeinsame Zukunft kann mit den Re- sich auch in dieser historischen Perspektive sehen las- präsentanten des alten SED-Regimes nicht gelin- sen kann. gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich- Ich weiß natürlich, daß heute psychologisch eine tig!) schwierigere Situation gegeben ist; denn damals ha- Dem demokratischen Neubeginn muß auch eine per- ben alle bei Null angefangen. Es ging sozusagen allen sonelle Erneuerung entsprechen, in einem Land gleich schlecht. Es ist ein psychologi- sches Problem, das wir heute haben. Trotzdem sollten (Zuruf von der SPD: Auch bei Ihnen!) wir, was diesen materiellen Einsatz der Solidarität damit sich die Opfer von einst nicht ein zweites Mal angeht, auf diesen historischen Vergleich hinwei- betrogen fühlen müssen. Wer sich im SED-Staat in sen. führender Position schuldig gemacht hat, muß nach Ich kann keine neuen Vorschläge der Sozialdemo- rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Verantwortung ge- kraten entdecken. Herr Stolpe, vorhin zitiert, hat ge- zogen werden. sagt: Jetzt sind wir dran, die politisch Verantwortli- (Zustimmung bei der CDU/CSU) chen in den neuen Bundesländern. Was nützt es uns, wenn wir noch mit weiteren Investitionsmitteln zuge- Wir wollen keinen kurzen Prozeß; aber gutes Recht schüttet werden, wenn wir sie nicht umsetzen kön- muß auch schnelles Recht sein. Es darf nicht der Ein- nen? — Das ist eine richtige Aussage. druck entstehen, daß der Staat vor denen kapituliert, die in der Vergangenheit vom Unrecht profitiert ha- Herr Engholm, in Ihrer Rede hat die Solidarität als ben. Begriff eine große Rolle gespielt. In der Tat ist es die Pflicht zur Solidarität, die uns diese große finanzielle (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich Kraftanstrengung machen läßt: 90 Milliarden DM al- tig!) lein in diesem Haushalt für die neuen Bundesländer. Es ist wahr: Die Herstellung der inneren Einheit Aber wir müssen uns doch einmal mit der Frage be- Deutschlands, also die Angleichung der Lebensver- schäftigen, warum wir materiell zu dieser ungeheuren hältnisse, ist die entscheidende Aufgabe, an der wir Solidarität überhaupt in der Lage sind. Die Antwort alle gemessen werden. Sie ist nicht kurzfristig und ist: nur weil wir eine richtige Wirtschafts- und Finanz- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2075

Volker Rühe politik durchgeführt haben und damit überhaupt erst — Wenn es dann konkret wird, sehen wir mal wei- die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß wir ter. teilen können. Ansprüche an Leistungen des Staates, die in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alten Bundesrepublik gut begründet und geboten wa- ren, müssen unter den neuen Bedingungen der Ein- Es ist richtig, daß wir teilen müssen; doch wir können heit überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden, heute nur teilen, weil wir ein Finanzvolumen erwirt- wenn neue Prioritäten notwendig sind. schaftet haben durch die erfolgreiche Wirtschaftspoli- tik hier im Westen in den vergangenen Jahren, das Das gilt für die Besitzstände aller sozialen Gruppen, uns materiell zur Solidarität fähig gemacht hat. Herr Engholm, auch im Bereich von Steuervergünsti- gungen und Subventionen. Ich halte es für nicht ver- Was ich Ihnen sagen möchte, ist: Solidarität wäre tretbar, im geeinten Deutschland auf Dauer Einzel- ein bloßes Wort, wenn Ihre Wirtschaftspolitik fortge- gruppen in den alten Ländern mit Beiträgen und Sub- setzt worden wäre. Deswegen verwahre ich mich ge- ventionen zu privilegieren, die weit größer sind als die gen das Wort von der Holzklasse, die wir auf Dauer in Mittel des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Deutschland einrichten wollten. Es kommt nicht dar- auf an, von Solidarität zu sprechen, sondern darauf, Ich glaube, daß alle gefordert sind zu zeigen, ob sie eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik zu wirklich bereit sind, die alten Ausgabenstrukturen zu machen, damit wir in der Lage sind, zu teilen, damit überprüfen, oder ob sie eine Politik der verbalen Soli- wir in der Lage sind, die Holzklasse zu beseitigen. Das darität mit den neuen Bundesländern betreiben und ist die richtige Politik. im übrigen sagen: Aber bitte im Ruhrgebiet und an- derswo im Westen nichts Neues. Mit dieser Formel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „Im Westen nichts Neues" werden wir es nicht schaf- fen. Sie werden daran gemessen werden, inwieweit Was wollen Sie denn verteilen? Es wird zu Recht Sie bereit sind, mit uns zusammen diesen Weg zu davon gesprochen, daß man von West nach Ost um- gehen. verteilen muß. Das ist ja auch Ihr großes Thema. Nur, wenn es nichts gibt, wenn Sie keine Erfolge in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wirtschaftspolitik haben wie 1982, könnten Sie gar Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Bundespar- nicht teilen. Das wollen wir unseren Mitbürgern sa- teitag gesagt, die Zeit sei reif für eine gemeinsame gen. Die Voraussetzung für das Teilen ist, daß man in Rolle Europas auf der Bühne der Welt; jetzt müsse der Wirtschaftspolitik Erfolg hat. Deswegen gehören Deutschland uneingeschränkt ja sagen zu Europa. wirtschaftliche und soziale Kompetenz einer Regie- rung in einen unlösbaren Zusammenhang. Nur in ei- Ich muß Ihnen sagen: Wer so redet, dann aber den ner leistungsfähigen Wirtschaft kann soziale Gerech- europäischen Nachbarn die Solidarität verweigert tigkeit garantiert werden. Diesen doppelten Kompe- und sagt „Wenn es einmal um die Existenzfrage der tenznachweis sind die Sozialdemokraten schuldig ge- Europäer geht, dann macht ihr das bitte allein" , ist blieben. europaunfähig. Das sind Sie in Wirklichkeit mit Ihren Beschlüssen zur Außen- und Sicherheitspolitik. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zu die- sem Thema machen. „Im Westen nichts Neues", (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans-Jo- chen Vogel [SPD]: Sie können ja nicht mal (Manfred Opel [SPD]: Bei Rühe auch einen Ausschuß auf die Beine bringen!) nicht!) Mich hat besonders eine Aussage von Herrn Lafon- das ist ein berühmter Romantitel. Als Überschrift über taine auf Ihrem Bundesparteitag im Zusammenhang das Buch unserer gemeinsamen Zukunft eignet sich mit der Diskussion über die neue weltpolitische Ver- dieser Satz aber nicht. Ich meine das sehr ernst. Das ist antwortung des wiedervereinigten Deutschlands be- ein Appell an alle, die aus dem Westen kommen. Des- stürzt. Lafontaine — das ist noch viel zuwenig beach- halb ist es unsere Aufgabe, das Bewußtsein dafür zu tet worden — hat folgendes gesagt: Andere hätten schaffen, daß das Gemeinsame in Deutschland eben Angst, zu Opfern zu werden; die Deutschen müßten auch etwas Neues ist, daß dieses Neue auch neues Angst haben, wieder zum Täter zu werden. Denken und Umlernen erforderlich macht. Ich muß Ihnen als Vertreter einer mittleren Genera- Angesichts der Dimension der Aufgaben, die zu tion, der sein gesamtes bisheriges politisches Leben bewältigen sind, muß grundsätzlich geprüft werden, und seinen Einsatz der Stabilität dieser deutschen zu welchen Konsequenzen die gegenwärtigen Mehr- Demokratie gewidmet hat, sagen: Es ist unglaublich, belastungen der öffentlichen Haushalte führen müs- welches Mißtrauen gegenüber der neuen deutschen sen. Eine höhere Verschuldung sowie eine weitere Demokratie, gegenüber uns Deutschen aus diesem Belastung des Steuerzahlers können nicht in Betracht Satz spricht. kommen, solange nicht alle Möglichkeiten von Ein- sparungen und Umschichtungen auch ausgeschöpft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß Es ist unglaublich, daß Franzosen und Engländer wir doch noch keine gemeinsame politische Tages- mehr Vertrauen zu dieser neuen deutschen Demo- ordnung in Deutschland haben. Im geeinten Deutsch- kratie haben als Herr Lafontaine und die Sozialdemo- land müssen die Maßstäbe für staatliche Ausgaben kratie, wenn sie hinnimmt, daß ein solcher Satz gesagt neu gesetzt werden. wird. (Manfred Opel [SPD]: Ja, macht das doch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe Ich empfinde das auch als einen persönlichen An- schen Partei gehalten haben — ich hatte gestern zum griff auf alle, die wirklich diese großartige Chance der zweitenmal Gelegenheit, Ihnen dazu meinen persön- neuen deutschen Demokratie genutzt haben. Diejeni- lichen Glückwunsch auszusprechen — , hat sich vom gen, die noch als Soldaten, als ganz junge Flakhelfer Stil her angenehm abgehoben von dem, was wir hier in den Krieg mußten — meine Lehrer, die ich in den in der letzten Zeit von anderen sozialdemokratischen 50er Jahren hatte, waren in einer solchen Situation —, Ministerpräsidenten gehört haben. haben uns alle dazu gebracht, politische Verantwor- Am Schluß Ihrer Rede haben Sie die Ziele für ein tung zu übernehmen. Diesem Deutschland kann man Deutschland in etwa zehn Jahren formuliert. Herr trauen. Man darf ihm nicht auf Dauer mißtrauen. Wir Engholm, wer wollte Ihnen da nicht zustimmen? In haben ein Recht auf Vertrauen, auch ein Recht auf diesem Punkt ist nicht viel zu bestreiten. War es aber Normalität. Das müssen die Sozialdemokraten begrei- nicht ein wenig so wie schon in Bremen? Wir haben fen. uns sehr bemüht, auf das Konkrete, auf die Umset- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zung, auf die Markierung der Schritte auf dem Wege Im übrigen gilt — Herr Lamers hat es vor kurzem zur Erreichung dieses Ziels zu hören. So sehr viel gesagt — : Die Berufung auf die Schuld in der Vergan- haben Sie dazu aber auch heute wieder nicht gesagt. genheit dispensiert nicht von der Verantwortung in Eine Volksabstimmung wird dazu nur wenig beitra- der Gegenwart. Die Sehnsucht nach schuldfreiem gen. Im Gegenteil! Glauben Sie, daß eine Volksab- Handeln darf nicht zur Flucht in die Scheinidylle füh- stimmung, die frühestens im nächsten Jahr stattfinden ren. Schuldig werden kann auch, wer sich verwei- kann, zusammen mit einer Auseinandersetzung, die gert. dem vorhergehen und an einen bitteren Wahlkampf erinnern wird, zu mehr Toleranz und mehr — — (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr rich tig!) (Zuruf von der SPD: Warum eigentlich?) Haben Sie noch die Bilder von den Leichen vor — Weil es so sein wird! Wir erleben die Diskussionen Augen, die man in Kuwait in den Kühlschränken- ge- doch heute schon. Machen wir die Augen vor dem zu, funden hat? Wissen Sie noch, was mit denen gesche- was dann passieren wird? Wir erleben es doch jeden hen war? Sind nicht auch diejenigen, die zugewartet Tag. Wie können Sie dann noch fragen, warum? Sind und gesagt haben „Wir machen da nichts!" Täter, die Sie nur selten in Bonn oder selten im Parlament und eine Mitschuld gegenüber diesen Opfern haben? Man nehmen an der Diskussion nicht teil? Ich glaube, das kann auch durch Nichthandeln schuldig werden. Das kann für uns nicht sehr hilfreich sein. ist doch wohl eindeutig. Sie sind einigermaßen konkret geworden, als es um (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Länderfinanzen ging. Das ist Ihr gutes Recht als Wer hat denn das Morden in den deutschen Konzen- Ministerpräsident. Ich werde darauf noch zurückkom- trationslagern gestoppt? Doch wohl nicht Demon- men. Ich frage Sie aber, ob es auch Ihr gutes Recht im stranten mit einer zutiefst moralischen Position in Lon- Hinblick auf den Einigungsprozeß in Deutschland ist. don und New York, sondern Soldaten der Alliierten Sie haben interessanterweise das Buch von Konrad haben das Morden in den Konzentrationslagern in Seitz zitiert und auf das japanische Beispiel hingewie- Deutschland gestoppt und den Aufbau einer neuen sen. Meiner Ansicht nach kommen Sie damit aber elf Demokratie in Deutschland ermöglicht. Sie aber wol- Jahre zu spät, wie Sie wissen. Das habe ich nämlich len sich in einer Situation, in der es darum geht, inter- schon im Jahre 1980 unter lebhaftem Protest Ihrer Par- nationales Recht wiederherzustellen, grundsätzlich teifreunde getan. verweigern? Das ist doch nicht nachvollziehbar. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — CDU/CSU — Wolfgang Roth [SPD]: Indu- Freimut Duve [SPD]: Wovon sprechen Sie ei- striepolitik haben Sie immer abgelehnt! MITI gentlich?) haben Sie immer abgelehnt! Erzählen Sie Im Augenblick haben Sie zwar Erfolge in den Län- doch keine Märchen!) dern, aber ich glaube, daß das, was in Bremen zur — Das lehne ich auch heute noch ab, damit wir ganz Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur Außen- und Sicher- klar sind. heitspolitik gesagt oder nicht gesagt worden ist, zeigt, daß Sie noch einen sehr, sehr langen Weg zur Regie- (Wolfgang Roth [SPD]: Aber der Seitz fordert rungsfähigkeit auf Bundesebene vor sich haben. Das es!) ist auch gut so. — Ich habe ja nicht gesagt, daß ich die Vorschläge von Vielen Dank. Herrn Seitz übernehme und unterstütze. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Wolfgang Roth [SPD]: Ja eben! Machen Sie der FDP) doch keinen Eiertanz!) Ich habe gesagt, daß ich auf das japanische Beispiel Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der und die dort erwirtschafteten Ergebnisse schon vor elf Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff. Jahren hingewiesen habe, und zwar unter lebhaftem Streit, damals wohl auch schon mit Ihnen, Herr Roth, Herr Berater Roth. o Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin! Dr. Ott (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Engholm, die erste Rede, die Sie hier in Ihrer neuen Meine Damen und Herren, das, was Herr Engholm Eigenschaft als Vorsitzender der Sozialdemokrati- heute gesagt hat, hat mich auch ein wenig an den Sil- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2077

Dr. vesterabend des Jahres 1990 erinnert. Da war die Welt liegt. Das hat mit Ideologie überhaupt nichts zu tun, nicht nur bei uns voller Hoffnung. Hatten die Ereig- und von Ideologie sollte man hier Abstand nehmen. nisse des Jahres 1990 nicht den gerechtfertigten Aus- Sie haben Schweden als Beispiel zitiert. So, Herr blick auf eine Ära des Friedens, der Menschenrechte, Engholm, darf man, glaube ich, Beispiele, mit Verlaub der freiheitlichen, der demokratischen Entwicklung gesagt, nicht zitieren, wie Sie es getan haben. weltweit eröffnet? Und dann kam es doch so ganz anders: der Golfkrieg, das Elend der Kurden, bren- Sicher, die Arbeitslosenquote in Schweden ist noch nende Ölquellen, der Ausbruch nationalistischer Strö- niedriger, als Sie gesagt haben; im vorigen Jahr be- mungen in Ost- und Südosteuropa, Schüsse in Wilna trug sie 1,5 % Daß die Inflationsrate bei 11 % liegt, und Riga — gestern und vorgestern war es wieder gehört aber ebenfalls in dieses Bild; daß der Staatsan- sehr unerfreulich dort — , weltweite Rezession. Alles teil bei 60% liegt, gehört ebenfalls in dieses Bild; daß das hat uns auf den harten Boden der Erkenntnis zu- der Staatshaushalt aus den Fugen gerät, gehört eben- rückgebracht, daß diese Welt wohl doch nicht die be- falls da hinein. Schließlich — das wissen Sie natürlich ste aller Welten ist. Aber sie ist unsere, und wir müs- ganz genau — gehört auch hinein — ich erwarte nicht, sen mir ihren Problemen fertig werden. daß Sie das vortragen —, daß Ihre sozialdemokrati- schen Freunde in Schweden zur Zeit nach allgemeiner Auch die Deutschen hat der Alltag wieder einge- Einschätzung überhaupt keine Chance mehr haben, holt. Aber ist es wirklich der Alltag? Alltäglich ist die die nächste Wahl zu gewinnen. Auch das wissen Aufgabe, unser Land in allen Bereichen wieder zu Sie. einen, wahrhaftig nicht. Eigentlich ist es das Gegen- teil von Alltag. Es gibt — Herr Rühe hat recht — kein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Beispiel in der Geschichte für diesen Prozeß. Es gibt Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: So wie bei Ih kein volkswirtschaftliches Lehrbuch, kein Rezept, wie nen!) man eine Planwirtschaft über Nacht in eine markt- Meine Damen und Herren, 1991 hat zumindest wirtschaftliche Ordnung integriert. Es ist, wie der einen Glanzpunkt gebracht: die Wiedererlangung - Bundeswirtschaftsminister kürzlich zu Recht gesagt der vollen deutschen Souveränität durch die Ratifizie- hat, auch ein Prozeß des „learning by doing". Es ist zu rung des Zweit-plus-Vier-Vertrages im sowjetischen Fehleinschätzungen gekommen, und es werden nicht Parlament. Das war in diesem Jahr. Das war der die letzten gewesen sein. Schlußpunkt einer Politik, die 1990 die historische Chance zur deutschen Einheit erkannt und genutzt (Zustimmung bei der CDU/CSU) hat. Wir wissen heute, daß es eine kurze historische Einige wären vermeidbar gewesen, alle sicher nicht. Sekunde war. Es ist das Verdienst dieser Bundesre- gierung und dieser Koalition, entschlossen gehandelt Ich sage, es ist wichtig, meine Damen und Herren, zu haben. Ich behaupte, allein dieses Verdienst recht- daß wir uns die Fähigkeit und Breitschaft bewahren, fertigt ihren Erfolg bei den Bundestagswahlen am Irrtümer, wenn wir sie erkennen, einzugestehen; 2. Dezember 1990. denn nur dann kann man sie korrigieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Entscheidungen des Jahres 1990, insbesondere Hüten wir uns davor, uns ideologisch einzugraben! die Währungsunion vom 1. Juli 1990, haben immense Unbeweglichkeit ist gefährlich. Ihre Folgen baden die ökonomische Konsequenzen. Es war aber keine öko- Menschen aus, in unserer Situation vor allem die nomische, es war eine politische Entscheidung; und Menschen in den fünf neuen Bundesländern. sie war richtig. Die Folgen dieser Entscheidung waren und sind tiefgreifend. Die Probleme türmen sich. Die Das Stichwort Ideologie ist ja gestern und heute Arbeitslosigkeit wächst. Die verständliche Einkom- mehrfach aufgekommen. Ideologie ist kein guter Rat- menserwartung der Menschen einerseits und die Pro- geber. Sich über das Maß an Ideologie hin und her zu duktionskosten andererseits schaffen ein kaum aufzu- streiten lohnt nicht. Aber, meine Damen und Herren, lösendes Dilemma. Die Zerstörung der Rechtsinstitute wenn Ideologie für fundamentale Grundüberzeugung durch 40 Jahre Kommunismus erschweren Verwal- und auch für eine politische Grundhaltung steht und tung und Investitionen. Die alten Seilschaften plagen spricht, dann wünsche ich mir allerdings lieber Streit immer noch die Menschen. Jeder hier kennt die Stich- und Diskussionen mit politischen Zeitgenossen, die worte, und sie lassen sich doch so schnell vermehren: solche fundamentalen Grundüberzeugungen haben Handel statt Produktion, Altschulden, Umweltaltla- und vertreten. Daß sie die Beweglichkeit behalten sten, -Akten usw. usw. müssen, auch zu korrigieren, daß man Ausnahmen von fundamentalen Grundüberzeugungen machen Die fünf neuen Bundesländer und damit wir alle muß, das ist in der Tat wahr. haben ein schweres Jahr 1991 vor uns. Warteschleife, Betriebsstillegungen sind nur zwei weitere Stich- Aber, Herr Engholm, von laissez faire kann doch worte. Aber es gibt doch auch Beispiele, Herr Eng- weiß Gott keine Rede sein. Sehen Sie sich bitte einmal holm, meine Damen und Herren, daß es sich zum Bes- das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost mit dem seren wendet. Es gibt eine Menge sichtbarer p rivater weiten Katalog von Eingriffsmaßnahmen und von In- Initiative. An vielen Orten laufen Investitionen an. Die terventionen an. Ist das laissez faire? Sehen Sie sich Treuhandanstalt — Sie haben es erwähnt, Herr doch bitte einmal an, daß mehr als 50 % des Bruttoso- Rühe — hat fast 2 000 Bet riebe verkauft. Überall im zialprodukts, das wir in der alten Bundesrepublik Land wird gebaut. Für Wohnungsmodernisierung und Deutschland erwirtschaften, schon nicht mehr rein Instandsetzung sind 3,2 Milliarden DM Kredite von marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgesetzen unter- Privaten beantragt worden. Es wird nicht mehr nur 2078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff Westware gekauft, ja, es wird Ostware in die alten — Aber da gibt es natürlich unterschiedliche Meinun- Bundesländer geliefert. gen, selbstverständlich. Aber ich werfe ja nicht mit Eiern, verehrter Herr Kollege. Herr Kubicki wirft auch Bei diesem Stichwort, meine Damen und Herren, nicht mit Eiern: Sie werden sich wundern, das tut er möchte ich darum bitten, daß bei der Vergabe öffent- nicht, Herr Roth. licher Aufträge — auch durch den Bund und ihm zu- gehörende Institutionen, und ich habe Anlaß, das zu Es bleibt wichtig, daß wir im Westen der Bundesre- sagen — darauf Rücksicht genommen wird, daß die publik alles in unseren Kräften Stehende tun, um den Aufträge an solche Unternehmen gehen, die drüben Aufbau der fünf neuen Bundesländer zu erreichen. produzieren, und nicht nach altem Verteilerschlüssel Hier, Herr Engholm, teile ich Ihre Bewertung nicht. gehandhabt wird. Ich bleibe bei dem, was wir hier so oft gesagt haben. Die finanziellen Beiträge der alten Bundesländer ka- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der men zu spät, sie kamen zu zögerlich. Ich schätze auch SPD — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Rich — dies muß ich Ihnen offen sagen — den Vergleich -tig!) oder die Behauptung: strukturschwaches Land, für Aber sollten wir nicht gemeinsam versuchen, der wen auch immer — auch für Schleswig-Holstein —, Regel entgegenzuwirken, daß nur schlechte Nach- nicht mehr, wenn er in den alten Dimensionen vorge- richten Nachrichten sind? Warum sprechen wir immer tragen wird. Selbstverständlich sind Sie ein struktur- vom halbleeren und nicht vom halbvollen Glas, wenn schwaches Land oder waren es — es geht Ihnen ja wir uns mit der Entwicklung in den fünf neuen Bun- besser, auch schon vor Ihrer Zeit — im Vergleich zu desländern beschäftigen? Baden-Württemberg und Bayern. Aber vergleichen Sie sich mit Sachsen-Anhalt und Thüringen, und dann Ihr stellvertretender Vorsitzender, Herr Thierse, hat wissen Sie, wo die strukturschwachen Länder lie- in Bremen gesagt: So hätte er sich die Wirklichkeit der gen. deutschen Einheit in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorgestellt. Hat er wirklich Alpträume- der deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen Einheit gehabt? Ich will gerne einräumen, viel- leicht zu viele Freudenträume gehabt zu haben, aber Es ist nachweisbar, daß zur Zeit alle alten Bundes- Alpträume nicht. länder an der deutschen Einheit verdienen und das Mehr an Steuereinnahmen ungerührt kassieren. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der ist die Wahrheit. Wenn Sie daran etwas ändern wol- CDU/CSU) len, Herr Ministerpräsident, dann frage ich Sie: Wie ist Herrn Stolpes Bemerkung in Bremen ist von Ihnen, es denn mit dem Länderfinanzausgleich? Muß er Herr Rühe, angesprochen worden. Ich habe gestern denn wirklich bis 1995 warten? Nach unserer Mei- mit Herrn Stolpe darüber gesprochen. Ich habe ihn nung nicht. „Manchester gefragt, was er mit der Bezeichnung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — in Bremen angerichtet habe und damit Kapitalismus" Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Der Bund kas sagen wollte. Er hat mir erklärt, daß er diejenigen siert!) gemeint habe, die dort nach Wildwestmanier p rivater Initiative in den fünf neuen Bundesländern ihr Wesen Für die Zukunft muß sich das ändern. Ich fordere für und ihr Unwesen treiben. Damit hat er in der Tat völlig die FDP erneut, daß wir in den nächsten Jahren darauf recht. verzichten, die alte Bundesrepublik noch schöner zu (Zuruf von der SPD: Das gibt es doch!) machen, daß wir uns jetzt einmal mit dem bisher Er- reichten zufriedengeben und daß wir alles Mehr an Er hat ausdrücklich bestätigt, daß er nicht etwa die Wachstum und Steuereinnahmen jetzt zum Wieder- Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Ko- aufbau der neuen Länder einsetzen. alition damit meine. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Noch einmal: Herr Engholm, bitte vernebeln Sie nicht die Spuren des Verhaltens der Länder im deut- Das nimmt sich sehr viel besser aus. Aber es wirft ein schen Einigungsprozeß! Sie haben sich finanziell interessantes, wenn auch nur kleines, Schlaglicht auf nicht angemessen verhalten; sie haben sich bei der den Zustand Ihrer Partei, das Herr Rühe angespro- Festlegung der Stimmenverteilung im Bundesrat un- chen hat: Der Eierwerfer von Halle, wobei ich die gewöhnlich unsolidarisch verhalten, sie haben den Reaktion so interessant finde. Die Partei in Bremen neuen Ländern nicht die geringste Einwirkungsmög- nimmt ihn auf, die Partei in Halle sagt: Wir hätten ihn lichkeit gegeben. Sie fanden alles von Ihnen vorf abri- nicht wiederhaben wollen. Das ist das Bild Ihrer Par- ziert und vorentschieden vor. Sie selber kann ich nicht tei, das Sie heute noch bieten. zitieren, aber ich vergesse nicht den Ausspruch des (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU!) niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder: „Die da drüben sollen sich jetzt selber krummlegen! " Meine Sympathie gehört übrigens denen in Halle, um — Größere Herzlosigkeit habe ich im Umgang mit den das gleich hinzuzufügen, falls sich jemand einer Täu- neuen Bundesländern bei niemandem verspürt. schung hingibt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Aber es gibt auch bei Ihnen unter Ich will meine Zweifel an der Wirksamkeit solcher schiedliche Meinungen!) Appelle, nämlich das Mehr jetzt drüben einzusetzen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2079

Dr. Otto Graf Lambsdorff — schon das Wort „drüben" sollten wir bald bleiben eigentlich unserer Auffassung! — Dr. Hans lassen —, Jochen Vogel [SPD]: Herr Hirsch sagt genau dasselbe!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich -tig!) Will die SPD morgen das Paket zur Finanzierung des nicht verschweigen. Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost in den Ver- mittlungsausschuß bringen und damit das Finanzauf- Meine Damen und Herren, es geht uns alle an. Wer kommen für die fünf neuen Bundesländer gefähr- in den letzten Wochen in Hamburg durch die Wahl- den? plakat-Allee vom Flughafen zur Innenstadt gefahren ist, der konnte es ja lesen: Alle Plakate versprachen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nur besser mehr, aber den Hamburgern, nicht den Rostockern finanzieren!) oder den Chemnitzern. Wir werden außerdem mit Interesse sehen, ob Sie, (Volker Rühe [CDU/CSU]: „Weniger Hafen meine Damen und Herren von der SPD-Bundestags- straße" haben wir gesagt! — Dr. Hans-Jo fraktion, sich mit der minoren Rolle begnügen wer- chen Vogel [SPD]: Und weniger Stimmen den, die Ihnen der saarländische Ministerpräsident sind herausgekommen!) zuweist. Meine Damen und Herren, das Jahr 1991 hat uns sehr schnell vor die Frage der gewachsenen interna- (Zurufe von der SPD) tionalen Verantwortung des ungeteilten Deutschland — Das tut er. gestellt. Vielleicht zu schnell? Die Deutschen sind da- bei, ihre Rolle zu finden und zu definieren. Die FDP Meine Damen und Herren, deutsche Politik muß hat das auf der Sitzung ihres Bundeshauptausschus- und wird europäische Politik sein. Wir Liberale wollen ses in Hamburg vor 14 Tagen getan. Es ging uns um die europäische politische Union. Dazu gehört eine die Beschreibung einer dem Frieden in der Welt,- der gemeinsame europäische Außen- und Sicherheits- Freiheit und der Demokratie gewidmeten deutschen politik. Die gemeinsame Verteidigungspolitik muß Verantwortungspolitik. Es ging uns um mehr als nur Teil der Sicherheitspolitik der Atlantischen Allianz um den Bundeswehreinsatz. Aber diesem Problem sein. Es macht wenig Sinn, wenn NATO und WEU sind wir auch nicht ausgewichen. einen öffentlichen Wettlauf der Beschlüsse auf diesem Die Sozialdemokratische Partei, Herr Engholm, hat sensiblen Gebiet veranstalten. eine unzulängliche, eine romantische, sympathische (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich — vielleicht — , aber damit eine wirklichkeitsfremde-tig!) Antwort gegeben. Damit wäre eine deutsche Regie- rung nicht bündnisfähig, weder in Europa noch in der Uns scheint es zweifelhaft, ob der Beschluß der Atlantischen Allianz. Die Entscheidung des Bremer NATO-Verteidigungsminister über eine schnelle Ein- Parteitages erinnert mich stark an die einseitige Abrü- satztruppe das letzte Wort sein wird. Die französi- stungshaltung der britischen Labour Party. Damit war schen Bedenken sind nachvollziehbar. Die nuklearen die Labour Party lange Jahre nicht bündnisfähig und Kurzstreckenwaffen der NATO müssen weg. Hatten folglich auch nicht regierungsfähig. Das gilt auch für wir diese Diskussion, Herr Bundesverteidigungsmini- die SPD nach ihren Bremer Beschlüssen. ster, nicht längst hinter uns? Erfolge in den Ländern ersetzen keine fundamenta- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Hört! Hört! len außen- und sicherheitspolitischen Defizite. Das weiß Herr Stoltenberg immer noch (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) nicht!) Die Erfolge in den Ländern, meine Damen und Her- Die Gemeinschaft ist auf dem Weg zur Europäi- ren, haben Ihnen die Mehrheit im Bundesrat ge- schen Währungsunion, zu einer europäischen Wäh- bracht. Wir werden sehr schnell sehen, ob Sie eine rung. Noch aber sind die Vorbedingungen, eine unab- Verantwortungsmehrheit oder eine Blockademehr- hängige europäische Zentralbank und die Konver- heit wollen. genz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten, (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) nicht erfüllt. Es ist abzusehen, daß nur ein Teil der Mitgliedstaaten der EG fähig und bereit sein wird, Insbesondere Sie, Herr Engholm, als neuer Parteivor- diese Voraussetzungen zu erfüllen. Müssen wir dann sitzender, werden jetzt zeigen müssen, wie Sie Ihre auf lange Zeit auf weitere Integrationsfortschritte ver- Position als Ministerpräsident mit der neuen Aufgabe zichten? verbinden und zur Geltung bringen. Die Frage verschärft sich noch beim Thema Vertie- Schon haben die Sozialdemokraten die verschärften fung oder Erweiterung. Dürfen Polen, die Tschecho- Bestimmungen des Außenwirtschaftsgesetzes gegen slowakei, Ungarn, dürfen Österreich und demnächst angehalten und die Bundes- illegalen Waffenexport Schweden deshalb nicht in die Europäische Gemein- regierung damit außenpolitisch bloßgestellt. Was tau- schaft? Die Erweiterung ist in der Tat eine hochpoliti- gen eigentlich Ihre Bemerkungen gegen illegale Waf- sche Frage. Aber die Europäische Gemeinschaft ist fenschieber? keine westeuropäische Gemeinschaft. Prag, Buda- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — pest, Warschau sind europäische Städte, auch Wien. Wolfgang Roth [SPD]: Ein Kompromiß wäre Vielleicht lesen Kommission und Ministerrat einmal in zwei Minuten zu finden gewesen! Sie sind Art. 237 und die Präambel des Römischen Vertrages. 2080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff Der Vertrag gibt jedem europäischen Staat das Recht, mertal ist, wie Sie es am Anfang Ihrer Rede gekenn- Mitglied der Gemeinschaft zu werden. zeichnet haben? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Zuruf der Abg. Ingrid Matthäus-Maier SPD) [SPD]) Die bevorstehende Währungsunion erhöht wahr- — Doch, Frau Matthäus, es war schon der Hinweis auf scheinlich die Notwendigkeit des Europa der zwei ein Jammertal. Ganz versteckt lag darin auch ein Geschwindigkeiten. Ökonomisch ist das wohl unab- Kompliment für den gesetzlichen Anspruch auf So- weisbar. Politisch ist es sehr heikel, wenn ich an ein so zialhilfe und dies völlig zu Recht. Das gibt es nur in bewährtes Partnerland wie Italien und an andere wenigen Ländern. Ich finde es unerhört, wenn Sie denke. Es wird hoher diplomatischer Kunst bedürfen, sagen, daß dies allmählich in eine Wohlfahrts- und um Verwerfungen zu vermeiden. Wohltätigkeitsveranstaltung überführt wird. Meine Damen und Herren, das Thema Sowjetunion beschäftigt uns täglich. Der Westen muß der Sowjet- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Graf Lambsdorff, union beim Aufbruch, bei der Politik der gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten helfen, sie auf dem Weg nach Europa und im Bemü- Frau Matthäus-Maier? hen um die Integration in die Weltwirtschaft unter- stützen. Würde eine dezentralisierte Sowjetunion da- Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Gerne. bei helfen? — Vielleicht. Eine destabilisierte Sowjet- union wäre aber sicherlich in niemandes Interesse. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Würden Sie bestäti- Darin läge ein hohes Risiko für Westeuropa, aber auch gen, Graf Lambsdorff, daß es nicht darum geht — das für die USA und den Westen insgesamt. ist heute morgen auch nicht getan worden — , die Bun- desrepublik Deutschland als Jammertal darzustellen, Der Westen hat seine Hilfsbereitschaft bekundet. sondern es darum geht, zu sagen, zu kritisieren und zu Deutschland hat sich in besonderer Weise engagiert. ändern, daß es angesichts des enormen Wohlstandes, Wir haben mit der Sowjetunion einen Vertrag über den wir uns erarbeitet haben und über den wir uns gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenar- freuen, nach offiziellen Schätzungen der Wohlfahrts- beit abgeschlossen. verbände mindestens 6 Millionen Arme in diesem Wir haben uns darüber hinaus in erheblichem Maße Land gibt, was eigentlich unerträglich ist? finanziell für die Stabilisierung der Sowjetunion enga- giert. Allein die 1990 vereinbarten Leistungen belau- Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Ich kann Ihnen fen sich insgesamt auf knapp 25 Milliarden DM. In nicht bestätigen, daß das heute der Inhalt der Rede dieser Summe nicht enthalten sind die besonders gün- von Herrn Engholm war. Über die Zahlen und über stigen Exportkreditgarantien, die im Handel mit der den Tatbestand können wir uns unterhalten. Aber die Sowjetunion vereinbart wurden. Um es klar und deut- Rede von Herrn Engholm zeigte im ersten Teil ein lich zu sagen, damit niemand darum herumreden Land und Zustände, bei denen man sich fragt, warum kann: Hier liefert der Verkäufer dem Kunden, dessen eigentlich von außen Leute hierherkommen sollten, Bonität nicht überzeugt, das Geld zur Bezahlung um Zuflucht zu suchen. gleich mit. Mich erinnert das an die alte Lebensweis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — heit: Besser schenken als bürgen! Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist aber eine ge- wagte Interpretation gewesen!) Über die Problematik einiger dieser Maßnahmen, vor allem der Finanzkredite, sind wir uns durchaus im Die Verantwortung der Europäischen Gemein- klaren. Aber, Kredite ohne Reformen, das kommt schaft gegenüber den Ländern Mittel- und Osteuro- leicht dem Füllen eines Fasses ohne Boden gleich. pas und der Dritten Welt fordert eine offene handels- Keine Kredite ohne Reformen, aber auch keine Refor- politische Haltung. Noch vor wenigen Tagen hat mir men ohne Kredite. der tschechoslowakische Finanzminister Vaclav Klaus wörtlich gesagt: Verschont uns mit Marshall- Es gibt auch wichtige politische Aspekte. Wir lei- plan-Ideen, öffnet eure Märkte für uns! — Er hat sich sten mit diesen erheblichen Mitteln einen wichtigen bitter darüber beklagt, welch ungenügende Angebote Beitrag zur Stabilisierung der europäischen Frieden- die Europäische Gemeinschaft der Tschechoslowakei sordnung. Es muß allerdings internationale Hilfe für in dieser Beziehung mache. Er hat recht. die Sowjetunion geben. Weder Deutschland noch die Deshalb muß die Uruguay-Runde des GATT erfolg- EG können das alleine schultern. reich abgeschlossen werden, und die Bundesregie- rung muß nun endlich auch dem französischen Part- Im übrigen versuchen wir dafür zu sorgen, Herr ner klarmachen, daß es dabei nicht ohne Konzessio- Ministerpräsident Engholm, daß die auch von Ihnen nen und Kompromisse abgeht. angesprochene Wanderungsbewegung von Ost nach West nicht zustande kommt, indem wir das Wohl- Die FDP begrüßt die klare Entscheidung des Kon- standsgefälle, das übrigens ein historisches Wohl- gresses der Vereinigten Staaten, das Verhandlungs- standsgefälle ist, einigermaßen einebnen. mandat für Präsident Bush um zwei Jahre zu verlän- gern. Wir bedauern die unnötig verschärfende Spra- Eines muß ich aber nun doch sagen, meine Damen che der neuen französischen Premierministerin. Die und Herren: So ganz paßte das nicht zusammen. Antwort aus Tokio auf solche Töne hat nicht lange auf Warum haben denn so viele Menschen die Neigung, sich warten lassen. Wir fordern die Bundesregierung hierher zu kommen, wenn bei uns ein solches Jam- auf, dafür zu sorgen, daß der Binnenmarkt ab 1. Ja- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2081

Dr. Otto Graf Lambsdorff nuar 1993 nicht zu einer Entliberalisierung des deut- Aber, ich habe gesagt, normalerweise gäbe dies zu schen Marktes für Automobilimporte führt. Das wäre gravierenden Bedenken Anlaß. Ich füge hinzu: Die das Fort Deutschland in der Festung Europa, ein deutsche Einheit rechtfertigt diese Anstrengung. wahrhaft groteskes Ergebnis für den Binnenmarkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Haltung der Kommission, insbesondere der Vize- Die FDP verbindet ihre Zustimmung zum Bundes- präsidenten Leon Brittan und , haushalt 1991 und zu dieser Politik mit zwei Hinwei- muß und sollte von der Bundesregierung unterstützt sen. Wo stünden wir wohl, wenn wir nicht seit 1982 die werden. Haushalte konsolidiert hätten, wenn wir keine Politik Meine Damen und Herren, die Hilfen, die wir inter- der marktwirtschaftlichen Erneuerung bet rieben, son- national bereitstellen wollen und müssen, ebenso wie dern Ihren Weg fortgesetzt hätten? Die Politik von die Hilfen zum Wiederaufbau der neuen Bundeslän- FDP und CDU/CSU hat unser Land so leistungsfähig der können wir nur leisten — Herr Rühe, Sie haben gemacht, daß wir den Herausforderungen der deut- recht —, wenn die Wirtschaft im Westen unseres Lan- schen Einheit gewachsen sind. Diese Erfahrungen des stark bleibt. Unsere wirtschaftliche Kraft ziehen dürfen Bundesregierung und Koalition nicht in den wir aus der internationalen Wettbewerbsfähigkeit un- Wind schlagen. Wir müssen so schnell wie möglich serer Wirtschaft. Sie darf nicht beschädigt werden, zurückkommen zu einer Politik der Haushaltskonsoli- aber wir sind auf dem besten Wege, dies zu tun. Die dierung, der Rückführung der Staatsquote, der Steuersenkung und des Subventionsabbaus. In die- Ergebnisse der Lohnrunde 1991 passen nicht in eine Landschaft, in der der weltweite Konjunkturwind sem letzten Punkt unterstützt die FDP ausdrücklich schärfer bläst. Wenn man Herrn Steinkühler von ge- die Initiative des Bundeswirtschaftsministers. Ich sage stern zitiert — Herr Ministerpräsident Engholm hat noch einmal: Wenn jetzt — unter diesem Haushalts- das getan — , so klangen darin einige Töne begrü- druck — nicht Subventionen abgebaut werden, wann ßenswerter Einsicht über die eingeschlagene Ent- um alles in der Welt soll es dann möglich sein? wicklung und die Gefahren, die mit ihr verbunden- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sind, deutlich an. Ich sage noch einmal — das ist ein Liebe Kolleginnen und Kollegen — ich wähle be- Appell an die Tarifvertragsparteien — : Ermöglichen wußt diese von mir sonst nicht benutzte Anrede, weil Sie in den fünf neuen Bundesländern für eine vorüber- ich an uns selber appellieren will — , es ist immer gehende Zeit Öffnungsklauseln, und verweisen Sie leichter, dem Steuerzahler in die Tasche zu greifen die Leute nicht darauf, daß sie das Ergebnis der Tarif- und Schulden zu machen. Aber die Rechnung dafür verhandlungen schlucken müssen; friß, Vogel, oder zahlt die Generation nach uns. Den jungen Menschen stirb! — Es kann so nicht funktionieren. im Osten und im Westen unseres Vaterlandes sind wir zu einer seriösen Politik verpflichtet. Die FDP sagt der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bundesregierung ihre Unterstützung für eine solche Politik zu. Wir haben eine nationale Anpassungsaufgabe von Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. bisher unbekannten Dimensionen zu bewältigen. Die Zinsen haben bei uns eine Höhe erreicht, die auf Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dauer nicht ohne Rückwirkungen auf Wachstum und Beschäftigung bleiben können. Es muß alles dafür Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der getan werden, daß der Kapitalmarkt entlastet wird, Abgeordnete Dr. Gysi.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Völlig rich Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- tig!) tin! Meine Damen und Herren! Da es jetzt um die Politik der Bundesregierung im Ganzen geht, will ich sonst kann und wird die Bundesbank die Zinsen nicht mich zunächst zu einigen wenigen außenpolitischen senken, Herr Pöhl hat das heute noch einmal ge- Fragen äußern. sagt. Ich finde, daß sich die Außenpolitik der Bundesre- (Wolfgang Roth [SPD]: So ist es!) gierung widersprüchlich vollzieht. Zum einen sucht sie die Zusammenarbeit mit Osteuropa und auch und Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt gerade mit der Sowjetunion. Dies ist wichtig für die 1992 steht unter besonderen Vorzeichen. Sein Volu- Stabilität in Europa und für den europäischen Eini- men, seine Nettokreditaufnahme, die damit verbun- gungsprozeß. Zum anderen wird aber immer deutli- denen Steuererhöhungen gäben normalerweise zu cher, daß der europäische Einigungsprozeß — struk- gravierenden Bedenken Anlaß. Aber ich sage: norma- turell und wirtschaftlich — eigentlich nur die Europäi- lerweise. Unsere öffentliche Verschuldung oder, ge- sche Gemeinschaft erfassen soll. Setzt sich diese Poli- nauer gesagt, die Nettokreditaufnahme der öffentli- tik durch, wird sich die soziale und wirtschaftliche chen Hände ist in diesem und im nächsten Jahr höher Spaltung Europas vertiefen und wird die Gefahr von als die so oft beklagte und kritisierte Nettokreditauf- Eruptionen auf dem Kontinent zunehmen. Gefährlich nahme der Vereinigten Staaten. Es muß allerdings ist auch ein Vorherrschaftsstreben in Europa, eine hinzugefügt werden: Auch das private Sparaufkom- Rolle, die uns nicht gut zu Gesicht steht, die Mißtrauen men zur Finanzierung ist deutlich höher als in den erzeugen muß. Die komplizierten europäischen Pro- USA. zesse werden auch nicht dadurch erleichtert, daß ein Realpolitiker wie Bundesbankpräsident Pöhl in eine (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wie hoch ist Situation getrieben wird, in der ihm nur noch der sie denn?) Rücktritt bleibt. 2082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Gregor Gysi Von besonderer Bedeutung für die Zukunft sind die genheit, das uns zur Zurückhaltung verpflichtet, statt Pläne in bezug auf NATO und WEU. Der Zusammen- deutsche Soldaten in die Welt auszusenden. bruch des sogenannten real existierenden Sozialismus führte zu keinerlei Umdenken der Bundesregierung (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Daran in außenpolitisch-militärischen Fragen. Die Chancen wollte ich Sie erinnert haben, bevor Sie hier zur Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstruk- herummoralisieren und falsche Verdächti turen im Rahmen der KSZE wurden verspielt. Statt gungen aussprechen!) dessen wurde die NATO gestärkt. Von der Öffentlich- Wer die Tür für Blauhelme öffnet, weiß, daß sie keit fast unbemerkt, wird zugleich die früher fast be- dann eines Tages für Möglichkeiten des internationa- deutungslose WEU neu belebt. Die Bundesregierung len militärischen Einsatzes ganz aufgestoßen wird. und Frankreich wünschen, daß daraus der militäri- Diese Politik wird deshalb auf unsere konsequente sche Arm der Europäischen Gemeinschaft wird, wäh- Ablehnung stoßen. Sie geht möglicherweise in eine rend andere Staaten darin ausschließlich die Europa verhängnisvolle Richtung. Abteilung der NATO sehen wollen. Gehen die Pläne der Bundesregierung auf, so bedeutet dies die Schaf- Im Haushalt spiegelt sich diese Politik in den ge- fung einer internationalen europäischen Militärorga- planten Rüstungsausgaben wider. Für die Verteidi- nisation, die abgekoppelt und unabhängig von den gung sollen 52 Milliarden DM ausgegeben werden. USA wäre und damit in der sogenannten Dritten Welt Die Verteidigungsausgaben, die in den vergangenen militärisch aktiv werden könnte. Jahren mit der Begründung der Bedrohung aus dem Osten Jahr für Jahr wuchsen, werden auf gleichem (Unruhe) Niveau fortgeführt. Dabei ist der Warschauer Vertrag aufgelöst. Die Nationale Volksarmee ist Bestandteil der Bundeswehr geworden. Niemand kann mehr be- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich bitte die Abge- ordneten, Platz zu nehmen und die Geräuschkulisse haupten, daß von den Militärpotentialen Polens, der CSFR, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens eine Be- so zu gestalten, daß der Abgeordnete noch- gehört werden kann. drohung der Bundesrepublik ausgeht. Mit der Sowjet- union wurden Verträge ausgehandelt, die ein friedli- ches Zusammengehen wesentlich sicherer machen. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Hier müßte doch Das alles spielt aber offensichtlich für die Bundesre- einmal erklärt werden, welche Rolle denn eigentlich gierung keine Rolle, wenn es darum geht, 1991 jeweils eine von den USA unabhängige europäische Militär- in Milliardenhöhe Waffen, neue Schiffe, neue Flug- organisation als Arm der EG spielen sollte. Bereitet zeuge und neue Kampffahrzeuge in Dienst zu stellen man sich hier etwa auf künftige Kämpfe um politi- und ohne Einschränkung und Neuorientierung die schen und ökonomischen Einfluß in der Dritten Welt Wehrforschung für neue und immer perfektere Waf- vor und will dabei auch nicht mehr von den USA fen in der alten Weise fortzusetzen. abhängig sein? Ich halte diese Pläne für kreuzgefähr- lich. Das Programm Aufschwung Ost umfaßt weniger, Hier ordnet sich dann auch die Vorstellung zur An- als 1991 durch die Bundeswehr für neue Waffen und für die Wehrforschung ausgegeben werden soll; für derung des Grundgesetzes zum erweiterten Einsatz die Forschung allein 12,4 Milliarden DM. der deutschen Soldaten ein. Es fehlt hier jede histori- sche Sensibilität dafür, daß von Deutschland in die- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Hört! sem Jahrhundert zwei Weltkriege ausgingen; sonst Hört!) käme man nicht auf die Idee, gerade deutsche Solda- ten international einsetzen zu wollen. Ich spreche auch nicht von geringfügigen Einspa- rungen, die man den Wählerinnen und Wählern weis- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) machen will, indem man in die Basis etwas einrech- Bedauerlich, daß dem nun offensichtlich auch die net, was für die Beantwortung der Frage, wieviel neue SPD zur Unterstreichung eigener Regierungsfähigkeit Waffen angeschafft werden, überhaupt keine Bedeu- zustimmen will — zumindest hinsichtlich der soge- tung hat, nämlich die Ausgaben der NVA. Es geht um nannten Blauhelm-Truppen der UNO — , so daß die eine ganz andere Qualität und Größenordnung an erforderlichen Mehrheiten im Bundestag gegeben möglicher Abrüstung und Wahrnehmung tatsächlich sind. Dabei ist es sehr vernünftig gewesen, diese gewachsener Verantwortung. Wenn man es mit Abrü- Truppen vornehmlich durch kleine Armeen und neu- stung und Sozialpolitik ernst meint, hätte man doch trale Staaten stellen zu lassen, nicht durch Groß- zumindest in diesem Jahr einmal auf die Anschaffung mächte und Mächte, die Großmächte werden wollen. neuer Waffen verzichten müssen. Diese sollten sich dagegen Zurückhaltung auferle- gen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Herr Wir unterbreiten den Vorschlag, Rüstungsausgaben Gysi, wir sind nicht in die Tschechoslowakei im Umfang von 10 Milliarden DM zu reduzieren, wo- eingerückt!) bei dann natürlich 5 Milliarden DM für Konversion — Das ist schon wahr. erforderlich sind — zum einen für die soziale Absiche- rung der Soldaten bei Reduzierung von Streitkräften, (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Was zum anderen für den Umbau von Produktionsstätten das geschichtliche Denken anlangt!) der Rüstung auf zivile Produkte —; die anderen 5 Mil- Aber das würde noch eher dazu zwingen. Sehen Sie, liarden DM könnten für soziale Zwecke eingesetzt dann gibt es noch ein Lehrstück deutscher Vergan werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2083

Dr. Gregor Gysi Mit den Mitteln des Haushaltes 1991 wurde der es zur individuellen Freiheit des einzelnen gehören Golfkrieg mitfinanziert. Diesen Krieg haben aber sehr muß zu entscheiden, daß er auf Kündigungsschutz viele abgelehnt. Das löste hier große Proteste aus. Ich rechte verzichtet und daß er auch unterhalb des Tarif- frage nun, weshalb eigentlich jene, die diesen Krieg lohns bezahlt werden kann. Klar ist: Wenn sich diese nicht wollten, zur Bezahlung dieses Krieges gleicher- Vorschläge durchsetzen sollten, werden alle gesetzli- maßen in Anspruch genommen werden. Ich glaube, chen Bestimmungen zum Kündigungsschutz und daß es dafür keine Grundlage gibt. auch hinsichtlich der Tarifverträge praktisch an Be- deutung verlieren. (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Die Justizministerkonferenz beschließt in dem glei- Im übrigen ist auch dafür mehr eingesetzt worden, als chen Zeitraum, nunmehr in Zivil- und Strafverfahren Rechtsmittel in beachtlichem Umfang abschaffen zu für das Aufschwungwerk Ost. wollen und außerdem die sogenannte Zulassungsbe- Im Vergleich zu dem, was die Bundesregierung für rufung einzuführen, wonach das Ge richt dann selbst Rüstung ausgibt, ist das, was für Friedensforschung entscheidet, ob gegen sein Urteil die Berufung zuläs- zur Verfügung gestellt wird, absolut minimal. sig ist. Das halte ich schon für ein ziemlich starkes Verfehlt sind auch die geplanten geringeren Mittel Stück. Darauf sind nicht einmal die Vertreter des real für Entwicklungshilfe. Nicht im Ansatz ist eine Neu- existierenden Sozialismus gekommen. orientierung sichtbar. Die Kluft zwischen den Ländern (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie ha der sogenannten Dritten und der sogenannten Ersten ben vorher überhaupt nicht gewußt, was ein Welt wird täglich größer. Und was macht die EG-Kom- Rechtsweg ist! — Dr. Rudolf Krause [Bonese] mission in diesem Moment? Sie beschließt, die Milch- [CDU/CSU]: Vor der Verhaftung stand das produktion weiter zu reduzieren und — alles mit Zu- Urteil fest! Was lügen Sie da?! — Weitere stimmung der Bundesregierung — Acker in Europa Zurufe von der CDU/CSU) sozusagen brachzulegen, obwohl es Millionen Hun- gernder in dieser Welt gibt. - — Ich will Ihnen einmal was sagen: Wenn Sie ent- scheiden, daß das Ge richt selber sagen kann, ob ge- ( [Nordstrand] [CDU/ gen sein Urteil eine Berufung zulässig ist, dann müs- CSU]: Sie gehören zu den wenigen in den sen Sie auch dem Angeklagten das Recht einräumen, neuen Bundesländern, die immer noch nicht selbst zu entscheiden, ob gegen ihn eine Anklage wissen, was Soziale Marktwirtschaft ist! Da erhoben wird. Ich glaube, das wird wirk lich rechts- von verstehen Sie wirklich nichts! Davon ver staatlich unvertretbar. Übrigens geht es hier um stehen Sie genauso viel wie eine Kuh vom Rechtsmittel, die nach der Statistik zu mehr als 60 % Sonntag!) der Fälle zur Änderung des Urteils erster Instanz ge- Da frage ich Sie: Warum wird eigentlich die Reduzie- führt haben, die sich also als notwendig erwiesen ha- rung der landwirtschaftlichen Produktion und nicht ben. der Transport der Überproduktion in die Dritte Welt Der Verkehrsminister wiederum schlägt nun vor, finanziert, um den Hunger wenigstens einigermaßen für die neuen Bundesländer fast sämtliche Rechte zum zu stillen? Nicht einmal dazu konnte sich die Bundes- Einspruch gegen Verkehrsbauten nicht zuzulassen, regierung bisher entschließen. damit erst einmal alles vollgebaut werden kann, um (Beifall bei der PDS/Linke Liste) dann später entsprechende Rechte einzuräumen. Hinzu kommt, daß die Landwirtschaft in den neuen (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: So ein Bundesländern vorsätzlich zerstört wird. Hundert- saudummer Quatsch! Was Sie da sagen, ist tausenden von Bäuerinnen und Bauern, die aber ge- doch barer Unsinn!) nossenschaftlich weiterproduzieren wollen, wird die — Fragen Sie ihn doch selbst. — Das alles wird mit Existenz geraubt. dem Osten Deutschlands begründet. Deshalb ist es (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ zusätzlich geeignet, die Ablehnung im Westen gegen CSU]: Wann denn?) den Osten zu fördern, obwohl es in Wirklichkeit um die Erfüllung alter Wunschträume geht. — Dann gehen Sie doch einmal rüber und erkundigen sich einfach. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wir machen heute doch nur das, was Sie 45 Jahre (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind der größte lang versäumt haben!) Bauernleger aller Zeiten! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) So— lange lebe ich ja noch gar nicht, um solche Träume zu hegen. In der Bundesregierung gibt es Kräfte, die glauben, den Wegfall der östlichen politischen Konkurrenz nut- Die Vorschläge der Deregulierungskommission, der zen zu können, um langgehegten Träumen vom Ab- Justizministerkonferenz und des Verkehrsministers bau von Sozialem und Demokratischem endlich zum sind in ihrer Begründung meines Erachtens ein Miß- Durchbruch zu verhelfen. Was mit der Neugestaltung brauch der Ostdeutschen. des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes begann, soll (Zuruf von der CDU/CSU: Ausgerechnet Sie nach den Vorschlägen der Deregulierungskommis- reden von Mißbrauch!) sion des Wirtschaftsministe riums mit der Unterwan- derung von Kündigungsschutzregelungen und Tarif- Ich halte es auch für verfehlt, daß die Mineralöl- verträgen fortgesetzt werden. Ich finde es demago- steuer nach den entsprechenden Vorstellungen be- gisch, wenn von dieser Kommission gesagt wird, daß handelt wird wie eine einfache Einnahme und nicht 2084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Gregor Gysi ganz spezifisch im ökologischen Sinne in der Ver- zialisten! Ich habe damit nie etwas anfangen kehrspolitik eingesetzt wird, um die öffentlichen Ver- können!) kehrsmittel so billig wie möglich zu machen, damit die Was die Sozialpolitik angeht, so ist das geplante individuelle Nutzung des Pkw abnimmt. Renten-Überleitungsgesetz grob ungerecht. Die An- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Eben rechnungszeiten, insbesondere für Frauen mit Kin- haben Sie sich gegen das Bauen ausgespro dern, werden erheblich reduziert. Pflegegeldzuschlä- chen! — Weitere Zurufe von der CDU/ ge nach dem Sozialgesetzbuch, die es hier nicht gibt, CSU) fallen für 422 000 Menschen weg. Über 600 000 wür- den nach diesen Vorstellungen von Rentenempfän- — Sie können der DDR ja viel vorwerfen, aber Sie gern zu Sozialhilfeempfängern werden, insbesondere können ihr nicht vorwerfen, daß die öffentlichen Ver- auch hier wieder Frauen. kehrsmittel so wahnsinnig teuer waren. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie ha (Zuruf von der CDU/CSU: Aber in welchem ben sicher immer noch mehr als vorher!) Zustand sie waren, das werfen wir Ihnen vor!) — Selbst wenn es so wäre — es ist ganz bestimmt so — , dann müssen Sie noch die Teuerungsrate mit- — Den können wir doch verbessern. Aber deshalb zählen. Sie müssen doch einfach einräumen, daß es müssen sie doch nicht unbezahlbar werden oder? für einen Menschen eine ganz unterschiedliche Stel- Ich sage Ihnen: Was die Beschäftigungspolitik und lung ist, ob er einen Rechtsanspruch auf Rente hat die soziale Politik betrifft, so ist die Tätigkeit und auch oder ob er Sozialhilfeempfänger ist und sich jedes die Untätigkeit der Bundesregierung katastrophal. Im halbe Jahr neu aufblättern und betteln gehen muß. Osten wird ein Heer von Arbeitslosen, Vorruheständ- Das ist ein unerträglicher psychischer Zustand für die lern und Sozialhilfeempfängern organisiert, das stän- Betroffenen. dig weiter ansteigt. Statt Arbeit wird Arbeitslosigkeit (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Gerhard finanziert. Statt Subventionierung des Osthandels zur - O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Es ist ein Erhaltung der Industriestandorte in den neuen Bun- Rechtsanspruch auf Sozialhilfe!) desländern werden Unternehmer subventioniert. Mil- lionen Menschen, die in der DDR, wie sie auch immer war, das berechtigte Gefühl haben konnten, ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter braucht zu werden, wird jetzt das Gefühl der Überflüs- Gysi, um ohnehin überhaupt wieder ein bißchen Ruhe sigkeit und Nutzlosigkeit, daß sie einfach zuviel sind, zu schaffen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des vermittelt mit katastrophalen psychischen Folgen für Abgeordneten Köhler? den einzelnen und seine Familie. (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Nutzlos sind Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ja, bitte schön. Sie vor allem! — Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/ Linke Liste]: Hören Sie da gut zu!) Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Herr Weil es nicht um Halbheiten gehen darf und jedes Gysi, gehen Sie recht mit mir, daß die Bundesrepublik Identitätsgefühl in den neuen Bundesländern abge- Deutschland aus den Rentnern in den ehemaligen baut werden soll, werden nicht nur Industrie und fünf Ländern erst Menschen gemacht hat und daß der Landwirtschaft, sondern auch Wissenschaft und Kul- vorherige Staat die Rentner zu den Ärmsten der Ar- tur abgebaut. Die Gesellschaft verzichtet bewußt auf men degradiert hat? ein großes intellektuelles Potential und grenzt, z. B. im öffentlichen Dienst, gleich Hunderttausende politisch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — und sozial aus. Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: 300 Mark [Ost]!) Es bleibt ein bemerkenswertes Merkmal der bun- desdeutschen Gesellschaft, daß sie Nazis in großem Stil integrierte und willkommen hieß Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Dem ersten Teil kann ich auf gar keinen Fall zustimmen. Das würde ja (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Unerhört ist bedeuten, daß die Rentner in der DDR früher keine das!) Menschen waren. — einverstanden, auch ich finde das unerhört —, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie wur (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Was Sie erzäh- den so behandelt! — Peter Harry Carstensen len, ist unerhört!) [Nordstrand] [CDU/CSU]: Warum habt ihr sie dann unmenschlich behandelt? — Hans ehemalige und opportunistische Sozialisten oder sich Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: Es früher auch nur als Sozialisten bezeichnende Men- waren arme Menschen, Herr Gysi!) schen dagegen schwer, — Sie haben gesagt: „keine waren". (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Sozialismus ist etwas anderes!) Was den zweiten Teil betrifft, da sind wir uns ja absolut einig, daß eine Vielzahl von Renten in der aber ehrliche, nicht karrieristische, sich bekennende DDR extrem niedrig war, daß allerdings natürlich ein demokratische Sozialisten auf gar keinen Fall inte- bestimmter sozialer Standard durch die entsprechend grieren will. gesicherten niedrigen Preise gewährleistet war. (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie CSU]: Ach, das sind die demokratischen So- sind ein unglaublicher Zyniker!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2085

Dr. Gregor Gysi Aber ich will Ihnen etwas sagen: Ich habe etwas den Renten für Stasi-Leute und für hohe Staatsfunk- anderes kritisiert, daß Sie nämlich aus einem Rechts- tionäre verwechseln, anspruch auf Rente einen Sozialhilfeanspruch in dem (Beifall des Abg. Gerhard O. Pfeffermann Sinne machen, daß sich die Betroffenen jedes halbe [CDU/CSU]) Jahr über die Vermögensverhältnisse auch der Ver- wandten etc. erklären müssen. Das ist eine demüti- ob Ihnen vielleicht die Zustände in normalen Alten- gende Angelegenheit. heimen der ehemaligen DDR bekannt sind und ob Sie einen Unterschied zu dem sehen, was etwa in den (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Diet rich Altenheimen des alten Bundesgebiets läuft. Austermann [CDU/CSU]: Das ist ein Rechts- anspruch auf menschenwürdiges Leben!) (Beifall bei der CDU/CSU — Peter Harry Car stensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Do rt rie selt der Kalk von den Wänden, wie Herr Eng Herr Abgeordneter Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: holm gesagt hat! Der Engholmsche Kalk hat Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der bei euch gerieselt!) Abgeordneten Enkelmann?

Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Ja, bitte. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich weiß zwar nicht genau, woher Sie kommen, aber aus der Sprache Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr entnehme ich einmal, daß Sie aus den alten Bundes- Gysi, ist Ihnen bekannt, daß ein Rentner in einem ländern kommen. Altenheim einen Betrag von 105 Mark von seiner (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Ich komme Rente bezahlen mußte und daß er ab Juli z. B. in Bran- aus Thüringen!) denburg etwa 1 500 DM zahlen muß, die er von seiner Rente, ganz gleich, wie hoch sie ist, nicht zahlen kann, — Aha, aus Thüringen. so daß er einfach gezwungen ist, Sozialhilfe zu- bean- (Lachen bei der CDU/CSU) tragen, und daß er das vorher nicht mußte? —Ich habe ja nur gefragt. — Dann kann ich nur sagen, daß ich mich früher relativ viel in Pflegeheimen schon Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Das kann ich deshalb aufgehalten habe, weil ich des öfteren vom erstens bestätigen. Aber ich füge zweitens hinzu, daß Gericht als Pfleger bestellt worden bin. sozusagen die relative soziale Ausgrenzung eines (Zuruf von der CDU/CSU: Als Zwangspfle Großteils von Rentnerinnen und Rentnern, die es in ger?) gewisser Hinsicht schon in der früheren DDR gegeben hat, jetzt noch verstärkt wird. Das ist eine Tatsache. Ich kenne die Zustände also einigermaßen. Ich ge- hörte auch nicht zu denjenigen, die diese Zustände (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Un- etwa besonders gewürdigt haben. Aber erwarten Sie glaublich!) deshalb von mir, daß ich dafür eintrete, daß es den — Ja, ich finde es unglaublich, aber wahr ist es trotz- Leuten jetzt noch schlechter, zumindest nicht besser dem. geht, was alle diese Punkte bet rifft? Übrigens gehen Sie ja auch viel weiter. Die Zahlun- (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von gen vieler Bürgerinnen und Bürger für die freiwillige der CDU/CSU: Unerhört!) Zusatzrentenversicherung werden z. B. nicht mehr voll angerechnet Genau das Gegenteil muß doch das Ziel unserer Poli- tik sein. (Zurufe von der CDU/CSU: Die kriegen doch viel mehr als vorher! — Wieder eine Lüge!) Ich füge hinzu, daß das Sonderopfer für Beitrags- und vieles andere mehr. Das alles wissen Sie auch. pflichtige in der Arbeitslosenversicherung — ich war ja schon bei einem etwas anderen Thema — genauso Ich frage Sie beim Thema Sozialpolitik: Muß es ei- abgelehnt werden muß. Wir fordern eine Arbeits- gentlich z. B. bei Steuererhöhungen so bleiben, daß marktabgabe für Besserverdienende ab Monatsein- immer auch die Bezieher niedriger Einkünfte zur kommen von 6 500 DM. Das heißt, auch die Bundes- Kasse gebeten werden, obwohl für sie jede Reduzie- tagsabgeordneten würden davon erfaßt, und ich rung von Einkünften ganz andere Auswirkungen ha- meine zu Recht. Dazu fordern wir Freigrenzen für die ben muß Erhebung des Zuschlags zur Einkommensteuerschuld (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Die in Höhe von 50 000 DM jährlich für Alleinstehende zahlen doch überhaupt nichts!) und 100 000 DM jährlich für Verheiratete. als höhere Abgaben für Besserverdienende? Wir fordern, für den Aufbau im Osten einen Teil der Gewinne zu verwenden, die durch den Konjunktur- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter aufschwung im Westen dank der Einheit erzielt wor- Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des den sind. Abgeordneten Kriedner? (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Was meinen Sie denn, woher das Geld kommt?) Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ja. Gemeint sind eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für Banken, Versicherungen und Handelsketten sowie Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Herr Gysi, ich wollte eine Investitionshilfeabgabe für die gewerbliche Sie fragen, ob Sie eventuell das, was Sie als Zustands- Wirtschaft der alten Bundesländer zugunsten von In- beschreibung der früheren DDR hier anführen, mit vestitionshilfen in den neuen Bundesländern. 2086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Gregor Gysi Aber die Bundesregierung ist die Regierung der geschieht, als Stückzahlen behandelt werden und Reichen; nicht als Individuen, worauf sie alle einen Anspruch (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, natürlich!) haben. Danke schön. denn während das Geld für eine ausgewogene Sozial- politik fehlt, stellte sie z. B. 1989 86,4 Milliarden DM (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von für Hilfen und Vergünstigungen für Unternehmer zur der CDU/CSU: Unerträglich sind Sie!) Verfügung; so die DIW-Untersuchung laut Wochen- bericht 52/1990. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bei aller verständli- Ich frage: Könnte es denn nicht gerade nach der chen Empörung des Abgeordneten Dr. Rudolf Krause hergestellten Einheit der Bundesrepublik Deutsch- muß ich ihm doch einen Ordnungsruf für die Aussage land ein Umdenken auch im sozialen Bereich geben? „Sie lügen! " erteilen. Wäre es nicht an der Zeit, z. B. für die gesamte Bun- desrepublik Deutschland eine Mindestrente einzu- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber, führen? Frau Präsidentin, mit der Wahrheit wurde nicht sehr gut umgegangen!) (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) — Dafür kann ich Ihnen keinen Ordnungsruf ertei- len. Wäre es nicht an der Zeit, die Sozialhilfe und die damit verbundenen Erniedrigungen abzuschaffen und dar- (Heiterkeit) aus reale Ansprüche zu machen, die nicht von den Als nächste hat die Abgeordnete Vera Wollenber- Vermögensverhältnissen irgendwelcher Verwandten ger das Wort. abhängig sind? (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Gerhard - Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Sehr ge- O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Auf Sozialhilfe ehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! gibt es einen Rechtsanspruch!) Diese Debatte findet ein halbes Jahr nach den Wahlen — Sie kennen den Unterschied zur Rente, nehme ich und am Vorabend des einjährigen Bestehens der an. Wenn es keinen gäbe, würde es ja nicht gesondert Währungsunion statt. Beide Daten markieren ent- geregelt. Sie wissen auch, was es für die Betroffenen scheidende Wendepunkte in der Geschichte des deut- bedeutet, sich jedes halbe Jahr neu aufblättern zu schen Volkes, die vor allen Dingen die Möglichkeit für müssen. eine kritische Bestandsaufnahme historischer Erfah- rung und die Chance einer umfassenden Erneuerung (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftli- haben noch nie das Rentenprinzip in der chen Lebens geboten haben. Bundesrepublik verstanden; sonst würden Sie nicht dauernd so einen Unsinn daherre Im politischen Entwurf für die Gestaltung der deut- den!) schen Einheit hätten bei der Grundsatzentscheidung für die Rekonstruktion der ökonomisch und ökolo- Sie wissen auch, wie viele Anspruchsberechtigte So- gisch ruinierten neuen Bundesländer die bekannten zialhilfe gar nicht geltend machen, weil sie den Vor- Fehler, die beim Aufbau der Ex-BRD gemacht wur- gang so demütigend finden. Das ist eine Tatsache. den, vermieden werden können. Es hätte eine nach (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: neuestem Wissensstand entwickelte sozial- und Auch in den alten Bundesländern!) umweltverträgliche Industriegesellschaft aufgebaut werden können mit allen positiven Rückwirkungen, — Auch in den alten Bundesländern. — Ich finde, die es auf die alten Bundesländer gehabt hätte. dagegen kann man eine ganze Menge machen. Die Politik hätte sich davon befreien können, bloßes Sie können eines nicht leugnen — da gibt es keiner- Machtergreifungs- und Machterhaltungsinstrument lei Kurskorrektur in Ihrer Politik — , daß nämlich auch zu sein, und wieder zur gesellschaftsgestaltenden in der Bundesrepublik Deutschland der soziale Ab- Kraft werden können. stand zwischen den Armen und den Reichen von Jahr zu Jahr nicht geringer wird, sondern von Jahr zu Jahr Dieser mutige Schritt zur dringend notwendigen größer wird. Selbst wenn es bei den unteren Einkom- Reform des bestehenden Industriegesellschaftsmo- men eine Steigerung gibt, ist die Steigerung bei den dells wurde nicht getan. Im Gegenteil: Der Vorschlag oberen immer höher. Diese Schere sollte in umge- vom Bündnis 90/GRÜNE, mit der Zählung der Legis- kehrter Richtung verlaufen. Das gehört zu einer Poli- laturperioden neu zu beginnen, um damit ein symbo- tik der sozialen Gerechtigkeit. lisches Zeichen für den gemeinsamen Neubeginn zu setzen, ist im Ältestenrat steckengeblieben. Statt des- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) sen wird weitergezählt, als hätte es keinen dramati- Gestatten Sie mir als letztes folgenden Hinweis, schen Einschnitt gegeben. Damit wird deutlich, daß weil es so häufig um die Zustände in den neuen Bun- die Intoleranz gegenüber dem gemeinsamen Start be- desländern geht: Ich finde es unerträglich, wenn über reits in diesem Hause beginnt. die Vergangenheit der Menschen und ihren Identi- Es ist außer rhetorischen Pflichtübungen kein poli- tätsverlust, wie es wirklich oft geschieht, in so arro- tischer Entwurf für die Gestaltung der deutschen Ein- ganter Weise geredet wird. Es ist unerträglich, wie Sie heit zu erkennen. Im Gegenteil: Konzeptionslosigkeit damit umgehen, wie Sie dazu stehen. Ich finde es ist das einzige sich klar abzeichnende Regierungspro- unerträglich, wenn diese Menschen, wie es häufig gramm. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2087

Vera Wollenberger Wenn ich zum Beweis dieser Behauptungen als er- des ersten gesamtdeutschen Verteidigungshaushaltes stes die Grundgesetzdebatte heranziehe, so deshalb, hätte es der erste gesamtdeutsche Friedenshaushalt weil es eine der wichtigsten Grundsatzentscheidun- sein müssen. gen gewesen wäre; die hätte getroffen werden müs- sen: dem vereinigten Deutschland eine neue Verfas- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) sung zu geben. Die Regierungskoalition zieht es vor, Wir halten an unserer Posi tion fest, daß die Konver- das deutsche Verfassungsproblem auf einige weitere sionsproblematik einheitlich durch ein Bundesgesetz Grundgesetzänderungen zu reduzieren, die zu den zu den Abrüstungsfolgen und zur Konversion zu lösen über 30 bereits beschlossenen noch hinzukommen ist. Daß die Ausgangslage in einigen alten Bundeslän- sollen. Damit fällt Deutschland selbst hinter das Ent- dern und in den fünf neuen Ländern recht unter- wicklungsland Jemen zurück, das sich nach der Ver- schiedlich ist, darf einer bundesweiten Lösung nicht einigung eine neue Verfassung gibt. entgegenstehen, zumal die Ankündigung der erfol- Eine Verfassungsdiskussion würde es den 16 Mil- genden Standortauflösungen in den alten Bundeslän- lionen Menschen in den neuen Bundesländern er- dern ein gemeinsames Problemfeld schafft. Ost und möglichen, ihre eigenen Erfahrungen, Wünsche und West sind betroffen, und die Zeit drängt. Anlaß genug, Erwartungen in das geeinte Deutschland einzubrin- nun endlich vielleicht doch ernsthafter als bisher über gen. den bereits zu Volkskammerzeiten verfaßten und im Oktober letzten Jahres in den Bundestag eingebrach- (Unruhe) ten Gesetzentwurf zur Konversion nachzudenken. — Meine Herren von der Regierungskoalition, Ihre Wir werden den Gesetzentwurf erneut einbringen mangelnde Aufmerksamkeit jetzt beweist, wie ernst und hoffen auf eine breite interfraktionelle Zustim- Sie dieses Problem nehmen. mung. Deshalb erfordert die Verwirklichung des Selbstbe- Parallel dazu regen wir an, ein Amt für Konversion stimmungsrechtes der Bürgerinnen und der Bürger beim Wirtschaftsministe rium einzurichten. Auf eine - der ehemaligen DDR, auf das Zusammentreten einer ähnliche Initiative hin wurde in der ehemaligen DDR gesamtdeutschen verfassungsgebenden Versamm- ein solches Amt eingerichtet. Ihm war nicht beschie- lung hinzuwirken. den, den zweiten Tag nach der deutschen Vereini- gung zu überleben. Wir hatten uns seinerzeit für die- Die juristische Vereinigung Deutschlands war eine ses Amt eingesetzt, und wir sind angesichts der unge- Frage des politischen Willens und des staatsmänni- lösten Probleme nach wie vor dafür, ein solches Amt schen Geschicks. Die soziale Einheit ist eine Frage des zu schaffen. Geldes und der wirtschaftlichen Kraft. Die sozialpsy- chologische Vereinigung ist eine Frage der psycho- Einige Bemerkungen zur Stationierung bzw. zum kulturellen Identität und deshalb die schwierigste. Sie Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte. wird am besten befördert, wenn aus dem bloßen An- Als Vertreter der ostdeutschen Länder stehen wir be- schluß der einen Gesellschaft an die andere ein ge- sonders in der Pflicht, alles zu tun, damit der Abzug meinsamer Neuanfang wird. Dieser Neuanfang kann der Westgruppe der sowje tischen Streitkräfte ord- und muß mit einer entscheidenden Weiterentwick- nungsgemäß und in möglichst ruhiger Atmosphäre lung des Grundgesetzes und damit der Demokratie verläuft. Deshalb ist es dringend notwendig, die Auf- verbunden sein. rechnungsklausel des Art. 7 des deutsch-sowjetischen Abkommens über einige überleitende Maßnahmen (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der vom Oktober 1990 sowie deren in Aussicht gestellte PDS/Linke Liste) Handhabung neu zu überdenken. Einige aus der Sicht der Gruppe Bündnis 90/ Ohne die Umweltschäden auf sowjetischen Liegen- GRÜNE entscheidende Aspekte möchte ich im fol- schaften zu minimieren, darf die sowjetische Seite genden näher betrachten. Einer der wichtigsten ist die nicht durch ein Anprangern als Hauptumweltsünder Pflicht Deutschlands zum Frieden. Wenn man den unter Druck gesetzt und damit indirekt veranlaßt wer- Satz aus der Atlantischen Charta ernst nimmt, daß die den, möglichst kostensparend zu entsorgen und einen Völker der Welt aus realistischen wie moralischen Teil der hinterlassenen Umweltschäden zu ve rtu- Gründen dazu übergehen müssen, auf Gewaltge- schen. Bündnis 90/GRÜNE fordern darum die Bun- brauch zu verzichten, erkennt man an, daß eine ganz desregierung auf, gegenüber der Westgruppe der so- andere Art Demokratie erforderlich ist als jene, wie sie wjetischen Streitkräfte Maßnahmen zur Zusammen- unter den Bedingungen der Ost-West-Konfronta tion arbeit bei der Beseitigung militärischer Altlasten und entwickelt wurde. Das bedeutet für uns, die Verpflich- zur Vermeidung abzugsbedingter zusätzlicher Um- tung des Staates, Ursachen für Kriege vorausschau- weltschäden vorzusehen. end zu begegnen, die Pflicht zur Abrüstung, das Her- stellungs- und Stationierungsverbot für Massenver- Mit anderen Worten: Der Abzug der Westgruppe nichtungsmittel und das allgemeine Kriegsdienstver- muß so gestaltet werden, daß stabile koopera tive Be- weigerungsrecht in der Verfassung festzuschreiben. ziehungen zwischen Deutschland und der Sowjet- union sowie ein günstiges Klima für neue Sicherheits- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) strukturen in Europa entwickelt werden. Dazu gehört die Entwicklung eines umfassenden (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer be Konversionsprogramms und die Verabschiedung ei- zahlt?) nes Konversionsgesetzes. Von diesem gesamtdeut- schen Haushalt hätten wichtige Impulse in Richtung Konversion darf in diesem Kontext nicht zum ab Abrüstung und Konversion ausgehen müssen. Statt schreckenden, sondern muß zum ermutigenden Bei- 2088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vera Wollenberger spiel für Abrüstung in Europa werden. Damit kann helme" — wird ausgenutzt, um der Durchsetzung na- zugleich der schicksalhafte Übergangsprozeß in der tionaler Interessen künftig auch mit militärischen Mit- Sowjetunion positiv beeinflußt werden. teln Nachdruck zu verleihen, Leider setzt die Bundesregierung nach wie vor lie- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das ist doch ber auf militärische Kraftmeierei und notfalls auf Waf- Blödsinn, was Sie da erzählen!) fenanwendung und ist dabei eine der treibenden etwa beim Schutz deutscher Handelsschiffe auf Hoher Kräfte innerhalb der NATO, eine schnelle Eingreif- See. truppe für b risante Bedrohungen aufzubauen. Das Spannende und Interessante an der jetzigen Aus der Allianz hörte man im vergangenen Jahr, Etappe innerhalb dieser langen Diskussion um mehr daß sie sich nun von der Konfrontation zur Koopera- außen- und sicherheitspolitische „Normalität" ist der tion entwickeln wolle. Was aber beim letzten NATO Salto mortale, den Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, nun Gipfel beschlossen wurde, ist das genaue Gegenteil. vollführen müssen, nachdem Ihnen durch die Ent- Es ging nicht um die Stärkung der politischen Funk- scheidung der SPD die Möglichkeit einer Grundge- tion, sondern einzig und allein um eine Modernisie- setzänderung verbaut ist. rung der militärischen Strukturen. Die angekündigte Stärkung der politischen Rolle wurde bei diesem Tref- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer sagt denn fen reduziert auf die Bildung schnell verlegbarer Ein- das?) greifverbände, die, wie US-Verteidigungsminister Ich möchte Sie hier deshalb an Ihre Erklärung vom Cheney auf der Pressekonferenz ausführte, für jede 11. Juni 1987 erinnern, als einige westeuropäische Krise vorbereitet sein müssen. Das ist kein politisches Staaten und die USA Kriegsschiffe in den Persisch Signal zukünftiger Kooperation, das ist eine Drohge- Arabischen Golf schickten. bärde. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Stel (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unwahr, len Sie sich das einmal bildlich vor: der Kanz - Frau Wollenberger!) ler und Salto mortale! — Heiterkeit bei der Durch diesen Gipfel wurde nochmals mit Nach- CDU/CSU) druck deutlich, daß sich die Bundesregierung — trotz Sie sagten damals: einer radikal gewandelten sicherheitspolitischen Lage in Europa — unisono mit ihren Verbündeten Ich habe im Vorfeld deutlich erklärt: Kriegs- weiter auf Konfrontationskurs befindet, um den schiffe und Soldaten in den Golf zu entsenden ist „neuen Risiken", wie die offizielle Sprachregelung indiskutabel. Unsere Verfassung verbietet das. jetzt lautet, die man vor allen Dingen an der südlichen Mit dieser Position, die auch während der Golfkrise Peripherie der NATO sieht, mutig entgegenzutre- von Mitgliedern der Bundesregierung ausdrücklich ten. bestätigt wurde, haben Sie sich sehr deutlich festge- Dabei ist die versuchte Tarnung in der Argumenta- legt. tion schnell zu durchschauen. Die weiterhin als äu- Will man die Regelung künftiger Konflikte nicht ßerst gefahrvoll an die Wand gemalten Bedrohungen den Supermächten überlassen, dann gibt es zur Stär- dienen letztlich nur der Durchsetzung von Rüstungs- kung der Vereinten Na tionen keine Alternative. Al- programmen, die gern als weltweite Wahrnehmung lerdings sind wir für eine bundesdeutsche Beteiligung von Verantwortung verbrämt werden. Das ist der ei- an friedenserhaltenden Missionen der UNO nur dann, gentliche Hintergrund für die momentan so hef tig ge- wenn es eine grundlegende Reform innerhalb der führte Diskussion um einen Einsatz von Bundeswehr- Charta der Vereinten Na tionen gibt. Diese Reform ist soldaten außerhalb des NATO-Vertragsgebiets. auch jenseits der dann daraus resultierenden Folgen Fast 18 Jahre ist die Bundesrepublik Mitglied der für die Bundesrepublik Deutschland zwingend und Vereinten Nationen, und seit dieser Zeit wird auch unbedingt erforderlich und bezieht sich in erster Linie immer mal über einen bundesdeutschen Beitrag zu auf die Verfaßtheit des Weltsicherheitsrates. den UN-Friedenstruppen diskutiert. Zur Zeit erleben Eine notwendige Voraussetzung für eine Beteili- wir unter dieser Betrachtungsweise lediglich eine gung an UN- „peacekeeping opera tions" wäre dar- neue Etappe auf dem Weg, die Bundeswehr für mili- über hinaus die völkerrechtlich verbindliche Zuord- tärische Missionen außerhalb der Beschränkungen nung friedenserhaltender Maßnahmen der UNO zum durch das Grundgesetz einzusetzen. Kapitel VI der Charta. Dort müssen die Verfahrens- Das Fatale an dieser Diskussion ist aber, daß es der modalitäten eindeutig und unmißverständlich präzi- Bundesregierung bei der Änderung des Grundgeset- siert werden. Erst dann steht einem Einsatz von Ein- zes keineswegs um die Stärkung der UNO und deren heiten der Bundeswehr für friedenserhaltende Maß- friedenserhaltende Maßnahmen geht. Das war schon nahmen der Vereinten Nationen aus unserer Sicht zu ihren Oppositionszeiten — und ist es auch heute — nichts mehr im Weg. Ein weitergehender Einsatz der nur schmückendes Beiwerk. Es ging von Anfang an Bundeswehr, z. B. im Rahmen einer westeuropäi- darum, bundesdeutsche Soldaten zur Durchsetzung schen Eingreiftruppe der WEU oder EG oder im Rah- nationaler Interessen — egal, unter welchem organi- men von Out-of-area-Einsätzen der NATO, ist für uns satorischen Dach — weltweit einzusetzen. Die hohe völlig indiskutabel und wird deshalb entschieden ab- Akzeptanz der bundesdeutschen Bevölkerung gegen- gelehnt. über den unbestrittenen Leistungen der Vereinten Für unumgänglich halten wir dagegen die Auf- Nationen — ich denke hier beispielsweise an die Ver- nahme neuer Grundrechte für Bürger in die Verf as leihung des Friedensnobelpreises an die „Blau- sung. Dazu gehört das Recht aller Bürgerinnen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2089

Vera Wollenberger Bürger auf eine soziale Grundsicherung, d. h. auf ein — Sie haben ja sonst immer so viele Worte für die Mindesteinkommen und eine angemessene Woh- Opfer übrig, aber offenbar haben Sie kein Gehör da- nung. Dazu gehören das Grundrecht auf informatio- für. nelle Selbstbestimmung und seine verfahrensrechtli- (Zuruf von der CDU/CSU: Es lohnt nicht! — che Absicherung durch den Anspruch aller Menschen Weitere Zurufe von der CDU/CSU) auf Einsicht in die über sie erhobenen Daten. Dem steht die Begehrlichkeit des Verfassungsschutzes (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius nach weiterer und legalisierter Nutzung der Stasi- Cronenberg) Opfer-Akten gegenüber. Die Bundesregierung hat seinerzeit das Honecker Regime mit Milliardenkrediten unterstützt und damit Überhaupt sind auch im Bereich des Ministeriums länger als nötig am Leben erhalten und damit indirekt des Innern mehrere Grundsatzentscheidungen falsch zum Leiden der Opfer beigetragen. getroffen worden. Insgesamt sind die Aufwendungen (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wenn für innere Sicherheit erheblich gesteigert worden. man Ihnen zuhört, wird man sofort veranlaßt, Das dürfte mit der Erwartung eines sozial heißen Ihnen zuzurufen, wie unverschämt Sie argu Herbstes in Zusammenhang stehen. Oder, wie der mentieren!) Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei vor ca. vier Wochen sinngemäß sagte: Vorkehrungen für die Auf- rechterhaltung der inneren Sicherheit bzw. gegen Un- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ruhen sind zugleich Standortwerbung und Vorbedin- geordneter Pfeffermann, Sie haben zur Zeit nicht das gung für die in den neuen Bundesländern benötigten Wort. Investoren. Trotzdem sind die Aufwendungen für den (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber Ausbau der Bereitschaftspolizei in Deutschland durch Sie will doch, daß ich zuhöre!) Bundesinteresse nicht mehr zu rechtfertigen und ver- stoßen darüber hinaus gegen Finanz- und Zuständig-- keitsregelungen des Grundgesetzes. Wir haben des- Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Wir hal- halb einen entsprechenden Änderungsantrag vorge- ten es deshalb aus Gründen der politisch-moralischen legt. Hygiene und des verantwortlichen Umgangs mit den Fehlern der Vergangenheit für unumgänglich not- wendig, daß für die Entschädigung der Opfer ein Mehr Geld und Personal wären dagegen nötig für Bleichhoher Beitrag zur Verfügung gestellt wird, wie die schnelle Durchsicht, Aufarbeitung und öffentliche man ihn seinerzeit für das Honecker-Regime übrig Darstellung der Stasi-Aktenbestände und die Offenle- hatte. Damit könnten alle berechtigten Erwartungen gung der Stasi-Strukturen. der Opfer erfüllt werden. Neben der Erhaltung des Friedens ist der Schutz der Wir brauchen auch dringend unbürokratische Re- natürlichen Lebensgrundlagen eine Aufgabe von exi- gelungen für die Anerkennung von Stasi-Opfern und stentieller Bedeutung. Wir treten deshalb dafür ein, Geschädigten des DDR-Systems. Wir brauchen eine daß in der Verfassung die Verpflichtung aller staatli- endgültige, befriedigende Regelung für die Entschä- chen Gewalt, die Umwelt als Lebensgrundlage zu- digung dieser Opfer. Der immer wieder zitierte Aus- künftiger Generationen und die Natur um ihrer selbst spruch des Justizministers Kinkel, es dürften keine willen zu schützen, festgeschrieben werden muß. unerfüllbaren Hoffnungen geweckt werden, ist eine erneute Demütigung für die betroffenen Menschen. Die Welt darf nicht länger nur Fabrikationsmaterial für die Gewinnproduktion sein. Statt des gegenwärti- gen Anthropozentrismus Im Augenblick ist nicht einmal gewährleistet, daß der gerichtlichen Festlegung, daß der Staatshaushalt (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Da die Kosten eines Rehabilitierungsverfahrens trägt, hat Ihnen der Professor wohl etwas Falsches auch entsprochen wird. Aus eigener Erfahrung weiß hineingeschrieben!) ich, daß es vorkommt, daß Rehabilitierungsverfahren brauchen wir jene Schöpfungsbezogenheit, wie sie im aus eigener Tasche bezahlt werden mußten. Aber wie konziliaren Prozeß der Kirchen gefordert ist. Wir brau- viele der Opfer, von denen es vielen materiell sehr chen eine verfahrensrechtliche Absicherung durch schlecht geht, können sich das leisten? Klage- und Akteneinsichtsrecht für Umweltschutzver- bände. Ein ökologischer Rat sollte gebildet werden Nicht um behaupteten unerfüllbaren Erwartungen und bei der Gesetzgebung mitwirken. Bund, Länder zu genügen, sondern um den schwer benachteiligten und Gemeinden sollten verpflichtet werden, die Opfern des DDR-Regimes endlich zu fairen Lebens- Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen im Rah- chancen zu verhelfen, sollte eine Grundsatzentschei- men des ökologisch Verträglichen zu fördern. dung getroffen werden. Im Bereich der Umweltsanierung könnten Hundert- tausende von Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren (Anhaltende Unruhe) geschaffen werden, um die schlimmsten Altlasten zu beseitigen, um die Luftreinigung voranzutreiben und um die Gewässersanierung zu bewältigen. Die paar — Vielleicht können Sie wenigstens jetzt mal zuhö- Pilotprojekte des Herrn Töpfer machen den Kohl nicht ren. fett. Es bringt mehr Umweltschutz und mehr sinnvolle Arbeit bei gleichem Investitionsvolumen, wenn statt (Zurufe von der CDU/CSU) auf Atomkraftwerke auf Energiesparen und emeuer- 2090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vera Wollenberger bare Energiequellen gesetzt wird. Es ist umwelt- felder nur dadurch unterscheidet, daß sie weiß ist und freundlicher und schafft mehr sinnvolle Arbeitsplätze, über Giftmüll liegt. Das wäre das Gegenteil eines blü- wenn auf den Vorrang des Schienenverkehrs und auf henden Landes, wie es uns bei der Wahl versprochen den Ausbau vorhandener Landstraßen gesetzt wird wurde. Wer möchte in einem Land mit solchen Per- statt auf den arbeitskräftearmen Autobahnbau, den spektiven leben? Herr Krause mit der Brechstange vorantreiben will. Tatsächlich nehmen die rechtsradikalen Tenden- Es ist umweltfreundlicher und schafft mehr sinn- zen gerade in Thüringen, Sachsen und Sachsen-An- volle Arbeit, wenn Lebensmittel naturnah angebaut halt zu. Täglich werden im vereinten Deutschland und in kleinen Netzen vermarktet werden. Doch dazu Asylbewerber und Einwanderer von rechtsradikalen bedarf es ausreichender Investitionshilfen für Agrar- Gruppen angegriffen. Die Fremdenfeindlichkeit ge- betriebe. gen die Asylbewerber und Einwanderer hat derartige Ausmaße angenommen, daß die Asylbewerber und Es ist umweltfreundlicher und schafft sinnvolle Ar- Einwanderer um ihre Sicherheit fürchten müssen. beitsplätze, Elektromobile zu bauen, statt auf die alten Benzinkutschen zu setzen. Hierfür braucht man ge- Die Fluchtbewegungen in der Welt nehmen zu und zielte Zukunftsinvestitionsprogramme. In solche Pro- werden auch Europa zunehmend erreichen. Die Ursa- gramme sollten Bundesförderungsmittel investiert chen sind vielfältig. Doch Hauptursachen bleiben die werden und nicht z. B. in Kaligruben, die für die Auf- Unterdrückung und Verfolgung von Menschen nahme von Giftmüll vorbereitet werden sollen. — durch Haft, Folter und Morddrohung — aus politi- schen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen bis Bei einem Hearing am vergangenen Wochenende hin zu Krieg und Bürgerkrieg. Und an allen Fluchtur- in Thüringen wurde bekannt, daß bereits Bundesför- sachen ist die Bundesrepublik Deutschland als eines dermittel in Millionenhöhe in Gruben geflossen sind, der bedeutendsten Industrieländer indirekt beteiligt. obwohl die erforderlichen Planfeststellungsverfahren noch gar nicht abgeschlossen waren. Bekanntlich ist In dieser Situation ist es erforderlich, durch radikale die Giftmüllentsorgung fest in privater Hand. Von rechtliche Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen den Gewinnen, die durch die geplante Giftmüllver- allen nationalistischen und rassistischen Bestrebun- bringung in Kaligruben gemacht werden — bekannt- gen die politisch-juristische Legitimation zu entzie- lich sind die Gewinnspannen solcher Firmen mit de- hen. Die Verweigerung demokratischer Grundrechte nen des Drogenhandels vergleichbar —, werden die für einen Teil der Bevölkerung schadet der Demokra- betreffenden Bundesländer, in denen sich die Gruben tie insgesamt. Der Ausschluß von fast 5 Millionen Ein- befinden, keinen Pfennig zu sehen bekommen. wohnerinnen und Einwohnern vom Wahlrecht bedeu- tet, daß unsere Parlamente nicht mehr repräsentativ Es werden also Bundesfördermittel eingesetzt, um sind. die private Gewinnmaximierung zu begünstigen. Un- In einer neuen deutschen Verfassung müßten des- ter Aufschwung Ost hatten wir uns etwas anderes vor- halb alle Grundrechte, die bisher nur deutschen gestellt. Staatsangehörigen zustehen, allen Bürgerinnen und Als ob das nicht schon Skandal genug wäre, stellte Bürgern gewährt werden, die seit mindestens fünf sich auch noch heraus, daß sämtliche bekannten Gift- Jahren legal in Deutschland leben. abfälle, außer radioaktiven, unterschiedslos eingela- Die sehr begrenzte Redezeit unserer Gruppe er- gert werden sollen, obwohl sich nach Expertenmei- laubt es nicht, alle Probleme umfassend darzustel- nung nur etwa ein halbes Dutzend für die Lagerung in len. Salzstöcken eignen. Das Argument, mit dem bei der Bevölkerung eine Akzeptanz für Giftmülleinlagerun- (Zurufe von der CDU/CSU) gen erzielt werden soll, ist, daß Arbeitsplätze geschaf- Wer auf die Dramatik der Situation in den neuen Bun- fen würden. In meiner Heimatstadt Sondershausen, desländern hinweist, begibt sich in Gefahr, der Mies- wo über 1 000 Kalikumpel arbeitslos werden, wären macherei beschuldigt zu werden. es genau 19 Arbeitsplätze pro Schicht. Das ist weniger als der bekannte Tropfen auf den heißen Stein. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mit Recht!) Gleichzeitig würden aber Hunderte potentieller Ar- beitsplätze in der Tourismusbranche gar nicht erst Dabei ist es bei aller berechtigten Freude über Teiler- entstehen können; denn wer will schon auf einer Gift- folge geboten, den Ernst der Lage zu erkennen. müllkippe Urlaub machen, und wenn die Gegend Die Selbstmordrate ist auf dem Gebiet der ehemali- noch so schön ist? gen DDR auf das Zehnfache gestiegen. Dafür ist die Die Landschaft, von der ich gerade spreche und die ehemals hohe Zahl der Geburten unter die in der ehe- durch Giftmülleinlagerungen bedroht ist, ist eine der maligen BRD gesunken. Diese Tatsachen sprechen artenreichsten Deutschlands. Die Gipskarstgebiete eine eigene Sprache. der Gegend erfüllen alle Kriterien eines UNO-Bio- Stellen Sie sich vor, Herr Bundeskanzler, Sie wären sphärenreservats. Sie hätten deshalb gute Chancen, ein Ossi: Ihr Sparguthaben nach langjähriger Arbeit in die UNO-Liste aufgenommen zu werden. wäre vor einem Jahr halbiert worden, Sie stünden nun ohne Arbeitsplatz da, aber dafür müßten Sie einen Leider sind sie durch die Begehrlichkeiten der Gips- Wohngeldantrag stellen, um Ihre Miete noch bezah- industrie bedroht, die sich die zweifelhaften Bergbau- schutzgesetze der alten DDR zunutze machen will. len zu können. Statt eines Biosphärenreservats würde dort dann eine Die Politik des Anschlusses, die Sie, Herr Bundes- Tagebaulandschaft entstehen, die sich von der Bitter- kanzler, betrieben haben, ist gescheitert. Sie sollten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2091

Vera Wollenberger den Mut haben, sich dafür bei den Menschen im — Nein, ich bin da vorsichtiger. — Wenn ich sie so im Osten zu entschuldigen. nachhinein lese, dann muß ich sagen, daß ich sie für Ich danke Ihnen. genauso wenig geglückt halte wie Ihre heutige Rede. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) SPD) Herr Ministerpräsident, da Sie ja so gerne im Be- reich der Literatur und der Philosophie Ausschau hal- ten, hoffe ich für Sie zusammen mit meinem Lands- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort mann Ernst Bloch nach dem „Prinzip Hoffnung" auf hat der Bundeskanzler. gute Auftritte hier im Bundestag. Was ich aber bedauere — das ist ein Anspruch, den Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! man an den neugewählten Parteivorsitzenden der Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte SPD stellen kann — , ist, daß Sie keine Antworten ge- vorab eine Bemerkung an die Adresse meiner ge- geben haben, schätzten Vorrednerin machen. Ich bin ja daran ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wöhnt, für alles verantwortlich gemacht zu werden. Ich bin nun aber wirklich nicht bereit, auch noch die und zwar auf die konkreten Fragen der Politik, und Verantwortung für das Absinken der Geburtenrate in daß Sie eine Begründung Ihrer ganz persönlichen Po- den neuen Bundesländern zu übernehmen, litik in den letzten Jahren unterlassen haben. Sie sind ja schon seit Jahren an verantwortlicher Stelle in unse- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und rer Bundesrepublik tätig. Ich habe von Ihnen z. B. der FDP) nichts zum Thema Abrüstung gehört. Volker Rühe zumal ich noch gar nicht weiß, wie Sie das — — und auch Graf Lambsdorff haben das mit Recht hier schon gerügt. Über viele Jahre hinweg hat die Sozial- (Anhaltende Heiterkeit und Beifall bei -der CDU/CSU und der FDP) demokratische Partei Deutschlands die Abrüstung zu einem zentralen Thema ihrer Politik gemacht. Hier im — Sehen Sie, es ist sehr typisch für Sie, gnädige Frau, Deutschen Bundestag haben wir nach meiner Wahl daß Sie es nie abwarten können. zum Kanzler am 1. Oktober 1982 große Redeschlach- (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ ten um den richtigen Weg gehabt. Als ich Ihnen da- CSU und der FDP) mals zurief „Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Die deutsche Einheit ist am 3. Oktober 1990 vollendet Waffen", haben Sie uns mit einer schlimmen Hetze in worden. Jetzt schreiben wir, wenn ich mich richtig bezug auf Kriegsgefahr und anderes überzogen. erinnere, Anfang Juni. Wie kommen Sie da eigentlich Nun, meine Damen und Herren, wir haben Wort auf die neun Monate? gehalten. (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei CSU und der FDP) fall bei der FDP) Sehen Sie, diese Äußerung war leider ziemlich symp- Sie sprechen so gerne von Wahrhaftigkeit. Das ist ein tomatisch für das, was Sie insgesamt gesagt haben. Punkt, bei dem Sie uns die Antwort auf die Frage (Beifall bei der CDU/CSU) schulden, warum Sie damals von Kriegsgefahr ge- sprochen haben und damit billige Geschäfte bei den Meine Damen und Herren, die Haushaltsdebatte Wählern machen wollten. und die Beratungen des Etats des Bundeskanzleram- tes sind traditionell Grundlage für eine Generalaus- Es gehört zu diesem Bild — das will ich hinzufü- sprache. Es ist die verständlichste Sache der Welt, daß gen — , daß Sie auch über die politischen Folgekosten hier Kritik geübt wird und Meinungen auseinander- dieser so überaus erfolgreichen Abrüstungspolitik, die gehen. Es ist auch ganz selbstverständlich — ich uns jetzt zu schaffen machen, ein Wort hätten sagen selbst habe diese Rolle über viele Jahre hinweg wahr- können. Ich muß das schon bemerkenswert finden, genommen —, daß die Opposition K ritik übt. Die heu- was ich täglich in meiner Post zu lesen bekomme, tige Haushaltsdebatte war aber Anlaß zu einem unge- nämlich wer sich jetzt alles über den Abzug der Ame- wöhnlichen Einstand. Der gerade neu gewählte Vor- rikaner oder der Franzosen und den Abbau von Bun- sitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- deswehrstandorten bitter beschwert. lands, Herr Ministerpräsident Engholm, hat hier ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sprochen. Ich nehme zunächst einmal die Gelegenheit wahr, Herr Ministerpräsident, Ihnen zu Ihrer Wahl zu Ich habe niemals „Ami go home" gerufen; ich habe gratulieren. Da ich jetzt 18 Jahre Parteivorsitzender mich nicht an jener Verfemung unserer amerikani- einer anderen großen Volkspartei bin, habe ich eine schen Freunde während des Vietnam-Kriegs und in Vorstellung davon, was auf Sie zukommt. Deshalb der Zeit danach beteiligt. Es ist schon erstaunlich, wel- gratuliere ich Ihnen um so herzlicher. che Widersprüche einem heute zugemutet werden, wenn es um den Abzug oder den Abbau von Truppen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) und die Probleme geht, die damit natürlich vor Ort Als Sie sprachen — lassen Sie mich das ganz ent- entstehen. spannt sagen —, habe ich mich an meine erste Rede Ich spreche ein zweites an. Ich behaupte, daß es in nach meiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahre den langen Jahren der Bundesrepublik — ich spreche 1973 erinnert. keinem meiner Vorgänger in irgendeiner Weise sei- (Zuruf von der CDU/CSU: Die war besser!) nen Willen und seine Tatkraft ab — niemals bessere 2092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Beziehungen zu den wich tigsten Partnern Deutsch- stimmung sind Sie doch davon abgerückt; Sie haben lands — den USA, Frankreich und Großbritannien — dann so weitergemacht. und zur Sowjetunion gegeben hat als heute. Wissen Sie, Herr Ministerpräsident, wo Sie als So- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zialdemokraten an jenem 10. November abends in Berlin standen, als Herr Momper das aussprach, was Dies ist ein Erfolg dieser Bundesregierung. Ich bin die allermeisten bei Ihnen gedacht haben, nämlich stolz darauf, daß ich dazu beitragen konnte. daß es um „Wiedersehen" gehe und nicht um Wieder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vereinigung? Drittens. Ich bin schon sehr erstaunt, Herr Minister- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge präsident, über das, was Sie hier über die europäische ordneten der FDP) Integrationspolitik gesagt haben. Alles das, was Sie Deswegen, Herr Ministerpräsident, bin ich nicht be- verlangen, ist doch längst im Gange. Als ich mein Amt reit, Kritik von einer Seite hinzunehmen, die zunächst antrat, war das Wort von der „Eurosklerose" das allen Grund zur Selbstkritik hätte. Daß wir nicht alles meistgenannte Wort mit Blick auf Europa. Der Begriff optimal gemacht haben, daß wir Fehler gemacht ha- einer schlimmen Krankheit war mit dem Beg riff ben, daß in den dramatischen Entwicklungen dieser Europa verbunden. fünf Vierteljahre manches zu kurz gekommen ist, weil Heute weiß jeder: Der große Markt kommt am zuwenig Zeit zum Nachdenken und zur Bedachtsam- 31. Dezember 1992. Heute wissen wir — das wissen keit vorhanden war, räume ich Ihnen gerne ein. Es übrigens alle, auch Ihre politischen Freunde im Euro- hätte Ihnen jedoch gut angestanden, zu sagen, daß es päischen Parlament — , daß die Bundesrepublik eben nur ein paar Wochen waren, in denen die deut- Deutschland und die Bundesregierung die treibende sche Einheit interna tional durchsetzbar war. Diese Kraft bei der europäischen Integra tion sind und daß Chance haben wir genutzt; das ist doch die Wahr- François Mitterrand und ich gemeinsam immer wie- heit. der die Initiative ergriffen haben, um als Motor der - (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ europäischen Einigung zu wirken: bei der Wirt- CSU — Beifall bei der FDP) schafts- und Währungsunion und bei der Politischen Union. Herr Ministerpräsident, ich komme auf das — je- denfalls für mich — wichtigste Thema, nämlich die Warum sagen Sie nicht ganz einfach: Dies ist ein Entwicklung der neuen Bundesländer, gleich noch Feld der Politik, bei dem wir übereinstimmen, und einmal eingehend zurück. dabei unterstützen wir Sie? Ich habe bisher keine bes- seren Vorschläge von Ihrer Seite gehört. In bezug auf das, was Sie auch im Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung der alten Bundesländer, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der bisherigen Bundesrepublik gesagt haben, ver- Sie haben auch die Erhaltung der Schöpfung ange- stehe ich eines überhaupt nicht: Wie können Sie hier sprochen. Nun, Herr Ministerpräsident, was haben als Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes Sie während der Regierungszeit der SPD zum Erhalt ans Pult treten und sagen, daß uns die industriepoliti- der Regenwälder getan? Der Raubbau an den Regen- sche Perspektive fehle? Meine Damen und Herren, wäldern fand auch schon vor 1982 statt. Es war diese wie präsentiert sich denn die alte Bundesrepublik ei- Bundesregierung, die beispielsweise eine Verbin- gentlich am heutigen Tag? Seit 1983 haben wir einen dung zwischen Schuldenerlaß an Länder der Dritten kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufstieg. Es gibt Welt und dem Erhalt der Regenwälder hergestellt kein vergleichbares Land — vielleicht von der hat. Schweiz abgesehen — , in dem ein Regierungschef das gleiche von seinem Land sagen kann. Wir haben gestern gemeinsam ein nationales Komi- tee zur Vorbereitung der großen Umweltkonferenz (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei der Vereinten Nationen im nächsten Jahr gegründet. fall bei der FDP) Ich hatte den Eindruck — ich war bei der Eröffnung Wir haben Jahr für Jahr eine Zuwachsrate des Brut- dabei —, daß auch die Kollegen aus der SPD, die tosozialprodukts gehabt, im letzten Jahr den Rekord- daran teilnahmen, das alles durchaus für vernünftig wert von 4,5 % — natürlich nicht zuletzt und vor allem hielten. Ich bin dafür, daß wir auch hier ein Stück wegen der deutschen Einheit. Wir hätten diese 4,5 % Gemeinsamkeit entwickeln. nicht erreicht ohne den Prozeß der deutschen Einheit Ich komme jetzt zum Thema deutsche Einheit. und den Boom, der auch dadurch in der westdeut- Wenn ich an manche Äußerung, die auch auf Ihrem schen Wirtschaft entstanden ist. Wir haben jetzt allen Parteitag gemacht wurde, denke — ich meine jetzt Unkenrufen zum Trotz — ich behaupte nicht, daß das nicht Sie persönlich, sondern andere — , dann frage die Zahl für das ganze Jahr 1991 ist — im ersten Quar- ich mich gelegentlich: Wo war ich eigentlich 1990? tal 1991 immerhin gut 4 % Zuwachsrate beim Brutto- Wie Sie die Geschichte jetzt umzuschreiben versu- sozialprodukt. chen, hat mit der Wirklichkeit von damals nichts zu Jacques Delors, mit dem ich gerade gestern darüber tun. sprach, sagt ja auch, daß alle in der EG einen großen Wo war die deutsche Sozialdemokratie, als wir Nutzen davon haben. Frankreich hat im ersten Vier- Ende 1989 über mein Zehn-Punkte-Programm zur teljahr dieses Jahres im Export nach Deutschland eine deutschen Einheit diskutiert haben, das international Steigerung von 20 % zu verzeichnen. Das heißt doch, von vielen als das richtige Konzept zum richtigen Zeit- daß die deutsche Wirtschaft durch die Wiedervereini- punkt erkannt wurde? Nach einem Moment der Zu- gung, aber auch durch die ökonomische Leistungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2093 Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl kraft in der alten Bundesrepublik eine Entwicklung doch auch der Tatsache, daß sie für ihre Mitglieder — vorzuweisen hat, die auch unseren EG-Partnern sehr das ist gestern ja hinreichend gerühmt worden — viel zugute kommt. tun konnte. Sie konnte für ihre Mitglieder solche Ta- Warum sollen wir denn jetzt eigentlich wieder sol- rifverträge durchsetzen, weil die Wirtschaft unseres che Ladenhüter hervorziehen, Herr Ministerpräsi- Landes enorme Möglichkeiten bot. dent, als sei irgend jemand in der Koalition der Mei- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der nung — hier muß ich ausdrücklich auch den Grafen FDP) Lambsdorff verteidigen und in Schutz nehmen — , daß Herr Abgeordneter, der Sie gerade den Zwischen- Marktwirtschaft — wir reden hier übrigens nicht von ruf gemacht haben, wenn Sie Ihre engere Heimat und Marktwirtschaft, sondern von Sozialer Marktwirt- schaft — eines der großen Automobilwerke, das dort steht, das dort Niederlassungen hat, betrachten, dann wissen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie doch: Tarifverträge dieser A rt mit solchen Erfol- gen für den einzelnen Arbeitnehmer kann man nur bedeute, wir würden uns sozusagen als Staat — wir alle, die wir den Staat repräsentieren — in unseren abschließen, wenn sich die Wirtschaft in einer glän- zenden Verfassung befindet. Das hat mit unserer Poli- jeweiligen Funktionen zurücklehnen und uns um tik sehr viel zu tun! überhaupt nichts kümmern? Das ist doch eine absurde Vorstellung. würde sich im Grab her- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) umdrehen, wenn das unsere Politik wäre. Ich nenne noch einen weiteren Punkt: Preisstabili- Die Infrastruktur gehört dazu. Meine Vorrednerin tät. Ich finde, wir — wenn ich das sage, dann meine hat den Kollegen Krause soeben wegen der Verkehrs- ich doch nicht nur die Bundesregierung, sondern alle entwicklung in den neuen Bundesländern kritisiert. Teile unserer Gesellschaft — haben hier in den letzten Ja, wenn Sie die Bahn- und die Autobahn- und die Jahren Beachtliches dazu leisten können, daß die D- Kanalverbindungen nicht in Ordnung bringen, dann Mark so stabil ist. Wenn in der Diskussion über eine werden Sie dort keinen industriellen Aufschwung ha- europäische Währung einige unserer Partner mit ben. Das muß doch der Staat leisten! leichter Häme sagen: „Wir haben ja eigentlich schon eine europäische Währung! ", dann hat das doch et- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) was mit der Stabilität unserer D-Mark zu tun. Verehrter Herr Ministerpräsident Engholm, ich Ich könnte die Liste der Beispiele beliebig fortset- weiß nicht, warum Sie Margaret Thatcher und Ronald zen. Ich will nur sagen: Ich habe viel Verständnis für Reagan mit ihrer Wirtschaftspolitik hier in die Debatte Kritik, aber ich hätte es schon begrüßt, wenn Sie wirk- eingeführt haben. Das war für mich nie ein Vorbild. liche Alternativen vorgetragen hätten, beispielsweise Ich bin allerdings auch durch meinen kurzen Vaterna- zur Industriepolitik. Wir haben in Hamburg gerade men davor geschützt, daß daraus ein Ismus gemacht die Zeche für eine großartige Politik bezahlt, die wir wird. im Bund gemacht haben, die aber der Hamburger (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Senat für sich in Anspruch genommen hat. Die Wirt- der FDP) schaft dort boomt doch nicht auf Grund der Leistung des Hamburger Senats. Ich kann also nur sagen: Wir haben immer Politik der Sozialen Marktwirtschaft gemacht. Das ist Politik zu- (Beifall bei der CDU/CSU) gunsten breiter mittelständischer Schichten. Das ist Daß der Hamburger Hafen in Nordeuropa wieder eine Politik für die Arbeitnehmerschaft. Wir sind jetzt da- Perspektive hat, daß es in der Nachbarschaft jetzt kei- bei, etwa in bezug auf die neu entstehenden Bet riebe, nen Schießbefehl und keinen Stacheldraht mehr gibt, auf die Idee zurückzukommen — sie wurde in den sondern die alte Verbindung nach Mecklenburg-Vor- letzten dreißig Jahren leider nicht hinreichend kon- pommern wieder da ist, daß beispielsweise die Ent- kretisiert — , daß sich möglichst viele Betriebsangehö- wicklung in der EG auch Hamburg enorme Vorteile rige an dem jeweiligen Unternehmen beteiligen kön- gebracht hat und noch mehr bringen wird, das ist doch nen. Es gibt jetzt doch interessante Diskussionen zu das Ergebnis unserer Politik. diesem Punkt, aus denen wir auch praktische Konse- quenzen ziehen wollen. Ich muß in Kauf nehmen — das weiß ich; lassen Sie mich das einmal ganz offen sagen, auch wenn es im- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mer wieder eine schmerzliche Erkenntnis ist — , daß Wenn ich das richtig sehe, sind wir, was weite Teile diese Erfolge erst langsam und nicht über Nacht aner- der Gewerkschaften und übrigens, so glaube ich, kannt werden und daß Sie in der Zwischenzeit daraus auch Ihrer eigenen Partei angeht, gar nicht so weit natürlich auch politisch Honig saugen können. Nur, auseinander. Es gibt doch vieles, was man miteinan- das habe ich als Parteivorsitzender nach 1973 auch der besprechen könnte. lange geglaubt, und dann hat es immerhin noch neun Jahre gedauert, Herr Kollege. Deshalb betrachte ich Das Ergebnis unserer Industriepolitik konnten Sie dies mit großer Gelassenheit. doch gestern mit mir gemeinsam in der Paulskirche sehen. Sie sahen dort eine selbstbewußte Gewerk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaft, eine der großen Gewerkschaften der Welt. Der Haushaltsentwurf, der jetzt zur Beratung an- (Zurufe von der SPD) steht, dokumentiert die Verantwortung Deutschlands für die Herstellung seiner inneren Einheit, für die — Das will ich gleich begründen, Verehrter. Daß diese Schaffung des vereinten Europas und die Sicherung Gewerkschaft so selbstbewußt sein kann, verdankt sie des Friedens in der Welt. Es ist hier mit Recht gesagt 2094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl worden — ich denke, das ist ein Stück gelebter Ge- Es ist auch ganz falsch, wenn in den westlichen meinsamkeit —, daß wir gemeinsam das Ziel haben, Bundesländern manche so reden und denken, als hät- gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu ten unsere Landsleute in den neuen Bundesländern schaffen. Jeder hier im Saale weiß wohl, daß es gewal- die deutsche Einheit nur erstrebt, um möglichst tige Schwierigkeiten auf diesem Wege gibt. Ich schnell den Wohlstand genießen zu können. Das ha- glaube auch, wir sollten uns nicht gegenseitig vorhal- ben manche sogenannte Intellektuelle im letzten Jahr ten, daß der eine mehr und der andere weniger von schon an Wahlabenden den Menschen klarzumachen den Sorgen und Ängsten der Menschen versteht. versucht. Herr Abgeordneter Gysi, Sie zeigten sich vorhin (Zurufe von der CDU/CSU: Schily!) leicht indigniert über die Reaktion einiger Kollegen Das waren jene Zyniker, die vorgeben, für Menschen aus den neuen Bundesländern hier im Saale, vor allem zu reden, aber gar nicht fähig sind, sich in deren Lage aus meiner Fraktion, aber auch aus anderen Fraktio- hineinzuversetzen. Die Menschen wollten Freiheit, nen. Wundert Sie das wirklich, wenn Sie hier so auf- sie wollten „Einigkeit und Recht und Freiheit" als ein treten, wie Sie es tun? Sie sind einfach nicht dazu Stück ersehnter Erfüllung ihrer eigenen Hoffnun- berufen, für die Menschen in den neuen Bundeslän- gen. dern zu sprechen. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der mit der friedlichen Revolution 1989 eines der besten FDP sowie Beifall der Abg. Dr. Hans-Jochen Kapitel deutscher Geschichte geschrieben. Seit fast Vogel [SPD] und Gerlinde Hämmerle [SPD] 60 Jahren kannten sie nur das Unrecht und den Un- — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das geist der Diktatur. Was ich für alle aus dem Westen, sollten Sie den Wählern überlassen!) wenn ich das so verkürzt sagen darf, für nachdenkens- wert halte: Sie haben sich trotz dieser Zeitspanne — Natürlich haben Sie wie jeder andere, der in freier, gleichwohl Sensibilität für Gerechtigkeit und geheimer und direkter Wahl gewählt ist, das Recht, Menschlichkeit bewahrt, vielleicht sogar mehr als hier zu sein und zu sprechen. Aber Sie sollten nicht so manche in der Wohlstandsgesellschaft der bisherigen tun, als seien Sie der Fürsprecher der Interessen der Bundesrepublik. Ich glaube, jetzt ist es wichtig, daß Menschen in den neuen Bundesländern. Dieser Un- das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das wir uns als terschied ist hier schon zu machen. Dazu sind Sie nicht Nation in den Jahrzehnten der Teilung bewahrt ha- in der Lage. ben, auch unseren Alltag bestimmt. Von Mitmensch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichkeit und Verständnis dürfen wir nicht nur reden, sie müssen sich praktisch bewähren. Wir müssen uns Wir alle wissen um die Sorgen und Ängste der Men- in dieser schwierigen Phase des wirtschaftlichen Um- schen um ihre Arbeitsplätze, Wohnungen und die Pro- bads ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Ver- bleme des Alltages. Vor allem wer aus dem Westen antwortungsbewußtsein und Sinn für das Mögliche kommt, muß begreifen, was es heißt und was es nach bewahren. Nach allem, was ich sehe — sie alle haben den Erfahrungen von Jahrzehnten kommunistischer doch ihre eigenen Erfahrungen, die ähnlich sind —, Ditaktur für eine persönliche Herausforderung ist, sind unsere Landsleute in den neuen Bundesländern -sich in einer völlig anderes gearteten Gesellschafts entschlossen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu neh- und Rechtsordnung, in einem freiheitlichen Rechts- men. Aber sie brauchen in ihrer schwierigen psycho- staat einzuleben. logischen Situation auch etwas Zeit, die übrigens die Bundesbürger in den Jahren der Gründung der Repu- Die Menschen in den westlichen Bundesländern blik nach der Währungsreform ebenfalls hatten und in — ich sage das auch für mich persönlich — hatten das Anspruch genommen haben. Glück, in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat zu leben. Unsere Landsleute lebten Jahr- Wenn ich die Arbeiter in Bitterfeld oder anderswo zehnte in Unfreiheit. Die Älteren unter ihnen, die Al- vor mir sehe, dann weiß ich, daß es ein Unsinn ist, ten, haben dies auch noch in der Zeit der Nazibarbarei wenn etwa in vielen westlichen Stammtischgesprä- erleben müssen. chen gesagt wird: Die sollen erst einmal arbeiten ler- nen. — 40 Jahre Unfreiheit — das heißt ja beispielsweise 40 Jahre Stasi-Herrschaft. Wie sich diese Krake in das (Beifall im ganzen Hause) Leben und die Existenz des einzelnen eingefressen Als einer, der beruflich aus der chemischen Indust rie hat, erkennt man bei den täglichen Gesprächen. Man kommt, der als Student dort Jahre als Arbeiter gear- erkennt auch, welche Wirkungen das in den politi- beitet hat, habe ich eine Vorstellung von der Mentali- schen Parteien hat und was es bedeutet, wenn gefragt tät in einem solchen Bet rieb. Ich kann nur sagen: wird: „Warst du damals schon dabei? Wie war deine Wenn ich einerseits die Ergebnisse von Buna, Leuna Rolle?" Wir haben nach 1945 eine Entnazifizierung und Bitterfeld, die dem Weltmaßstab sicherlich nicht erlebt. Auch das war ganz gewiß eine schwierige Pe- entsprachen und andererseits die Bedingungen be- riode unserer Geschichte. Aber es ging nur um zwölf trachte, unter denen diese Ergebnisse erzielt wurden, Jahre, und viele Weitsichtige hatten spätestens mit dann kann ich von den Arbeitnehmern dort nur mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Perspektive Hochachtung sprechen. vor sich gesehen: Dieser Krieg geht nicht gut aus, und die Nazizeit geht zu Ende. Das konnte noch vor drei (Beifall im ganzen Hause) oder vier Jahren in der früheren DDR so niemand vor- Am 21. Juni des vergangenen Jahres habe ich an aussagen. Deswegen, finde ich, sollten wir hier auch dieser Stelle in der Regierungserklärung zur Wäh- Verständnis haben und aufeinander zugehen. rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gesagt: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2095

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Es wird harte Arbeit, auch Opfer, erfordern, bis heute vielfach mißverstanden werden. Dies ist nicht wir Einheit und Freiheit, Wohlstand und sozialen nur Semantik. Ich greife bewußt das Wo rt „Sozial- Ausgleich für alle Deutschen verwirklichen kön- hilfe " heraus. Wir müssen wirk lich einmal darüber nen. nachdenken, ob nicht bestimmte Begriffe, die für uns Diese Feststellung bleibt richtig, der Übergang ist so selbstverständlich geworden sind, von unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern dahin miß- schwierig. verstanden werden, daß womöglich der Eindruck ei- Daß die Solidarität des Bundes auch und gerade — ner sozialen Zweitrangigkeit entsteht, obwohl z. B. und trotz unserer gewachsenen internationalen Ver- das Wohngeld damit überhaupt nichts zu tun hat. antwortung — den neuen Bundesländern und den Diese Aufklärungsarbeit müssen wir gemeinsam lei- Menschen dort zugute kommt, zeigt doch der Haus- sten. halt 1991. Es ist schon gesagt worden: Jede vie rte Mark auf der Ausgabenseite steht im Zusammenhang Erst letzten Montag habe ich erneut eine Wi rt mit dem gemeinsamen Aufbauwerk in den neuen -schaftskonferenz über die Lage in den neuen Bundes- Bundesländern. Wir erhöhen in nahezu allen Berei- ländern geleitet. Hier waren Gewerkschafter, Unter- chen die Leistungen soweit möglich. Unsere Finanz- nehmer, Unternehmensverbände und viele andere politik erlaubt es uns, unsere Aufgaben im Inneren Gruppen vertreten, und ich durfte wieder einmal er- und nach außen zu erfüllen, und zwar ohne Überfor- fahren, daß der Wille zur Gemeinsamkeit vorhanden derung der Kapitalmärkte. Ich bin dem Haushaltsaus- ist. So werden wir beispielsweise das gerade im Som- schuß ausdrücklich dankbar, daß er mit seinen Be- mer dieses Jahres besonders drängende Problem der schlüssen die Politik der Bundesregierung und vor Arbeitsplätze nicht lösen können, wenn wir nach alt- allem auch des Bundesfinanzministers bestätigt hat. hergebrachten Schablonen verfahren. — Ich streite jetzt wirklich nicht um Begriffe. Sie haben zum Teil Wir müssen mit Augenmaß vorangehen; denn wir andere Begriffe verwandt, und die Gewerkschaften wissen um die Pflicht, unsere Währung stabil zu hal- haben dies auch getan. Hier geht es jedoch um die ten. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen für zu- Sache, und dies heißt für mich, daß Arbeitsbeschaf- liche Wohlfahrt. Volker Rühe hat künftige wirtschaft fungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen, daß es schon gesagt — man kann es nicht oft genug er- Qualifizierungs- und Umschulungsprogramme ge- wähnen; ich sage es am heutigen Tage besonders macht werden müssen. Do rt, wo es noch an Unterneh- gern, weil sich gestern der Tag gejährt hat, an dem men mangelt, wo es noch keine Handwerksbetriebe in der Harvard-Universität den nach George Marshall gibt und daher auch keine Lehrlinge ausgebildet wer- ihm benannten Plan vorgeschlagen hat — : Im Jahre den können, müssen wir eben eine Übergangsrege- rikaner für da- 1950 wurden durch die Hilfe der Ame lung schaffen. Dies ergibt sich aus unserer Verantwor- mals über 50 Millionen Einwohner 7 Milliarden DM tung für die jungen Leute, die jetzt einen Ausbil- bereitgestellt. Nach heutigen Preisen — Volker Rühe dungsplatz brauchen. hat es schon gesagt — wären dies immerhin 800 DM pro Einwohner. Heute geben wir für jeden der gut (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 16 Millionen Einwohner der neuen Bundesländer 6 100 DM aus. Daran sieht man, daß hier eine gewal- Meine Damen und Herren, in diesem Jahr stehen tige finanzielle Anschubkraft vorhanden ist. Dies ist allein 280 000 Plätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnah- selbstverständlich keine Milchmädchenrechnung; men zur Verfügung. Außerdem können wir mit rund vielmehr sind die heutigen Preise berücksichtigt. Ich -7,7 Milliarden DM mehr als 500 000 Fortbildungs habe nicht behauptet, daß sich diese Dinge völlig ver- und Umschulungsmaßnahmen verwirklichen. Ich gleichen lassen. Aber angesichts der Tatsache, daß so sprach von den Lehrstellen. Das, was sich jetzt ab- viele sagen, es geschehe nicht genug, will ich doch zeichnet, ist noch keineswegs die Erfüllung unserer darauf hinweisen, daß bereits eine geringere Summe Wünsche; aber ich muß ebenso klar sagen, daß ich aus zum Aufbau der ursprünglichen Bundesrepublik ent- der Besprechung am vergangenen Montag mit dem scheidend beigetragen hat. Hinzu kam natürlich die Gefühl herausgegangen bin, daß — wie damals 1984/ Leistungsbereitschaft der Menschen. Der Aufstieg der 85 Gewerkschaften, Unternehmer, der Deutsche alten Bundesrepublik ist nicht vom Himmel gefallen, Industrie- und Handelstag und die Handwerksver- er ist hart erarbeitet worden. Gemeinsam müssen wir bände große Anstrengungen unternehmen, das Ziel nun auch den Aufstieg der neuen Bundesländer erar- zu erreichen. Ich finde es müßte eigentlich unser ge- beiten. meinsamer Ehrgeiz sein, daß Ende dieses Jahres mög- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichst alle Schulabgänger auch Ausbildungsplätze be- kommen. Das muß unser Ziel sein, und das halte ich Ich finde es nicht gut, wenn, wie dies eben wieder für ganz wichtig. durch meinen Vorredner geschehen ist, die sozialen Errungenschaften, die jetzt auch den Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den neuen Bundesländern zur Verfügung stehen, her- abgesetzt werden. In der ursprünglichen Bundesrepu- Wir haben Förderbedingungen für den Aufbau in blik waren alle stolz auf die soziale Tat der Einführung den neuen Bundesländern geschaffen, wie es sie nie des Wohngeldes. Das Wohngeld ist doch nie als Almo- zuvor gegeben hat und wie es sie, wenn ich das richtig sen verstanden worden, sondern es ist verstanden sehe, gegenwärtig in keinem Land Europas gibt. Es worden als eine gesellschaftspolitische Notwendig- gibt für private Investitionen eine Investitionszulage keit, die etwas mit der Lebensqualität von Menschen und Sonderabschreibungen — und damit besonders zu tun hat. Ich bin mir darüber im klaren, daß die von günstige Bedingungen. Ich bin ganz sicher, daß dies uns verwendeten Beg riffe wie z. B. „Sozialhilfe" die Gesamtentwicklung positiv verändern wird. 2096 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Ich sagte schon: Wir alle wissen, daß die Situation die Menschen geschehen muß, können doch dann, auf dem Arbeitsmarkt der östlichen Bundesländer in wenn Herr Bundesminister Krause hier — gemeinsam den nächsten Monaten noch schwieriger werden mit dem Kollegen Kinkel — eine Vorlage für ein Be- wird. Ich weiß, was Verlust des Arbeitsplatzes heißt, schleunigungsgesetz macht, nicht geltend machen, wobei viele natürlich auch wissen, daß sie nach einer das sei ein Eingriff in die Umwelt, ein Verstoß gegen Durststrecke eine große Chance haben. Umweltbelange. Hier geht es doch darum, daß wir So erfreut ich darüber bin und so ermutigend es ist, schnell handeln können. daß seit November 1989 in den neuen Bundesländern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — bereits 2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse Freimut Duve [SPD]: Die gleiche verkehrte eingegangen wurden — das ist ein ausgezeichnetes Verkehrspolitik wie hier in den vergangenen Ergebnis —, so müssen wir auch die Probleme derje- Jahren!) nigen sehen, die ganz besonders betroffen sind. Vor — Herr Kollege, Ihre Zwischenrufe sind immer die dem jetzt 25- oder 30jährigen liegt ein weiter Lebens- gleichen, sehr laut, und zwar bewundernswert laut. weg in Freiheit, in Frieden und in sozialer Sicherheit. Für den jetzt 55jährigen ist das sehr viel schwieriger. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Ihm Rat zu geben ist sehr viel schwieriger; wir leisten Herr Ministerpräsident, das hätte ich gern heute uns ja selbst hier, in der prosperierenden Wi rtschaft von Ihnen gehört. Das ist so ein Vergleich zu meiner der alten Bundesrepublik, den Unsinn, daß in vielen Zeit, 1973. Betrieben ein 55jähriger bei Neueinstellungen als zu alt gilt. Sie sind jetzt hier Parteivorsitzender, und Sie sind natürlich auch Ministerpräsident. Sind Sie bereit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch als der Mehrheitsführer im Bundesrat — wenn der FDP) ich das einmal so nennen darf — zu sagen: „Jawohl, Ich bin ganz sicher, daß die jetzt verfügbaren Mög- Bundesregierung, wir wollen, daß die Gesetze so lichkeiten genutzt werden. schnell wie möglich durchgehen, damit sie den neuen Ländern helfen."? — Das wäre doch ein Wort gewe- Ich will auch gerne sagen, Herr Ministerpräsident, sen! daß die neuen Bundesländer in wenigen Jahren zu den modernsten und attraktivsten Standorten in Eu- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der ropa zählen werden. Es muß unser Interesse sein FDP) — auch in den westlichen Bundesländern — , daß sie Wir haben sehr viel für die Finanzausstattung der möglichst so stark werden, daß auch der eine oder neuen Länder und Gemeinden getan. Daß das, was andere in den westlichen Bundesländern im Blick auf wir bisher getan haben, nicht ausreicht, ist auch ganz die Entwicklung der Zukunft dadurch gezwungen klar; denn das, was getan wurde, bezieht sich nur auf wird aufzuwachen. Auch das ist ein Stück Zukunft. die Zeit bis Ende 1991. Alle Ministerpräsidenten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — ich sage: alle, also solche aus der SPD wie solche aus der CDU; auch da gibt es ja bekanntlich Dazu — das muß vor allem der Staat mit seinen Nuancen — Institutionen leisten — gehört eine neue, hochmo- derne Infrastruktur mit entsprechenden Standorten. (Heiterkeit) Wenn Sie sehen, was allein im Bereich der Bundespost haben erklärt: Das ist ausreichend. — Wir werden auf diesem Weg geleistet wird, ist das so bemerkens- 1992 — der Kollege Waigel wird diese Gespräche jetzt wert, daß man das einmal deutlich sagen sollte: Bis beginnen; ich denke, in den nächsten Wochen — mit Ende 1993 wird die Post-Telekom 1,8 Millionen neue den Kollegen aus den Ländern prüfen, inwieweit hier Anschlüsse schalten. In der früheren DDR wurden in eine ergänzende Finanzunterstützung durch den 40 Jahren gerade 1,6 Millionen Telefonanschlüsse Bund und die alten Bundesländer notwendig ist. gelegt. Diese Zahlen muß man doch einmal zur Kennt- Wichtig bleibt, daß alle Beteiligten bei der Entschei- nis nehmen, bevor man in ein allgemeines Lamento dung über die Haushalte 1992 im Herbst Klarheit dar- ausbricht. über haben, welche Finanzausstattung sie haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt sage ich auch noch ein Wo rt zu dem, was Sie zu Bis Ende 1997 wird es in den neuen Bundesländern dem Punkt Gemeindefinanzen und zu den Landesfi- 9 Millionen Anschlüsse geben. Die Zahl der West- nanzen in den westlichen Ländern geäußert haben: Ost-Telefonverbindungen wird Ende dieses Jahres Mir ist völlig klar, daß angesichts der dramatischen 31 000 betragen. Vor der Maueröffnung waren es Veränderungen in Deutschland die grundsätzliche 1 500; vielleicht auch aus dem Grunde, Herr Gysi, weil Frage der finanziellen Entwicklung aller Länder auf man 1 500 besser kontrollieren konnte als wesentlich der Tagesordnung steht. Ich finde, bei einem vernünf- mehr. tigen Verhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden ist es auch richtig, daß wir jetzt in absehbarer Zeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darüber reden. Ich weiß nicht, wie das Ergebnis sein Wir investieren Milliardenbeträge in die neuen Ver- wird, aber ich weiß, daß ein dringender Gesprächsbe- kehrswege. Gerade auf dem Feld der Verkehrsinfra- darf auch auf diesem Feld besteht, wobei ich aller- struktur ist doch die Erbschaft des SED-Regimes kata- dings hinzufügen möchte: Was Sie, Herr Ministerprä- strophal. Wenn wir das nach althergebrachter bun- sident, zu den Gemeindefinanzen sagen, werden Sie desrepublikanischer Art machen, dann wird sich erst doch wohl im Ernst nicht halten können! — Ich will Sie in acht, neun Jahren etwas bewegen. Diejenigen, die jetzt wirklich nicht mit Sta tistik aufhalten; aber mit dem Anspruch angetreten sind, daß jetzt etwas für ich hatte vor etwa 14 Tagen oder drei Wochen die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2097

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl große Freude unter dem Vorsitz des von mir be- begangen. Aber ich will ausdrücklich sagen: Ich habe sonders geschätzten Kollegen Bernrath beim Städte- Grund zu der Annahme, daß dort gute Arbeit geleistet und Gemeindebund zu sein, und zwar erstmals mit wird Delegierten aus den neuen Bundesländern. Er hat gerühmt — sicherlich im Gegensatz zu manchen Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge legen, wenn ich etwa an den Oberbürgermeister von ordneten der FDP) Stuttgart oder an den Oberbürgermeister von Hanno- und daß man, wenn man sich die Zahlen anschaut ver denke — , daß es den Gemeinden im Westen alles — ich will Sie damit nicht aufhalten; aber jedem ste- in allem ganz gut geht und daß jetzt Vorfahrt für die hen sie zur Verfügung — anerkennen muß, welch Gemeinden in den neuen Bundesländern gegeben große Leistung dort erbracht wird. werden muß. Und ich bleibe dabei! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Ifo-Konjunkturtest läßt bereits zwei Monate in Folge eine Verbesserung der Erwartungen in den Auf dem Weg zur Angleichung der Lebensverhält- Betrieben der neuen Bundesländer erkennen. Wir nisse haben wir ja auch ganz ungewöhnliche Dinge wissen: Es kommt darauf an, daß die p rivate Investi- getan. Ich denke beispielsweise an die Zuweisung tionswelle in den neuen Ländern an Stärke und Breite von 5 Milliarden DM an Landkreise und Gemeinden gewinnt. im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Nach allem, was ich höre, greift dieses Programm Graf Lambsdorff, ich stimme Ihrer Bemerkung völ- ganz schnell, für die Modernisierung von Schulen, lig zu, daß die Unternehmen in Westdeutschland, die von Krankenhäusern, von Altenheimen; vieles andere gut verdient haben und gut verdienen, verstärkt Pro- wäre hier noch zu nennen. Ich höre aus Städten der duktionsstätten in den neuen Bundesländern errich- ehemaligen DDR in den letzten Tagen, daß zwischen ten sollten 80 % und 100 % der Mittel als Aufträge bereits verge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben sind. - Ich höre auch, daß es in der einen oder anderen und daß wir alles tun müssen, um ausländische Inve- Gemeinde oder Stadt oder in dem einen oder anderen storen zu gewinnen. Landkreis nicht klappt. Auch hier warne ich die Bür- Meine Damen und Herren, wirtschaftliche, soziale ger im Westen vor vorschnellen Urteilen. Es gibt auch und ökologische Fragen sind dringlich. Aber ich im Westen Bürgermeister und Landräte, die länger glaube nicht — bitte, mißverstehen Sie das nicht —, brauchen als andere. daß das unser Hauptproblem ist. Ich glaube, daß wir (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) mit jeweils unterschiedlichem Tempo die wirtschaftli- chen, sozialen und ökologischen Probleme im großen Deswegen halte ich von diesen pauschalen Urteilen, und ganzen in einer absehbaren Zeit lösen können. die wir von morgens bis abends hören, überhaupt Die Bewältigung der ökologischen Herausforderun- nichts. gen wird länger dauern; das weiß jeder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber es wird noch viel länger dauern, bis auch die Meine Damen und Herren, es ist wahr — es ist ja immateriellen Schäden aus der Zeit des SED-Regimes nicht einmal ein Jahr her, seit die Währungs-, Wirt- beseitigt sind. Ich denke vor allem an die schwerwie- schafts- und Sozialunion geschaffen wurde, und noch genden Folgen, die über vier Jahrzehnte kommunisti- weniger Zeit seit der deutschen Einheit — , daß sich scher Diktatur im Leben und in den Seelen der Men- für die Menschen in den neuen Bundesländern eine schen hinterlassen haben. Die in den letzten Tagen neue, eine bessere Lebensperspektive abzeichnet. An und Wochen bekanntgewordenen Fälle der Zwangs- dieser Tatsache ändert sich nichts, wenn ich sage, daß adoption von Kindern, deren Eltern das SED-Regime wir dabei eine Durststrecke zu überwinden haben. ablehnten, sind ein besonders schlimmes Beispiel für Aber weil so viel nachgekartet wird, will ich auch die Unmenschlichkeit einer Diktatur, der zur Erhal- das einmal sagen: Es erweist sich doch jetzt, daß die tung ihrer Macht wahrlich jedes Mittel recht war. Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 und der gün- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD stige Umtauschkurs für die Sparer der ehemaligen und dem Bündnis 90/GRÜNE) DDR sehr vorteilhaft waren. Im jüngsten Monatsbe- richt der Deutschen Bundesbank lesen wir — ich zi- Es sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehn- tiere — : ten viele Wunden geschlagen worden, Wunden, die Die Vermögenssituation der Bevölkerung in den denen, die sie erlitten haben, zum Teil erst jetzt richtig neuen Bundesländern kommt den Verhältnissen bewußt werden. Ich glaube, jene — ich sage das noch nahe, wie sie im Westen Deutschlands zu Beginn einmal — , die das Glück hatten im freien Teil unseres der siebziger Jahre geherrscht hatten. Landes zu leben, sind vor allem nicht nur aufgerufen, sondern auch verpflichtet, unseren neuen Mitbürgern (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Immer Achtung und Verständnis entgegenzubringen. hin!) (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit Fangen Sie einmal im Parlament damit an!) der Entwicklung in den neuen Bundesländern will ich auch ein Wort zur Treuhandanstalt sagen. Auch die — Wissen Sie, ich bin ja damit einverstanden, daß wir Treuhandanstalt steht vor außergewöhnlichen, neu- im Parlament gut miteinander umgehen. Aber wenn artigen Aufgaben. Natürlich werden auch dort Fehler Sie den Vorwurf gegenüber der CDU erhoben haben: 2098 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Ihre eigenen Kollegen waren bei Ihrer Rede gar nicht desbank genauso wie den Auftrag der Politik. Ich bin anwesend. ganz sicher, daß die künftige Bundesbankführung (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Die diesen Stabilitätskurs fortsetzen wird. wußten, warum! — Weiterer Zuruf von der Meine Damen und Herren, wir erleben jetzt in den CDU/CSU: Drei waren da!) westlichen Bundesländern bei Investitionen, Einkom- Meine Damen und Herren, in den alten Bundeslän- men und Beschäftigung Rekordwerte. Am Arbeits- dern neigen nicht wenige dazu, Freiheit, Frieden und markt dort haben wir eine Situation wie selten zuvor. Wohlstand als etwas Selbstverständliches zu betrach- Auch das, Herr Ministerpräsident Engholm, ist Ergeb- ten. Ich wünsche mir, daß wir in Ost und West den nis einer klugen Industriepolitik im Rahmen der So- Ansporn zur Kreativität und zum Empfindungsgeist zialen Marktwirtschaft. wieder stärker verspüren, so daß wir die Chancen der Einheit auch in diesem Zusammenhang nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Freimut Duve [SPD]: „Empfindungsgeist" In diesem Zusammenhang will ich ein Thema an- ist gut ausgedrückt! — Zuruf von der CDU/ sprechen, das in die Nähe eines Glaubenskrieges ge- CSU: Lohnt nicht!) raten ist, und ich möchte Ihnen ausdrücklich anbieten — Ich bin ja damit einverstanden, daß Sie mir einmal und Sie fragen, ob wir hier nicht vernünftige Gesprä- zustimmen. Ich sage das extra, damit es im Protokoll che führen können. Es geht mir darum — Ende 1992 vermerkt wird. haben wir den Binnenmarkt in Europa vollendet; ich bin sicher, daß noch in diesem Jahrzehnt der entschei- (Heiterkeit) dende Durchbruch beim Bau der Vereinigten Staaten Ich habe natürlich „Erfindungsgeist" sagen wollen. von Europa erzielt wird, was ja auch die Wirtschafts- und Währungsunion einschließt — : Wie wird sich der Meine Damen und Herren, es ist ein Glücksfall, daß Standort Deutschland künftig präsentieren? die wirtschaftlichen Herausforderungen -jetzt bewäl- tigt werden können auf der Grundlage der wirtschaft- Damit bin ich bei den Unternehmensteuern. Was lichen Entwicklung, die die ursprüngliche Bundesre- können wir tun, um konkurrenzfähig zu sein, um den publik genommen hat. Standort Deutschland noch investitions- und beschäf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tigungsfreundlicher zu gestalten? Dabei geht es im- mer auch um vorhandene und um neue Arbeitsplätze. Ich habe die Zahlen ja vorhin schon genannt. Wenn Das gilt natürlich auch schon für die neuen Bundes- wir nicht eine boomende Wirtschaft hätten, die übri- länder. Deswegen haben wir in der Koalition verein- gens auch wegen der deutschen Einheit boomt, könn- bart, daß die Unternehmensteuerreform zu den zen- ten wir doch das alles, was jetzt im Haushalt steht, tralen Vorhaben dieser Legislaturperiode gehört. finanziell gar nicht bewältigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren: Den Streit hierüber ver- stehe ich deswegen nicht, weil ich bisher noch nie- Der Erfolg dieser jetzt beinahe neun Jahre beste- manden gefunden habe, der die Richtigkeit einer sol- henden Bundesregierung ist das Ergebnis Sozialer chen Politik — über Einzelheiten kann man natürlich Marktwirtschaft. Deswegen bin ich gegen jede Ver- streiten — grundsätzlich in Frage stellt; denn wenn änderung unseres Kurses. Deutschland ist heute für Sie nach Spanien blicken — oder nach Frankreich Investoren eine der besten Adressen in der Welt. Auch oder Großbritannien —, dann sehen Sie: Überall rich- wenn von Unternehmerseite gelegentlich gesagt tet man sich auf den europäischen Binnenmarkt ein, wird, es gebe noch bessere Adressen, lasse ich mich überall macht man sich fit dafür. von dieser Auffassung nicht abb ringen. Alle, die mir in ihren Reden in der Londoner City in Auch wir müssen fit sein für Europa. Wir müssen den letzten Jahren geraten haben, die dortige Politik doch pragmatisch überlegen — sehen Sie, Herr Mini- zu übernehmen, sind durch die Entwicklungen wider- sterpräsident Engholm: das ist ein Thema, bei dem legt worden. man darüber nachdenken kann, inwieweit man zu- sammenwirkt —, wie wir eine Unternehmensbesteue- Ich will gern die gute Gelegenheit nutzen, bei der rung sicherstellen, die den Standort Deutschland sta- Frage der Stabilität der Währung besonders ein Wort bil, konkurrenzfähig erhält, aber gleichzeitig — das des Dankes an die Deutsche Bundesbank und an den eine gehört unlöslich zum anderen — beispielsweise in wenigen Wochen ausscheidenden Bundesbankprä- die Finanzautonomie der Gemeinden nicht schmä- sidenten Karl Otto Pöhl zu richten, lert. Mit mir ist auf diesem Gebiet nichts zu machen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie was die Städte, Gemeinden oder auch Landkreise fi- bei Abgeordneten der SPD und des nanziell entmündigen würde. Abg. Dr. [Bündnis 90/ GRÜNE]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der FDP) der seine Arbeit immer mit großem persönlichem En- gagement, mit dem Sinn für die Realitäten und für Ich habe das in den vergangenen Monaten oft ge- seine Verantwortung versehen hat. Ich habe ihm auch nug gesagt. Wir brauchen nicht nur bei bestimmten zu danken für eine gute Zusammenarbeit, und zwar Festtagen die Stein'schen Reformen zu preisen. Wer eine Zusammenarbeit unter Partnern, die sehr wohl den Gemeinden die Finanzhoheit nimmt, wer sie — wissen, daß der Erfolg nur möglich ist, wenn sie sich ich sage es einmal salopp — an den Tropf des jewei- auch gegenseitig respektieren, den Auftrag der Bun- ligen Landesfinanzministeriums hängt, der zerstört Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2099

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl die Gemeindestruktur Deutschlands. Das wollen wir schaftsreform muß dort entschieden werden. Wir sind nicht. nicht in der Lage, gewissermaßen in ein Faß ohne Boden zu investieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Hämmerle [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Das heißt, ganz einfach gesagt: Wir brauchen in die- ordneten der FDP) sem Bereich eine Steuerstruktur, die zweierlei be- Vor ein paar Tagen habe ich in Washington die wirkt: Zum einen müssen die Ratsfraktionen, der Bür- Gelegenheit gehabt, mit Mitgliedern der gesetzge- germeister, Oberbürgermeister oder Landrat für die benden Körperschaften, mit der Administration, vor örtliche Wirtschaft und das Gewerbe aufgeschlossen allem mit Präsident Bush zu sprechen. Ich habe ihm sein, und zum anderen muß dem örtlichen Gewerbe bei dieser Gelegenheit unsere Positionen zu einzelnen am Wohlergehen von Stadt, Gemeinde oder Land- Feldern unserer Außenpolitik noch einmal deutlich kreis gelegen sein. gemacht. Wir waren gemeinsam überzeugt, daß es im Es gibt hierzu doch Vorschläge, es gibt doch sinn- westlichen und gesamteuropäischen Interesse liegt, volle Überlegungen. Wenn wir uns jetzt zusammen- daß die Reformpolitik Präsident Gorbatschows — un- setzen, die Bundesregierung, natürlich die Koalitions- ter den Voraussetzungen, die ich genannt habe — er- parteien, die Fraktionen zu Diskussionen dann im folgreich ist. Ausschuß, der Deutsche Städtetag, der Deutsche Wir waren gemeinsam der Auffassung, daß es für Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Land- die Stabilität ganz Europas entscheidend ist, daß sich kreistag — es geschieht ja fast ein Wunder, wenn alles in den Reformstaaten Mittel- und Südosteuropas die richtig läuft und wir dann in einiger Zeit einen einheit- demokratischen Strukturen, Soziale Marktwirtschaft lichen Gemeindeverband haben, in dem alle drei zu- und freiheitliche Demokratie, festigen, und daß wir sammengeschlossen sind — , dann muß es doch wirk- ihnen dabei helfen müssen. Die hierzulande häufig zu lich möglich sein, etwas Vernünftiges zustande zu hörende Forderung, wir sollten erst einmal abwarten, bringen. - was sich da entwickelt, ist unsinnig und töricht. Wir Hören Sie doch bitte auf, davon zu reden, daß die haben eine viele hundert Kilometer lange Grenze zu Reichen entlastet werden, und Neidkomplexe zu Polen. Wenn diese Grenze an Oder und Neiße eine schüren. Es geht um den Standort Deutschland, es Wohlstandsgrenze wird, wird es keine Stabilität in geht um die Arbeitnehmer genauso wie um die Unter- dieser Region geben. nehmen in Deutschland. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen auf dem Weg, den die im November In diesem Zusammenhang muß auch gesagt wer- 1990 unterzeichnete Charta von Paris für ein neues den, was wir außerhalb unserer Staatsgrenzen an Ver- Europa vorgezeichnet hat, vorankommen. Dazu gehö- pflichtungen übernehmen und übernommen haben. ren: Aufbau der Demokratie, Entwicklung wirtschaft- Es gibt eine größere Verantwortung des vereinten licher Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Achtung der Deutschlands in Europa und in der Welt. Wir werden Menschen- und Minderheitenrechte überall in Eu- uns auch in Zukunft in der deutschen Außenpolitik ropa — ein hochaktuelles Thema, das auch jetzt auf von bewährten Grundsätzen leiten lassen: Wir han- der KSZE-Außenministerkonferenz eine Rolle spielen deln im engen Einvernehmen mit unseren Freunden wird. und Partnern in der Europäischen Gemeinschaft. Wir setzen auf unsere Freundschaft und auf den Sicher- Ich will auch darauf hinweisen, daß George Bush heitsverbund mit den Vereinigten Staaten von Ame- und ich uns einig waren, daß der transatlantische Si- rika und mit Kanada. Wir leisten unseren Beitrag zur cherheitsverbund für Europa und für Deutschland un- Festigung der neuen Demokratien in Mittel- und Süd- verzichtbar ist, daß die NATO auch in Zukunft Anker osteuropa. Wir stehen zum Ausbau der vertraglich unserer Sicherheit ist und daß wir auch in Zukunft vereinbarten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. substantielle Präsenz amerikanischer Streitkräfte auf dem Kontinent haben wollen. Dabei bekenne ich hier ganz klar, daß ich zu jenen gehöre, die Präsident Gorbatschow Erfolg bei einer Meine Damen und Herren, wir haben in absehbarer Politik wirklicher Perestroika wünschen. Ich wünsche Zeit wichtige Entscheidungen zu treffen, auch im mir, daß diese Politik, die unendliche Schwierigkeiten Blick auf die NATO-Entwicklung. Das Bündnis wird in sich birgt, erfolgreich ist. künftig über Hauptverteidigungs-, Eingreif- und Ver- stärkungskräfte verfügen — soweit möglich mit multi- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der nationaler Struktur. Aber — und das füge ich hinzu; SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses ich glaube, Graf Lambsdorff hat es eben in der De- 90/GRÜNE) batte gesagt — das, was jetzt diskutiert wird, darf Dazu gehört, daß man sich im Innern der Sowjetunion nicht bedeuten, daß wir uns den Weg zu europäischen ausschließlich friedlicher Mittel bedient. Optionen verschließen. Wir müssen hier nach dem Prinzip des Sowohl-Als-auch vorgehen. Präsident Gorbatschow braucht unsere Hilfe zur Selbsthilfe. Deswegen begrüße ich auch, daß er nach Ich bin damit bei dem wichtigen Thema der euro- London kommen wird und daß wir mit ihm über diese päischen Entwicklung, meine Damen und Herren: Themen sprechen können. Aber ich sage noch ein- Wir wollen nicht ein Entweder-Oder — hier Europa, mal: Es kann nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Über dort USA — , sondern wir wollen auf dem Weg der den Neuaufbau der staatlichen Organisation der So- transatlantischen Gemeinsamkeit die notwendigen wjetunion und über die Grundlagen für eine Wirt- Entscheidungen treffen. 2100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Meine Damen und Herren, ein Thema, das uns da- Ähnliche Entscheidungen haben wir bei den Kohlen- bei besonders beschäftigen wird, darf ich noch an- dioxid-Emissionen getroffen. sprechen: Unter dem europäischen Dach — wie Dies werden entscheidende Themen auf der UN selbstverständlich auch im Rahmen der Vereinten Na- Tagung „Umwelt und Entwicklung" 1992 in Brasilien tionen — wird das vereinte Deutschland mehr Ver- sein. Es ist eben keine fixe Idee von einigen wenigen, antwortung auch auf sicherheitspolitischem Gebiet wenn das Thema „Schutz der Tropenwälder" zuneh- übernehmen müssen. Ich bin dafür, daß wir in diesem mend Beachtung findet. Jahr die Voraussetzungen dafür klären. Ich darf Ihnen jetzt schon sagen — in diesem Fall als Vorsitzender Ich werde versuchen, dieses Thema auch auf dem der Christlich Demokratischen Union: Meine politi- Weltwirtschaftsgipfel in London in wenigen Wochen schen Freunde und ich werden kämpferisch diesen erneut in unsere Diskussion einzubringen mit der Gedanken überall im Land vertreten. Hoffnung, daß wir jetzt zu Entscheidungen kommen. Denn ich sage Ihnen ganz offen: Ich würde es für eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sonderbare Vorstellung halten, wenn wir diese Konfe- ordneten der FDP) renz in Brasilien im nächsten Jahr abhalten und zu- Ich halte es für selbstverständlich, daß wir alle gleich das Abholzen und die Vernichtung der Regen- Pflichten akzeptieren, die sich aus unserer Mitglied- wälder weitergeht. schaft in den Vereinten Nationen ergeben. Das be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutet auch, daß wir bereit sein müssen, an militäri- schen Aktionen im Rahmen der Vereinten Nationen Graf Lambsdorff hat zu Recht — ich unterstütze ihn zur Erhaltung und zur Wiederherstellung des Frie- dabei — das für das Exportland Deutschland wichtige dens sowie zur Wahrung des Völkerrechts mitzuwir- Thema Uruguay-Runde im GATT eingeführt. Meine ken. Meine Damen und Herren, wer jetzt dagegen ist Damen und Herren, wir haben vor allem drei Gründe — ich will das nur vorsorglich zu Protokoll geben —, für unser Interesse an einem baldigen Erfolg dieser Verhandlungen: Wir sind eines der wichtigsten Ex- wird in sehr kurzer Zeit — auch wenn er jetzt- ablehnt; deswegen muß man sich eine solche Ablehnung gut portländer der Welt, immer auf Platz eins oder zwei. überlegen — vor die Entscheidung gestellt werden, Wenn wir uns auf Protektionismus einließen, würden ob im Rahmen der Politischen Union Europas nicht wir die Folgen schon bald bitter verspüren. Wir hatten eben genau das gleiche von uns Deutschen gefordert hierzulande in den 50er Jahren eine Diskussion, in der sein wird. Ohne diese Grundentscheidung wird es auf Ludwig Erhard immer die These vertreten hat: Die längere Sicht keine wirkliche Politische Union ge- deutsche Volkswirtschaft wird nur stark sein, wenn sie ben. der frischen Luft ausgesetzt ist, wenn Fenster und Türen geöffnet sind. Daran hat sich nichts geändert. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Ein zweiter Punkt ist für mich genauso wichtig. Ich Deutschland hat im Rahmen der globalen Auf gaben- finde, davon wird viel zu wenig gesprochen, wie ich und Lastenteilung erhebliche Leistungen erbracht. überhaupt finde, daß die ökonomische Diskussion ei- Ich finde, es ist wichtig, vor dem Forum des deutschen nen überproportional breiten Raum einnimmt, wäh- Parlaments, auch gegenüber dem Ausland — auch im rend die Themen, die mit der Ökonomie verbunden Blick auf die Debatte, die wir wegen unserer Haltung sind, die aber die Lebensqualität der Menschen min- im Golfkonflikt erlebten — , einmal darauf hinzuwei- destens genauso betreffen, beispielsweise die Erhal- sen, daß das vielgenannte Wort vom burden sha ring tung der Schöpfung, zu kurz kommen: Wir, die großen nicht nur in einem militärischen Kontext gesehen wer- Industrieländer, können nicht so weitermachen wie den kann. Alle Mittel, die wir in Milliardenhöhe zur bisher. Auf keinen Fall dürfen wir uns gegenüber der Stabilisierung der Länder in Mittel-, Ost- und Südost- Dritten Welt abschotten. Wenn die Länder in Latein- europa einsetzen, sind heute genauso wichtig wie mi- amerika, Asien oder Afrika ihre Produkte nicht auf litärische Aufwendungen in anderen Teilen der Welt. unseren Märkten verkaufen können, dann haben sie Auch das will ich gerne noch einmal bei dieser Gele- kein Geld, bei uns Produkte zu kaufen. Und es ist genheit für die Bundesregierung betonen. schon ein absurder Vorgang, daß wir die Käufer an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) locken, daß wir ihnen Kredite geben, um sie über- haupt in die Lage zu versetzen, bei uns zu kaufen, und Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, eine le- nach ein paar Jahren werden sie dann wieder ent- benswerte Umwelt zu bewahren. Es ist heute, Gott sei schuldet. Das ist nicht nur ökonomisch unsinnig, es ist Dank, allgemein begriffen, daß eine drohende Klima- auch gegen die Würde des Menschen und gegen die veränderung eine Herausforderung für die ganze Würde der einzelnen Völker. Welt ist, daß wirksame Maßnahmen gegen den Abbau der Ozonschicht, gegen die weitere Zunahme des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Treibhauseffekts und gegen die Vernichtung der Wäl- Ich glaube, daß wir deswegen alles tun müssen der, insbesondere der Tropenwälder, angesichts der — ich sehe übrigens auch eine Chance — , damit wir akuten und steigenden Gefährdungen zu treffen in der Uruguay-Runde zu einem guten Abschluß kom- sind. men. Und, Graf Lambsdorff, da brauchen wir keine Ermahnung, wie wir unsere französischen Freunde Mit dem Beschluß der Bundesregierung, bis zum ansprechen. Jahr 1995 auf die die Ozonschicht zerstörenden FCKW und Halone zu verzichten, geht die Bundesre- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Um so publik weit über das Protokoll von Montreal hinaus. besser!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2101

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Bloß, Sie wissen aus Ihrer Amtszeit als Bundeswirt- auch aufhören sollten, einander mit Unterstellungen schaftsminister, daß es eine Sache ist, sie anzuspre- zu begegnen: Wir, die Deutschen, werden uns nie chen, und eine andere Sache, Erfolg zu haben. Auch dazu hergeben, Menschen den Zutritt zu uns zu ver- das muß man dabei offen sagen. wehren, die wegen ihrer Rasse, wegen ihrer Religion Drittens glaube ich, daß die jüngsten Beschlüsse der oder wegen ihrer politischen Einstellung verfolgt wer- Agrarminister in die richtige Richtung gehen und daß den; das ist völlig ausgeschlossen. das, da Frankreich ja zugestimmt hat, eine Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU) lung ist, die jetzt einen gewissen Optimismus begrün- det. Das heißt im übrigen auch — lassen Sie mich auch Aber ich sage das gleiche, was der spanische Mini- das sagen — , daß wir den Bauern in unserem eigenen sterpräsident für sein Land sagt: Wir sind kein Ein- Land in dieser Übergangszeit selbstverständlich hel- wanderungsland und können die Probleme dieser fen wollen und helfen müssen. Auch das haben wir Erde nicht allein bei uns lösen. Das ist doch, meine gesagt. Damen und Herren, die eigentliche Frage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, bei den deutsch-franzö- Ich nenne das andere Thema, das mir große Sorgen sischen Gipfelkonsultationen vor wenigen Tagen in bereitet: die Entwicklung im gemeinsamen Kampf ge- Lille haben wir vor allem über die nächsten Monate gen die Drogenmafia und die international organi- der europäischen Entwicklung gesprochen. Es geht sierte Kriminalität. Ich weiß, in einem föderal geglie- um den Abschluß der beiden Regierungskonferenzen derten Land ist das schon schwer auszusprechen, in über die Wirtschafts- und Währungsunion und die einem Europa jedoch, in dem viele immer noch größ- Politische Union. Wir wollen — die französische Re- ten Wert auf den Nationalstaat legen, noch schwerer: gierung und wir, François Mitterrand und ich — die Wir werden ohne eine gemeinsame europäische Poli- Zeit nutzen, auf dem EG-Gipfel in Luxemburg in ein zeiorganisation dieser Herausforderung nicht gerecht paar Tagen Zwischenbilanz zu ziehen, um dann auf - werden können. dem Gipfel in Maastricht Mitte Dezember dieses Jah- res einen vernünftigen Abschluß erzielen zu kön- Die Lage im Bereich der Drogenmafia hat sich dra- nen. matisch verschlechtert. Kokaindealer setzten 1990 in der westlichen Welt 150 Milliarden US-Dollar um. Das Ich will hier noch einmal wiederholen — ich bin mir bedeutet gegenüber dem Jahr davor eine Zunahme dabei der Zustimmung des ganzen Hauses sicher —, von gut 60 %. Im vergangenen Jahr waren in Deutsch- für uns Deutsche kann es nicht angehen, daß man die land fast 1 500 Drogentote zu verzeichnen. Im Ver- Wirtschafts- und Währungsunion voranbringt und die gleich zum Vorjahr hat sich damit die Zahl etwa um Politische Union vernachlässigt. Wir wollen beides. die Hälfte erhöht. Das ist doch keine statistische Wir wollen klar fixierte Fortschritte — auch mit Termi- Größe. Fast jeder von uns hat in seinem Bereich — im nen — als Ergebnis beider Regierungskonferenzen, Wahlkreis, im Bekannten- und Freundeskreis — Er- um zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und fahrungen mit Betroffenen, mit Eltern, die auf ihre Währungsunion zu kommen. Dabei denke ich nicht Kinder schauen; es geht um erschütternde Schicksale. zuletzt an die Rechte des Europäischen Parlaments. Deswegen, finde ich, müssen wir alles tun, um wenig- Ich kann nur wiederholen, was ich immer wieder stens auf diesem Feld möglichst rasch zu Entscheidun- hierzu sage: Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir in gen zu kommen. EG-Europa — ich sage das auch als Parteivorsitzen- der — die Bürger noch einmal an die Wahlurnen rufen Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu der Entwick- können für die Wahl eines Parlaments, dem wir so lung in Jugoslawien sagen. François Mitterrand und wenige Rechte geben. Das muß jetzt geändert wer- ich haben anläßlich unseres Treffens nachdrücklich den. noch einmal die Mission des EG-Ratspräsidenten Jac- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der ques Santer und des Kommissionspräsidenten Jac- SPD) ques Delors nach Belgrad unterstützt. Ich wi ll die Ge- legenheit heute vor dem Deutschen Bundestag nutzen Meine Damen und Herren, wir müssen — und da und erneut an alle Verantwortlichen in Jugoslawien nehme ich einen Gedanken auf, den Sie, Herr Mini- appellieren, mit Besonnenheit und unter Verzicht auf sterpräsident, angesprochen haben, allerdings mit ei- Gewaltanwendung in dieser Situa tion zu versuchen, nem anderen Akzent — in zwei Feldern noch schnel- zu einem vernünftigen, erträglichen Kompromiß zu ler handeln, als es die zeitlichen Perspektiven für die kommen. Vollendung der Politischen und der Wirtschafts- und Währungsunion vorgeben. Ich nenne zum einen das (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der europäische Asylrecht. Ich halte es für völlig ausge- SPD) schlossen, daß wir die Probleme, die bei dieser A rt von Nur ein demokratisch erneuertes Jugoslawien, in dem Völkerwanderung auf uns zukommen, allein auf na- die Menschenrechte — dazu gehören immer auch die tionaler Ebene werden lösen können. Rechte der Minderheiten — respektiert werden, hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Zukunft. ordneten der FDP) Ich füge hinzu — ich denke, Sie alle stimmen zu — : Das ist nicht nur meine Meinung, es ist genauso die Nur so ist Jugoslawien auch ein Pa rtner, dem wir und Meinung beispielsweise meines spanischen Amtskol- die Europäische Gemeinschaft unsere Zusammenar- legen oder die der Niederländer und anderer. Deswe- beit anbieten können. gen brauchen wir im Vorgriff auf alles andere ein ver- nünftiges europäisches Asylrecht, wobei wir doch (V o r sitz : Vizepräsidentin ) 2102 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit Vorstellungen zu gestalten, Familien zu gründen und dem Golfkonflikt hat die Völkergemeinschaft den ein erfülltes Leben zu führen. Diktator Saddam Hussein entschieden in die Schran- Nachdem wir jetzt in Kreta über die Opfer der ken gewiesen. Wir haben das Völkerrecht im Rahmen schweren Kämpfe, auch über die Opfer der Besat- der Vereinten Nationen durchgesetzt. zungszeit nachdenken konnten, dürfen wir, glaube Lassen Sie mich dazu heute zwei Bemerkungen ich, dankbar bekennen, daß wir jetzt die Chance ha- machen: ben, einer jungen Generation in Europa und in Deutschland zu sagen: Euch bleibt dies erspart; ihr Erstens. Kuwait, das seine Souveränität wiederge- habt eine Chance, die kaum je zuvor eine andere wonnen hat, muß auch auf dem Weg zur Rechtsstaat- Generation in Deutschland hatte, die Chance auf ein lichkeit und zur Demokratie vorangehen. Ich glaube, ganzes Leben in Frieden und in Freiheit. dies ist eine berechtigte Forderung angesichts des Einsatzes der Völkergemeinschaft. Ich möchte bei all den Sorgen des Alltags — wir haben solche Sorgen; ich und andere sprachen da- Das zweite, was ich sagen will, ist, daß wir an alle von— uns einfach einladen, dieses Ziel vor Augen zu Verantwortlichen appellieren, insbesondere im Irak, behalten: Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, und das Schicksal der Flüchtlinge zu lindern und über- dann zu tun, was unsere Pflicht ist. haupt die Ursache für die Fluchtbewegungen zu be- (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU enden. Wir haben vor Ort geholfen. Ich nehme gern und der FDP) die Gelegenheit wahr, all denen zu danken, die dabei aus Deutschland dorthin gekommen sind, den Solda- ten der Bundeswehr genauso wie den Hilfsorganisa- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der tionen. Abgeordnete Wolfgang Roth. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD) Wolfgang Roth (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Aber das alles ist nur Hilfe für eine Übergangszeit. leginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat an Die betroffenen Menschen, vor allem die Kurden, vielen Stellen seiner Rede Herrn Ministerpräsidenten müssen in ihrer Heimat eine friedliche Zukunft finden Engholm nicht allein in dessen Funktion als Parteivor- können. sitzender der SPD, sondern auch im Hinblick auf des- sen Rolle im Bundesrat angesprochen. An vielen Stel- Das führt uns zu einer weiteren großen Herausfor- len wurde deutlich, daß z. B. bezüglich der wirtschaft- derung in dieser Region: der Friedenskonferenz. Es lichen Möglichkeiten der früheren DDR, der heutigen ist unser Interesse als Deutsche — wegen unserer neuen Bundesländer, bezüglich der Reform des Un- engen Verbundenheit, unserer schicksalhaften Ver- ternehmenssteuerrechts, aber auch für viele andere bundenheit mit dem Volk und dem Staate Israel, aber Fragen in der Bundesrepublik Deutschland eine Ge- auch wegen unserer alten traditionsreichen Bezie- setzgebung nur dann möglich ist, wenn der Bundes- hungen zur arabischen Welt —, daß alles getan wird, tag und die sozialdemokratische Seite im Bundesrat damit aus einem gewonnenen Krieg ein gewonnener gemeinsame Lösungen finden. Frieden wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ein interessanter Lernprozeß. Als unser Frak- Es wäre schlimm, wenn am Ende dieses Prozesses der tionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel im November/ Krieg gewonnen und der Frieden verloren würde. Dezember 1989 angesichts der gewaltigen Aufgabe, die die Integration der damaligen DDR in die Bundes- In diesem Zusammenhang, wenn es um die Siche- republik darstellte, vom Runden Tisch und von Ko- rung des Friedens geht — was immer auch bedeutet: operation gesprochen hat, hat der Bundeskanzler wirtschaftlicher Aufschwung und soziale Sicherung noch gesagt, Runde Tische seien Ereignisse in Dikta- für die Menschen der Region — , wird die Bundesre- turen. Heute aber will er offensichtlich Gespräche am publik Deutschland bereit sein, ihren Beitrag zu lei- Runden Tisch. Das ist ein kleiner Fortschritt. sten, trotz der vielen anderen Probleme, die wir im eigenen Land und vor allem in Mittelost- und Südost- (Beifall bei der SPD) europa haben. Ich frage mich an dieser Stelle natürlich auch: Was wäre uns erspart geblieben, wenn schon damals eine Meine Damen und Herren, dieser Haushalt 1991 offene Auseinandersetzung über die schwierigen Pro- führt bereits weit hinein in die 90er Jahre. Es sind nur bleme der Integration der DDR in die Bundesrepublik noch wenige Jahre, die uns vom Ende dieses Jahrhun- begonnen hätte? Es wären viele Fehler vermieden derts trennen. Vor ein paar Tagen habe ich aus Anlaß worden. des fünfzigsten Jahrestags der Schlacht um Kreta die Gelegenheit wahrgenommen, dort hinzufahren und (Beifall bei der SPD) Soldatenfriedhöfe, deutsche wie die von Alliierten, zu Ich möchte jetzt, Herr Bundeskanzler, Ihr Thema besuchen. Wenn man vor diesen Gräberfeldern steht, Unternehmenssteuerreform aufnehmen. Wir vertre- Gräberfeldern, die es auch an vielen anderen Orten ten seit jeher die Position, daß in unsere Unterneh- aus zwei Weltkriegen gibt, empfindet man, daß dort mensbesteuerung Fehler eingebaut sind. Die Unter- die Hoffnung von Millionen junger Menschen begra- nehmensbesteuerung in der Bundesrepublik ben ist, deren Idealismus durch verantwortungslose Deutschland könnte deutlich investitionsfreundlicher Machthaber mißbraucht wurde und denen es ver- werden. Aber die Vorschläge der Koalition waren bis- wehrt wurde, ihr persönliches Glück nach eigenen her nicht auf die Investitionsförderung, sondern auf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2103

Wolfgang Roth die Förderung der höheren und hohen Einkommen lange fackelt, bei uns abzuschreiben. Das ist mir übri- ausgerichtet. Das ist aber nicht die Unternehmens- gens lieber als die gegenteilige Haltung. steuerreform, die mit uns zu machen ist. Waren vor einem Jahr Beschäftigungsgesellschaf- (Beifall bei der SPD) ten für Arbeitslose, die keine normale Arbeit hatten, noch ein Verstoß gegen die Marktwirtschaft, so hat Kein Mensch konnte bisher erklären — vor kurzem Herr Blüm unser Konzept inzwischen voll übernom- hat sogar Graf Lambsdorff Zweifel angemeldet; auch men. Sie, Herr Möllemann — , was die p rivate Vermögen- steuer mit einer Investitionstätigkeit der Unterneh- War eine drastische Investitionsförderung der Pri- men oder mit der Wettbewerbsfähigkeit der Bundes- vaten durch Sonderabschreibungen, Investitionszula- republik Deutschland zu tun hat. gen und Investitionszuschüsse eine Wettbewerbsver- zerrung, so hat man etwa 80 % unserer Vorschläge Ich habe in diesem Zusammenhang ein seltsames inzwischen übernommen. Erlebnis mit einem Kollegen in diesem Hause gehabt. Er ist der Vater einer eher reichen Dame. Als ich Lautete vorher der einzige und alleinige Auftrag an betont habe, daß Unternehmensinvestitionen nicht die Treuhandgesellschaft in Berlin, die nun noch Tau- mit der Beseitigung der Vermögensteuer zusammen- sende Betriebe besitzt, zu privatisieren und nichts als hängen, hat er mir lebhaft zugestimmt. Jener Kollege zu privatisieren, so ist jetzt der Auftrag an die Treu- war offen genug, es zu tun. hand genau in unsere Richtung verändert worden; man akzeptiert jetzt Strukturveränderungen und die Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, mit Ihnen Sanierungsaufgabe. über die Reform der Unternehmenssteuer zu reden. Dazu ist insbesondere Ministerpräsident Engholm be- War der absolute Vorrang der Rückgabe von Grund reit. Aber wir reden über eine Beseitigung der Vermö- und Boden und Betrieben an Altbesitzer tabu, so sind gensteuer oder eine Senkung des Steuersatzes für rei- Sie inzwischen zu einem beträchtlichen Teil auf un- che Leute nicht in einer Phase, in der die Mehrwert- sere Vorschläge zur Vorfahrtsregelung für Investoren steuer erhöht werden soll. Das paßt sozial nicht zu- eingegangen. sammen. Das heißt, wir sehen Bewegung. Aber man muß gleichzeitig sagen, das kommt viel zu spät, und teil- (Beifall bei der SPD) weise ist es völlig halbherzig. Ich habe schon gesagt: Wir hätten gern mit Ihnen im Typisch dafür ist die künftige Eigentumsregelung. November und Dezember 1989 und dann im ganzen Sie haben zwar Elemente von uns übernommen. Aber Jahr 1990 über die Probleme der Integration der da- das Ergebnis war ein Gesetz, das so kompliziert ist, maligen DDR in die Bundesrepublik geredet. daß selbst die ausgefuchste westdeutsche Verwaltung Ich sage ganz offen: Manchmal freut man sich nicht es nicht praktizieren könnte, geschweige denn, daß darüber, daß man sagen kann, man hat letztlich recht diejenigen es anzuwenden vermögen, die im Osten behalten. Wir Sozialdemokraten haben von Anfang damit umgehen sollen. an gesagt, daß das, was wirtschaftspolitisch ansteht, (Beifall bei der SPD) eine außerordentliche Aufgabe und Herausforderung ist, für die es in der Wirtschaftspolitik keine Vorbilder Die Ideologie hatte Ihnen den Blick verstellt. Man gibt. Wir haben — das bezweifelt ja niemand mehr — wollte einfach den großen staatlichen Handlungsbe- vor einem Jahr richtig analysiert und die richtigen darf nicht zur Kenntnis nehmen, den eine funktions- Maßnahmen vorgeschlagen, als Sie noch ideologische tüchtige Marktwirtschaft gerade beim Neuaufbau als Scheuklappen hatten und behaupteten, es gebe jetzt Grundlage hat. Das war nach meiner Auffassung ein Wirtschaftswunder in der DDR; der Mittelstand nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung. blühe automatisch auf; jetzt sei eine Phase wie in den Ihr Wunderglaube an die Allheilmittel des Marktes 50er Jahren automatisch da. verhinderte geradezu, daß der Marktwirtschaft in die- Ich sage noch einmal: Wir sind nicht glücklich dar- ser kritischen Phase sogleich eine Chance gegeben über, daß wir mit unserer Analyse und unserer Theo- wurde. rie richtig gelegen sind. Ich wäre froh, es wäre besser Die Übergangskrise hat gezeigt, daß die Sozialde- gegangen. Denn wir müssen alle noch lange an dieser mokraten in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten Hypothek bezahlen. in der Einschätzung, in der Analyse und in der Erar- Die Bundesregierung ist bisher an der Aufgabe ge- beitung von Antworten weit realistischer sind als Li- scheitert. Aber die wirtschaftliche und soziale Einheit berale und Konservative. Das läßt sich in der Bundes- darf nicht scheitern. republik übrigens historisch nachweisen. Die Kon- junkturkrise 1966/1967 hat zum Rücktritt von Erhard (Beifall bei der SPD) geführt; Schiller hat die Bundesrepublik Deutschland wieder in eine Wachstumsphase gebracht. Deshalb sind wir trotz Ihrer früheren Ablehnung wei- terhin gesprächsbereit. (Lachen bei der CDU/CSU) Manche sagen, die Regierung habe jetzt dazuge- Helmut Schmidt hat die beiden Ölkrisen 1973 und lernt; sie habe Vorschläge der Opposition übernom- 1980 als erster und einziger sofort richtig eingeschätzt. men; da habe sich etwas geändert. Sicher, es wäre Beispielsweise hat er damals jene Weltwirtschaftsgip- völlig falsch, zu bestreiten, daß die Regierung Ideen fel durchgesetzt, auf die sich der Bundeskanzler heute von uns aufgegriffen hat. Über Wirtschaftsminister berufen konnte. Es ist ja auch kein Geheimnis, daß Möllemann muß man sagen, daß er wirklich nicht sich zur Zeit viele Bürgerinnen und Bürger in der Bun- 2104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wolfgang Roth desrepublik Deutschland angesichts der ökonomi- schätzung von gestern lautet: Wir brauchen keine schen Probleme im Osten einen Bundeskanzler mit Steuererhöhung. Die Fehleinschätzung von heute dem wirtschaftlichen Erfahrungshintergrund von Hel- lautet: Wir brauchen nur für ein Jahr eine — zudem mut Schmidt und nicht einen Bundeskanzler Kohl ungerechte — Ergänzungsabgabe. wünschen. Nein! Wir Sozialdemokraten sagen: Wir brauchen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in den 90er Jahren aus Gründen der Solidarität mit Umfragen in der Öffentlichkeit zeigen das ganz deut- dem Osten eine befristete Ergänzungsabgabe auf lich. Im übrigen sind gerade Wähler und Anhänger lange Zeit. der CDU/CSU und der FDP dieser Meinung. (Beifall bei der SPD) Natürlich wollen Sie jetzt über die Probleme und In drei, vier Jahren ist das nicht anders. Ihre Fehleinschätzungen stillschweigend zur Routine übergehen. Das verstehe ich sogar. Wer läßt sich Man kann es auch so sagen: Aus der falschen Ana- schon gern an Fehler erinnern? lyse setzt sich die Steuerlüge der Regierung Kohl fort. Sie wird zur Dauerübung. Leider ist das aus einem Grund nicht möglich: Irrtü- mer und Fehleinschätzungen setzen sich immer noch (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Kennen fort. Besonders deutlich wird das bei der Vorausschau Sie noch die Lebenslüge?) auf die wirtschaftliche Entwicklung im Osten sowie bei der Finanzierung. Wir haben gestern das Ergebnis einer Umfrage von Infas erfahren. Auf die Frage, ob der Vorwurf der Der Bundeskanzler hat bis in die letzten Wochen Steuerlüge berechtigt sei, sagen 72 % der Bürger: Ja, immer wieder gesagt, man brauche etwa drei bis vier so ist es. Wenn das die Meinung der Bürger ist, dann Jahre, bis das Leistungsniveau im Osten demjenigen hören Sie auf, zu sagen, das sei sozialdemokratische im Westen entspreche. Propaganda, sondern korrigieren Sie endlich Ihre Ein- Ich will gar nicht meine eigenen Analysen- heranzie- schätzung und Ihre Steuerpolitik! Gehen Sie mit den hen, sondern die Analysen Ihres Parteifreundes in Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere denen im Sachsen, Professor Biedenkopf. Osten, fair um! (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd — Ich habe schon bei den Zwischenrufen gemerkt: Er Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) ist kein Freund, sondern nur ein Parteifreund von Ih- Wer soll das alles noch ernst nehmen? nen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was Professor Biedenkopf, der immerhin Ministerpräsi- Sie sagen?) dent von Sachsen ist, sagt zu Recht: Da die neuen Bundesländer 1992 — das ist jetzt schon absehbar — In der Steuerpolitik werden Tag für Tag neue Steuer- nur 25 % des Leistungsniveaus des Westens haben vorschläge gemacht. Der Herr Möllemann hat einen werden, brauche man bis zum Ende des Jahrtausends, neuen Vorschlag zur Vermögensteuer gemacht; er also in den nächsten acht Jahren, jedes Jahr eine will jetzt halbieren. Andere wollen gleich zwei Punkte durchschnittliche Wachstumsrate von 22 %. Mehrwertsteuererhöhung. Was die Ergänzungsab- gabe betrifft, ist alles unklar. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Ein bißchen viel!) Noch grotesker ist die Diskussion über den Subven- tionsabbau. Als Sie an die Regierung kamen, hat fast Darf ich Sie daran erinnern, daß selbst in der Auf- jeder der sich zu finanzwirtschaftlichen Fragen äu- schwungphase zwischen 1950 und 1960 der Durch- ßerte gesagt: Das ist die Regierung des Subventions- schnitt des Wirtschaftswachstums gerade bei 7 % lag; abbaus. das höchste Wachstum betrug 12 % , das niedrigste 3,6 %. Aber seit 1982 ist keine wesentliche subventions- Der Bundeskanzler zieht durch die Lande und ver- politische Maßnahme beschlossen worden, die diesen Begri spricht den Ostdeutschen, in drei bis vier Jahren ff rechtfertigt. werde das Leistungsvermögen etwa wie im Westen (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: 14 Milliar sein. Diese Fehleinschätzung ist nur noch mit der Be- den DM im letzten Jahr!) hauptung vergleichbar, daß es im letzten Jahr ein Wirtschaftswunder hätte geben müssen. Jetzt sagt der Herr Möllemann, er wolle zurücktre- ten, wenn nicht 10 Milliarden DM erwirtschaftet wür- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. Gestern sagte er noch, er wolle einen Unterneh- des Bündnis 90/GRÜNE) mer als Subventionsbeauftragten berufen, der Vor- Diese Fehleinschätzung wird fortgesetzt. schläge machen solle. Jetzt geht es nicht nur um eine Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, son- Warum müssen wir das immer wieder wiederho- dern auch noch um eine Privatisierung der Politik. Ist len? es nicht eine Schande, wenn eine Regierung sagt, sie (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Ihr müßt brauche Unternehmensberater, um Subventionen ab- gar nicht!) zubauen? — Wir müssen das wiederholen, weil sich aus dieser (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen] Fehleinschätzung ständig die Fehleinschätzungen im [CDU/CSU]: Auch Sie nehmen doch Bera Bereich der Finanzpolitik entwickeln. Die Fehlein ter!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2105

Wolfgang Roth Meine Damen und Herren von der Regierung, ich Lassen Sie mich noch über ein besonderes Thema empfehle, beim Subventionsabbau ganz genau dar- sprechen, das die neuen Bundesländer betrifft und mir über nachzudeken, daß jede einzelne entscheidene auch bei meinen Begegnungen im Osten immer grö- Maßnahme der Zustimmung des Bundesrates be- ßere Schwierigkeiten macht. darf. Sie alle wissen, daß es beim Übergang von der ehe- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Eine maligen Ostmarkt zur D-Mark erhebliche Wirtschafts- Drohung?) kriminalität gegeben hat. Wir reden zwar zur Zeit viel Sie haben vorhin in Richtung Bundesratsbank gesagt, über Schalck-Golodkowski — das geschieht zu Recht; Sie erwarteten eine kooperative Haltung. Das gilt ge- es wird darüber einen Untersuchungsausschuß ge- rade beim Subventionsabbau. Wer über den Kahl- ben —; aber es gibt im Zusammenhang mit der Ein- schlag für das Revier nachdenkt, wer den Bergbau führung der D-Mark noch sehr viele andere unge- zerstören will, der wird in der SPD keine Gesprächs- sühnte Durchstechereien. partner finden. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Weiß Gott!) (Beifall bei der SPD) Während wir an die Bürgerinnen und Bürger appel- Wir sind aber bereit, über alle anderen Themen zu lieren, mit der Ergänzungsabgabe und mit der in zwei sprechen, weil der derzeitige Umfang der Verschul- Jahren eintretenden Mehrwertsteuererhöhung zur so- dung in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu ak- liden Finanzierung der Integration der ehemaligen zeptieren ist. DDR beizutragen, gibt es Leute, die auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger dort Tag für Tag an der frü- Wenn ich alle Kredite des Jahres 1991 addiere, dann heren DDR verdienen. Das kann nicht so weiterge- komme ich zu Kreditaufnahmen von etwa 200 Milliar- hen. den DM. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Das hat Frau GRÜNE — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Matthäus-Maier schon gesagt!) - Traurig genug! — Zuruf von der CDU/CSU: Es entfallen 149 Milliarden DM auf Bund, Länder und Da wird so mancher Sozialdemokrat dabei Gemeinden direkt sowie auf den Fonds Deutsche Ein- sein!) heit, ERP; 22 Milliarden DM auf die Treuhand; 7 Mil- Wir müssen sehen, daß für viele drüben der Ein- liarden DM auf die Bahn; 15 Milliarden DM auf die druck entstanden ist, hier gehe es nicht um Soziale Post; 5 Milliarden DM auf den Kreditabwicklungs- Marktwirtschaft, sondern um Geschäftemacherei und fonds; 7 Milliarden DM auf die Ablösung von Krediten Spekulantentum. im Wohnungsbau. Das ergibt über 200 Milliarden DM. Ich spreche über eine spezielle Branche. Ich meine nicht die guten, vernünftigen Wirtschaftsprüfer und Wir sind inzwischen bei nahezu 8 % Schulden, ge- -berater. Aber das, was im Beratungswesen in den messen am Bruttosozialprodukt. Diese Verschul- neuen Bundesländern umherrennt und für teures dungsrate ist höher als beispielsweise die Verschul- Geld falsche Ratschläge gibt, ist unerträglich. Ich bitte dungsrate von Herrn Reagan. Eine derartige Finanz- auch die Verbände, dafür zu sorgen, daß das gestoppt politik ist auf Dauer nicht machbar. wird. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Für was?) (Beifall bei der SPD und der FDP — Siegf ried — Es geht nicht um die Frage: Für was? Stellen Sie Hornung [CDU/CSU]: Jawohl!) sich einmal vor, wieviel Kurzarbeitergeld in der frühe- ren DDR zur Zeit aus Schulden bezahlt wird! Das sind Tut die Bundesregierung hiergegen etwas? Ich keine Investitionen, sondern konsumtive Ausgaben. habe bisher nichts gehört. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Richtig! ( [CDU/CSU]: Was soll sie denn — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Heißt machen?) das: Sie wollen gar nichts bezahlen? — Wei Das muß sich schnell ändern. Wir dürfen es nicht zu- terer Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie lassen, daß der Start der Marktwirtschaft in den neuen streichen? — Gegenruf des Abg. Dr. Hans Bundesländern in einem Sumpf von Schieberei ver- Jochen Vogel [SPD]: Ist das primitiv!) sinkt. — Ich bin ja der Auffassung, daß wir helfen müs- Wir müßten eine Sonderarbeitsgruppe der Ministe- sen; rien in Bonn und der neuen Bundesländer schaffen, (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Na die beispielsweise die Staatsanwaltschaften berät und und? Wie denn?) auch typische Fallkonstruktionen veröffentlicht, da- mit die Leute vor derartigen Aktionen gewarnt sind. aber ich bin nicht der Auffassung, daß diese Finanz- politik auf die Dauer fortgesetzt werden kann. In dem Zusammenhang ist auch die Wirtschaft ge- fordert. Eine große Versicherungsgesellschaft kann Deshalb schlagen wir vor, daß dieser Dialog be- nicht einfach wegsehen, wenn in ihrem Auftrag und ginnt, für ihre Provision Dutzende, Hunderte von Schlep- (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur re pern durch die neuen Bundesländer fahren und die den!) Leute zu Versicherungen überreden, die sie auf die und zwar auch über die Frage einer Verbesserung der Dauer überhaupt nicht bezahlen können. Steuerstruktur in der Bundesrepublik und einer bes- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr seren Finanzabdeckung. richtig!) 2106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wolfgang Roth Ich fordere auch die deutsche Versicherungswirt- Sechster Punkt. Die Tatsache, daß eine Regelung schaft auf, hier endlich für solide Verhältnisse zu sor- der ökologischen Altlasten bis heute fehlt, führt auch gen. Das ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. zu unterlassenen Investitionen im ökologischen Sek- tor. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Wolf Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum gang von Stetten [CDU/CSU] — Siegf ried Schluß sagen: Es gibt neue Vorschläge, es gibt zusätz- Hornung [CDU/CSU]: Sehr gut!) liche Ideen. Es muß einen zusätzlichen Ideenwettbe- werb in Richtung auf die neuen Bundesländer geben. Lassen Sie mich einige Worte zu den Kaufhauskon- Gehen Sie endlich von Ihrem hohen Roß herunter! zernen sagen. Ich weiß, da handelt es sich nicht um Gehen Sie in sorgfältige Gespräche mit Bundesrat und Wirtschaftskriminalität. Aber auch sie sind rechen- Opposition! Wir haben weitere Anregungen. Helfen schaftspflichtig. Warum sind denn dieselben Güter im Sie mit, daß den Menschen im Osten geholfen wird! Osten teurer als im Westen? Das darf doch nicht wahr sein! Wir verlangen von den Bürgern Steuergelder zur (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ Finanzierung des Aufbaus im Osten und manche GRÜNE und der PDS/Linke Liste) Kaufhauskonzerne nutzen die mangelhafte Wettbe- werbssituation im Osten gnadenlos aus. Das muß auf- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der hören. Kollege Dietrich Austermann. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE) Dietrich Austermann (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Ich fordere den Wirtschaftsminister auf, hiergegen zu- Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, vernünf- sammen mit dem Bundeskartellamt stärker vorzuge- tig und richtig, daß man nach den Ausführungen des hen. Kollegen Roth noch ein paar klarstellende Bemerkun- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Was- soll gen zu dem macht, was er gesagt hat, und ein paar denn das Kartellamt dabei machen?) kurze Sätze anschließt. Das zentrale Problem im Osten ist und bleibt die (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Er hat über Arbeitslosigkeit. Das zentrale Problem ist die Gefahr, haupt nichts gesagt!) daß wir im Dezember 3 Millionen Arbeitslose haben Es muß ganz deutlich unterstrichen werden, daß die werden. Ich glaube nicht, daß das Instrumentarium SPD durch ihre Verzögerungshaltung im letzten Jahr ausgereizt ist. die Voraussetzung für das, was in den neuen Bundes- Wir machen heute erneut Vorschläge. Ich unter- ländern zu geschehen hat, gerade erschwert und nicht breite Ihnen noch einmal sechs Punkte, weil sie in der erleichtert hat. Sie hat den Wahltermin verzögert, und sie hat viele andere Dinge problematisiert. von Regierung und Opposition gebildeten Arbeits- gruppe nicht durchgesetzt werden konnten. (Beifall bei der CDU/CSU) Erster Punkt. Massenentlassungen im Osten müs- Es muß auch festgestellt werden, daß Anlaß für Runde sen ausgesetzt werden, und als Nachfolgeregelung Tische in auslaufenden Diktaturen ist, aber nicht in zur Kurzarbeit Null müssen flächendeckend Beschäf- einer funktionierenden Demokratie. tigungsgesellschaften gegründet werden. Es darf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eben nicht entlassen werden. Wenn das Angebot zur Zusammenarbeit besteht, soll Zweiter Punkt. Bei öffentlichen Aufträgen in den es gerne genutzt werden. Auf Runde Tische ist man neuen Bundesländern müssen 70 % der Wertschöp- aber nicht unbedingt angewiesen. fung aus östlicher Leistungserstellung nachgewiesen Die Debatte um den Kanzleretat stellt immer auch werden. Das ist übrigens ein Punkt, auf den gerade die Frage, ob und wie gut dieses Land geführt wird Klaus Dohnanyi aus seiner Erfahrung heraus ständig und wie die Alternative aussähe. Dies muß man deut- hinweist. lich herausstellen. Ich kann nur sagen: Nach der De- Dritter Aspekt. Finanzielle Absatzhilfen für Indu- batte heute morgen sprechen viele, ja eigentlich alle strieprodukte müssen fortgeführt werden, sie dürfen Indizien dafür, daß eine andere, beispielsweise SPD nicht in diesem Jahr auslaufen, sonst gibt es unnötige geführte, Bundesregierung die Wiedervereinigung Betriebsschließungen, die man verhindern kann. nicht so schnell herbeigeführt hätte und dies für alle Bürger teurer geworden wäre. Dies zeigen auch die Vierter Punkt. Es muß zusätzliche Stützungsmaß- Erklärungen über Subventionsabbau und Steuererhö- nahmen für den Osthandel geben, und zwar nicht nur hungen, die Herrn Roth bei weitem noch nicht ausrei- in Richtung Sowjetunion, sondern auch in Richtung chen. Ich möchte ganz deutlich sagen: Wer nach den der kleineren Länder. Erfahrungen von 1982 heute an einen Regierungs- Fünftens. Wir brauchen endlich eine vernünftige wechsel zur SPD denkt, ist entweder Masochist, oder Entschuldungsregelung. Die Fall-zu-Fall-Regelung er leidet an retrograder Amnesie. hat sich als schwerer Fehler erwiesen und hat zu wei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) teren Betriebsstillegungen geführt, die man verhin- Meine Damen und Herren, es besteht allerdings in dern muß. der Tat Bedarf und Notwendigkeit, über das, was bis- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber mit her eingeleitet worden ist und was wir miteinander Nullwachstum kann man das nicht errei begonnen haben, zu informieren. Wer ein objektives chen!) Bild hat, wird feststellen, daß die wirtschaftlichen Da- Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2107

Dietrich Austermann ten in der Bundesrepublik so gut waren wie nie zuvor ses zu einer Meinung. Dies zeichnet nicht gerade Füh- und daß sich auch in den östlichen Bundesländern die rung aus. Zeichen der Besserung mehren. Selbst ADN ist nicht Diese Regierungskoalition, meine Damen und Her- mehr in der Lage zu leugnen, daß sich einiges tut, daß ren, hat die Zwölfte Wahlperiode mit einem klaren Großunternehmen zunehmend investieren, wie noch Programm begonnen. Wir könnten sicherlich ein gestern in der „Neuen Zeit" gemeldet wurde. Stück weiter sein. Manches hätte — auch dadurch, Meine Damen und Herren, es ist aber auch die daß die Opposition besser mitgemacht hätte — besser Frage zu stellen, wie es mit dem Thema Steuerirrtum/ laufen können. Aber der Weg ist richtig. Heute kann Steuerlüge/Steuerbetrug nun tatsächlich aussieht. man sagen: Das Schiff nimmt fahrt auf. Zum Kapitän Wenn wir ein paar Zitate heranziehen, dann wird gibt es keine Alternative. — Die CDU/CSU stimmt deutlich, daß die Sozialdemokraten selbst Fehlein- dem Kanzleretat zu. schätzungen unterlegen sind. Dies gilt nicht nur für Herzlichen Dank. Lafontaine mit der Äußerung, die DDR sei ein lunren- (Beifall bei der CDU/CSU) des Industrieland gewesen, sondern auch für Herrn Stolpe, der noch im Februar sagte: Es fehlen uns heute aktuelle Bestandsaufnahmen. — Und Engholms Fi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich nanzministerin schloß am 21. Februar 1991 an: Die die Aussprache zu Einzelplan 04. neuen Bundesländer sollen erst einmal in den eigenen Wir kommen zur Abstimmung über diesen Einzel- Taschen nachsehen, was drin ist. Man kann uns also plan in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/ nicht vorwerfen, wir hätten zu spät gehandelt. CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. — Helmut Schmidt hat kurz vor der Wahl gesagt, La- Darf ich fragen, ob noch irgend jemand im Saal ist, fontaine verliere zu Recht; Helmut Kohl habe innen- der seine Stimme nicht hat abgeben können? — Das politisch keine Fehler gemacht. Zu den Vorwürfen aus ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung seiner Partei hinsichtlich einer angeblichen Steuer- - und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu lüge sagt er am 12. Ap ril dieses Jahres vor der Atlan- beginnen. tikbrücke, den Vorwurf der Steuerlüge an die Adresse der Herren Kohl, Waigel und Lambsdorff habe er nicht Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird geteilt. sagt, er hätte genauso gehandelt später bekanntgegeben. *) wie Herr Waigel und auch Widerstand geleistet gegen übertriebene vorweggenommene Steuererhöhungen, Ich rufe nun auf: so wie sie von der SPD immer wieder gefordert wür- Einzelplan 09 den. Geschäftsbereich des Bundesministers für Herr Engholm dagegen geht mit weinerlicher Wirtschaft Stimme durch das Land Schleswig-Holstein und sagt, — Drucksachen 12/509, 12/530 — er müsse wegen der Bonner Haushaltsmaßnahmen Berichterstatter: viele Dinge streichen. Hierzu ist festzustellen: Auch in Abgeordnete Kurt J. Rossmanith Schleswig-Holstein geht es zur Zeit wegen der guten Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Bundespolitik besser denn je. Helmut Wieczorek (Duisburg) (Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für des Abg. Dr. Otto Garf Lambsdorff [FDP] — die Aussprache zu diesem Einzelplan zwei Stunden Unruhe bei der SPD) vorgesehen. — Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Das Land erhält mehr Hilfestellung denn je. Alleine die direkten Finanzhilfen auf der Grundlage des jetzt Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bür- zu beschließenden Haushalts belaufen sich für dieses germeister des Landes Bremen, Klaus Wedemeier. Jahr auf 2,5 Milliarden DM. Wenn es in Schleswig- Holstein gut läuft, dann deshalb, weil der Bund nach Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen): wie vor so massiv hilft und nicht etwa deshalb, weil Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und das Land eine hervorragende Regierung hat. Herren! Es mag manchem ungewöhnlich erscheinen, daß sich ein sozialdemokratischer Ministerpräsident In diesem Zusammenhang müßte man eigentlich gegen die in Rede stehenden Vorschläge zum die alternative Halbzeitbilanz der Jusos aus dem letz- Sub- ten Jahr über Engholms Regierungszeit zitieren, in ventionsabbau ausspricht. der von Pleiten, Pech und Pannen als integralem Be- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Da standteil der sozialdemokratischen Regierungspolitik haben wir keinen Zweifel, daß Sie das lobby in Schleswig-Holstein die Rede ist. istisch tun werden!) Aber es gibt Gründe dafür, sich gegen das auszuspre Meine Damen und Herren, die Ergebnisse nach chen, was der Bundeswirtschaftsminister derzeit vor achteinhalb Jahren Regierungszeit in Bonn sind her- schlägt, und zwar, wie Sie wissen, nicht nur bei uns. vorragend; die Ergebnisse für die neuen Bundeslän- der werden besser. Dies kann gar nicht oft genug (Ernst Kastning [SPD]: Es gibt auch Gründe unterstrichen werden. Es gibt überhaupt keine Veran- dafür, daß er zuhören sollte!) lassung, über andere, neue Regierungen nachzuden- — Dann würde er etwas lernen; das wäre schwierig. ken. Bei wesentlichen Entscheidungen kam die SPD immer erst nach Abschluß des Entscheidungsprozes- *) Ergebnis Seite 2111 A 2108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen) Meine Damen und Herren, es geht bei diesem Die Frage ist, ob er aus der privaten Wirtschaft kom- Thema nicht nur um die internationale Wettbewerbs- men muß. fähigkeit unserer Wirtschaft — das allein wäre schon Wenn man ihm etwas raten darf, dann vielleicht Grund genug — , sondern es geht auch um zigtau- dies: Herr Möllemann, Subventionsabbau ist kein Er- sende von Arbeitsplätzen, die der Bundeswirtschafts- satz für eine zukunftsgerichtete Strukturpolitik. Er- minister gefährdet. wecken Sie mit Ihrem risikobehafteten Einsatz um Es ist nämlich kein Konzept erkennbar, das dieses den Subventionsabbau nicht den Eindruck, als würde Vorhaben begleitet, das Alternativen für die betroffe- die Bundesrepublik Deutschland an der Spitze aller nen Menschen, für die betroffenen Unternehmen oder Subventionsgeber stehen. für die betroffenen Regionen aufzeigt. Ich frage mich, Es tut mir ja richtig leid, daß ich es jetzt mit Ihnen zu ob wir es uns in Deutschland leisten können, Wirt- tun habe, Herr Riedl. Aber Ihr Chef ist nicht da. schaftspolitik mit Subventionsabbaupolitik gleichzu- setzen. Können wir es uns leisten, die Wettbewerbs- (Bundesminister Jürgen W. Möllemann: politik, die Außenwirtschaftspolitik, die Industriepoli- Bitte?) tik oder die Regionalpolitik zu vernachlässigen? — Entschuldigen Sie bitte, Herr Möllemann. Wir alle wissen, daß die Bundesrepublik Deutsch- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Der eine ist ja land und — je nach Problemdruck unterschiedlich — doppelt so schwer wie der andere!) verschiedenen Regionen unseres Landes vor Her- die Ich meinte, er saß vorhin etwas weiter hinten. Ich ausforderungen stehen, die eine grundlegende Über- glaube, er hat sich etwas nach vorne geschlichen, weil schaftspolitischen Überlegungen prüfung unserer wirt die Plätze dort frei geworden sind. notwendig machen. Selbstverständlich ist es unsere Pflicht, alles zu tun, damit die neuen Bundesländer Lieber Herr Möllemann, erwecken Sie bitte nicht schnellstmöglich den Anschluß an die allgemeine Ent- den Eindruck, als würde die Bundesrepublik an der wicklung erreichen. Aber dies darf nicht dazu führen, Spitze aller Subventionsgeber liegen. - daß wir unsere Wettbewerbsposition im gesamteuro- Ich möchte die Feststellung der OECD zu den Indu- päischen Zusammenhang und in der internationalen striesubventionen in den OECD-Wirtschaften wie- Arbeitsteilung aufs Spiel setzen. derholen. Da wird gesagt, daß die staatlichen Subven- (Beifall bei der SPD) tionen in Deutschland — damals noch als Summe der alten elf Bundesländer — für das gesamte verarbei- Wir müssen sehen, daß die europäischen Nachbarn tende Gewerbe einschließlich Transport und Verkehr durchaus dankbar sind, wenn sich die Deutschen mit um 28 % unter dem EG-Durchschnitt liegen, daß die ihren eigenen Problemen befassen und aus diesem Industriesubventionen in Deutschland unter allen EG- Grunde nicht in der Lage sind, sich den Herausforde- Ländern am niedrigsten sind und daß die Subventio- rungen des europäischen Binnenmarkts zu stellen. nen selbst in den Branchen Stahl und Schiffbau weit Auch die Konkurrenten in Fernost werden es mit posi- von der EG-Konkurrenz entfernt sind. tivem Interesse registrieren, wenn wir uns aus indu- striellen Zukunftsmärkten international verabschie- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wollen Sie die den, sei es aus der Mikroelektronik, aus dem Schiff- wieder erhöhen?) bau, aus der Stahlverarbeitung oder der Raumfahrt, — Ich komme darauf zurück. Aber Sie scheinen sich wo es ja verschiedene Auffassungen gibt. mit diesem Thema nicht allzu oft befaßt zu haben, sonst könnte ich so dumme Zwischenrufe nicht verste- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Horror hen. -szenario!) (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith Wenn man diesen Grundgedanken nun akzeptiert, [CDU/CSU]: Das ging zu weit, Herr Bürger bedeutet dies natürlich noch lange nicht den Verzicht meister!) auf Subventionsabbau. Unter europäischen Maßstäben ist Handlungsbe- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!) darf generell nicht erkennbar. Es kann ihn trotzdem Aber Subventionsabbau ist, wie wir alle wissen, ein geben, und es gibt ihn sicherlich. Da sind wir nicht schwieriges und langwieriges Geschäft und kein auseinander. Aber Subventionsabbau in der Indust rie Thema für spektakuläre Hauruckaktionen, so wie es kann nur im Zusammenhang mit einem industriepoli- Herr Möllemann meint. tischen Konzept diskutiert werden und nicht ohne. (Beifall bei der SPD — Carl-Ludwig Thiele (Beifall bei der SPD) [FDP]: Aber man muß es einmal machen!) Selbstverständlich muß akzeptiert werden, daß — Die Frage ist, wie man es macht. Dauersubventionen die marktwirtschaftlichen Pro- zesse aushöhlen, deshalb auch degressiv und nur für Ich habe vorhin gehört, daß Herrn Möllemann ein einen begrenzten Zeitraum zu gestalten sind. Unternehmensberater zur Seite gestellt werden soll. Meine Damen und Herren, der hektische und ha- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Aha!) stige Aktionismus des Bundeswirtschaftsministers, diese Zehn-Milliarden-Einsammelaktion, ist aber Im Prinzip kann man Herrn Möllemann einen Berater konzeptionell nicht abgesichert. Was können wir den gönnen. Unternehmen und den Arbeitnehmern auf den Ze- ( [Köln] [SPD]: Hat er auch drin chen und bei den Werften an Perspektive bieten, gend nötig!) wenn wir nur mitteilen, daß alle Subventionen mehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. 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Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen) oder weniger unsinnig sind, und, wenn es nur irgend- 9,5 % vollends nehmen, läßt zu, daß in Spanien noch wie geht, alle abgebaut werden sollten? mehr als 15 % gezahlt werden dürfen — die Spanier haben eine Ausnahmeregelung — , und weiß wahr- Nun muß man zugeben, daß ein industriepoliti- sches Konzept schon vor Möllemann nicht erkennbar scheinlich nicht, daß in Italien und in Spanien der war. Ich will einmal schildern, weil es mir regional Staat auch noch die Verluste der Werften übernimmt, naheliegt, was in den letzten Jahren allein der mari- dort also Preise gemacht werden können, wie man sie timorientierten Wirtschaft zugemutet worden ist. machen muß, um überhaupt einen Auftrag zu bekom- men. Von 1975 bis 1990 sind in Norddeutschland rund 41 000 Arbeitsplätze auf den Werften abgebaut wor- Herr Möllemann, bevor Sie hier weiter Kahlschlag den. Das ist ein Abbau von 57 % der Arbeitsplätze. Im politik betreiben, wäre es sinnvoll — dabei würden Lande Bremen waren es sogar 67 %. Die Bundesregie- wir alle Sie unterstützen — , zunächst einmal in Eu- rung und die norddeutschen Länder hatten sich da- ropa die Subventionen gleich zu gestalten — außer- mals, wenn auch mühsam, auf ein gemeinsames Kon- dem ist ja auch noch an die unterschiedlichen Lohn- zept verständigt, das mit den betroffenen Unterneh- höhen zu denken — oder aber dafür zu sorgen, daß in men, auch mit den Betriebsräten, erörtert worden ist. Europa keine Subventionen für den Schiffbau mehr Es sind Zielzahlen für Schiffbauarbeitsplätze festge- gezahlt werden dürfen. legt worden. Ich will an dieser Stelle noch einmal (Beifall bei der SPD) betonen, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kollegen auf den Werften freiwillig auf Lohn ver- Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das erreichen, zichtet haben, um ihre Arbeitsplätze überhaupt noch bevor Sie hier den Kahlschlag versuchen; denn dann halten zu können. Freiwillig! wären die deutschen Werften die wettbewerbsfähig- (Beifall bei der SPD — Ernst Waltemathe sten Werften in Europa. Im Nahen Osten haben wir [SPD]: Zuhören! — Gegenruf des Bundesmi natürlich Probleme, ähnliches zu erreichen. nisters Jürgen W. Möllemann: Tue ich -die Daß die Bundesregierung das ähnlich sieht, möchte ganze Zeit!) ich an Hand des Finanzplans zeigen. — Im Finanzplan Der Fördersatz für die Wettbewerbshilfe ist von der Bundesregierung ist folgendes nachzulesen — ich 1989 bis heute von 20 % über 14 % auf 9,5 % abge- zitiere — : Das von Bund — zwei D rittel — und Län- senkt worden. Wir haben es also, wenn man so will, dern — ein Drittel — gemeinsam finanzierte Wettbe- mit erheblichen Kürzungen im Bereich der Schiffbau- werbshilfeprogramm dient dazu, wettbewerbsverzer- industrie zu tun — abgesehen davon, daß die Bundes- renden Subventionen anderer Staaten entgegenzu- regierung für 1989 und 1990 Nullsummen eingesetzt wirken. — Also: Die Begründung für eine Wettbe- hatte. Der Haushaltsausschuß hat das korrigiert. Ich werbshilfe schreibt die Bundesregierung selbst in den bin dafür sehr dankbar. Das sage ich für alle norddeut- Finanzplan. Weiteres ist dort nachzulesen. schen Länder, übrigens auch für alle norddeutschen Der Bundesminister hat mir im Auf- Parteien, um Ihnen das vielleicht einmal klarzuma- trag des Bundeskanzlers geschrieben — das war am chen. 11. November 1990, aber so lange ist das ja noch nicht (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ her — : Der Haushaltsausschuß des Bundestages hat CSU: Auch die süddeutschen!) intensiv und ausführlich die Fortsetzung des Pro- gramms über 1990 hinaus geprüft und ist dabei zu — Darauf komme ich noch zu sprechen. Auch die süd- dem Ergebnis gekommen, 500 Millionen DM an Ver- deutschen müßten dankbar sein. pflichtungsermächtigungen bis 1992 vorzusehen, weil Ich wundere mich übrigens, wenn ich lese, welche trotz steigender Nachfrage am Weltmarkt immer noch Arbeit der Haushaltsausschuß leisten muß, welcher kaum kostendeckende Preise durch die deutschen Umgang zwischen Regierung oder einem einzelnen Werften erzielt werden können. Mit der Fortsetzung Minister und dem Parlament gepflegt wird. Das kenne des Wettbewerbshilfeprogramms sind sichere Per- ich so nicht, daß das Parlament einen Haushalt be- spektiven für die deutsche Werftindustrie geschaf- schließt, und selbstherrlich wird irgend etwas gekürzt. fen. Bei den Finanzbeiträgen war es ähnlich. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Interessant!) Insgesamt bleibt festzustellen, daß bereits ein er- heblicher Abbau der Wettbewerbshilfe für den Schiff- Der Mann hat recht! Aber er hat wahrscheinlich keine bau stattgefunden hat, seit 1988 aber etwas Konzep- Kopie zum Bundeswirtschaftsminister geschickt, tionelles, so wie es vorher war, nicht erkennbar ist. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Können wir Wir sollten auch darauf achten, was die Europäische eben ablichten!) Gemeinschaft zu solchen Kürzungsvorhaben sagt. Der Bundeswirtschaftsminister läßt in der Europäi- was sinnvoll gewesen wäre, damit der weiß, wie das schen Gemeinschaft zu, daß in den übrigen europäi- Bundeskanzleramt denkt. schen Ländern 15 % Wettbewerbshilfe gezahlt wer- Jetzt darf ich auf Bayern zu sprechen kommen. — den dürfen, Allenfalls 40 % des Wertes eines Schiffes werden an (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das darf nicht der Küste erarbeitet. Bei manchen Schiffstypen gibt es wahr sein!) bis zu 60 % Zulieferungen aus anderen Bundeslän- dern, in der Hauptsache aus Bayern, bei uns nur 9,5 %. Als wir 20 % hatten, hatten die noch 39 %. Das ist also beinahe Kontinuität. Er will uns die (Zurufe von der SPD: Aha!) 2110 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen) aus Baden-Württemberg, gingen letztendlich alle pleite, wenn wir bei Null stün- den — und dann zu glauben, man könne die ostdeut- (Zurufe von der SPD: Aha!) sche Schiffbauindustrie gleichzeitig hochfahren. Die aber auch aus Nordrhein-Westfalen. ostdeutsche Schiffbauindustrie lebt vom Know-how (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bayern ist in Ord — das soll nicht überheblich klingen; es ist aber so — nung! — Weitere Zurufe von der SPD) der westdeutschen Schiffbauindustrie. Sie müssen eng zusammenarbeiten, damit die Arbeitsplätze in Die Hauptlieferanten für den Schiffbau an der Küste Mecklenburg-Vorpommern gesichert werden kön- sind die Bayern und die Baden-Württemberger. Wenn nen. es um die technischen Einrichtungen in der Hauptsa- che geht, ist das z. B. eine große Firma in München. (Beifall bei der SPD) (Parl. Staatssekretär Dr. E rich Riedl: Es sind Dazu muß es die Schiffbauindustrie in Westdeutsch- mehrere große!) land aber geben; sonst kann man den Kolleginnen und Kollegen und den Unternehmen in Ostdeutsch- Es sind mehrere große. Wir beide haben da auch — land nicht helfen. Es gibt hier also einen direkten keine Probleme; aber ich will Sie jetzt auch nicht in Zusammenhang. Schwierigkeiten bringen, Herr Kollege. Die Probleme habe ich mit Ihrem Minister. Herr Minister, wir sind zum Dialog bereit. Das hat (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sind Ihnen heute morgen auch zwischen Herrn Engholm und die Berichterstatter bekannt, woher sie kom dem Bundeskanzler eine Rolle gespielt. Aber wir er- men, die sich dafür eingesetzt haben, Herr warten von Ihnen, daß wir nicht aus der Zeitung erfah- ren, was Sie vorhaben, und daß unsere Wirtschaftsmi- Bürgermeister?) nister in Norddeutschland nicht erst lange um Ter- — Ich will es wiederholen, wenn es nur Herr Walte- mine bitten müssen, bevor etwas passiert. Das können mathe gehört haben sollte — , ich sage es also noch nicht nur wir erwarten, sondern das kann man an der einmal ausdrücklich: Ich bedanke mich- bei allen Saar genauso wie z. B. an Rhein und Ruhr oder auch in Haushaltsausschußmitgliedern aller Parteien für ihren Niedersachsen oder anderen Ländern, wenn es um Einsatz in dieser Sache. Ich hoffe, daß Sie den Bun- landwirtschaftliche Gebiete geht, erwarten. deswirtschaftsminister auch in Zukunft, wenn er solch sprunghaftes Verhalten zeigt, korrigieren werden. Wir selbst haben schon zuviel Geld in die Schiffbau- industrie gesteckt — und das in einem Land, dem es (Beifall bei der SPD) wahrlich nicht so gut geht — , als daß wir uns das jetzt Ich würde auch nicht, wenn jetzt diese Entschei- kaputtmachen lassen könnten. dung schrittweise einkassiert werden soll — und sie (Bundesminister Jürgen W. Möllemann: Das wird ja schrittweise einkassiert — , sagen, dies sei nun stimmt!) als erste Schwäche der Position des Ministers zu se- hen. Auch das ist nicht der Fall. Das ist die Fähigkeit, Ich denke, daß auch die Koalition sich das, was hier aus der genauen Prüfung von Fakten zu neuen Ein- passiert, nicht gefallen lassen kann. Ich will aus einer sichten zu kommen. Diese Fähigkeit müssen wir je- großen deutschen Tageszeitung zu dem, was hier in dem zugestehen. Rede steht, ein Zitat aus einem Kommentar bringen: Es wäre aber generell begrüßenswert, wenn die Den Rest an Glaubwürdigkeit, der der FDP-Wirt- Wirtschaftpolitik der Bundesregierung sich an Fakten schafts- und Finanzpolitik verblieben ist, strapa- orientieren würde und konzeptionell untermauert ziert jetzt Minister Möllemann, und zwar gründ- werden könnte. Die deutsche Indust rie und die Ar- lich. Sah es zunächst so aus, als ob der neue Bun- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen An- deswirtschaftsminister das politische PR-Ge- spruch auf ein Konzept in der Wirtschaftspolitik und schäft souverän beherrschte, so stellt sich immer nicht auf hohle Sprüche. deutlicher heraus, daß sich Möllemann in seinem (Beifall bei der SPD) schier unbändigen Drang nach permanenter Selbstdarstellung erheblich überschätzt hat und Es ist in der Indust rie und bei den Arbeitnehmerinnen politisch überdreht. und Arbeitnehmern Vertrauen notwendig. Das er- reicht man aber nicht so, wie hier zur Zeit gehandelt (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr wahr!) wird. Seine alberne Rücktrittsdrohung im Zusammen- Das gilt nicht nur für den Schiffbau; ich nehme das hang mit dem von ihm publicityträchtig gepusch- exemplarisch. Wir können nicht — in welchem Be- ten Thema Subventionsabbau ist nur ein Schnit- reich auch immer, ob bei der Mikroelektronik oder in zer von vielen, der an der Seriosität seiner Politik anderen Bereichen — mit der Indust rie etwas verab- und damit zwangsläufig auch an der seiner Partei reden und es dann wenige Monate, nachdem der zunehmend Zweifel aufkommen läßt. Mag ein Haushaltsausschuß es sogar abgesegnet hat, wieder künftiger FDP-Vorsitzender Möllemann viel- kassieren. Was ist das für eine Wirtschaftspolitik in der leicht der Enkelgeneration innerhalb der SPD Bundesrepublik? Ich glaube nicht, daß wir in der Wirt- eine verlockende Perspektive bieten; schaft damit den Mut schaffen, den wir ihr bei allen möglichen Investitionen, die sie tätigen soll, immer — na, na, kann ich da nur sagen — abverlangen. diejenigen aber, die derzeit an der Bonner Fi Es wäre auch völlig unsinnig, die westdeutsche nanzpolitik schier verzweifeln, verbinden den Schiffbauindustrie auf Null herunterzufahren — es Namen Möllemann mit reinem Aktionismus, der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2111

Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen) innerhalb der Koalition nur Unf rieden und in der Jung (Limburg) Pützhofen Öffentlichkeit bloße Verwirrung stiftet. Dr. Kahl Frau Rahardt-Vahldieck Kalb Raidel Genau das ist richtig, und das, Herr Kollege, muß auf- Kampeter Dr. Ramsauer hören! Dr.-Ing. Kansy Rau Dr. Kappes Rauen (Beifall bei der SPD) Frau Karwatzki Rawe Kauder Regenspurger Keller Reichenbach Kiechle Bevor ich nun Dr. Reinartz Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kittelmann Frau Reinhardt nach dem Präsidenten des Senats der Hansestadt Bre- Klein (Bremen) Repnik men das Wort dem Kollegen Kurt Jürgen Rossmanith Klein (München) Dr. Rieder gebe, möchte ich Ihnen das Ergebnis der Abstim- Klinkert Dr. Riedl (München) Köhler (Hainspitz) mung zum Einzelplan 04 bekanntgeben: Dr. Riesenhuber Dr. Köhler (Wolfsburg) Frau Rönsch (Wiesbaden) Abgegeben wurden 559 Stimmen. Ungültige Sti Dr. Kohl Frau Roitzsch (Quickborn) men gab es nicht. Mit Ja haben 348 gestimmt, mit Kolbe Romer Frau Kors Nein haben 210 gestimmt. Es gab 1 Enthaltung. Dr. Rose Koschyk Rossmanith Kossendey Roth (Gießen) Kraus Rother Endgültiges Ergebnis Ehrbar Dr. Krause (Börgerende) Dr. Ruck Frau Eichhorn Dr. Krause (Bonese) Rühe Abgegebene Stimmen: 559 Engelmann Krause (Dessau) Dr. Rüttgers Eppelmann Krey Sauer (Salzgitter) ja: 348 Eylmann Kriedner Sauer (Stuttgart) Dr.-Ing. Krüger nein: 210 Frau Eymer Scharrenbroich Dr. Faltlhauser Krziskewitz Frau Schätzle enthalten: 1 Feilcke Lamers Dr. Schäuble m-Dr. Fell Dr. Lammert Schartz (Trier) Fischer (Hamburg) Lamp Schemken Frau Fischer (Unna) Lattmann Scheu Fockenberg Dr. Laufs Schmalz Francke (Hamburg) Laumann Schmidbauer Frankenhauser Frau Dr. Lehr Schmidt (Fürth) Dr. Friedrich Lenzer Dr. Schmidt (Halsbrücke) Ja Fritz Dr. Lieberoth Schmidt (Mühlheim) Fuchtel Frau Limbach Frau Schmidt (Spiesen) CDU/CSU Ganz (St. Wendel) Link (Diepholz) Schmitz (Baesweiler) Frau Geiger Lintner Dr. Schneider (Nürnberg) Adam Geis Dr. Lippold (Offenbach) Dr. Schockenhoff Frau Augustin Dr. Geißler Dr. sc. Lischewski Graf von Schönburg-Glauchau Augustinowitz Gerster (Mainz) Lohmann (Lüdenscheid) Dr. Scholz Austermann Gibtner Louven Frhr. von Schorlemer Bargfrede Glos Dr. Luther Dr. Schreiber Dr. Bauer Dr. Göhner Frau Männle Dr. Schroeder (Freiburg) Frau Baumeister Götz Magin Schulhoff Bayha Gres de Maizière Dr. Schulte Belle Frau Grochtmann Frau Marienfeld (Schwäbisch Gmünd) Frau Dr. Bergmann-Pohl Gröbl Marschewski Schulz (Leipzig) Dr. Blank Grotz Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Schwalbe Frau Blank Dr. Grünewald Meckelburg Schwarz Dr. Blens Günther (Duisburg) Meinl Dr. Schwörer Bleser Frhr. von Hammerstein Frau Dr. Merkel Seehofer Dr. Blüm Harries Frau Dr. Meseke Seibel Frau Dr. Böhmer Haschke (Jena-Ost) Frau Michalk Seiters Börnsen (Bönstrup) Haungs Dr. Mildner Skowron Dr. Bötsch Hauser (Esslingen) Dr. Möller Dr. Sopart Bohl Hauser (Rednitzhembach) Molnar Frau Sothmann Bohlsen Heise Müller (Wadern) Spilker Borchert Frau Dr. Hellwig Nelle Spranger Brähmig Helmrich Neumann (Bremen) Dr. Sprung Breuer Dr. Hennig Nitsch Dr. Stavenhagen Frau Brudlewsky Hinsken Frau Nolte Frau Steinbach-Hermann Brunnhuber Hintze Dr. Olderog Dr. Frhr. von Stetten Büttner (Schönebeck) Hörsken Ost Stockhausen Buwitt Hörster Oswald Dr. Stoltenberg Carstens (Emstek) Dr. Hoffacker Otto (Erfurt ) Strube Carstensen (Nordstrand) Hollerith Dr. Päselt Stübgen Clemens Dr. Hornhues Dr. Paziorek Frau Dr. Süssmuth Dehnel Hornung Pesch Susset Frau Dempwolf Hüppe Petzold Tillmann Deres Jäger Pfeffermann Dr. Töpfer Deß Frau Jaffke Pfeifer Dr. Uelhoff Frau Diemers Jagoda Frau Pfeiffer Uldall Dörflinger Dr. Jahn (Münster) Dr. Pfennig Frau Verhülsdonk Doppmeier Janovsky Dr. Pflüger Vogt (Düren) Doss Frau Jeltsch Pofalla Dr. Voigt (Northeim) Dr. Dregger Dr. Jobst Dr. Pohler Dr. Waffenschmidt Echternach Dr.-Ing. Jork Frau Priebus Dr. Waigel Ehlers Dr. Jüttner Dr. Protzner Graf von Waldburg-Zeil 2112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt Dr. Warnke Dr. Thomae Jungmann (Wittmoldt) Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Warrikoff Timm Frau Kastner Sorge Werner (Ulm) Türk Kastning Dr. Sperling Frau Wiechatzek Frau Walz Kirschner Frau Steen Frau Dr. Wilms Dr. Weng (Gerlingen) Frau Klemmer Stiegler Wilz Wolfgramm (Göttingen) Dr. sc. Knaape Dr. Struck Wissmann Frau Würfel Körper Tappe Dr. Wittmann Zurheide Frau Kolbe Dr. Thalheim Wittmann (Tännesberg) Zywietz Kolbow Tietjen Wonneberger Koltzsch Frau Titze Frau Wülfing Kretkowski Toetemeyer Würzbach Kubatschka Urbaniak Frau Yzer Dr. Kübler Vergin Zeitlmann Nein Kuessner Dr. Vogel Zöller Dr. Küster Voigt (Frankfurt) SPD Kuhlwein Vosen Lambinus Wagner Andres Frau Lange Waltemathe FDP Bachmaier von Larcher Walther Frau Barbe Leidinger Wartenberg (Berlin) Frau Dr. Adam-Schwaetzer Bartsch Lennartz Frau Dr. Wegner Frau Albowitz Becker (Nienberge) Lohmann (Witten) Weiermann Frau Dr. Babel Frau Becker-Inglau Frau Dr. Lucyga Frau Weiler Baum Bernrath Maaß (Herne) Weißgerber Bredehorn Beucher Frau Marx Weisskirchen (Wiesloch) Cronenberg (Arnsberg) Bindig Matschie Welt Eimer (Fürth) Dr. Böhme (Unna) Dr. Matterne Dr. Wernitz Engelhard Börnsen (Ritterhude) Frau Mattischeck Frau Wester van Frau Brandt-Elsweier Meckel Frau Westrich Friedhoff Dr. Brecht Frau Mehl Frau Wettig-Danielmeier Friedrich Dr. von Bülow Meißner Frau Dr. Wetzel Funke Büttner (Ingolstadt) Dr. Mertens (Bottrop) Frau Weyel Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Frau Bulmahn Dr. Meyer (Ulm) Dr. Wieczorek Gattermann Frau Burchardt Mosdorf Wieczorek (Duisburg) Gries Bury Müller (Schweinfurt) Frau Wieczorek-Zeul Grüner Frau Caspers-Merk Frau Müller (Völklingen) Wiefelspütz Dr. Guttmacher Frau Dr. Däubler-Gmelin Müller (Zittau) Wimmer (Neuötting) Hackel Daubertshäuser Müntefering Dr. de With Hansen Dr. Diederich (Berlin) Neumann (Bramsche) Wittich Heinrich Diller Neumann (Gotha) Frau Wohlleben Dr. Hirsch Frau Dr. Dobberthien Frau Dr. Niehuis Frau Wolf Dr. Hitschler Dreßler Dr. Niese Frau Zapf Frau Homburger Duve Niggemeier Dr. Zöpel Frau Dr. Hoth Ebert Frau Odendahl Zumkley Dr. Hoyer Dr. Ehmke (Bonn) Oesinghaus Hübner Eich Oostergetelo Irmer Dr. Elmer Opel Kleinert (Hannover) Erler Frau Dr. Otto PDS/LL Kohn Esters Paterna Dr. Kolb Ewen Dr. Penner Frau Bläss Koppelin Frau Ferner Dr. Pfaff Frau Braband Kubicki Frau Fischer (Gräfenhaini- Rempe Dr. Briefs Dr.-Ing. Laermann chen) Frau von Renesse Frau Dr. Enkelmann Dr. Graf Lambsdorff Fischer (Homburg) Frau Rennebach Frau Dr. Fischer Frau Leutheusser-Schnarren- Formanski Reschke Dr. Gysi berger Frau Fuchs (Köln) Reuter Henn Lüder Frau Fuchs (Verl) Rixe Dr. Heuer Lühr Fuhrmann Roth Frau Dr. Höll Dr. Menzel Frau Ganseforth Schäfer (Offenburg) Frau Jelpke Möllemann Gansel Frau Schaich-Walch Dr. Keller Nolting Dr. Gautier Schanz Frau Lederer Dr. Ortleb Frau Gleicke Scheffler Dr. Modrow Otto (Frankfurt) Graf Schily Dr. Riege Paintner Großmann Schloten Dr. Schumann (Kroppenstedt) Frau Peters Habermann Schluckebier Dr. Seifert Frau Dr. Pohl Hacker Schmidbauer (Nürnberg) Frau Stachowa Richter (Bremerhaven) Frau Hämmerle Frau Schmidt () Rind Hampel Frau Schmidt (Nürnberg) Frau Hanewinckel Schmidt (Salzgitter) Dr. Röhl Bündnis 90/GRÜNE Schäfer (Mainz) Frau Dr. Hartenstein Frau Schmidt-Zadel Frau Schmalz-Jacobsen Dr. Hauchler Dr. Schmude Dr. Feige Schmidt (Dresden) Hiller (Lübeck) Dr. Schnell Poppe Hilsberg Dr. Schmieder Frau Schröter Frau Wollenberger Schuster Dr. Holtz Schröter Frau Sehn Horn Schütz Frau Seiler-Albring Huonker Dr. Schuster Frau Dr. Semper Ibrügger Schwanhold Dr. Sohns Frau Iwersen Schwanitz Enthalten Dr. Starnick Frau Jäger Seidenthal Frau Dr. von Teichman und Frau Janz Frau Seuster Fraktionslos Logischen Dr. Janzen Sielaff Thiele Jaunich Frau Simm Lowack Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2113

Vizepräsidentin Renate Schmidt Der Einzelplan 04 ist damit in der Ausschußfassung DM gestellt worden. Damit können Investitionen in ( 1 angenommen. Höhe von 20 Milliarden DM und etwa 300 000 neue Das Wort hat nun der Kollege Rossmanith. Arbeitsplätze gefördert werden. Ich glaube, ebenso erfolgreich läuft auch die regio- nale Wirtschaftsförderung in den neuen Bundeslän- (CDU/CSU): Frau Präsident! Kurt J. Rossmanith dern an. Bis Ende April dieses Jahres sind schon rund Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bür- 5 000 Anträge auf Förderung von Vorhaben der ge- germeister Wedemeier, gestatten Sie mir, daß ich zu- werblichen Wirtschaft mit einem Investitionsvolumen nächst zum heutigen Thema — wir beraten jetzt den von fast 34 Milliarden DM gestellt worden. Bis zum Einzelplan des Bundesministers für Wirtschaft — et- gleichen Zeitpunkt wurden Investitionszuschüsse für was sage. Ich habe aber auch das Thema Subventions- über 1 000 Infrastrukturmaßnahmen mit einem Inve- abbau im Visier. Sie dürfen mir glauben, daß ich auch stitionsvolumen von etwa 10 Milliarden DM bean- zu den Werften und der Werfthilfe etwas sagen werde, tragt. Auch hierdurch werden bis zu einer halben Mil- alldieweil ich glaube, daß ich mit Fug und Recht be- lion neue Arbeitsplätze geschaffen. haupten kann, daß wir vom Haushaltsausschuß uns redlich bemüht haben, mit den Kolleginnen und Kol- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind legen aus den norddeutschen Ländern eine vernünf- sicher sehr erfreuliche Anzeichen, die allerdings nicht tige Regelung zu finden, die auch tatsächlich sowohl darüber hinwegtäuschen dürfen, daß sich der Be- diesem für mich und für uns alle sehr wichtigen Wirt- schäftigungsrückgang in den fünf neuen Bundeslän- schafts- und Industriezweig, aber auch der Notwen- dern in diesem Jahr zunächst noch weiter fortsetzen digkeit einer sparsamen Haushaltsführung gerecht wird. Wer die neuesten Arbeitsmarktzahlen heute ge- wird. hört hat, kommt zu der erfreulichen Erkenntnis, daß Gemeinhin wird der Haushalt das Schicksalsbuch sich die Arbeitslosenzahl in den fünf neuen Bundes- der Nation genannt. Ich glaube, gerade für diesen ländern — Gott sei Dank, muß ich sagen — gegenüber Haushalt 1991 gilt das in ganz besonderem Maße, ein- dem Vormonat kaum erhöht hat. Wir haben jetzt fach deshalb, weil dieses der erste gesamtdeutsche 1,6 Millionen Arbeitslose in den alten Bundesländern, Haushalt ist und der eben unter der Prämisse des Eini- im westlichen Bereich unseres Vaterlandes, und gungsprozesses steht. Wir sind alle dankbar, daß wir 842 000 Arbeitslose in den neuen Bundesländern. Das dieses nationale Ziel der deutschen Einheit erlangt ist ein Anstieg um über 5 000 gegenüber dem Vormo- haben. Wir stehen jetzt vor der Problematik, auch die nat. Allerdings bin ich mir natürlich dessen bewußt, wirtschaftliche und soziale Integration der bisheri- daß das Auslaufen der „Warteschleifenregelung" im gen beiden deutschen Teilstaaten bewältigen zu müs- öffentlichen Dienst und von Kündigungsschutzab- sen. Wir wollen so rasch als möglich — da muß ich um kommen in der Wirtschaft sowie die unvermeidbare Geduld auf der einen wie auf der anderen Seite bit- Schließung nicht mehr wettbewerbsfähiger Bet riebe ten — auch gemeinsame Lebensbedingungen in ganz zu einer weiteren Freisetzung von Arbeitskräften in Deutschland schaffen. den neuen Bundesländern führen werden. Es war ja zu erwarten, daß die Wirtschaft in den neuen Bundesländern nach der Vereinigung eine sehr Ich muß in dem Zusammenhang — Bürgermeister Wedemeier hat das hier ausdrücklich bestätigt — na- schmerzhafte Phase der Anpassung durchlaufen muß und der Übergang zur Marktwirtschaft und, damit türlich auch die große Rolle der Lohnpolitik mit er- verbunden, die Öffnung der Märkte nach 40 Jahren wähnen. Auch für die neuen Bundesländer gilt die sozialistischer Planwirtschaft und Mißwirtschaft mit volkswirtschaftliche Grundregel, daß die Erhöhung großen Schwierigkeiten behaftet sein würde. Zu die- der Löhne mit der Steigerung der Produktivität Schritt ser Problematik der Überleitung zur Sozialen Markt- halten sollte. Eine kurzfristige Angleichung der Löhne wirtschaft kam der desolate Zustand der gesamten an das westdeutsche Niveau würde fast alle bestehen- Infrastruktur — sei es Schiene, sei es Straße, sei es das den Unternehmen in den neuen Bundesländern über- Kommunikationsnetz — hinzu. Mit diesen Erblasten fordern und das Entstehen kleiner und mittlerer des Sozialismus müssen wir eben fertigwerden. Unternehmen — wir haben ja in den alten Bun- Hier liegt natürlich gerade für den Wirtschaftsmini- desländern gesehen, daß Beschäftigungsimpulse ge- ster ein ganz wesentlicher Schwerpunkt seiner Tätig- rade von den mittleren Unternehmen, vom Mittel- keit. stand ausgehen — in den neuen Bundesländern be- hindern. Ich glaube, daß die Maßnahmen, die wir insbeson- dere auch mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ich möchte auch einen Appell an die Gewerkschaf- Ost und den steuerlichen Erleichterungen — Sonder- ten richten. Die Gewerkschaften stehen hier ganz abschreibungen und Investitionszulagen — geschaf- massiv in der Verantwortung. Ich darf den früheren fen haben, auch ganz wichtige Voraussetzungen wa- Bundeskanzler Helmut Schmidt zitieren, der in einem ren und sind, daß sich so langsam ein erster Silber- Aufsatz in der „Zeit" folgende Mahnung an die streif am Horizont sehen läßt. Die Investitionsneigung Adresse der Gewerkschaften gerichtet hat: nimmt zu, wobei vor allem Impulse von reprivatisier- ten Unternehmen und von westlichen Investoren aus- Wer der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern gehen. Die lebhafte Inanspruchnahme öffentlicher entgegentreten will, wer dort mit Recht gegen Förderprogramme in den neuen Bundesländern ist Arbeitslosigkeit protestiert, wer gar ein Grund- für mich ein ganz wesentliches und deutliches Indiz. recht auf Arbeit in die Verfassung hineinschrei- So sind bisher schon 95 000 Anträge auf ERP-Kredite ben möchte, der muß solidarisch seine westdeut- mit einem Volumen von insgesamt rund 10 Milliarden sche Lohnpolitik zügeln. 2114 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Kurt J. Rossmanith Ich glaube, dem brauchen wir nichts mehr hinzuzufü- schen Bauunternehmer bei den weiteren Bauab- gen. schnitten einsetzen wird. Der Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft ist Wir müssen angesichts dieser großen finanziellen von den Folgekosten der deutschen Einheit gekenn- Belastungen durch die deutsche Einheit natürlich zeichnet. Sein Volumen hat sich mehr als verdoppelt weiterhin eine strenge Ausgabendisziplin und beläuft sich für das laufende Haushaltsjahr 1991 verfolgen. Deswegen konnten wir nicht allen Wünschen und al- auf rund 14,5 Milliarden DM. Der Mehrbedarf ist, wie len Anregungen in diesem Haushalt Rechnung tra- gesagt, fast ausschließlich einigungsbedingt. gen. Wir sind uns mit dem Sachverständigenrat und Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß hat es den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten darin ei- weitgehend Einvernehmen über die Ansätze dieses nig, daß ein Defizit in der derzeitigen Höhe nicht auf Einzelplans gegeben. Ich möchte deshalb vor allem Dauer ohne Schaden für die gesamte Wirtschaft meinen Berichterstatter-Kollegen von dieser Stelle durchgehalten werden kann. Nur muß ich hier wieder aus noch einmal meinen Dank für die faire und sach- an die Kolleginnen und Kollegen der großen Opposi- liche Zusammenarbeit aussprechen. tionspartei appellieren, der nichts anderes und nichts Danken möchte ich aber auch den mit dem Haus- Besseres einfällt, als nach weiteren Steuererhöhun- halt beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gen zu rufen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt — das ist im Wirtschaftsministe rium und im Finanzministerium, sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen —, die nicht nur eine umfangreiche und sehr gute Vorar- (Ernst Waltemathe [SPD]: Wer ist denn jetzt beit geleistet haben, sondern uns auch jede ihnen mögliche Unterstützung haben zukommen lassen. „wir"?) Lassen Sie mich deshalb nur ganz kurz und in Stich- durch Subventionskürzungen auch zu einer Konsoli- punkten auf die Schwerpunkte der einigungsbeding- dierung des Haushaltes, Herr Kollege Waltemathe, ten Ausgaben im Einzelplan des Bundesministers für beizutragen. Ich bin mir bewußt — wir machen diese Wirtschaft eingehen, die sich auf mehr als 7 Milliar- Arbeit im Haushaltsausschuß ja schon lange ge- den DM belaufen. nug — , daß Finanzhilfen und Steuernachlässe gestal- tende Politik sind, bei deren Reduzierung aber natür- Dabei handelt es sich u. a. um Maßnahmen zur För- lich nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip vorgegan- derung des wirtschaftlichen Wiederaufbauprozesses. gen werden darf. Deshalb halte ich, was Subventions- Hierzu gehören die Investitionsförderung im Rahmen abbau anlagt, überhaupt nichts von der Rasenmäher- der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio- methode, nach der alle Subventionen ohne Rücksicht nalen Wirtschaftsstruktur" mit 2 Milliarden DM sowie auf Zweck und Bedeutung einfach um einen bestimm- die Förderung der mittelständischen Wirtschaft mit ten Prozentsatz gekürzt werden. knapp 700 Millionen DM. Die Erfahrungen in den alten Bundesländern haben ja gezeigt, daß gerade die (Beifall der Abg. Lieselott Blunck [SPD]) mittelständischen Betriebe entscheidend zum Struk- turwandel und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei- — Ich freue mich ja, Frau Kollegin, wenn wir hier einig tragen können. Deshalb ist diese Schwerpunktverla- sind. Ich bin überzeugt, daß wir dann auch ein ent- gerung in diesem Haushalt für diesen Bereich für mich sprechendes Ergebnis erzielen werden. eine ganz wichtige und logische Konsequenz. Ich glaube — und ich bin überzeugt, daß wir uns darin Ich bin der Meinung, daß die Finanzhilfen und hier alle einig sind — , daß die Förderung der Grün- Steuervergünstigungen im einzelnen auf Notwendig- dung selbständiger Existenzen in den neuen Bundes- keit und Höhe überprüft werden müssen. Nur so las- ländern von uns allen nachhaltig begrüßt wird. sen sich sinnvolle und vertretbare Ergebnisse errei- Große Bedeutung kommt sicherlich auch der Bera- chen. Staatliche Hilfen, meine sehr verehrten Damen tung und Qualifizierung der Arbeitnehmer zu. Auch und Herren und werter Herr Minister Möllemann, diese Mittel haben wir im Haushaltsausschuß noch sind natürlich auch keine Entscheidung parteipoliti- entsprechend aufgestockt, ohne aber das Volumen scher Opportunität. Ich gehe durchaus mit Ihnen ei- des Einzelplans insgesamt zu erhöhen. Wir haben es nig, daß die staatlichen Hilfen dort deutlich reduziert durch Umschichtungen geschafft. Das sind für mich oder ganz gestrichen werden müssen, wo ein Abbau Maßnahmen, die zwingend erforderlich sind. kranker und längst überholter Strukturen erreicht werden kann, d. h. für mich Reduzierung und Abbau Neben den Mitteln für diese Förderungsmaßnah- von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die men sind natürlich auch noch sonstige Folgekosten wirtschaftlich überflüssig sind, die veraltete Struktu- der deutschen Einheit veranschlagt. Sie machen allein ren festigen und keinerlei Zukunftsperspektiven dar- in diesem Jahr rund 4 Milliarden DM aus. Neben der stellen. Aufarbeitung von Hinterlassenschaften der ehemali- gen DDR — ich nenne hier nur die Rekultivierung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Uranbergbaugebiete in Thüringen und Sachsen — der FDP) umfassen diese Kosten auch die erste Rate für das Wohnungsbauprogramm für die in ihre Heimat zu- Wir müssen aber dort Akzente setzen, wo es sich um rückkehrenden sowjetischen Truppen. Die Durch- die Sicherung von Zukunftstechnologien und damit führung dieses Programms hat in der letzten Zeit et- um zukunftssichere Arbeitsplätze handelt. Finanzhil- was zu Irritation geführt. Ich hoffe, sehr geehrter Herr fen und steuerliche Erleichterungen sollten deshalb Bundesminister Möllemann, daß sich die Bundesre- als Anschubfinanzierung wirken, zu Investitionen an- gierung für eine angemessene Beteiligung der deut- regen, die für die Wirtschaft erforderlichen Zukunfts- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2115

Kurt J. Rossmanith strukturen schaffen, und sie sollten natürlich nicht auf wort zu geben: für mich ein ganz klares Nein. Es han- Dauer angelegt sein. delt sich hierbei nämlich nicht um eine Erhaltungs- subvention zu Lasten von Wachstum und Beschäfti- (Lieselott Blunck [SPD]: Das muß man Herrn gung, nicht um eine Beeinträchtigung der Leistungs- Kiechle ins Stammbuch schreiben!) und Wettbewerbsfähigkeit. — Auch das ist ein Thema, über das wir uns noch Deshalb beteiligt sich der Staat ganz bewußt am werden unterhalten müssen: Was ist Subvention und Risiko neuer Entwicklungen, und zwar nicht nur in was nicht? Verehrte Frau Kollegin Blunck, ich werde Form verlorener Zuschüsse, sondern auch in Form gleich den Versuch machen, darauf eine Antwort zu bedingt rückzahlbarer Darlehen, insbesondere was geben. Ich wäre dankbar, wenn wir diese Antwort die Luftfahrt anlangt, die im Erfolgsfall sogar eine gemeinsam finden würden. unbefristete Rückzahlung erfordern. Es wird soviel über Subventionen gesprochen. Je- Aus diesem Grunde müssen wir — davon bin ich der meint, hier mitreden zu können und mitreden zu überzeugt, meine sehr verehrten Damen und Her- müssen, ohne im Endeffekt überhaupt zu wissen, um ren — eine Ergänzung zur Förderung des Großflug- was es sich bei einer Subvention handelt. zeugbaus vornehmen, um auch der mittelständischen Luftfahrtindustrie bei uns in Deutschland den Zugang Herr Bürgermeister Wedemeier hat aus seiner Sicht zum internationalen Markt zu erschließen. mit Recht — ich darf Ihnen sagen: hier haben Sie die Unterstützung des gesamten Deutschen Bundestages (Zustimmung des Abg. Dr. Hermann Schwö von Nord bis Süd — einen Punkt herausgegriffen, rer [CDU/CSU]) nämlich den Werftenbereich. Ich weiß, daß es dabei Deutsche mittelständische Hersteller von Fluggeräten um etwa 35 000 bis 37 000 Arbeitsplätze geht. Ich verfügen über innovative Ressourcen für technisch habe — heute allerdings zum erstenmal, wie ich sa- moderne und ökologisch verträgliche Flugzeuge, so- gen muß — dankbar vernommen, daß dabei auch süd- wohl was die Werkstoffe und die Aerodynamik als auch den Antrieb betrifft. Diese Chance, meine sehr deutsche, insbesondere bayerische Unternehmen- be- teiligt sind, was den Ausbau anlangt. verehrten Damen und Herren, darf nicht vertan wer- den; zukunftstechnologisch hochstehende Arbeits- Aber nicht dies war für uns der Anlaß, uns massiv plätze dürfen unserer Jugend nicht vorenthalten wer- für eine Fortführung der Wettbewerbshilfe für die den. Ich weiß aus zahlreichen Diskussionen mit Fach- Werften einzusetzen, und zwar von seiten der CDU/ leuten aus der Wirtschaft, daß diese Ansätze der staat- CSU, der FDP und der SPD. Ich danke meinen nord- lichen Förderung nicht nur notwendig, sondern auch deutschen Kolleginnen und Kollegen, die dabei die richtig sind und quasi als Eintrittsgeld für die Techno- entsprechende Unterstützung und Hilfestellung ge- logie der Zukunft dienen. Das vorhandene Fluggerät geben haben. Ich danke auch den Werften, die mir die — wir alle wissen das und spüren es mitunter selbst Möglichkeit gegeben haben, mich vor Ort von der sehr schmerzhaft — ist zum überwiegenden Teil tech- Notwendigkeit dieser Hilfe zu überzeugen. nisch überaltert und ökologisch nicht mehr zeitgemäß. Sie alle wissen, daß der Haushaltsausschuß und da- Hoher Ersatzbedarf erwartet deshalb innovative und mit auch meine Person in dieser Frage mit Herrn Möl- wirtschaftliche Fluggeräte. Hier müssen wir unseren lemann gewisse Schwierigkeiten haben oder hatten. Beitrag leisten. Wir sollten bereits jetzt, Herr Bundes- Aber einen Vorwurf, Herr Bürgermeister Wedemeier, minister Möllemann, Vorsorge für den Haushalt 1992 darf ich auf ihm nicht sitzenlassen: daß er nicht das treffen. Ich und alle in diesem Parlament sind diesbe- Gespräch gesucht habe. Ich weiß, daß er mehrere züglich gern zur Mitarbeit bereit, damit wir bei dieser Gespräche geführt hat und daß er weitere Gespräche Zukunftstechnologie nicht vom internationalen Wett- mit der Schiffbauindustrie führen wird. Das möchte bewerb abgekoppelt werden und sie nicht nur den ich hier auch einmal erwähnen. Vereinigten Staaten, den Japanern oder den Franzo- sen, die jetzt verstärkt auf diesen Markt drängen, Ich möchte noch zwei weitere Bereiche, was den überlassen, sondern daß wir diese Zukunftstechnolo- Subventionsabbau anlangt, exemplarisch erwähnen, gie selbst gestalten. Wir sollten dafür Sorge tragen, und zwar zum einen das Eigenkapitalhilfeprogramm. daß unsere jungen Menschen, die heute in dieser Hier ist beabsichtigt, für die bisherigen Bundesländer Technologie arbeiten, die heute das Studium aufneh- das Eigenkapitalhilfeprogramm mit Ablauf dieses men und die heute ihren Ausbildungsplatz in diesem Jahres auslaufen zu lassen. Ich glaube, meine verehr- Bereich suchen, diese zukunftstechnischen Berufe ten Kolleginnen und Kollegen, verehrter Herr Bun- auch hier in Deutschland vorfinden und nicht ins Aus- desminister, auch darüber müssen wir uns noch ein- land abwandern müssen. mal nachdrücklich unterhalten. Ich sehe in diesem Ich bedanke mich. Eigenkapitalhilfeprogramm eine wesentliche Stütze unseres wirtschaftlichen Erfolgs und des Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schwungs. Ich möchte ganz kurz exemplarisch auch die allge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der meine Luftfahrt ansprechen. Ich möchte an uns alle Kollege Wolfgang Weng. — das habe ich schon angedeutet, verehrte Frau Kol- legin Blunck — , die Frage richten, ob denn bei dieser Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsi- Zukunftstechnologie — seien es die Werften oder die dentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich ist allgemeine Luftfahrt — eine staatliche Förderung der der Öffentlichkeit bisher gar nicht bewußt gewesen, Entwicklungskosten eine Subvention im üblichen daß im Einzelplan des Wirtschaftsministers eine große Sinne darstellt. Ich weigere mich nicht, Ihnen die Ant- Menge von Subventionen etatisiert sind. Ohne jetzt 2116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) auf allzu viele Einzelheiten einzugehen, möchte ich ordnet stillzulegen, zu sanieren und die Betriebsflä- doch einige Schwerpunkte verdeutlichen, weil dies chen zu rekultivieren. Hierbei sind ganz wesentlich auch im Vorfeld der Diskussion über den erforderli- die seither total vernachlässigten Umweltnotwendig- chen Subventionsabbau ab 1992 ein wenig zur Auf- keiten, Aspekte des Strahlenschutzes und auch der hellung beiträgt. Bergsicherheit zu berücksichtigen. Wenn sich, Herr Bürgermeister Wedemeier, jeder Für uns hier im Westen ist fast unvorstellbar — ich Vertreter von Einzel- oder Regionalinteressen schüt- sage dies auch mit Blick auf die Biedermannmiene, zend vor seinen speziellen Subventionsbereich stellt, mit der Herr Modrow und andere Vertreter der SED/ dann können wir den Subventionsabbau insgesamt PDS hier in der Haushaltsdebatte aufgetreten sind — gleich vergessen. (Ernst Waltemathe [SPD]: Das stimmt doch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht! Sie haben nicht zugehört!) der CDU/CSU) Ich sage auch: Die Forderung nach Gesamtkonzeptio- nen ist häufig die wohlfeile Ausrede bei fehlender mit welcher Menschenverachtung die Arbeitnehmer eigener Handlungsbereitschaft. in diesem Betrieb ohne jede Rücksicht auf ihre Ge- sundheit in übelster Weise ausgenutzt und benutzt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) worden sind. Die Situation unserer Wirtschaft und des Arbeits- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) marktes in den alten Bundesländern ist ein Beweis für eine langjährige erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Wir haben schnelle Abhilfe geschaffen und müssen FDP in der Koalition, jetzt mit der CDU/CSU. Herr jetzt in der Erledigung voranschreiten. Bürgermeister Wedemeier, Ihre K ritik an dieser Wirt- Über 1 Milliarde DM ist etatisiert, um das Woh- schaftspolitik geht insoweit völlig ins Leere. nungsbauprogramm in der UdSSR anzufinanzieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es hat ja eine breite öffentliche Diskussion darüber - gegen, ob all die Wohnungen, die für die heimkehren- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, der den Soldaten der Sowjetarmee zur Verfügung stehen Kollege Grünbeck möchte Ihnen eine Zwischenfrage sollen, ausschließlich von deutschen Firmen gebaut stellen. werden müssen. Ich bin der Meinung, daß sich die deutsche Bauindustrie dem internationalen Lei- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Wird es mir stungs-, aber auch Kostenwettbewerb stellen muß. nicht angerechnet? Die Bedürfnisse auf dem innerdeutschen Baumarkt garantieren auf lange Zeit eine weitestgehende Aus- lastung der Bauindustrie. Ein Blick auf die unter der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es wird Ihnen nicht angerechnet. SED—Herrschaft erheblich verrottete Bausubstanz in den neuen Bundesländern macht dies besonders deutlich. Da darf es keine Schutzzäune im Wettbe- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Alles klar! werb geben. Bitte sehr! Meine Damen und Herren, ich erinnere an die Be- Josef Grünbeck (FDP): Herr Kollege Weng, sind Sie merkung, die der Herr Bundeskanzler hier heute mor- mit mir der Auffassung, daß die Kritik des Herrn Bür- gen gemacht hat. Er hat gesagt, daß eine Volkswirt- germeisters Wedemeier an der konzeptionslosen schaft die frische Luft des Wettbewerbs dringend be- Wirtschaftspolitik der letzten Jahre insoweit völlig nötigt. verfehlt ist, als wir inzwischen die höchste Beschäfti- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gungsrate in den alten Bundesländern erreicht haben, Nur die spezielle Situation der Bauwirtschaft in den was die beste Voraussetzung für eine wirklich aufrich- neuen Bundesländern hat den erfolgreichen Moskau tige und soziale Marktwirtschaft darstellt? Einsatz des Herrn Bundeswirtschaftsministers für die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Beteiligung deutscher Baufirmen am ersten Los der Neubauten legitimiert. Die weitere Ausschreibung Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP) : Ja. wird marktwirtschaftliche Aspekte berücksichtigen (Heiterkeit — Dr. Ulrich B riefs [PDS/Linke müssen. Liste]: 1,6 Millionen Arbeitslose!) Zusätzlich finanzieren wir eine Reihe von Verpflich- Stichworte wie „Maßnahmen zugunsten des deut- tungen, die sich unter dem Aspekt Vertrauensschutz schen Steinkohlenbergbaus", „Förderung der Luft- zugunsten der UdSSR aus den Verträgen mit der ehe- fahrttechnik" und „Hilfen für die Werftindustrie" be- maligen DDR ergeben und die zum Teil auch Vorlei- ziehen sich auf nur einige Bereiche; die politisch ge- stungen für Gegenleistungen sind, die wir in Zukunft wünschte vielfältige Unterstützung des Mittelstandes erwarten können. Ich nenne die Lieferung von Roh- kommt noch hinzu. Daß unter dem Aspekt der deut- stoffen, z. B. von Eisenerz und Erdgas. schen Wiedervereinigung das Wirtschaftsministerium Lassen Sie mich noch einmal zum Subventions- jetzt zusätzlich wichtige Abwicklungsaufgaben über- thema zurückkommen. Meine Damen und Herren, nehmen mußte, wird durch eine Reihe neuer Etatan- der Bundeswirtschaftsminister hat im Haushaltsaus- sätze deutlich, von denen ich einige kurz darstellen schuß ja einen ersten Eindruck davon erhalten, die will. Lösung einer wie schwierigen Aufgabe er sich zusam- Mehr als eine Milliarde DM wenden wir auf, um die men mit Finanzminister Waigel und Innenminister sowjetisch -deutsche Aktiengesellschaft Wismut ge- Schäuble beim Subventionsabbau vorgenommen hat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2117

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Sein Versuch, bei der Werfthilfe zumindest weitge- Auch in der alten Bundesrepublik bleibt die Förde- hende Optionen offenzuhalten, mußte mit Blick auf rung des Mittelstandes eine wichtige Aufgabe; denn die Beschlußlage des vergangenen Jahres unter dem gerade die ausgewogene Struktur kleiner, mittlerer Druck der Interessenten teilweise zurückgenommen und großer Firmen macht seither unsere Leistungs- werden. stärke aus. Dabei soll es für Gesamtdeutschland auch Ich will dieses Beispiel zum Anlaß für einen Appell bleiben. an die Kollegen insbesondere in der Koalition neh- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten men. Unsere finanzpolitische Handlungsfähigkeit der CDU/CSU) können wir nur dokumentieren, wenn wir gemeinsam Meine Damen und Herren, das Wirtschaftsministe- unter Zurückstellung von Einzelinteressen den ord- rium ist ganz wesentlich auch das Energieministe- nungspolitisch notwendigen, in Koalitionsbeschlüs- rium. Es ist nötig, daß Wirtschaftsminister Möllemann sen festgelegten Subventionsabbau ermöglichen. dem Bereich Energiepolitik eine höhere Aufmerk- samkeit schenkt, als dies in der Vergangenheit der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Fall war. Energiepolitik muß heißen: neue Energiepo- Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen litik. Es ist richtig, daß es nicht zu einer einseitigen Waltemathe? Neuorientierung auf den Ausbau der Kernenergie im Zusammenhang mit der deutschen Einheit kommt. Das Parteiprogramm der FDP zeigt zu Energiefra- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Ja, bitte, gerne, Frau Präsidentin. gen seit langem den richtigen Weg auf: Eine struktu- rell ausgewogene Versorgung einerseits, aber vor al- lem die Forderung nach sparsamer Verwendung und Ernst Waltemathe (SPD): Herr Kollege Weng, trifft nach bestmöglicher Nutzung alternativer Energien es zu, daß am 10. Oktober 1990 der Kompromiß über andererseits sind gefordert. Gerade die Verschleude- die Wettbewerbshilfe für Seeschiffswerften auch mit - rung von Energie, die seither in rücksichtsloser Weise Zustimmung der FDP zustande gekommen ist? die Umwelt und damit den Lebensraum der Men- schen in den neuen Bundesländern zerstört hat — da Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Es trifft zu, rate ich wirklich allen, sich einmal die Umgebung von Herr Kollege Waltemathe. Aber erstens wissen Sie, es energieerzeugenden Anlagen in den neuen Bundes- gibt seitdem eine neue Situa tion. ländern anzusehen —, ist ein deutliches Signal für Umkehr auf den richtigen Weg. (Ernst Waltemathe [SPD]: Dazwischen lag eine Wahl!) Energiepolitisch ist viel zu tun, Herr Bundeswirt- schaftsminister: Über Gebiets- und Leitungsmonopole Zweitens kann man die Frage stellen, ob hier eine kann man neu nachdenken, ausgewogene Struktu- totale Bindung auf lange Jahre das Sinnvolle war oder ren, auch dezentrale kleinere Einheiten ansteuern, ob nicht erst die konzeptionelle Überlegung da sein eine vernünftigere, verbrauchshemmende Tarifpolitik muß, ehe man dann einen Teil dieser Bindung freigibt. angehen. All dies sind wich tige Aufgaben, die sofort Der Weg, der jetzt beschritten ist, gibt — so unterstelle in Angriff genommen werden müssen. Daß sich mit ich einmal — den erforderlichen Spielraum. Wir wer- Hinweis auf die viel zu hohen Kosten der deutschen den sicherlich im Zusammenhang mit dem Subven- Steinkohle der Kreis in Richtung Subventionsabbau tionsabbaukonzept, das hier übrigens Bürgermeister wieder schließt, diesen Hinweis will ich zusätzlich Wedemeier lustigerweise kritisiert hat, obwohl es geben. noch gar nicht vorliegt — es ist ja noch gar nicht erstellt — darüber zu reden haben. Meine Damen und Herren, die Erfüllung der vielfäl- tigen und schweren Aufgaben des Wirtschaftsministe- (Widerspruch des Abg. Dr. Ul rich Briefs riums wird durch die Koalitionsentscheidung zum [PDS/Linke Liste]) Etat 09 im Haushaltsausschuß ermöglicht. Die FDP- — Nein, nein, bis jetzt ist es noch nicht da. Fraktion stimmt dem Einzelplan des Bundeswirt- Die SPD hat sich — ich wende mich wieder an die schaftsministers zu und wünscht Jürgen Möllemann Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionsseite — bei der mit großem Elan in Ang riff genommenen Er- aus ihrer Mitverantwortung in diesem Bereich ja be- füllung seiner Aufgaben Erfolg. reits gestern verabschiedet. Ich erinnere an die Rede- Vielen Dank. beiträge insbesondere von Frau Matthäus-Maier. Von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der SPD wird in diesem Bereich keinerlei Unterstüt- zung zu erwarten sein; wir müssen das wissen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der (Josef Grünbeck [FDP]: Leider richtig!) Abgeordnete Bernd Henn. Ich will eine Bemerkung anfügen. Ausgewogenheit ist bei einem solchen Abbau eine Notwendigkeit. Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Ganz sicher darf nicht nach dem Motto „Hier ist der Meine Damen und Herren! 40 Jahre autoritärer, bü- Widerstand am geringsten" ein einseitiger Eingriff in rokratischer Sozialismus haben in der ehemaligen die Mittelstandsförderung erfolgen. Ich sage dies DDR keine so effiziente und hochproduktive Wi rt ganz wesentlich mit Blick darauf, daß der Aufbau ei- -schaft wie in der alten BRD entstehen lassen. Das ist ner mittelständischen Struktur in den neuen Bundes- unbestreitbar. Über die Ursachen und über die Me- ländern erst am Anfang steht und daß er ordnungs chanismen, die dazu geführt haben, über äußere und wie staatspolitisch dringend erforderlich ist. innere Faktoren, über Systembedingtheit und subjek- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tive Fehler und über die historischen Möglichkeiten 2118 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bernd Henn eines demokratischen Sozialismus, über alle diese sche Einheit geht. Diese Kosten können von denen Dinge werden wir streiten können, hier und sicher aufgebracht werden, die über Vermögen verfügen, auch andernorts. die an der Einheit verdient haben und immer noch an ihr verdienen. In diese Diskussion gehört aber dann auch das Thema der humanen und sozialen Kosten unserer (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die PDS! Das kapitalistischen Ellenbogengesellschaft. Dazu gehört gestohlene Geld soll sie mal zurückgeben! dann auch die Frage, warum in unserer ach so effi- Dem Volk gestohlenes Geld!) zienten Wirtschaft die Gesellschaft Millionen Sozial- — Herr Hinsken, inzwischen sollten Sie es beg riffen hilfeempfänger zu versorgen hat. 31,6 Milliarden DM haben: Kümmern Sie sich um Schalck-Golodkowski; waren es 1990. Dazu gehört weiter die Frage, warum da ist noch einiges zu holen. Lassen Sie den nicht in dieser ach so effizienten Wirtschaft weitere Millio- immer ungeschoren. nen Menschen in nicht geschützten Arbeitsverhältnis- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das war sen leben — Stichworte: Zeitverträge, Leiharbeit, doch Ihr Erfüllungsgehilfe!) Teilzeitarbeit unter der Sozialversicherungsgrenze usw. — und warum immer noch fast zwei Millionen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Menschen in Westdeutschland arbeitslos sind. Die Treuhand-Verkäufe sollen 400 000 Arbeitsplätze in alte BRD war und ist ebensowenig ein Arbeiterpara- der ehemaligen DDR gesichert haben; so Herr dies, wie es die DDR war. Dr. Waigel hier gestern in der Debatte und der Bun- deskanzler in der Wirtschaftskonferenz. An der sozia- Dies alles wird Thema sein, weil es auf die Dauer len Katastrophe ändert das nichts. Die Treuhand-Un- unerträglich ist, daß die berechtigten Ansprüche der ternehmen werden bis zum Jahresende ihre Beleg- westdeutschen Arbeiter und Angestellten wegen der schaftszahl laut Treuhand-Be richt von 2,8 Millionen Vereinigung unter die Räder kommen. auf 1,4 Millionen halbieren; fast 500 000 Kündigun- Man kann viel darüber reden, daß die Maschinen gen werden den Arbeitern und Angestellten noch bis und Anlagen in der ehemaligen DDR auf- Verschleiß Ende Juni zugehen. Da nützen auch die gebetsmüh- gefahren und vor allem die menschlichen Ressourcen lenartigen Verweise auf 40 Jahre Sozialismus nichts fehlgeleitet wurden. Das haben die Arbeiter und An- mehr. gestellten und viele Betriebsleiter drüben sehr wohl Der Weg zum schrittweisen Umbau der DDR-Wirt- beklagt, ohne daß sie daran etwas ändern konnten. schaft auf Weltmarkterfordernisse stand 1990 offen. Er ist bewußt nicht gegangen worden, und zwar nicht, Aber man muß auch wieder darüber reden, daß in weil angeblich das Tor zur Einheit nur kurze Zeit offen unserer kapitalistischen Ellenbogengesellschaft viele stand. Wenn man die Position von Gorbatschow im Menschen im Arbeitsprozeß physisch und psychisch Hinblick auf den Weltwirtschaftsgipfel beurteilt, kann auf Verschleiß gefahren werden und daß in den Fabri- man nun wirklich nicht zu diesem Urteil kommen. Das ken und Verwaltungen täglich mehr Menschen, die ist also Legendenbildung. gesundheitlich angeschlagen sind, arbeiten, als gleichzeitig Menschen wegen einer ärztlich attestier- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: ten Krankheit nicht arbeiten. Deshalb werden wir die- Diese Ihre Bemerkung ist nicht nur eine Un sen törichten Schwätzern, welche die Lohnfortzah- verschämtheit, sondern sie ist auch eine lung im Krankheitsfall angreifen, auch jeglichen ent- Frechheit! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: schiedenen Widerstand entgegensetzen. Die Effizienz Und obendrein dumm!) unserer westdeutschen Wirtschaft hatte und hat eben — Das mag Ihr Urteil sein. Ich denke, daß die Chancen auch ihren menschlichen Preis. für die deutsche Einheit, einen anderen Weg zu ge- Die Arbeiter und Angestellten haben den westdeut- hen, im Jahre 1990 gegeben waren. schen Unternehmen im Jahre 1990 ein neugebildetes Die wahren Gründe dürften an anderer Stelle lie- Geldvermögen von 187 Milliarden DM erarbeitet. Die gen. Der Kollege Roth hat ja hier heute schon ange- liquiden Mittel wuchsen damit auf mehr als 1,5 Billio- deutet, wer an der Einheit verdient. Ich denke, daß nen DM an. 680 Milliarden DM sind bei in- und aus- insbesondere auch die Handelskonzerne diesen Weg ländischen Firmen auf Terminkonten angelegt, die und diesen Prozeß der Einheit wollten, denn sie ver- mehr als 30 Milliarden DM an Zinsen im Jahr bringen; dienen heute insbesondere an dem Anschluß der so der Bericht der Deutschen Bundesbank im Mai DDR. Sie wissen auch, daß die Handelskonzerne zwi- 1991. schen Rostock und Suhl den ostdeutschen Bürgern höhere Preise abnehmen als den Bürgern im Westen, Wenn der Herr Bundesminister Dr. Waigel hier ge- daß sie also klotzig daran verdienen. Das ist der ei- stern darauf verwiesen hat, daß durch die Treuhand gentliche Skandal. Verkäufe 60 Milliarden DM Investitionen in der ehe- maligen DDR mobilisiert werden konnten, die sich (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste) allerdings auf einige Jahre verteilen dürften, dann muß man hinzufügen, daß in Westdeutschland allein 1990 ein Wert von über 300 Milliarden DM erreicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege wurde und daß die Unternehmen sozusagen aus dem Henn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stand in der Lage wären, den doppelten Betrag, also Hinsken? über 600 Milliarden DM, anzulegen. Weil das so ist, werden wir von der Partei des Demokratischen Sozia- lismus nicht das Hohelied vom Teilen anstimmen, Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich denke, das wird wenn es um die Finanzierung der Kosten für die deut- nicht auf meine Redezeit angerechnet. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2119

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ja. gemacht haben, das sollten Sie einmal an sprechen!) — Es geht darum, was Sie mit der Politik jetzt dort Ernst Hinsken (CDU/CSU) : Ich möchte nur fragen, ob Sie in der Lage sind, ein Beispiel für das anzufüh- anrichten! — Es gäbe durchaus Möglichkeiten, die ren, was Sie soeben gesagt haben, nämlich daß die Chemie in Sachsen-Anhalt und in Sachsen zu erhal- Produkte in der ehemaligen DDR seitens der Handels- ten und zu stärken. Sogar Ihr eigener Bundesver- ketten teurer abgesetzt werden als bei uns. kehrsminister hat Vorschläge gemacht, denen wir zu- stimmen könnten. Er hat vorgeschlagen, diese Che- mieunternehmen vorübergehend zu einem Verbund Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich beziehe mich unter staatlicher Verantwortung zusammenzuführen, — Herr Hinsken, Sie haben das gestern sicher auch um diese Unternehmen dort mit entsprechender Un- nachlesen können — auf eine von der Stiftung Waren- terstützung in produktionstechnischer Hinsicht wie- test durchgeführte Untersuchung. der wettbewerbsfähig zu machen, wie das nach dem (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Hört! Krieg mit Wolfsburg und Salzgitter geschehen ist. Hört! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es ist ja zumindest interessant, wenn der Kommunist Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege so eine Zeitung liest!) Henn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind der Auffassung, daß ohne eine neue Weichenstel- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Bitte! lung in der Wirtschaftspolitik die sozialen Folgelasten des bisherigen Crashkurses dauerhaft den sprich- Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Kollege, ich wörtlich kleinen Mann im Westen wie im Osten bela- möchte Sie fragen, wann Sie das letzte Mal in der sten werden. Vielen wird es schlechter gehen, weni- Region Buna/Leuna waren. gen besser. - Natürlich werden sich die Arbeitslosenquoten in Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Am Sonntag. Ost und West durch entsprechende Abwanderung nach und nach angleichen. Die Arbeitslosigkeit wird Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Das ist nämlich eines Tages sicher auch zum Stillstand kommen, weil mein Wahlkreis, und ich habe dort von Ihnen noch immer mehr Frauen aus dem Leistungsbezug heraus- nichts gehört. fallen werden und an den sogenannten Kochtopf, in die stille Reserve zurückgedrängt werden. Ich bin ge- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich habe auch nicht spannt, ob Sie dann auch noch von verdeckter Ar- unbedingt den Kontakt zu Ihnen gesucht, das muß ich beitslosigkeit reden werden, denn wir im Westen hat- zugeben. Vielleicht sollten wir uns beim nächsten Mal ten auch millionenfach verdeckte Arbeitslosigkeit, verabreden. Ich bin sehr häufig da; das läßt sich d. h. all die resignierten Arbeitslosen, die sich nicht durchaus regeln. mehr haben registrieren lassen. Ich meine also, daß es entsprechende Möglichkei- Ich meine, eine Perspektive ist nur möglich, wenn in ten gäbe. Dazu bedarf es eines industriepolitischen die strukturbestimmenden Industriezweige der Ex- Konzepts. Für den Chemieverbund müssen natürlich DDR schneller und umfangreicher Investitionen ge- bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Es lenkt werden. Dazu bedarf es einer Industriepolitik, wäre beispielsweise eine Erdöltrasse erforderlich, um von der wirklich noch unklar ist, ob diese Regierung leichtes Erdöl in dem Bereich zu haben. Es gibt schon sie zu betreiben bereit ist. Ich will das angesichts der eine Trasse, die vom Ruhrgebiet bis Kassel projektiert knappen Redezeit am Beispiel der Chemie kurz zu ist. Das müßte fortgeführt werden, damit do rt auf beschreiben versuchen. Äthylenbasis weiterhin kostengünstig produziert wer- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das ist ein un den kann. Das sind natürlich Voraussetzungen, die zu tauglicher Versuch!) schaffen sind. Aber wenn man diese Region nicht wei- Das Chemiedreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld- ter verkommen lassen will, als das vorher schon ge- Leipzig ist zum Wallfahrtsort der Politiker geworden. schehen ist, dann muß man dies tun. Dem Herrn Bundesaußenminister nehme ich noch ab, Im Chemiedreieck Halle-Merseburg-Leipzig-Bit- daß er persönlich ein großes Interesse an dieser Re- terfeld haben sich der Bundeskanzler und der Bun- gion hat. Der Kanzler hat sich dort im Wahlkampf und desaußenminister weit aus dem Fenster gelehnt. Ge- auch danach geäußert. Die Fakten sehen so aus, daß messen an den Erwartungen, die sie geweckt haben, von den ehemals 108 000 in den vier Großkombinaten sind sie eigentlich schon abgestürzt. Ohne eine wirt- Bitterfeld, Wolfen, Leuna und Buna Beschäftigten am schaftspolitische Kurskorrektur werden die Menschen Ende ganze 13 000 bis 20 000 — die Zahlen schwan- dort sehr bald in einer Situation sein, die sie erkennen ken, je nachdem, wer sich dazu äußert — übrigblei- läßt, daß sie im Wahlkampf mißbraucht und belogen ben werden. Das ist für diese Region nun wahrlich worden sind. Dann allerdings wird das Chemiedrei- keine Perspektive. Der Bundeskanzler hat bei seinen eck so etwas wie das Bermuda-Dreieck für diejenigen jüngsten Besuchen in Buna und Bitterfeld Zusagen werden können, die mehr versprochen haben, als sie gemacht, aber er hat keine Zahlen genannt. Die Men- zu halten bereit sind. schen sind wirklich ratlos, wie es mit ihnen weiterge- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) hen wird. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Daß Sie Vizepräsident Renate Schmidt: Als nächstes hat der diese Region zu einem ökologischen Inferno Kollege Werner Schulz das Wort. 2120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau überschreiten wird, weiß heute keiner genau zu sa- Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Umbruch gen. von der sozialistischen Mißwirtschaft zu einer funktio- nierenden Marktwirtschaft reißt tiefere Wunden als Wohlgemerkt: Dies sind die Aussichten, trotz Fonds jeder bisher bekannte Strukturwandel innerhalb ei- Deutscher Einheit, trotz Investitionsbeihilfen, trotz nes Wirtschaftssystems. Das krisenhafte Ungleichge- Verbesserung der finanziellen Ausstattung der neuen wicht zwischen alten und neuen Bundesländern Bundesländer, trotz Gemeinschaftswerk Aufschwung droht, sich noch weiter zu verschärfen. Ost. Es erweist sich mit jedem Tag mehr, daß der Bun- desregierung der Prozeß, den sie vor einem Jahr mit Momentan stellt sich die wirtschaftliche Situation der abrupten Einführung der D-Mark in der ehemali- im vereinten Deutschland wie folgt dar: Während die gen DDR in Gang gebracht hat, außer Kontrolle gera- Produktion in den westlichen Bundesländern auf ho- ten ist. hem Niveau weitgehend stabil ist, setzt sich der Nie- dergang von Wettbewerbsfähigkeit und Produktion in Das Beitrittsgebiet befindet sich jetzt folgerichtig in Ostdeutschland fort. Wenn einige Auguren in den In- der typischen Situation eines Entwicklungslandes, stituten nunmehr den Aufschwung in Sicht sehen, degradiert zum Absatzmarkt, eigener Erwerbsmög- dann bedeutet das nur, daß die wirtschaftliche Aktivi- lichkeiten beraubt. Der Absatz ist dort, Produktion tät bald ganz unten angekommen sein wird. und Gewinn hier. Die D-Mark fließt in den Westen und muß mit der Kreditpumpe durch öffentliche Fi- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist unten!) nanztransfers zurückgepumpt werden. Andere Prognosen hantieren die Talwanderung auf (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Lesen Sie mindestens fünf bis zehn magere Jahre. bitte meine Rede nach! Sie waren nicht Nur der Kanzler ist in seinem Zweckoptimismus da!) nicht zu beirren. Mit schon fast Autosuggestionskraft und an solche grenzender Beharrlichkeit meint er So entstehen die ins Uferlose wachsenden Kosten der samt seiner Partei, in den nächsten drei bis vier Jahren Deutschen Einheit, die noch immer nicht genau zu über den Berg zu sein. An die Steuerillusion schließt beziffern sind und die uns sicher in den nächsten sich der wiederholte Schwindel von der Lebensver- Haushaltsjahren beschäftigen werden. besserung an. Der Kanzler sollte sich besser von den Die schockartige Währungsunion hat der ostdeut- wirtschaftlichen Problemen als von Eierwerfern aus schen Wirtschaft jede Zeit zur Verarbeitung der neuen der Reserve locken lassen. Und natürlich ist nicht er Situation vorenthalten. Die Politiker hätten damals für den Rückgang der Geburtenrate verantwortlich. anstatt auf die umjubelten Marktplätze wohl eher in Diese Potenz hätte ihm wohl gar keiner zugetraut, die verschlissenen Betriebe gehen sollen, um sich ein glaube ich. tatsächliches Bild zu machen, das sie nicht gehabt zu (Heiterkeit bei der SPD — Ernst Hinsken haben meinen. Denn Neuorientierungen brauchen [CDU/CSU]: Ihnen aber auch nicht!) Zeit. Deswegen vollzieht sich die Anpassung jetzt als Zusammenbruch. Es ist wohl mehr seine Politik, die Existenzunsicher- heit hervorruft. Wir brauchen keinen August den Star- In dieser Situation ist die Wirtschaftspolitik nicht in ken, wir brauchen aber auch keinen Sitzriesen. der Lage, Prozesse zu gestalten, Entwicklungen vor- herzusehen und Richtungen zu weisen. Heute vermag (Beifall bei der SPD) die Politik kaum mehr zu tun, als das Schlimmste zu Ich glaube, wir brauchen einen Kanzler, der sich nicht verhindern: Entlassungen zeitlich zu strecken, Auf- mit der Alimentierung des Ostens begnügt, sondern fangbecken für Erwerbslose zu schaffen, die Nach- Mut faßt, dem nationalen Kapital an den patriotischen frage künstlich zu stützen; dies alles mit hohem finan- Kragen zu gehen. Mit Appellen zur Investition ist das ziellen Aufwand und mit Methoden, die vor Jahren Ganze nicht getan. noch als indiskutabel gegolten hätten. Während das Preisniveau im Westen moderat an- Diese Regierung hat lange Zeit aus marktideologi- steigt, ist die Teuerung für die Menschen in den neuen scher Borniertheit heraus auf eine wirksame Einfluß- Bundesländern zum Teil schmerzhaft spürbar. Wäh- nahme auf das wirtschaftliche Geschehen in Ost- rend schließlich die Beschäftigungsrate in West- deutschland verzichtet. Sie hat die Treuhandanstalt deutschland weiter steigt, tut sich auf dem ostdeut- mit unzureichender Orientierung für ihre schwere schen Arbeitsmarkt ein Abgrund auf. Die „Wirt- Aufgabe allein gelassen. Sie hat die Möglichkeiten schaftswoche" rechnet, daß zum Ende dieses Jahres einer wirkungsvollen Arbeitsmarktpolitik bei weitem von den ursprünglich 9,5 Millionen Erwerbstätigen in nicht ausgeschöpft. Sie ist mit veralteten strukturpoli- Ostdeutschland nur noch etwa 4 Millionen übrig blei- tischen Konzepten an den Aufbau der neuen Bundes- ben werden. länder herangegangen und hat es versäumt, dafür zu Nach wie vor wandern Spezialisten und junge Fach- sorgen, daß die ostdeutschen Unternehmen in dem arbeiter — das stärkste Kapital der ostdeutschen Bun- schwierigen Umstrukturierungsprozeß faire Markt- desländer — in den Westen. Die Flucht heißt neuer- chancen erhalten und nicht von der westlichen Kon- dings „Binnenwanderung" und nimmt den wohl kurrenz erdrückt werden. stärksten Investitionsanreiz mit. Auf der anderen Seite hat sie aber den im Hand- Wann sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt streich geschlossenen Energievertrag zwischen west- umkehren wird, wann also die Zahl der neugeschaf- deutschen Energiemultis und der damaligen DDR fenen Arbeitsplätze die der abgebauten erstmals nach Kräften gefördert und so die Möglichkeiten zum Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2121

Werner Schulz (Berlin) Aufbau eigenständiger, dezentraler Energieversor- wiederholt werden. Ich nenne hier die verfehlte, un- gungssysteme weitergehend blockiert. differenzierte Wachstumsorientierung, den viel zu ho- hen Anteil der direkten Förderung von Unternehmen Zu all diesen Fragen haben wir in die vor einigen im Vergleich zur Infrastrukturförderung sowie den Wochen im Sande verlaufenen Arbeitsgruppenge- Mangel an Förderung von regionaler Forschung, Ent- spräche zwischen Opposition und Regierung unsere wicklung, Technologie- und Know-how-Transfer. konkreten Vorschläge und Forderungen eingebracht, zu denen wir nach wie vor auf begründete Antworten Der fast völlige Verzicht der Bundesregierung auf der Regierung warten. eine Wirtschaftsstrukturplanung und die mangelnde Abstimmung der Förderinstrumente tragen darüber Die Treuhand hat, wie vor wenigen Tagen dem hinaus zum Versagen der Regionalförderung in struk- „Handelsblatt" zu entnehmen war, Entlassungen in turschwachen Gebieten bei: Millionenhöhe für die kommenden eineinhalb Jahre Wir halten eine Neukonzipierung der regionalen angekündigt. Wenn Sie diese Ankündigungen wahr Wirtschaftsförderung im Hinblick auf die Probleme in macht, steht der Verlust des größten Teils der Arbeits- den ostdeutschen Ländern für ganz besonders dring- plätze in den Treuhand-Unternehmen zu befürchten. lich. Eine Schlüsselrolle kann hierbei der Aufbau von Von ursprünglich vier Millionen Beschäftigten wer- regionalen Entwicklungszentren spielen, die als den zum Schluß vielleicht eine Million Beschäftigte Dienstleistungszentren vielfältige Aufgaben beim übrigbleiben. Dies darf so nicht hingenommen wer- Entstehen einer eigenständigen und dauerhaften re- den. Wir brauchen den Staat als Impulsgeber, nicht als gionalen Wirtschaft wahrnehmen. Diese Zentren sol- Nachtwächter oder als Feuerwehr. len in gemeinsamer Trägerschaft von Wirtschaft, Ge- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das hät werkschaften, Umweltverbänden, Arbeitsverwaltung ten Sie vor den Wahlen sagen sollen! — Ge und Gebietskörperschaften entstehen. Nicht als Su- genruf von der FDP: Jetzt haben Sie sich aber perb ehörden, sondern als Dienstleistungsangebot widersprochen!) und Vorleistung für örtliche und im Aufbau befindli- - che Unternehmen sollen sie sich u. a. der Erarbeitung Die Treuhand muß den klaren gesetzlichen Auftrag regionaler Entwicklungskonzeptionen und ökologi- bekommen, die ihr anvertrauten Unternehmen zu sa- scher Sanierungsprogramme, dem Technologietrans- nieren, wenn diese nicht sofort unter Erhaltung ihrer fer, der Beratung und der Erleichterung bei Existenz- Substanz privatisiert werden können und wenn auf gründungen, der Vermittlung von Informationen und mittlere Sicht Rentabilität zu erwarten ist. Hierzu ge- der Bereitstellung wirtschaftsnaher Dienstleistungen hört die konsequente Altlastensanierung und die sowie der überbetrieblichen Weiterbildung widmen. ökologische Modernisierung der Unternehmen. Notwendig ist darüber hinaus eine Mittelaufstok- Hierzu gehört ebenfalls eine intensivere Verzahnung kung sowie eine Neugewichtung bei der Gemein- der Arbeit der Treuhandanstalt mit staatlicher Regio- schaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirt- nal- und Strukturpolitik. Die Treuhandanstalt braucht schaftsstruktur. Die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe angemessene finanzielle Mittel, um notwendige Ent- müssen künftig vorwiegend der umweltverträglichen schuldungen durchzuführen und die Sanierungsauf- Infrastrukturförderung, insbesondere dem Aufbau re- gaben erfüllen zu können. Frau Breuel hat jüngst dar- gionaler Entwicklungszentren zugute kommen. auf hingewiesen, daß noch erhebliche zusätzliche For- derungen auf den Bund zukommen werden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Die vielfältigen finanziellen Ansprüche an das Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Treuhandvermögen müssen neu bewertet werden. gen Hinsken. Vorrang gebührt eindeutig der Sanierungsaufgabe und den damit unmittelbar zusammenhängenden Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Ja. Aufgaben. Von Belastungen wie Haushaltssanierung, Entschä- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz, ich digungszahlungen sowie von den Altschulden der pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Damit Schwung Treuhandunternehmen und sachfremden Zinslasten hereinkommt, brauchen wir in Zukunft mehr Mittel, muß die Treuhandanstalt gänzlich freigestellt werden. und deshalb sollen die Mittel für die Verbesserung der Die Länder müssen einen deutlich verbesserten Ein- regionalen Wirtschaftsstruktur aufgestockt werden. fluß auf die Arbeit der Treuhandanstalt bekommen. In Meine Frage aber an Sie diesbezüglich: Meinen Sie Fragen von weiterreichender Bedeutung — insbeson- nicht auch — wie ich — , daß die Aufgaben, die Sie dere Betriebsstillegungen — muß die Treuhandan- einer neuen Institution zuführen wollen, auch von den stalt Einvernehmen mit den Ländern herstellen. Industrie- und Handelskammern und den Hand- werkskammern bewältigt werden können, die dafür In einem wichtigen Punkt stimmen wir im übrigen prädestiniert sind, eben dieser Aufgabenstellung ge- mit Herrn Möllemann überein: Entsprechend ihrer recht zu werden? Aufgabenstellung sollte die Treuhandanstalt der Fach- und Rechtsaufsicht des Bundeswirtschaftsmini- (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Es sters unterstellt werden. Werner Schulz geht vor allen Dingen um eine Umverteilung der Mit- Die traditionellen Förderinstrumente der Regional- tel, nicht nur um einseitige Aufstockung. Im Grunde politik haben schon in den alten Bundesländern nicht genommen geht es darum, daß diese Investitionssprit- zu einem wirksamen Abbau des Entwicklungsgefälles zen nicht allein in die Betriebe gehen, die momentan geführt. Die Systemfehler der bisherigen Regional- aufgefangen werden können, sondern daß man in förderung dürfen in den neuen Bundesländern nicht Regionen geht, wo momentan noch keine Indust rie- 2122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Schulz (Berlin) struktur vorhanden ist. Um diese regionale Entwick- integriert werden sollen, selbst von einer tiefen und lung zu fördern, darum geht es uns in erster Linie. dauerhaften Beschäftigungskrise und einem wesent- lich niedrigeren Beschäftigungsniveau als in der ehe- Der bisherige Systemfehler, den ich angedeutet maligen DDR gekennzeichnet. Die Massenerwerbslo- habe, lief darauf hinaus — das wiederholt sich in der sigkeit auf sehr hohem Niveau wird deshalb kein gleichen Weise — , daß Investitionsförderung eigent- kurzfristiges Übergangsproblem bleiben, sondern lich nur an den Stellen erfolgt, wo momentan bereits über Jahre hinaus den ostdeutschen Arbeitsmarkt Industrie vorhanden ist. Andere Regionen haben prägen. überhaupt keine Chance oder tun sich sehr schwer. Ich glaube, daß wir mehr Infrastrukturaufbau fördern Wir fordern daher eine neue Konzeption der Ar- müssen. Das geschieht bisher unzureichend. Ich beitsbeschaffungsmaßnahmen, die u. a. eine Verlän- glaube auch nicht, daß das durch die Indust rie- und gerung der Förderungsdauer auf mindestens vier Handelskammern allein getan werden kann, obwohl Jahre und Qualifizierungsmaßnahmen mit entspre- sie hier nicht ausgespart sein dürfen; das muß mitein- chenden Berufsabschlüssen einschließt. Notwendig ander verbunden sein. sind ebenfalls die Erleichterung des Antrags- und Be- willigungsverfahrens und die Einführung ge- haben, Ostdeutsche Güter und Dienstleistungen schlechtsspezifischer Quotierung bei der Vergabe von unabhängig von ihrer Qualität und Wettbewerbsfä- ABM-Stellen. Bevorzugte Bereiche für diese Maßnah- higkeit, immer noch schlechte Chancen auf dem In- men sollten der Umweltschutz und die sozialen Dien- landsmarkt. Mitverantwortlich hierfür sind der oft ste sein. schlechte Ruf dieser Produkte sowie mangelnde Marktpräsenz. Angesichts des Ausmaßes der zu erwartenden Er- werbslosigkeit kommt der Schaffung von Qualifizie- Wenn der Absturz von Produktion und Beschäfti- rungs- und Beschäftigungsgesellschaften ganz be- gung in den ostdeutschen Ländern aufgehalten wer- sondere Dringlichkeit zu, wobei das Ziel der Aufbau den soll, muß für eine Übergangszeit zusätzlich zur neuer marktfähiger Betriebe aus den Beschäftigungs- bereits in Kraft gesetzten Investitionsförderung der gesellschaften heraus sein muß. Absatz ostdeutscher Produkte durch die öffentliche Hand gestützt und gefördert werden. Zu diesem All dies wird jedoch nur greifen, wenn gleichzeitig Zweck ist ein System von Präferenzen für ostdeutsche die Beratungstätigkeit und die personelle Ausstattung Produkte zu schaffen. der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern erheblich verbessert werden. Derweil grübelt man im Ob hierfür eine generelle Mehrwertsteuerbefreiung Hinblick auf den Beamtenexport von West nach Ost, oder -ermäßigung für ostdeutsche Waren und Dienst- ob man die Beamten in einer Sänfte über die Elbe leistungen oder ein Präferenzsystem nach dem Vor- bringen kann oder ob man sie vorher in Ketten legen bild der Berlin-Förderung eingeführt wird, ist letztlich muß. nicht entscheidend. Maßgeblich ist die Verbesserung der Absatzchancen ostdeutscher Anbieter für eine be- Doch auch die Westdeutschen können zu einer grenzte Übergangszeit. spürbaren Verbesserung der Arbeitsmarktlage im Osten beitragen, und zwar durch den Verzicht von In die gleiche Richtung wirkt die Verpflichtung, bei Überstunden und Sonderschichten in der gesamten der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt solche Bundesrepublik. Dies könnte und sollte, wenn nötig, Anbieter zu berücksichtigen, die in Gebieten mit durch gesetzliche Einschränkungen erreicht wer- mehr als 15 % Arbeitslosigkeit tätig sind. Dies bedeu- den. tet gegenwärtig zwangsläufig eine Präferenz für ost- deutsche Anbieter. Der Stromvertrag erweist sich für die Kommunen als große Investitionsbremse. Ohne Verfügungsbe- für ostdeutsche Pro- Zu vergleichbaren Präferenzen rechtigung über die örtlichen energiewirtschaftlichen dukte sollten in angemessenem Umfang Empfänger Anlagen sind die Kommunen in dieser Hinsicht hand- öffentlicher Subventionen und Bürgschaften sowie lungsunfähig. Eine schnelle Übertragung des ener- zinsverbilligter Kredite verpflichtet werden. Auch die giewirtschaftlichen Vermögens in die Hände der ost- Treuhandanstalt muß, wo dies möglich ist, mit Inve- deutschen Kommunen könnte dagegen einen flä- storen bei der Beschaffung von Investitionsgütern Prä- chendeckenden Investitionsschub auslösen. Infolge ferenzen für ostdeutsche Produkte vereinbaren. Mir der Umstellung auf eine neue, dezentrale Energiepo- ist durchaus bewußt, daß solche Vorschläge nicht auf litik ist in den neuen Bundesländern mit mindestens die ungeteilte Begeisterung der EG-Kommission in 50 000 neuen Dauerarbeitsplätzen zu rechnen. Brüssel treffen werden. Aber auch der EG kann an einem permanenten Notstandsgebiet im Osten Der CO2-Ausstoß pro Kopf der Bevölkerung ist in Deutschlands, zusätzlich zu anderen europäischen den Ostbundesländern mit 22,4 t pro Jahr fast doppelt Problemregionen, nicht gelegen sein. so hoch wie im Westen. Drastische Reduzierungen sind hier möglich und dringend erforderlich. Die Bun- Auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt treffen mo- desregierung sollte deswegen sofort die Aufkündi- mentan zwei Problemfelder aufeinander: Zum einen gung oder Aufhebung der entsprechenden Regelun- ist der Prozeß der völligen Neuorientierung der wirt- gen des Stromvertrags in Ang riff nehmen sowie die schaftlichen Strukturen Ostdeutschlands auf mittlere umgehende und vollständige Übertragung des örtli- Sicht mit Friktionen des Arbeitsmarktes von bisher chen energiewirtschaftlichen Vermögens an die unbekanntem Ausmaß verbunden. Kommunen und Landkreise durch die Treuhandan- Zum anderen ist das westdeutsche marktwirtschaft- stalt entsprechend dem Treuhand- und Kommunal- liche System, in das die neuen Bundesländer jetzt vermögensgesetz ermöglichen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2123

Werner Schulz (Berlin) Ebenfalls dringend erforderlich ist die Verbesse- in den neuen Bundesländern drastisch vor Augen ge rung der Einspeisungsbedingungen für Strom aus de- führt worden. zentraler Krafte-Wärme-Kopplung durch Änderung (Josef Grünbeck [FDP]: Da hat es doch gar des Stromeinspeisungsgesetzes. Der aus dezentralen keine Wirtschaftsentwicklung gegeben! Was Blockheizkraftwerken erzeugte und ins Netz einge- reden Sie da!) speiste Strom wird von den großen Energieversor- gungsunternehmen lediglich mit rund 9 Pfennigen Als ein Experimentierfeld hat sich Herr Möllemann pro Kilowattstunde vergütet. Mit einer gerechteren die Energiewirtschaft ausgesucht, den denkbar unge- Vergütung hätten die dezentralen Anlagen, die mit eignetsten Wirtschaftsbereich, der eine unentbehrli- einem Gesamtwirkungsgrad von mehr als 80 % arbei- che Grundlage für die störungsfreie Entwicklung ten, entschieden bessere Entwicklungschancen. einer modernen Volkswirtschaft ist. Weiteren Handlungsbedarf sehen wir in der Förde- Spätestens seit dem Ölpreisverfall von 1985 hat die rung des Ausbaus und der Sanierung von Bundesregierung keine eigenständige Energiepolitik Fernwärmenetzen, bei der Bezuschussung dezentra- mehr gemacht. Sie hat sie vielmehr dem Markt und ler Blockheizkraftwerke und schließlich in der wirk- der Energiewirtschaft überlassen. Es ist deshalb über- samen Förderung von Wärmeschutzmaßnahmen an haupt kein Wunder, daß seitdem der Energiever- Gebäuden. Hier sind die deutschen Standards bei brauch und die Umweltbelastungen wieder drastisch weitem noch nicht das Optimum. angestiegen sind. Meine Damen und Herren, wir plädieren für mehr (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider Weitsicht im Aufbau der neuen Bundesländer. Der wahr! —Josef Grünbeck [FDP]: Haben Sie größte Denkfehler aller bisherigen Ansätze ist sicher- schon einmal etwas von einer Hochkonjunk lich die Vorstellung, daß die Probleme der neuen Bun- tur gehört?) desländer allein durch Veränderungen auf dem Ge- Bundeswirtschaftsminister Möllemann will die För- biet der ehemaligen DDR gelöst werden können.- derung der heimischen Steinkohle schon im kom- Die Deutschen stehen vor der historischen Aufgabe, menden Jahr um 10 Millionen t reduzieren. Das ist durch solidarisches Handeln einen Ausgleich der Le- zwar halbherzig dementiert worden, aber wir wissen bensverhältnisse zu erreichen. Für die Westdeutschen ja, was man von solchen Dementis zu halten hat. Be- bedeutet dies, auf eine weitere Wohlstandssteigerung reits ab 1992 sollen je 5 Millionen t Steinkohle weni- vorerst zu verzichten. Sie haben die einmalige Gele- ger verhüttet und weniger verstromt werden. Damit genheit, ein Verhalten modellhaft vorwegzunehmen, treibt der Bundeswirtschaftsminister den Bergbau in das allein der weltweiten sozialen und ökologischen die schwerste Existenzkrise seit dem Ende der 60er Krise begegnen kann. Modell Deutschland als Vor- Jahre. griff auf eine gerechte und ökologische Weltwirt- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Ein schaft. Skandal!) Wir sollten sehen, wie wir trotz materieller Ein- Dies, obwohl die vereinbarten Anpassungen der schränkungen noch ein reichhaltiges Leben führen letzten Kohlerunde von 1987, die eine Förderkürzung können in leidlicher Harmonie mit der Natur und bei um 15 Millionen t und einen Abbau von 30 000 Ar- wachsender Gerechtigkeit gegenüber der Zwei-Drit- beitsplätzen vorsehen — ich betone: einen sozialver- tel-Welt. träglichen Abbau von Arbeitsplätzen; das ist in die- Ich danke Ihnen. sem Zusammenhang sehr wichtig — , noch gar nicht umgesetzt, geschweige denn verkraftet worden sind. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Hüttenvertrag von der Europäischen der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten Dies, obwohl der Kommission bis 1997 genehmigt ist. Das Argument, der SPD) Brüssel würde die Stützung der heimischen Stein- kohle in dieser Höhe nicht mehr länger akzeptieren, ist zumindest bei der Kokskohlenbeihilfe völlig ver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat f ehlt. das Wort der Kollege Volker Jung. Dies auch, obwohl vom Bundeskanzler und den Mi- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Be nisterpräsidenten der Bergbauländer noch 1989 ver- ruf Gewerkschaftssekretär!) einbart wurde, die Verstromung heimischer Stein- kohle für die Restlaufzeit des Jahrhundertvertrages bis 1995 bei 41 Millionen t zu stabilisieren. Das wurde zuletzt durch die Regierungserklärung von Anfang Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Frau Präsidentin! dieses Jahres bestätigt. Aber auch das ist ja schon Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsmi- einige Monate her. Möglicherweise ist die Bundesre- nister möchte im nächsten Bundeshaushalt 10 Milliar- gierung inzwischen zu der Auffassung gelangt, daß den DM an Subventionen einsparen. Das Thema ist in nach der Steuerlüge eine weitere Lüge, nämlich die dieser Haushaltsdebatte schon vielfach hin und her Kohlelüge, den Kohl nicht mehr fett macht. gewendet worden. Wenn er das genannte Ziel nicht (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke erreicht, dann will er zurücktreten. Damit hat er zwei- Liste) fellos Punkte in der Offentlichkeit gemacht. Damit kann man aber auch viel kaputtmachen. Wohin diese Unausweichliche Konsequenz dieser Politik würde marktwirtschaftliche P rinzipienreiterei führen kann, die Schließung von mindestens fünf Zechen und die ist uns mit der katastrophalen Wirtschaftsentwicklung Entlassung von 20 000 Bergleuten sein, die ebenso 2124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Jung (Düsseldorf) viele Arbeitsplätze in den abhängigen Wirtschaftsbe- 20 % der nationalen Stromerzeugung gefördert wer- reichen vernichtet. Das ist den Bergleuten nicht zuzu- den darf, weil dies nicht zufällig dem Anteil der Kern- muten, und das kann von den strukturschwachen Re- energie an der britischen Stromversorgung entspricht. gionen nicht verkraftet werden. Es wäre grotesk, wenn unsere Kohleförderung nur (Beifall bei der SPD) noch den Umfang des von der EG-Kommission geneh- migten britischen Nuklearpennys haben sollte. Auf diese Weise werden englische Kohleinteressen mit Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Jung, ge- rechtlich zweifelhaften Begründungen gefördert. Das statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grün- nenne ich schlicht einen politischen Mißbrauch. beck? (Lieselott Blunck [SPD]: Richtig!) Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Ja, die gestatte ich Es ist ein Skandal, daß die Bundesregierung dagegen natürlich. nicht vorgeht. (Beifall bei der SPD) Josef Grünbeck (FDP): Herr Kollege Jung, weil Sie Es paßt aber leider zu Ihrer Politik gegenüber der soviel von Lüge reden: Haben Sie eigentlich Ihre Aus- EG-Kommission, die Vereinbarung vom August 1989 führungen mit der Kollegin Frau Matthäus-Maier ab- nicht offensiv zu vertreten, geschweige denn im Sinne gestimmt, die gestern zur Kohlepolitik etwas ganz einer europäisch definierten Versorgungssicherheit anderes gesagt hat? durchzusetzen. Wer mit uns einen neuen energiepolitischen Kon- (Düsseldorf) (SPD): Es kommt öfters Volker Jung sens will, meine Damen und Herren, wer verhindern vor, daß Reden nicht miteinander abgestimmt sind. will, daß die Kumpel die Brocken hinschmeißen, der Ich bleibe bei dieser Aussage. sollte folgendes zur Kenntnis nehmen: Erstens. Damit wird nicht nur dem Hüttenvertrag und dem Ebenso wie die Energiewirtschaft, die zu erkennen Jahrhundertvertrag die Grundlage entzogen. Damit gegeben hat, daß sie gegen unseren Widerstand keine wird auch jede Anschlußregelung zum Jahrhundert- Kernkraftwerke mehr bauen will, haben wir uns bei vertrag verhindert. Die Stromwirtschaft zeigt ohnehin der Frage der Nutzung der Kernenergie bewegt. Wir keine Neigung, eine Anschlußregelung zu vereinba- werden mit uns über die Nutzungsdauer reden las- ren. Jeder, der die Lage kennt, weiß, daß dies das Aus sen. für den heimischen Steinkohlenbergbau wäre. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Unausweichliche Konsequenz dieser Politik würde der FDP — Zurufe von der FDP: Aha!) auch die Notwendigkeit sein, die entstehende Versor- gungslücke durch andere Energieträger zu schließen, Aber eines sollte klar sein: Einen Ersatz oder Zubau entweder durch Importkohle, die an unserer CO2- von Kernkraftwerken wird es mit unserer Zustimm- Bilanz nichts ändern würde und außerdem unsere Im- mung nicht geben. portabhängigkeit erhöht, oder durch die Kernenergie, (Beifall bei der SPD) die die Sicherheitsrisiken erhöht und die nach wie vor ungeklärte Entsorgungslage verschärft. Dieses Sze- Zweitens. Wir befürchten, die Politik gegen die nario macht mit einem Schlag die Unzulänglichkeiten Steinkohle im Westen ist nur der Auftakt für einen der gegenwärtigen Energiepolitik deutlich. Kahlschlag bei der Braunkohle im Osten. Seit der Die Bundesregierung hat bis heute kein energie- deutschen Vereinigung fehlt für die neuen Bundes- politisches Gesamtkonzept vorgelegt, aus dem deut- länder jedes energiepolitische Erneuerungskonzept. lich wird, welche Rolle sie den einzelnen Energieträ- Die Bundesregierung hat sich mit dem Abschluß des gern in einem ausgewogenen Energiemix zuordnet. Stromvertrages aus der energiepolitischen Verant- Anstatt seine energiepolitischen Hausaufgaben zu wortung gestohlen. Damit will sie sich auch der sozia- len Verantwortung für die Bergleute in Ostdeutsch- machen, bereitet der Bundeswirtschaftsminister wie seine Vorgänger im Amt einen Kahlschlag gegen die land entziehen. Sie spielt die Bergleute in Ost und Kohle vor. West gegeneinander aus. Das werden wir Sozialde- mokraten nicht zulassen. Einzig und allein die Begründung, die dafür herhal- ten muß, hat gewechselt. Haben Bangemann und (Beifall bei der SPD — Dr. Haussmann ihre Antikohlepolitik noch damit begrün- [CDU/CSU]: Das ist nicht fair, Kollege det, daß es angeblich nur um ein soziales oder regio- Jung!) nalpolitisches Problem gehe, so begründet Mölle- Drittens. Da sich die Weltenergieversorgung noch mann dieselbe Politik mit der vermeintlichen Notwen- lange Zeit auf die Kohle stützen wird, könnten gerade digkeit eines Subventionsabbaus. Wer aber die Ener- wir bedeutende Beiträge zu ihrem umweltfreundli- giepolitik unter den Zwang stellt, Subventionen abzu- chen Einsatz leisten. Das trifft vor allem für die Nut- bauen, der zäumt das Pferd vom Schwanz auf, der zung neuer, CO2-ärmerer Kohletechniken zu, die in betreibt Haushaltspolitik und keine eigenständige der Dritten Welt dringend benötigt werden, weil die Energiepolitik. Zu einer solchen Politik werden wir hochkomplizierte und sicherheitsempfindliche Kern- Sozialdemokraten unsere Hand nicht reichen. energie nach unserer gemeinsamen Überzeugung in (Beifall bei der SPD) diesen Ländern nicht eingesetzt werden kann. Es kann nicht Grundlage unserer Energiepolitik Viertens. All dies macht aber keinen Sinn, wenn wir sein, die Vorgabe des britischen EG-Kommissars nicht die Energieeinsparung, eine rationellere Ener- Brittan zu akzeptieren, daß nur noch ein Anteil von gienutzung und den Einsatz erneuerbarer Energien Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2125

Volker Jung (Düsseldorf) fördern. Nachdem die Bundesregierung in den letzten setzungen für eine solche günstige wirtschaftliche Jahren alle Steuererleichterungen und Investitionshil- Entwicklung im Westen und eine ansteigende — erste fen für die rationelle Energienutzung abgeschafft hat, Anzeichen dafür gibt es — , sich bessernde wirtschaft- haben die Koalitionsparteien bei den Etatberatungen liche Lage im Osten gegeben sein müssen, die es zu im Wirtschaftsausschuß alle unsere Vorschläge zum sichern gilt. Energiesparen abgelehnt, ohne eigene Vorschläge Da ist als erstes — nach dem Beitrag des Kollegen vorzulegen. Jung sage ich das ganz bewußt — die EG-Integration. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU] : Völlig unre Herr Kollege Jung, mir gefällt wirklich nicht die Art alistisch war das!) und Weise, wie hier permanent eine Art Antagonis- Meine Damen und Herren, das ist in höchstem mus, eine Art unterstelltes Gegeneinander konstruiert Maße konzeptionslos. Ich sage Ihnen: Legen Sie end- wird: hier die EG — als irgendetwas anderes, etwas lich ein energiepolitisches Gesamtkonzept vor, damit Feindliches — , dort wir, als seien wir nicht Bestandteil wir uns über die Anteile der einzelnen Energieträger derselben. Wir sind die Hauptprofiteure der Europäi- auseinandersetzen können, aber hören Sie auf, nur schen Gemeinschaft. auf die Kohle einzuschlagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Niemand hat einen solchen Nutzen vom gemeinsa- men Markt wie wir. Wir haben im letzten Jahr 36 % Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der aller Waren und Dienstleistungen, die in Deutschland Bundesminister für Wirtschaft, Herr Jürgen Mölle- hergestellt wurden, auf ausländische Märkte expor- mann. tiert. Niemand ist vom Export, vom freien Zugang zu (Ernst Waltemathe [SPD]: Der Mann, der anderen Märkten, so sehr abhängig wie wir. Aber das gern Minister bleiben möchte!) heißt natürlich auch, daß man sich den Regeln dieses Marktes, die man gemeinsam definiert hat, unterwer- - fen muß. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Da stimme ich Ihnen zu. Das ist gut; darauf Die Bestimmungen, die in der EG gelten, sind nicht komme ich gleich zurück, Herr Waltemathe. von Herrn Leon Brittan oder von den Kommissaren, die gelegentlich sozialdemokratischen oder sozialisti- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schen Parteien angehören, oktroyiert worden, son- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale dern sie sind als gemeinsame Willensbildung und Wil- Aufgabe der Wirtschaftspolitik — wie im übrigen auch lensbekundung festgelegt worden, als ein Ordnungs- der anderen Politikbereiche in dieser Legislaturpe- system, dem wir uns freiwillig unterwerfen. riode — ist die Herstellung und Absicherung der wirt- schaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands nach (Liselott Blunck [SPD]: Wenn es politisch der staatlichen Einheit. Darauf muß sich die Wirt- paßt, wird es laufend durchlöchert!) schaftspolitik vorrangig konzentrieren. — Wenn das denn geschieht, finde ich es nicht gut. Ich Wir haben dies mit dem Konzept unter dem Stich- sage doch nur: Wir wollen nicht den Eindruck erwek- wort Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost in Angriff ken, als gäbe es ein EG-System, von anderen entwik- genommen. Wir wenden dafür in Form eines Finanz- kelt, das uns gegenüber feindlich gesinnt ist und von transfers von West nach Ost in diesem Jahr 128 Milli- dem wir Nachteile haben. Das ist nicht wahr. Wer eine arden DM auf, die in Investitionen, in die Infrastruk- solche Haltung in der Exportnation Nummer eins ein- tur, in die Beschäftigung und in das soziale Siche- nimmt, der darf sich nicht wundern, wenn andere, die rungssystem gehen. Das ist ein sehr hoher Aufwand, einen solchen Nutzen wie wir nicht haben, das plötz- der aber notwendig ist und der geleistet werden kann, lich so interpretieren. Er würde unsere Exportinteres- weil, wenn und solange unsere wirtschaftliche Lei- sen auf das schwerste beschädigen. stungskraft im Westen so stark ist, wie sie sich derzeit Deshalb bitte ich bei aller Notwendigkeit der kriti- darstellt. schen Auseinandersetzung mit der Position des einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) oder anderen Mitglieds der Kommission sehr herzlich Wir sind in einer florierenden Wirtschaftssituation darum, nicht so zu simplifizieren, wie Sie es getan im Westen. Wir haben ein Wachstum des Bruttosozi- haben, und den Mitgliedern der Kommission nicht zu alproduktes von 4,2 % im ersten Quartal. Die west- unterstellen, sie würden in ihrer Arbeit den jeweils deutsche Wirtschaft hat unverändert eine Lokomotiv- nationalen Standpunkt hineintragen. funktion. Ihre Impulse wirken sich nicht nur innerhalb Wir haben im übrigen gelegentlich in der Debatte Deutschlands, sondern auf die gesamte europäische über die Position der deutschen Kommissare zur Wirtschaft aus. Kenntnis genommen, daß sie sehr wohl den EG-An- Ich glaube, das ist zuallererst das Verdienst derer, satz und nicht — wie manche gewünscht haben — die im wirtschaftlichen Prozeß handeln: von Unter- den engen nationalen Ansatz vertreten. Das sollte nehmen, Unternehmern, Managern, aber auch Be- man den anderen auch zubilligen. schäftigten auf allen Ebenen. Aber so völlig falsch kann die Politik nicht sein, die zu einer solchen Ent- Die zweite Voraussetzung bet rifft ebenfalls unsere wicklung ihren Beitrag leistet. Rolle als Exportnation, als Exportweltmeister. Sie be- trifft das Thema GATT. Hierzu ist heute vom Bundes- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kanzler mit Nachdruck für die Bundesregierung klar- Nun geht es bei einer Debatte über den Bundes- gestellt worden, daß wir uns für einen Abschluß der haushalt darum, die Frage zu klären, welche Voraus- Uruguay-Runde möglichst bald einsetzen. Nun 2126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann kommt der nicht zustande, wenn nicht die Position, — Aber jetzt machen Sie mich richtig knatschig, das die die EG bislang in mehreren Kernbereichen einge- stimmt. Da hat Herr Schäfer völlig recht. nommen hatte, ebenso verändert wird wie jene Posi- (Wolfgang Roth [SPD]: In Sehnsucht auf eine tion, die die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan seriöse Antwort ziehe ich den letzten Satz und einige Staaten der Dritten Welt eingenommen zurück!) haben. — Sehen Sie, so einfach geht das. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist rich- tig!) Zurück zu Ihrer Frage ohne diesen letzten Teil: Herr Kollege Roth, ich komme ohnehin gleich zum Thema Das heißt, wir müssen definieren, wo wir sie verän- Subventionsabbau. Ich habe mich zunächst einmal dern wollen. konzentriert auf jene Finanzhilfen und andersartigen Hier wird es keinen Weg vorbei an einem Abbau Subventionen, die in meinem Haushalt, in meinem der Agrarexportsubventionen geben. Das ist auch Ministerium ressortieren. Das tun die Agrarhilfen gemeinsame Politik im Kabinett; da gibt es keinen wirklich nicht. Sosehr ich das Thema der Agrarpolitik Dissens mit dem Landwirtschaftsminister. Das war im faszinierend finde, es ist auch Ihnen geläufig, daß wir letzten Herbst der Knackpunkt. Wir müssen jetzt in einen ungeheurer tüchtigen Agrarminister haben, der der Tat, wie Graf Lambsdorff gesagt hat, die französi- sich diese Aufgabe vorgenommen hat. schen und die irischen Partner dafür gewinnen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, es wäre Im Gesamtpaket der Subventionskürzungen wird das ein schwerer Schaden für die deutsche Wirtschaft, Thema Agrarpolitik — ich habe es gerade angespro- wenn wir es nicht schafften, das GATT-System zu chen — bei der Reduktion der Agrarexportsubventio- erhalten, d. h. — das meint dieser technische Beg riff nen eine Rolle spielen müssen, vielleicht auch an an- —das internationale Freihandelssystem, das uns den derer Stelle. Ich komme also gleich darauf zurück. Zugang zu den internationalen Märkten ermöglicht. Es wäre gut, wenn es gelänge, diese Verlängerung- Nach dem Gemeinsamen Markt und GATT möchte des Abkommens respektive die Vereinbarungen, die ich als dritte Voraussetzung für das Andauern einer notwendig sind, bis Anfang nächsten Jahres zu fin- günstigen wirtschaftlichen Entwicklung die Tarifab- den, weil dann in den Vereinigten Staaten der Wahl- schlüsse nennen: Wir haben bei einem prognostizier- kampf beginnt. Man kann sich ausrechnen, was das ten wirtschaftlichen Wachstum von vielleicht 3 % in heißt. Dann wird es kaum noch möglich sein. Westdeutschland und andauernden Schwierigkeiten — mit beginnendem Aufschwung vermutlich im näch- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber die Land sten Jahr — in Ostdeutschland Tarifabschlüsse zu wirtschaft darf nicht geopfert werden!) konstatieren, die das Wachstumspotential deutlich — Nein. übersteigen. (Wolfgang Roth [SPD]: Genau dazu hätte ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist leider eine Frage!) wahr!) — Bitte schön, Herr Roth. Das Problem ist, daß wir von seiten des Staates, des öffentlichen Dienstes, nicht mit dem besten Beispiel vorangegangen sind. Aber ich möchte doch von dieser Stelle aus — bei vollem Respekt für die Tarifautono- mie — an die Tarifvertragsparteien appellieren, künf- Wolfgang Roth (SPD): Sie haben zum Bergbau, zu tige Abschlüsse weniger aus der Retrospektive heraus den Werften — das wird bei uns sicherlich unter- zu tätigen, d. h. im Blick auf möglicherweise ganz schiedlich bewertet — immer Vorschläge zum Sub- günstiges Wachstum in der Vergangenheit, sondern ventionsabbau gemacht. Sie wissen, daß wir in der auch im Auge zu haben, wie der Gestaltungsraum in Landwirtschaft ein Regime haben mit Preisfestsetzun- der voraussichtlichen Entwicklung des kommenden gen, Mengenregulierung, das unmarktwirtschaftli- oder gar der nächsten zwei Jahre sein wird. Daß wir cher gar nicht sein könnte. Mich wundert eigentlich, sonst Mittel verfrühstücken, die wir dann nicht für warum der für Ordnungspolitik zuständige Minister Investitionen zur Verfügung haben, ist unbest ritten. auch im Hinblick auf GATT nie Vorschläge zu einem Wir sind im Rahmen des Dialogs „Aufschwung Ost" in veränderten Agrarsystem gemacht hat. Warum haben einem Gespräch mit Arbeitgebern und Arbeitneh- Sie das eigentlich unterlassen, wo Sie sonst wirklich in mern und haben uns verabredet, darüber in der näch- jedes Fettnäpfchen treten? sten Runde in einer internen Unterredung zu spre- (Heiterkeit bei der SPD) chen. Ich finde es gut, daß dieses Gespräch möglich ist, und hoffe, daß es zu einem guten Ergebnis kommt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bundesminister für Wirt- Jürgen W. Möllemann, Die vierte Voraussetzung für das Andauern unserer schaft: Hätten Sie diese Frage, die bis dahin ja noch günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und das Ein- mein Interesse gefunden hatte, nicht mit dieser klei- setzen derselben in den neuen Ländern ist ein erst- nen Nickeligkeit am Ende versehen, hätte es mir auch klassiges Ausbildungssystem. Es ist sehr wichtig, daß Spaß gemacht, sie zu beantworten. es uns über die Jahre gelungen ist, mit dem System (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jetzt unserer dualen Berufsausbildung ein System zu ent- machen Sie es unwillig?) wickeln, das weltweit bewundert wird, Nachahmer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2127

Bundesminister Jürgen W. Möllemann findet und das jetzt auf die neuen Länder übertragen haben wir dieses Programm beschlossen, das — mit wird. Am Anfang macht das allerdings erhebliche staatlichen Hilfen — vorsieht, auch in überbetriebli- Schwierigkeiten: von der Ausstattung der Unterneh- chen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten mungen, vom Übertragen der Ausbildungsordnun- Ausbildungsplätze zu schaffen. Es ist richtig und gen, von dem Nichtvorhandensein einer großen Zahl bleibt in jedem Fall richtig: besser eine Ausbildung von Handwerksbetrieben und Handwerksmeistern — und sei es auch in überbetrieblicher oder in außer her. In den westlichen Bundesländern werden etwa betrieblicher Form — als keine Ausbildung. Deswe- 36 % der Lehrlinge in Handwerksbetrieben ausgebil- gen stellen wir diese Mittel dafür zur Verfügung. det, in den neuen Ländern geht das derzeit nur bei (Beifall bei der FDP) ungefähr 6 %. Hier muß durch partnerschaftliche Hilfe zwischen den Kammern, aber auch durch staatliche Ich kann Ihre Befürchtung zwar nicht völlig ausräu- Unterstützung — ein solches Programm hat das Kabi- men, aber wir tun, was wir können. nett vorgelegt und verabschiedet — dafür Sorge ge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber gewisse tragen werden, daß jeder junge Mensch, der das will, Voraussetzungen muß ein Meister schon er auch in den neuen Ländern zum 1. September die füllen, um überhaupt ausbilden zu kön Chance bekommt, wieder eine Lehrstelle zu haben. nen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — Das ist klar. Dazu müssen auch finanzielle Mittel des Staates ein- gesetzt werden. Ich appelliere nachdrücklich an alle Der nächste Punkt — damit komme ich dann schritt- im Wirtschaftsprozeß Tätigen, an die Unternehmun- weise an das heran, was die Herren Wedemeier, Jung gen wie auch an die Gewerkschaften, mitzuhelfen, und andere angesprochen haben — : Die fünfte we- daß dieses Ausbildungsziel erreicht wird. sentliche Voraussetzung für ein Andauern der wirt- schaftlichen Prosperität sind gesunde Staatsfinanzen. Dabei gibt es einen Punkt. Meine Damen und Herren, wir sind in der Situation, (Abg. Stephan Hilsberg [SPD] meldet sich- zu daß wir durch die Einheit, durch das, was wir bislang einer Zwischenfrage) getan haben, und durch das, was wir demnächst — Herr Kollege, ich möchte den Gedanken noch — das weiß hier ja wohl jeder — für die Reformstaaten gerne abschließen — , den der Bundeskanzler heute in Mittel- und Osteuropa werden tun müssen, sowie morgen in einer Nebenbemerkung angedeutet hat, durch die 17 Milliarden DM für den Golfkrieg zusätz- den ich hier einmal aufgreifen will. Es gibt zwar nicht liche finanzielle Aufwendungen finanzieren müssen, die große Zahl von Handwerksmeistern unserer Prä- für die wir zum Teil die Steuern erhöht haben. Das war gung. Es gibt aber eine große Zahl von Industriemei- mit einem massiven Vertrauensverlust für die Regie- stern. Ich finde es sehr wichtig, daß jetzt nicht klein- rungskoalition verbunden, weil wir das nicht ange- kariert und ängstlich über die Details aller Bestim- kündigt hatten. mungen zur Anerkennung des Handwerksberufs im (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Kollege, Westen argumentiert wird, sondern daß man einer „ist verbunden" ! ) großen Zahl von Industriemeistern die Möglichkeit gibt, sich in die Handwerksrolle einzutragen, sich als — War und ist. Handwerksmeister niederzulassen und eine eigene (Zuruf von der SPD: Und bleibt!) Existenz aufzubauen. — Ich täusche mich darüber überhaupt nicht hinweg. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Wir haben trotzdem so entschieden, weil wir es für bei Abgeordneten der SPD) notwendig erachteten, diese zusätzliche Kraftanstren- Bitte schön. gung zu finanzieren. Aber wir haben in dem Beschluß der Koalition, in dem die Steuererhöhungen festge- Stephan Hilsberg (SPD) : Herr Bundesminister, sind legt wurden — am selben Tag, am 23. Februar, in Sie tatsächlich der Meinung, daß sich das Ausbil- Punkt 7 —, auch gesagt — ich zitiere —: dungsplatzdefizit von ca. 100 000 Stellen noch in ei- Die Koalitionsparteien bilden eine Arbeitsgruppe nem Zeitraum von drei Monaten tatsächlich abbauen mit dem Auftrag, zusätzlich zu dem beschlosse- läßt, und sind Sie nicht auch — zweitens — der Mei- nen Abbau von Steuervergünstigungen und Fi- nung, daß man dann für eine Übergangszeit nicht nanzhilfen Einsparungen in Höhe von weiteren hundertprozentig nur das duale Ausbildungssystem ca. 4 Milliarden DM zu erzielen. Dadurch soll sich befördern darf, sondern nach anderen Lösungsmög- ab 1992 ein Subventionsabbauvolumen von lichkeiten suchen muß? 10 Milliarden DM ergeben. Um diesen Beschluß geht es, also nicht um einen Be- Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schluß des Bundeswirtschaftsministers, sondern der schaft: Solche Prognosen sind immer gewagt. Die Er- Koalition. fahrung haben wir in der Zeit der geburtenstarken (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Tritt Jahrgänge und des Lehrstellenmangels hier auch ge- die Koalition zurück, wenn es nicht macht: daß die Zahl derer, die noch einen Ausbil- klappt?) dungsplatz gesucht haben, bis kurz vor September/ Oktober deutlich höher war. Aber ich kann nicht aus- — Herr Kollege Schäfer, es geht um einen Beschluß schließen, daß Ihre Befürchtung eintritt, daß eine be- der Koalition, und sie wird diesen Beschluß auch um- stimmte Quote von jungen Menschen auf dem regu- setzen. — Beauftragt worden sind mit der Erarbeitung lären Weg keinen Ausbildungsplatz findet. Deswegen der entsprechenden Vorschläge zwei Gruppen, eine 2128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann Gruppe von Finanzpolitikern, der die Kollegen Gat- Jürgen Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: termann, Faltlhauser und Uldall und weitere angehö- Die Art Ihrer Frage zwingt mich, Vermutungen dar- ren — auch Kollege Rind, glaube ich —, und eine wei- über zu äußern, was Sie gemeint haben könnten; tere Gruppe, der die Bundesminister Dr. Schäuble, (Heiterkeit) Dr. Waigel und Möllemann angehören. Die sind in der Verantwortung und müssen die Vorschläge bringen. ich tue das jetzt mal. Wenn Sie gemeint haben sollten, Beraten werden wir darüber am 27. Juni in den Koali- daß die Fixierung von Obergrenzen für bestimmte tionsfraktionen und am 10. Juli im Kabinett bei der Subventionen bedeute, man müsse die unbedingt Beratung und Beschlußfassung über den Haushalts- ausschöpfen, dann widerspreche ich Ihnen nach- entwurf 1992 und über die mittelfristige Finanzpla- drücklich. nung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Der Abbau von Subventionen hat nicht nur die Be- der CDU/CSU) gründung, die ich soeben gegeben habe. Herr Schily, Das wäre ja noch schöner, wenn wir dazu kämen. Das nicht nur die Frage der notwendigen Balance in den sind Limits, die man nie überschreiten darf, und das Staatsfinanzen ist zu beachten, die ja nicht hergestellt wollen wir auch nicht. werden kann über die Fortschreibung der Steuererhö- Aber jetzt zu dem Punkt, auf den es ankommt. Die hungen über das bef ristete Volumen hinaus, auch einzelnen Kürzungen werden nicht so vollzogen, daß nicht über weitere Verschuldung, sondern durch Ein- die Betroffenen das Volumen der Kürzungen förmlich sparungen. in einem Schreiben oder in einem Presseartikel mitge- Es gibt eine zweite Begründung. Subventionen ha- teilt bekommen — das wissen Sie doch ganz genau —, ben häufig, wenn sie eben nicht degressiv angelegt sondern die Gespräche laufen. Heute nachmittag ist und zeitlich befristet sind — die Werftensubventionen nach dieser Debatte zu einem Gespräch bei mir der sind in letzter Zeit zwar degressiv gewesen, aber im- Vorstand der IG Bergbau. Vor 14 Tagen war der Vor- merhin 30 Jahre in Funktion, und ich weiß nicht, wo stand des Verbandes der deutschen Werftindustrie bei dann zeitliche Befristungen noch definierbar sind; ir- mir. Mit denen haben wir gesprochen, und das Ge- gendwo muß man sich, glaube ich, Gedanken ma- spräch wird fortgesetzt. Ich habe beiden gesagt chen, ob 100 Jahre, 50 Jahre oder vielleicht doch nur — auch den anderen Beteiligten —, daß Entscheidun- 10 oder 5 Jahre in Frage kommen — , auch wettbe- gen noch nicht definitiv getroffen sind; aber die Ver- werbsverzerrenden Charakter. mutung, die die alle haben, daß unter Subventionsab- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bau nicht ein Prozeß zu verstehen ist, bei dem sie der CDU/CSU) anschließend mehr bekommen, ist begründet. Das ist ja das Problem, mit dem wir uns unter den (Heiterkeit) Stichworten GATT und EG auseinanderzusetzen ha- Insofern verstehe ich den vorsorglichen Protest, der da ben. Das sind ja technisch klingende Beg riffe, wenn schon angemeldet wird, sehr gut. wir über die Regeln sprechen; aber dort ist festgelegt, wie solche staatlichen Eingriffe in den Markt auszu- Aber ich finde es nicht in Ordnung, wenn eine Or- gestalten, zu befristen, festzulegen sind. ganisation wie die IG Bergbau, die ich ansonsten für eine sehr vernünftige halte, wissend, daß wir heute das Gespräch haben, in den vergangenen Tagen mit Flugblattaktionen von Kahlschlagpolitik sprach. Das Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen ist nicht in Ordnung. Sie wissen ganz genau, daß es sowohl der Ruhrkohle — Stichwort: Optimierungs- Waltemathe? konzept — als auch Herrn Berger, dem Vorsitzenden der IG Bergbau — ich erinnere an seine Rede auf dem Bundesminister für Wirtschaft: Gewerkschaftstag der IG Bergbau — , als auch der Jürgen Möllemann, Bundesregierung um einen Abbau in einer Größen- Aber mit Vergnügen. ordnung geht, über die wir verhandeln müssen. Es geht um eine Reduktion der Fördermenge. Das ist überhaupt nicht umstritten. Ernst Waltemathe (SPD): Herr Bundesminister, Sie haben Ihre Rede damit angefangen, das Haus zu be- Was würden Sie eigentlich sagen, wenn ich Herrn schwören, doch auch zu sehen, daß wir in der EG sind, Berger oder der Ruhrkohle Kahlschlagpolitik vorwer- und das einzuhalten, was die EG verabredet. Im Zu- fen würde, nur weil die Mengen abbauen wollen? Das sammenhang mit dem Thema Subventionsabbau ist etwas, was ich auch will. Über die Größenordnung scheint das aber nicht ganz zu gelten; denn wenn wir müssen wir uns unterhalten — darüber sprechen wir uns erstens in diesem Hause einig sind, daß Subven- im Moment — , und zwar zuallererst unter dem Ge- tionsabbau ein Thema ist, über das man nicht nur sichtspunkt der Energiepolitik. spricht, sondern bei dem wir auch mitmachen wollen Ich habe Ihnen das Gesamtkonzept im Berliner und das dann zweitens auch organisieren und deshalb Reichstag vorgetragen. Das ist drei Wochen her. Jetzt mit Subventionen heruntergehen, drittens das nun stellen Sie sich hier so hin, als hätten Sie die Rede auch einhalten, was die EG beschlossen hat — wohl nicht gehört. Ich frage mich manchmal wirklich, ob nicht ohne Zutun der Bundesregierung — , und weit wir diesen rituellen Quatsch machen müssen. unter dem bleiben, was die EG zugelassen hat, finden Sie es dann noch redlich, einerseits zu sagen, wir seien (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht EG-freundlich genug, und andererseits zu sa- Herr Jung war dabei, als ich im Reichstag gesagt gen, wir wollten keine Subventionen abbauen? habe: Zum Oktober wird das energiepolitische Ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2129

Bundesminister Jürgen Möllemann Samtkonzept vorgelegt, wir arbeiten daran. Hier aber ein Gesamtkonzept einzufügen. Deswegen ist die De- sagen Sie: Machen Sie lieber Ihre Hausaufgaben, batte unvermeidlich auch insoweit neu zu führen. bringen Sie erst einmal ein Gesamtkonzept! Wir haben drittens den Zusammenhang, Herr Schä- Wir arbeiten daran, auch in diesen Gesprächen. fer, den ich vorhin nannte, nämlich daß wir die staat- Dabei wird die Frage nach dem Energiemix zu stellen lichen Finanzen mit einer ganzen Reihe neuer P riori sein, und zwar unter den Gesichtspunkten einer ko- -täten konfrontiert sehen. Wer Prioritäten finanzieren stengünstigen, sicheren und umweltfreundlichen will, muß in der Lage sein, zu sagen, wo er an anderer Energie sowie eines gemeinsamen europäischen Stelle sparen will, wenn er dem Bürger das Geld nicht Energiemarkts. zusätzlich abnehmen will. Meine Damen und Herren, wir werden uns inner- halb von zwei Jahren wundern, wir merkwürdig anti- Sie werden bis zum Herbst Geduld haben müssen. quiert bestimmte Debatten von vor zwei Jahren wir- Dann wird das Energiegesamtkonzept vorgelegt. Zu- ken werden, wenn nämlich um uns herum Anlagen- vor laufen die Verhandlungen mit der EG-Kommis- bauer Kraftwerke der verschiedensten Art errichten sion und mit den Beteiligten. und sagen werden: Diskutiert ihr in Deutschland ru- Auch der Vorsitzende der IG Bergbau und auch die hig noch drei Jahre, das intereressiert uns gar nicht Ruhrkohle haben signalisiert — ich wiederhole es —, mehr; wir liefern euch den Strom von außen! daß die Fördermengen reduziert werden müssen. Meine Damen und Herren, ich kann doch nichts dafür, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- daß die deutsche Steinkohle pro Tonne im Moment im statten Sie eine weitere Zwischenfrage? Schnitt 287 DM kostet, die Tonne Steinkohle auf dem Weltmarkt nur 97 DM. Die Differenz von 190 DM zahlt der Steuerzahler respektive der Stromkunde. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Nein. Ich möchte versuchen, einmal einen Ge- Da muß die Frage erlaubt sein, aus welchem Grund danken im Zusammenhang vorzutragen, obwohl- ich wir denn einen so hohen Anteil von rund 10 Milliar- Spaß an der Diskussion habe. — Aber wenn Harald den DM Subventionen teils aus dem Haushalt, teils Schäfer fragt, bitte! über den Kohlepfennig finanzieren sollen und ob es nicht möglich ist, einen neuen Kohlemix zu definie- Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Herr Mölle- ren. Das ist doch wohl nicht von der Hand zu wei- mann, gerade weil es in der Energiepolitik wie in kei- sen. nem anderen Bereich auf berechenbare langfristige (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rahmenbedingungen, auch was die staatlichen Vor- gaben angeht, ankommt: Haben Sie denn kein Ver- Letzter Punkt: Herr Bürgermeister — Herr Senats- ständnis dafür, daß sich angesichts auch dieser Tatsa- präsident — — Auch falsch? che die Menschen im Ruhrgebiet und im Saarland von der Bundesregierung schlichtweg verschaukelt füh- (Bürgermeister Klaus Wedemeier [Bremen]: len müssen, wenn vor der Wahl in einer wichtigen Das ist ganz falsch! — Harald B. Schäfer [Of- Frage künftiger Energiepolitik — nicht nur der Struk- fenburg] [SPD]: Herr Wedemeier! — Zuruf turpolitik, nicht nur der Sozialpolitik — exakt das Ge- von der FDP: Der andere heißt Grobecker!) genteil dessen zugesagt wurde, was uns nach der — Herr Wedemeier und ehemaliger Kollege Grobek- Wahl von Ihnen als Wortführer angekündigt wird? ker, Sie, Herr Wedemeier, hätten Ihre Rede — abge- sehen davon, daß sie kaum jemanden beeindruckt Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- hat — gar nicht zu halten brauchen, weil Sie von den schaft: Es ist einfach nicht wahr, was Sie hier sagen. Unternehmungen aus Bremen genau wissen, daß wir Durch solche Äußerungen, die die Leute hören und uns im Gespräch befinden. Sie wissen ferner, daß es sehen, wird die Stimmung, von der Sie sprechen, ge- um die Frage geht, wie die Werftenhilfe künftig ge- schürt. Das ist nicht in Ordnung. staltet werden soll. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie wohl nicht eine Heraufsetzung er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wartet, sondern möglicherweise auch eine degressive Ich darf es folgendermaßen darstellen. Sie heben ab Tendenz für möglich gehalten. Darüber wird im Mo- auf die Vereinbarung zwischen dem Kanzler und den ment gesprochen und verhandelt. Wir werden die beiden Ministerpräsidenten der Kohleländer: Zahlen, sobald wir uns festgelegt haben werden, pu- 40,9 Milliarden Tonnen bei der Verstromung. Diese blizieren. Vereinbarung ist unter dem Vorbehalt der Genehmi- gung durch die EG, und zwar sowohl beihilfemäßig Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine als auch kartellrechtlich, getroffen worden. Das wis- letzte Bemerkung. Ich bin gebeten worden, noch et- sen Sie ganz genau. was zu den Gesprächen mit der Sowjetunion zu sa- gen. Bei meinem letzten Besuch haben wir uns in zwei (Wolfgang Roth [SPD]: Könnte es sein, daß Punkten festgelegt. Der erste Punkt bet rifft die Tatsa- Sie da nachgeholfen haben?) che, daß die Sowjetunion bei den Firmen in den neuen Die Gespräche laufen. Bundesländern im Rahmen der besonderen Hermes Zweitens ist diese Vereinbarung zu einem Zeit- Konditionen nicht nur Waren für 9 Milliarden DM or- punkt getroffen worden, als die deutsche Energie- dern will — 6 Milliarden DM sind fest kontrahiert —, politik eine andere war, nämlich die der westdeut- sondern für 12 Milliarden DM. Das ist wichtig und schen Länder. Wir haben mittlerweile mehr Braun- wirkt sich auf die Beschäftigungssitution der Unter- kohle als Steinkohle in Deutschland. Das haben wir in nehmungen in den neuen Bundesländern aus. 2130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann Zweitens hat sich die Sowjetunion mit uns darauf und wie auch immer man sich das technisch vorzustel- verständigt, daß wir Auseinandersetzungen, wie wir len hat. sie kürzlich über den Bau von Wohnungen für die (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ich abziehenden Soldaten geführt haben, in Zukunft ver- habe nicht von „glitschig" gesprochen!) meiden wollen. Nach diesen Gesprächen kann ich hier ohne große Probleme sagen: Wir sind zuversicht- Verehrter Herr Kollege, ich habe mich in meinen lich, daß ein beträchtlicher Teil der zukünftig zu ver- Bemerkungen auf den Hinweis beschränkt, daß ich es gebenden Lose für Bauprojekte — die nächste Ent- für notwendig halte, die GATT-Verhandlungen durch scheidung über zehn Orte steht im Juli an — auf deut- den Abbau der Agrarexportsubventionen wieder flott- sche Unternehmen entfallen wird. Bei den ersten drei zumachen. Es gibt Nationen, die am GATT—System Projekten sind 50 % der Aufträge, die an deutsche beteiligt sind und deren einzige Einahmequelle die Unternehmen vergeben worden sind, an ostdeutsche Agrarprodukte sind. Diese Staaten wehren sich ver- Unternehmen vergeben worden. ständlicherweise dagegen, daß wir unsere teuren Agrarprodukte mit Mitteln der EG und mit nationalen Ich warne allerdings vor dem Trugschluß, daß ein Mitteln heruntersubventionieren. Das müssen wir in Auftrag an ein Unternehmen — wo auch immer in einem bestimmten Mindestumfang korrigieren, um Deutschland — automatisch zur Folge hätte, daß alle ihre Zustimmung zu einer neuen GATT—Vereinba- Beschäftigten, die an dem entsprechenden Baupro- rung zu bekommen. jekt mitarbeiten, aus Deutschland kommen. Das be- absichtigen weder die Unernehmen hüben noch die Die übrigen EG-Agrarreformvorschläge und auch Unternehmen drüben. Im Zweifel greifen alle Bewer- die nationalen bitte ich Sie herzlich mit Herrn Kolle- ber auf dieselben Bauarbeiter aus Bulga rien, der Tür- gen Kiechle, der, wie gesagt, ein exzellenter Agrarmi- kei und Rumänien zurück; denn sie sind zu anderen nister ist, zu erörtern. Konditionen zu haben, wodurch es den Unternehmen, Vielen Dank. die diese in ihre Angebotspalette integriert haben, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erlaubt ist, entsprechend niedrig anzubieten. Wir werden das Wettbewerbsverfahren nicht außer Kraft setzen, damit wir es schaffen, erstens kostengün- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich möchte die stig zu bauen und zweitens den Fahrplan einzuhal- Kollegen und Kolleginnen auf die Möglichkeit der ten. Kurzintervention aufmerksam machen — man muß nicht alles durch Zwischenfragen zu erledigen versu- chen — und den Herrn Bundeswirtschaftsminister Vizepräsidentin Renate Schmidt: Auch der Kollege darauf, daß ich nicht die Möglichkeit habe, ihm die Wieczorek darf noch eine Zwischenfrage stellen, ob- Redezeit zu kürzen, sondern daß er reden kann, so- wohl Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist. lange er will. Nun hat die Kollegin Elke Wülfing das Wort. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Ja, ist klar. Elke Wülfing (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren! Sehr geehrte wenige Damen! Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Minister, Seit dem 3. Oktober 1990 sind wir, glaube ich, alle bevor Sie uns unter den Fingern wegrinnen, möchte gemeinsam für die Schaffung gleicher Lebensver- ich ganz gern die Frage aufnehmen, die Sie Herrn hältnisse in ganz Deutschland verantwortlich, und Roth nicht beantwortet haben. Aus dem Kontext Ihrer zwar nicht nur wir Politiker, sondern alle Bürgerinnen Auffassung zum Subventionsabbau heraus sollte sie und Bürger unseres Landes. Als Politiker können wir aber noch einmal gestellt werden. Sie haben gesagt, hier nur die richtigen Weichen stellen, und ich glaube, staatliche Eingriffe in den Markt seien eines der we- das haben wir getan. Auch die SPD wird sicherlich sentlichsten Handlungskriterien für ihren Abbau. nichts dagegen sagen. Würden Sie mir unter diesem Gesichtspunkt noch ein- mal erläutern, wie Sie nicht als Landwirtschaftsmini- Mit Leben erfüllen müssen diese Einheit die Men- ster, sondern als derjenige Minister, der die Subven- schen selbst. Sie beteiligen sich ja auch ganz unter- tionen abbauen will und die staatliche Lenkung als schiedlich an diesem Vereinigungsprozeß: als Arbeit- einen Teil seines Abbaukonzeptes ansieht, die Land- nehmer, als Arbeitgeber, als Investoren, als Verwal- wirtschaft sehen? tungsbeamte, als Wohlfahrtsverbände, als Kirchen und natürlich auch als Treuhandmitarbeiter, vor allen Dingen aber auch als normale Steuerzahler. Letzteres Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- möchte ich hier wirklich einmal erwähnen; denn, ich schaft: Frau Präsidentin, Sie waren schon großzügig glaube, wir Politiker können uns auch bei den Steuer- genug, mir das jetzt nachzusehen. Ich werde versu- zahlern, die bereit sind, für diese Einheit zu zahlen, chen, diese Frage so zu beantworten, daß Sie nicht von hier aus durchaus einmal dafür bedanken, daß sie ungeduldig werden. das auch tun. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Legen (Beifall bei CDU/CSU — Wolfgang Roth Sie einen Zettel auf die Lampe; dann irritiert [SPD]: Wenn man es nicht macht, zahlt man sie Sie nicht so!) Bußgeld!) Gleichzeitig möchte ich bei Herrn Kollegen Wieczo- Statt ständig nach irgendwelchen Schuldigen für rek nicht das Gefühl wecken, daß ich ihm unter den diese vorübergehend schwierige Lage in den neuen Fingern wegrinnen will, was auch immer das heißt Bundesländern zu suchen, die natürlich nach Mei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2131

Elke Wülfing nung der Opposition hauptsächlich bei uns, nämlich Meine Damen und Herren, wir brauchen statt Indu- bei der CDU/CSU und bei der FDP, zu finden sind, strielenkungspolitik im Gegenteil noch mehr Ver- ständnis für marktwirtschaftliche Prozesse. Das ist (Beifall des Abg. Wolfgang Roth [SPD]) kein Manchester-Kapitalismus, wie der brandenbur- sollten wir vielmehr alle Anstrengungen unterneh- gische Ministerpräsident, Herr Stolpe, auf dem SPD- men, um Menschen zu ermutigen, noch mehr Hilfe in Bundesparteitag meinte. den neuen Bundesländern zu leisten, als es jetzt schon (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord passiert. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Überlebensfähig werden nämlich nur all diejenigen Betriebe sein, die marktfähige Produkte anbieten Wir haben hier in Bonn mit einem 100-Milliarden können. Das ist wirklich die wichtigste Voraussetzung DM-Programm von Investitionszulagen und -zuschüs- für die gute Entwicklung eines Bet riebs. Außerdem sen, mit Existenzgründungsdarlehen, mit Eigenkapi- müssen die Betriebe natürlich die Fertigung sehr talhilfeprogrammen, mit ERP-Krediten, mit dem ge- schnell modernisieren können, damit auch der An- samten Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und vor schluß an die Weltmarktpreise erreicht werden allen Dingen auch mit den Mitteln zur sozialen und kann. arbeitsmarktpolitischen Flankierung des schwierigen Bei aller Wertschätzung für die schwierige Arbeit Anpassungsprozesses die Weichen richtig gestellt. der Treuhand, die Enormes leistet, in dieser Situation (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig! bedarf es aber vielleicht doch eines gewissen Umden- Eine ganze Palette!) kens einiger Treuhand-Sachbearbeiter vor Ort, die bei der Berurteilung von Sanierungskonzepten den Wir brauchen keine planwirtschaftlichen Industrie- Aspekt der Marktfähigkeit von Produkten vielleicht lenkungspolitiken, wie dies die PDS hier zum Teil noch etwas stärker berücksichtigen sollten. Solche auf geäußert hat; auch bei Herrn Roth waren heute einige - dem Markt eingeführten Produkte gibt es in den Anklänge davon zu hören. Wir brauchen vielmehr — neuen Bundesländern in weit größerem Ausmaß, als da haben wir unsere Schularbeiten ja gemacht — In- manche vielleicht meinen. vestitionsanreize und vor allen Dingen das vorhin hier schon angesprochene Instrumenta rium der Gemein- (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) schaftsaufgab e zur Verbesserung der regionalen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Wirtschaftsstruktur, Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen, die jetzt von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Aber ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!) bin auch zuversichtlich, daß wir die Aufgabe schaffen mit dem wir ja auch in den alten Bundesländern für werden, die wir uns vorgenommen haben, nämlich die Ablösung von Monostrukturen gesorgt haben. den wirtschaftlichen und den sozialen Neuaufbau in Gerade diese Monostrukturen — das wissen alle die- den neuen Bundesländern zu leisten. Die Vorausset- jenigen, die aus dem Gebiet der ehemaligen DDR zungen sind gut. Sie könnten im Grunde gar nicht kommen, vielleicht noch besser als diejenigen, die besser sein. nicht von dort kommen — sind in den neuen Bundes- Die Wirtschaft in den alten Bundesländern ist auch ländern durchaus ein großes Problem. weiterhin — auch noch im ersten Quartal 1991 — auf Erfolgskurs. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ich komme selber aus einem Wahlkreis, der vor werden auch weiterhin alles Notwendige tun, um bei 20 Jahren noch eine Monostruktur mit Textilindustrie der Erhaltung und Beschaffung von Arbeitsplätzen und Landwirtschaft aufwies. In diesem Jahr sind wir mitzuhelfen. Ich kann Sie alle, die Oppositionsfraktio- aus der Gemeinschaftsaufgabe deswegen herausge- nen, hier nur auffordern, sich daran zu beteiligen, statt fallen, weil sich unsere Wirtschaft so diversifiziert und immer nur zu meckern. Stimmen Sie doch einfach so überdurchschnittlich gut entwickelt hat, daß wir dem Einzelhaushalt zu. diese Hilfe nicht mehr brauchen. Dies war mit der Gemeinschaftsaufgabe möglich, die wirk lich sehr Vielen Dank. viele Investoren zu uns gelockt hat. Es war aber auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch das Angebot an sehr vielen guten, jungen, tat- kräftigen Arbeitnehmern möglich. Ich möchte gerade auch auf diese Tatsache einmal hinweisen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Auch in den neuen Bundesländern werden neben Blunck, Sie haben das Wort. den Investitionsanreizen und der Gemeinschaftsauf- gabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschafts- struktur vor allen Dingen die gut ausgebildeten Ar- Lieselott Blunck (SPD): Herr Präsident! Meine sehr beitskräfte zusätzliche Investoren ins Land bringen verehrten Damen und Herren! Sie haben einen Dank und helfen, Monostrukturen zu beseitigen. an die Steuerzahler ausgesprochen. Ich denke, eine Entschuldigung wäre angebrachter gewesen. Den Vorteil, hier ein Arbeitskräftepotential zu ha- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste ben, das uns in den alten Bundesländern inzwischen — Zuruf von der CDU/CSU: Was sagen Sie fehlt, sollte man vielleicht bei der Werbung von Inve- denn da!) storen im In- und Ausland noch stärker herausstel- len. Denn für die abgeforderte Solidarität ist immer die Wahrheit Voraussetzung; und Sie beginnen die Ab (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr!) forderung der Solidarität mit einer Steuerlüge. Ich 2132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Lieselott Blunck denke, dafür wäre eigentlich die Entschuldigung Herrn Huber aus Passau oder von Herrn Bergmann dringend erforderlich. aus Erfurt. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Schmitz — Zuruf von der CDU/CSU: Na, na! — Hans aus Köln!) Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Eine Das Gebaren von Banken und Versicherungen ist un- echt billige Tour!) ser aller Problem und eben grenzenlos. — Sie wollen Ich will aber zur Verbraucherpolitik reden. Auch eine Frage stellen. dort wird der König Kunde sehr mies von Ihnen be- handelt. Im Wirtschaftsministe rium sitzt er nicht ein- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rossmanith, mal am Katzentisch. Beim Landwirtschaftsministe- bitte. rium wird er für eine verfehlte Agrarpolitik verant- wortlich gemacht. Lieselott Blunck (SPD): Ich hoffe, daß das nicht auf (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!) meine Redezeit angerechnet wird. Der Umweltminister benutzt ihn als Schutzschild, um von eigener Tatenlosigkeit abzulenken. Ich nenne da Vizepräsident Hans Klein: Natürlich nicht. nur das Stichwort „Abfallinfarkt" oder „Entsorgungs- infarkt". Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) : Frau Kollegin Öffentliche Anbieter wie die Post oder die Bahn Blunck, ich darf Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß kennen den Kunden nur dann, wenn es darum geht, eine Vereinbarung mit den Bundesländern besagt, ihm sehr unfreundlich in die Tasche zu langen. Der daß mit Ablauf dieses Jahres die Beiträge des Bundes Postminister spielt heute morgen im Rundfunk Ver- für die Verbraucherschutzverbände auslaufen, und braucherpolitik und Datenschutz gegeneinander aus. daß der Haushaltsausschuß und gerade die von Ihnen Ich sage auch nichts Neues, wenn ich die öffentlichen so sehr gescholtenen Koalitionsfraktionen, um den Anbieter wirklich anprangere, weil sie etwa- beim Ge- Verbraucherschutzverbänden und den Ländern eine stalten eines Fahrplans nicht an den Verbraucher, an Hilfe zu geben und die Mittel nicht so abrupt abzu- den Kunden, an die Kundin denken. schneiden, für die nächsten Jahre dennoch ein Aus- Ich kann beliebig fortfahren mit Versicherungen, laufen dieses Modells mit 80, 60, 40 und 20 % bereits mit Banken, — beim Ignorieren der Wünsche ist jeder im Haushalt 1991 festgeschrieben haben? vorn. Aber wenn es an das Kassieren geht, dann sind ( [FDP]: Woher soll die Dame alle da. Nur wenn es um die Verbraucherrechte geht, das denn wissen?) z. B. um Information, um Vertretung und Beratung, ziehen alle den Schwanz ein. Lieselott Blunck (SPD): Genau dagegen verwahre (Beifall bei der SPD) ich mich, denn es ist unsinnig, daß Sie die Verbrau- Der Haushalt 1991 ist ein verbraucherpolitisches cherpolitik nicht weiter ausbauen und mehr Geld da- Armutszeugnis. Klägliche 0,00015 % oder ein Sieben- für in die Hand nehmen. Statt dessen bauen Sie die tausendstel des Bundesetats ist der Bundesregierung entsprechenden Mittel ab. Damit kann man mitnich- der Verbraucherschutz wert oder — so müßte ich es ten einverstanden sein. wohl besser sagen — unwert. Aber auch dieses Tröpf- (Beifall bei der SPD) chen ist der christlich-liberalen Koalition offensicht- Herr Rossmanith, ab und zu zuhören ist auch eine lich zuviel. So sollen ab 1992 die Bundesmittel für die ganz schöne Sache. Verbraucherzentralen noch erheblich gekürzt wer- den. Vorgeschoben werden verfassungsrechtliche (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nein! Ich Gründe. Verbraucherzentralen beraten angeblich nur hätte Sie ja nur fragen wollen, ob — — ! ) individuell und regional begrenzt. Der Wirtschaftsmi- nister kramt dazu eine völlig veraltete Stellungnahme Vizepräsident Hans Klein: Moment, Herr Kollege. — aus dem Jahre 1976 hervor. Seine Argumente halten Wenn Sie eine weitere Zusatzfrage stellen wollen, einer Überprüfung überhaupt nicht stand. dann müssen wir die Kollegin fragen, ob sie bereit ist, (Zustimmung bei der SPD) sie zu beantworten. Die Beratung der Verbraucherzentralen, die Schwer- punktaktionen bis hin zur Verbandsklage und die Lieselott Blunck (SPD): Aber nicht, wenn mir hier Gesetzgebung auf Bundes- und auf EG-Ebene spre- noch eine Minute verlorengeht. chen dagegen. Ich will auch ein Beispiel dafür anfüh- ren. Vizepräsident Hans Klein: Nein, nein. — Ansonsten können Sie als Fragesteller keinen Kommentar abge- ben. Wollen Sie noch eine Frage stellen? — Frau Kol- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten legin, sind Sie bereit, die Frage zu beantworten? Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith? Lieselott Blunck (SPD) : Ja. Lieselott Blunck (SPD): Ich darf diesen Satz noch zu Ende bringen; dann gerne. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) : Herr Präsident und Beispielsweise Hormone im Fleisch sind nicht nur Frau Kollegin, ich bedanke mich ausdrücklich. — Ich das Problem von Herrn oder Frau Jensen aus Pinne darf Sie fragen, ob Ihnen des weiteren bekannt ist, daß berg, sondern genauso das Anliegen von Frau oder der Verbraucherschutz Aufgabe der Länder ist und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2133

Kurt J. Rossmanith daß sich der Bund bisher nur — ich möchte fast sa- Wir machen einmal eine gemeinsame Lese gen — auf freiwilliger Basis daran beteiligt hat. stunde im Keller!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Verfassungsge richtsurteil!) Lieselott Blunck (SPD) : Das ist eine gute Idee. (SPD): Dies sollte er nicht nur wei- Lieselott Blunck Viele Verbraucher und Verbraucherinnen, vor al- terhin freiwillig machen, sondern er sollte endlich er- lem in den fünf neuen Bundesländern, sind von der kennen, daß es seine Aufgabe ist. In der Ernährungs- sogenannten Sozialen Marktwirtschaft bitter ent- beratung erkennt er dies ja auch an. täuscht. Verbraucherpolitik könnte helfen, die So- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Dann müs ziale Marktwirtschaft glaubwürdiger zu machen. sen Sie die Verfassung ändern!) Aber dazu bräuchten wir eben eine andere, eine vor- — Nein, ich muß nicht die Verfassung ändern, son- sorgende, eine aktive Verbraucherpolitik. Das ist eine dern Sie dürfen die Gründe nicht gerade so herholen, gesamtwirtschaftliche Aufgabe. Dazu muß der Bund wie es Ihnen paßt, sondern Sie müssen bitte schön ein einmal ordentlich Geld in die Hand nehmen, anstatt bißchen nach Recht und Ordnung verfahren. sich aus fadenscheinigen Gründen des Rotstiftes zu (Beifall bei der SPD) bedienen. Ich lobe mir die Mitglieder des Wirtschaftsausschus- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber an ses, die insgesamt dem kw-Vermerk, dem Vermerk: fangs haben Sie kritisiert, daß wir zuviel Geld künftig wegfallend, nicht zugestimmt haben, und ausgeben!) zwar im Gegensatz zu den Haushältern — es tut mir Ich möchte noch einmal die Zahlen nennen, damit leid, Herr Rossmanith, denn Sie sind sonst so ein ange- das klar wird: Im Wirtschaftshaushalt geht es um nehmer Mensch —, 14,5 Milliarden DM, und wir streiten uns im Augen- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) blick um 9,7 Millionen DM. Wir streiten uns also um - die, wie Sie, die Notwendigkeit der Verbraucherbera- zwei gutplazierte Lottogewinne, und dies zum Scha- tung erst gar nicht richtig erkannt haben. den vieler Millionen Bürgerinnen und Bürger in den neuen und den alten Ländern. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, es gibt ein (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ weiteres Begehren nach einer Zwischenfrage des Kol- CSU]: Das sind aber hohe Gewinne, Frau legen Hinsken. Kollegin! — Zuruf von der CDU/CSU: Einen solchen Lottogewinn hätte ich gerne!) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Kollegin Blunck, Im übrigen — ich gehe noch einmal auf Ihre Argu- ist Ihnen bekannt, daß es ein diesbezügliches Urteil mentation ein — zweifelt der Wirtschaftsminister bei des Bundesverfassungsgerichts gibt, wonach das, was der Existenzgründungsberatung nicht an der alleini- Verbraucherschutzverbände leisten und was finanzi- gen Bundeskompetenz. ell zu unterstützen ist, und zwar staatlicherseits, eine reine Aufgabe der Länder und nicht des Bundes ist? (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aha!) Man holt sich eben die Begründungen he rvor, die man Lieselott Blunck (SPD): Sie müßten dieses Gerichts- gerade gut gebrauchen kann. urteil bitte noch einmal genau nachlesen. Es ist nicht (Zustimmung der Abg. Ingrid Matthäus- im Hinblick auf Verbraucherberatung ausgesprochen Maier [SPD] — Zuruf von der SPD: Richtig worden. Ich werde es Ihnen gerne zuschicken. Dann widerlich!) erkennen Sie, daß es zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind und daß es mitnichten die Bundesfinan- Das Lavieren macht u. a. deutlich: Es sind eben zierung der Verbraucherzentralen berührt. nicht die hehren verfassungsrechtlichen Grundsätze, die der Bundesregierung die Hände binden; es fehlt in Herr Hinsken, nun habe ich Sie gerade so gelobt. diesem Zusammenhang vielmehr schlicht der politi- Warum machen Sie diesen Schlenker? Er zeigt doch sche Wille. nur, daß Ihnen dieses Gerichtsurteil nicht in allen Ein- zelheiten bekannt ist. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! — (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist zu billig, CSU]: Ich bin ja gefragt worden! — Herr Prä Frau Kollegin!) sident, da ich gefragt worden bin, sei mir So reiht sich denn die Kürzung der Bundesmittel gestattet, eine Antwort zu geben!) auch nahtlos in die bisherige verbraucherpolitische Untätigkeit der Kohl-Regierung ein. Gesetzliche Re- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hinsken, gelungen zum Verbraucherschutz beschränkten sich selbst wenn die Antwort in Frageform gekleidet ist, schon in den letzten Jahren auf die unvermeidbare beginnt damit kein Dialog. Wenn Sie eine weitere Umsetzung von EG-Vorhaben. Dabei wurden nicht Zwischenfrage stellen und die Antwort vielleicht in einmal vorhandene Spielräume zugunsten der Ver- die Frage einbauen wollen, dann muß die Kollegin braucher genutzt. In nur allzu schlechter Erinnerung Blunck zustimmen. sind uns das Verbraucherkreditgesetz, die Novellie- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich möchte nur rung des Versicherungsrechtes und die Produkthaf- feststellen, daß ich davon ausgehen muß, daß tung. Auf eigene verbraucherpolitische Initiativen die Frau Kollegin Blunck das Urteil nicht wartet man bei dieser Regierung vergeblich. richtig gelesen hat! — [SPD]: (Zuruf von der SPD: Wohl wahr!) 2134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Lieselott Blunck Auch in der neuen Legislaturperiode hat Minister dung von Schaden Vorrang vor der nachträglichen Möllemann darin Kontinuität bewiesen. Reparatur erhalten. (Zuruf von der SPD: Wo ist denn Mölle (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith mann) [CDU/CSU]: Das gilt auch für die SPD!) Er hat wirklich keine Gelegenheit außer acht gelas- Gestern war der Tag der Umwelt. Der Schutz der sen, um seine Abneigung gegen den Verbraucher- Umwelt ist die Überlebensfrage der Menschheit. schutz unter Beweis zu stellen. In den Koalitionsver- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig, einbarungen fand sich kein Wort zur Verbraucherpo- das wird nicht bestritten!) litik. Das ist uns allen bekannt. Umweltschutz und Ver- (Zuruf von der FDP: Doch!) braucherschutz gehören untrennbar zusammen, (Beifall bei der SPD — E Unser Antrag auf Errichtung eines Unterausschus- rnst Hinsken [CDU/ ses „Verbraucherpolitik" wurde erst wochenlang ver- CSU]: Das ist zweierlei!) schleppt und schließlich mit fadenscheinigen Begrün- und sie liegen im ureigensten Interesse der Wirtschaft. dungen abgelehnt. Als Krönung kommt nun die Kür- Es ist Aufgabe der Wirtschaft, Produkte zu entwik- zung der Haushaltsmittel. Auf einen Nenner gebracht keln, die diese Ansprüche erfüllen. lautet die Devise des Verbraucherschutzes Marke Berücksichtigt werden muß der gesamte Lebens- christlich-liberal: Kein Konzept, kein Verbraucher- weg einer Ware mit all seinen Auswirkungen auf an- ausschuß, kein Geld. dere Bereiche bis hin zur Entsorgung. Es ist Aufgabe Dabei sind vorbeugende Verbraucherschutzmaß- der Bundesregierung, hierfür die notwendigen Vor- nahmen und eine umfassende Verbraucherpolitik schriften zu erlassen. Dabei müssen die marktwirt- notwendiger denn je. In den fünf neuen Bundeslän- schaftlichen Instrumente genutzt werden: Verbrau- dern ist eine umfassende Aufklärung dringend- erf or- cherfreundliche Angebote müssen belohnt, verbrau- derlich, um wenigstens den schlimmsten Auswüchsen cherschädliche Güter müssen verteuert werden. der Marktwirtschaft à la Wildost zu begegnen. Le- (Rudi Walther [SPD]: Sehr gut!) bensmittel und Trinkwasser sind mit Schadstoffen be- lastet. Die Hersteller müssen die Verantwortung für die Schäden übernehmen, die durch ihre Produkte verur- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo sie recht hat, sacht wurden und werden. hat sie recht!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag Auch bei Gebrauchsgegenständen werden Rückwir- mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]) kungen auf Gesundheit und Umwelt immer deutli- Funktionierende Marktwirtschaft, funktionieren- cher, seien es Putz- und Waschmittel, seien es Holz- der Wettbewerb sind ohne eine starke Nachfrageseite schutzmittel, sei es Abfall. Die Industrialisierung der undenkbar. Wenn es Minister Möllemann mit der Lebensmittelproduktion nimmt zu. Wir werden uns Marktwirtschaft ernst meint, muß er die Konsumenten alle noch wundern, was nach dem 1. Januar 1993 auf und Konsumentinnen in die Lage versetzen, ihre uns zukommt. Es werden immer mehr Zusatzstoffe in Marktwirtschaft, ihre Rolle als Marktgegengewicht im den Lebensmitteln sein. Es wird neue Konservie- Rahmen des Wettbewerbs tatsächlich auszuschöp- rungsmethoden und Produktionsverfahren geben; fen. das geht bis hin zur Gentechnik. Von allen wissen wir eigentlich überhaupt nicht, wie sie langfristig wirken (Beifall bei der SPD — Ing rid Matthäus werden. Maier [SPD]: Das ist Ludwig Erhard! — Ge genruf des Abg. Josef Grünbeck [FDP]: Jetzt Verbraucherschutz bei Dienstleistungen ist ein haben Sie etwas von Wettbewerb gehört! Fremdwort. Darauf habe ich gewartet!) Große Sorgen bereitet die Ver- und Überschuldung Voraussetzung sind eine sichere Finanzierung und wachsender Bevölkerungskreise, und kaum einer fin- eine angemessene Ausstattung der Verbraucherinsti- det sich im Paragraphendschungel von Versiche- tutionen im Bund, in den Ländern sowie auf der inter- rungsbedingungen und Bankkonditionen zurecht. nationalen Ebene. Es ist eben Aufgabe des Bundes, Der europäische Binnenmarkt ist geradezu zum Sym- die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Veranke- bol für die Mißachtung von Verbraucherinteressen rung des Verbraucherschutzes als Pflichtaufgabe mit geworden. einer entsprechenden finanziellen Ausstattung zu schaffen. Die Zeiten, in denen die Verbraucher und Angesichts dieser Probleme ist die Streichung der die Verbraucherinnen mit dem letzten Krümel unter Bundesmittel für die Verbraucherzentralen ein Schritt dem Tisch abgespeist werden, müssen endgültig pas- in die falsche Richtung. Sie ist konzeptionslos, und sie sé sein. ist verantwortungslos. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li (Beifall bei der SPD) ste) Gebot der Stunde ist eine Stärkung des Verbraucher- schutzes und eben die konsequente Durchsetzung des Vorsorgegedankens. Entsprechend dem Motto Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem „Vorbeugen ist besser als Heilen" muß die Vermei Abgeordneten Hansjürgen Doss. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2135

Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kollegen, die Schlammschlacht kann nicht auf Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Weil wir Dauer Maßstab der politischen Auseinandersetzung nicht wollen, daß die Verbraucher wie die Krümel sein. unter dem Tisch angesiedelt sind, haben wir uns nach (Beifall bei der CDU/CSU) sorgfältiger Beratung entschlossen, daß wir keinen Unterausschuß einrichten wollen, sondern daß Ver- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Doss, ge- braucherpolitik Teil der Ausschußarbeit ist. Sie haben statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten jederzeit Gelegenheit, diese Themen zur Sprache zu Matthäus-Maier? bringen, weil sie so wichtig sind. Das Umgekehrte ist richtig. Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Es ist mir eine große (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Freude. Lieselott Blunck [SPD]: Deswegen kürzen Sie auch die Mittel!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege, da es Sie offensichtlich immer sehr trifft, wenn wir von Steu- Wenn Sie erlauben, würde ich eine zweite Vorbe- erlüge sprechen: Wollen Sie dann wenigstens die merkung machen. Ich sage Ihnen, daß ich darüber Meinung der Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis betroffen bin, als „Steuerlügner" bezeichnet zu wer- nehmen, die bei einer Infas-Umfrage vom letzten den. Samstag die Frage beantworten konnten: Ist der Vor- (Volker Jung [Düsseldorf] [SPD]: Zu Recht!) wurf der Steuerlüge gerechtfertigt? Und die laut Infas Ich weiß nicht, wie das mit Ihrem persönlichen Ehrge- zu 72 % mit Ja geantwortet haben? fühl ist. — Herr Jung, Sie meinen „zu Recht" . — Das (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Sug macht mich betroffen. gestivfrage!) Wollen Sie mir zweitens zustimmen, daß Ihre Bemer- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Gut so!) - kung, Lügen habe etwas mit Wissen oder Nichtwissen Bei einer so weitgehenden Aussage muß die Betrugs- zu tun, deswegen eine Ausflucht ist, weil kein Thema absicht da sein. vor der Bundestagswahl so hin und her, vor und zu- rück und nach rechts und nach links gewendet wurde (Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD] und Abg. wie dieses Thema, nachdem ich Sie ab September Wolfgang Roth [SPD] melden sich zu einer darauf aufmerksam gemacht hatte: Seien Sie vorsich- Zwischenfrage) tig; Sie laufen genau wie der Herr Bush in Amerika in — Eine Sekunde Geduld. Ich kann mir vorstellen, daß eine Steuerlüge, Sie das, was ich sage, aufregt. Es ist eben die Qualität (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Zwi meiner Aussagen, die Sie dazu bringt. schenfrage?) (Rudolf Bindig [SPD]: Wenn Sie die Unwahr so daß Sie sich nicht mit Nichtwissen herausreden heit gesagt haben, waren Sie zu dumm!) können, sondern daß vielmehr festgestellt werden Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen das wirklich muß, daß bewußt so gehandelt wurde, — — einmal sehr deutlich sagen. Frau Kollegin Blunck, es (Zuruf von der CDU/CSU: Fragezeichen!) hat Ihnen wieder gefallen, zu sagen: Wir lügen. — Sie haben das auch ununterbrochen auf den Lippen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Zwi- schenfrage, kein Redebeitrag! (Beifall bei der SPD) Jetzt möchte ich gern einmal fragen: Was ist dann das, Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. — Finden Sie was der Herr Jung hier von sich gegeben hat? Sie nicht auch, daß es nichts mit einer Schlammschlacht, haben Wahlkämpfe bestritten, in denen Sie gesagt sondern mit Ehrlichkeit zu tun hat, hier zu sagen, daß haben: Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie. — Sie einfach die Unwahrheit gesagt haben? Sie haben sogar Zeiten vorgegeben. Dann stellt sich (Beifall bei der SPD) der Herr Jung hier hin und sagt: Über die Dauer der Nutzung der Kernenergie lassen wir mit uns reden. Hansjürgen Doss (CDU/CSU) : Die Situation ist für Das ist ehrenwert. Ich bin auch der Meinung, daß wir Sie durch diesen Beitrag nicht besser geworden. uns gegenseitig zugestehen müssen, daß man ein biß- chen schlauer wird. Dies gilt insbesondere in der Zeit (Lachen bei der SPD) des revolutionären Prozesses, in der wir gegenwärtig Das ist der hilflose Versuch der Begründung einer Dif- leben. Sie haben die Wahlen in Rheinland-Pfalz mit famierungskampagne. der Diskriminierung der Union durch diesen Lügevor- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Also, hilflos wurf gewonnen. Ich bin der Meinung, es muß jetzt bin ich nicht!) endlich einmal Schluß sein damit. — Ich weiß nicht. — Diese Diffamierungskampagne (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der hat allerdings gewirkt. Wenn ich so etwas mit einem SPD) Kompliment versehen soll, so kann ich Ihnen bestäti- gen, daß es Ihnen gelungen ist, daß 72 % der Bevöl- Unsere Mitbürger wenden sich ob des Umgangs, den kerung der Auffassung sind, die Union habe vor der wir miteinander pflegen, mit Schaudern ab. Wahl in einer ganz bestimmten Frage mit Absicht die (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jürgen Rütt Unwahrheit gesagt, nämlich in der Frage: Brauchen gers [CDU/CSU]: Die Lüge mit der Lüge muß wir eine Steuererhöhung oder nicht? Ich halte dies für aufhören!) unangemessen. 2136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Hansjürgen Doss Vor dem Hintergrund der Aussage des Kollegen zuwenig öffentliche Mittel eingesetzt zu haben oder Jung sage ich Ihnen noch einmal: Sie sind in Wahl- dann zuviel, wie Frau Matthäus-Maier beklagt hat. kämpfe gezogen und haben gesagt, Sie würden aus Wegen dieser vordergründigen parteipolitischen Dis- der Nutzung der Kernenergie aussteigen. Dann er- kussion wird unseren aufmerksam zuschauenden klärt Herr Jung: Über die Dauer der Nutzung der Mitbürgern in den fünf neuen Bundesländern der Ein- Kernenergie lassen wir mit uns reden. Damit haben druck vermittelt, als ob die schnelle Herbeiführung Sie vor der Wahl etwas anderes gesagt als nach der vergleichbarer Lebensbedingungen lediglich mit Wahl. Dann ist dies die Energie-Lüge. Wie um Him- staatlichem Handeln verbunden sei. melswillen soll das weitergehen, wenn wir in dieser Qualität miteinander umgehen! (Zuruf von der SPD) — (Beifall bei der CDU/CSU) Aber selbstverständlich. Vielleicht haben Sie neben der Diskriminierung des Dies verschleiert die eigentlichen Ursachen, ver- politischen Gegners auch noch ein paar Argumente schweigt die zahlreichen Erfolge des beginnenden vorzubringen, mit denen Sie Wahlkämpfe bestreiten Aufschwungs und lenkt von der Notwendigkeit pri- können. Ich halte diese Art der Auseinandersetzung vatwirtschaftlichen Handelns ab. Wenn sich die Kol- für ausgesprochen unappetitlich. legen in der Opposition darauf beschränken, die schmerzhaften Einschnitte und die unvermeidbaren (Beifall bei der CDU/CSU — Jutta Braband Härten des revolutionären Prozesses — und es ist ein [PDS/Linke Liste]: Sehr interessant!) revolutionärer Prozeß — zu beklagen, muß man da- — Ich habe altmodische Ehrbegriffe. Dies will ich hinter Methode vermuten. gerne zugeben. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß es in den Wir beraten heute den ersten gesamtdeutschen neuen Bundesländern auch zunehmend wirtschaftli- Haushalt, der Grundlage und Voraussetzung für den chen Aufschwung gibt! Selbst ADN — die sind ja wirtschaftlichen Aufschwung in den fünf- neuen Bun- nicht gerade CDU-nah — kam gestern nicht umhin, desländern ist. Er ist Grundlage einer weiterhin soli- auf breite Investitionsschübe hinzuweisen. Ich nenne den und sparsamen Finanzpolitik für Gesamtdeutsch- drei davon stellvertretend: Ein deutsch-italienisch- land. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den französisches Ölkonsortium investiert in Schwedt an Aufschwung in der ehemaligen DDR durch die So- der Oder 1,5 Milliarden DM. Alle Unternehmensgrup- ziale Marktwirtschaft sind nunmehr gegeben. Wir le- pen von Mannesmann sind in der Zwischenzeit in den sen und hören immer öfter, daß die vorhandenen fünf neuen Bundesländern. Bosch beschäftigt dort in Möglichkeiten, neue Betriebe zu gründen, alte zu- der Zwischenzeit rund 4 000 Mitarbeiter. kunftsfähig zu machen und neue Arbeitsplätze zu Ein persönlicher Freund von mir, ein Mittelständler schaffen, von Unternehmen und Unternehmern zu- von echtem Schrot und Korn, ein Bäckermeister, der nehmend genutzt werden. Jetzt gilt es, über die bis- Zukunft hat — — herigen Ansiedlungs- und Investitionserfolge hinaus nationale wie internationale Unternehmen zu ermuti- (Zuruf von der SPD: Der Hinsken! — Heiter gen, Arbeitsplätze zu schaffen, insbesondere aber die keit) Menschen in den fünf neuen Bundesländern zu ermu- —Nicht der Hinsken. Den Hinsken brauchen wir hier: tigen, sich selbständig zu machen. Der hält Sie in Schach. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Erneute Heiterkeit) Ein breiter wirtschaftlicher Mittelstand ist die Grund- Die Firma Griessen baut in Jena eine der modern- lage für eine florierende Wirtschaft und für eine frei- sten Backwarenfabriken in ganz Europa. heitliche Gesellschaftsordnung. (Lieselott Blunck [SPD]: Aber das ist ein Um die Freiheit zu zerstören, ist der Mittelstand in Tropfen auf den heißen Stein!) der ehemaligen DDR gezielt vernichtet worden. Kon- sequenz waren die wirtschaftliche Stagnation auf dem — Frau Blunck, aber diese vielen Tropfen sind es. Niveau der 50er Jahre, die Entmündigung der Bürger Nicht anders kann es gehen. und die Unfreiheit. Dieser Bäckermeister hat sich bei mir gemeldet und Die Lehre aus dem weltweiten Scheitern des Sozia- hat gesagt — Sie müssen sich das einmal überlegen — : lismus ist: Es gibt keinen Ersatz für die Soziale Markt- Bei der dortigen Behörde, bei der er vorstellig gewor- wirtschaft. Es gibt aber auch keinen Ersatz für die den sei, um eine Baugenehmigung zu erhalten, habe Ehrlichkeit in der Beurteilung der Volkswirtschaft und man ihm gesagt, man brauche keine Wessis. Wir ha- deren Ursachen beim Niedergang in den fünf neuen ben dann den zuständigen Kollegen gebeten. Er hat Bundesländern, und es gibt keinen Ersatz für einen sich eingeschaltet und das in Ordnung gebracht. Aber berechtigten Optimismus, der bekanntermaßen un- so ist das. verzichtbar ist, der sozusagen Voraussetzung für un- In Brandenburg hat sich ein mir bekannter Immobi- ternehmerisches Handeln ist. lienmakler bemüht, eine Immobilie mit dem Hinter- In dieser Situation lädt die SPD große Verantwor- grund zu erwerben, daß dort eine Versicherungsge- tung auf ihre Schultern, indem sie — auch in dieser sellschaft Platz greifen sollte. Er hat gesagt, es ent- Haushaltsdebatte — die Illusion verbreitet, daß vor stünden 90 Arbeitsplätze. Man hat ihn mit dem Hin- allem staatliches Handeln die Probleme lösen könnte, weis abgewiesen, das seien viel zu wenig; man habe indem sie die Bundesregierung diskreditiert, zu spät, eine Arbeitslosenquote von — ich weiß das nicht mehr zu früh, zu schnell, zu zögerlich gehandelt zu haben, ganz genau — 12 %. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2137

Hansjörgen Doss Meine Damen und Herren, da gibt es natürlich auch zu machen, brauchen wir jetzt Mutmacher statt Mies- alte Seilschaften, Unverstand und sonstiges, gegen macher, Handwerker statt Mundwerker. was da zu kämpfen ist, sowie vordergründige Vor- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Vor allem schläge. Ehrlichkeit!) (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Wenn die SPD schon keine hilfreichen Konzepte hat, [PDS/Linke Liste]) dann sollte sie wenigstens aufhören, dem Sanitäts- trupp in Sachen wirtschaftlicher Aufschwung fort- — Daß ausgerechnet Sie meinen, hier Ihre Stimme während Knüppel zwischen die Beine zu werfen. erheben zu müssen, wo wir über die Misere reden, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie zu verantworten haben, finde ich schon berner- kenswert. Ich bedanke mich, auch für Ihre lebhafte Kommen- tierung meiner Ausführungen. (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich spreche da, wo ich es für richtig halte!)

Was uns schmerzt, ist, daß Sie nicht mit uns zusam- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- men die Verantwortung tragen, daß wir nämlich den che. Menschen in den fünf neuen Bundesländern die Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Wahrheit sagen, daß das Aufdecken nicht mehr ren- Einzelplan 09, Geschäfsbereich des Bundesministers tabler Arbeitsplätze und nicht mehr funktionieren- für Wirtschaft, in der Ausschußfassung? — Wer stimmt der Betriebe sein muß und daß das ein schmerzhafter dagegen? — Enthaltungen? — Meine Damen und Prozeß ist. Herren, der Einzelplan 09 ist mit großer Mehrheit an- genommen. (Widerspruch bei der SPD — Ingrid Mat thäus-Maier [SPD]: Sie und Wahrheit! — Weitere Zurufe von der SPD) - Ich rufe auf: Einzelplan 16 — Ich weiß nicht, wenn das Ihr Niveau ist! Geschäftsbereich des Bundesministers für Um- Der evangelische Theologe Professor Helmut Thie- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit licke hat einmal gesagt: Um ein Haus zutreffend zu — Drucksachen 12/516, 12/530 — beschreiben, darf man sich nicht ununterbrochen im Berichterstatter: Keller aufhalten. — Ich möchte Sie auffordern: Kom- Abgeordnete Hans Georg Wagner men Sie die Treppe hoch, gucken Sie einmal in die Michael von Schmude Werkstatt! Sie funktioniert in großen Teilen schon. Ina Albowitz Wir sind dabei, dieses Teildeutschland einzurichten. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Zuruf von der CDU/CSU: Aber dann wür die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Er- den sie doch von ihren Vorurteilen befreit! hebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Das geht doch nicht! — Gegenrufe von der Fall. Dann ist das so beschlossen. SPD) Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hans Georg Wagner. — So ist es. — Mit Defätismus und mit Ihrer unent- wegten Schwarzmalerei, meine lieben Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie Hans Georg Wagner (SPD): Herr Präsident! Meine den Menschen die Hoffnung und damit den Anreiz sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich ist es zum Einsatz und zur Leistung. sehr schade, daß die — — Unser Handeln setzt konsequent auf die Fortset- zung des wirtschaftlichen Aufschwungs und deshalb Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Abge- auf die Förderung und auf den Ausbau mittelständi- ordneter! — Ich hätte wohl der Form halber vorhin scher Strukturen in den neuen Ländern. Das belegt noch sagen müssen: „Ich eröffne die Aussprache." eindrucksvoll dieser Haushalt im Einzelplan 09, Das ist hiermit geschehen. meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich erspare es Ihnen, daß ich jetzt alles vortrage, was an Segens- Hans Georg Wagner (SPD): Ich wiederhole das auch reichem darin enthalten ist; denn das ist nachlesbar. gern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Ich habe mich ja verführen lassen, mehr mit Ihnen zu eigentlich schade, daß wir den Haushalt des Bundes- diskutieren. umweltministers nicht gestern diskutiert haben. Ge- stern war nämlich der Tag der Umwelt. Ich bin der Meinung, daß die erfolgreiche Politik der Bundesregierung Hilfen erst möglich gemacht hat. (Beifall bei der SPD und der FDP — Ina Albo- Wir werden die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in witz [FDP]: Da haben Sie recht!) den alten Ländern erhalten, und wir schaffen die Vor- Es hätte sich angeboten, eine Bilanz dessen zu ziehen, aussetzungen für den Aufbau einer leistungsfähigen was Herr Töpfer in dem vergangenen Jahr bis zu die- Wirtschaft in den neuen Ländern. Die ordnungspoliti- sem „Tag der Umwelt" alles versprochen, angekün- schen Grundlagen und das Geld der vielfältigen För- digt und zugesagt hat, und dies dem Haushaltsent- derungsmaßnahmen stehen zur Verfügung. Um dar- wurf 1991 gegenüberzustellen. Dann hätte sich sehr aus einen dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung schnell ergeben, daß kein anderer Einzelplan hin- 2138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Hans Georg Wagner sichtlich des Anspruchs und der Wirklichkeit so weit aus „Figaros Hochzeit" herumtanzen. Da heißt es ja: auseinanderklafft. Töpfer hier, Töpfer da, oben, unten, hinten und vorne, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jutta Bra- überall in der Welt. Nur dort, wo er gebraucht wird, nämlich hier zur Lösung der Probleme, ist er meistens band [PDS/Linke Liste]) nicht. Die Tatsache, daß dieser Haushalt nur einen Ge- samtanteil von 0,33 % am Gesamtbundeshaushalt (Zuruf von der CDU/CSU: Nun kommen Sie darstellt und dies auch in den nächsten Jahren weiter- doch einmal zur Sache!) hin so sein wird, bedeutet für mich dreierlei, erstens, Sie fuhren in die Golfregion. Er ist zurückgekom- daß Herr Kohl seinerzeit dieses Ministe rium aus- men und hat festgestellt: Da brennen die Ölfelder, schließlich aus Reklamegründen geschaffen hat, um was wir aus dem Fernsehen längst wußten. Aber er der aufgeschreckten Bevölkerung nach Tschernobyl mußte sich vor Ort überzeugen. Nur, er war nicht in entsprechend entgegenzukommen, Kuwait, sondern in einem Nachbarland. Genau das- selbe ist in Brasilia geschehen. Was das Schönste ist: (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das glau Jetzt, Herr Minister, waren Sie in Moskau und haben ben Sie doch selber nicht!) dort, wie ich gestern gelesen habe, die Sicherheitsbe- aber keine Substanz dazugegeben hat, um aus dem denken der Franzosen und der deutschen Regierung Ministerium das eine oder andere zu machen. gegenüber den Kernreaktoren der Sowjetunion dar- Der zweite Punkt ist, daß man in Europa nach den gestellt. Abwesenheitslisten des Herrn Töpfer hier und seinen (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Klaus Reisen in alle Welt mittlerweile zur Kenntnis genom- W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Ist das men hat, daß wir ein Umweltministerium haben. falsch?) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Finden Sie Herr Kollege Töpfer, dies ist lobenswert; denn wir das eigentlich intelligent, was Sie da sa wissen ja alle, daß Tschernobyl immerhin in der So- gen?) - wjetunion liegt. Aber Sie hätten genauso gut einmal Der dritte Punkt ist, daß das Festhalten an den alten Ihren französischen Kollegen darauf ansprechen kön- Ressortzuständigkeiten ihn gar nicht in die Lage ver- nen, wie die Sicherheitsrisiken bei den Kernreakto- setzt, das umzusetzen, was er verkünden darf, weil die ren in Frankreich, etwa von Cattenom vor unserer anderen Damen und Herren auf dem Geld sitzen und Haustüre, sind, Herr Minister. es nicht herauslassen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Dieser Tage war zu lesen, daß auch der Super-Phénix Es ist schon schlimm, daß Herr Minister Töpfer stän- sicherheitsgefährdet ist. Diese Anlage liegt westlich dig ankündigen darf. Für konkrete Ausführungen ist von uns. Bei Westwind ist der Bet rieb mindestens ge- er leider nicht zuständig. Jüngstes Beispiel ist die von nauso gefährlich wie Reaktoren in der Sowjetunion. Herrn Blüm vorgelegte Asbestverordnung. Es gibt Ich habe gelesen, daß Sie wohl gestern erklärt ha- eine ganze Serie von Dingen, die andere Minister ben, daß Sie, was ja auch nicht verwerflich ist, in Bit- machen dürfen. Aber der inhaltlich eigentlich zustän- terfeld gewesen sind. Heute hat hier ein Kollege schon dige Umweltminister darf dies nicht. Er ist also, Herr einmal gesagt, der Bundeskanzler und der Außenmi- Kollege, auf die Funktion eines reinen Ankündi- nister hätten sich in Bitterfeld ziemlich aus dem Fen- gungsministers reduziert. Vor einiger Zeit hat eine ster gehängt, was eigentlich gesundheitsschädlich ist. Zeitung ein sehr schönes Bild veröffentlicht, wo Herr Aber auch Sie waren gestern in Bitterfeld und haben Töpfer vor Litfaßsäulen steht und selbst beklagt — das dort wieder Versprechungen gemacht, ohne einmal wird ihm so in den Mund gelegt — : Viel zu wenig eine einzige konkrete Zahl zu nennen, wie Sie den Klebeflächen und Litfaßsäulen — das ist mein Pro- Menschen in dieser Region tatsächlich helfen wollen. blem bei den Ankündigungen. So ist es in der Tat. Das Ankündigen und Versprechen haben sie völlig satt, Herr Minister Töpfer. (Beifall bei der SPD) Weil auch die Koalition dies erkannt hat, hat sie (Beifall bei der SPD) unseren Antrag abgelehnt, der eine Reduzierung der Sie haben den Leuten so viel Hoffnung gemacht. Mittel für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesumwelt- Am 20. Februar 1991 wurde berichtet: Töpfer legt ein ministers vorgesehen hat; denn in der Öffentlichkeits- Umweltprogramm für Ostdeutschland vor, 17 Milliar- arbeit ist eine Aktion, eine Großflächenplakataktion, den aus Förder- und Kreditmitteln. Wenn man sich geplant. Nun könnte ich als saarländischer Sozialde- den Haushalt ansieht, dann stellt man fest, daß das mokrat natürlich sagen: Meine Damen und Herren, genau 400 Millionen DM im Jahre 1991 und 400 Mil- warum nicht? Ich habe im Saarland ja zwei Großflä- lionen DM im Jahre 1992 sind. Jetzt frage ich Sie, Herr chenaktionen des Herrn Töpfer erlebt. Nach jeder Minister Töpfer: Wie kommen Sie eigentlich zu diesen Aktion hatte die CDU 5 % weniger und die SPD 5 horrenden, sicherlich begrüßenswerten Summen, mehr. Wenn das bundesweit zu verteilen wäre, wäre wenn davon nirgendwo im Bundeshaushalt etwas das eine auch von uns durchaus akzeptierte Öffent- wiederzufinden ist, zunächst einmal was die Größen- lichkeitsarbeit. ordnung angeht. Deshalb sage ich: Sie sind auch in dieser Frage nichts anderes als ein reiner Ankündi- (Beifall bei der SPD) gungsminister. Ich habe oftmals den Eindruck, Herr Meine Damen und Herren, es drängt sich der Ein- Kollege Töpfer, daß Sie mittlerweile gemerkt haben, druck auf, Herr Kollege Töpfer, daß Sie so wie Figaro daß die Koalition Sie, was Kompetenzzuordnung an- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2139

Hans Georg Wagner geht, einfach hängen läßt. Wie anders sollte ich mir sion genannt worden, daß man Greifswald und Sten- die mutige Kritik an der verfehlten Strategie der CDU dal über neue Reaktoren wieder aufbereiten solle. Ich erklären, die Sie neulich im Saarland geübt haben? meine, als jemand, der sich der deutschen Steinkohle Sie haben gesagt, es müsse eine neue Strategie zur ja zumindest ein bißchen verbunden fühlen müßte, Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Ch rist- aus bestimmten Gründen heraus, müßten Sie sich lich Demokratischen Union gefunden werden. Das doch stärker gegen den weiteren Ausbau der Kern- kann ja nur aus einer Frustration Ihrer Person entstan- energie wenden und sich für umweltfreundliche den sein. Wenn sich ein Minister getraut — ich sage Steinkohlekraftwerke, aber vor allem für erneuerbare das einmal echt saarländisch — , eine Äußerung dieser Energien und für Energieeinsparung einsetzen. Art zu machen, seinem Kabinettschef ins Gesicht zu Mich bekümmert, daß es Ihnen nicht gelungen ist, sagen, daß die Strategie falsch ist, ist das schon Mut Ihren Kollegen Riesenhuber etwa davon zu überzeu- zum Risiko, zumindest in diesem Bereich. gen, daß man die Forschungsmittel für erneuerbare Meine Damen und Herren, was die Energiepolitik Energien einmal kräftig anheben sollte, und den Anteil für die Umwelt angeht, habe ich ja (Beifall bei der SPD) eben schon einmal einen Punkt genannt, nämlich die Sicherheit der Kernkraftwerke in Frankreich. Aber damit dabei auch wirklich etwas herauskommt. Für auch ein anderer Aspekt ist zu bedenken. - Herr erneuerbare Energien ist im Haushalt von Herrn Rie- Minister Töpfer, Sie haben von der CO2-Abgabe ge- senhuber die Summe von 288 Millionen DM vorgese- sprochen. Sie ist noch nicht sichtbar, aber schon des hen. Für Kernenergie sind aber 1,3 Milliarden DM öfteren verteilt worden. Die Frage ist: Warum sind Sie vorgesehen. Wie will dann die FDP — Herr Mölle- nicht in der Lage, einmal konkret die Kosten der mann hat das eben vertreten — oder wie wollen an- Kernenergie pro Kilowattstunde auszurechnen, die dere von Ihnen glaubwürdig darstellen, daß Sie wirk- Kosten der Entsorgung, die Kosten der Entwicklung lich den Ausstieg aus der Kernenergie wollen, daß Sie auf den Grundpreis der Kernenergie drauf zurechnen, umweltverträgliche Energien einsetzen wollen, wenn um so einmal einen echten Vergleichspreis zur- Stein- diese Summen nicht umgetauscht werden und wenn kohle zu bekommen? erneuerbare Energien nicht stärker gefördert werden als die Kernenergie? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Sie wissen ja, daß jeder kleine Grubenschaden auf den Kohlepreis draufgerechnet wird. Ich frage Sie: Wo Allein in Ihrem Haushalt, Herr Minister Töpfer, ste- werden denn die Ölschäden an der Cote d'Azur, im hen 500 Millionen DM für diese Zwecke zur Verfü- Mittelmeer oder in Kuwait oder sonstwo in der Welt gung, davon aber wiederum 395 Millionen DM für die auf den Mineralölpreis draufgerechnet, um so auch Endlagerung radioaktiver Abfälle. Also auch dort einmal Wettbewerbsgleichheit herzustellen? nichts, was erneuerbare Energien angeht, was den Ausbau von Fernwärmeversorgungssystemen angeht, (Beifall bei der SPD) was Energieeinsparungsmaßnahmen angeht und und Dann, meine Damen und Herren, sieht unsere Kohle und. Alles das ist nicht zu finden. Sie begnügen sich gar nicht so schlecht aus, wie das hier diskutiert mit dem, was man Ihnen als Zubrot im Bundeshaus- wird. halt zuordnet. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es modern- Dabei ist es, was die Kernenergie angeht, noch viel ste Kraftwerke auf der Basis der Kraft-Wärme-Kopp- dramatischer, als das allgemein dargestellt wird. Sie lung geben kann, mit großen Umweltschutzmaßnah- wissen genausogut wie ich, daß nach einer Auskunft men, bei denen die CO2-Belastung wesentlich gerin- des Bundesamts für Strahlenschutz bis zum Jahre ger ist. 2000 170 000 m 3 Atommüll bei uns lagern, 170 000 m3 verstrahltes Mate rial, wobei es weltweit Von Ihnen, Herr Minister, habe ich bisher nichts noch nicht ein einziges als unbedenklich geltendes zum Mineralöl gehört, obwohl Mineralöl an der CO2 Endlager für diese Dinge gibt. Da kann man doch Produktion mit fast 50 % beteiligt ist. Das ist sehr hoch. nicht auch nur gedanklich für den weiteren Ausbau Aber dabei redet niemand darüber, echte Kosten zu sein! ermitteln und auch dort einmal zu einer Reduzierung zu kommen, wie wir Sozialdemokraten das schon seit (Beifall bei der SPD) Jahren fordern. Man muß vielmehr versuchen, sofort dieses Spiel zu Sie — nicht Sie, Herr Minister — haben ja eine Mi- beenden, so schnell wie möglich die Energieversor- neralölsteuer eingeführt, allerdings mit der falschen gung der Bevölkerung aus alternativen Energiearten Richtung. Wir Sozialdemokraten wollen auch eine sicherzustellen. stärkere Belastung der Energie und des Mineralöls, Ich frage Sie allen Ernstes: Wo bleibt Ihre ethische aber mit dem Ziel, damit Umweltschutzinvestitionen Verantwortung auch für künftige Generationen? Es zu finanzieren, darf doch nicht so sein, daß man den künftigen Gene- rationen nur ein strahlendes Gefahrenpotential hin- (Beifall bei der SPD) terläßt, sondern man muß auch für die künftigen Ge- und nicht mit dem Ziel, den Haushalt zu konsolidie- nerationen heute Verantwortung tragen. Alles andere ren, wie Sie sich das vorgenommen haben. wäre verantwortungslos. Sie, Herr Minister, haben neulich in einer Fernseh- Die Organisation des Umweltschutzes bedarf mei- sendung gesagt: Es gibt kein „Weiter so" in der Kern- ner Ansicht nach einer Konzentration in einem Res- energie. — Trotzdem ist auch von Ihnen in der Diskus- sort, wenn das wirkungsvoll als Querschnittsaufgabe 2140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Hans Georg Wagner betrieben werden soll. Die Zersplitterung der Kompe- Koalition hat Ihnen, Herr Minister, das verweigert, tenzen ist eine bewußte Irreführung der Öffentlich- was Sie eigentlich gewollt und öffentlich verkündet keit. Man tut so, als würde die ganze Bundesregierung haben. an nichts anderes denken als an die Umwelt, weil (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ jeder Minister ein bißchen damit zu tun hat. Aber die CSU]: Quatsch! — Liselott Blunck [SPD]: Konzentration und der wirkungsvolle Einsatz der Mit- Nein, das stimmt!) tel ist dadurch nicht zu erreichen. — Das ist in der Tat so. Ich denke, an das Programm Der Philosoph Hans Jonas hat uns alle ermahnt, zur Sanierung grenzüberschreitender Flüsse und zur Bewußtsein für die Welt, in der wir leben, zu entwik- Rettung von Nord- und Ostsee haben Sie alles, was keln. Das Prinzip Verantwortung gilt für die Wirt- Töpfer verkündet hat, abgeblockt. Es ist nun einmal schaft, für Produzenten, für Konsumenten und für die so; die Drucksachen liegen vor. Politiker. Ein wesentlicher Teil der Verschmutzung von Nord- Über zwei Jahrhunderte sind die Menschen mit der und Ostsee kommt bekanntlich über die Flüsse. Des- Erde umgegangen, als gäbe es tausend Ersatzerden halb wäre es schon notwendig, daß der Bau von Klär- irgenwo zu kaufen. Wir brauchen den Frieden mit der anlagen vorangetrieben würde. Aber auch da Fehlan- Natur jetzt. Sonst beginnt die Natur, uns den Frieden zeige im Bundeshaushalt. aufzukündigen. Sie hat damit schon begonnen, wenn (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ich verschiedene Katastrophen in den letzten Jahren CSU]: 800 Millionen für den Gewässerschutz richtig einzuordnen versuche. in der ehemaligen DDR, ist das nichts?) Der Haushalt des Bundesumweltminister bietet Ich will jetzt nicht mehr über kleinräumige, auf das keine Lösungsansätze für das Meistern der ökologi- Land bezogene Projekte diskutieren und auch nicht schen Herausforderungen in allen deutschen Bundes- mehr auf die von der internationalen Kommission zwi- ländern, auch in den neuen. Es nützt nichts, nur An- schen Frankreich und Deutschland vereinbarte Sanie- kündigungen zu machen, sondern man muß auch ver- rung der Saar und der Mosel in Höhe von 50 Millionen suchen, in konkrete Poli tik hineinzugehen; denn öko- DM eingehen. Denn das könnte so gedeutet werden, logische Politik bedeutet umwelterhaltende ord- als wenn ich Sie als Neu-Saarländer in einer bestimm- nungspolitische Regelungen und Gesetze sowie ten Art und Weise ansprechen wollte. Das will ich marktkonforme Energiepreise unter Einrechnung der nicht tun. Ich weiß, Sie haben sich mit dem Programm realen Umweltkosten des Energieverbrauchs. ohnehin nicht durchgesetzt, und will Ihre Schmerzen Die Situation in den neuen Bundesländern ist äu- in diesem Bereich nicht noch verstärken. ßerst betrüblich; Sie haben sich gestern in einem be- Die Bundesregierung hat viele internationale Zusa- stimmten Gebiet selber davon überzeugen können. gen in vielen Konferenzen gegeben und sie bisher Durch Altlasten und durch andauernde Umweltzer- nicht realisiert. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch die störungen sind viele Gebiete als Ansiedlungsstand- Koalition sich entschließen könnte, beim Haushalt orte wenig attraktiv geworden und bedürfen der Sa- 1992 Anspruch und Wirklichkeit etwas einander an- nierung. Das geht nicht von alleine. zunähern. Dann könnten wir alle, glaube ich, mit dem saarländischen Bergmannsgruß sagen: Glückauf für Wie einer Meldung von heute zu entnehmen ist, die Natur. kommt neu hinzu, daß jetzt auch zwei sehr große radioaktiv verseuchte Seen entdeckt worden sind, die (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ natürlich neue Probleme aufwerfen werden, auch bei GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ der Finanzierung. Es wird dort von etwa 17 Milliarden Linke Liste) für die Sanierung gesprochen. Wer auch für die neuen Bundesländer etwas tun will, der muß für eine schnelle und effektive Sanie- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- rung der Umwelt und durch eine umweltverträgliche ordnete Michael von Schmude. und leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur für attrak- tive Standortbedingungen sorgen. Das zentrale Ele- ment vorsorgender Umweltpolitik ist die ökologische Michael von Schmude (CDU/CSU): Herr Präsident! Erweiterung des Steuer- und Abgabesystems; ich Meine Damen und Herren! Ich habe von dem Kolle- habe das eben am Beispiel der Mineralölsteuer schon gen Wagner eigentlich erwartet, daß er sich mit dem einmal verdeutlicht. Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit sachlich auseinander- Ich meine, daß der Energieverbrauch ein Umsteu- setzt ern der Energiepolitik erfordert. Sie sind dazu nicht in der Lage und wohl auch nicht bereit. (Zuruf von der SPD: Das hat er getan!) Überfällig ist ein Programm zur Sanierung grenz- und nicht den untauglichen Versuch unternimmt, mit überschreitender Flüsse zur Rettung von Nord- und einem Rundumschlag ins Leere über all das hinweg- Ostsee. Ich erinnere mich daran, mit welcher Verve zugehen, was im Haushaltsausschuß bei den Beratun- und mit welchem großen Engagement sich der Um- gen zwischen den Berichterstattern völlig unstrittig weltminister hinstellte, als die Nordsee verschmutzt war. war, und sagte, jetzt müsse sofort ein Nordsee-Pro- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [FDP]: Er hat gramm her, und all diese Dinge. Wir haben das in Herrn Töpfer als „Leere" bezeichnet! Das ist Anträgen im Fachausschuß zusammengefaßt, und die ein starkes Stück!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2141

Michael von Schmude Im Haushaltsausschuß haben die Sozialdemokraten Wir haben Konzepte erarbeitet und angefangen zu drei Anträge — ganze drei Anträge! — zum Umwelt- handeln. haushalt gestellt; das war es dann auch schon. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Völlig kon Auf der Grundlage der von mir erwähnten Be- zeptionslos, die SPD!) standsaufnahme hat der Bundesumweltminister be- — Aber natürlich. Die Begleitmusik sieht ein bißchen reits 1990 500 Millionen DM für über 600 Sofortmaß- anders aus. Das ist auch kein Wunder; denn unsere nahmen in den neuen Ländern bereitgestellt und Umweltpolitik, meine Damen und Herren, in den al- auch ausgezahlt. Damit wurden unmittelbare Gefah- ten Bundesländern war erfolgreich und beispielhaft. ren für die Gesundheit der Bevölkerung, vor allem bei der Trinkwasserversorgung, abgewendet. Diese Hilfe (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) hat darüber hinaus etwa 50 000 Arbeitsplätze abgesi- Jetzt stehen wir vor der Frage: Wie werden wir den chert bzw. neu geschaffen. völlig neuen Herausforderungen der Umweltpolitik in (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) den neuen Bundesländern gerecht? Es erweist sich als nützlich, daß wir uns bereits seit Jahren um Gemein- Eine entscheidende Voraussetzung für die Verwirk- schaftsprojekte mit der früheren DDR bemüht ha- lichung unserer umweltpolitischen Vorhaben ist de- ben. ren Finanzierung. Herr Kollege Wagner, man macht es sich zu einfach, wenn man hier nur die nackte Zahl (Beifall des Abg. Peter Harry Carstensen des Umwelthaushalts nimmt und ins Verhältnis zum [Nordstrand] [CDU/CSU]) Gesamtetat des Bundes setzt. Die Bestandsaufnahme der Umweltsituation in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neuen Bundesländern setzte bereits vor Verwirkli- chung der deutschen Einheit ein. Das Ergebnis dieser Allein die direkt dem Geschäftsbereich des Bundes- Inventur zeigt uns, mit welchen Dimensionen- wir es ministers für Umwelt zugeordneten Haushaltsmittel bei dieser Hinterlassenschaft zu tun haben. wachsen in eine Größenordnung von 1,7 Milliarden DM auf; darin enthalten ist auch das Gemeinschafts- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) werk Aufschwung Ost. Noch 1990 betrug der Etat 1,078 Milliarden DM. Der Anstieg beträgt 56 %. Ganz Dennoch, sage ich, sind Panikmache oder hektischer besonders hervorzuheben ist der Anstieg der Mittel Aktionismus nicht die richtigen Rezepte, und auch der für den Umweltschutz in den übrigen Resso rts. Den von Herrn Engholm vielgepriesene Reiz der Langsam- Kommunen steht für Umweltinfrastrukturmaßnah- keit wäre hier fehl am Platze. men ein großes Kreditprogramm zur Verfügung, ins- (Liselott Blunck [SPD]: Das ist ein sehr ver gesamt 22 Milliarden DM. Die Gemeinschaftsaufgabe kürztes Zitat, und Sie wissen das, Herr einschließlich der EG-Strukturmittel bringt noch ein- Schmude!) mal 4 Milliarden DM, und aus der Gemeinschaftsauf- gabe Agrarstruktur und Küstenschutz kommen noch Die Folgen des verantwortungslosen Umgangs mit einmal 800 Millionen DM dazu. der Natur lassen sich nicht von heute auf morgen beseitigen. Kurzfristig gilt es Umweltschutzsofortmaßnahmen in den Bereichen Trinkwasserversorgung, Abwasser- (Liselott Blunck [SPD]: Man muß anfan entsorgung, Luftreinhaltung und Abfallbeseitigung gen!) zu finanzieren. Um so wichtiger ist jetzt die von Bundesumweltmi- In großer Einmütigkeit hat der Haushaltsausschuß nister Klaus Töpfer vorgelegte Konzeption einer na- über den Regierungsentwurf hinaus durch Einspa- tionalen Solidaritätsaktion ökologischer Aufbau. Wir rung an anderer Stelle weitere 12 Millionen DM für wollen das Ziel, die Verwirklichung der Umweltein- das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost bereitge- heit, schnellstmöglich, aber in realistischen Teilschrit- stellt, so daß der Bundesumweltminister nun über ins- ten erreichen. Dringender Handlungsbedarf ergibt gesamt 412 Millionen DM aus diesem Programm 1991 sich bei folgenden Maßnahmen: Sanierung von 196 verfügen kann. der insgesamt 12 250 bisher festgestellten Altlastflä- chen, Untersuchung der Verdachtsflächen aus dem Wir alle wissen aus der Erfahrung der letzten Mo- militärischen Bereich der NVA und der Sowjettrup- nate, daß es mit der Bereitstellung von Geld allein pen, im Elbeeinzugsgebiet Bau bzw. Sanierung von 35 nicht getan ist. Was nützt uns Termingeld auf Konten, kommunalen und 24 industriellen Kläranlagen, im meine Damen und Herren! Jetzt gilt es, die Umset- Ostseebereich und im Einzugsbereich von Oder und zung dieser Finanzmittel voranzutreiben. Gerade Neiße Bau von 27 Kläranlagen, Neubau von 6 200 km auch im Umweltbereich kommt es darauf an, und Sanierung von weiteren 5 000 km Hauptsammler, schnellstmöglich planerische Voraussetzungen zu Altanlagensanierung bei 278 bisher erfaßten Groß- schaffen und personelle Hilfestellung zu gewährlei- feuerungsanlagen und Sanierung von 6 735 luftver- sten. Dabei müssen wir auch die Kapazitäten in der unreinigenden Anlagen entsprechend der TA Luft. Wirtschaft realistisch einschätzen. Dem zügigen Mit- Dies alles, meine Damen und Herren, kann nicht so- telabfluß kommt nämlich auch aus arbeitsmarktpoliti- fort in Ordnung gebracht werden. schen Gründen eine große Bedeutung zu. Hier ist es vor allem die von der Bundesregierung beschlossene (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber Förderung der Umweltschutzsofortmaßnahmen, von anfangen!) der eine belebende Wirkung auf den gewerblichen 2142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Michael von Schmude Mittelstand ausgeht, der sich im Osten Deutschlands interessante Vorschläge für eine bessere Zusammen- neu gebildet hat. arbeit mit den sowjetischen Stellen unterbreitet. Die langfristige Finanzierung von Sanierungsmaß- (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ nahmen in den neuen Bundesländern wird durch die GRÜNE]: Und was ist mit den amerikani Einführung einer Abgabe auf Abfälle, wie sie von der schen? — Arnulf Kriedner [CDU/CSU] zu Bundesregierung jetzt vorgesehen ist, mitgetragen; Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ das gleiche gilt für den Einsatz des Aufkommens aus GRÜNE] gewandt: Die haben solche Sau- der CO2-Abgabe. Hier dürften insgesamt etwa 10 Mil- ereien nicht hinterlassen!) liarden DM Finanzmittel jährlich zur Verfügung ste- In der Tat, eine enge Zusammenarbeit ist dringend hen. vonnöten. Es muß unter allen Umständen vermieden Darüber hinaus kommt es darauf an, daß auch in werden, daß beim Truppenabzug nicht mehr benö- Zukunft privates Kapital für den Umweltschutz mobi- tigte Materialien sozusagen in der freien Natur ent- lisiert wird. sorgt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit welcher Mentalität man an diese Dinge heran- geht, wird schon erkennbar, wenn man die ersten von Daß dies möglich ist, wissen wir inzwischen. So sind den Sowjets geräumten Kasernen sieht. allein durch die TA Luft Investitionen in einer Größen- ordnung von 35 Milliarden DM veranlaßt worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hier ist zwar fast alles besenrein übergeben worden. (Monika Ganseforth [SPD]: „Arbeit und Um- Aber dafür ist auch alles, bis zum letzten Wasserhahn, welt" ! ) bis zum letzten Klosettbecken, demontiert und ausge- Der SPD-Kollege Schäfer hatte in diesem Zusam- schlachtet worden. menhang Anfang Ap ril angekündigt, daß die Sozial- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: So ist es!) demokraten bei den Haushaltsberatungen- beantra- gen wollten, zusätzliche Mittel für die Umweltsanie- Effektiver Umweltschutz, meine Damen und Her- rung in Höhe von 5 Milliarden DM zur Verfügung zu ren, läßt sich nur verwirklichen, wenn auch in der stellen. Bevölkerung ein breites Umweltbewußtsein vorhan- den ist. Angesichts dieser Binsenwahrheit bleibt es (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ist ge- völlig unverständlich, Herr Kollege Wagner, daß die schehen!) SPD auch in diesem Jahr Mittelkürzung im Bereich — Herr Kollege Schäfer, im Haushaltsausschuß ist ein der Aufklärung auf dem Gebiet des Umweltschutzes solcher Antrag nicht gestellt worden. fordert. (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das kann ja wohl nicht angehen!) CSU]: Hört! Hört! — Harald B. Schäfer [Of fenburg] [SPD]: Er ist abgeschmettert wor 1989 hatten wir in diesem Haushaltstitel 16,8 Millio- den!) nen DM. Im Wahljahr 1990 fuhr die Bundesregierung den Titel auf 11,9 Millionen DM herunter. Dafür hät- Offensichtlich hat auch die SPD inzwischen erkannt, ten Sie sich bei der Bundesregierung eigentlich be- daß für neue Ausgabenwünsche nicht nur Deckungs- danken müssen, daß im Wahljahr ein solcher Rück- möglichkeiten erforderlich sind, sondern daß Haus- gang zu verzeichnen war. 1991 gehen wir nun auf haltspläne zur Makulatur werden, wenn die Finanz- 19 Millionen DM, weil wir vor allen Dingen 3,1 Millio- mittel in der Praxis gar nicht umgesetzt werden kön- nen DM für die neuen Bundesländer zur Verfügung nen. stellen müssen. Dieses Geld ist angesichts des drin- (Beifall bei der CDU/CSU) genden Informationsbedürfnisses in den neuen Län- dern besonders gut angelegt. Insgesamt entfallen Es ist nämlich absolut unmöglich, alle Altlastenflä- 42,5 % des Umwelthaushaltes auf die neuen Bundes- chen sofort zu sanieren. Notwendig ist, daß die Unter- länder. suchungen eingeleitet werden, daß dann eine P riori -tätenfolge bestimmt wird und daß bestimmte Flächen Ich möchte zwei Maßnahmen hervorheben. Auf der vorläufig gesichert werden. Das ist unser Konzept. kurz vor Rügen gelegenen Insel Vilm soll eine inter- nationale Naturschutzakademie eingerichtet werden. Das Verursacherprinzip, meine Damen und Herren, Dieses 100 ha große Kleinod unter den Naturschutz- wird auch weiterhin Richtschnur unseres umweltpoli- gebieten wurde in der DDR vom Staatsratsvorsitzen- tischen Handelns bleiben müssen. Für die Altlasten in den Honecker für p rivate Urlaubszwecke mißbraucht den neuen Bundesländern hilft uns dieser Grundsatz und für Außenstehende hermetisch abgeriegelt. Wir in der Praxis allerdings wenig. Ein schlimmes Beispiel machen jetzt aus dieser ehemaligen Bonzeninsel ein dafür ist die umweltpolitische Konkursmasse der Wis- vorbildliches Naturschutzgebiet. mut AG; die Sowjets haben uns dies hinterlassen. Hier — wie in vielen anderen Fällen — ist der Staat gefor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dert, weil weder die noch existierenden Bet riebe noch Meine Damen und Herren, diese Rückwandlung dient gar neue Erwerber oder Kaufinteressenten bereit sind, auch der politischen Hygiene, meine ich. derartige Lasten zu tragen. Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich umfaßt Bezüglich der Altlastenbeseitigung auf sowjeti- den Gewässerschutz. Wir begrüßen die Bereitschaft schem Militärgelände hat der Bundesumweltminister des Bundesministers für Umwelt, nach erfolgreichem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2143

Michael von Schmude Abschluß von MARPOL, dem Demonstrationsvorha- folgreich bleibt. Wir von der Union stimmen dem ben der Schiffsentsorgung in den alten Bundeslän- Haushalt des Bundesumweltministers gerne zu. dern, nun auch Mecklenburg-Vorpommern zu helfen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um Entsorgungsinfrastrukturen aufzubauen. Hilfen für laufende Kosten, wie sie die SPD forde rt, wünscht weder das Land Mecklenburg noch können wir es Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Jutta vertreten; denn die Zuständigkeiten des Bundes für Braband, Sie haben das Wo rt . laufende Kosten sind hier überhaupt nicht gegeben.

Mehr als die Hälfte der Verschmutzung von Nord- Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! und Ostsee wird durch die Schadstoffzufuhr der Meine Damen und Herren! In dieser Haushaltsde- Flüsse verursacht. Deswegen nehmen wir uns dieses batte wird eindringlich klargemacht, wie die politi- Gebietes besonders an. Ich erwähne hier vor allem schen Auseinandersetzungen der letzten Monate, ins- auch die Elbe-Sanierung. Die Elbe ist der schmutzig- besondere über Fragen von Abrüstung und Frieden, ste Fluß in Deutschland und gehört auch zu den Fragen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen schmutzigsten Flüssen in Europa. Kahlschlags im Osten dieses Landes und des Umwelt- Die Forderung des saarländischen Ministerpräsi- schutzes in der gesamten Bundesrepublik, eben nicht denten Lafontaine, in diesem Zusammenhang nun in einer anderen Verteilung des Haushalts, in einer auch noch gleich Bundesmittel für die Saar-Mosel- grundsätzlich anderen Herangehensweise ihren Aus- Sanierung bereitzustellen, so wie Sie sie wiederholen, druck finden. Nicht nur von mir, sondern auch von Herr Kollege Wagner, entlarvt den Trittbrettfahrer. vielen anderen Kolleginnen und Kollegen der gesam- Das sind absolut unerwünschte Nebeneffekte. Die ten Opposition wurde mehrmals darauf hingewiesen, Abwasserbeseitigung fällt grundsätzlich in den Zu- daß es ständigkeitsbereich der Länder. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na, na!) — hören Sie doch mal zu — , wenn diese unsere Welt erhalten bleiben soll, nötig ist, von der bisher staatlich Herr Kollege von Vizepräsident Hans Klein: sanktionierten Wegwerf- und Verschwendungssucht Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage? radikal abzurücken und gemeinsam nach anderen Wegen zu suchen. Hans Georg Wagner (SPD): Herr Kollege von Daß diese Bundesregierung daran nicht interessiert Schmude, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, ist, belegt dieser Haushalt genau. Statt Arbeit wird daß dies ein gemeinsamer Antrag der ehemaligen Arbeitslosigkeit finanziert, statt Abrüstung werden CDU/FDP-Regierung aus Rheinland-Pfalz und des der Golfkrieg und der Aufbau der Bundeswehr im Saarlandes im Bundesrat war und dort die einstim- Anschlußgebiet finanziert. mige Zustimmung des Bundesrates gefunden hat und (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Unerhört!) daß dies auf dem Beschluß einer internationalen Kom- Statt Müll zu vermeiden, wird die Müllflut des We- mission beruht, wonach diese Mittel zur Verfügung zu stens in den Osten exportiert. stellen sind. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Statt das Sero-Altstoffsammelsystem zu subventionie- Michael von Schmude (CDU/CSU): Die Bundesre- ren, werden Müllverbrennungsanlagen installiert. gierung hat hier eine klare Kompetenz, und diese Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen, aber ich haben wir abzugrenzen. Ich sage noch einmal, Herr möchte an Hand des Haushaltsplans des Bundesmini- Kollege Wagner, die Abwasserbeseitigung fällt aus- schließlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder. sters für Umwelt noch auf einige besonders eklatante hinweisen. Wenn wir den neuen Bundesländern in dem Bereich Verletzungen der Elbe-Sanierung und auch im Bereich der Werra- Bei näherem Hinsehen wird offensichtlich, daß viele Entsalzung helfen, so tun wir das aus der Gesamtver- der beim BMU eingestellten Titel eigentlich in den antwortung für den Wiederaufbau des Umweltschut- Bereich Forschung und Technologie gehören, beson- zes in den neuen Bundesländern. Hier heißt es für die ders im Bereich Strahlenschutz und Reaktorsicher- alten Bundesländer zu verzichten, um zu teilen. heit. Von den 181,9 Millionen DM für Forschungsmit- tel im Umweltministerium sind allein 78,1 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DM für Untersuchungen im Bereich Strahlenschutz Allein das Saarland, meine Damen und Herren, erhält und Reaktorsicherheit vorgesehen. jährlich 112 Millionen DM aus der Strukturhilfe, die (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ auch für diese Zwecke verwendet werden könnte. CSU]: Das ist doch richtig und gut!) Wenn man aber im Saarland andere Prioritäten setzt, Die Intention der Bundesregierung ist verständlich: dann darf man natürlich die Verantwortung für unter- Einerseits wird der Haushalt des Bundesministers für lassene Dinge nicht auf den Bund abwälzen. Forschung und Technologie entlastet, andererseits (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird der Eindruck erweckt, in diesem Jahr würden Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Bewälti- besonders viele Mittel für den Umweltschutz zur Ver- gung der gesamtdeutschen Zukunftsaufgabe Um- fügung gestellt. weltschutz kommt es entscheidend darauf an, daß (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ unsere Soziale Marktwirtschaft nach 9jähriger bei- CSU]: Sie wissen doch, wie das Ministe rium spielloser Aufwärtsentwicklung auch in Zukunft er- heißt, oder nicht?) 2144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Jutta Braband Ich berücksichtige dabei sehr wohl, daß Atomgesetz der Wiederverwertung zugeführt wurden, ist zusam- und Strahlenschutzverordnung dem BMU Aufgaben mengebrochen. Nach Ansicht der Bundesregierung zum Schutz der Menschen vor radioaktiver Strahlung ist es unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingun- zuschreiben. Dies begründet jedoch nicht den erheb- gen nicht funktionsfähig. lichen Umfang der vorgesehenen Mittel für diesen Was unter marktwirtschaftlicher Eigenverantwor- Bereich und schon gar nicht die Zielrichtung. Wer in tung herauskommt, zeigen aber die riesigen neuen solchem Maße Mittel für die Atomtechnologie zur Müllhalden in der Landschaft der früheren DDR. Verfügung stellt, setzt sich weder mit seinem eigenen Diese Müllhalden werden mit sehr viel Steuergeldern Sicherheitsmärchen auseinander, noch stellt er sich saniert werden müssen. der Tatsache, daß 70 % der Menschen in diesem Land Atomkraftwerke nicht mehr wollen. Sehr viel billiger wäre es gewesen, das Sero-System weiterhin finanziell zu unterstützen und schrittweise Wenn schon Forschungsmittel beim BMU angesie- in ein modernes Recyclingsystem auf kommunaler delt werden, dann mehr Mittel für die Erforschung Ebene und in kommunaler Hand umzubauen, was und Entwicklung der regenera tiven Energie und de- nebenbei viele Arbeitsplätze sichern könnte. ren Anwendung. (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Was glauben (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Sie denn, was wir machen?) CSU]: Wir können die auf Rügen nicht auf- Alles in allem sind wir der Auffassung, daß die hier stellen, weil das Leitungsnetz nicht klappt!) genannten Bereiche nicht einfach nur zu kurz gekom- Bei der wichtigen Frage der Entsorgung müssen men sind, sondern es sich hier um eine grundsätzlich weit mehr als bisher die Großverdiener am Atomstrom andere Prioritätensetzung handelt. zur Kasse gebeten werden, um auch hier Haushalts- Die PDS/Linke Liste lehnt mit diesem Haushaltsent- mittel für zukunftsweisende Projekte im Energiebe- wurf auch diese Politik ab. reich freizumachen, statt neue Atomkraftwerke in Ich danke Ihnen. Stendal und Greifswald zu bauen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Für technische Hilfe zur Feststellung der Strahlen- belastung im Raum Tschernobyl sollen 1,7 Millionen DM bereitgestellt werden. Wir haben hier mehrmals Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat Frau Abge- gehört, was für katastrophale Zustände dort herrschen ordnete Ina Albowitz. und wie viele Menschen dort immer noch sterben oder leiden. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie haben neulich eine gute Rede gehalten!) Angesichts der vom BUND nur für die Sanierung der unmittelbar betroffenen Region veranschlagten mindestens 30 Milliarden DM nehmen sich die Ina Albowitz (FDP): Ich werde mich bemühen, das 7,1 Millionen DM geradezu lächerlich aus. auch heute zu tun, Herr Kollege Schäfer. Ich hoffe, Nun zu dem zweiten und genauso leidigen Thema, Ihren Anforderungen gerecht zu werden. Wir werden das ebenso wie die Probleme mit der Atomenergie es ja sehen, wenn die Zeit um ist. hausgemacht und nicht objektiv notwendig ist. Eine (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ich bin wirklich ernst gemeinte ökologische Abfallpolitik gespannt!) muß — ich sagte es schon an anderer Stelle — bei der — Der Kollege Wagner war in den letzten Wochen gar Produktion von Abfall ansetzen und darf sich keines- nicht schlecht; aber heute hat er mich enttäuscht. falls auf Nachsorgepolitik und moralische Appelle be- schränken. Dies gilt für den Westen genauso wie für In einem hatte der Kollege Wagner freilich recht. den Osten. Das muß ich zu Anfang sagen. Auch ich hätte den Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Natur- Die DDR war ganz sicher kein ökologisches Muster- schutz und Reaktorsicherheit lieber gestern verab- ländle. schiedet, weil damit sicher ein Stück seines Stellen- (Zuruf von der CDU/CSU: In der Tat werts dokumentiert worden wäre. Dies kann man ja nicht!) als Tip an den Ältestenrat für den Fall geben, daß wieder einmal eine besondere Situation entsteht. Aber den bestehenden Altlasten — hören Sie gut zu — , deren Sanierung schwer genug ist, neue, durch (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Haben die westliche Produktionsweise mit ihrer Wegwerf- Sie keine Mitglieder im Ältestenrat?) mentalität hervorgerufene, hinzuzufügen, ist einfach — Doch. Das ist mir aber erst später aufgefallen, Herr absurd. Das werden Sie doch einsehen. Schäfer. Auch Sie haben ja nicht alles im Blick. Das Pro-Kopf-Aufkommen von Hausmüll — dies (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir greifen das als nur als Beispiel — lag 1988 in der DDR noch bei Anregung auf!) 180 kg im Jahr. Heute dürfte es sich dem Aufkommen — Ich sage ja: Als Anregung. von 370 kg im Westen angenähert haben. Das ist ge- nau die doppelte Menge. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Danke!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Herren! Eine wichtige Aufgabe des Bundesministeri- Hört! Hört!) ums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Das Sero-Sammelsystem, durch das 1988 noch liegt eindeutig in der Bewältigung der Herausforde- 1,9 Millionen t Altstoffe pro Jahr erfaßt und zum Teil rungen, die durch die deutsche Einheit auftreten. Die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2145

Ina Albowitz Schwerpunkte des Haushalts entsprechend zu setzen diente und jahrzehntelang streng abgeschottet war, ist dringend notwendig. Wir dürfen nicht der Gefahr einer sinnvollen Nutzung zugeführt. erliegen,. auf Grund der unmittelbar spürbaren Ich konnte mich vor wenigen Tagen selber vor Ort Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Einigungsprozeß davon überzeugen, daß hier ein guter Weg beschrit- andere Probleme zu vernachlässigen. ten wird, Herr Minister, der den Naturschutzbelangen Die ökologische Sanierung der ehemaligen DDR ist voll Rechnung trägt. Über das Konzept, das Sie, denke sogar Voraussetzung für den wirtschaftlichen Auf- ich, vorlegen wollen, werden wir noch intensiv zu dis- schwung. Dies hat das Aktionsprogramm „Ökologi- kutieren haben. scher Aufbau" der Koalitionsfraktionen deutlich ge- Um eine Sofortmaßnahme bitte ich Sie dringend, macht. Ob es darum geht, daß viele Flächen wegen nämlich die Sanierung der Kläranlage umgehend in der Bodenvergiftungen für Industrieansiedlungen Angriff zu nehmen. Ich denke, die Bundesrepublik nicht zur Verfügung stehen, oder ob dringend benö- kann es sich nicht leisten, Mittel für eine solche Natur- tigte Arbeitskräfte nicht zuletzt wegen der schlechten schutzakademie in ihren Haushalt einzustellen, wäh- Umweltsituation den Zug in Richtung Westen bestei- rend gleichzeitig ungeklärte Abwässer in die Ostsee gen — wenn ich die Zeitungen von gestern und heute eingeleitet werden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir richtig werte, liegen neue Zahlen vor — , immer tref- das sofort realisieren könnten. fen die Wirkungen den wirtschaftlichen Aufholprozeß (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der neuen Länder unmittelbar. Ich habe natürlich eine interessante persönliche Damit diese Verbesserungen so schnell wie möglich Frage. Ich würde schon gerne wissen, ob auch Herr erfolgen, enthält das Gemeinschaftswerk „Auf- Gysi damals zu den Bevorzugten gehört hat. schwung Ost" zahlreiche Umweltschutzsofortmaß- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Oder Herr nahmen. Diese verringern nicht nur die schlimmen Modrow!) akuten Gefährdungen der Gesundheit der Menschen, vor allem der Kinder, sondern schaffen gleichzeitig- — Herr Modrow mit Sicherheit. Aber so schön waren schnelle und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkei- die Häuser auch wieder nicht. ten. (Dr. [PDS/Linke Liste]: Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben ja keine Ahnung von dem, was Sie da behaupten!) Neben den 412 Millionen DM für das Umwelt- — Herr Keller, Sie waren da, nicht wahr? Zu Ihrem schutzsofortprogramm aus dem Gemeinschaftswerk Ressort gehörte das. stehen für 1991 u. a. zusätzliche Mittel aus verschie- denen Kreditprogrammen, die wir aufgelegt haben, (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Sie für Umweltschutzinvestitionen zur Verfügung. Aus haben keine Ahnung!) diesen Krediten können hauptsächlich Wasserversor- — Ja; doch. Ich war da. Aber ich gehörte nicht dem gungs- und Abwasserentsorgungsanlagen gefördert SED-Ministerrat an. und kann die Finanzierung von zwingenden Deponie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. sicherungsmaßnahmen und Projekten zum Schutz vor Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Aber einer gesundheitsgefährdenden Industrieanlagen sicherge- Blockpartei! — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke stellt werden. Vorrang haben für uns dabei kommu- Liste]: In vorauseilendem Gehorsam! — Ar nale Vorhaben mit hoher Beschäftigungswirkung. nulf Kriedner [CDU/CSU]: Herr B riefs, Sie Doch nicht nur diese Sonderprogramme zeigen, daß waren ja in Holland!) der Schwerpunkt der Umweltschutzaufgaben in den — Jetzt ist es genug. neuen Bundesländern liegt. Von den rund 1,7 Milliar- den DM des Umwelthaushaltes kommen 42,5 % den Umweltschutzaufgaben in den neuen Bundesländern Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, fahren Sie zugute. So gibt es z. B. beim Naturschutz einen deut- fort. lichen Ausgabenzuwachs zugunsten des Beitrittsge- bietes. Der Umfang der Fördermittel für die Natur- schutzgroßprojekte steigt von 25 Millionen auf Ina Albowitz (FDP): Einen deutlichen Zuwachs gibt 35 Millionen DM. es auch bei den Umweltforschungsmitteln. Sie stei- gen um 13 Millionen DM auf 93,6 Millionen DM. Das Besonders hervorheben möchte ich hierbei, daß auf ist ein Zuwachs um gut 16 % . Diese Mittel sind vor- der Insel Vilm vor Rügen eine internationale Natur- rangig dazu bestimmt, Wege zur Lösung der großen schutzakademie aufgebaut wird. Der Haushaltsaus- Umweltprobleme in den neuen Ländern aufzuzeigen. schuß hat hierfür für das Jahr 1991 insgesamt 2,7 Mil- Hier muß der Staat vorangehen. lionen DM und 35 Stellen bewilligt. Es kann aber nicht die Aufgabe des Staates sein, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU auch alle zur ökologischen Sanierung erforderlichen — Zuruf von der FDP: Außerordentlich posi Mittel aufzubringen. Dies würde die öffentlichen tiv!) Haushalte völlig überfordern. Allein der Bau von Klär- — Ich sage noch etwas dazu. Das Beste kommt noch: anlagen in den neuen Ländern kostet nach ersten Ich war nämlich schon da. Schätzungen rund 50 Milliarden DM, wenn wir in den neuen Ländern bei der Abwasserklärung denselben Dadurch werden die Einrichtungen auf der Insel, Standard wie in den alten Ländern erreichen wollen. die der früheren SED-Regierung als Ferienanlage Die Kosten für die aufwendige Sanierung der Kanali- 2146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ina Albowitz sation, die noch weit höher liegen werden, sind bei Ich muß noch einen Punkt behandeln, bei dem bei den 50 Milliarden DM nicht einmal eingerechnet. den Haushaltsberatungen kein Konsens mit der Op- position bestand. Ich vermute, daran hat sich nichts Um ähnlich hohe Kosten geht es bei der Abfallent- geändert. Herr Wagner hat das schon klargemacht. sorgung im Beitrittsgebiet. Ca. 50 Deponien sind er- forderlich, davon etwa 10 für Sonderabfälle. Jede die- Deutliche Meinungsunterschiede gab es bei den ser Deponien kostet wiederum nach vorläufigen Haushaltsansätzen für die kerntechnische Sicherheit, Schätzungen etwa 150 Millionen DM. Das ergibt eine Strahlenschutz und Entsorgung. Ihre Bedenken ge- Finanzbedarf von weiteren rund 60 Milliarden DM hen dahin, Herr Kollege — wenn ich Sie richtig ver- allein für den Bau von Deponien in den neuen Bun- standen habe; und ich glaube, das habe ich —, daß desländern. durch diese Ausgaben eine Entscheidung für den Ausstieg aus der Ke rnenergie immer schwieriger Bei der Finanzierung dieser Aufgaben müssen wir wird. Doch ich will an dieser Stelle noch einmal darauf im Osten den gleichen Weg wie in den westlichen hinweisen, daß diese Ausgaben notwendig sind, un- Ländern gehen. Wir haben die Kohlekraftwerke ent abhängig davon, wie man zur f riedlichen Nutzung der schwefelt und die Stickstoffemissionen erheblich re- Kernenergie steht. duziert. Das hat rund 28 Milliarden DM gekostet. Die öffentliche Hand hat dazu keinen Pfennig beigetra- Der Kenntnisstand des Umweltministeriums, Kolle- gen. Diese Ausgaben wurden über höhere Strom- ginnen und Kollegen, darf bezüglich der kerntechni- preise refinanziert, also von den Bürgern getragen. schen Sicherheit nicht hinter dem der beaufsichtigen- den Landesbehörden und Betreiber zurückbleiben. (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Ver- ursacherprinzip!) (Beifall bei der FDP und CDU/CSU) Auch beim Bau von Kläranlagen oder Deponien in Sonst sind sachgerechte Entscheidungen des Bundes den neuen Ländern muß die Finanzierung im Grund- in Zukunft unmöglich. Deshalb sind auch weiterhin satz über die Gebühren erfolgen, die -jeder Bürger entsprechende Haushaltsansätze in diesem Bereich nach dem Ausmaß seiner Nutzung zu zahlen hat. Da- notwendig. bei sollten Finanzierungsmodelle den Vorrang haben, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU bei denen die Anlagen in den ersten Jahren zins- und — Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ tilgungsfrei bleiben. Die zins- und tilgungsfreien CSU] zu Abg. Harald B. Schäfer [Offenburg] Jahre können später bei steigendem Einkommen der [SPD] gewandt: Hören Sie mal zu!) Bevölkerung mit höheren Abwasser- oder Müllab- fuhrgebühren aufgefangen werden. Ähnliches haben Der Forschungsschwerpunkt beim Strahlenschutz wir hier schon praktiziert. gilt den Folgen des Uranerzbergbaus in Sachsen und Thüringen sowie der Frage, ob Radon in Wohnhäu- Wir dürfen uns auch nicht scheuen, im Umwelt- sern auftritt. Diese Forschungen kann doch niemand schutz neue Wege zu gehen. Denn bei den ständig ernstlich zurückschrauben wollen. Damit würde man steigenden Herausforderungen, die auf uns zukom- dem Bürger nur schaden. men, sind keine alten Rezepte gefragt, sondern lau- fend neue Ideen. Ein weiterer Ausgabepunkt aus den betreffenden Haushaltstiteln: Das Umweltministerium führt Strah- Wer hätte sich vor Jahren denken können, daß die lenschutzmeßaktionen als humanitäre Hilfe in der So- Entsorgung von Computerschrott einmal ein Problem wjetunion durch. Insgesamt 100 000 Menschen wer- werden könnte? Heute, wo die erste Generation der den untersucht. Es soll herausgefunden werden, wie- Home-Computer langsam ausrangiert wird, entste- weit auch diese Menschen noch an den Folgen der hen immer mehr Unternehmen, die solchen Schrott Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor fünf Jahren wiederverwerten und entsorgen. leiden. Im Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Abfall- Lassen Sie mich zum Abschluß alle — ich habe das politik ist die Rücknahme und Entsorgung von Elek schon bei der Einbringung des Haushalts gesagt —, durch den Verkäufer vorgesehen. Die- tronikschrott die die Höhe des Umwelthaushaltes von der Größe der ser Produktbereich wird bestimmt nicht der letzte Ausgaben her als nicht angemessen bezeichnen, noch bleiben, auf den die Kehrtwende in der Abfallpolitik einmal daran erinnern, daß der Bund in den meisten in Richtung Abfallvermeidung und Abfallverwertung Bereichen des Umweltschutzes nur Gesetzgebungs- ausgedehnt werden muß. Wir müssen ständig neu kompetenzen hat. Die Ausgaben für den Vollzug der reagieren und neu mehr daran arbeiten. Gesetze schlagen sich daher in den Haushalten der Flexibel reagieren müssen wir auch bei den unzäh- Länder und der Gemeinden nieder. ligen internationalen Herausforderungen im Um- Zudem gilt gerade für den Haushalt des Bundesum- weltschutzbereich. Dieses Reagieren wird leichter, weltministers vorrangig das Verursacherprinzip. Die wenn man mit den anderen Nationen in ständigem Kosten der vorsorgenden Vermeidung von Umwelt- Kontakt steht — insoweit ist Reisen wichtig für den belastungen und der Beseitigung von Umweltschäden Umweltminister, Herr Wagner — , wenn es um die sind Grundsätzlich von den dafür Verantwortlichen zu Probleme der Sauberhaltung von Flüssen, den Schutz tragen der Ozonschicht oder anderes geht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Bundesrepublik beteiligt sich inzwischen finan- ziell und personell an zehn solcher internationaler und dürfen in Zukunft weniger denn je der Allge- Sekretariate oder Arbeitsgemeinschaften. meinheit aufgebürdet werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2147

Ina Albowitz Die FDP-Fraktion stimmt dem Haushalt des Bun- vor allem die CO2 verursachenden Wirtschaftszweige, desumweltministers zu. nämlich den Energie- und den Verkehrssektor. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Zu?) Ich spreche hier bewußt von einem Neuaufbau, — Zu, Herr Schäfer! nicht von einer Ausstattung der neuen Länder mit rückständigen Technologien, mögen sie auch, gemes- Ich danke Ihnen. sen an der alten DDR, modern erscheinen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Manchmal könnte man meinen, die Regierung hätte davon etwas beg riffen. Da spricht also Herr Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Staatssekretär Stroetmann bei einer Anhörung des ordnete Klaus-Dieter Feige. BMU Mitte Mai davon, daß die Chancen für eine nachhaltige Verbesserung der Energieversorgung in den neuen Ländern nicht vorschnell aus der Hand Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr gelegt werden sollen. Die Bundesregierung möchte Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! deshalb, daß bei neuen Kraftwerken die derzeit effi- Ich möchte jetzt nicht über die Insel Vilm reden. Ich zientesten Verfahren angewandt werden, und wi ll da- finde das Projekt ganz gut. Aber ich weiß auch, daß es für die Technik der Blockheizkraftwerke nutzen. Die besorgte Bürger gibt, die Angst haben, daß es viel- Kraft-Wärme-Koppelung soll auf breiter Front zur An- leicht doch wieder ein Objekt für einige wenige bleibt. wendung kommen. Die Insellage ist da. Wir werden das sehr aufmerksam kontrollieren und beobachten. Ist dieselbe Bundesregierung, die durch den Strom- vertrag mit den EVUs zentralistische und ineffiziente (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Strukturen festgeschrieben und die die ostdeutschen CSU]: Nur für Naturschützer! Ja, ja, ein gro Kommunen ein zweites Mal enteignet hat, jetzt auf ßes Problem!) einem Wendekurs? — Alles klar! Wunderbar! Vorhin ist in der Diskussion- gesagt worden, daß es jetzt für alle da ist und nicht Man verzeihe mir, wenn ich den Einfluß des Um- mehr, wie früher, für Privilegierte. Wir wollen das weltministeriums doch als so gering einschätzen muß, natürlich in irgendeiner Form konsequent durchbrin- daß außer heißer Luft unerfüllter Absichtserklärungen gen. nichts übrig bleiben wird, Aber ich wollte gar nicht über Vilm sprechen, son- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sehr dern ganz allgemein über den Haushalt. Das ist das richtig!) Risiko, wenn man ein Thema aufgreift, das andere nur anreißen. um so mehr, da Staatssekretär Stroetmann weiter ver- Die Umweltpolitik der Regierung orientiert sich kündet, daß die Modernisierung und der Ausbau des Schienenverkehrs sowie des öffentlichen Personen- nach meiner Meinung immer noch an den Erkenntnis- nahverkehrs die energetisch effizienteste und um- sen der 70er Jahre. Nachsorgende Reparaturanwei- weltverträglichste Alternative zum Individualverkehr sungen, deren Vollzug immer komplizierter wird und deren Grenznutzen zweifelhaft ist, charakterisieren seien. Dazu kommen wir ja nachher noch. Das alles ist ja richtig. Aber warum weiß dann der Bundesver- das blinde Herumtapsen in den Umweltangelegen- kehrsminister nichts davon? heiten. Aber selbst beim nachsorgenden Umweltschutz Auch zur Energie haben Sie, Herr Stroetmann, bleibt das Umweltministerium halbherzig und inkon- nichts Neues zu vermelden. Beim alten Grundsatz der sequent. Das geht mittlerweile so weit, daß in Sachen Energiewirtschaft soll, wie schon seit langem über Verpackungsverordnung ausgerechnet das Land grundlegende Veränderungen nachgedacht werden. Bayern eine Position eingenommen hat, die weiter Einem Beschleunigungsgesetz für diesen Denkprozeß geht als die des Bundesumweltministers. könnte ich begeistert zustimmen. Spätestens seit wir Gewißheit über die drohende (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Klimaveränderung haben, müßte doch allenthalben Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke klar geworden sein — Herr Kollege Schmidbauer Liste) kann da sicher mit seinen Erfahrungen aus der En- quete-Kommission Nachhilfe erteilen — , daß der Vielleicht setzen Sie sich einfach einmal mit den nachsorgende Umweltschutz an seine Grenzen gesto- Anträgen der GRÜNEN zum Thema Energie aus der ßen ist. 11. Wahlperiode auseinander. Ich glaube, einige tun Wer vor diesem Hintergrund immer noch glaubt, es das sowieso schon heimlich. Das merkt man immer genüge, als Klempner durch die Lande zu ziehen, ist wieder. Dort können Sie nämlich nachlesen, wie eine nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Umweltminister, der moderne Energieversorgung ohne Atomkraft mit ei- von CO2-Reduzierung spricht, aber Wirtschafts-, ner erheblichen CO2-Minderung aussehen kann und Energie- und Verkehrspolitik nicht entscheidend um- wie man dahin kommt. gestaltet oder beeinflußt, wird bestenfalls als großer Das vereinte Deutschland hat die Chance, einen Zampano in die Geschichte eingehen. neuen Geist in der Politik zu praktizieren, der die Her- Dabei haben wir mit der deutschen Einigung eine ausforderungen des kommenden Jahrhunderts auf- großartige Chance erhalten. Mitten in Europa existiert nimmt. Wir könnten eine Politik praktizieren, die die eine Region, die in vielen Bereichen völlig neu aufge- Ökologie und vernetztes Denken zur Richtschnur ih- baut werden kann und muß. Dieser Neuaufbau betrifft res Handelns macht. 2148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige Die Angleichung der Lebensverhältnisse durch blo- schöne Gebiete; Sie werden sie selber schon gesehen ßes Kopieren der alten Bundesrepublik in den neuen haben. Ländern dagegen ist ein Schritt in die Vergangenheit. (Zuruf von der CDU/CSU: In Thüringen Ich glaube, darin stimmen wir überein. auch!) Mit einem klaren und modernen Konzept der Wirt- — Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich ge- schaftsentwicklung könnten die ostdeutschen Länder rade das schöne Thüringen vergessen habe. Es gibt zum Zugpferd beim Übergang Deutschlands ins dort also wunderbare Gebiete. 21. Jahrhundert werden. High-Tech-Indust rie und hochqualifizierte Fachleute im Dienstleistungssektor, (Ina Albowitz [FDP]: In Sachsen und Sach eine saubere Umwelt mit großem Kultur- und Freizeit- sen-Anhalt auch! — Peter Harry Carstensen angebot, das ist die Alternative zur rückwärtsgewand- [Nordstrand] [CDU/CSU]: Aber auch in ten Politik der Bundesregierung, die die neuen Länder Schleswig-Holstein! — Weitere Zurufe von letztlich zum Armenhaus des geeinten Deutschlands der CDU/CSU: Bayern!) degradiert. Das, was mangels effektiver Technik im Osten, ins- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das stimmt besondere in den genannten nördlichen Ländern, an doch gar nicht!) naturnahen Wäldern und Mooren, Seen oder Flüssen mit einer zum Teil für Europa einzigartigen Flora und Die Sprachlosigkeit des Bundesumweltministers Fauna erhalten geblieben ist, ist ernsthaft bedroht. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wer ist Das, was im Westen längst als Frevel gilt, feiert sprachlos?) angesichts falsch verstandenen Selbstverwaltungs- — er kann dann ja etwas sagen — bezüglich der Wirt- bestrebens im Osten wahre Orgien. Die letzten Hoch- schaftskonferenz des Kanzlers am Dienstag zeigt, wie moore werden mit westeuropäischer Effizienz in Wo- wenig diese Regierung den Zusammenhang zwischen chen beseitigt. Früher waren dafür mangels moderner Umwelt- und Wirtschaftspolitik begriffen- hat. Technik Jahre notwendig. In der DDR erworbene Ab- baukonzessionen für Hochmoore sind bleibendes Die Unternehmensberatung McKinsey, sicher nicht Recht. grün unterwandert, hat kürzlich, ganz im Einklang mit unserer Position, betont, daß bei der Neugestal- Vielerorts versuchen rührige Bürgermeister, die ei- tung der Infrastruktur in den neuen Ländern ein inno- genen Naturreichtümer zu vermarkten. Ich habe das vativer Sprung in die nächste Generation erforderlich selber an Kranichbrutplätzen gesehen. Aus Sorge vor ist. Die sind nicht grün, auch nicht hinter den Ohren. unstillbarer Sammelleidenschaft müssen Adlerhorste McKinsey erklärt weiter: Dazu bedürfe es des Aus- rund um die Uhr bewacht werden. baus der Telekommunikation, der Schaffung inte- (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ grierter Straßen- und Schienensysteme im Fernver- CSU]: Bei uns auch!) kehr und kundenfreundlicher Systeme des öffentli- — Wir haben halt einige mehr. Das liegt daran, daß es chen Personennahverkehrs. Bei den Energieproble- Leute gibt, die auch schon vor der Wende darum ge- men könne die Chance der Stunde Null zum Aufbau kämpft haben. Das möchten wir nicht verlieren. kleiner dezentraler Einheiten genutzt werden. Doch was sind derartige Attacken gegen die Natur Wenn Sie sich dazu durchringen, diesen zukunfts- im Vergleich zu den Großaktionen, die unter der weisenden Weg einzuschlagen, können Sie unserer Tarnbezeichnung „Maßnahmegesetz" professionell Unterstützung gewiß sein. in Angriff genommen werden? In diesem Sinn ist das Aber die vielen Presseerklärungen des Bundesum- Jahr 1 nach der Wende im Hinblick auf den Verlust weltministers geben wenig Anlaß zur Hoffnung auf von Naturreichtümern zum 41. Jahr der DDR gewor- die notwendige politische Weichenstellung in dieser den. Richtung. Solange das Umweltministerium den An- Ich denke z. B. an die geplante Autobahn von Lü- schein erweckt, es verfüge über Milliardenbeträge beck nach Sczecin. aus dem Programm Aufschwung Ost, am Ende aber gerade eine dreistellige Millionensumme heraus- (Michael von Schmude [CDU/CSU]: Er meint kommt, betreiben Sie Falschspielerei auf Kosten der wohl Stettin!) Zukunft, — Stettin. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) altertümliche ostdeutsche Bezeichnung verwendet habe. Ich weiß nicht, wie man in Sczecin zur Zeit ganz besonders auf Kosten der Menschen in den sagt. neuen Ländern. (Michael von Schmude [CDU/CSU]: Wir Da tut sich ein weiterer Widerspruch auf: Einerseits sprechen hier noch Deutsch!) werden also die Geldmittel aufgewandt. Es kommt Geld, um die riesigen durch die Raubbaupolitik in der Nehmen wir doch nur einmal die Trasse. Sie werden ehemaligen DDR verursachten Schäden zu beseiti- feststellen, daß es auf dieser Trasse Gebiete gibt, wo gen. Das erkenne ich an. Auf der anderen Seite hat kein Durchschlupf ist und wo Sie in erheblichem Maß schon im Sommer 1990 ein skandalöser Ausverkauf Naturschutzgebiete oder ähnliches zerstören müssen. der verbliebenen Naturschätze begonnen. Es ist nicht Das ist für mich sehr deprimierend. alles nur schlecht, was dort in den fünf neuen Ländern Auch für das ehemalige Ökosystem Elbauen ist mit ist. Es gibt insbesondere im Norden, in Mecklenburg, dem Projekt einer Kanalisierung — damit meine ich in Vorpommern und in Brandenburg, wahnsinnig nicht die Reinigung des schmutzigen Wassers der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2149

Dr. Klaus-Dieter Feige Elbe — meines Erachtens das Todesurteil gesprochen. keiten als nach einer derartig grundlosen Polemik zu Diese Kanalisierung bet rifft aber auch Elbauen auf fragen. Auch das möchte ich ganz deutlich sagen. niedersächsischem Gebiet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bislang gab es in Ostdeutschland keine National- Vielleicht wird Herr Kollege Wagner bis zu den näch- parks. Die noch auf Anregung von Professor Succow sten Haushaltsberatungen merken, daß hier nicht der begonnenen Projekte sind jetzt das Ziel der Pläne von Saarländische Landtag, sondern der Deutsche Bun- Autobahnbauern und sollen sogar Truppenübungs- destag ist; das mag durchaus sein. plätze oder Schießplätze der Bundeswehr beinhalten oder beinhalten sie bereits. Selbst Europas bedeu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — tendster Kranichrastplatz bei Rügen ist dadurch be- Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das droht. war aber unerhört! Das war scheinheilig!) Wann also, Herr Bundesminister, werden Sie als Wir sind sicherlich gerne bereit, uns an jeder Stelle über saarländische Probleme zu unterhalten, aber hier oberster Naturschützer dieses Landes Ihr Veto gegen geht es im Augenblick darum, daß wir für das geeinte derartige Pläne von Naturvernichtung einlegen? Deutschland einen umweltpolitischen Neuansatz fin- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) den müssen, und darüber wollte ich heute vor dem Gut, Sie werden sagen, daß Naturschutz im wesent- Hintergrund dieses Haushalts auch hier sprechen. lichen Sache der Länder ist. Auch wenn mancher sagt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mecklenburg brauche kein Geld, frage ich: Wie sollen sich die noch nicht hinreichend wettbewerbsfähigen Länder wie Mecklenburg und Vorpommern ange- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ge- sichts der schier unüberwindbaren und sich weiter statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten verschärfenden sozialen und ökonomischen Situa- Wagner? tionen im Osten diesen Naturschutz leisten können? Bei allem Bedürfnis nach föderalen Strukturen- auch Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na- in der ehemaligen DDR bedürfte es hier, Herr Töpfer, turschutz und Reaktorsicherheit: Aber sehr gerne. Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit und Ihres „persön- lichen" Schutzes. Hans Georg Wagner (SPD): Wenn der saarländische Ich habe aber den Eindruck, daß das Urteil über das Landtag so uninteressant war, Herr Minister: Warum Sein oder Nichtsein von Naturschutzgebieten nicht wollten Sie seinerzeit dann mit Gewalt hinein? mehr von Ihrem Ministerium beeinflußt werden (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ kann. CSU]: Um die Kultur zu verbessern!) Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, verstehen Sie die in Ostdeutschland verbliebenen Naturschön- Bundesminister für Umwelt, Na- heiten und -kostbarkeiten auch als ein von allen Na- Dr. Klaus Töpfer, turschutz und Reaktorsicherheit: Herr Abgeordneter turfreunden im Osten schon lange verteidigtes Ge- Wagner, ich frage Sie doch auch nicht, warum Sie mit das nun auch unserer ge- schenk an Deutschland, aller Macht daraus weggegangen sind. meinsamen Obhut bedarf. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall im ganzen Hause) Es geht also an allererster Stelle um den ökologi- Um die Euphorie zu stoppen: Leider ist im Haushalt schen Aufbau. Dieser ökologische Aufbau ist eine So- des Bundesumweltministers davon nichts zu erken- lidaritätsaktion, die wir nun wirklich gemeinsam mit nen. Kommunen, mit Ländern und hier auf der Bundes- Wir lehnen ihn deshalb als selber sanierungsbe- ebene in Angriff nehmen müssen, der Menschen we- dürftig ab. gen, denn die Menschen in den neuen Bundesländern Danke. haben mit ihrer Gesundheit den Raubbau in der ehe- maligen SED-regierten DDR bezahlt, und auch der (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder wegen; SPD und der PDS/Linke Liste) beides gehört zusammen. Dabei sind zwei Hauptrichtungen ganz sicher jetzt Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem schon deutlich. Auf der einen Seite ist es ganz unstrit- Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- tig, daß sich die ökologische Situation, daß sich die torsicherheit, Herrn Dr. Klaus Töpfer. Umweltbelastung in den fünf neuen Bundesländern (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Rede nachhaltig verbessert hat. Etwas anderes wäre auch gewandt, aber sprachlos!) ganz überraschend, denn das, was wir auf der wirt- schaftlichen Seite beklagen, ist natürlich ein Positi- vum auf der ökologischen Sèite. Was ist in der Wi rt Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na- -schaftsstruktur der ehemaligen DDR denn weggefal- turschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! len? Weggefallen sind die in ganz besonderer Weise Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Bereich ökologisch belastenden Bet riebe, weggefallen ist Es- der Umweltschutzpolitik sollte man wie in kaum ei- penhain, weggefallen sind die Karbidöfen von Buna, nem anderen Politikbereich auch in diesem Hohen weggefallen sind die entsprechenden Anlagen in Bit- Hause darauf achten, die Polemik zurückzulassen. So terfeld und Leuna, weggefallen sind die entsprechen- werde ich mich auch ungeachtet der Rede des Kolle- den Öfen und Anlagen in Mansfeld. Das heißt, es ist gen Wagner heute bemühen, eher nach Gemeinsam- das weggefallen, was eine unglaubliche ökologische 2150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Schweinerei gewesen ist und was die menschliche Wagner sagt uns später, wie hoch der Anteil im Saar- Gesundheit in Frage gestellt hat. land ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ein schönes Eigentor! — Zurufe des Abg. Hans Meine Damen und Herren, auch ich hätte mir ge- Georg Wagner [SPD]) wünscht, diesen Haushalt gestern zu diskutieren. Aber ich muß Ihnen auch sagen: Es wäre gut gewe- — Jetzt sagt er schon „Saarländer" . Vorhin hat er es sen, wenn der eine oder andere gestern am Tag der noch beim „Neu-Saarländer" belassen. Dies zeigt die Umwelt mit auf dem Marktplatz in Bitterfeld gewesen Offenheit der SPD im Saarland gegenüber den Men- wäre. schen, die dorthinkommen und daran mitarbeiten wollen, das Land da herauszubringen. — Aber das ist (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Haben wieder eine andere Frage. Sie jemand eingeladen?) (Beifall bei der CDU/CSU) —Ich habe mich dahin auch eingeladen, es kann sich jeder miteinladen. Meine Damen und Herren, wir müssen also die In- frastruktur verändern; denn in den neuen Bundeslän- Auf diesem Marktplatz ist einer zu mir gekommen dern wird bisher nur zu 20 % über solche Kläranlagen und hat gesagt: Ich wohne in einem kleinen Dorf auf geklärt. Ich sage dies ganz schlicht: In den wenigen der anderen Seite von Bitterfeld, und ich habe in die- Monaten seit der deutschen Einheit werden in den sem Jahr zum erstenmal wieder den Petersberg gese- neuen Bundesländern bereits mehr Kläranlagen ge- hen. — Es ist nicht der Petersberg bei Bonn gemeint; baut, als in 40 Jahren SED-Regierung insgesamt exi- jeder, der aus der ehemaligen DDR kommt, weiß was stiert haben. der Petersberg ist. Es ist die höchste Erhebung auf diesem Breitengrad bis hin zum Ural, nur wenige Me- (Beifall bei der CDU/CSU) ter hoch. Er hat gesagt: Zum erstenmal war- nicht mehr diese Dunstglocke über Bitterfeld. Ich habe war den Wenn man mich nun fragt, was ich denn in Bitter- Arbeitsplatz verloren, aber es war richtig, daß ihr dies feld gemacht hätte — — Nebenbei: Man hat mir auch hier zugemacht habt, denn das war der Gesundheit gesagt, ich sei ja wohl nicht zum erstenmal dort gewe- der Menschen nicht mehr zumutbar. sen. Ich glaube, ich bin bereits zum siebten Mal in Bitterfeld gewesen. Herr Wagner wird mir dies wieder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) als falsche Reisetätigkeit ankreiden. Wir haben Wismut zugemacht. Ich halte es für uner- (Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht nur des träglich, die Ausgaben, die wir dafür aufbringen müs- halb, weil Sie ihn nicht mitgenommen ha sen, um die Strahlenschäden, die die Wismut hinter- ben!) lassen hat, hier als eine Sicherung der Atompolitik und der Atomlobby vorgehalten zu bekommen. Eine der Reisen, die ich nach Bitterfeld gemacht habe, war notwendig, weil wir dort den ersten Spatenstich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — für eine Kläranlage gemacht haben, eine Kläranlage, Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wer die 250 Millionen DM kostet und die selbstverständ- macht das denn?) lich mit 60 Millionen DM aus meinem Haushalt finan- ziert wird. Jetzt sollten der Kollege Wagner und auch — Die Dame von der PDS hat mir das vorhin gerade der etwas unruhig gewordene Kollege Schäfer zuhö- gesagt. ren: In die Finanzierung einer solchen Kläranlage rechnen wir, wie sich das gehört, das Verursacher- (Harald B. Schäfer [SPD]: Dann ist es gut! Ich prinzip mit ein. Wir gehen davon aus, daß zu dem wollte nur, daß kein falscher Eindruck ent Zeitpunkt, zu dem die Kläranlage fertiggestellt ist und steht!) Abwasser dort gereinigt werden kann, die Einkom- — Herr Abgeordneter Schäfer, nicht alles, was ich mensverhältnisse in den fünf neuen Bundesländern es sage, ist für Sie bestimmt, sondern manchmal auch für zulassen, daß Abwassergebühren gezahlt werden. jemand anderen. Dies ist nämlich gut und richtig, damit mit dem Wasser sparsam umgegangen wird. Wenn weniger Abwasser (Heiterkeit bei der CDU/CSU) anfällt, müssen schließlich auch weniger Gebühren gezahlt werden. Deswegen, meine Damen und Herren, will ich mich damit nicht zufrieden geben. Ich sage dazu: Bei die- (Beifall bei der CDU/CSU) sen Erfolgen des Umweltschutzes darf es nicht blei- ben. Diese Entwicklung muß zur Schaffung sicherer In diese Kläranlage, Herr Kollege Wagner, sind Arbeitsplätze führen. Aber man muß schon festhalten auch Mittel des kommunalen Kreditprogramms hin- können, woraus denn diese unglaublichen Belastun- eingegangen. Auch Mittel aus dem ERP-Programm gen, über die wir zu diskutieren haben, resultieren. wurden zur Verfügung gestellt, weil auch die Fab rik ihr Abwasser dorthin leiten wird. Wenn Sie diese Mit- Als nächstes müssen wir dann natürlch eine ent- tel, die alle umweltbezogene Mittel sind, zusammen- sprechende Umwelt-Infrastruktur aufbauen. Das ist rechnen, kommen Sie exakt auf 17 Milliarden DM. wahr. Die Zahlen sind jedem bekannt. In den alten Deshalb lege ich Wert auf die Feststellung, daß wir Bundesländern werden die Abwässer zu etwa 90 nichts ausgeben wollen, was wir nicht haben, sondern biologisch bzw. voll biologisch geklärt. Der Kollege daß Sie dies auf die Mark genau nachrechnen können. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2151

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Dies sind Mittel, die für die Umweltentlastung in den Ich bin gestern nicht nur in Bitterfeld gewesen, son- neuen Bundesländern zur Verfügung stehen. dern bin etwa in das Gebiet — — (Erneuter Zuruf des Abg. Harald B. Schäfer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [Offenburg] [SPD]) Meine Damen und Herren, es wäre auch gut, wenn — Es war das Siebte. Aber ich freue mich ja, daß der wir alle der Meinung wären, wir sollten zur Schaffung Kollege Waltemathe, der uns ja so lange freundschaft- dieser Infrastruktur auch privates Kapital mit heran- lich verbunden war, so aufmerksam zuhört, daß er das ziehen. Wir sollten alle dieser Meinung sein. Es be- jedes Mal mitzählt. Mehr kann man ja kaum verlan- steht international ein großes Interesse daran. Unsere gen. Nachbarn in Großbritannien und in Frankreich wen- den ohnehin für die Schaffung dieser Infrastruktur (Ernst Waltemathe [SPD]: Man muß hören, was Sie Falsches erzählen!) — etwa für eine Kläranlage — einen anderen Finan- zierungsmechanismus an. Deshalb gibt es dort hoch- Ich war gerade bei dem nämlichen siebten Mal erfahrene Unternehmen, die so etwas machen kön- nicht nur an dem Chemiestandort und auf dem Markt- nen. Nebenbei: mit einem Sitz im Saarland. Ich hätte platz, sondern wir sind in die Tagebaugebiete der es lieber gesehen, wenn sich der saarländische Wirt- Mibrag, also der Mitteldeutschen Braunkohle-AG, schaftsminister darum bemüht hätte, im Saarland ein- hinausgefahren. Dort gibt es — auch das ist jedem, der mal ein privates Finanzierungsmodell für eine Kläran- sich in den neuen Bundesländern etwas auskennt, lage auszuprobieren. Statt dessen hat er B riefe in die bestens bekannt — den alten Tagebau Goitsche, der neuen Bundesländer geschrieben, genau dies solle direkt bis an die Grenze von Bitterfeld reicht. Das ist man nicht tun. Umgekehrt wäre es besser gewesen. eine Mondlandschaft, eine reine Katastrophe. Was ist Dann wäre den Menschen wirklich geholfen worden. mit dem Kollegen Blüm und Herrn Töpfer zusammen Er hätte wirklich anders handeln sollen. Bis zur gemacht worden? — Wir haben bei der Mibrag einer Stunde ist mir keine einzige Kläranlage bekannt, die Sanierungsgesellschaft mit 2 200 Beschäftigten und mit einem p rivaten Finanzierungsmodell an der Saar einem Sachkostenanteil, der etwa zwischen 200 und gebaut würde. Es reimt sich wirklich nicht zusammen, 250 % der Lohnkosten liegt, ermöglicht, um aus dieser meine Damen und Herren, wenn Sie hierher kommen Mondlandschaft ein neues Naherholungsgebiet mit und beklagen, daß wir das Saar-Mosel-Programm wunderbarem Wasser und Seenlandschaften zu ma- nicht finanzieren, zu Hause aber keine Einfälle haben, chen. wie privat verfügbares Kapital genutzt werden könnte. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist Umweltsanierung. Davon steht nicht eine (Beifall bei der CDU/CSU — Ina Albowitz Mark in Töpfers Haushalt. Es ist aber eine hervorra- [FDP]: So sind die Saarländer!) gende Sache, daß das gemacht wird, weil damit Ar- beitsplätze geschaffen werden und weil damit ein Deswegen haben wir noch einen zweiten Punkt, neues Image für diese Region begründet wird. Das ist den Sie möglicherweise übersehen haben. Wie ist die der Punkt. Darum geht es. Situation? — Wenn ich heute Altlasten sanieren will — das sind meistens belastete Böden — , dann kann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ich das sicherlich wohl kaum machen, ohne daß ent- Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/ sprechende Entsorgungsanlagen vorhanden sind. Wir CSU]: Mitklatschen, Schäfer!) können das nicht mit Hacke, Schaufel oder einem Das gibt es nicht nur bei der Mibrag, das finden Sie Bagger sanieren. Das geht nicht. Denn das, was dort bei jedem der großen Chemiekonzerne. Das finden an belastenden Stoffen — von Kohlenwasserstoffen Sie bei Mansfeld, bei der dortigen Kupferhütte; das bis hin zu dem gesamten Zoo der Chemie — vorhan- finden Sie — in etwas veränderter Form — in der Wis- den ist, ist damit nicht saniert. mut, und das finden Sie bei vielen anderen kleinen Unternehmen. Ich halte das für richtig. Wir müssen Die erforderlichen Anlagen gibt es aber nicht in den möglichst viele der Milliarden für Arbeitsbeschaf- fünf neuen Bundesländern. Es gibt nicht eine Sonder- fungsmaßnahmen nutzen, damit Umwelt saniert und mülldeponie, die den Namen verdient. Es gibt nicht neue Chancen, auch für arbeitende Menschen, gehal- eine Untertagedeponie. Es gibt nicht eine Hochtem- ten werden. Das ist unser Ziel. Ich hoffe, daß wir uns peraturverbrennungsanlage. Es gibt nicht ein einzi- darin einig sind, daß wir das ohne jede Beeinträchti- ges Bodenentsorgungszentrum. gung zusammen vertreten.

Bei dieser Situation kann ich mir an Mitteln in den Ich möchte hinzufügen, daß wir bei dieser Maß- Haushalt hereinholen, was immer möglich ist. Wir nahme wirklich Erfolg haben müssen. Denn wenn wir werden nichts anderes machen können, als Sanie- das nicht erreichen, wie soll denn jemals eine Mög- rungsgesellschaften zu gründen, die gegenwärtig lichkeit bestehen, die Probleme Mittel- und Osteuro- schon viele Arbeitsplätze stellen, aber noch nicht den pas insgesamt zu bewältigen, wenn also wir das mit letzten, ursächlichen Sanierungserfolg haben können. unserer Kapitalkraft und mit unserer technologischen Genau das ist gemacht worden. Qualität nicht schaffen? Wie wollen wir denn wirklich das schmutzige (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wie schwarze Dreieck zwischen Polen, der CSFR und viele Sanierungsgesellschaften? — Zuruf des Sachsen/Thüringen beseitigen? Wer ist denn einmal Abg. Ernst Waltemathe [SPD]) im Erzgebirge gewesen und hat gesehen, daß dort nur 2152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer noch das Forsthaus steht, daß aber der Wald nicht meinsam mit Franzosen und anderen darum bemü- mehr da ist? hen, den Sicherheitsstandard der Kernkraftwerke in Mittel- und Osteuropa auch mit unserem Geld zu ver- (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!) bessern. Wer ist denn da gewesen? Wenn wir dabei nicht wirk- Ich hoffe, daß alle nur so notwendige Reisen ma- lich vorankommen, werden wir das nie mit einer solch chen, wie ich sie gerade jetzt mit meinen Mitarbeitern grenzüberschreitenden Möglichkeit nutzen können. nach Moskau gemacht habe. Das ist eine ganz zen- Deswegen haben wir die gemeinsame Eib-Kom- trale Notwendigkeit. mission eingesetzt. Deswegen sind wir dabei, genau diese Zusammenarbeit weiterzuführen, damit es die Wenn wir von Energiepolitik sprechen — Herr Kol- Möglichkeit gibt, grenzüberschreitend etwas zu un- lege Wagner, lassen Sie sich das bitte auch sagen —, ringen, wie wir ternehmen. Das Erzgebirge hat es wirk lich verdient, dann sollten wir nun wirklich darum einen energiepolitischen Konsens bekommen, und daß wir da ein Stück weitergehen können. nicht darum ringen, wie wir uns das eine oder andere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alte Tabu um die Ohren schlagen können, und nicht Das ist die Öffnung zum Feld der Umweltaußenpo- weiterhin aufeinander losgehen, statt miteinander zu litik, die wir brauchen. Umweltaußenpolitik ist so un- gehen. glaublich wichtig, weil sie Friedenssicherungspolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)) ist. Was in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor uns liegt, das ist nicht mehr die ideologische Aus- Haben Sie denn noch nicht gemerkt, daß das Motto, einandersetzung, sondern es wird die Auseinander- das jetzt angesagt ist, Energiekonsens heißt und nicht setzung um knappe Ressourcen, um knappe Roh- eine völlig unqualifizierte Streiterei ist? Ist das denn stoffe, um knappe Möglichkeiten zur Verschmutzung nicht nachvollziehbar, meine Damen und Herren? dieses Planeten Erde sein. Darum wird es gehen. Des- (Monika Ganseforth [SPD]: Ist das Konsens, wegen müssen wir hier vorankommen.- Deswegen was Sie hier machen? — Weitere Zurufe von müssen wir unsere Aufgaben für die Konferenz in Bra- der SPD) silien vorbereiten. Ich sage Ihnen hier ganz nachhaltig: Energiepoliti- Deswegen bin ich natürlich dankbar dafür, daß wir scher Konsens heißt zunächst einmal zu fragen „Was für diese beiden wichtigen Aufgabenfelder, für die machen wir denn gemeinsam?" und nicht zu fragen Sanierung und die Entwicklung in den fünf neuen „Was machen wir nicht gemeinsam?". Wir alle sind Bundesländern und für die internationalen Aufgaben, uns doch wohl einig darüber, daß wir die Energieeffi- bis hinein in die Leitung des Ministeriums gut ausge- zienz zu erhöhen haben. stattet sind. Es ist hervorragend, daß Herr Schmid- bauer und Herr Wieczorek Parlamentarische Staatsse- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie tun kretäre sind. doch nichts dafür! Das sind doch alles Sprechblasen! Nicht eine konkrete Maß- (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ nahme! Nicht eine einzige Mark für erneuer CSU]: Und auch gute Staatssekretäre sind!) bare Energie! Sprechblasen! — Gegenrufe Das muß auch einmal gesagt werden, weil permanent von der CDU/CSU — Peter Harry Carstensen der Eindruck entsteht, genau diese K ritik werde hier [Nordstrand] [CDU/CSU]: Unsinn!) unwidersprochen aufgenommen. Ich möchte das mit — Herr Kollege Schäfer, ich bleibe dabei, daß ich lie- allem Nachdruck gesagt haben. Es ist hervorragend, ber nach dem Konsens frage. Ich habe auch den Ein- daß wir die Erfahrung aus der Enquete-Kommission druck, daß der eine oder andere, der heute hier schon jetzt unmittelbar in der Arbeit dieses Ministeriums für Ihre Fraktion gesprochen hat, ebenfalls mehr an nutzen können. Es ist auch hervorragend, daß wir die den Konsens gedacht hat, als das gerade vorhin hier Erfahrung von Herrn Wieczorek aus Auerbach unmit- der Fall gewesen ist. Deshalb habe ich mir erlaubt, telbar nutzen können. Ich wollte das nur einmal ge- darauf noch einmal hinzuweisen. Dieser Konsens ist sagt haben; denn manchmal lese ich darüber be- für mich unumgänglich daran gebunden, daß wir fos- stimmte Dinge. Deswegen war es eine gute Sache. sile Energieträger effizienter einsetzen, damit wirksa- Meine Damen und Herren, abschließend komme mer umgehen. Sie wissen genau, daß diese Bundesre- ich, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt der gierung den Beschluß gefaßt hat, den Ausstoß von Umweltaußenpolitik, auf die Energiefrage zu spre- CO2 umd 25 % bis 30 % zu vermindern. chen. Eines ist doch völlig klar, das international Ent- (Zuruf von der SPD: Das ist in Ordnung!) scheidende ist: Wie gehen wir mit moderner Technik um? Was irgendwo auf dieser Erde mit einer moder- Sie kennen unser Handlungsprogramm genau. Sie nen Technik wie Kernenergie oder Gentechnik falsch wissen also auch, daß wir das nicht nur bei uns tun, gemacht wird, schlägt nämlich mit Sicherheit auf alle sondern daß das international ist, und zwar bis hin zu zurück. Deswegen muß ich schon ein Stück mehr fra- der Überzeugung der Franzosen. — Das ist energie- gen als nur: Was machen wir in Greifswald und in politischer Konsens. Ich sage es noch einmal: Wir Stendal? müssen diesen energiepolitischen Konsens europä- isch haben. Ich sage Ihnen ganz deutlich, die Schlagzeile wäre besser gewesen, wenn wir gesagt hätten: Wir schalten Meine Damen und Herren, wer sich hier hinstellt das eine oder andere Kernkraftwerk in der Bundesre- und die Franzosen völlig undifferenziert dahin ge- publik Deutschland ab. — Wichtiger für die Sicherheit hend anklagt, sie würden nicht verantwortungsbe- in Europa und weltweit ist es aber, daß wir uns ge- wußt mit Kernenergie umgehen, der wird doch wohl Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2153

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer in Europa keinen energiepolitischen Konsens erzielen reich der Umweltsanierung in den neuen Bundeslän- können. Wie wollen Sie das denn wirklich machen? dern fehlt angeblich das Geld. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was hier fehlt, Herr Minister, ist die Durchsetzungs- Deswegen sind wir sehr der Überzeugung, daß wir zu kraft, den vielen Ankündigungen endlich auch Taten diesem energiepolitischen Konsens sehr vieles beitra- folgen zu lassen. gen können, bis hin zu der Tatsache, daß wir die- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und se Sicherheitsfragen französischer Kernkraftwerke dem Bündnis 90/GRÜNE) schon längst mit den unseren verbunden, überprüft und kontrolliert haben. Was hier fehlt, ist ein Konzept aus einem Guß für die Lassen Sie mich ein letztes sagen. Daß wir Konsens Umweltpolitik der 90er Jahre. Was hier fehlt, ist der suchen, ist nicht Ankündigung, sondern Realität. Ich Wille zur Wende in der Umweltpolitik. freue mich darüber, möglicherweise auch der eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Blöd oder andere bei Ihnen, daß die Politik im Bereich der sinn!) Abfälle, die ich vorgeschlagen habe, im Deutschen Bundesrat mit den Stimmen von Nordrhein-Westfa- Sehen wir uns die Umweltsituation an, wie sie wirk- len, des Saarlandes, von Bremen und von Branden- lich ist. Leider, so ist zu konstatieren, haben wir uns burg akzeptiert worden ist. bei den Umweltmedien Luft, Boden und Wasser an Katastrophenmeldungen mittlerweile gewöhnt. Es ist nicht ersichtlich, wie die Bundesregierung die not- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, die vereinbarte Redezeit ist abgelaufen. wendige Umkehr erreichen will. Ankündigungen, ge- paart mit Untätigkeit — das ist Ihre Umweltpolitik.

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na- Im Naturschutzbereich fehlt nach wie vor das schon turschutz und Reaktorsicherheit: Ich möchte das nur lange angekündigte Naturschutzgesetz. Aus Angst ganz deutlich gesagt haben. Ich freue mich darüber,- vor der Landwirtschaftslobby und mangelnder Durch- daß dieser Konsens möglich war. Ich werde weiterhin setzungskraft gegenüber dem Finanzminister wird alles tun, um diese Konsensmöglichkeit weiterzufüh- dieses Vorhaben ständig auf die lange Bank gescho- ren: im Bereich der Umweltsanierung im Rahmen der ben. deutschen Einheit, im Rahmen der Energiepolitik, die (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider wir gemeinsam in Europa gestalten müssen, und mit wahr!) Blick auf alle Folgewirkungen der modernen Indu- striegesellschaft, die wir zum Wohle einer Zukunft in Sie, Herr Minister, werden nicht als Retter bedrohter diesem Lande gemeinsam gestalten sollten. Arten in die Annalen eingehen. Oder hat man von Ich danke Ihnen sehr herzlich. Ihnen den vehementen Protest vernommen, als im Einigungsvertrag festgelegt wurde, daß in den neuen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesländern Autobahnen auch in Naturschutzge- bieten gebaut werden dürfen? Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Ma- rion Caspers-Merk, Sie haben das Wort. (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Wo steht denn das? Erzählen Sie doch nicht solchen Blöd sinn!) Marion Caspers-Merk (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, wenn einer eine — Dann kennen Sie den Einigungsvertrag nicht. Reise tut, dann kann er viel erzählen, dann kann man (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Sie offensicht sogar eine Haushaltsrede mit diesen Reiseeindrücken lich nicht! Wir kennen ihn!) bestreiten. (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Im Bereich des Grund- und Trinkwassers hat sich Das war gekonnt!) die Belastung mit Nitraten, Pestiziden und anderen chemischen Stoffen dramatisch zugespitzt. Auf die Wir haben gemerkt, daß hier keine Konzepte in der Belastung des Trinkwassers in den neuen Bundeslän- Umweltpolitik für die Zukunft vorliegen. dern wurde elegant durch die vorläufige Außerkraft- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und setzung der bestehenden Trinkwasserverordnung dem Bündnis 90/GRÜNE) reagiert. Der zweite Satz zu Ihren Ausführungen. Sie haben Im Verkehrsbereich steht uns der Verkehrskollaps sehr viel über die Umweltaußenpolitik gesprochen, des motorisierten Indidvidualverkehrs unmittelbar offensichtlich weil Sie in der Umweltinnenpolitik so bevor. Sie, Herr Minister, nutzen die Erhöhung der wenig Greifbares vorzuweisen haben. Mineralölsteuer nicht zu Lenkungszwecken, um auch (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und andere Verkehrsmittel zu fördern, sondern lassen zu, dem Bündnis 90/GRÜNE) daß sie als reines Mittel der Haushaltssanierung ein- Zu der konkreten Haushaltssituation haben Sie re- gesetzt wird. lativ wenig Ausführungen gemacht. Ich vermute, weil Die Luftqualität insgesamt hat sich nicht zuletzt die Dimension des Umwelthaushaltes von 1,3 Milliar- durch die Zunahme des Individualverkehrs ver- den DM zeigt, was dieser Regierung die Umweltpoli- schlechtert. tik wirklich wert ist. Da werden gleichzeitig für Wehr- forschung und Wehrtechnik gut 2,9 Milliarden DM (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das stimmt gar ausgegeben, und für dringende Maßnahmen im Be- nicht!) 2154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Marion Caspers-Merk Gerade in den Sommermonaten können wir einen Bötsch [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort Ozonteppich über Europa beobachten. Ozonalarm in zurück!) vielen Städten und die Empfehlung an die betroffenen Das Ganze ist um so peinlicher, als Sie bereits jetzt Eltern, ihre Kinder zu Hause zu halten, sind kein Kon- denen, die mit Recht das Engagement des Bundes in zept gegen den Sommersmog. Sie, Herr Minister, le- dieser Frage erwarten, Versprechungen machen. Dies gen halbherzige Konzepte zur Sperrung der Innen- nenne ich eine Politik der ungedeckten Schecks. Eine städte vor, ohne eine aktive Verkehrsvermeidungs- Abgabe, deren Höhe noch nicht endgültig feststeht, politik zu unterstützen. bei der noch nicht einmal klar ist, wann die Gelder (Beifall bei Abgeordneten der SPD) daraus in welcher Höhe überhaupt zur Verfügung ste- hen, wird bereits an jeden, der Geld braucht, verteilt: In der Schweiz gibt es schon lange Luftreinhalte- Die neuen Bundesländer sollen etwas erhalten. Die plane. Telefonieren Sie doch einmal mit den Eidge- alten Bundesländer sollen etwas erhalten. Bei der nossen und informieren Sie sich darüber, wie die so jüngsten Sondersitzung des Sport- und Umweltaus- etwas machen! Ich komme aus einer Grenzregion, in schusses wurde gar angekündigt, daß die Sanierung der ich sehen muß, daß beispielsweise in Weil am der dioxinbelasteten Flächen auch mit Hilfe dieser Rhein Bundesjugendspiele veranstaltet werden, wäh- Abgabe mitfinanziert werden könnte. rend in Basel Ozonalarm herrscht und die Kinder zu Der Umweltminister verspricht also Gelder, die er Hause gehalten werden müssen. noch gar nicht hat, für Flächen, die er noch gar nicht Sie, Herr Minister, kündigen vollmundig an, daß bei alle kennt, mit einer Belastung des Bodens, die er noch der Bekämpfung der Verpackungsflut von Ihrem Mi- nicht einmal ahnt. nisterium sogar über Stoffverbote, Verpackungsabga- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt ge ben und das generelle Verbot der Einwegverpackun- hen Sie aber entschieden zu weit! — Arnulf gen nachgedacht wird. Und das faktische Ergebnis? Kriedner [CDU/CSU]: Aber Sie wissen es — Ihre Verpackungsverordnung scheitert im ersten schon!) Anlauf, mußte im Bundesrat nachgebessert werden - — Wir haben den vollen Umfang dieser Belastung und wird sich nach allem, was man jetzt weiß, als auch nicht erkannt, aber wir haben dafür Gelder im untauglich erweisen, die Verpackungsflut einzudäm- Haushalt gefordert. men; denn Sie haben von vornherein der Verpak- kungsindustrie das Schlupfloch des dualen Entsor- (Beifall bei der SPD) gungssystems gelassen. Frau Kollegin, gestatten Ein grüner Punkt soll Verpackungsverwertung und Vizepräsident Hans Klein: Sie eine Zwischenfrage? damit für die Augen der Verbraucher Umweltfreund- lichkeit signalisieren. Aber wem wollen Sie eigentlich erklären, daß die Glasmilchflasche keinen grünen Marion Caspers-Merk (SPD): Nein, ich bin sofort Punkt erhält, dafür aber die Milcheinwegkartonage? fertig. So kann man Umwelterziehung nicht begreifen, Kol- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das charakte leginnen und Kollegen! risiert Sie aber! — Zuruf von der CDU/CSU: Lesen Sie ruhig weiter!) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) Ich habe nur noch zwei Minuten, und aus diesem Grunde möchte ich im Zusammenhang vortragen. Ein weiteres Beispiel Ihrer verfehlten Umweltpolitik Allein in den neuen Län- ist die Altlastensanierung. Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Frau Kolle- dern sind bis heute — diese Zahl wurde bereits ge- gin! Die Zeit würde Ihnen nicht angerechnet. nannt — mehr als 12 500 Verdachtsflächen entdeckt worden. Unser Antrag zur Erhöhung des Ansatzes für (SPD): Ich möchte im Zusam- die Finanzierung der Altlastensanierung wurde abge- Marion Caspers-Merk menhang vortragen. schmettert.

In den alten Bundesländern kommen zu den be- Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr. kannten unzähligen Flächen laufend neue Altlasten (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) hinzu. Denken wir nur an die etwa 650 bekannten dioxinbelasteten Flächen mit der Kupferschlacke Kie- selrot, oder denken wir, wie jetzt bekannt wurde, an Marion Caspers-Merk (SPD) : Demgegenüber ha- die auf uns zukommenden Altlasten auf den Stand- ben die Sozialdemokraten Konzepte vorgelegt, die orten der sowjetischen und amerikanischen Streit- eine Umkehr in der Umweltpolitik fordern. Kernstück kräfte. Hier fehlt ein bundesweites einheitliches Altla- des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft stensanierungs- und -finanzierungskonzept. Der ist eine Kombination aus gesetzlichen Vorgaben und Bund steht hierbei in der Verantwortung. marktwirtschaftlichen Instrumenten. Wir wollen, daß der, der die Umwelt benutzt und dabei schädigt, be- Sie haben zur Finanzierung der Altlastensanierung zahlt. Wir wollen, daß der, der die Umwelt bewahrt, ein Abfallabgabengesetz vorgeschlagen und für März belohnt wird. 1991 angekündigt. Vorgelegt ist dieser Gesetzentwurf Kernstück unserer umweltpolitischen Leitlinien bislang noch nicht. Also auch hier wieder viel ange- sind Lenkungsabgaben und Steuern, die diesen Na- kündigt, wenig gehalten. men wirklich verdienen. Gleichzeitig wollen wir die (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Umweltsanierung in den neuen Ländern auf unserem dem Bündnis 90/GRÜNE — Dr. Wolfgang hohen Niveau. Zweierlei Maß bei den Umweltstan- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2155

Marion Caspers-Merk dards darf es in einem vereinten Deutschland nicht in der Bundesrepublik Deutschland verschlechtern. geben. Es gibt einen Landesumweltminister, der deutlich da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von gesprochen hat, daß durch die Umweltpolitik in der PDS/Linke Liste) diesem Lande die Situation an Rhein und Ruhr besser geworden ist, daß es weniger Krankheiten gibt und Vielen unserer Vorschläge sind Sie nach einer An- daß die Menschen gesünder leben. Dieser Minister ist standsfrist bislang gefolgt. Die Sozialdemokratisie- kein Mitglied der CDU; er ist ein SPD-Minister. rung der Regierungspolitik findet zwar statt, aber lei- der erst, wenn man unseren Gesetzesvorschlägen die Wann stimmen Sie sich endlich einmal mit denen Zähne gezogen hat. Herr Töpfer, Sie gebrauchen un- ab, die fachlich ihr Ressort beherrschen — wie Ihr sere Begriffe, aber Sie benutzen Sie für andere In- Umweltminister in Nordrhein-Westfalen — , statt die- halte, sen Unfug zu erzählen, wie Sie ihn hier verzapfen? Das ist doch der Sachverhalt. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Gott (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sei Dank!) Dann müssen Sie auch die Katastrophenmeldun- und Sie lassen vor allem Ihren Ankündigungen keine gen, von denen Sie hier reden wollen, deutlich ma- Taten folgen. chen. Sie haben etwas zur Verpackungsverordnung (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten gesagt. Sie werden in Ihren eigenen Bundesländern, der PDS/Linke Liste) in Hamburg und im Saarland, mit der Flut der Verpak- Meine Erfahrungen als Parlamentsneuling mit Ih- kungen nicht fertig. Wir haben das Problem ange- rem Ministerium lassen nur den Schluß zu, daß dieses packt. Wir haben das System geschaffen, mit dem wir Ministerium im Umgang mit den Parlamentariern mit dieser Verpackungsflut fertigwerden. Defizite aufweist. Da werden Presseerklärungen ver- Ihre Länderminister haben, weil sie keine andere teilt, notwendige Ausschußunterlagen sind aber un- Lösungsmöglichkeit für die sozialdemokratisch re- vollständig und nicht rechtzeitig vorhanden. B riefe - gierten Länder sehen, dieser Verpackungsverord- von Abgeordneten mit drängenden Fragen der Bürger nung zugestimmt. Wann endlich lernt diese SPD-Bun- werden gar nicht oder erst mit monatelanger Verspä- destagsfraktion etwas vom Sachverstand ihrer Mini- tung beantwortet. Wer aus einem Ministe rium eine ster? Werbeagentur macht, hat vermutlich kein Interesse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daran, daß die blumigen Ankündigungen auch umge- setzt werden. Es wäre angebracht, daß Sie sich einmal in internen Kolloquien äußern, bevor Sie sich hier hinstellen und (Beifall bei der SPD) etwas sagen, was nicht Sache ist. Das muß ganz deut- (V o r s i t z: Vizepräsident Dieter-Julius Cro lich gesagt werden. nenberg) Ein letzter Punkt: zur Perspektivlosigkeit. Wir ha- Ich komme zum Schluß: ben das Bundes-Immissionschutzgesetz novelliert. (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wir haben durch die Chemiepolitik die Anlagen si- Es wird wirklich Zeit!) cherer gemacht. Weiterhin haben wir durch die Um- weltaußenpolitik dieses Umweltministers in Verbin- Wir fordern den Ausstieg aus der Perspektivlosigkeit dung mit dem Bundeskanzler dazu beigetragen, daß Ihrer Umweltpolitik und den Einstieg in eine Offen- wir endlich gemeinsam mit der EG und der Welt Ant- sive für die Umwelt. Ihre Politik, Herr Töpfer, strahlt worten auf die globalen Probleme in Sachen Treib- diese Perspektivlosigkeit aus. Sie wird zum umwelt- hauseffekt suchen und finden. politischen Sicherheitsrisiko und gehört entweder zur Wiederaufbereitung in die Opposition oder in ein si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cheres Endlager. Vielen Dank. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Dr. Lippold, Ihr Engagement ist kein hinreichender (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Grund, die Zeit für eine Kurzintervention deutlich zu dem Bündnis 90/GRÜNE) überschreiten. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kom- men. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Ich Lippold das Wort. werde dann schließen. Ich bedanke mich. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hätte lieber eine Zwischenintervention gehabt, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort damit man die vielen Unklarheiten, Mißverständnisse hat der Abgeordnete Klinkert. und Falschaussagen direkt richtigstellen kann, die sich so anhäufen, daß man sie im Rahmen einer Kurz- intervention ansonsten nicht ausräumen kann. Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ursprüngliche Haushalt des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) BMU von 1,3 Milliarden DM wurde auf Grund des Punkt eins: Die Kollegin hat von fortlaufenden Ka- dringenden Handlungsbedarfes zur ökologischen Sa- tastrophenmeldungen gesprochen, die die Situation nierung der neuen Bundesländer um jeweils 400 Mil- 2156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ulrich Klinkert lionen DM für 1991 und 1992 aufgestockt. Dabei ha- Monat eine Exkursion nach Sachsen und nach Bran- ben diese Mittel lediglich auslösenden und lenkenden denburg. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Reise Charakter für weitere Investitionen mit wesentlich hö- war die Besichtigung von ehemaligen und noch akti- heren Dimensionen auch im Umweltbereich. Wenn ven sowjetischen Militäreinrichtungen. Deswegen Herr Wagner hier den Anteil von 0,33 % am Gesamt- begrüßen wir die Aussage der Bundesregierung, zu- haushalt minutiös ausrechnet, dann zeigt er damit, nächst 70 Millionen DM für die Erkundung und Erf as- daß er sicherlich mit seinem Taschenrechner umge- sung der Altlasten auf den Liegenschaften der sowje- hen kann, tischen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Beson- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) ders begrüßenswert ist dabei die Tatsache, daß diese Aufträge im wesentlichen an ostdeutsche Firmen ver- aber weniger die Rolle eines Ministeriums begreift; geben werden, weil dadurch auch arbeitsmarktpoliti- denn es ist nicht mehr die Rolle eines Ministeriums, sche Effekte erreicht werden. wirtschaftslenkendes Organ zu sein. Das hatten wir im Sozialismus der DDR. Ich weiß allerdings nicht, wie Wir konnten uns auf dieser Exkursion davon über- dies im Saarland gehandhabt wird. zeugen, daß die von der Bundesregierung installierten beschäftigungspolitischen Maßnahmen gerade auch (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Kein für den Umweltbereich zunehmend aufgegriffen wur- Unterschied! — Hans Georg Wagner [SPD]: den. 10 000 Arbeitnehmer sind in der Zwischenzeit für Erfolgreich!) die reine Umweltsanierung über Arbeitsbeschaf- Vielleicht liegt es auch daran, daß so viele Finanzaus- fungsmaßnahmen eingesetzt. Wenn man die heutige gleichsmittel der Gesamtbundesrepublik ins Saarland Meldung der Bundesanstalt für Arbeit nimmt, daß die flossen und weiterhin fließen. Arbeitslosigkeit im Monat Mai nicht angestiegen ist, kann man das, glaube ich, als einen sehr wirkungsvol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — len Erfolg auch des Programms zur ökologischen Sa- Hans Georg Wagner [SPD]: Auch Quatsch! nierung der neuen Bundesländer ansehen. Wieder falsch!) Der Gipfel der Unsachlichkeit, glaube ich, war die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kritik daran, daß der Bundesumweltminister in ein ökologisches Krisengebiet gefahren ist, denn einer- Im Lausitzer Braunkohlenrevier wurde uns ein ähn- seits wurde kritisiert, daß Herr Töpfer dorthin fuhr, liches Modell vorgestellt, wie es Minister Töpfer hier für das mitteldeutsche Braunkohlenrevier beschrie- (Zuruf von der SPD: Ist doch gar nicht ben hat. Auch in der Lausitz können in den nächsten wahr!) Wochen und Monaten 3 000 bis 4 000 Arbeitnehmer, andererseits wurde nichts darüber gesagt, daß bei- die sonst überwiegend in die Arbeitslosigkeit geraten spielsweise auch SPD-Abgeordnete dorthin gefahren wären, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur sind. Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir als CDU/ ökologischen Sanierung eingesetzt werden. Alles das CSU-Fraktion begrüßen beide Aktivitäten. Wir haben sind Maßnahmen, die im Haushalt des BMU natürlich durch beide Aktivitäten sehr nützliche und sachliche nichts zu suchen haben, sondern die über andere Hinweise zum realen Zustand am Golf erhalten. Töpfe finanziert werden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Die wichtigsten Prioritäten, die jetzt gesetzt wer- Monika Ganseforth [SPD]: Er war aber gar den, können aus den positiven Erfahrungen des ver- nicht in Kuwait!) gangenen Jahres resultieren, da die 500 Millionen Herr Wagner, vielleicht darf ich auf noch einen DM Fördermittel, die zur Einzelprojektförderung ein- Punkt zurückkommen: Ich gebe zu, daß es für einen gesetzt wurden, dort Erfolge auf wirtschaftlichem und Neubundesbürger, wie ich einer bin, schwierig ist, beschäftigungspolitischem Gebiet erzielt haben. In alle Feinheiten der Marktwirtschaft zu kennen und zu diesem Jahr soll diese Praxis fortgeführt werden und erkennen. Aber das Verwirrspiel, das Sie hier mit Zah- vorrangig bei Wasserversorgungs-, bei Abwasserent- len, Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten der Marktwirt- sorgungsanlagen, bei Deponiesicherungsanlagen so- schaft vorgeführt haben, grenzt doch an Unsachlich- wie bei Maßnahmen zur Abwehr von Gesundheitsge- keit; denn wenn Sie hier die vorgesehene Mischfinan- fährdungen zur Anwendung kommen. zierung der 17 Milliarden DM für die ökologische Lassen Sie mich hier noch auf den Einwurf von Frau Sanierung der neuen Bundesländer den 400 Millio- Braband zurückkommen, daß die Müllawine der nen DM für Einzelprojekt- und Anschubfinanzierung Wohlstandsgesellschaft jetzt auch auf die fünf neuen gegenüberstellen, dann zeugt das, glaube ich, davon, Länder überschwappt. Wir sind uns sicherlich darüber daß Sie die Unterlagen zum Projekt der ökologischen einig, daß das Überschwappen der Müllawine nicht Sanierung nicht einmal gelesen haben — das wenig- erstrebenswert ist. Aber ich kann hier für die Bevöl- stens sollte man erwarten — , denn die Finanzierungs- kerung der DDR feststellen, daß sie mit dem Vollzug quellen dieses Projekts sind sehr deutlich aufge- der deutschen Einheit nicht warten wollte, bis das zeigt. Müllproblem in der Bundesrepublik (alt) gelöst (Hans Georg Wagner [SPD]: Ich habe das wurde. auch gelesen! Sie sollten Zeitung lesen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Arbeitsgruppe Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit der CDU/CSU-Fraktion unternahm, um Das ist jetzt ein gesamtdeutsches Problem, und wir sich ein eigenes Bild vom ökologischen Zustand der werden es mit dieser CDU/CSU-Regierung in den neuen Bundesländer zu verschaffen, im vergangenen nächsten Monaten lösen können. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2157

Ulrich Klinkert Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bun- Wenn wir diese Fragen so formulieren, dann sind desministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- das nicht reine Spekulationen. Ich mußte bereits am cherheit ist auf die an sich gesetzgeberisch lenkende Runden Tisch erfahren, daß die Geheimnisse des Wirkung des BMU abgestimmt und wird das Pro- KoKo-Bereichs von der damaligen DDR-Regierung gramm „Aufschwung Ost" wesentlich nach vorn be- streng gehütet wurden. Die von uns immer wieder fördern. angemahnten Informationen kamen nicht oder spät Vielen Dank. und nur sehr unvollständig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung hat diese Tradition der Her- ren Krenz, Modrow und de Maizière bruchlos fortge- führt. Von den Vernehmungen Schalcks beim BND im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Frühjahr 1990 haben die Bundestagsbegeordneten Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aus- bisher nichts erfahren dürfen, obwohl Schalck erst sprache. jüngst wieder gegenüber der „FAZ" erklärt hat, er Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzel- habe dort umfassend ausgepackt. plan 16 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Wie konnte es passieren, daß ausgerechnet enge Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — in der Schalck-Vertraute wie Traudl Lisowski, Jochen Ausschußfassung zustimmt, den bitte ich um das Steyer und Dieter Uhlig bis in die jüngste Zeit hinein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist mit der Abwicklung wesentlicher Teile des KoKo-Im- dieser Einzelplan mit den Stimmen der Koalitionsfrak- periums betraut waren? Warum hat das Bundesfi- tionen angenommen. nanzministerium den Bundestag bisher noch nicht über den Stand dieser Abwicklung unterrichtet? Tref- fen Meldungen des „Spiegel" und anderer Zeitungen Ich rufe nunmehr die Zusatztagesordnungs- zu, daß der BND Schalck zugesichert hat, für seine punkte 1 und 2 auf: Kooperationsbereitschaft wesentliche Teile seines ZP1 Beratung des Antrags der Gruppe BÜND-- Auslandsvermögens unangetastet zu lassen? NIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist ein Einsetzung eines Untersuchungsausschusses äußerst brisanter Stoff. Wir fordern Stimmrecht in die- — Drucksache 12/629 — sem Untersuchungsausschuß. Wir fordern Rederecht, ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD das uns mehr als zwei oder drei Minuten pro Sitzung einräumt. Wir erwarten, daß der Ausschußvorsitzende Einsetzung eines Untersuchungsausschusses so großzügig verfährt, daß auch über die Verabredung — Drucksache 12/654 — im Ältestenrat hinaus etwas mehr Spielraum für un- Zum Antrag der Fraktion der SPD liegen ein Ände- sere Mitwirkung möglich wird. rungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Ich hoffe, daß die Regierungsfraktionen wirklich — und zwar auf Drucksache 12/662, und ein Änderungs- wie sie es beteuern — die Aufklärung wollen und antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache nicht wie beim U-Boot-Ausschuß sofort wieder anfan- 12/686 vor. gen, die Ausschußarbeit mit tausend juristischen Fi- Die interfraktionelle Vereinbarung lautet: Debat- nessen und Geschäftsordnungstricks zu belasten. tenzeit eine halbe Stunde. Ist das Haus damit einver- Ich danke Ihnen. standen? — Das ist offensichtlich der Fall. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Köppe das Wort. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Struck. Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Einsetzung des Schalck-Untersuchungsausschusses ist, meinen Dr. Peter Struck (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr wir, ein Erfolg für das Bündnis 90/DIE GRÜNEN. verehrten Damen und Herren! Wenn in der letzten Denn seit wir in den Bundestag eingezogen sind, war Zeit über die Bewältigung der Vergangenheit in der dies eine unserer wichtigsten Forderungen. Und wir ehemaligen DDR und über die schlimmen Taten der haben eigentlich nicht verstanden, warum die SPD- führenden Mitglieder der SED und der damaligen Fraktion so lange gezögert hat. Schließlich hat Herr Regierung gesprochen wurde, hat der Name Schalck- Vogel die Aufklärung des Schalck-Golodkowski- Golodkowski in der Regel eine besondere Rolle ge- Skandals bereits im Bundestagswahlkampf verspro- spielt. Die SPD-Bundestagsfraktion stellt heute den chen. Antrag, einen Untersuchungsausschuß zu dem Kom- plex „Kommerzielle Koordinierung — Schalck-Golod- Worin besteht dieser Skandal? Was muß der von uns kowski" einzusetzen. Meine Damen und Herren, ich heute beantragte Untersuchungsausschuß dringend glaube, daß wir damit ein deutliches Signal für die aufklären? Erfreulicherweise hat die SPD in ihrem Menschen in der ehemaligen DDR geben, daß diese Antrag Kernpunkte unseres Antrags übernommen, Vergangenheit aufgearbeitet werden soll. und das sind die Fragen: Was hat die Bundesregie- rung unternommen, um die KoKo-Milliarden sicher- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jür zustellen und für den Aufbau der ostdeutschen Länder gen Rüttgers [CDU/CSU]) zur Verfügung zu stellen? Hat die Bundesregierung Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte Herrn Schalck Straffreiheit oder sonstige Vergünsti- ich hier für meine Fraktion erklären, daß wir im Ge- gungen zugesagt? gensatz zu manchem anderen Untersuchungsaus- 2158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Peter Struck schuß, der in den vergangenen Legislaturperioden tä- recht der Gruppenstatus gilt. Sie haben diese Rege- tig gewesen ist, die Arbeit dieses Untersuchungsaus- lung akzeptiert. schusses nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt Ich will das jetzt in eine etwas einfachere Sprache sehen, die Regierung vorzuführen oder der Regierung übersetzen. Sie sollen genauso wie jede andere Frak- ein Versagen auf einem bestimmten Gebiet vorzuwer- tion in diesem Untersuchungsausschuß die Möglich- fen. Vielmehr glaube ich, daß unser Appell an die keit haben, Beweisanträge zu stellen, Zeugenverneh- anderen Fraktionen dieses Hauses, die sich an diesem mungen durchzuführen, Akten anzufordern und Ak- Untersuchungsausschuß beteiligen werden, gemein- ten einzusehen, weil ich glaube — ich denke, auch da sam den Komplex Kommerzielle Koordinierung auf- spreche ich für alle anderen Abgeordneten —, daß zuarbeiten, auf fruchtbaren Boden fallen wird. Ich er- gerade die Vertreter vom Bündnis 90 eine besondere hoffe sehr auch die Mitarbeit der Regierungsfraktio- Verpflichtung, ein besonderes Recht haben, hier tätig nen in diesem Untersuchungsausschuß. zu werden. (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der CSU]: Da kannst du aber sicher sein!) FDP) Es wird eine schwierige Arbeit werden, dieses dun- In diesem Zusammenhang sei ein Wort an die PDS/ kle Kapitel aufzuarbeiten; denn der Komplex Kom- Linke Liste gerichtet. Ich würde es schon für sehr merzielle Koordinierung und sein Leiter haben im Re- eigenartig halten, meine sehr verehrten Damen und gierungssystem und im Partei- und Staatssystem der Herren, wenn der Vorsitzende der Rechtsnachfolgerin ehemaligen DDR eine sehr dubiose Rolle gespielt. der SED, Herr Kollege Gysi, Mitglied dieses Untersu- Wenn man sich die öffentlichen Äußerungen von chungsausschusses würde. Herrn Schalck-Golodkowski in den vergangenen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Monaten ansieht und anhört, die bezeichnenderweise FDP — Zuruf von der FDP: Das wäre das offensichtlich erst zu verzeichnen waren, als diejeni- allerletzte!) gen, die ihn in den Medien zu befragen hatten, dafür auch ein Honorar angeboten haben, dann kommt man Ich denke, daß man damit den Bock zum Gärtner zu der Auffassung, daß es eine schlimme Parallele zur machte. Sie sollten sich das sehr ernsthaft überle- Bewältigung der Vergangenheit der Nazizeit gibt. gen. Auch er zieht sich zurück auf den Sp ruch, er habe nur Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß Sie, Herr Kol- seine Pflicht getan. lege Gysi, weil Sie nun Vorsitzender der Rechtsnach- Ich erkläre hier — ohne dem Untersuchungsergeb- folgerin der SED sind, auch in die Verlegenheit kom- nis vorgreifen zu wollen — : Er hat nicht für diesen men werden, als Zeuge vor diesem Untersuchungs- Staat oder für die Menschen dieses Staates seine ausschuß aussagen zu müssen. Dann wäre es schon Pflicht getan, sondern er hat etwas getan, was nur den besser, Sie würden nur dann in den Untersuchungs- Mächtigen dieses Staates diente, ohne Rücksicht auf ausschuß kommen und nicht vorher schon darin sit- die Interessen der Bevölkerung der ehemaligen DDR. zen. Das war seine Tätigkeit. Ich denke, das wird auch die- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ser Untersuchungsausschuß hervorbringen können. FDP) Diejenigen, die diesem Untersuchungsausschuß an- Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir gehören, werden eine schwere Arbeit vor sich haben, werden natürlich — Frau Kollegin Köppe hat das an- wenn Sie berücksichtigen, daß — den Äußerungen gesprochen — auch die Tätigkeit der Kommerziellen der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Berlin zu- Koordinierung im Zusammenhang mit dem Vorfeld folge — dem Untersuchungsausschuß wohl 2 000 der Währungsunion zu untersuchen haben; denn es Leitz-Ordner mit ungeordnetem Aktenmaterial zur ist wohl unbestreitbar, daß gerade im Vorfeld der Verfügung gestellt werden müssen. Es wäre auch eine Währungsunion, in dem Augenblick, in dem klar war, Illusion anzunehmen, meine sehr verehrten Damen daß die D-Mark Währungsmittel in der damaligen und Herren, daß dieser Ausschuß schnell zum Ende DDR werden würde, eine Menge kriminelle oder na- kommt. Es wäre wünschenswert, daß dieser Ausschuß hezu kriminelle Aktivitäten auch und gerade von Mit- schnell zum Ende kommt. Aber ich sage hier einmal gliedern oder Mitarbeitern der Kommerziellen Koor- ganz deutlich: Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit ge- dinierung allein mit dem Ziel getätigt worden sind, hen bei der Untersuchung vor Schnelligkeit. Geld und harte Devisen, die damals vorhanden wa- ren, zu verschleiern und auf irgendwelche Auslands- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) konten und in andere Verstecke zu verschieben. Auch Deshalb wird es eine schwere Arbeit für die elf Mit- das wird ein wesentlicher Punkt der Arbeit dieses glieder dieses Untersuchungsausschusses werden. Untersuchungsausschusses sein. Wir wollen auch das Thema Wirtschafts- und Währungskriminalität in Ich greife jetzt den Beitrag von Frau Kollegin Köppe diesem Untersuchungsausschuß ganz energisch un- auf. Wir haben uns mit den anderen Fraktionen im tersuchen. Ältestenrat heute mittag noch darauf verständigt, daß wir — ich denke, ich spreche auch für den Kollegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rüttgers — Ihnen als Vertretern des Bündnisses 90, Ich komme jetzt auf den Antrag der PDS/Linke Liste die Sie mit einem Mitglied in diesem Untersuchungs- zurück, der hier als Änderungsantrag zu unserem An- ausschuß tätig werden wollen, die Rechte einräumen trag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses wollen, die alle anderen Mitglieder dieses Ausschus- vorliegt. Hierzu erkläre ich für meine Fraktion, daß ses haben — bis auf die Tatsache, daß beim Stimm- wir diesen Antrag ablehnen werden. Abgesehen von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2159

Dr. Peter Struck Ihrer politischen Vergangenheit sage ich: Es ent- clique. Wer weiß, vielleicht existierten Teile des Impe- spricht nicht den Beschlüssen, die wir in diesem Haus riums KoKo auch über den 3. Oktober 1990 hinaus gefaßt haben, daß Sie volles Stimmrecht in diesem versteckt und/oder als Versorger der PDS. Die KoKo Ausschuß haben sollen. Deshalb lehnen wir Ihren An- war meiner Einschätzung nach keine Entartung des trag ab. DDR-Sozialismus, keine verbrecherische Entgleisung Zu dem Antrag der Kollegen aus der CDU/CSU einzelner, sondern eine folgerichtige Erscheinung des Fraktion erkläre ich: Wir haben überhaupt keine Pro- Systems. Wo sozialistische Mißwirtschaft, Devisen- bleme, diesem Änderungsantrag zuzustimmen und knappheit und Gütermangel zwangsläufig und den Untersuchungsauftrag entsprechend zu erwei- systembedingt sind, da entsteht der Zwang, die Wohl- tern, weil wir, Herr Kollege Rüttgers, überhaupt keine fahrt der Nomenklatura auf Umwegen zu finanzieren. Sorge haben, daß auch die Zeit vor der Regierungs- Der Auftrag der KoKo lautete kurz gefaßt: Opium für übernahme durch die jetzige Koalition, die leider das Volk und Privilegien für die Führung. schon solange andauert, Die Menschen in den neuen Ländern haben unter (Heiterkeit bei der CDU/CSU) dem SED-Regime gelitten. Sie verlangen jetzt Aufklä- untersucht wird. rung und Rechenschaft auch über die dunklen Ma- chenschaften der KoKo. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: P rima!) Wir haben überhaupt keine Sorge, auch den Zeit- (Beifall bei der CDU/CSU) raum, in dem Sozialdemokraten oder Liberale Mit- Ich glaube, wir alle können die Ungeduld dieser glieder einer Bundesregierung waren — ich denke an Menschen verstehen. Wir verstehen den Zo rn der Graf Lambsdorff, der ja einmal Wirtschaftsminister Menschen, wenn sie auch nur den Eindruck haben, war und der auch Gespräche mit Vertretern der SED daß diese Aufarbeitung zu langsam geschieht. Ich oder Herrn Schalck-Golodkowski geführt hat —, in persönlich halte es durchaus für eine Provokation, daß die Untersuchung einzubeziehen. der Leiter dieses Bereichs, Schalck-Golodkowski, in - Dieser Untersuchungsausschuß ist — ich sage das einer der schönsten Gegenden Deutschlands ein zum Abschluß noch einmal — kein klassischer Unter- scheinbar geruhsames Leben führt, hin und wieder suchungsausschuß nach dem Motto: Ich haue deine unterbrochen durch hochbezahlte Fernsehauftritte Regierung, und du verteidigst meine Regierung, und Interviews. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Wir wissen, die zuständige Staatsanwaltschaft in sondern es ist ein Untersuchungsausschuß, der die Berlin hat gegen Schalck-Golodkowski eine Vielzahl Aufgabe hat, den berechtigten Wünschen und Be- von Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie hat große schwernissen der Menschen in der ehemaligen DDR Mengen von Akten beschlagnahmen lassen. Die so Rechnung zu tragen, daß wir sagen können: Hier Staatsanwaltschaft ist also dabei, die Frage der Straf- haben wir einen guten Beitrag zur Vergangenheitsbe- barkeit derjenigen Personen zu klären, die im Bereich wältigung geleistet. KoKo Verantwortung getragen haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Wir haben uns in diesem Hause schon einmal damit FDP) beschäftigt; es wäre gut, wenn diese Aufarbeitung schneller ginge, als es der Fall zu sein scheint. Gerade deshalb glaube ich, daß dieser Untersuchungsaus- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schuß auch einen Sinn hat. Wir als CDU/CSU-Frak- hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers. tion werden deshalb dem Antrag der SPD-Fraktion auf Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses zu- stimmen, obwohl wir den Antrag, Herr Kollege Struck, Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in einigen Details für mangelhaft halten. Deshalb ha- in diesen Tagen der Haushaltsdebatte viel von Zu- ben wir einen Ergänzungsantrag vorgelegt, mit dem kunftsgestaltung im wiedervereinigten Deutschland wir vermeiden wollen, daß es bei der praktischen Ar- gesprochen. Ich glaube, wir alle haben dabei gespürt, beit des Ausschusses Probleme gibt. daß es dabei auch immer um die Bewältigung der Ver- Daß der Antrag der PDS abgelehnt werden muß, ist gangenheit in der ehemaligen DDR geht. Zu dieser klar. Es ist wieder einmal typisch, daß es sich hierbei Vergangenheit gehört auch ein besonders sumpfiges mehr oder weniger um eine Geschäftsordnungsfrage Gelände in der sozialistischen Kommandowirtschaft, zur Erlangung von mehr Rechten handelt. nämlich der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordi- nierung. Nach allem, was wir bisher darüber wissen, Wenn wir dem Antrag des Bündnisses 90 sogleich war hier eine Beschaffungsmafia im Auftrag der SED nicht zustimmen werden, dann hat das — das will ich am Werk, so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe, ausdrücklich sagen — nichts mit dem Inhalt des An- die an keine Regeln gebunden war, nicht einmal an trags zu tun, sondern — Sie, Frau Kollegin Köppe, die Regeln der Planwirtschaft, nicht an die Gesetze haben schon darauf hingewiesen — schlichtweg mit der DDR und nicht an das internationale Recht. Das dem Ablauf des Verfahrens hinsichtlich der Erarbei- war so etwas wie eine Gesellschaft ohne Haftung, tung der Anträge. Ihr Antrag ist ja im Einsetzungsan- aber mit unbeschränkter Vollmacht. trag und im Ergänzungsantrag inhaltlich erfaßt, so daß insofern keine Schwierigkeiten entstehen können. Der Zweck der Organisation „Schalck" war die Ver- sorgung der SED, der Staatssicherheit, vermutlich Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern verlangt, daß auch der DKP und ihres Umfelds. Ihr Auftrag war die die Arbeit des Untersuchungsausschusses sofort be- Sicherung vor allem der Privilegien der Führungs ginnt. Wir wünschen, daß die konstituierende Sitzung 2160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Jürgen Rüttgers und die erste Beratungssitzung noch in dieser Woche, Vermögen heute zum Teil in den Händen der PDS und also morgen, stattfinden. ihrer Treuhänder befindet. Wir werden morgen vorschlagen, daß für die über- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Es hat sich vermehrt! — Dr. Barbara Höll [PDS/ nächste Woche Frau Justizsenatorin Limbach aus Berlin sowie der Vorsitzende der Unabhängigen Kom- Linke Liste]: CDU!) mission, Professor Papier, eingeladen wird. Wir wol- Der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordinierung len mit ihnen besprechen, wie der Untersuchungsaus- hatte sich nicht nur nach außen hin weitgehend abge- schuß arbeiten kann, ohne die Staatsanwaltschaft und schottet, sondern auch intern. Jeder weiß, es gab dort die Unabhängige Kommission zu behindern; daran keine Transparenz. Deshalb — da stimme ich dem haben wir sicherlich kein Interesse. Kollegen Struck zu — wird unsere Arbeit mühsam, langwierig und zeitraubend sein, und wir werden si- Wir wollen nach diesem Gespräch einen Aktenbei- cherlich eine Vielzahl von Zeugen hören müssen. ziehungsbeschluß herbeiführen, damit sich die Aus- KoKo soll nach den Berichten rund 3 500 Mitarbei- schußmitglieder dann während der Sommerpause in ter gehabt haben. Ich würde es begrüßen, wenn diese diesen umfangreichen Aktenberg einarbeiten kön- ehemaligen Mitarbeiter bereit wären, unsere Arbeit nen. zu unterstützen. Sie könnten uns die Arbeit sicherlich dadurch erleichtern, daß sie sich an uns wenden und Die ersten Zeugenvernehmungen sollten — so un- einen persönlichen Beitrag zur Aufklärung leisten. Ir- ser Vorschlag — auf dieser Grundlage unmittelbar gendwann werden wir ohnehin feststellen, wer dabei danach, nämlich im September, stattfinden. war und wer informiert war. (Dr. Peter Struck [SPD]: Einverstanden!) Weil wir uns im Ausschuß auf die Sacharbeit kon- zentrieren, verzichte ich auch darauf, heute hier die Zu einer solchen Arbeit gehört übrigens auch, daß Namen derjenigen Personen aufzuzählen, die nach die etwa erforderlich werdende Aufklärung- im Be- unserer Auffassung demnächst Zeugen vor dem Aus- reich der Administration der alten Bundesrepublik schuß sein sollen. Die Herren Stoph, Krenz, Mittag, Deutschland nicht auf die letzten Jahre beschränkt Mielke und Modrow werden sicherlich zu diesem bleibt. Ich freue mich, daß Herr Kollege Struck auch Kreis gehören. damit keine Schwierigkeiten gehabt hat. Dann Ich bin nach der Erklärung des Kollegen Struck scheint es mehr oder weniger ein Versehen gewesen sicher, daß in diesem Ausschuß Koalition und SPD an zu sein, daß die Begrenzung zufällig auf das Jahr 1983 einem Strang ziehen, ebenso wie das Bündnis 90. fiel. Deshalb möchte ich vielleicht als unsere gemeinsame Ich glaube, wenn wir das Ziel so definieren, Herr Auffassung feststellen: In diesem Ausschuß geht es Struck — da stimme ich Ihnen zu — , wie Sie es ge- um eine Aufarbeitung Ost und nicht um einen Gra- macht haben, dann ist für solche parteipolitisch moti- benkampf West. vierten Fristsetzungen kein Raum bei der Arbeit die- Wir sind zu einer guten Zusammenarbeit bereit. Es ses Ausschusses. wird viel Arbeit geben. Aber ich glaube, sie wird sich lohnen. Soweit wir wissen, wurde der Bereich KoKo 1972 Vielen Dank. gegründet. Wir werden sicherlich auch danach fragen müssen, ob und gegebenenfalls welche Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie hänge im deusch-deutschen Verhältnis in jener Zeit bei Abgeordneten der SPD) mit diesem Bereich bestanden haben. Ich glaube, daß uns die ehemaligen Leiter der Ständigen Vertretung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort in Ost-Berlin, Gaus und Bölling, die sich ja auch lite- hat der Abgeordnete Dr. Gysi. rarisch zu diesem Thema geäußert haben, interes- sante Auskünfte zu diesem Komplex geben können. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Jetzt Sie haben ja auch Herrn Schalck-Golodkowski bei machen wir den Bock zum Gärtner!) ihrer Arbeit, wie ich lesen kann, sehr gut kennenge- lernt. Die Memoiren von Günter Gaus erzählen jeden- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! falls von einer Vielzahl konspirativ anmutender Tref- Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste hat fen. sofort nach den ersten öffentlichen Äußerungen er- klärt, daß wir für die Einsetzung des Untersuchungs- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns interessie- ausschusses sind. Wir können sowohl dem Antrag von ren die Arbeitsweise des Bereichs KoKo und die Ver- Bündnis 90/GRÜNE als auch dem SPD-Antrag zu- bindungen zur SED und zum Ministe rium für Staats- stimmen. Natürlich sind wir dafür, daß die beiden sicherheit; uns interessieren aber auch die Verbin- Gruppen im Hause auch stimmberechtigt sind. Im- dungen zur PDS und zur DKP. Wir wollen wissen, was merhin sind es die, die in erster Linie im Osten Deut- dort erwirtschaftet wurde, wie es erwirtschaftet wurde schlands — spezifisch dort, würde ich sagen — ge- und was mit den Erträgen geschah. Weiterhin interes- wählt worden sind. siert uns, was aus den vermutlich mehreren hundert Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen ge- Ich füge hinzu, daß bei den Sachfragen, die da erör- worden ist und wer heute darüber verfügt. tert worden sind, mir eine nicht deutlich genug er- scheint. Aber ich hoffe, daß es dennoch Gegenstand Konkret heißt dies: Wir werden dem hin und wieder der Untersuchung sein kann. Es geht nämlich um fol- geäußerten Verdacht nachgehen, daß sich das KoKo gende Frage: Für Devisenbeschaffung muß man ja Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2161

Dr. Gregor Gysi etwas hergeben. Was ist eigentlich aus der DDR da- Uwe Lühr (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehr- mals alles herausgegangen, um diese Devisen zu be- ten Damen und Herren! Gestatten Sie bitte, daß ich in schaffen? In welchem Verhältnis stand das zu diesen einer etwas ungewöhnlichen Art und Weise heute mit Devisen? Das ist eine Frage, die Bürgerinnen und Bür- meinem Redebeitrag beginne. Seit dieser Woche be- ger der ehemaligen DDR sehr bewegt. ginne ich an Horoskope zu glauben. Ich will das gleich (Zuruf von der CDU/CSU: Häftlinge!) erläutern. Mit der Genehmigung des Präsidenten möchte ich drei Sätze aus dem „Stern" dieser Woche Ich glaube, daß in großem Umfang Kulturgegen- zitieren, die meine und indirekt die Zukunft des Un- stände, Antiquitäten und vieles andere eher ver- tersuchungsausschusses Schalck-Golodkowski ange- schleudert worden sind, als daß es sozusagen — — hen. Da heißt es unter meinem Sternzeichen Fische — (Zurufe von der CDU/CSU: Häftlinge! — ich zitiere: Menschen! ) Sie sollen Ihr Tätigkeitsgebiet erweitern. Das ist — Da stehen die Zahlen einigermaßen fest, weil Sie eine zweischneidige Sache. Denn die Mehrarbeit wissen, was Sie gezahlt haben. Aber bei den anderen wird sich kaum lohnen. Sachen ist das völlig offen. Deshalb, meine ich, müßte (Heiterkeit) das geklärt werden. Die erste Voraussage ist bereits eingetroffen. Ich Ein zweiter Gesichtspunkt. Sie haben hier etwas habe erfahren, daß ich diesem Ausschuß angehören zum Osten gesagt. Ich füge hinzu: Es gab keinen an- werde. deren Bereich in der DDR, der so perfekt, so gut und so Wir als FDP haben von Anbeginn aus unserer Skep- umfassend mit dem Westen zusammengearbeitet hat sis gegenüber der Eignung dieses parlamentarischen wie der Bereich Kommerzielle Koordinierung — das Instruments zur Aufklärung staatlich organisierten sollten Sie dabei allerdings nicht vergessen — , und Betrugs am größten Teil der Bevölkerung der ehema- zwar sowohl mit allen wirtschaftlichen als auch in ligen DDR kein Hehl gemacht. Auch sehen wir die allen politischen Spitzen. Gefahr, daß über den Sumpf von Devisenmanipulatio- (Rudolf Bindig [SPD]: Wollen Sie uns angst nen die wirklich schwerwiegenden Verbrechen wie machen?) Mauermorde, Totschlag und Erpressung und anderes — Nein, ganz im Gegenteil, ich halte es nur für auf- mehr ins Abseits des Interesses geraten können. Da klärungsbedürftig. die SPD aber auf ihrem legitimen Recht bestanden hat, wollen wir uns um so mehr bemühen, die Arbeit Ich will ein drittes sagen. Wenn Sie mich persönlich des Ausschusses zum Erfolg zu führen. angehen, Herr Struck, und wenn auch Sie sich natür- lich nicht beherrschen können, so sind Sie da ziemlich Das ist eine zweischneidige Sache, stand in dem auf dem Holzpfad. Das werden Sie auch feststellen. Horoskop. Ja, der Ausschuß hat die Chance, ein Stück Sie können da alles aufklären. deutscher Geschichte aufzuarbeiten. Er hat die Chance, zum Rechtsfrieden in den neuen Bundeslän- Ich ergänze, daß die Treuhandanstalt in der letzten dern und in ganz Deutschland beizutragen. Es gibt Sitzung der Parteienkommission dazu erklärt hat, daß aber auch eine Gefahr, daß er aus vordergründigen alles so ist, wie ich es dargestellt habe: daß ab Dezem- parteipolitischen Erwägungen zu taktischen Ausein- ber 1989 dieser ganze Bereich ausschließlich vom andersetzungen mißbraucht wird, die insgesamt zur Staat und dann von der Treuhandanstalt selbst ver- Bestätigung gehätschelter Vorurteile gegenüber der waltet worden ist. Politik und den Politikern in unserer Bevölkerung bei- Übrigens, diese Effekt-GmbH, die zunächst durch die trägt. Treuhandanstalt mit Treuhand-Verträgen gehalten Wir hoffen, daß die Absicht der SPD, den Untersu- wurde, wo sie jetzt selber eingestiegen ist, das alles chungsauftrag auf den Zeitraum nach 1983 zu be- unterstand einer Abteilung in der Treuhand, die bis schränken, nicht ein erstes Anzeichen für diese Ten- zur Wahl der neuen Präsidentin durch diese selbst denz ist. Herr Dr. Struck hat mir diese Sorge soeben geleitet wurde. Einige Dinge könnten also schon klar genommen. Ich habe das sehr dankbar zur Kenntnis sein, wenn man sich erkundigt hätte. genommen. Die zeitliche Begrenzung des Untersu- Wir haben gegen die Aufklärung nichts einzuwen- chungsauftrages darf es nicht geben. Wir haben einen den. Im Gegenteil, ich finde es wichtig für die ehema- eigenen Antrag mit dem Ziel der Erweiterung des ligen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Ich lege aber Auftrags des Untersuchungsausschusses einge- auch Wert darauf, daß wir stimmberechtigt daran be- bracht. teiligt sind. Es wird sich für einen Schlag gegen die Die voraussichtliche Teilnahme von Herrn Gysi als PDS wirklich nicht als besonders inhaltsreich erwei- Mitglied in diesem Ausschuß läßt leider schon jetzt sen. Aber für die Aufklärung der Geschichte der DDR Inszenierungen erwarten, deren zynischer Reiz fast und auch für die Aufklärung der Geschichte der Be- nicht zu überbieten sein wird. Das hat er hier übrigens ziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepu- soeben auch gezeigt. Die Bemühungen der PDS, ihren blik halte ich diesen Untersuchungsausschuß für sehr Zusatzantrag hier durchzubringen, lehnt die FDP mit wichtig. aller Entschiedenheit ab. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir wollen uns ernsthaft Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort bemühen, ein Stück der unheilvollen Vernetzung von hat der Abgeordnete Lühr. Stasi, KoKo, Schalck-Golodkowski, von der persönli- 2162 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Uwe Lühr chen Verstrickung und von ihrem Wirken auch in den Ich habe mir einmal etwas überlegt. — Ich meine, alten Bundesländern ans Licht zu bringen. Die Zeu- als relativ entfernter Westvertreter, der in der Fraktion gen, die wir einvernehmen werden, sollten ihre Pflicht der PDS/Linke Liste tätig ist, kann ich das relativ lok- zur wahrheitsgemäßen Aussage weniger als Bürde ker betrachten. — Ich will einmal auf folgendes hin- denn als Chance zur Mitwirkung an der Aufarbeitung weisen: Ich könnte mir eine Effektivierung der Arbeit einer Phase deutscher Geschichte verstehen, in der in dieses speziellen Ausschusses sehr gut vorstellen. vielen, vielen Einzelfällen mit staatlicher Gewalt das — Einen Antrag kann man ja jetzt schlecht stellen. Es persönliche Schicksal in einer Weise bestimmt wurde, wäre schön, wenn man in der Zukunft einen Antrag die bei Bürgern in den alten Bundesländern nur mit vielleicht auch mündlich und auch kurzfristig einbrin- Bestürzung zur Kenntnis genommen werden kann. gen könnte. — Ich will daher jetzt nur einfach die Gerade auch das Wissen um das große Interesse der Empfehlung abgeben, daß in diesen Ausschuß vor Bevölkerung in den neuen Bundesländern hält uns allen Dingen Vertreter der früheren Blockparteien, dazu an, den Auftrag des Ausschusses mit aller also Vertreter der Demokratischen Bauernpartei und Gründlichkeit auszuführen. Aber — das möchte ich der Ost-CDU, der LDPD und der NDPD, entsandt wer- mit aller Entschlossenheit sagen — der Ausschuß ist den, denn diese Parteien haben selbstverständlich, kein Tribunal. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin wer- wie für jedermann und jedefrau ersichtlich, eine au- den wir das Verfahren nach streng rechtsstaatlichen ßerordentlich fundierte Erfahrung mit den Strukturen Grundsätzen betreiben. Das Grundgesetz schreibt der Kommerziellen Koordinierung. Sie kennen sich uns das so vor. Deswegen haben wir aus den neuen mit dem ganzen Stil aus; Sie haben zum Teil selbst Bundesländern ja auch die Freiheit und Rechtsstaat- davon profitiert. Ich empfehle dringend, im Sinne ei- lichkeit des Grundgesetzes gewählt. ner Effektivierung dieses Ausschusses, an dem wir alle ein Interesse haben müssen, so zu verfahren. Irgendwelchen Rachegelüsten zu frönen könnte zwar verständlich sein, das wird es aber — das versi- chere ich hier — mit der FDP im Untersuchungsaus- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schuß nicht geben. Unsere Arbeit darf auch nicht dazu für eine Kurzintervention hat Herr Abgeordneter führen, daß die Ergebnisse der staatsanwaltschaftli- Kronberg. chen Ermittlungen gefährdet werden. Wir wollen die Interessen der Staatsanwaltschaft wahren helfen und Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Herr Dr. werden uns deshalb, wie Herr Rüttgers soeben schon Briefs, vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage, gesagt hat, umgehend mit Frau Limbach und Herrn daß ein ehemaliger Vertreter des Demokratischen Professor Papier verständigen, um die Untersuchun- Aufbruchs und damit ein Vertreter einer ehemaligen gen zu koordinieren. DDR-Partei im Ausschuß vertreten ist. Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag (Beifall bei der CDU/CSU) der SPD auf Einsetzung des Untersuchungsausschus- ses. Dem Antrag des Bündnisses 90/GRÜNE können Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich hoffe, wir aus diesem Grunde nicht zusätzlich zustimmen. wir können nun wirklich zur Abstimmung kommen. Wir tragen die Einsetzung des Untersuchungsaus- Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag der schusses in der Hoffnung mit, daß der dritte Satz des Gruppe PDS/Linke Liste, der Ihnen auf Drucksache von mir eingangs erwähnten Horoskops nicht eintref- 12/686 vorliegt, abstimmen. Wer diesem Änderungs- fen wird, in dem es hieß: „Denn die Mehrarbeit lohnt antrag der PDS/Linke Liste zuzustimmen gedenkt, kaum. " den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dage- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser An- der CDU/CSU) trag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten B riefs der Ihnen auf Drucksache 12/662 vorliegt. Wer diesem das Wort. Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich (Unruhe) um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Änderungs- antrag bei einigen Stimmenthaltungen aus der Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Danke für das Gruppe PDS/Linke Liste angenommen worden. Raunen. — Ich finde das ja ganz spannend. Da kommt Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion der SPD ja mal wieder was hoch. Wir haben das ja vor einigen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit Jahren schon einmal durchexerziert, so beim F lick- der Änderung, die Sie gerade beschlossen haben. Wer Ausschuß. stimmt diesem Antrag zu? — Wer stimmt dagegen? — Dazu fällt mir folgendes ein: Wenn der Flick-Aus- Stimmenthaltungen? — Dieser Antrag ist bei einigen schuß nur mit Vertretern von Parteien und politischen Stimmenthaltungen aus den Gruppen PDS/Linke Li- Organisationen besetzt worden wäre, die sozusagen ste und Bündnis 90/GRÜNE angenommen worden. nicht im Verfahren betroffen gewesen wären, dann Ich frage nun die Abgeordneten der Gruppe Bünd- hätte er ausschließlich mit Vertretern der GRÜNEN nis 90/GRÜNE, ob sie, nachdem der Untersuchungs- besetzt werden müssen. Das will ich nur einmal zu ausschuß eingesetzt ist, noch Wert darauf legen, daß bedenken geben, was die Behandlung der PDS be- über ihren Antrag abgestimmt wird. — Das ist der trifft. Fall. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2163

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Dann lasse ich über den Antrag der Gruppe Bünd- Sieht man sich die bisher erkennbaren Konturen an, nis 90/GRÜNE abstimmen, der Ihnen auf Drucksache die Bundesminister Krause dem staunenden Publi- 12/629 vorliegt. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Wer kum darbietet, so kann man zukunftsweisende Kon- stimmt dagegen? — Dieser Antrag ist mit den Sti zepte allerdings nicht entdecken, men der CDU/CSU, der SPD und der FDP abge- lehnt. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Ich rufe nunmehr auf: sondern eher ein Zurück in die 60er Jahre: Vorrang für den Straßenbau, Abbau von Mitwirkungsrechten der Einzelplan 12 Bürger im Planungsrecht, Beseitigung oder Vergam- Geschäftsbereich des Bundesministers für melung von Schienenwegen in den fünf neuen Län- Verkehr dern, Bildung eines neuen Schattenhaushalts — mög- — Drucksachen 12/512, 12/530 — licherweise jedenfalls — durch Leasing-Verfahren, das den Staat teuer zu stehen kommen wird und künf- Berichterstatter: tige Generationen mit Steuererhöhungen belasten Abgeordnete Ernst Waltemathe könnte, Aushebelung der parlamentarischen Rechte Wilfried Bohlsen bei der Feststellung der Straßenbauprioritäten, Werner Zywietz Der Ältestenrat schlägt eine Beratungszeit von einer (Ekkehard G ries [FDP]: Das ist alles wirklich Stunde vor. — Das Haus hat nichts dagegen einzu- falsch!) wenden, so daß ich das als beschlossen feststellen und die Aussprache eröffnen darf. — Herr Gries, hören Sie weiter zu —, Abschied von den maritimen Interessen einer großen Handelsna- Ich erteile dem Abgeordneten Waltemathe das tion. Wort . m-- Also — die einen mögen es erhoffen, die anderen werden es befürchten — : Nicht jeder Krause-Ge- Ernst Waltemathe (SPD): Vielen Dank, Herr Präsi- danke ergibt schon eine glatte Lösung. dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben einen neuen Verkehrsminister. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNE) Wir haben neue Herausforderungen in Gesamtdeut- Der heute zu beratende offizielle Verkehrshaushalt schland. Wir werden ein neues, ein wachsendes Eu- und der Teil des Gemeinschaftswerks Aufschwung ropa haben. Wir haben also p rima Voraussetzungen Ost, der sich auf Verkehrsbauten bezieht, ergeben für wirkliche Verkehrspolitik. — je nachdem, wie man rechnet — ein Volumen von In der alten Bundesrepublik war es ja prächtig. In etwa 37 bis 40 Milliarden DM, von denen etwa die den Aufbaujahren nach 1945 haben wir in der alten Hälfte Investitionsmittel sind. Das sind einerseits ge- Bundesrepublik manchmal sehr hechelnd versucht, waltige Summen, die der öffentlich-parlamentari- dem wachsenden Pkw- und Lkw-Verkehr gerecht zu schen Kontrolle unterliegen müssen, andererseits sind werden, die autogerechte Stadt wurde geplant, „freie es Beträge, bei denen sich der Streit um die konkrete Fahrt für freie Bürger" , zunehmender Gütertransport Verwendung lohnt, denn falsche Prioritätensetzun- über Autobahn und Fernstraße, Zurückdrängung von gen werden die Zukunft negativ beeinflussen. Wer zu Schiene und Wasserweg. Die Wohltaten dieser freien früh die Weichen falsch stellt, wird in diesem Fall vom Mobilität wurden mit Landschaftszerstörung, mit Im- Leben bestraft werden. mobilität durch immer mehr Staus, durch große Un- Ich komme zum Straßenbau; ich mache das nur in fallhäufigkeit und mit Streß erkauft. Stichworten. Es gibt gar keine Zweifel und auch kei- Dies sage ich nun nicht, um Schwarzmalerei zu be- nen Streit darüber, daß Straßen instandgesetzt, an- treiben, sondern um etwas von den Erfahrungen zu dere ausgebaut und wieder andere neugebaut wer- vermitteln. Es ist vielleicht gerade 20 Jahre her, daß den müssen. Es gibt auch keinen Streit darüber, daß in wir in der alten Republik von unserer Aufbauwut, in den fünf neuen Ländern großer Nachholbedarf be- der wir manches nicht bedacht haben, abgelassen steht, um zur Verkehrssicherheit und, soweit das geht, haben und im Planungsrecht und in der Umweltvor- zum verbesserten Personen- und Gütertransport ei- sorge vorsichtiger geworden sind. nen Beitrag zu leisten. Auch eine Nordautobahn zwi- (Zuruf von der SPD: Gottlob!) schen Elbe und Oder mag in Betracht kommen. Aber dies heißt doch auch, daß die Planungen so vorzuneh- Sollen also die Übertreibungen, die wir einmal als men sind, daß über Alternativen in der Trassenfüh- Fehler erkannt haben, jetzt fortgesetzt werden? Ist der rung, über Umweltverträglichkeit, über Bürgermit- Beitritt der ehemaligen DDR zugleich ein Freibrief für wirkung nicht bulldozerhaft hinweggerollt wird. Fehlerübertragungen, oder ergreifen wir die Chance, durch mehr Miteinander der Verkehrsträger zu politi- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li schen Vorgaben und Rahmenbedingungen zu kom- ste) men, indem jedes Verkehrsmittel seine spezifischen Vorteile ausspielen kann, ohne die spezifischen Planung, meine Damen und Herren, ist doch kein Nachteile zu vermehren? Das bedeutet unter anderem obrigkeitsstaatlicher, kein autoritärer Vorgang hinter eine verstärkte Anstrengung, durch entsprechende verschlossenen Türen. Gegen das Abwerfen von bü- Infrastruktur kombinierte Verkehre zu ermöglichen. rokratischem Ballast haben wir nichts einzuwenden, 2164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ernst Waltemathe wohl aber gegen Vorwände, Bürgerrechte zu ampu- samt und der Küstenschiffahrt insbesondere für den tieren und Umweltvorsorge als Luxus anzusehen. Transport von Gütern. Aus dem Bundeshaushalt wird nicht erkennbar, ob der sonst so kopfgesteuerte Bun- ( [FDP]: Wer will das desminister für Verkehr seewärtige Wasserwege denn?) überhaupt im Kopf hat. Im Etat hat er sie jedenfalls Zweitens die Schiene: Vordergründig werden Sie nicht. vermutlich erneut darauf verweisen, daß sich von den (Beifall bei der SPD) 17 Projekten zur deutschen Einheit allein neun auf Schienenwege, weitere sieben auf Straßen und ein Viertens der Luftverkehr: Vermißt wird hier ein Projekt auf die Binnenschiffahrt beziehen. Tatsache Konzept für den innerdeutschen und für den innereu- bleibt aber, daß ein Konzept zur Herstellung der Wett- ropäischen Luftverkehr und dessen Einpassung in bewerbsfähigkeit der Eisenbahnen weder vorliegt eine Gesamtkonzeption. Jedermann weiß, daß der noch beabsichtigt ist. Die Bahnen sollen ihren Fahr- Luftraum überlastet ist und künftig noch mehr überla- weg nach wie vor erwirtschaften. Seit wann zahlen stet sein wird und andere Verkehrsträger, richtig ein- eigentlich Binnenschiffahrt für Flüsse und Kanäle und gesetzt, den internen Verkehr künftig besser bewälti- Lkw und Pkw voll für Autobahnen und Fernstra- gen werden. Insoweit sind etwaige Absichten, neue ßen? Großflughäfen zu planen, sowohl von Anzahl als auch vom Standort her und unter Umweltgesichtspunkten (Beifall bei der SPD) in ein Gesamtkonzept Luftverkehr einzupassen. Dar- über sind wir uns aber wohl auch einig. Wie sollen erhebliche Defizite bei Bundesbahn und Reichsbahn vermieden werden, wenn Bau, Unterhal- Meine Damen und Herren, dieser Bundesverkehrs- tung und Sicherung ihrer Fahrwege betriebswirt- minister hätte einen guten Start haben können, schaftliche Kosten sind, während bei anderen Ver- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Er hatte einen kehrsträgern der Wert und die Kosten ihrer spezifi- guten Start!) schen Fahrwege in der Bilanz nicht auftauchen, in die Preise nicht eingehen, sondern als volkswirtschaftli- wenn er sich so an die Arbeit gemacht hätte, daß wirk- che Kosten unberücksichtigt bleiben? lich ein Neubeginn der gesamten Verkehrspolitik er- kennbar würde und die einzelnen Maßnahmen in ein Der Haushaltsausschuß mußte in diesem Jahr eine Zukunftsprojekt hineinpassen würden. Aber leider Ermächtigung aussprechen — der Bundestag wird es fällt Herr Krause zurück in die Hauruck-Politik des heute tun —, damit die Bundesbahn selbst zusätzliche kurzfristigen Aktivismus und duldet keine Kritik. Kredite in Höhe von 1,5 Milliarden DM aufnehmen (Beifall bei der SPD — Jochen Borchert kann. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß ihre Schul- [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) den- und Zinslast erhöht wird. Und die Reichsbahn, in die Marktwirtschaft überführt, wird demnächst be- Just an dem Tag — ich bin sofort fertig, Herr Präsi- reits bei vier Milliarden DM eigenen Schulden lan- dent —, als wir im Haushaltsausschuß den Personal- den. etat beraten haben, nämlich am 23. Mai, konnten wir der Zeitung entnehmen, daß der Abteilungsleiter für Drittens Wasserwege: Daß Bundesminister Krause Straßenbau, Stoll, und der Abteilungsleiter für Stra- aus einem Küstenland kommt, sollte man nicht vermu- ßenverkehr, Dr. Nau, geschaßt wurden. Sie waren ten. Die See- und Küstenschiffahrt kommt bei ihm wohl einerseits mit den von Herrn Krause vorgeschla- überhaupt nicht vor. Bei den Maßnahmen zur Erhal- genen Promille-Regelungen im Straßenverkehrsrecht tung der deutschen Flagge in der deutschen Seeschif- und andererseits mit dem planungsrechtlichen Kahl- fahrt fiel ihm nur eine absolute Null-Lösung ein, ob- schlag beim Straßenbau nicht einverstanden. wohl das Bundeskabinett noch im Juli des letzten Jah- Private Planungsgesellschaften, p rivate Trassenfi- res für die alte Bundesrepublik eine Reederhilfe von nanzierung auf Leasing-Basis, Maßnahmen- und Be- 120 Millionen DM zur Verfügung gestellt bzw. im Haushaltsplanentwurf veranschlagt hatte. Minde- schleunigungsgesetze — dies alles weckt unser Miß- trauen in die Regierungskunst des amtierenden Bun- stens weitere 20 Millionen DM müssen für das Bei- trittsgebiet hinzugerechnet werden. Herr Krause hat deskabinetts und veranlaßt uns, den Etat des Bundes- verkehrsministers abzulehnen. beide Beträge zusammengezählt, ist auf null Mark gekommen, die Koalition hat sich an ihre eigenen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Zusagen gegenüber den Reedern nicht gehalten und GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ statt 140 Millionen DM, die es, richtig gerechnet, hät- Linke Liste) ten sein müssen, nur 80 Millionen DM bewilligt. Die Opposition hat — auch gegenüber den Ree- Das Wort dern — klargemacht, daß sie keine Dauersubventio- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hat der Abgeordnete Bohlsen. nen will. Wir wollen in zwei Schritten die Seeschif- fahrtshilfe vollständig abbauen, für 1991 die zuge- sagte Summe und für 1992 noch einmal die Hälfte davon zur Verfügung stellen. Damit könnte sich die Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Herr Präsident! Reederschaft in ihren betriebswirtschaftlichen Kalku- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Ver- kehrsetat steht, so meine ich, vor der größten Heraus- lationen darauf einstellen, daß der Subventionsabbau 1993 vollzogen sein würde. forderung seit der Nachkriegzeit. Wir haben im Ver- kehrsbereich den höchsten Investitionsbedarf. Eine Zu einem Verkehrskonzept gehört allerdings auch Klausurtagung der Arbeitsgruppe Verkehr der CDU/ die Definition der Aufgaben der Seeschiffahrt insge- CSU-Fraktion hat gerade noch einmal deutlich ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2165

Wilfried Bohlsen macht, welch erheblicher Bedarf bis zum Jahre 2000 Hier baue ich die Brücke zum Subventionsabbau. ansteht. Ich will den Bundeswirtschaftsminister nachdrücklich Durch die Teilung bedingt ist der Ausbau der Ost- unterstützen, wenn er sagt: Wir müssen an die Sachen West-Verbindung beiderseits vernachlässigt worden. herangehen. Wir haben das ja im Haushaltsausschuß Da nicht alles sofort finanziert werden kann, denkt mit diesem Beschluß schon eingebracht. man natürlich auch über Leasing-Modelle nach. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber die Verfahren beim Bau von Verkehrseinrich- Ich will noch einmal deutlich machen — das sage tungen müßten beschleunigt werden. Hier spreche ich auch als Vorsitzender des Gesprächskreises Küste ich den Kollegen Waltemathe an: Wir alle wissen, wie unserer Fraktion — , daß wir auch im Bereich der groß und wie schnell gebaut werden müßte. Leider Schiffbauförderung ähnliche Wege gegangen sind. versagt sich die SPD-Fraktion hier eine Möglichkeit. Wenn wir einige Jahre zurückdenken, nämlich an die Ich bitte hier aber um eine Zusammenarbeit — gerade große Krise, wo wir den Schiffbau bis zu 20 % geför- das ist das Ansinnen des Ministers —, damit wir zu dert haben, sehen wir heute eine Herabstufung auf einer schnellen Umsetzung kommen. Ich bitte um die 16 %, auf 14 %, auf 12,5 %, auf nunmehr 9,5 % Förde- Unterstützung all derer, die Verantwortung tragen: rung. Wir sehen deutlich die Kurve nach unten, und Wir müssen schnell umsetzen können, um Verkehrs- zwar mit dem Hinweis an das Gewerbe, weiter nach engpässe zu beseitigen. unten fahren zu wollen. Das ist der Weg, den wir gegangen sind und den wir weiterhin gehen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich jetzt zwei Maßnahmen ansprechen, 40 Jahre Kommunismus hinterlassen uns Fernstra- die wir im Binnenschiffahrtsbereich zusätzlich hin- ßen in den neuen Bundesländern in einem schlechten eingenommen haben. Einmal ist es die Mosel und zum Zustand, wenig ausgebaute Binnenwasserstraßen anderen ist es die Ems-Vertiefung, für die wir beide und eine sanierungsbedürftige Reichsbahn. Mit die- einen Ansatz eingebracht haben. Hierzu weise ich sem Erbe müssen wir jetzt leben. noch einmal auf eine Problematik hin, die wir deutlich Ich will die Zahlen noch einmal kurz in Erinnerung sehen. rufen; denn 35,5 Milliarden DM sind doch immerhin (Ernst Waltemathe [SPD]: Herr Krause hatte ein Volumen in unserem Haushalt, das deutlich das nicht im Entwurf!) macht, wie die Schwerpunkte, wie die Prioritäten ge- — Ja, aber wir haben es d rin. Ich wollte es nur noch setzt werden. Wenn Sie dann noch Einzelplan 60 mit einmal deutlich machen. Insofern sind wir einigen dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost hinzuden- Wünschen der Regionen auch sehr deutlich nachge- ken, wird deutlich, welches Volumen hier angesetzt kommen. wird.

Die Beratungen im Haushaltsausschuß haben dazu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geführt, daß wir einige, aber doch wesentliche Verän- geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzu- derungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorge- lassen? nommen haben. Lassen Sie mich auf einige wenige eingehen. Ich beginne bei dem, was Kollege Walte- mathe auch schon angesprochen hat, nämlich bei den Wilfried Bohlsen (CDU/CSU) : Natürlich. Das ist ein Kollege aus dem Haushaltsausschuß. Finanzbeiträgen. Zunächst waren in dem neuen Regierungsentwurf (Duisburg) (SPD): Herr Kollege keine Ansätze getätigt. Wir meinten, daß dies — da Helmut Wieczorek Bohlsen, der Präsident hat mich sehr lange übersehen, waren wir uns auch mit den Berichterstattern der an- so daß Sie nicht mehr bei dem Thema sind, das ich deren Fraktionen einig — zu reparieren sei. Ich darf es ansprechen möchte. Ich wollte Sie eigentlich nur fra- als einen großen Erfolg verbuchen, daß es gelungen gen, ob Sie nicht glauben, daß die Subventionsgabe ist, von einer Null-Summe wieder auf einen Ansatz zu an die deutsche Seeschiffahrt und an die deutschen kommen. Das war sehr wichtig und hätte bei den See- Werften eigentlich mustergültig ist — wenn man schiffahrtsunternehmen sicherlich sonst zu negativen überhaupt von mustergültigen Subventionen reden Auswirkungen sowohl bei der Beschäftigung wie kann — und daß wir ihr damit ermöglicht haben, die auch bei der Ausbildung der Seeleute führen können. Anpassung ihrer Kapazitäten und ihrer Belegschaft in Es mußte also die vollständige Streichung verhindert so weicher Form vorzunehmen, wie es eben geht. Fer- werden. ner möchte ich Sie fragen, ob Sie glauben, daß dieser Wenn es uns nunmehr im Haushalt 1991 mit 80 Mil- Anpassungsvorgang schon zu Ende ist. lionen DM und im Folgejahr durch Verpflichtungser- mächtigungen in Höhe von 50 Millionen DM gelun- Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Ich sage Ihnen nicht, gen ist, die Ansätze entsprechend einzubringen, so daß der Anpassungsvorgang zu Ende ist. Wir können haben wir doch dem Gewerbe signalisiert, daß für die diesen Subventionsabbau nicht allein auf nationaler dann folgenden Jahre weitere Beträge nicht fließen Ebene betreiben. Sie werden mir zugeben, daß dies sollen. Das haben wir vorher deutlich gesagt; darauf nur im internationalen Verbund geht; denn diese kann sich das Gewerbe einstellen. Werftbetriebe und Seeschiffahrtsbetriebe stehen in Hier sehen wir auch noch einmal die Zusammen- einer direkten Konkurrenz zu europäischen Partnern. hänge eines Subventionsabbaus: im letzten Jahr fast Ich möchte Ihre Frage daher mit der Bitte an den Bun- noch 140 Millionen DM, in diesem Jahr runter auf deswirtschaftsminister verbinden, auf die europäi- 80 Millionen DM und im Folgejahr runter auf 50 Mil- schen Nachbarn dahin gehend einzuwirken, daß die- lionen DM. Wir sehen hier einen deutlichen Abbau. ser Subventionsabb au überall gleichermaßen ge- 2166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wilfried Bohlsen schieht. Nur wenn das möglich ist, können wir später den alten Bundesländern vor zehn oder 20 Jahren ge- auch einmal auf Null fahren. sündigt, indem viel Baumbestand geopfert wurde. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem verbindet sich genau mit unserer Mei- Bündnis 90/GRÜNE) nung!) Ich bitte nachdrücklich darum, daß sich die Fehler, die bei uns gemacht worden sind, dort nicht wiederholen. Ich hatte eben noch einmal auf die Ems-Vertiefung Mein dringender Appell: Erhalten Sie die schönen hingewiesen. Ich möchte dazu noch ganz deutlich sa- Alleen in den neuen Bundesländern. gen — das richte ich auch an die Kollegen aus Nieder- sachsen — , daß es hierbei keinen Konsens mit der nie- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD dersächischen Landesregierung gibt. Dies will ich und dem Bündnis 90/GRÜNE) noch einmal deutlich machen. Die Redezeit erlaubt es Im Bereich der Luftfahrt — auch hier eine Haus- mir nicht, noch einmal zu vertiefen, was der Kanzler- haltsveränderung gegenüber dem Regierungsent- amtsminister Seiters anläßlich der Eröffnung der Jan- wurf — will ich ansprechen, daß die Gewinne aus den Berghaus-Brücke in Leer dazu gesagt hat. Er hat dort Beteiligungen um 55 Millionen DM zurückgeführt noch einmal deutlich gemacht, daß es dann, wenn das werden mußten, da seitens der auf Grund Land Niedersachsen nicht bereit ist, diese Maßnahme der bekannten zurückliegenden internationalen Zu- in dem Umfang, in dem es der Bund möchte, zu tra- sammenhänge keine Dividende an die Aktionäre ge- gen, nicht zum Vollzug kommen wird. zahlt wurde. Für 1991 werden nach dem Verlauf der Ich bitte also die niedersächsischen SPD-Kollegen, ersten Monate auch die großen Luftverkehrsgesell- insbesondere die im Haushaltsausschuß, die diesen schaften weiter mit sehr schwierigen Marktverhältnis- Beschluß mitgetragen haben, auf die rot-grüne Lan- sen kämpfen müssen. desregierung in Niedersachsen einzuwirken mit dem Bezogen auf den Luftraum Berlin sind eine bessere Ziel, daß diese ihren Ems-Kurs doch ein wenig verän- Koordinierung und eine bessere Nutzung der vorhan- dert. So, wie er jetzt ist, führt er in eine Richtung, bei denen Kapazitäten der Verkehrsflughäfen dringend der Arbeitsplätze an der Küste vernichtet werden. notwendig. Dies soll über eine Holdinggesellschaft erreicht werden. Gesellschafter sind hier neben Berlin Ein wesentlicher Punkt — jetzt komme ich zum und dem Land Brandenburg auch der Bund mit einem Fernstraßenbau — war bei unseren Beratungen eben Anteil von 26 %. dieser Bezug. Auf der Ausgabenseite sehen wir natür- lich, daß vieles abzudecken ist. Wir bekommen nach Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal das dem Regierungsentwurf Finanzierungsschwierigkei- Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ansprechen; ten in den alten Bundesländern dadurch, daß wir denn auch hier gab es einige Änderungen. Die Mittel 1 Milliarde DM von den Altländern in die Neuländer nach dem Gesetz zur Verbesserung der Verhältnisse umlenken. in den Gemeinden wurden ja durch die Einigungsver- tragsgesetze bereits im Jahre 1990 von 2,6 Milliarden Zunächst hat der Haushaltsausschuß auch hier ein- DM um 680 Millionen DM für die Neuländer auf ins- vernehmlich den bisher vorgesehenen Haushaltsver- gesamt 3,28 Milliarden DM erhöht. merk neu gefaßt — hierauf möchte ich deutlich hin- weisen —, so daß die Haushaltsmittel, die im Jahre Durch das Haushaltsbegleitgesetz sollen in den fünf neuen Bundesländern die 1991 in den neuen Bundesländern nicht benötigt wer- Maßnahmen im Rahmen den, auf dem Gebiet der Altländer eingesetzt werden des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes auf Fördersätze in Höhe von 100 % angehoben werden. können, dort aber in den Folgejahren nicht eingespart werden müssen. Ich weise auch darauf hin, daß im Das heißt, die neuen Bundesländer brauchen keine Komplementärmittel einzubringen. Ausgenommen Einzelplan 12 — das ist der Bereich des Bundesfern- straßenbaus — und im Einzelplan 60 — hier verweise haben wir hier lediglich die Bezuschussung der Omni- busse in dieser Höhe. ich noch einmal auf das Gemeinschaftswerk Auf- schwung Ost — weitere Verpflichtungsermächtigun- Mir verbleiben noch einige Minuten, um zur Reichs- gen von je 500 Millionen DM ausgebracht sind. Mit bahn und Bundesbahn einige Worte zu sagen, diesen Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: ICE!) 1 Milliarde DM wird es möglich, Haushaltsmittel in einer Größenordnung von 500 Millionen DM von den — Ich werde ihn gleich mit einfangen, verehrter Herr Neuländern auf die Altländer umzuschichten, ohne Kollege. daß wir die Höhe des Vergabevolumens in irgendei- ner Weise schmälern. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist Zum Bundesfernstraßenbau möchte ich noch auf die nicht schwer, der steht ja immer!) Schaffung einer haushaltsrechtlichen Voraussetzung Hierzu haben die Koalitionsfraktionen einen Ent- hinweisen, mit der bei der beschleunigten Verwirkli- schließungsantrag eingebracht, wonach zur Zusam- chung von Straßenbauprojekten in den neuen Län- menlegung der beiden deutschen Bahnen bis zum dern ganz neue Wege beschritten werden. Ich nenne Sommer ein verbindliches Konzept vorzulegen ist. Die hier die Bildung der Planungsgesellschaften. Da der Bundesregierung soll die Fusion so beschleunigt in Minister in dieser Runde ist, möchte ich in diesem Angriff nehmen, daß der Aufbau von unnötigen Dop- Zusammenhang eine Bitte aussprechen: Wenn man pelfunktionen vermieden wird und der optimale Ein- durch die schöne Landschaft der neuen Bundesländer satz der Mittel für die Infrastruktur, aber auch für das fährt, sieht man wunderschöne Alleen. Wir haben in rollende Mate rial bei der Bahn sichergestellt ist. Wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. 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Wilfried Bohlsen bitten Sie, Herr Bundesminister, in diesem Entschlie- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wird dem Ver- ßungsantrag auch um Unterstützung bei der Durch- kehrshaushalt in der vorgeschlagenen Form selbst- führung dieser Zusammensetzung. verständlich unsere Zustimmung geben. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich darf mich bei dem Herrn Minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses recht Lassen Sie mich auch den Punkt der Jugendarbeits- herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. In diesen losigkeit ansprechen. Hier haben wir mit Blick auf die Dank schließe ich auch den Dank für die gute Zusam- Reichsbahn einen sehr wesentlichen Beschluß gefaßt. menarbeit mit den anderen Berichterstattern mit Um der Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern ein. zu begegnen, sind der Reichsbahn weitere Mittel be- Vielen Dank. reitgestellt worden, um über die schon vorgesehenen 2 200 Auszubildenden hinaus weitere 500 auszubil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den, d. h. über den Bedarf hinaus. Hier schaffen wir Möglichkeiten, um der hohen Jugendarbeitslosigkeit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort in den neuen Bundesländern abzuhelfen. hat der Abgeordnete Dr. Feige. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Da wir die Reichsbahn angesprochen haben und Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Sie, verehrter Herr Kollege, mir gerade das Stichwort Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! für die Bundesbahn geliefert haben, will ich doch dar- Wenn jemand behaupten würde, daß der von Bundes- auf eingehen. Daß wir bei der Bundesbahn Sorgen minister Krause vorgelegte Entwurf eines Beschleuni- haben, verhehle ich nicht. Das ist uns aus den langen gungsgesetzes bzw. die Überlegung für ein Maßnah- Beratungen bekannt. Aber dennoch will ich auf den megesetz direkt aus der Feder der westdeutschen Fahrplanwechsel hinweisen, der am letzten Sonntag Autolobby geflossen sei, so könnte ich dem nur schwerlich widersprechen. stattgefunden hat. Ich will sagen: Das Hochgeschwin-- digkeitszeitalter der Bundesbahn hat begonnen. (Zuruf von der FDP: Was für ein Quatsch!) ( [SPD]: Und wie!) Diese Gesetzesvorhaben platzen nun genau in die Pause zwischen der ersten und zweiten Lesung des Sicherlich hat er noch einige Anfangsschwierigkeiten. Haushaltes. Man erkennt die Zusammenhänge und ist Die Türen gehen nicht immer wunschgemäß zu oder verstimmt. auf. Aber ich glaube, das läßt sich beheben. Es muß schon einiges passieren, um einen Mecklen- Ich will zumindest sagen: Der Intercity-Express ist burger aus der Ruhe zu bringen. Aber irgendwann ist auf die Strecke gegangen. es einmal soweit. Die geplanten Gesetzesvorhaben (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Zur zum Verkehrswegeaufbau in dieser Form stellen eine Strecke gebracht!) offene Kriegserklärung an Natur und Umwelt sowie an eine demokratische und bürgernahe Verkehrspoli- Damit ist für die Deutsche Bundesbahn ein jahrzehn- tik dar. telanger Traum in Erfüllung gegangen. Zum Start ih- rer Superzüge — jetzt sollten Sie sich daran erinnern, (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Eduard was an Investitionsmitteln geflossen ist — haben wir Oswald [CDU/CSU]: Sie haben keine Zeile immerhin 15 Milliarden DM in die Strecken inve- gelesen! — Zuruf von der FDP: Der liest den stiert. grünen Quatsch ab!) — Ich habe das in Ruhe gelesen, ausführlich. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Jetzt fah ren die Züge nicht einmal! Nicht einmal das Mit diesen Gesetzen aus dem Verkehrsministerium Klo funktioniert!) sollen dreißig Jahre Fortschritt im Umwelt- und Pla- nungsrecht der alten Bundesländer zurückgedreht Eine schöne Zeile aus der heutigen Tagespresse werden. Für diesen Fortschritt, für diese Rechte haben war die: „Schnell und bequem direkt aus der City in im Herbst 1989 Seite an Seite mit mir auch Christde- das Zentrum des Ziels. " Das ist die Deutsche Bundes- mokraten gestritten. bahn. (Zuruf von der FDP: Das ist doch gelogen!) (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Nils Diede Die GRÜNEN und die Bürger-und-Bürgerinnen-Be- rich [Berlin] [SPD]: Und bleibt auf der wegung in den neuen und alten Bundesländern wer- Strecke! — Helmut Wieczorek [SPD]: den diese Rolle rückwärts in die 50er Jahre nicht mit- Schnell, sicher und leer!) machen. So habe ich auch die Sozialdemokraten ver- Lassen Sie mich, meine verehrten Kolleginnen und standen. Kollegen, zum Schluß kommen. Mit meinen Ausfüh- Wir lehnen die vorliegenden Gesetzesvorhaben rungen, so glaube ich, habe ich deutlich gemacht, daß entschieden ab. Gerade gegenüber den Bürgerinnen die Bundesregierung den Verkehrshaushalt insge- und Bürgern in den neuen Bundesländern hat die samt gesehen richtig dotiert und aufgabengerecht er- Politik nämlich eine besondere Verantwortung. Dort stellt hat. Die von uns vorgenommenen Anpassungen gibt es bisher kaum Erfahrungen mit Planfeststel- und Änderungen zeigen aber auch, daß wir — damit lungsverfahren und öffentlicher Beteiligung an der meine ich das gesamte Parlament — unsere Funktion Gestaltung des Lebensumfeldes. Die umfassende Si- als Legislative sehr ernst genommen haben. Die An- cherung der Beteiligung aller Betroffenen muß des- passungen beinhalten auch eine Weichenstellung für halb Anliegen aller Parteien, Fraktionen und Ministe- die Ausgabenpolitik der nächsten Jahre. rien sein. Das ist ein Rechtsstaat. 2168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige Wir sind nicht gegen die Beschleunigung oder ge- werden. Wer sich nur ein bißchen mit dieser Proble- gen neue Straßen oder gegen sinnvolle Projekte, aber matik beschäftigt hat, weiß, daß der Ausbau von Au- es darf einfach nicht sein, daß ein zentralistischer Po- tobahnen zwischen den Zentren des Westens und den litstil aus der früheren DDR durch den jetzigen Ver- ostdeutschen Bundesländern mitnichten zu einem kehrsminister Krause in Bonn fortgesetzt wird. Aufschwung im Osten führen wird, sondern nur die Absatzbedingungen für Westproduktionen verbes- (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe sert. Genau das Gegenteil von Dr. Krauses Behaup- von der CDU/CSU: Das ist unerhört! — Un- tungen wird dann eintreten. glaublich! — Unverschämtheit!) — Das ist eine Forderung. — Oft genug sind die Na- (Zuruf des Abg. Arnulf Kriedner [CDU/ tur- und Umweltfreunde in der DDR vor 1989 einfach CSU]) nur ausgelacht oder als Narren bezeichnet worden. — Auch Sie wohnen doch auch da; Sie werden das Dieses Spiel soll jetzt weitergehen. schon selber noch erleben. (Zuruf von der FDP: Spiel?) Nun höre ich immer wieder die Worte des Bundes- Die zeitgleiche Vorlage einer Gesetzesinitiative aus verkehrsministers, er sei für den vorrangigen Ausbau Bayern im Bundesrat signalisiert zudem: Es geht gar des Schienenverkehrs und des öffentlichen Perso- nicht um die Beseitigung der Mängel der Infrastruktur nennahverkehrs. Es bleibt die Frage, warum dann so in Ostdeutschland, sondern um das Niederwalzen des wenig geschieht. Die heutige Rechtslage hindert doch Planungsrechts, um Demokratieabbau bei Genehmi- niemanden, die Reichsbahn zu modernisieren, kon- gungsverfahren überhaupt. kurrenzfähig und attraktiv zu machen. Sie hätten längst beginnen können. (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Ab geordneten der SPD — Widerspruch bei der (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Der CDU/CSU) spricht zum Haushalt und hat nicht einmal - den Haushalt gelesen! Sonst würde er nicht — Genau darum geht es. Das sind die ersten Wege, einen solchen Unsinn verzapfen!) die vorbereitet werden. Die Praxis sieht jedoch ganz anders aus. Das Schie- Unter Angleichung der Lebensverhältnisse wird of- nennetz der Deutschen Reichsbahn soll, getreu dem fenbar der Tausch westlicher Konsumpraxis gegen unsäglichen Vorbild der Bundesbahn, auf weniger als nistische Rechtspraxis der ehemaligen DDR die stali die Hälfte geschrumpft werden. Im Osten gibt es das verstanden. dichteste Schienennetz in ganz Europa. Eisenbahn in (Lachen bei der CDU/CSU) der Fläche soll es nicht mehr geben, sondern nur noch Diese Rechnung haben Sie allerdings ohne die Men- Fernverbindungen. 60 000 Reichsbahner werden schen in diesem Land gemacht. noch in diesem Jahr ihren Arbeitsplatz verlieren. Immerhin ist die Regierung dabei, in Windeseile Auch der Fahrplanabbau hat inzwischen begon- eine neue Vorreiterrolle in der EG zu übernehmen, nen. Bei der Sichtung der Verbindungen von Rostock nämlich Spitzenreiter bei Verstößen gegen Umwelt- nach Berlin — auch dort haben wir ab und zu Bundes- richtlinien zu sein. Die Umweltverträglichkeitsprü- tagssitzungen — ist mir das sehr bewußt geworden. fung, vor nicht allzu langer Zeit vom Kollegen Töpfer Von zwei Zügen frühmorgens blieb einer. Akzeptiert, als der Königsweg der Umweltpolitik gepriesen, soll wenn der Bedarf nicht da ist. Aber daß dieser Zug zwar formal beibehalten, praktisch aber abgeschafft wesentlich länger braucht und so spät losfährt, daß werden, noch bevor sie überhaupt erprobt worden ist. Bundestagssitzungen, wenn ich sie mit dem Zug Vor allem das unbestrittene Herzstück der UVP, die rechtzeitig erreichen will, erst um 11 Uhr beginnen frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung, wird mit ei- können, erscheint mir insgesamt und auch für viele, nem Federstrich beiseite gefegt. die in Berlin zu tun haben werden, einfach unvorstell- bar. Und der Umweltminister? Er schweigt nicht nur — was schlimm genug wäre — , er nimmt nicht nur Die Vorbereitungen zur Planung für die Nordauto- billigend in Kauf, nein, er selbst betreibt an vorderster bahn nach Szczecin dagegen konnten nicht schnell Front den Abbau des Umwelt- und Naturschutzes. genug begonnen werden. Für diese Planungsvorbe- Dem Bundesumweltminister gebührt die zweifelhafte reitungen — man höre und staune — begannen die Ehre, diese skandalösen, undemokratischen und wohl ersten Erkundungsmaßnahmen bereits im August auch verfassungswidrigen Gesetzesvorhaben als er- vergangenen Jahres, also noch in DDR-Zeiten. Das ist ster öffentlich gefordert zu haben. der Unterschied zwischen Sonntagsreden und Pra- xis. Meine Damen und Herren, von den allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach § 20 des UVP-Geset- Dabei könnte eine konsequente Bahnpolitik in Ost zes, die für die Behörden den Ablauf des Verfahrens und West auch eine effektive Möglichkeit für die För- festlegen sollen, ist dagegen seit langem nichts mehr derung der Wirtschaftsentwicklung in den neuen zu hören, obwohl sie seit Ende vergangenen Jahres Ländern darstellen. unterschriftsreif vorliegen. Während die Kapazität der Automobilkonzerne Der Wirtschaftsaufschwung muß als weiteres West allemal ausreicht, um den Osten mit zu versor- Scheinargument für die Beschleunigungs- und Maß- gen, besteht für den Bau von Reisezugwagen, Diesel- nahmegesetze herhalten. „Straßenbau schafft Ar- triebwagen und Lokomotiven auch im Westen ein beitsplätze" — nach diesem Motto aus den 30er Jah- Engpaß. Die Produktion solcher Güter in den neuen ren soll die Wirtschaft Ostdeutschlands angekurbelt Ländern und ein umfassendes Sanierungskonzept für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2169

Dr. Klaus-Dieter Feige die Schienen bzw. die Betriebsleittechnik würden ren gab es in der Bundesrepublik keinerlei Verkehrs- tatsächlich dauerhafte Arbeitsplätze schaffen. Hier wegeplanung, kein verkehrspolitisches Konzept, son- müßte der Bund technologische, finanzielle und admi- dern lediglich ein planloses und beliebiges Nebenein- nistrative Hilfestellung leisten. ander. Die Beschleunigungs- und Maßnahmegesetze kön- (Ekkehard Gries [FDP]: Aus Dummerstorf nen im übrigen nicht einmal ihren selbstgesteckten kommen Sie!) Ansprüchen, nämlich Vorhaben schneller zu verwirk- — Da gibt es sehr kluge Leute; Sie werden staunen. lichen, genügen. Es müßte doch bekannt sein, daß Ich weiß nicht, woher Sie kommen. Zeitverluste während der Voruntersuchungen in einer (Ekkehard G ries Jedenfalls nicht aus Größenordnung von 60 bis 70 %, beim Raumord- [FDP]: Dummerstorf!) nungsverfahren bei 50 %, im eigentlichen Genehmi- gungsverfahren bzw. bei gerichtlichen Auseinander- — Ich genieße das. Auch über meinen Namen, meine setzungen aber jeweils nur bei 20 % liegen. Damen und Herren Kollegen, sind längst alle Witze gemacht worden, als das das einen Mecklenburger Zeitverzögerungen entstehen in erster Linie durch aus der Ruhe bringt. ineffizientes Verwaltungshandeln, durch systemlose Parallelplanung und durch eine Administration, für Die sogenannte Verkehrspolitik der Bundesregie- die vielerorts die Beg riffe Umwelt- und Naturschutz rung beschränkt sich auf ein einfaches Strickmuster: Fremdworte sind. Es ist gerade dem mühevollen En- mehr Autos, mehr Staus, mehr Straßen, noch mehr gagement vieler Bürgerinnen und Bürger zu verdan- Autos, und die nächsten Kollapse und der Totalstau ken, daß schlampige Planungen noch rechtzeitig kor- sind vorbereitet. rigiert werden konnten. Diesen Menschen gebührt Die Folgen dieser Politik, aber auch die Alternati- unser Respekt und unsere Anerkennung. ven waren vor einigen Tagen in einer beispielhaften Sendung im ZDF zu sehen. Ich befürchte allerdings, es [FDP]: Woher wissen Sie (Ekkehard Gri daß der Bundesverkehrsminister auch daraus keine - denn das?) Lehren ziehen wird — Ich habe es selber mitgemacht. Alles in allem erinnert der besserwisserische Füh- Wer Verfahren tatsächlich beschleunigen will, muß rungsstil im Verkehrsministerium an eine außer Kon- die Öffentlichkeit frühzeitiger beteiligen und die trolle geratene Dampfwalze. Erstes Opfer wurde Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Um- — wie im „Spiegel" zu lesen war, und ich habe es weltverbände stärken. Das sind Erfahrungen aus dem auch heute noch einmal gehört — der Leiter der Ab- Frühjahr 1990. Da funktionierte das mit Christdemo- teilung Straßenbau in seinem Hause, der in den ver- kraten zusammen. gangenen Monaten rechtliche Bedenken gegen die Beschleunigungs- und Maßnahmengesetze vorgetra- Ihr Vorhaben erinnert mich daran, daß man nicht gen hatte. Er monierte u. a. Qualitätsmängel durch zu etwa den Sand aus dem Getriebe eines Zuges heraus- große Hast, warnte vor freihändiger Vergabe von Mil- nehmen will, sondern einfach nur die Notbremse ab- liarden-Aufträgen und beschwor die Gefahr von Mau- bauen möchte. Oder bezüglich der Beschleunigungs- scheleien. Doch für den Bundesminister waren das gesetze: daß bei dichtem Nebel auf der Strecke jetzt nur Mäkeleien eines pingeligen und bedächtigen Be- 130 km/h zur Mindestgeschwindigkeit gemacht wer- amten. Folge: Versetzung in den einstweiligen Ruhe- den soll . stand. Wer die Öffentlichkeit als lästig abtut, muß sich dem Wie stark Dr. Krause noch in den Kategorien einer Verdacht aussetzen, daß es ihm nicht um eine Verbes- vergangenen Zeit denkt, zeigt die Antwort auf die serung der Lebensverhältnisse, sondern schlicht und Frage, was denn sei, wenn Ostbürgermeister und ergreifend um eine Verbesserung der Absatzverhält- -landräte gegen Straßentrassen protestierten und de- nisse der Automobilkonzerne geht. „Ich fahre gern monstrierten. Originalton von Dr. Krause laut „Spie- Auto" — mit diesem Werbespruch aus der Zentrale gel"-Information: „Dann ist das Sache der Polizei." eines großen westdeutschen Automobilkonzerns auf Ich glaube, nichts zeigt deutlicher, daß dieser Minister den Lippen will uns unser autofanatischer Minister der Verantwortung seines Amtes nicht gewachsen geradewegs in den kollektiven Verkehrskollaps trei- ist. ben. Schönen Dank. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) FDP) Kaum haben die Menschen in den neuen Ländern ihre politischen Fesseln abgeworfen, da will uns Herr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Krause in Autos einsperren, auf das wir im Stau Gele- hat der Abgeordnete Zywietz. genheit haben, über unsere neugewonnene Mobilität nachzudenken. Werner Zywietz (FDP): Herr Präsident! Meine Da- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Dirk Fi men und Herren! Die Stimmung scheint gut zu sein. scher [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie sind ein Der letzte Redebeitrag hat — allerdings in unange- Scherzkeks!) nehmer Weise — auch dazu beigetragen, muß ich sa- Aber es ist ja nicht allein der jetzige Bundesver- gen. kehrsminister, der das Verkehrsdebakel zu verant- Sie haben, Herr Kollege, viel und schnell gelesen worten hat — siehe Ruhrgebiet. In den letzten 30 Jah- und wenig ausgesagt. Das war Ihr gutes Recht. Aber 2170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Zywietz ich stelle fest: Gut ist, daß Sie keine Verantwortung zu den soll. 50 % der Mittel dieses Etats müssen in Inve- tragen haben; stitionen umgesetzt werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Theo Magin [CDU/CSU]: So ist es!) Darin liegt doch die Chance dieses Etats. Das muß denn mit diesem ideologisierten Zerrbild vor Augen gemanagt, das muß zueinandergebracht, da muß ge- und angesichts dieser Unwahrheiten, Ihrem Umgang plant werden. Wir können diesen neuen Herausforde- mit Zahlen, die Sie offensichtlich nicht in eine logische rungen und Problemen nicht mit der Methode — viel- Reihe und damit zu richtigen Schlußfolgerungen brin- leicht sogar mit der luxuriösen Methode — , nach der gen konnten, müssen Sie weit weg von jeder ver- wir hier in der Altbundesrepublik vorgegangen sind, kehrspolitischen Verantwortung gehalten werden. begegnen. Das ist doch wohl das erste Gebot der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Stunde! Da sollten wir uns nicht diffamieren, wie Sie Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Herr Kol es getan haben. lege Zywietz, fahren Sie denn nun gern In verschiedenen Zeitungen ist, wie ich gelesen Auto?) habe, nicht von einem Beschleunigungsgesetz, son- dern von einem Ermächtigungsgesetz geschrieben Faktum ist doch eins. Die deutsche Einheit hat viel worden. An dieser Stelle hört bei mir alle Toleranz verändert. Wir haben uns vorgenommen, in dieser auf. Legislaturperiode insbesondere die Lebensverhält- nisse der Bürger in den neuen Bundesländern zu ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bessern. Dieser Verkehrsetat wird dem voll gerecht. Dem, der so dumm ist, daß er nicht weiß, was ein Die Ausweitung des Volumens dieses Etats von rund Ermächtigungsgesetz ist, oder so dummdreist ist, ein arden DM ist typisch. Er 24 Milliarden DM auf 36 Milli Beschleunigungsgesetz damit zu vergleichen, muß ist gekennzeichnet durch eine breit angelegte Ak- man ganz klar entgegentreten. zentverlagerung von West-Maßnahmen — wenn ich das noch so in dem alten Vokabular sagen- darf — auf Wir wollen beschleunigen; das ist richtig, das muß Ost-Maßnahmen. Die Gewichtung der Verkehrsträ- sein. Das kann man durch Fristenverkürzung machen, ger untereinander zeigt doch keinen Straßen- oder ohne daß man um elementare Rechte gebracht wird. Autofetischismus, sondern Straße, Bahn, Luftverkehr Das kann man durch bessere Organisa tion, durch und Wasserstraße finden sich in diesem Einzelplan mehr Mitteleinsatz für ein schnelleres Planen machen. wieder. Sie scheinen ihn gar nicht angeschaut zu ha- Und das kann man auch machen, obwohl das ein sen- ben, weil Sie nur Ihre Vorurteile absondern wollten. sibler Bereich ist. Wenn Bürger nicht mehr unmittel- bar zu Wort kommen können (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Ernst Waltemathe [SPD]: Aha, schöne Libe Wir bemühen uns insbesondere, daß für die Bürger, rale!) die durch ihren politischen Mut Reisefreiheit erlangt — nicht „aha" — , dann sind wir als Parlament da. Was haben, auch die Reiserealitäten, die Wege, auf denen sind wir denn? Gewählt von den Bürgern für die Bür- sie zueinander kommen können, besser werden. ger. (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Er (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) klären Sie mal GRÜNEN die Farbe!) Dann müssen wir uns an die eigene Brust klopfen und Das ist der Duktus des Verkehrsetats. Dieser Duktus unsere Verantwortung hier verstärkt wahrnehmen. ist auch Ausdruck der Erkenntnis, daß nur über eine Ich möchte nicht, daß nur die Exekutive handelt, son- gute Verkehrsinfrastruktur auch ein wi rtschaftlicher dern wenn es einzelne Maßnahmen gibt, die wir für Aufschwung und damit bessere Lebensverhältnisse richtig befinden, dann müssen wir als Demokraten hergestellt werden können. — egal, in welcher Partei — genug Courage haben, uns um die Projekte bekümmern und eine größere (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verantwortung als in der Vergangenheit auf uns neh- men. Nur das kann die Konsequenz dieses ganzen Genau deswegen die geldliche Ausweitung dieses Vorgehens sein. Etats. Der Sinn dieser ganzen Angelegenheit liegt da rin, Fangen wir doch nicht an, jetzt das Bemühen um daß wir unseren Mitbürgern schneller helfen wollen, eine Beschleunigung, die vonnöten ist, wenn wir die daß wir die realen, offensichtlich nicht hinreichenden Lebensverhältnisse zum Positiven verändern wollen, Zustände schneller verbessern hellen. Das ist eine so zu diskriminieren. Ich gebe zu: Man kann auch Gratwanderung. Aber der Mut, schneller voranzu- über das Ziel hinausschießen. Die Gefahr mag beste- kommen, effektiver zu sein, ist zu begrüßen. Dabei hen. Aber wir im Deutschen Bundestag sind alle er- haben wir die anderen, nega tiven Aspekte mit im wachsen und verantwortungsbewußt genug, um das Auge und werden sie schon zu verhindern wissen. zu verhindern. Ein Wort nur noch zur Bahn; denn die Zeit, die Der Kernpunkt ist doch: Wir können doch nicht zwei einem hier in diesen Debatten in diesem kleinen, sym- Tage lang Debatten führen, in denen wir sagen, ins- pathischen Kreis unter Ausschluß einer größeren Of- besondere in den neuen Bundesländern müßten in fentlichkeit verbleibt, ist sehr knapp bemessen. Man dieser Legislaturperiode die realen Lebensverhält- kann über den Verkehrsetat von 36 Milliarden DM nisse verändert werden, und dann Geld einsetzen, nicht sprechen, ohne ein paar Anmerkungen zur Bahn ohne daß wir wissen, wie dieses Ziel umgesetzt wer- — zur Bundesbahn und zur Reichsbahn, hoffentlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2171

Werner Zywietz bald zu einer einheitlichen Bahn — zu machen; denn Eine gutgemeinte Kooperation sollten wir nicht so, 20 Milliarden DM von 36 Milliarden DM sind eben ein sondern mit besserem gegenseitigem Respekt anfan- Riesenhappen. gen. Dann wird es gelingen, daß die Vorhaben der Bahnstrukturreform — für die FDP war der Kollege Ich habe mich, um das einmal voranzustellen, über Kohn ja hier lange Zeit treibende Kraft — — die ICE-Aktivitäten gefreut, die hier erwähnt worden sind. Aber es gab auch warnende Stimmen. Wir haben (Beifall bei Abgeordneten der FDP) jetzt einen neuen Präsidenten, einen Manager aus der sogenannten freien Wirtschaft, bei der Deutschen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Bundesbahn, und wir haben einen hervorragenden geordneter Zywietz, erfreulicherweise benutzen Sie Aufsichtsratsvorsitzenden, einen Ex-Minister, einen das Pult nicht als Lesepult, sondern als Rednerpult. erfahrenen Politiker bei der Reichsbahn; alles — auch Wenn Sie sich schon der freien Rede bedienen, dürfte von der Couleur her betrachtet — wunderbare Vor- es Ihnen auch nicht allzu schwer fallen, zeitgemäß aussetzungen dafür, daß die Zahlen angesichts dieses zum Schluß zu kommen. versammelten Expertentums in Zukunft nicht mehr so rot, sondern hoffentlich bald schwärzer oder ganz (Heiterkeit) schwarz geschrieben werden. (FDP) : Herr Präsident, diesen listig- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) Werner Zywietz sympathischen Hinweis habe ich hier schon einmal Wir wollen jedenfalls die Unterstützung dafür ge- erlebt; ben. Nur sage ich auch: Bei allem Vertrauensvorschuß (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Vor zwei hinsichtlich der Qualität und der Vorgehensweise, Stunden!) den ich gerade dem Präsidenten Dürr entgegen- aber wir werden es schon machen, Herr Präsident. bringe, ist mir schon aufgefallen, daß da irgend etwas noch nicht ganz in der inneren Balance zu sein (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der scheint, wenn ich so lese: Wenn die Bahn eine Be- CDU/CSU) hörde bleibt, bin ich der falsche Mann. — Nun gut, wir Und was mir an Sachausführungen heute nicht ge- wollen dem Herrn Präsidenten ja helfen. Aber ich lingt, werde ich bei anderer Gelegenheit anzubringen hoffe, er ist nicht zwangsverpflichtet worden, sondern versuchen. hat freiwillig einen Vertrag geschlossen. Er muß ja Wir sind guter Dinge und unterstützen all die Mini- wissen, wo er sich beworben und einen Vertrag ge- ster, Aufsichtsräte und Präsidenten, die guten Willens schlossen hat. Aber wir wollen ihn in seinem Bemühen sind, die Defizitwerte der Bahn abzubauen. Man soll unterstützen, daß die Bundesbahn und auch die das Bemühen beginnen, solange das noch in Form der Reichsbahn unternehmerischer werden. Das wollen Behörde möglich ist. Aber unsere Vorstellungen sind wir, aber nicht nur in der Kalkulation, sondern auch unternehmerischer Art, die breiten Raum für Wettbe- real, mit den Strecken und mit dem Bet rieb, so daß werb geben. Wettbewerb herrschen und man auch teilprivatisieren Ein letztes Wort — nichts zum „Maritimen Thema", kann, wenn es denn sinnvoll ist. obwohl mich das als Norddeutscher reizen würde. Das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben die Kollegen schon hervorragend ausgeführt. der CDU/CSU) Ich wollte abschließend — Herr Präsident, wenn Sie mir so tolerant entgegenkommen und mir das gewäh- Das ist doch die Schlußfolgerung aus dieser Vorge- ren — nun noch etwas zum Stichwort Luftfahrt sagen. hensweise, die wir aus der Sicht der FDP für richtig Zwei Dinge müssen in diesem Bereich forciert wer- halten. den: das eine ist die Flugsicherung — — Aber wenn der Herr Präsident sagt, bei einer Be- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Leg hörde sei er der falsche Mann: Erst einmal ist er ja doch ein Papier auf die Lampe!) noch bei einer Behörde. Aber auch da kann man, — Heute hat jemand gesagt, er halte die Hand drü- wenn ich es richtig verstehe, ökonomische Prinzipien ber, besser in Ansatz bringen, d. h. Ziele mit geringstmög- (Heiterkeit) lichem Mitteleinsatz erreichen oder mit vorhandenen womit ich beweise, daß ich hier im Plenum war. Denn Mitteln das bestmögliche Ergebnis erzielen. Mit die- ich habe es gehört. sem ökonomischen Prinzip möge er es bitte ernst neh- men, auch solange es noch eine Behörde ist. Dabei, (Zuruf von der FDP: Aber im Fernsehen!) daß das ein Unternehmen wird, wollen wir ihm hel- Ich schenke mir das alles, Herr Präsident. Nur einen fen. letzten Satz Regelrecht geärgert — das sage ich von dieser (Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Dinge ...!) Stelle aus — hat mich ein Spruch wie: Die Eisenbahn —nein, nicht zur Sache — : Ich begrüße den Schwung darf nicht das Spielzeug der Politiker bleiben. Nun, des neuen Ministers, hoffe aber, daß dieser Schwung ich bin kein Weißmacher und meine, daß auch in dem auch zu einem beidseitigen fairen vertrauensvollen politischen Bereich Fehler gemacht worden sind. Aber Dialog zwischen den Verantwortungsträgern im Ver- das Wissen oder Nichtwissen ist zwischen Wirtschaft- kehrsbereich — ob im Fachausschuß oder im Haus- lern und Politikern nicht so verteilt, daß die einen alles haltsausschuß — ausgestaltet wird. Denn nur dann wissen und richtig machen und die anderen alles wird es gelingen, die großen Aufgaben im Verkehrs- dumme Personen sind. bereich, die uns insbesondere durch die deutsche Ein- 2172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Zywietz heit auferlegt worden sind, zufriedenstellend zu lösen. — Ich rede ja davon, daß da investiert werden muß. In diesem Sinne und mit dieser Erwartung stimmen Das sollten Sie doch gehört haben. wir dem Einzelplan gerne zu. Was wir brauchen, sind eben keine sechs- und acht- Vielen Dank. spurigen Autobahnneubauten, sondern Investitionen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in die Sanierung des öffentlichen Nah- und Fernver- kehrs in der Fläche. Wir brauchen keine Hochgeschwindigkeitszüge für Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Abgeordnete und Geschäftsreisende, die zwischen hat die Abgeordnete Frau Braband. den Metropolen nur so hin- und herrasen, sondern (Zuruf von der FDP: Auch jetzt wird es unter eine vernünftige und umweltfreundliche Verkehrs- haltsam!) politik für die Bevölkerung in der Fläche. (Ekkehard G ries [FDP]: Dann sanieren Sie einmal Ihre Umwelt!) Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch Verkehrspolitik ist Daß die Reichsbahn auf Verschleiß gefahren wurde, Umweltpolitik. Das wird hier immer vernachlässigt. meine Herren, ändert nichts an der Tatsache, daß die Der Kollege Zywietz hat etwas sehr anschaulich dar- ehemalige DDR eines der bestausgebauten Schienen- gestellt; aber er hat nur von der Ökonomie geredet. netze der Welt besitzt, Deswegen werde ich jetzt den anderen Part einbrin- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP gen. — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist ja Ich denke, daß — gerade weil es sich auch um Um- aus!) weltpolitik handelt — die Entscheidung über jede und zwar in der Fläche. Mark die ausgegeben wird, doppelt überlegt sein muß. Durch falsche Entscheidungen wird gerade hier (Zuruf von der CDU/CSU: Da lacht ja der ein erheblicher ökologischer, sozialer und- politischer Honecker!) Schaden ange richtet. Ich habe bereits gesagt, daß es nötig ist, dort zu In dem Zusammenhang ist das sogenannte Ver- investieren, weil das Streckennetz beschädigt ist. kehrswegebeschleunigungsgesetz völlig inakzepta- Warum gucken Sie nicht, daß es sich um ein weit ver- bel. Mit diesem Gesetz sollen unter dem Vorwand not- zweigtes Netz in der Fläche handelt? wendiger Investitionen im Verkehrssektor der FNL (Ekkehard Gries [FDP]: Ja, völlig verrottet!) demokratische Rechte der Öffentlichkeit und beson- ders die der Betroffenen eingeschränkt werden. Wir —Ja natürlich, aber es ist viel schneller zu reparieren, haben das vom Kollegen Feige bereits sehr anschau- als neue Straßen zu bauen. Das wissen Sie selber. lich berichtet bekommen. — Zumindest wären das strukturell doch gute Voraus- setzungen für eine andere Art von Verkehrspolitik. (Ekkehard G ries [FDP]: Aber falsch!) Ich denke, daß sich das Verkehrswegebeschleuni- (Ekkehard Gries [FDP]: Alles Gerede!) gungsgesetz auf diese Weise ziemlich schnell als ein Die „Wirtschaftswoche" vom Februar 1990 schreibt, „Entdemokratisierungsbeschleunigungsgesetz" er- daß die Deutsche Reichsbahn — vielfach als Sanie- weisen wird, und zwar für das gesamte Land. Ich finde rungsfall verschrien — zu den leistungsfähigsten Un- auch, daß derjenige, der sich über 40 Jahre Komman- ternehmen der DDR gehörte. Mit 60 Milliarden Ton- dowirtschaft in der DDR ereifert und dann selbst Pla- nenkilometern nungsdiktatur fordert, gedanklich der Politbürokratie (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie ist der früheren DDR sehr viel nähersteht, als ihm bewußt das mit den Postkutschen!) ist. Zur notwendigen Sanierung im Verkehrsbereich — hören Sie doch einmal zu — erreichte sie bei halb des Anschlußgebiets kann ganz klar gesagt werden: so großem Schienennetz die Gütertransportleistung Am schnellsten und am preisgünstigsten kann eine der Bundesrepublik. qualitative Verbesserung des Fernverkehrs auf der (Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen ist die Schiene erreicht werden — und eben nicht auf der Wirtschaft auch zusammengebrochen!) Straße. Denn das Schienennetz ist bereits vorhanden Sie wollen nicht nur die Arbeitsplätze der Reichs- und muß nur repariert werden. Da fallen dann immer- bahn abbauen, sondern Sie sind nicht einmal bereit, hin auch die leidigen Planfeststellungsverfahren dort so zu investieren, daß wirklich für die Zukunuft weg. eine andere Situation im Verkehrsbereich möglich Es ist ebenfalls erwiesen, daß bei einer zügigen ist. Durchführung entsprechender Investitionen in vor- handene Strecken die Durchschnittsgeschwindigkeit (Ekkehard Gries [FDP]: Das ist unverschämt falsch!) in kurzer Zeit um 30 bis 40 % erhöht werden kann, also Intercity-Niveau erreichen könnte. Ich finde, daß der, der sich in der Verkehrspolitik (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist alles erst ausschließlich auf die Ökonomie beruft, sehr deutlich seit der Einheit möglich!) zeigt, wessen Interessen er hier vertritt. Derjenige macht klar, daß ihm die Interessen der Autoindustrie — Ja eben! Aber warum verschenken Sie diese weit wichtiger sind als die Bewahrung der natürlichen Chance? Lebensgrundlagen und die Verbesserung der Lebens- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) qualität für alle Menschen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2173

Jutta Braband Die PDS/Linke Liste lehnt deshalb den Haushalts- Bundesländern wohl sehen lassen kann und mit dem plan im Bereich des Bundesministers für Verkehr wir beweisen werden, daß es vorangeht. ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ekkehard G ries [FDP]: Sie kommen ja nicht einmal in den Verkehrsausschuß!) Wichtigste Maxime bei allen Investitionen ist der Aus- bau eines umweltgerechten Verkehrssystems, d. h. insbesondere die Förderung des Schienenverkehrs. Das Wort Auch das können wir an Hand von Zahlen nachwei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: sen. Wir setzen rund 20 Milliarden DM ein. Das ist ein hat der Bundesminister für Verkehr, Herr Krause. Anteil am Haushalt von 56 %. Ich kann nicht erken- nen, daß hier etwa nur die Autolobby ihre Spielchen treibt. Das ist eine Unterstellung, die ich in keiner Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Weise akzeptieren kann. Von diesem Betrag erhalten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und die Deutsche Reichsbahn und die Deutsche Bundes- Herren! Herr Dr. Feige, gleich zu Beginn: Auch ich bahn einen erheblichen Anteil an Investitionsmitteln. stamme aus Mecklenburg, und auch Sie können mich Es ist natürlich auch richtig, daß, um die Aufgaben bei nicht aus der Ruhe bringen. der Deutschen Reichsbahn zu leisten, auch Mittel von (Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Um so un der Deutschen Bundesbahn umgeschichtet worden -verständlicher!) sind. In der Verkehrspolitik stehen wir im geeinten Um die Bahn wettbewerbsfähiger und attraktiver zu Deutschland vor großen Herausforderungen, und ich gestalten, ist es notwendig, auch Schnellbahnverbin- denke, es ist zu Recht dargestellt worden, daß wir in dungen zu realisieren. Ich als Techniker meine fest- der Verkehrspolitik einiges zur Veränderung beitra- stellen zu dürfen, daß es zu Beginn eines neuen Zeit- gen müssen. alters ganz normal ist, daß Kinderkrankheiten auftre- - Ich denke, daß in dem Verkehrsetat der Nachweis ten. Ich bin erschreckt über die Polemik in der Öffent- erbracht worden ist, daß das Zeitalter der Verände- lichkeit und darüber, daß, wenn nach einigen Tagen rung auch in der Verkehrspolitik bereits begonnen nicht alles hundertprozentig funktioniert, gleich ein hat. Aufschrei losgelassen wird. Ich bin sicher, daß auf Grund der Zusammenarbeit zwischen den Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und auf Grund des Bemühens der Menschen bei der Der Haushalt ist mit einer Steigerung von mehr als Bahn, ein neues und besseres Zeitalter in der Bahn 20 % nicht nur um den Anteil der ehemaligen DDR durchzusetzen, nach einigen Wochen die Vorausset- reicher geworden, sondern es gibt einen echten Zu- zungen für kontinuierliche Abläufe geschaffen sein wachs. Ein leistungsfähiges Verkehrswegenetz ist werden. Voraussetzung dafür, daß Deutschland nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich eins wird und für In den neuen Bundesländern — diese Zahl scheint den europäischen Binnenmarkt gewappnet ist. mir ganz wichtig zu sein — setzen wir allein in diesem Jahr 3,8 Milliarden DM an Investitionsmitteln aus Dr. Feige, Sie haben natürlich in Ihrer Rede verges- dem Haushaltsansatz und 200 Millionen DM aus dem sen, zu erwähnen, daß beispielsweise von Köln nach Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost ein. Ich habe die mittlerweile ein IC fährt. Das war zur DDR genauen Zahlen heraussuchen lassen: Im Jahre 1989 Zeit nicht üblich. Ich meine, man sollte sich den Fahr- waren es 1,24 Milliarden Ostmark. Unser größtes Pro- plan genau ansehen und zuerst die Vorteile und die blem bei der Bahn besteht derzeit da rin, den Struktur- Nachteile ordentlich abwägen; wandel zu realisieren und das vorhandene Gleisnetz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu sanieren. Wir brauchen beschleunigende Metho- denn wir erweisen unseren Reichsbahnern und den den. Nur mit dem Reparieren — die eben genannten Bundesbahnern keinen guten Dienst, wenn wir ge- 30 % Zuwachs — lassen sich bei Langsamfahrstrek- rade in der jetzt so komplizierten Situation der unter- ken, die Geschwindigkeiten von nur 40 km/h zulas- schiedlichen technischen Voraussetzungen — und die sen und die es bei den Fernverbindungen heute noch macht die Fahrplangestaltung so kompliziert — nur zuhauf gibt, keine Intercity-Geschwindigkeiten erzie- immer Kritik an den Menschen, die bei den Bahnen len. Sie müßten häufiger mit der Deutschen Reichs- arbeiten, leisten, aber nicht bemüht sind, grundsätz- bahn fahren, um ein entsprechendes Verständnis ent- lich die politischen Weichen richtig zu stellen. Das wickeln zu können. Das ist das Entscheidende. haben wir von der Koalition in diesem Haushalt nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gewiesen. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen darauf verweisen — ich habe das an Für die neuen Länder hat die Bundesregierung vor dieser Stelle schon des öfteren getan — , daß im Vor- allem die Mittel für Investitionen in die Verkehrsin- griff auf den gesamtdeutschen Verkehrswegeplan, frastruktur deutlich auf mehr als 8 Milliarden DM er- über den wir gemeinsam voraussichtlich im Frühjahr höht. Zum Vergleich — ich meine, das ist die Aus- 1992 entscheiden werden, 17 Projekte „Deutsche Ein- gangsbasis, über die wir uns unterhalten müssen — : heit" ausgesucht worden sind. Ich kann nicht erken- Im Jahre 1989 wurden in der ehemaligen DDR 2 Mil- nen, daß nicht gerade die Auswahl dieser 17 Projekte liarden Ostmark investiert. Jetzt sind es statt 2 Milli- eine gezielte verkehrspolitische Entscheidung gewe- arden Ostmark 8 Milliarden DM. Das ist doch ein Zu- sen ist. Beispiel: Wir wollen die Kreuzung des Mittel- wachs, der sich in der ehemaligen DDR, in den neuen landkanals mit dem Oder-Havel-Kanal durch eine 2174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Dr. Günther Krause Trogbrücke deshalb auf der Basis von Investitions- wer dazwischenrufen darf! — Weitere Zu maßnahmegesetzen planen, damit wir den Anteil der rufe von der SPD) Binnenschiffahrt am gesamten Transportwesen von Ich bitte Sie jetzt, meine Herren, ruhig zu sein. derzeit 3 % auf 20 % erhöhen können, wie er in der Herr Minister, Sie haben das Wort . Altbundesrepublik üblich ist. Das ist aktive Umwelt- politik. Damit sich die Massengütertransporte nicht (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Es auf die Straße verirren, müssen wir schnell sein und liegt doch auch am Redner, ob das Parlament müssen — da gebe ich Ihnen recht — in außerge- ruhig ist oder nicht!) wöhnlichen Situationen dann auch die Verantwor- — Herr Abgeordneter Wieczorek, ich bitte Sie nun, tung dieses Parlaments benutzen, um die richtigen ruhig zu sein. Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wozu? Deshalb haben wir die Mehrheit in diesem Parlament. Ein Minister muß doch wohl auch bei Unruhe Ich glaube, wir entscheiden dann auch für die Bevöl- reden können!) kerung. Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage (Zuruf von der SPD) zu beantworten? — Warten Sie doch erst einmal ab, wie es ist, wenn wir bewiesen haben, daß wir nicht mit unserer Verhinde- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: rungspolitik zur deutschen Einheit, sondern mit der Jawohl. Politik der Förderung der deutschen Einheit auch der Bevölkerung in vielen Städten der bisherigen DDR viele Verkehrsbelastungen nehmen können. Ernst Kastning (SPD) : Da ich respektvoll zur Kennt- nis nehme, daß ich in einer Sitzung den Herrn Präsi- Wir werden deshalb auch daran festhalten, die Pla- denten nicht befragen darf und kann — ich will das nungsbeschleunigung zu realisieren. Wir wollen den auch nicht — , frage ich Sie, Herr Minister: Können Sie Planungszeitraum auf drei bis fünf Jahre- verkürzen. Jeder, der darüber diskutiert, zu welchen Lasten wir sich denn angesichts der Unruhe hier vorstellen, daß investieren wollen, sollte das Bürgergespräch in Wis- das Sprichwort „Wie man in den Wald hineinruft, so mar oder in Halle oder in Dresden bitte vor Ort führen schallt es heraus" auch heute noch gilt? und sich dann davon überzeugen, wie Bürger belastet (Beifall bei der SPD) werden. Die Belastung der Menschen akzeptieren Sie, die Entlastung der Menschen wollen Sie jedoch Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: nicht. Das zeigt sich daran, daß Sie unerträglich lange Wenn, dann habe ich hier an diesem Rednerpult höch- Planungszeiträume verordnen wollen. stens den Schall zu vertreten, aber nicht den Wald. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Herr — Ernst Waltemathe [SPD]: Wer will das Minister, das heißt, Sie sollen boshafter wer- nicht? Das ist eine Unverschämtheit!) den!) Wir sind nicht gewählt worden, um bürokratisch an diesen Verordnungen festzuhalten. Deswegen wer- den auch Investitionsmaßnahmegesetze notwendig Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- werden, und wir werden diese demnächst hier vorle- nister, ich bitte Sie, jetzt fortzufahren, und mache noch gen. einmal darauf aufmerksam, daß Zwischenrufe das Salz in der Suppe einer Debatte sein können, aber daß (Ernst Waltemathe [SPD]: Alles von oben Sie es auch nicht übertreiben dürfen. verordnet!) Herr Minister, Sie haben das Wort. Der rote Faden in der Verkehrspolitik wird sich da- durch auszeichnen, daß wir zwischen Ost und West Verbindungen realisieren müssen, die West- und Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Osteuropa zukünftig verknüpfen werden. Daher wird Wir werden uns deshalb vor allem im Zusammenhang es wichtig sein, daß wir gemeinsam darüber nachden- mit der europäischen Einigung, also mit dem Termin ken, ob wir Transportketten aufbauen. 1. Januar 1993, noch weitaus mehr Gedanken machen müssen, um integrierte Verkehrssysteme zu schaffen (Ernst Waltemathe [SPD]: Da war ja der See und kombinierte Verkehre einzusetzen. Wichtiger bohm super! — Weitere Zurufe von der Markstein hin zu dieser Entwicklung muß es sein, in SPD) den Harmonisierungsverhandlungen im Rahmen der — Es ist angenehm, den Herren zuzuhören; es ist EG weiterzukommen. Es muß uns gelingen, die Struk- wirklich sehr angenehm. Das ist Ihre Form der Höf- turreform der Bahn zu beginnen, um mehr Markt auch lichkeit. bei der Bahn zu sichern. Denn nur im Wettbewerb und nicht in den Dirigismen sehen wir den Erfolg und auch die Möglichkeit, umweltverträglichere Verkehre bes- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich würde ser zu organisieren. bitten, die Zwischenrufe nicht zu übertreiben. Mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz, mit einem (Ernst Waltemathe [SPD]: Er kann uns doch integrierten Verkehrssystem, können wir den Anfor- nicht dauernd beleidigen! — Helmut Wie- derungen der Wachstumsbranche Verkehr gerecht czorek [Duisburg] [SPD]: Entschuldigung, werden. Es wäre ungewöhnlich, wenn man nicht dar- wir dürfen hier zwischenrufen, soviel wir auf hinwiese, daß diese Wachstumsbranche Verkehr wollen! Es bestimmt doch nicht der Redner, natürlich besteht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2175

Bundesminister Dr. Günther Krause Wir dürfen aber die Verkehrsträger, die uns schein- auch die richtigen verkehrspolitischen Weichen für bar nur Nachteile, aber trotzdem auch Vorteile brin- die Öffnung Europas nach Osten stellen. Last, not gen können, auch nicht verteufeln, sondern sollten least wissen wir zumindest, daß Verkehrspolitik im- hier gemeinsam eine Verkehrspolitik gestalten, die mer zugleich auch Umweltpolitik ist, das heißt also die Minimierung der Nachteile aller Verkehrsträger eine Politik der CO2-Reduktion, der Lärmminderung, zum Inhalt hat. der Schadstoffminimierung ingesamt. Mit dem Verkehrshaushalt 1991 legen wir den Der gravierende Fehler des vorliegenden Haus- Grundstein für den wirtschaft lichen Aufschwung in haltsentwurfs liegt darin, daß angesichts dieser wich- den neuen Bundesländern und für den kontinuierli- tigen Aufgaben die investiven Schwerpunkte falsch chen Weiterbau eines umweltgerechten und lei- gesetzt sind. stungsfähigen Verkehrsnetzes auch in den alten Bun- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ desländern. GRÜNE) Ich möchte hier im besonderen die gute Zusammen- Unsere Straßen sind so überlastet, daß der Verkehr an arbeit mit allen Kollegen und mit allen Berichterstat- sich selbst erstickt. Es gilt daher, die Effektivität des tern im Haushaltsausschuß erwähnen. Wir haben alle vorhandenen Straßennetzes schnell bedeutend zu Fragen in einer freundschaftlichen Atmosphäre klä- verbessern. In den neuen Bundesländern müssen wir ren können. Ich möchte mich auch bei den Kollegen deshalb ganz eindeutig der Sanierung und dem Aus- Verkehrspolitikern des Verkehrsausschusses über bau vorhandener Verkehrswege Priorität einräumen alle Parteigrenzen hinweg bedanken. Ich hoffe auch und nicht, wie die Koalition es vorsieht, dem Neubau weiter auf eine gute und konstruktive Zusammenar- von Straßen. Herr Minister, versprechen Sie doch beit. keine Neubauten in ferner Zukunft, sondern stopfen Danke schön. Sie lieber so schnell wie möglich die Löcher in ost- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP deutschen Straßen. — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ müssen noch lernfähig werden! Viel üben!) GRÜNE) Bauen Sie an drängenden Engpässen Ortsumgehun Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort gen zur Entlastung der Bevölkerung, und das sofort. hat die Abgeordnete Frau Dr. Wetzel. Sanieren Sie die Langsamfahrstrecken der Reichs- bahn, statt die Strecken stillzulegen und damit das engmaschige Netz des umweltfreundlichsten Ver- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Präsident, meine kehrsmittels endgültig zu ruinieren. Damen und Herren! Was lange währt, wird end lich gut, sollte man angesichts der langen Vorbereitungs- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ zeit dieses Haushalts meinen. Aber um so erschrek- GRÜNE — Unruhe) kender ist es, wie wenig dieser erste gesamtdeutsche — Ich kann lauter sprechen, die brauchen nicht ruhig Verkehrshaushalt den Zielsetzungen moderner, inno- zu sein. vativer Verkehrspolitik gerecht wird. Der Minister lenkt — zugegeben: unglaublich ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schickt — von der haushaltspolitischen Realität feh- der PDS/Linke Liste) lender und falsch eingeplanter Mittel ab und ver- spricht Maßnahmen und angebliche Beschleuni- Wir haben die Verantwortung für die Leistungsfä- gungsgesetze, higkeit unserer Verkehrswege. Das gilt ganz beson- ders für die Bahn, die nicht mit schönen Sonntagsre- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie kennen doch den und Mittelkürzungen — bei der Deutschen Bun- den Verkehrshaushalt überhaupt nicht. Ich desbahn immerhin eine Milliarden DM — zu retten habe Sie nicht ein einziges Mal im Ausschuß ist, sondern nur mit konsequenten Investitionen für gesehen!) den schnellstmöglichen Ausbau ihrer Kapazitäten. die ihm de facto einen Zeitaufschub gewähren, weil er (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ dadurch einen Verfassungsstreit heraufbeschwört. CSU: Genau das!) Wir haben außerdem die Verantwortung dafür, daß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau die Menschen in den neuen Bundesländern möglichst Dr. Wetzel, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu be- schnell würdige Lebensverhältnisse erreichen. antworten? (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Dazu gehören sichere Arbeitsplätze und wirtschaftli- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Im Moment nicht. In An- cher Aufschwung, und beides ist ohne sinnvolle Infra- betracht der Zeit, da die Kollegen aus dem nächsten struktur nicht zu haben. Ausschuß auch schon warten. (Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb Maßnah- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ men beschleunigen! — Weitere Zurufe von CSU) der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den neuen — Dazu komme ich. Keine Angst! Ländern, wir brauchen für die Verkehrsinfrastruktur Wir haben außerdem verkehrspolitische Pflichten keine neuen Gesetze, sondern konsequente Finanzie- gegenüber den Partnern des europäischen Binnen- rung der geplanten Maßnahmen. Es ist nicht der Miß- markts. Ich betone sehr bewußt: Wir müssen jetzt brauch demokratischer Rechte durch unsere Bürger, 2176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Margrit Wetzel der die schnelle Realisierung von Verkehrswegen ver- stitionsschwerpunkt. Ausbau der Kapazitäten, nicht hindert, deren Abbau ist angesagt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie sondern es ist die mangelhafte Bereitstellung von Fi- beim Bündnis 90/GRÜNE) nanzmitteln durch parlamentarische Mehrheiten. Ge- nau das belegt wiederum der uns vorliegende Haus- Konzeptionslosigkeit und Fahrlässigkeit werden zum Markenzeichen dieses Minsters. haltsentwurf. (Beifall bei der SPD — Lebhafte Zurufe von (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — der CDU/CSU) Jochen Borchert [CDU/CSU]: Von wem re — Jetzt bin ich dran. Sie können später etwas sa- den Sie denn? Reden Sie über Ihren Landes gen. minister? — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der SPD) Die Bedeutung kombinierter Verkehre gerade auch für die Häfen ist ihm offensichtlich nicht klar. Für die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine ostdeutschen Häfen gilt es besonders, die miserable Herren, Sie haben mir eben zu Recht zugestimmt, als Hinterlanderschließung und die Schienenanbindung ich gebeten habe, auf dieser Seite des Hauses entspre- für die Anforderungen der internationalen Arbeitstei- chende Ruhe herzustellen. Ich wäre Ihnen dankbar, lung und die Handelsbeziehungen zwischen den wenn Sie sich ebenso verhalten würden, wie Sie es skandinavischen Ländern und Osteuropa fitzuma- eben gewünscht hätten. chen. Aber wer sein verkehrspolitisches Schiff ohne Nun, Frau Abgeordnete, fahren Sie fort. Ausguck und, glaube ich, auch ohne Steuermann durch den Verkehrsinfarkt lenkt, muß sich über poli- tische Schlagseiten nicht wundern. Dr. Margrit Wetzel (SPD) : Der Güterverkehr- auf der Straße wird in seinem ungezügelten Anwachsen zum (Beifall bei der SPD und beim Bünd größten verkehrlichen Störfaktor für Menschen und nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der Umwelt. Wer ihn aber als Störfaktor in der Verkehrs- PDS/Linke Liste) politik behandeln will, springt auf den falschen Zug; denn sektorales Denken ist endgültig passé. Nur die Der beabsichtigte Aus- und Neubau der Verkehrs- orientiert sich Nutzung aller Systeme, aller Vorteile und die optimale verbindungen in den neuen Ländern Verknüpfung der Vorteile der verschiedenen Ver- vorwiegend in Ost-West-Richtung. Der Versorgungs- kehrsträger führt zu sinnvollen Verkehrskonzepten, verkehr aus dem Westen, die hohe Zahl der Berufs- führt zur Vermeidung überflüssiger Verkehre und zur pendler werden aber in dem gleichen Maße abneh- Verlagerung möglichst vieler Transporte auf umwelt- men, in dem Ober- und Mittelzentren in den fünf freundliche Systeme. Deshalb ist uns der Ausbau des neuen Ländern ihre eigene Wirtschaftsgrundlage auf- kombinierten Verkehrs — Huckepackverkehr, Rol- bauen können. lende Landstraße usw. — , aber auch der Schnittstel- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) len verschiedener Verkehrsträger besonders wichtig. Ganze 20 Millionen DM — das ist noch nicht einmal Um seriöse Planungen zu entwickeln und um den der berühmte Tropfen auf den heißen Stein — stellt dauerhaften zukünftigen Veränderungen gerecht die Regierungskoalition dafür bereit. werden zu können, müssen wir deshalb auch den Er- Die Deutsche Bundesbahn verzeichnet derzeit Zu- halt gewachsener Nord-Süd und Nord-Ost-Verbin- wächse von 40 % im kombinierten Ladungsverkehr; dungen strukturell, planungsrechtlich und finanziell ein deutliches Signal, daß hier dringend mehr und sichern. nicht weniger investiert werden muß. Der Verkehrshaushalt wird diesen Aufgaben in kei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner Weise gerecht, noch weniger der Lebensqualität der PDS/Linke Liste) der Menschen und der Umwelt. Verkehrspolitik für, Ihr Minister dümpelt über die 1 500 Langsamfahr- nicht gegen Menschen und Mitwelt machen heißt, strecken der Deutschen Reichsbahn und träumt von Verkehr, wo immer möglich, zu vermeiden und auf schnellen Wagen. Er verspricht gleichzeitig dem ver- umweltverträgliche Verkehrsmittel zu verlagern, ladenden Gewerbe den zügigen Bau und Ausbau von (Beifall bei der SPD und beim Bünd Terminals für den kombinierten Verkehr. Wie er das nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der aber mit lächerlichen 20 Alibi-Millionen machen will, PDS/Linke Liste) sagt er nicht dazu. Seine Versprechungen legt er ver- mutlich unter der Rubrik ab: Versprechen kann man heißt, die Schiene und den öffentlichen Personenver- sich ja mal. kehr, auch den schienengebundenen Personennah- Wer heute nicht in die Zukunft investiert, nicht Eng- verkehr attraktiv, wettbewerbsfähig und leistungsfä- pässe beseitigt, nicht länderübergreifende Verkehrs- hig zu machen. konzepte mit Prioritäten für den kombinierten Ver- Die katastrophalen Mängel und Defizite in diesen kehr entwickelt und umsetzt, der stellt sich selbst und Bereichen sind Folgen einer völlig verfehlten Finanz- unseren europäischen Nachbarn ein Bein. Weil die politik des Bundes, die sich in diesem Haushalt fort- Schiene das Rückgrat deutscher und europäischer schreibt. Verkehrspolitik werden muß, brauchen wir hier nicht die Kürzung der Mittel, sondern den absoluten Inve- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2177

Dr. Margrit Wetzel Wir fordern eine drastische Erhöhung der Investitio- Ich rufe auf: nen zur Kapazitätsausweitung von Bundesbahn und Einzelplan 25 Reichsbahn. Geschäftsbereich des Bundesministers für (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Wir wollen die deutliche Anhebung, letztlich die Auf- — Drucksachen 12/526, 12/530 — hebung der Plafondierung im Gemeindeverkehrsfi- Berichterstatter: nanzierungsgesetz und eine Umschichtung der Mittel Abgeordnete Dr. Conrad zugunsten des öffentlichen Personennahverkehrs Schroeder (Freiburg) und nicht, wie vorgesehen, zugunsten des kommuna- Carl-Ludwig Thiele, len Straßenbaus. Dr. Nils Diederich (Berlin) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- der PDS/Linke Liste) plan 25. Wer diesem Einzelplan in der Ausschußfas- Die Fusion von Bundesbahn und Reichsbahn hätte sung zustimmen will, den bitte ich um das Handzei- schon längst vollzogen sein müssen. Wir brauchen ein chen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der gemeinsames, europäisch orientiertes Bahnkonzept, Einzelplan 25 ist damit angenommen. am besten gestern und nicht erst übermorgen. (Beifall bei der SPD) Ich rufe auf: Die Bahn darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen, Einzelplan 13 nur weil die völlig fehlkonzipierten Bahnleitlinien von Geschäftsbereich des Bundesministers für Post 1983 immer noch Gültigkeit haben. Betriebswirt- und Telekommunikation schaftliches Kalkül kann keine gemeinwirtschaftli- — Drucksachen 12/513, 12/530 — chen Leistungen erbringen. Den Streckenstillegun- Berichterstatter: gen und Substanzverkäufen der Bahn, ihrer so- schäd- lichen und unverständlichen Reduzierung auf ein Abgeordnete Manfred Kolbe Kernnetz kann nur politisch ein Ende gesetzt werden. Rudi Walther Die Verantwortung für die Defizite der Bahn — finan- Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den ziell und strukturell — , für die roten Zahlen und für Einzelplan 13 in der Ausschußfassung? — Gegen- die fehlenden Kapazitäten liegen einzig und allein in probe! — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 13 diesem Hohen Hause. ist damit angenommen. (Zustimmung bei der SPD) Ich rufe auf: Meine Damen und Herren, mit uns gibt es keine Verkehrspolitik auf den alten Gleisen mehr. Deshalb Einzelplan 23 lehnen wir den Verkehrsetat des Haushaltsentwurfs Geschäftsbereich des Bundesministers für ab. wirtschaftliche Zusammenarbeit Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. — Drucksachen 12/525, 12/530 — (Beifall bei der SPD und beim Bünd Berichterstatter: nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der Abgeordnete Helmut Esters PDS/Linke Liste) Dr. Christian Neuling Werner Zywietz Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Aussprache Einzelplan 23 in der Ausschußfassung? — Gegenstim- zum Einzelplan 12 ist damit geschlossen. men? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Einzel- Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für plan 23 angenommen. den Einzelplan 12 — Geschäftsbereich des Bundesmi- nisters für Verkehr — in der Ausschußfassung? — Ge- Ich rufe nun auf: genstimmen? — Stimmenthaltungen? — Der Einzel- plan 12 ist damit angenommen. Haushaltsgesetz 1991 Wir kommen nun zu den Beratungen der Einzel- — Drucksachen 12/531, 12/532 — pläne 25, 13 und 23. — Ich bitte Sie, noch einen Mo- Berichterstatter: ment sitzen zu bleiben. — Die Kolleginnen und Kolle- Abgeordnete Jochen Borchert gen, die dafür als Rednerinnen und Redner vorgese- Adolf Roth (Gießen) hen waren, haben sich dankenswerterweise bereit er- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) klärt, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Darf ich fra- Helmut Wieczorek (Duisburg) gen, ob damit Einverständnis besteht? — Das ist der Helmut Esters Fall. Ich darf mich bei den Kollegen und Kolleginnen Eine Aussprache darüber ist nicht vorgesehen. dafür herzlich bedanken.') Dies ist insbesondere im Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Interesse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Ich rufe auf die §§ 1 bis 32, den Gesamtplan sowie die den ganzen Tag haben durcharbeiten müssen, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. und natürlich auch in Ihrem Interesse. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen (Beifall) wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die auf- *) Anlagen 3, 4 und 5 gerufenen Vorschriften sind damit angenommen. 2178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, die in den Berichterstatter: Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses Abgeordnete Jochen Borche rt auf Drucksache 12/531 unter II aufgeführte Entschlie- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen), ßung gemäß § 82 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung an Helmut Wieczorek (Duisburg) den Haushaltsausschuß zurückzuüberweisen. Wer Eine Aussprache darüber ist nicht vorgesehen. stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Enthaltungen? — Der Antrag ist damit angenom- empfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksa- men. che 12/533. Der Ausschuß empfiehlt, von der Unter- Damit ist die zweite Beratung des Entwurfs eines richtung durch die Bundesregierung Kenntnis zu neh- Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushalts men. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des für das Haushaltsjahr 1991 abgeschlossen. Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltun- gen? — Die Beschlußempfehlung ist damit angenom- men. Ich rufe den Tagesordnungspunkt II auf: Wir sind damit, liebe Kollegen und Kolleginnen, am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Wir bedan- Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- ken uns bei allen, die dabei mitgeholfen haben. haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Ich berufe die nächste Sitzung für den 7. Juni 1991, 9 Uhr ein. Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Guten Abend. — Die Sitzung ist geschlossen. — Drucksachen 12/101, 12/494, 12/533 — (Schluß der Sitzung: 20.11 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2179*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 06.06. 91 * * entschuldigt bis Friedrich Abgeordnete(r) einschließlich Wetzel, Kersten CDU/CSU 06.06.91 Adler, Brigitte SPD 06. 06. 91 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 06.06.91 Antretter, Robert SPD 06.06.91 ** Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 06.06.91 Blunck, Lieselott SPD 06.06.91 * * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Böhm (Melsungen), CDU/CSU 06.06.91 * lung des Europarates Wilfried ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Büchler (Hof), Hans SPD 06.06.91 * * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 06.06.91 * * Conradi, Peter SPD 06.06.91 Anlage 2 Dr. Eckardt, Peter SPD 06.06.91 Falk, Ilse CDU/CSU 06.06.91 Zu Protokoll gegebene Rede Dr. Feldmann, Olaf FDP 06.06.91 ** zum Einzelplan 30 - Geschäftsbereich Genscher, Hans-Diet rich FDP 06.06.91 des Bundesministers für Forschung Göttsching, Martin CDU/CSU 06.06.91 und Technologie - Haack (Extertal), SPD 06.06.91 - Drucksachen 12/524, 12/530 - *) Karl-Hermann Haschke CDU/CSU 06.06.91 Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For- (Großhennersdorf), schung und Technologie: Der Forschungshaushalt Gottfried 1991 ist ein Haushalt in Zeiten des Umbruchs. Es ist Dr. Herkenrath, Adolf CDU/CSU 06.06.91 ein knapper Haushalt. Aber die Notwendigkeiten sind Irmer, Ulrich FDP 06.06.91 abgedeckt. Der institutionelle Bereich ist durchfinan- Kittelmann, Peter CDU/CSU 06.06.91 * * ziert: Nach Art. 38 des Einigungsvertrags werden Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 06.06.91 Bund und Länder 1991 900 Millionen DM allein schon Klaus W. für die Übergangsfinanzierung der Institute der ehe- Lummer, Heinrich CDU/CSU 06. 06.91 * * maligen Akademie der Wissenschaften aufbringen. Dies entspricht mehr als einem Viertel der institutio- Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 06. 06.91 * * nellen Förderung der außeruniversitären Forschung Erich der alten Bundesländer im Geschäftsbereich des Bun- CDU/CSU 06.06.91 Dr. Mahlo, Dietrich desministeriums für Forschung und Technologie. Marten, Günter CDU/CSU 06.06.91 * * Dr. Merkel, CDU/CSU 06.06.91 Wir nutzen dieses Jahr. Wir bauen eine Forschungs- Angela Dorothea landschaft in den neuen Bundesländern auf, die in ihrer Vielfalt der Forschung entspricht, die in den al- Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 06.06.91 ten Bundesländern gewachsen ist. In ganz Deutsch- CDU/CSU 06.06.91 * * Dr. Meyer zu Bentrup, land brauchen wir die bestmögliche Forschung, die Reinhard wir aufbauen können. Dr. Müller, Günther CDU/CSU 06.06.91 * * Müller (Düsseldorf), SPD 06.06.91 Wir haben dem Wissenschaftsrat zu danken: Er ar- Michael beitet schneller, als er selbst es für möglich gehalten hatte. Im Juli werden voraussichtlich für alle Institute Pfuhl, Albert SPD 06.06.91 der ehemaligen Akademie der Wissenschaften Emp- Dr. Probst, Albert CDU/CSU 06.06.91 * * fehlungen vorliegen. Wir schätzen heute, daß mehr als Reddemann, Gerhard CDU/CSU 06.06.91 * * die Hälfte der Wissenschaftler der ehemaligen Akade- Reimann, Manfred SPD 06.06.91 * * mie der Wissenschaften auch künftig in der Wissen- Reuschenbach, Peter W. SPD 06.06.91 schaft arbeiten können. Dr. Riedl (München), CDU/CSU 06.06.91 Das Profil der Einrichtungen in den neuen Bundes- Erich ländern wird anders sein als bisher bei uns: Die Fraun- Dr. Scheer, Hermann SPD 06.06. 91 ** hofer-Gesellschaft wird in 9 Instituten und 10 Außen- von Schmude, Michael CDU/CSU 06.06.91* * stellen über 900 Mitarbeiter haben. Sie schlägt die Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 06.06.91 Brücke zwischen Wissenschaft und Unternehmen. Schreiner, Ottmar SPD 06.06.91 Wir erwarten uns von ihr einen starken und dauerhaf- Schüßler, Gerhard FDP 06.06.91 ten Antrieb für technisch geprägte Unternehmen. Schulte (Hameln), SPD 06.06.91 Die Max-Planck-Gesellschaft hat bisher 13 Arbeits- Brigitte gruppen an Universitäten in den neuen Ländern ge- Seesing, Heinrich CDU/CSU 06.06.91 gründet. Weitere Max-Planck-Institute und Arbeits- Singer, Johannes SPD 06.06.91 gruppen in den neuen Ländern sind geplant. - Zahl- Dr. Soell, Hartmut SPD 06.06.91 * * reiche Institute der Blauen Liste werden entstehen. Steiner, Heinz-Alfred SPD 06.06.91 * * Terborg, Margitta SPD 06.06.91 * * *) Vgl. 27. Sitzung, Seite 2035 C 2180* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

— Bis zu 2 000 Wissenschaftler werden ihren Platz Dies geschieht in einer Zeit, wo die Mittel für die wieder an Hochschulen finden, wenn wir wollen, daß wissenschaftlichen Institute in den alten Ländern Wissenschaft an den Universitäten wieder ihre alte nicht wachsen. Mit Projektmitteln werden wir spar- Stärke findet. sam umgehen, bei Max-Planck-Gesellschaft, bei Fraunhofer-Gesellschaft, bei den Großforschungsein- Wir helfen den neuen Ländern in der schwierigen richtungen und auch bei den Universitäten. Gegen- Übergangsphase. Im Verantwortungsbereich des For- über 1982 hatten wir unsere Mittel in den Universitä- schungsministers sind je für 1992 und 1993 fast ten weit mehr als verdoppelt. Aber wir können natür- 200 Millionen DM vorgesehen. Das Geld erleichtert lich eine manchmal knappe Grundfinanzierung durch den neuen Ländern die Übergangszeit: Wir müssen die Länder nicht ersetzen. Einen Teil dieser Mittel unbedingt vermeiden, daß wir wegen kurzfristiger fis- werden wir an den Hochschulen der neuen Bundes- kalischer Probleme langfristig die falschen Strukturen länder ausgeben. anlegen. Wer nicht einen neuen Arbeitsplatz in der Wissen- Besonders dankbar bin ich für die Bereitschaft der schaft findet, hat unsere volle Unterstützung. Eine Großforschungseinrichtungen, solidarisch mit der besondere Form der ABM habe ich mit dem Kollegen Wissenschaft in den neuen Ländern Lasten zu tragen. Blüm vorbereitet: Auch Forschungsgruppen können Mit etwa 2,3 Milliarden DM im Jahr haben sie einen nach einer gedanklichen Sekunde der Arbeitslosig- hohen Anteil an unserem Haushalt. Viele dieser Ein- keit für zusätzliche Arbeiten im öffentlichen Interesse richtungen haben in den vergangenen Jahren ihr Pro- auf zwei Jahre finanziert werden. Wir helfen bei der fil gewandelt: etwa Abbau der Kerntechnik und Auf- Gründung von Unternehmen, Handwerksbetrieben bau von Umweltforschung. Ihr Haushalt wird in den — oder Technikunternehmen — aus den alten Institu- nächsten Jahren nicht wachsen können. Diese ten. Mit der TREUHAND haben wir Projektunterstüt- schwierige Situation kann nur erfolgreich gestaltet zung und eine Strategie für die Forschungs-GmbH's werden, wenn wir sie nutzen, um möglicherweise vereinbart, die Möglichkeiten nutzt, besonders auch noch vorhandene Schwachstellen zu beseitigen. Wir zur Kooperation mit westlichen Unternehmen. Wir werden alle Instrumente prüfen, den Großforschungs- sind zuversichtlich, daß bei allen Schwierigkeiten einrichtungen hierfür ein hohes Maß an Beweglich- eine kraftvolle institutionelle Forschung entsteht. keit und Gestaltungsmöglichkeit zu geben. Wir fördern mit Projektmitteln. Bis zu 600 Millionen So prägen die Aufgaben der deutschen Einheit un- DM haben wir in 1991 vorgesehen. Dies ist mehr als seren Haushalt. Hier liegt in der Arbeit in diesen Mo- unser gesamter Aufwuchs an Projektmitteln. Dies ist naten das größte Gewicht. Dabei hat sich die Koope- zusätzlich die Umsteuerung eines erheblichen Teils ration mit den Wirtschaftsministern und den Wissen- der Projektmittel, die wir für die alten Bundesländer schaftsministern der neuen Bundesländer freund- vorgesehen hatten, in die neuen Bundesländer. schaftlich und in gemeinsamer Verantwortung gut entwickelt. Aber ebenso wichtig ist mir die Zusam- Ein wichtiges haushaltstechnisches Instrument ist menarbeit mit den Kollegen im Parlament: Der For- dabei für uns eine begrenzte globale Minderausgabe. schungsausschuß und der Bundestag hatte noch nie so Dies ist schwierig. Jeder spricht von der Bereitschaft viele Naturwissenschaftler und Techniker wie heute, zum Teilen. Ich bin dankbar für alle, die uns hierbei und ich bin sicher, daß dies gut ist für die Qualität tatkräftig unterstützten. unserer gemeinsamen Politik! 15 Technologiezentren haben wir mit den neuen Bundesländern gegründet. Bei weiteren beraten und Die deutsche Einheit ist die übergeordnete Auf- unterstützen wir. Die ersten jungen Unternehmen gabe; aber wir haben unsere Schwerpunkte weiterge- sind gegründet, über ein breites Spektrum von der führt und das Profil unserer Forschungspolitik ver- Soft-Ware-Entwicklung bis zur Umwelttechnik. Wir stärkt, wie wir sie seit 1982 angelegt haben. setzen die Erfahrung der letzten Jahre in den alten Der Anteil der Zuwendungen an die großen Unter- Ländern ein. Ich freue mich und ich respektiere sehr, nehmen ist weiter gefallen. Sie leisten eine großartige daß Gemeinden und Hochschulen, Unternehmen und Fachhochschulen, Berater aus den alten Ländern und Forschung. Aber die Zahl der Projekte, bei denen sie die Partnerschaft des Staates brauchen, ist begrenzt. verantwortlichen neuen Ländern gemeinsam denen helfen, die mutig starten. Wo es allerdings notwendig ist, da arbeiten wir gerne zusammen: bei JESSI, dem größten Eureka-Projekt, Das deutsche Forschungsnetz ist ausgebreitet. Da- um Europas unabhängige Position auf den Weltmärk- tenbankanschlüsse sind überall vorhanden. Techno- ten für Chips zu erhalten, bei PROMETHEUS, zur logieberatung der Kammern wird aufgebaut. Demon- Sicherheit des Straßenverkehrs oder beim Hochauflö- strationszentren für neue Techniken entstehen. Am senden Fernsehen, wo neue Formen entstehen und eindrucksvollsten aber ist, wie die Zahl derer wächst, vom Staat mitzugestalten sind, und — in ganz anderer die die Erfahrung von 40 Jahren Sozialismus über- Weise etwa bei Weltraumtechnik, wo wir Aufträge für wunden haben und den Mut zur Initiative und Krea- Geräte erteilen, die wir brauchen, bis hin zu Umwelt- tivität finden. Diese Arbeit gelingt nur in einer guten beobachtungs-Satelliten, zur Technik für die Raum- Partnerschaft zwischen Politik und Wissenschaft. Ich station oder für die Grundlagenforschung. Das Ziel danke den großen Wissenschaftsorganisationen, ich solcher Aufträge ist natürlich nie der Spin-Off. Gerade danke diesen engagierten Wissenschaftlern für die wenn der Spin-Off begrenzt ist, wird deutlich, daß wir Bereitschaft, selbst in den neuen Ländern zu arbeiten, nicht für Marktpositionen von Unternehmen fördern, aber auch Wissenschaftler aus den neuen Ländern auf sondern Geräte bestellen, die wir zur Erfüllung unse- Zeit in ihre Institute einzuladen. rer Ziele brauchen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2181

Die Förderung von kleinen und mittleren Unterneh- des Ostens; das waren die Bürger der neuen Bundes- men hingegen halten wir auf einem hohen Niveau. länder. Und zwischen beiden war eine fast undurch- Für jede selbst aufgewandte Forschungsmark be- dringliche Grenze. Nun sind wir beisammen in einem kommt ein großes Unternehmen heute statistisch etwa Land, und wir sind die Mitte Europas, eines Europas, 3 Pfennige staatlichen Zuschuß, ein KMU etwa das wir mitgestalten können. 8 Pfennige, denn wir wollen einen starken Mittel- Wissenschaft, die unser Verständnis der Welt erwei- stand, der Technik beherrscht. tert, Wissenschaft, die Technik und Wohlstand und Verstärkt haben wir weiter die Bereiche, in denen Problemlösungen zugrundelegt; solche Wissenschaft der Staat unmittelbar Verantwortung trägt. Ökologi- wird auch in einzigartiger Weise das Verständnis der sche Forschung wächst um 10,6 % weit überproportio- Menschen füreinander fördern, wenn wir im Wissen nal; Umwelttechnik um 28,5 % noch stärker; Klimafor- um gemeinsame Verantwortung sie als Partner su- schung um 37,6 % ! Bei erneuerbaren Energien haben chen und finden. wir mit 318 Millionen DM einen internationalen Spit- zenwert. In allen diesen Bereichen trägt der Staat Ver- antwortung für eine verletzliche Welt, und wir wollen mit Wissenschaft und Technik die Voraussetzungen schaffen, daß wir dieser Verantwortung immer mehr gerecht werden. Anlage 3 Dies heißt auch, daß wir Projekte entwickeln, die Zu Protokoll gegebene Reden verschiedene Techniken zusammenführen bis zur zu Einzelplan 25 — Geschäftsbereich Problemlösung: — Wir optimieren verschiedene Ver- des Bundesministers für Raumordnung, fahren zur Verwertung von Gülle. — Wir lernen, wie Bauwesen und Städtebau — wir ökologisch belastete kleine Flüsse sanieren. — Wir — Drucksachen 12/526, 12/530 führen eine wachsende Vielzahl von Verfahren zur — Sanierung von Altlasten im Boden zusammen. — Wir erproben Chinaschilf oder Raps als nachwachsende Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) (CDU/CSU): Der Rohstoffe und Energieträger, und wir freuen uns über Haushalt des Ministeriums für Raumordnung, Bauwe- die wachsende gute Partnerschaft zwischen Wissen- sen und Städtebau trägt entscheidend mit dazu bei, schaft, Industrie und Landwirtschaft. — Wir starten daß die schwierigen Probleme in den Bereichen Woh- Breitenversuche mit tausenden von Anlagen zur Son- nen, Mieten und der Erneuerung der Bausubstanz in nenenergie und zur Windenergie. Das Ziel ist, daß den neuen Bundesländern zügig und wirksam ange- nicht nur einzelne Probleme definiert, sondern Lösun- packt, gleichzeitig aber auch die Wohnungsengpässe gen so überzeugend demonstriert werden, daß sie sich in den alten Bundesländern weiter beseitigt werden durchsetzen. können. Der Finanzrahmen des Haushaltsplans zum Der Forschungshaushalt ist knapp, und die näch- Einzelplan 25 weist eine beachtliche Steigerung ge- sten Jahre werden schwierig sein. Aber die Strategie genüber dem Jahr 1990 von fast 29 % aus und beträgt stimmt, und die Partnerschaft zwischen Wissenschaft, jetzt immerhin in den Ausgaben rund 8,2 Milliarden Wirtschaft und Staat, die sich in den vergangenen DM. Damit steht ein beachtliches Finanzvolumen zur Jahren so außerordentlich erfolgreich entwickelt hat, Verfügung, das zielsicher eingesetzt die wichtigen wird sich auch in einer schwierigen Zeit bewähren. wohnungsbaupolitischen Aktivitäten in den alten und Dabei werden wir immer wieder auch im Parlament den neuen Bundesländern finanziell absichert. Die über den richtigen Weg zu streiten haben. SPD, die hier höhere Wohnungsbaumittel fordert, soll dafür Sorge tragen, daß in den Bundesländern und Aber aus den Diskussionen der letzten Monate sehe Gemeinden, in denen sie die Verantwortung trägt, mit ich einiges an Sorgen über das Volumen unseres For- eigenen Initiativen mehr zum Abbau des Wohnungs- schungshaushalts. Ich sehe aber weniges an grund- defizits getan wird. Der Wohnungsbau und die Besei- sätzlicher Kritik an unserer Strategie. Dies liegt viel- tigung von Engpässen gehört nämlich nach dem Woh- leicht daran, daß dies im guten Stil des Forschungs- nungsgesetz nicht in die alleinige Zuständigkeit des ausschusses bei aller grundsätzlichen Spannung im- Bundes, sondern ist eine Gemeinschaftsaufgabe von mer wieder gemeinsam gestaltet ist. Bund, Ländern und Gemeinden. So lassen Sie uns gemeinsam die Probleme der Die Regierungskoalition hat bereits 1989 ein breites kommenden Jahre lösen. Wir lösen sie in unserem wohnungsbaupolitisches Paket für die alten Bundes- Land, aber wir werden nicht vergessen, daß Deutsch- länder verabschiedet mit dem Ziel, von 1990 bis 1992 land ein Teil Europas wird, daß Deutschland sein Wis- 1 Million neue Wohnungen zu bauen. Der Erfolg des sen und seine Gestaltungskraft in Europa einbringen hervorragenden Wohnungsbauprogramms der Bun- muß. Dies gilt für die großen Programme und Institute desregierung und der Koalition ist bereits jetzt in den der Grundlagenforschung, dies gilt für Weltraumtech- alten Bundesländern deutlich sichtbar. Im Jahr 1990 nik und dies gilt für EUREKA. Dies gilt für die Pro- wurden 257 000 neue Wohnungen fertiggestellt. Ein gramme der Europäischen Gemeinschaft. noch deutlich kräftiger Zuwachs ist für dieses Jahr Dies gilt aber auch für unser Verhältnis zu den Staa- 1991 zu erwarten. Die Zahl der neu genehmigten ten Ost-Europas, die zurückkehren in die Gemein- Wohnungen lag nämlich im Jahr 1990 bei rund schaft der freien Völker. Auch dies ist ein Teil unserer 387 000. Für 1991 kann daher bis zum Jahresende mit Wirklichkeit: — Die einen Deutschen standen bisher einem Ergebnis von deutlich mehr als 300 000 neuen am äußersten Osten des Westens; das waren wir. — Wohnungen gerechnet werden. Nach dem Stand der Die anderen Deutschen standen am äußersten Westen Wohnungsbaugenehmigungen in diesem Jahr wird es 2182* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 auch im Jahre 1992 mit neuen Wohnungen verstärkt Auch in den neuen Bundesländern soll mit den Fi- weitergehen. nanzhilfen des Bundes alles daran gesetzt werden, vor allen Dingen Eigentumsmaßnahmen in besonderer Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn für die Jahre Weise zu fördern. Nur mit Hilfe vieler privater Initia- 1991 und 1992 in den alten Bundesländern mehr als tiven sind schnelle Erfolge zu erzielen. 700 000 Wohnungen neu hinzukommen. Wer kriti- siert, daß noch nicht alle Engpässe beseitigt sind, Außer den Finanzhilfen für den sozialen Woh- sollte nicht vergessen, daß allein seit der letzten nungsbau stellt der Bund auch im Jahre 1991 be- Volks- und Wohnungsstättenzählung im Jahre 1987 trächtliche Mittel in den alten und den neuen Bundes- die Einwohnerzahl in den alten Bundesländern um ländern für Maßnahmen der Stadterneuerung zur rund 2,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger gewach- Verfügung. In den neuen Bundesländern stehen in sen ist. Der Trend zu immer größeren Wohnungen und diesem Jahr und im Jahre 1992 Finanzhilfen in Höhe zu Einpersonenhaushalten hält weiter unvermindert von je 630 Millionen DM für Investitionen in den Städ- an. Deshalb konnte die Schere zwischen Wohnungs- ten und Gemeinden zur Verfügung. Zusammen mit angebot und Wohnungsnachfrage ungeachtet der den Komplementärmitteln von Ländern und Gemein- spürbaren Steigerung des Neubauvolumens noch den beträgt das Finanzvolumen in den neuen Bundes- nicht geschlossen werden. Es liegt völlig daneben, ländern für die Stadterneuerung über 1,5 Milliarden wenn die SPD behauptet, im Wohnungsbau sei nichts DM pro Jahr. Mit den Finanzhilfen für die Städtebau- gelaufen. förderung können vordringliche Maßnahmen zur Bo- Die kontinuierliche Fortsetzung der wohnungspoli- denordnung, der Erwerb von Grundstücken, die Her- tischen Vorhaben erfordert ein Zusammenwirken von stellung und Änderung von Erschließungsanlagen so- Bund, Ländern und Gemeinden, insbesondere auch wie Baumaßnahmen bewerkstelligt werden. die Mobilisierung von Bauland. Durch den Abbau von In den alten Bundesländern wurde K ritik laut, daß Truppenstandorten der Bundeswehr und die Reduzie- die Stadterneuerungsmittel in diesen Ländern gegen- rung der alliierten Stationierungsstreitkräfte ist zu- über dem Vorjahr von 660 Millionen auf 330 Millio- sätzliches Bauland frei geworden. Meine Fraktion un- nen reduziert wurden. Ich weiß, daß noch viele Bür- terstützt nachdrücklich, daß durch den Truppenabbau germeister aus diesem Topf ihre Gemeinden verschö- freiwerdende Grundstücke und Gebäude vorrangig nern wollen, halte es jedoch für vertretbar, daß ein für den sozialen Wohnungsbau genutzt werden. Ich solidarischer Beitrag der alten Bundesländer für die hoffe, Sie haben gestern bei der Rede des Herrn Bun- neuen Bundesländer geleistet wird. Manche Stadter- desfinanzministers sicher gut zugehört, der hier mit- neuerungsmaßnahme in den alten Bundesländern geteilt hat, daß künftig freigegebene Militärgrund- kann auch noch ein Jahr gestreckt werden. Bösartige stücke mit einem Preisabschlag von 30 % für Zwecke Kritik meint sogar, längst werde hier auch viel unnüt- des sozialen Wohnungsbaus und des studentischen zer „Schnickschnack" finanziert. Aber diesen Vor- Wohnungsbaus an die Gemeinden abgegeben wer- wurf will ich so allgemein nicht stehen lassen. den. Das ist eine ganz großartige Nachricht, für die ich hier noch einmal dem Bundesfinanzminister den Damit keine Mark an Bundeshilfen für den sozialen Dank meiner Fraktion sagen möchte. Die Gemeinden Wohnungsbau oder Stadterneuerungsmaßnahmen werden hierdurch in der Lage sein, den sozialen Woh- am Jahresende 1991 verfällt, weil möglicherweise we- nungsb au weiter anzukurbeln. Die Grundstücksver- gen eines zu geringen Planungsvorlaufs in den neuen gabe mit 2 % Erbbauzins bleibt daneben bestehen. Bundesländern noch nicht alles verbaut werden kann, Die Verpflichtung der Länder, die für den sozialen wird bei den entsprechenden Titeln des Einzel- Wohnungsbau zugeteilten Bundeshilfen vorrangig im plans 25 festgelegt, daß mit Zustimmung des Bundes- sogenannten dritten Förderweg, also im Wege einer finanzministers Mittel, die in den neuen Bundeslän- Vereinbarung einzusetzen, ist der sachgerechte Weg, dern nicht abgerufen werden konnten, auch für den um mit dem vorhandenen Geld eine größtmögliche sozialen Wohnungsbau oder Stadterneuerungsmaß- Breitenwirkung zu erzielen. nahmen in den alten Bundesländern abgerufen wer- den können. Damit wird, ähnlich wie beim Straßen- Nach der abgeschlossenen Verwaltungsvereinba- bau, eine optimale Ausnutzung der zur Verfügung rung zwischen dem Bund und den neuen Ländern stehenden Bundeshilfen erreicht, ohne daß die neuen stellt der Bund allein den neuen Ländern rund Bundesländer dadurch benachteiligt werden. 1,35 Milliarden DM an Finanzhilfen für den Woh- nungsbau zur Verfügung. Anders als in den alten Neben zusätzlichen städtebaulichen Denkmal- Bundesländern können die Finanzhilfen für den sozia- schutzmaßnahmen in den neuen Bundesländern im len Wohnungsbau auch für Maßnahmen der Moderni- Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost sierung und der Instandsetzung eingesetzt werden. werden aus dem Einzelplan 25 städtebauliche Mo- Das ist angesichts des teilweise verheerenden Zustan- dellvorhaben mit Hilfe des Bundes in den Städten des der Bausubstanz in den neuen Bundesländern Brandenburg, Halberstadt, Meißen, Stralsund und auch richtig und notwendig, um einen schnellen Auf- Weimar sowie in acht Dörfern der neuen Bundeslän- schwung zu erreichen. Mit den zur Verfügung stehen- der durchgeführt. Mit diesen Maßnahmen, die rasch den Mitteln kann unverzüglich begonnen werden, umgesetzt werden, wird in den Modellstädten und bauliche Mängel an Dächern und Fassaden zu besei- -dörfern ein sichtbares Zeichen gesetzt, wie es in eini- tigen, Maßnahmen der Modernisierung von Hei- gen Jahren überall in den neuen Bundesländern aus- zungsanla gen und Sanitäreinrichtungen vorzuneh- sehen kann und soll. Die Wirkung der Vorhaben in men und mit energiesparender Wärmedämmung zu den Modellstädten und -gemeinden reicht weit über beginnen. den unmittelbaren Kreis hinaus. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2183*

Mit einem neuen Modellvorhaben soll auch ein Bei- Meine Fraktion wird dem Einzelplan 25 zustimmen, trag zum Schutz des „ungeborenen Lebens" erfolgen. und ich empfehle diese Zustimmung auch den übri- Die Berichterstatter zum Einzelplan 25 haben bean- gen Fraktionen dieses Hohen Hauses. tragt, zusätzliche Bundesmittel bereitzustellen, um Modellwohnungen für alleinstehende und alleiner- Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Die deutsche Ein- ziehende Frauen zu bauen. Diesem Antrag wurde ein- heit hat einen historisch einmaligen Vorgang auch im hellig im Haushaltsausschuß gefolgt. Wir wollen es Bereich der Wohnungspolitik bewirkt: Wir müssen bei der Diskussion um den Schutz des ungeborenen innerhalb kurzer Zeit in den neuen Ländern von einer Lebens nicht bei Worten belassen, sondern auch mit zentralen Wohnungsverwaltung auf eine marktorien- Taten helfen. tierte Wohnungswirtschaft umstellen. Das Wohngeld ist ein weiterer Schwerpunkt im Ein- Für Sozialdemokraten ist Wohnung keine Ware zelplan 25. Das Wohngeld ist seit vielen Jahren zur sondern ein soziales Gut. Das Grundbedürfnis Woh- Abfederung der Mietbelastungen in den alten Bun- nen muß in unseren Breitengraden bestimmten Min- desländern eine wertvolle und unverzichtbare Hilfe deststandards und Ansprüchen genügen. Die Min- für Millionen von Haushalten. In der Zwischenzeit destansprüche sind in den alten Bundesländern mit übersteigt der Haushaltsansatz die 3 Milliarden wachsendem Wohlstand gestiegen. Von den ca. Grenze. Eine behutsame Anhebung der Mieten in den 7 Millionen Wohnungen in den neuen Bundesländern neuen Bundesländern, die bisher noch auf dem Stand trägt aber nur ein geringer Anteil diesen Ansprüchen des Jahres 1936 eingefroren waren, muß begleitet Rechnung. werden von der gleichzeitigen Einführung eines Es reicht also nicht hin, auf die Statistik zu verwei- Wohngeldes. Die Mieter haben die „Vorteile " des bil- sen, daß mit den 7 Millionen Wohnungen die ca. ligen Wohnens mit einem teilweise menschenunwür- 6,6 Millionen Haushalte in den neuen Ländern doch digen Zustand der Wohnungen bezahlt. Dies muß und ohne weiteres befriedigt werden könnten. Immerhin wird sich ändern. Die Anhebung der Mieten muß- aber sind 37 % der Wohnungen in den neuen Ländern vor zeitgleich durch die Einführung eines flächendecken- 1919 errichtet; in den alten Bundesländern beträgt den Wohngeldsystems begleitet werden. Die entspre- dieser Anteil nur noch 19 %. Wer den Wohnungsbe- chenden Mittel sind in den Bundeshaushalt einge- stand in Ostdeutschland kennt, weiß, daß sicherlich stellt. Mit einem pauschalierten System von Voraus- ein Fünftel dieser Wohnungen nicht mehr sanierungs- zahlungen auf das endgültige Wohngeld soll sicher- fähig und eigentlich nicht mehr bewohnbar ist. Wer gestellt werden, daß die Mieter in den neuen Bundes- die Bauten in Großplattenbauweise kennt — ich kann ländern bei Anhebung der Mieten zeitgleich in den Sie Ihnen in meinem Wahlkreis vorführen — , wird mir Genuß der Wohngeldzahlungen gelangen. Außerdem zustimmen, daß das ökonomischste und vielleicht wird in den neuen Bundesländern durch die Berück- auch menschenfreundlichste Verfahren wäre, viele sichtigung der Heiz- und Warmwasserkosten beim dieser Bauten so bald wie möglich niederzulegen und Wohngeld eine zusätzliche Hilfe gegeben. die Flächen mit modernen Ansprüchen genügenden und in das städtebauliche Umfeld sinnvoll eingefüg- Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß wurden ten Wohnungen neu zu bebauen. auch zusätzliche Mittel bereitgestellt, um mit einem Wir erkennen an, daß die Bundesregierung erhebli- Ausbildungsprogramm und einer breit gefächerten che quantitative Anstrengungen unternimmt, um auf Unterrichtung der Bürgerinnen und Bürger in den die vorhandenen Probleme zu antworten. Nur, Quan- neuen Bundesländern ein Informationsdefizit über tität allein reicht nicht hin. Was fehlt, ist eine klare das neue Miet- und Wohngeldrecht schnell abzu- Konzeption für den Wiederaufbau in Ostdeutsch- bauen. Insgesamt ist damit der Etat des Bauministeri- land. ums ebenfalls ein wesentlicher Beitrag für einen kon- tinuierlichen Aufschwung in den neuen Bundeslän- Die Bundesregierung vertraut auf den Markt. Nur, dern. wenn es keinen Markt gibt, kann er auch seine se- gensreiche Wirkung nicht entfalten. In Ostdeutsch- Zu den ganz schwierigen und brisanten Aufgaben land muß ein funktionierender den sozialen Anforde- des Bundesbauministeriums und hier speziell der rungen gerecht werdender Wohnungsmarkt erst her- Bundesbaudirektion gehört die Planung und Realisie- gestellt werden. Und dies kann nicht nur mit An- rung der Bundestagsbauten. Die Fertigstellung des schubfinanzierungen und Übergangsregelungen ge- Plenarsaals in Bonn und vorsorgliche Maßnahmen des schehen. Bei der Größe der Aufgabe kann es der Grunderwerbs und Hochbaumaßnahmen im Umfeld Markt allein nicht schaffen. Es gibt noch keinen des Reichstages in Berlin sind finanziell abgesichert. marktfähigen Wohnungsbestand; auch deshalb, weil Nach den endgültigen Abstimmungen über Regie die Eigentumsverhältnisse immer noch nicht endgül- rungs- und Parlamentssitz werden sich möglicher- tig geklärt sind. weise hier alsbald Veränderungen ergeben, die im Lassen wir uns nicht täuschen: Seit der Öffnung der Haushaltsplan 1992 Berücksichtigung finden müs- Mauer sind Hunderttausende aus den neuen Ländern sen. in die alten Länder abgewandert und haben dort das Arbeitskräftepotential und damit die Leistungsfähig- Ich bedanke mich abschließend bei Frau Ministerin keit verstärkt. Ostdeutschland, in dem einmal fast Adam-Schwaetzer sowie bei allen Bediensteten des 20 Millionen Menschen gelebt haben, hat im Lauf der Bundesbauministeriums und auch meinen Berichter- letzten Jahrzehnte zwischen 3 und 4 Millionen Ein- statterkollegen im Haushaltsausschuß für eine gute wohner verloren. Nun könnte man meinen, daß dies Zusammenarbeit. die Situation entspannt; das Gegenteil ist der Fall. 2184 " Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Es wird in den neuen Ländern einen schnellen Auf- tion hat hier noch keinen Ansatz. Die alten Instru- schwung und eine Zukunftsperspektive nur geben, mente sind verbraucht. wenn es gelingt, das Ausbluten aufzuhalten und Der Abzugsbetrag von der Steuerschuld bei selbst- junge Menschen zu motivieren, in die neuen Länder genutztem Eigentum ist ein alter sozialdemokrati- zu gehen, um am Aufbau mitzuwirken. Zwei Voraus- scher Vorschlag, den wir bereits 1986 in die parlamen- setzungen sind notwendig. Das eine ist die Schaffung tarische Beratung eingebracht haben. Dieser Vor- hinreichender Arbeitsplätze. Das zweite ist das Ange- schlag hat den Vorteil, daß bei geringen Einkommen, bot an bezahlbaren Wohnungen, die dem Qualitäts- bei denen eine Steuerschuld nicht entsteht, das Fi- stand entsprechen, den wir in den alten Ländern er- nanzamt mit einem Zuschuß wirksam in die Eigen- reicht haben. Dies erfordert massiven Wohnungsbau, tumsbildung eingeschaltet wird. Wir bieten an, wir den wir nur über ein öffentliches Förderprogramm fordern Sie auf, mit uns gemeinsam ein neues Konzept erreichen. Die Bundesregierung ist untätig und wartet zu erarbeiten. auf den Markt. Ich fordere die Koalitionsparteien auf, zusammen mit Sozialdemokraten ein Nationales Auf- Jede Wohnungspolitik bedarf der sozialen Absiche- bauprogramm für den sozialen Wohnungsbestand zu rung. Was bedeutet dies für die neuen Länder? entwickeln. 1. Mieter und Eigentümer brauchen Sicherheit und Die Bundesregierung setzt vorwiegend auf die Pri- Schutz vor willkürlicher Kündigung. vatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes. 2. Die Wohnungen müssen bezahlbar sein. Die Privatisierung von Altbauwohnungen ist aber mit Problemen belastet. Der Althausbestand wird sicher 3. Der Wohnungsbestand, die Wohnungen müssen weitgehend von den Alteigentümern beansprucht schrittweise an den Qualitätsstandard der westlichen werden und steht daher für eine Privatisierung nicht Bundesländer herangeführt werden. zur Verfügung. Die Gebäude in Großplattenbauweise Die Anhebung der Mieten ist ein erster notwendiger sind von wirklich schlechter Qualität und haben einen Schritt. Die Begleitung durch das Wohngeld bietet die großen Sanierungsbedarf. Sie zu privatisieren- könnte soziale Komponente, die verhindert, daß die Mieter einem Betrug an den Käufern nahekommen. Wenn überfordert werden. Es ist auf lange Zeit ein Woh- man in den Preisen zu stark nachgibt und die Woh- nungsbestand notwendig, der der Sozialbindung un- nungen sogar zu einem symbolischen Preis abgibt, terliegt, der einkommensschwachen Haushalten — behalten die Kommunen die alten Schulden und sind insbesondere mit Kindern — bezahlbaren Wohnraum auf lange Zeit weniger handlungsfähig. Wer als Be- auf Dauer zur Verfügung stellt. Und wenn ich von dem wohner eine solche Wohnung kauft, geht möglicher- hohen Anteil sanierungsbedürftigen Wohnraumbe- weise ein großes Risiko ein, weil er schon bald von standes ausgehe, so ist neben der Rekonstruktion alter großen Instandhaltungs- und Modernisierungskosten Wohnungssubstanz massiver Neubau in den neuen eingeholt wird, wobei die meisten Käufer nicht beden- Ländern notwendig. ken, daß sie ja auch für die Gesamtsubstanz des Hau- ses, Dächer, Außenmauern, Treppenhäuser usw., mit- Wir müssen also die Förderung des sozialen und des verantwortlich sind. Ich glaube kaum, daß jemand in frei finanzierten Wohnungsbaus auch für die neuen der Lage ist, zuverlässig die tatsächlichen Kosten zu Länder vorantreiben. Dazu ist es notwendig, das För- schätzen. Deshalb bleibt für uns klar: Die Privatisie- dersystem zu überprüfen. Was wir dort brauchen rung ist nicht ausgeschlossen, aber sie heilt nicht den ist: defekten Wohnungsbestand. — Stetigkeit zur Auslastung der Bauwirtschaft; Wir müssen also auf den Neubau neben der Moder- —systematische Angleichung der Wohnungsqualität, nisierung setzen. Eigentumsbildung in den neuen die mit steigenden Einkommen auch in den neuen Ländern ist dabei eine der zentralen Aufgaben. Wir Ländern nachgefragt werden wird; Sozialdemokraten denken dabei allerdings nicht daran, nach Manier freier Marktwirtschaft akkumu- — eine Übersichtlichkeit für Mieter und Eigentü- liertem Kapital eine besonders günstige Zuwachsrate mer; zu verschaffen. Wir wollen, daß abhängig Beschäf- — die Beachtung der Komponenten des Städtebaus tigte, die bisher über Eigentum nicht verfügten, in die und des Wohnumfeldes. Lage versetzt werden, solches zu bilden. Und dies geschieht am besten bei selbstgenutztem Wohneigen Ein Problem, das mir Sorgen bereitet, ist der Zu- turn. Nur ein geringer Anteil der DDR-Bevölkerung stand der Energienutzung im Wohnungsbaubestand. lebte in Eigenheimen. Hier liegt ein gewaltiges Poten- Es genügt nicht, durch die Ergänzung der Wohngeld- tial für die wirtschaftliche Entwicklung. Wir Sozialde- regelungen einen Teil der Betriebskosten abzufan- mokraten fordern daher die Bundesregierung auf, mit gen. Wir benötigen Programme, die eine radikale Re- uns gemeinsam eine massive Förderung der Eigen- duzierung der Energiekosten zum Ziel haben. tumsbildung zu beginnen. Wer sich mit den Beheizungskosten der Verwal- Wir benötigen eine Konzeption für die grundle- tungsgebäude, die der Bund in Berlin geerbt hat, be- gende Umgestaltung der steuerlichen Förderung. faßt, kommt zu dem Schluß, daß eine Reinvestition in Denn wir müssen davon ausgehen, daß die Mehrzahl die Modernisierung der Heizungsanlagen sich inner- der Bewohner der neuen Länder über Eigenkapital halb weniger Jahre aus den ersparten Kosten amorti- noch nicht verfügen kann. Uns kommt es auf einen siert. Insofern kann man auf das Funktionieren des möglichst effizienten Einsatz finanzieller Mittel für Marktes vertrauen. Ich halte es dennoch für notwen- breite Bevölkerungsschichten an, um den Erwerb dig, daß gerade für den Bereich des Wohnungsbaus oder Bau von Eigenheimen zu ermöglichen. Die Koali- massiv die Modernisierung gefördert wird, und zwar Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2185* so, daß nicht sämtliche Modernisierungskosten beim werden muß. Um so mehr freut es uns, daß der Bun- Mieter als Mieterhöhung ankommen. Das würde un- desminister der Finanzen in seiner gestrigen Anspra- ser Ziel, die Mietsteigerungen für die Mieter erträg- che den Forderungen der Opposition entgegenge- lich zu machen, unterlaufen. kommen ist und angekündigt hat, daß er für Maßnah- men des sozialen Wohnungsbaus in den alten Bundes- Dies gilt insbesondere für die Bauten in Großplat- ländern bislang militärisch genutztes Gebiet preis- tenbauweise, die so schlecht isoliert sind und die in werter abgeben will. Wir begrüßen, daß die Bundes- ihren Heizungen so unglaublich unwirtschaft lich sind, regierung Lernfähigkeit an diesem Punkt bewiesen daß ich Ihnen Beispiele vorführen kann, in denen ein hat, und würden uns wünschen, daß es auch anderswo Abriß der Häuser und Neubau allemal billiger ist als so ginge. die Sanierung. Gerade deshalb müssen wir auch dar- auf achten, daß diese Wohnungen eben nicht in Mie- Die Bauwirtschaft war immer der Motor für die wirt- tereigentum überführt werden mit der fatalen Konse- schaftliche Entwicklung. Dies war nach dem Kriege in quenz, daß die Mieter sich in wenigen Jahren an ih- Westdeutschland so, dies wird gleichermaßen für die rem Eigentum zu Tode zahlen. neuen Länder gelten. Investitionen in Wohnungsneu- bau heißt also auch die Schaffung industrieller Kapa- Wir freuen uns, daß der Haushaltsausschuß auf Vor- zitäten und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen. schlag der Bundesregierung noch in der Bereinigung Sozialer Wohnungsbau und Bau von selbstgenutztem die Verpflichtungsrahmen für den experimentellen Wohnungseigentum wird der Treibstoff für den Motor Wohnungs- und Städtebau aufgestockt hat. Es war Bauwirtschaft sein. von Anfang an die Kritik der Opposition, daß der Ver- pflichtungsrahmen zu schmal sei. Immerhin lag der im Wir würden allerdings schlecht wirtschaften, wenn Regierungsentwurf vorgesehene Rahmen in Höhe wir die Hilfe so verstünden, daß Kapazitäten aus dem von 15 Millionen DM um 10 Millionen DM unter dem Westen in den Osten verlagert werden. Eine Auswei- schon bescheidenen Betrag, der im vergangenen Jahr tung der bauwirtschaftlichen Kapazität unter Erhal- allein für die alten Bundesländer vorgesehen war. tung dessen, was in den alten Ländern besteht, ist notwendig und beinhaltet die Forderung, daß auch in Experimenteller Wohnungsbau heißt die Chance den alten Bundesländern die Bauwirtschaft hinrei- für Architekten, Bauingenieure und Städtebauer sich chend mit staatlichen Förderungsprogrammen be- selbst an neuen Aufgaben zu erproben. Und wenn schäftigt wird. Der Bedarf ist hinreichend vorhan- man daran denkt, daß der Großteil der Architekten in den. Ostdeutschland im wesentlichen Plattenmontagein- genieure gewesen sind, dann erkennt man, wie not- wendig es ist, ihnen dort auch die Möglichkeit zu Carl-Ludwig Thiele (FDP): Zunächst möchte ich geben, sich an den neuen Aufgaben zu erproben. Wir mich bei meinen Mitberichterstattern Dr. Schroeder brauchen in der Tat neue Konzepte — die auch die und Dr. Diederich für die angenehme Zusammenar- Wiederbelebung alter Erfahrungen im Westen sein beit sowie bei den Mitarbeitern des Ministeriums für können — , um die gewaltigen Aufgaben der Rekon- die geleistete Arbeit bedanken. Sehr geehrter Herr struktion der wunderschönen Städte und Dörfer in Dr. Schroeder, ich habe in der leider nur kurzen Zeit Ostdeutschland zu bewältigen. unserer Zusammenarbeit Ihre Art, komplizierte und schwierige Probleme liebevoll mit Humor darzustel- Die schwierige wohnliche und städtebauliche Si- len, schätzen gelernt. Ich persönlich bedauere Ihr tuation in den neuen Bundesländern macht einen er- Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag und höhten Bedarf für die Forschung in diesem Aufgaben- wünsche Ihnen für Ihr neues Amt als Regierungsprä- bereich notwendig. Wir freuen uns daher, daß die sident von Freiburg viel Erfolg. Bundesregierung die Kritik der Opposition letztlich auch gegen den hinhaltenden Widerstand der Koali- In den neuen Bundesländern stehen wir vor den tionsparteien hat durchsetzen können. Trümmern einer gescheiterten sozialistischen Woh- nungsbaupolitik. Wie sehr wurde auch in der alten Der Bundesregierung sind mit der Vereinigung rie- Bundesrepublik von sozialistischen Träumern die sige Bestände an Flächen und zahllose Gebäude zu- niedrige, da herabsubventionierte, Miete gelobt! gefallen. Die Bundesregierung muß sie verantwortlich im Rahmen der Bundeshaushaltsordnung schnellst- Die Ergebnisse sind jetzt für jedermann zu besichti- möglich verwerten. Die zur Verfügungstellung von gen, und sie sind entsetzlich. Wenn die Miete nicht Grundstücken am Markt durch die Bundesregierung einmal dafür reicht, die Warmkosten einer Wohnung kann sicherlich ein erheblicher Beitrag zur Belebung zu decken, dann ist auch kein Geld für Renovierungen der Bautätigkeit sein. und Investitionen vorhanden. Folge davon ist unter anderem, daß die Heizkosten sich auf 3 bis 5 DM pro Die Koalition hat den Antrag der Sozialdemokraten Quadratmeter belaufen. Man muß sich einmal vorstel- im Haushaltsausschuß, aufgelassene Liegenschaften len, daß die Bürger der ehemaligen DDR einen der der Bundeswehr bzw. der alliierten Streitkräfte in höchsten Energieverbräuche pro Kopf hatten. Gleich- strukturschwachen Regionen, also in ganz Deutsch- wohl hatten sie bei weitem nicht den Komfort, den die land, für den sozialen Wohnungsbau, für soziale Ein- Bürger in den alten Bundesländern durch Einsatz mo- richtungen und für Indust rie- und Gewerbeflächen derner Technik, wie Thermostatventile, moderne Hei- unter Berücksichtigung der dauernden finanziellen zungsanlagen sowie Wärmeisolierungen genießen Leistungsfähigkeit der Erwerber mit einer erhebli- können. chen Ermäßigung zur Verfügung zu stellen, abge- lehnt. Wir hatten angekündigt, daß hierüber ange- Die Hauptaufgabe dieses Ministeriums liegt in den sichts des Strukturwandels noch einmal gesprochen neuen Bundesländern. Deshalb haben wir erhebliche 2186* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Mittel für Maßnahmen in den neuen Bundesländern Schwaetzer, dieses Amt übernommen und gleich mit bereitgestellt. Der Etatansatz ist um ein Viertel gestie- großem Engagement an die Arbeit gegangen sind. gen. Hinzu kommen noch die 1,1 Milliarden DM, die Gehen Sie weiter auf Ihrem Weg — wir werden Sie in diesem Jahr aus dem Gemeinschaftswerk Auf- unterstützen! schwung Ost für den Bereich des Wohnungs- und Städtebaus zur Verfügung stehen. Damit wird eine Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Die Vorstellun- solide Basis dafür geschaffen, daß der Bund seiner gen der Baupolitiker in diesem Hause sind oft nicht sozialen Verantwortung für die Wohnungsversorgung deckungsgleich mit den Vorstellungen der Finanz- und eine Verbesserung der Wohnsituation in den bzw. Haushaltspolitiker. Ich möchte aber vorweg das neuen Bundesländern nachkommen kann. sagen, was ich schon im März dieses Jahres an glei- Im Bereich des Wohnungsbaus gibt es erhebliche cher Stelle gesagt habe, daß wir, was den Einzelplan Veränderungen für die Bürger in den neuen Bundes- 25 angeht, uns in einer außergewöhnlichen Situation ländern. Es muß aber Verständnis für die Regelungen befinden, die wohl niemand in diesem Hause bestrei- geschaffen werden, die jetzt in den neuen Bundeslän- ten kann, und daß dieser vorliegende Haushalt eine dern eingeführt werden. Deshalb haben wir die Mittel möglichst schnelle Angleichung der Verhältnisse der für Öffentlichkeitsarbeit drastisch erhöht. neuen Bundesländer an die Gegebenheiten der alten Bundesländer möglich macht. Ich möchte feststellen, Was wir auch brauchen, ist eine breite Eigentums- daß die Ansätze im vorliegenden Einzelplan 25 den bildung, besonders in den neuen Bundesländern. Zielvorstellungen, jährlich rund 300 000 neue Woh- Dazu werden zum Beispiel die Privatisierungszu- nungen zu errichten, insoweit Rechnung tragen, wenn schüsse beitragen, für die in diesem Jahr 200 Millio- denn die Kapazitäten in der Bauindustrie im geforder- nen DM im Rahmen des Gemeinschaftswerks Auf- ten Umfange überhaupt noch vorhanden sind bzw. schwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Wich- bürokratische Genehmigungsverfahren diesen Ziel- tige andere wohnungspolitische Maßnahmen zur För- vorstellungen nicht hinderlich im Wege stehen, wie derung des privaten Wohnungsbaus wie die steuerli- manche Erkenntnisse in den letzten Monaten über- chen Anreize und Zinsverbilligungsprogramme kom- deutlich gezeigt haben. Diese Feststellung darf ich men ebenfalls in diesem Haushalt zum Ausdruck. hier mit Fug und Recht vortragen, wenn man aus dem Wesentlicher Bestandteil des Konzepts „Vorrang im April vorgelegten Geschäftsbericht der Bundes- für privaten Wohnungsbau" ist das Wohngeld. Es bil- bank zitieren darf, der klar sagt: „Mit der Expansion det einen gewichtigen Posten im Haushalt des der Nachfrage vermochte die Bauproduktion freilich BMBau. Mit den beiden Wohngeldnovellen von 1990 wiederum nicht Schritt zu halten. " hat die Bundesregierung auf die Mietentwicklung Ich will nicht verkennen, meine sehr verehrten Da- reagiert und entsprechende Anpassungen des Wohn- men und Herren, daß dem Wohnungssuchenden mit geldes vorgenommen. Für die neuen Bundesländer Statistiken und dem Aufzeigen von Bauanträgen bzw. haben wir ein Sonderwohngeld zum 1. Oktober 1991 Baugenehmigungen so lange nicht geholfen ist, bis er eingeführt, das den dringend notwendigen Abbau der sein Wohnungsproblem gelöst hat. Das bedarf also — Mietenreglementierung und damit der Bewirtschaf- und das möchte ich hier besonders feststellen — wei- tungssubventionen sozial abfedern wird. Für dieses terer haushaltspolitischer Anstrengungen, und das Wohngeld wird der Bund im nächsten Jahr 1,5 Milli- gilt weit über diesen Etat '91 hinaus, um Angebot und arden DM bereitstellen. Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt in ein für alle Bedauerlicherweise haben die Länder ein früheres Seiten erträgliches Maß zu bringen. Ich darf hier fest- Inkrafttreten der Mietenverordnung und damit einen stellen, daß der Verpflichtungsrahmen im sozialen früheren Subventionsabbau verhindert. Sie, die Kom- Wohnungsbau auf 2,76 Milliarden DM gesteigert munen und die Bürger der neuen Bundesländer, sind wurde, dabei aber nicht zu übersehen ist, daß der es jetzt, die hieraus die Konsequenzen tragen müssen, Anteil der alten Bundesländer auf 1,76 Milliarden DM da die erhöhten Mieteinnahmen erst später für Reno- zurückgeführt wurde. Das ist haushaltspolitisch ver- vierungsarbeiten zur Verfügung stehen. ständlich, kann die Wohnungsbaupolitiker aber si- cherlich nicht zufriedenstellen, da sich die Probleme Die Wohnungspolitik ist einer der Bereiche, den die in den alten Bundesländern gegenüber 1990 nicht Bürger besonders aufmerksam beobachten. Denn verringert haben, sondern sich in den Ballungsräu- hiervon ist jeder betroffen. Die Bürger werden uns men sogar noch verstärkt darstellen. Hier muß es in daran messen, ob wir unser Ziel einer hohen Woh- Zukunft unser ganzes Bemühen sein, für die alten nungsbautätigkeit zum Abbau der Wohnungsmarkt- Bundesländer zumindestens die alten Ansätze von engpässe erreichen. rund 2 Milliarden DM zu erreichen. Das gleiche gilt Die Entwicklung in den ersten drei Monaten des übrigens auch für die Städtebauförderung, wenn auch Jahres 1991 bestätigt, daß wir auf dem richtigen Weg hier die Möglichkeit des Rückfließens von in den im Wohnungsbau sind. Dieses Ziel werden wir auch neuen Bundesländern nicht in Anspruch genomme- bei den in Kürze anstehenden Überlegungen für das nen Städtebauförderungsmitteln den alten Bundes- Haushaltsjahr 1992 im Auge haben. ländern die Chance eröffnet, so manche wichtige, fer- tig geplante oder schon in Ang ri Meine Rede habe ich mit persönlichen Worten be- ff genommene Städ- gonnen und möchte auch damit enden: Das Amt eines tebauförderungsmaßnahme dann auch zu Ende füh- ren zu können. Wohnungsbauministers direkt nach der Erlangung der deutschen Einheit zu bekleiden, ist angesichts der Sie sehen, meine Damen und Herren — und ich sage vor uns allen stehenden Probleme ein gewaltiger Auf- dies hier ganz klar —, ich stelle mich nicht auf die trag. Ich freue mich, daß Sie, Frau Dr. Adam- Seite derjenigen, die in den Ausschüssen oder auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2187* heute hier in dieser Debatte Mehrausgaben in Milli- nungspolitischen Situation fehl am Platze. Hiervon ardenhöhe fordern, sich gleichzeitig eminent gegen sollte man die Finger lassen. Die breite Öffentlichkeit eine hohe Staatsverschuldung wenden und Steuerer- denkt bei Subventionabbau an alles mögliche, aber höhungen von sich weisen. Im Gegensatz zu den oft sicherlich erst zuletzt an den Wohnungsbau. Es gibt übertriebenen finanziellen Anforderungen der Woh- fürwahr lohnendere und sinnvollere Ziele, Subventio- nungspolitiker der SPD, die ja, wenn meine Informa- nen abzubauen, als gerade in diesem Bereich. Wenn tionen richtig sind, im Haushaltsausschuß selbst von wir also breitere Streuung des p rivaten Eigentums ihren eigenen Vertretern nicht aufrechterhalten wur- wollen — und das ist nach wie vor unser Wille — dann den, sind unsere Forderungen für die zukünftigen müssen wir, gerade für die Einkommensschwächeren, Haushalte maßvoll, der Lage und den wirklichen Be- die finanziellen Anreize im Wohnungsbau erhalten dürfnissen angepaßt und gefährden in keiner Weise oder sie dort schaffen, wo sie noch nicht vorhanden die Stabilität der zukünftigen Haushalte. Die CDU/ sind. Diese Überlegungen werden sicherlich bei so CSU-Fraktion orientiert sich hier nicht an Utopien, manchem Ordnungspolitiker wenig Anklang oder gar nicht an von vornherein zum Scheitern verurteilten Unverständnis finden, aber sie sind trotzdem notwen- finanzpolitischen Vorstellungen, sondern versucht dig und in ihrer Zielsetzung, was die Bewältigung der nüchtern und realistisch das eben Machbare auf den anstehenden wohnungspolitischen Probleme angeht, Weg zu bringen. richtig. Die sozialpolitischen Komponenten müssen gestärkt werden bzw. gestärkt bleiben, einerseits im In diesem Zusammenhang möchte ich einige Mah- sozialen Wohnungsbau und andererseits beim Wohn- nungen denjenigen mit auf den Weg geben, die dabei geld, wobei das Wohngeld als Subjektförderung die sind, den Subventionswald zu durchforsten, und da- sozial gerechteste Leistung ist, weil es nicht statisch bei auch sicherlich die direkten oder indirekten För- ist, sondern sich flexibel den jeweiligen Bedürfnissen derungen beim Wohnungsbau ins Auge gefaßt haben. anpaßt. Ich kann nur warnen. Ich bin hier nur auf einige wenige, aber in meinen Alle Umfragen der letzten Wochen zeigen,- daß der Augen sehr gewichtige Probleme eingegangen und Wohnungsbau und die damit verbundenen Probleme darf zum Schluß sagen, daß wir bereit sind, konse- bei der Bevölkerung an erster Stelle rangieren. Es sind quent den von der CDU/CSU als richtig erkannten inzwischen nicht mehr die bisher allgemein gängigen Weg — Baupolitik mit Augenmaß, mit dem Blick für Subventionsthemen wie Kohle, Landwirtschaft oder das Machbare — weiterzugehen. Wir stimmen dem die Fragen der Arbeitslosigkeit schlechthin, die die Einzelplan 25 zu. Bürger unseres Landes bewegen, sondern die Frage: Wie geht es im Wohnungsbau weiter? Die Antwort kann nur lauten, daß für die CDU/CSU die Maxime Gabriele Iwersen (SPD): Als der Eiserne Vorhang so auch weiterhin gilt, neben der Förderung des sozialen viel Rost angesetzt hatte, daß er löchrig wurde, setzte Wohnungsbaues die breitestmögliche Streuung des schlagartig eine Völkerwanderung von Ost nach West privaten Eigentums zu erreichen. Die hier in letzter ein, die wohl ein wesentliches Kennzeichen des letz- Zeit unleugbar errungenen Erfolge, was sowohl die ten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts bleiben wird. Baugenehmigungen wie die Fertigstellung von Woh- Da überwiegend Menschen zu uns ziehen, denen nungen angeht, nähern sich unseren Zielvorstellun- wir schon seit 40 Jahren versichert haben, daß sie zu gen, dürfen uns aber keinesfalls in unseren Anstren- uns gehören, mußte die Antwort in einer verstärkten gungen erlahmen lassen, noch mehr unterstützend Wohnungsbautätigkeit liegen, um zumindest die rela- einzugreifen, um der immer noch riesigen Nachfrage tiv bescheidenen Ansprüche der Neubürger befriedi- nach Wohnraum nachzukommen. gen zu können. Dazu kommt der Wohnraumbedarf, Die Erweiterung des § 10e von bisher 300 000 DM der auf veränderte Lebensverhältnisse der Alt-Bun- auf jetzt 330 000 DM abschreibungsfähige Bausumme desbürger zurückzuführen ist: bei Eigenheimen oder Eigentumswohnungen oder die Nach einer 40jährigen langsamen Wachstumspe- Erhöhung des sogenannten Baukindergeldes auf riode war der statistische Durchschnitts-Wohnraum- 1 000 DM je Kind sind positive Zeichen und Schritte in bedarf der Bundesbürger von 14 qm pro Person auf die richtige Richtung. Die mögliche Kappung der Ein- 36 qm pro Person gestiegen. Als die Einkommen sich kommensobergrenzen, wodurch sehr einkommens- in den 80er Jahren nicht mehr wesentlich erhöhten, starke Eigenheimbauer nicht mehr in den Genuß des ließ vorübergehend die Nachfrage nach größeren § 10 e kommen, könnte man als Baupolitiker leichter Wohnungen nach. Der Anstieg der Pro-Kopf-Fläche mittragen, wenn man wüßte, daß die dadurch einge- kam zum Stillstand. Deshalb schien auch die allge- sparten Mittel den einkommensschwachen Bauwilli- meine Nachfrage nach Wohnungen nicht mehr so ak- gen in irgendeiner Form wieder zugute kommen wür- tuell zu sein. den. Wir brauchen ein neues besseres Förderkonzept. Das würde sicher den Eigenheimbau bzw. den Erwerb Die Regierung Kohl erklärte den Wohnungsmarkt von Eigentumswohnungen beleben und hätte neben für gesättigt und beschloß, die Fürsorge des Staates der sozialpolitischen Komponente noch den woh- bei der Wohnraumbeschaffung für Einkommens- nungsbaupolitischen Effekt der Schaffung von zusätz- schwache und junge Familien praktisch einzustel- lichen Wohnungen, weil ja viele Tausende, die ihr len. Eigenheim bzw. ihre Eigentumswohnung beziehen, Hier lag bereits ein Kardinalfehler dieser Bundesre- eine Wohnung freimachen. gierung. Sie erzeugte durch konsequenten Rück- Gedankenspielereien beim Subventionsabbau im schritt der Förderung des Sozialen Wohnungsbaus ab Wohnungsbau sind in der augenblicklichen woh 1983 einen kontinuierlich wachsenden Fehlbestand 2188* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 an Wohneinheiten, denn sie konnte nicht verhindern, Wohneinheiten in drei Jahren zu schaffen, nicht annä- daß sich die Zahl der Haushalte vergrößerte: Immer hernd erreicht werden kann. mehr junge Menschen, die für sich „Eigene Vier Wände" verlangen, geschiedene Ehen, alleinerzie- Besonders alarmierend ist der Rückgang von Ein- familienhausneubauten: Mit 127 212 Wohnungen hende Mütter oder Väter, alte Menschen, die dank ambulanter Pflege allein in ihren relativ großen Woh- wurden 1990 bereits 10 % weniger genehmigt als im Jahr zuvor, und nur 93 549 wurden wirklich gebaut. nungen bleiben, auf der einen Seite und ein jährlicher Auch bei den zur Selbstnutzung gebauten Eigentums- Verlust von 60 000 bis 80 000 Wohneinheiten des Alt- wohnungen konnte 1990 nur eine Zahl von 40 000 baub estands durch Abbruch, Zusammenlegung und Wohneinheiten fertiggestellt werden. Das sind 30 % Umnutzung auf der anderen Seite führten noch vor weniger als 1989. dem Beginn der neuen Wanderungsbewegung zu ei- nem von der Regierung völlig falsch eingeschätzten Wenn das große Potential der p rivaten Bauherren, Wohnungsbedarf. die für die Selbstnutzung bauen wollen, aktiviert wer- den soll, dann muß der § 10e des Einkommensteuer- Bundesbauminister Oscar Schneider hat in seiner gesetzes endlich umgewandelt werden, wie es die Prognose des Jahres 1988 von einem Bedarf von SPD fordert, damit die Fördersumme einkommens- 200 000 bis 220 000 Wohneinheiten gesprochen. unabhängig von der Steuerschuld abgezogen werden Seine Nachfolgerin, Frau Hasselfeldt, hoffte, mit dem kann. Nur dadurch werden untere und mittlere Ein- Doppelten, also ca. 400 000 Wohneinheiten, auskom- kommensgruppen wirksam gefördert. men zu können. Das Ergebnis war nicht nur ein ständig wachsendes Offensichtlich kann sich aber die FDP, die immer einen anderen Klientel im Auge hat — als gerade die Defizit an Wohnungen, sondern auch ein Abbau von Einkommensschwachen —, damit nicht anfreunden, 200 000 Arbeitsplätzen im Bauhauptgewerbe der al- obwohl dieser Vorschlag nicht nur von der SPD, son- ten Bundesrepublik. dern auch von den Bausparkassen, dem Verband der Denn die Prognosen der Regierung sind Signale für Deutschen Volksheimstätten und sogar von Teilen der die Bauwirtschaft, ob es sich lohnt, weiter auszubilden CDU-Fraktion gutgeheißen wird. und Betriebe über Durststrecken hinwegzuretten. Die In diesem Punkt setzt die SPD auf die Dialogfähig- falsche Bedarfsschätzung in den 80er Jahren hat da- keit der Kolleginnen und Kollegen im Bauausschuß, bei genausoviel negativen Einfluß auf die Bau- und damit eines Tages doch noch eine wirksame Hilfe für Wohnungswirtschaft ausgeübt wie die mageren Zah- bauwillige Familien zustande kommt. len der mittelfristigen Bau- und Investitionstätigkeit oder die Beerdigung 1. Klasse für den Sozialen Woh- Schließlich steht der Förderung auch ein erhebli- nungsbau. ches Kapital gegenüber, das bei konsequenter Förde- rung des Wohneigentums für die unteren Einkom- Heute stehen wir vor einem Wohnungsfehlbestand mensgruppen zum Abbau des Wohnungsfehlbestan- von mindestens 1 Million Wohneinheiten. Schätzun- des beitragen kann. gen des Bonner Städtebauministeriums sehen einen Bedarf von 1,5 Millionen und das Göttinger Institut für Unsere Kritik fasse ich so zusammen: Immobilienforschung spricht sogar von 1,7 Millionen Erstens. Die vorgesehenen Mittel für den Sozialen Wohneinheiten, die auf dem Gebiet der alten Bundes- Wohnungsbau in Höhe von 1,76 Milliarden für die republik fehlen. Dazu kommt ein Fehlbestand von alten Länder plus 40 Millionen für die neuen Länder 800 000 bis 1 Million Wohnungen in den neuen Län- sind nicht ausreichend. Auch die ursprünglich vorge- dern. sehenen 2,2 Milliarden für den Westen reichen nicht Dem steht aber leider eine für den Bedarf der näch- aus. Die SPD bleibt bei ihrer Forderung, die Bundes- sten Jahre gar nicht ausreichend leistungsfähige Bau- finanzhilfe für den Sozialen Wohnungsbau auf wirtschaft gegenüber. 4,5 Milliarden zu erhöhen. Die Kapazitätsausweitung und die verstärkte Quali- Das ist kein hinausgeworfenes Geld, sondern Geld, fizierung der Bauwirtschaft im Osten erscheinen das direkt in Arbeit umgesetzt werden kann. Es ist wichtigstes Gebot der Stunde zu sein, wenn die Bau- besser angelegt als in der Finanzierung von Arbeits- wirtschaft ihre Funktion als volkswirtschaftlicher Mo- losigkeit. tor in der neuen Bundesrepublik erfüllen will. Zweitens. Die schwerpunktmäßige Wohnungsbau- Betrachten wir erst die jüngsten Fertigstellungszah- förderung über den sogenannten dritten Weg führt zu len, dann wird erst recht klar, daß die Regierung nicht einer zu kurzen Preisbindung der Wohnungen, so daß einmal annähernd die selbstgesteckten Ziele erreicht diese schon nach wenigen Jahren nicht mehr denjeni- hat, nämlich die Fertigstellung von 1 Million Wohn- gen zugute kommen werden, die sich ohne öffentliche einheiten in den drei Jahren von 1990 bis 1992. Hilfe nicht mit Wohnraum versorgen können. Das ist für Sozialdemokraten der falsche Weg. Während 1989 238 617 Wohneinheiten fertig wur- den, konnten für 1990 zwar 386 648 Baugenehmigun- Drittens. Ohne Änderung des § 10e erscheint eine gen vorgezeigt werden, aber nur 256 738 Wohnungen Neubelebung des Eigenheimbaus unmöglich. In den wurden wirklich fertig, und davon müßten mindestens neuen Ländern wird diese Förderung ohnehin keinen 60 000 Abbruch- und Umwandlungswohnungen ab- Erfolg haben, weil die geringen Einkommen keinen gezogen werden. Spielraum für Abschreibung lassen. Diese Zahl zeigt, daß das wohnungsbaupolitische Die von der FDP vorgeschlagene Abschaffung der Ziel der Regierung, nämlich 1 Million zusätzliche steuerlichen Wohneigentumsförderung für Bezieher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2189' von Einkommen über 120 000 bzw. 240 000 DM zu 1992 werden 613,4 Millionen in diesem Karree hier streichen ist kein Beitrag zur Wohnungsbaupolitik, verbaut: Läuft das alles unter dem Slogan: „Teilung sondern ein weiterer Angriff auf die kleinen Baufir- durch Teilen überwinden"? men, die auf Eigenheimbau spezialisiert waren. Die Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die hervor- SPD kann das nicht mitmachen. heben, daß jede D-Mark nur einmal ausgegeben wer- Das Ziel sozialdemokratischer Wohnungsbaupolitik den kann. Das stimmt vermutlich, denn die am Rhein ist: Vergrößerung des Wohnungsbestands mit bezahl- verbauten Millionen werden weder Görlitz noch Ost- baren Mieten bei gleichzeitiger Rettung der Städte. Berlin erreichen. Also: Kein Wohnungsbau ohne vernünftig geplan- Aber zurück zu den großzügig bemessenen ten Städtebau! Kein plötzlicher Rückschritt bei der 180 Millionen für den städtebaulichen Denkmal- Städtebauförderung für die alten Länder! Und für die schutz in den fünf neuen Ländern. neuen Länder kein Entzug der zum Jahresende noch Diese Summe können Sie z. B. der Stadt Görlitz nicht gebundenen Städtebaufördermittel, falls Pla- allein zur Verfügung stellen, und es wäre bestimmt nung und Antragsverfahren noch nicht abgeschlossen keine übertriebene Hilfe bei der Rettung dieser f anta- sind, sondern besser eine Übertragung dieser Haus- stischen alten Stadt, die genauso wie Halberstadt oder haltsmittel auf das kommende Jahr! Stralsund — um nur einige der um die Wiedergewin- Jetzt ein Wort zum Thema „Städtebaulicher Denk- nung ihrer historischen Identität kämpfenden Städte malschutz" in den neuen Ländern: zu nennen — auf die Hilfe des Bundes angewiesen ist, um zu retten, was fast schon nicht mehr zu retten Bei der Erneuerung der Städte und Dörfer, der bela- ist. steten Umwelt, der Gewerbestruktur und des Woh- nungsbestands der letzten 30 Jahre nimmt die Ret- Die hier zur Verfügung gestellten Mittel genügen tung der historischen Bausubstanz eine herausra- weder zur Rettung auch nur einer einzigen histori- gende Rolle ein. Während die Neubaugebiete im schen Altstadt, noch können sie eine neue Perspektive Osten und im Westen geeignet sind, die Trennung für die vielen Menschen eröffnen, die gebraucht wer- und die unterschiedliche kulturelle Entwicklung der den, um Rekonstruktion oder Sanierung der vom end- beiden deutschen Staaten zu dokumentieren, wird die gültigen Verfall bedrohten Bauwerke auszuführen. Wiederherstellung der historischen Städte und Dörfer Während zur Zeit noch eifersüchtig darauf geachtet die gemeinsame Herkunft, den zusammenhängenden wird, daß kein Auftrag aus der jeweiligen Region ab- Kulturraum sichtbar machen, denn das Bild der Städte gezogen wird, haben die ersten Baudezernenten und ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, die in diesen Städ- Stadt- oder Landeskonservatoren bereits erkannt: Das ten lebt bzw. diese einmal gestaltet hat. Problem wird im Fachkräftemangel liegen. Für die Bewohner in den neuen Ländern wird das Und diesen behebt man am besten, indem der Staat ein wesentlicher Gesichtspunkt, vielleicht auch eine sich zu einem zuverlässigen Vertragspartner auf Hilfe sein auf ihrer Suche nach einer neuen Identität lange Sicht macht; so zuverlässig, daß jedem klar als Bundesbürger, denn die D-Mark allein stellt keine wird: Dieser Staat hat sich das Ziel gesetzt, das kultu- gesellschaftliche Einheit her. relle Erbe der vergangenen Jahrhunderte zu erhalten; und das ist eine Daueraufgabe. Aber die im Haushalt vorgesehenen 80 Millionen für einen Zeitraum von fünf Jahren sind ein trauriges So etwas muß aber auch in einem Bundeshaushalts- Beispiel einer Hilfe, die nicht einmal ein Tropfen auf plan zum Ausdruck kommen. Sonst entsteht der Ein- den heißen Stein ist. Ohne die 100 Millionen, die zu- druck: Diese Kurzzeitprogramme sind nur auf den sätzlich aus dem Programm „Aufschwung Ost" dazu- Zeitraum von einer Wahl zur nächsten angelegt. kommen, bräuchte man gar nicht an den Entwurf ei- Dieses zur Schau gestellte Engagement genügt nes bundeseinheitlichen Bauschildes zu denken: nicht, um darauf neue Existenzen aufzubauen. Es „Hier baut die Bundesrepublik Deutschland..". führt höchstens zur Preistreiberei, weil für einen kur- 180 Millionen, das hört sich großartig, geradezu zen Zeitraum Angebot und Nachfrage den Markt re- großzügig an. Aber zum Vergleich bitte ich Sie, das geln, ohne die Kapazität zu erhöhen. Kapitel „Hochbaumaßnahmen im Raum Bonn" zu be- Das ist es, was ich mir wünsche: ein gesundes Bau- trachten. handwerk, eine gesunde Bauwirtschaft, die die not- Ich greife nur ein Beispiel heraus, weil die Zahl wendigen Bauleistungen erbringen kann, die dieser gerade so gut paßt: Für 1991 sind nur für die Baustel- Staat, diese Gesellschaft braucht, um zeitgemäß leben len in der unmittelbaren Umgebung des Wasserwerks und arbeiten zu können in Städten, die nicht zu einer zwischen Dahlmannstraße, Görresstraße, Strese- Gefahr für die Umwelt, für die Gesundheit ihrer Be- mannufer und Kurt-Schumacher-Straße 180 Millio- wohner werden, in Städten, die wir mit gutem Gewis- nen veranschlagt, allerdings nur als eine Jahresrate sen nachfolgenden Generationen überlassen kön- aus einem Investitionsvolumen von 994 Millionen für nen. neun Jahre. Diesen Ansprüchen wird der vorgelegte Einzel- Interessant ist, daß die 180 Millionen in diesem plan 25 leider nicht gerecht. Die SPD wird ihn deshalb Haushaltsjahr eigentlich nur den Ausdruck „An- ablehnen. schubfinanzierung" verdienen, denn der weitaus größte Brocken aus diesem Gesamtprogramm „Bau- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Im Verfassungs- maßnahmen für den Deutschen Bundestag" wird erst entwurf des Kuratoriums für einen demokratisch ver- im nächsten Jahr benötigt. faßten Bund Deutscher Länder wird ein Artikel 13 a 2190* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 vorgeschlagen, in dem das Recht auf Wohnung ver- neue Wohnung! Niemand darf zum Kauf seiner Woh- brieft werden soll. Wohl wissend, daß einige Abgeord- nung um den Preis unbezahlbarer Schulden gedrängt nete dieses Hohen Hauses mit feiner Ironie das Recht oder gar genötigt werden. auf Wohnraum mit dem Recht auf Sonnenschein gleichsetzen, ist die PDS/Linke Liste unbedingt dafür, Mehr öffentliche Mittel für den Wohnungsbau und dieses Menschenrecht als Staatszielbestimmung fest- für die Förderung menschenwürdigen Wohnens für zuschreiben. Sie wissen aus der mehr als 40jährigen die einkommensschwächeren Schichten stehen an- Geschichte der BRD selbst sehr gut, daß die Markt- geblich wegen der komplizierten Haushaltslage des wirtschaft allein ein menschenwürdiges Wohnen für Bundes nicht zur Verfügung. Ich frage Sie, wie es alle nicht zu leisten vermag. dann sein kann, daß Besitzer und Makler die Gewinne aus der Preisexplosion auf dem Grundstücksmarkt der ehemaligen DDR in Milliardenhöhe einstreichen, Obdachlosigkeit in den alten Bundesländern und ohne dafür Leistungen erbracht zu haben. Wir schla- das Mißverhältnis von anspruchsberechtigten Haus- gen vor, daß die Bundesregierung beauftragt wird, ein halten und verfügbaren Sozialwohnungen resultieren Gesetz einzubringen, damit diese Gewinne hoch ver- eben nicht aus der Existenz der DDR, sondern aus der steuert werden und der öffentlichen Hand zur Ge- kapitalorientierten Politik der jetzigen Regierungs- währleistung des Rechts auf Wohnraum für alle zur koalition. Verfügung stehen. Das wäre endlich mal eine Steuer, die nicht dem kleinen Mann in die Tasche greift oder Die Menschen in den neuen Bundesländern leiden als Investitionshemmnis wirkt, sondern große finan- gegenwärtig nicht nur unter den Folgen einer verfehl- zielle Mittel für den Aufbau in Ost und West frei- ten Wohnungsbau- und Mietpolitik der DDR, sondern setzt. auch unter fehlenden Konzepten für eine sozial ver- trägliche Mietentwicklung und für Fortschritte beim sozialen Wohnungsbau der Bundesregierung. Ob- Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer, Bundesministerin wohl zweifellos viel zu tun ist, werden doch- in der Tat für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Der gegenwärtig weniger Wohnungen neu gebaut oder Haushalt 1991 des Bundesbauministeriums ist ein Re- modernisiert als in DDR-Zeiten. Viel zu geringe Mittel kordhaushalt: Die Ausgaben steigen um über ein des Bundes, ungeklärte Eigentumsverhältnisse und Viertel auf 8,1 Milliarden DM. Hinzu kommen noch die bundesdeutsche Bürokratie hemmen trotz der ge- die 1,1 Milliarden DM, die in diesem Jahr aus dem genteiligen Beteuerungen der Bundesregierung ei- Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für den Bereich nen wirklichen Aufschwung. des Wohnungs- und Städtebaus zur Verfügung ste- hen. Übrigens werde ich den Eindruck nicht los, daß sich Diese Zahlen sind Ausweis eines anhaltend hohen Herr Möllemann bei seinen Verhandlungen zur Nach- und weiter steigenden Engagements des Bundes zur besserung der Verträge zum Wohnungsbau in der Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation in den Sowjetunion mehr um das Wohl der Bauriesen der Alt Städten und Gemeinden ganz Deutschlands. BRD als um das Überleben der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern sorgt. Überall in unserem Land sind große wohnungs- und städtebauliche Aufgaben zu bewältigen. Dabei gibt es große Unterschiede in der Ausgangssituation. Schon Im Haushaltsentwurf sind weniger als 2 % der Aus- das optische Erscheinungsbild der Städte zeigt: Im gaben des Bundes für den Geschäftsbereich Raum- Osten gibt es enorm viel zu tun, enorm viel nachzuho- ordnung, Bauwesen und Städtebau vorgesehen. Sind len und wieder aufzubauen, was im wahrsten Sinne Sie, Frau Adam-Schwaetzer, tatsächlich der Meinung, des Wortes systematisch zerstört worden ist. Deshalb daß Sie mit diesem Etat einen wirklichen Beitrag zur halte ich es nach wie vor für richtig, wenn wir jetzt — Bekämpfung der Wohnungsnot leisten können? zum Beispiel im Bereich des Städtebaus — einen stär- keren Akzent in den neuen Ländern setzen. Wenn wir Der Hinweis auf die Verantwortung der Länder und da nämlich als Bund nicht helfen, kann vieles, was Kommunen ist angesichts ihrer finanziellen Lage we- nötig ist, einfach nicht in Gang kommen. Und deshalb nig hilfreich. Wir sind dafür, daß bedeutend mehr öf- fällt unsere finanzielle Hilfe dort auch so massiv fentliche Mittel für den sozialen Wohnungsbau, für aus. Stadtsanierung und Infrastruktur in den neuen Bun- desländern zur Verfügung gestellt werden, ohne daß Aber auch im Westen hilft der Bund, wo er kann. in den alten Bundesländern auch nur eine einzige Viel ist hier bereits erreicht worden — aber viel ist Sozialwohnung weniger gebaut wird. Der Auffassung noch zu tun. 1990 sind mit 257 000 Wohnungen knapp der SPD stimme ich zu, daß statt einer Umschichtung 8 % mehr Wohnungen fertiggestellt worden — zu we- der Mittel eine kräftige Aufstockung vonnöten ist. nig, wie auch ich finde, um bereits spürbare Entla- stung zu bringen. Die Aussichten sind jedoch gut: 387 000 Genehmigungen in 1990 sind zwar noch keine Aber auch zu den Prioritäten im Einsatz der Mittel möchte ich Widerspruch einlegen. Das betrifft vor al- fertigen Wohnungen. Aber fast alle werden es, und lem die Förderung der Privatisierung kommunaler die Perspektiven zeigen, daß es mit der Wohnungs- Wohnungen, wobei der Erlös nicht den Kommunen bautätigkeit allein für das alte Bundesgebiet wieder in Richtung auf die Marke von 400 000 Einheiten zu- zur Sanierung des Wohnungsbestandes zugute kom- geht. men soll, sondern für die Bezahlung dubioser Alt- schulden zu verwenden ist. Durch diese Art von Woh- Wenn es heute nicht schneller geht, weil die Bau- nungseigentumsförderung entsteht keine einzige wirtschaft mit ihren Kapazitäten nicht alles aus dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2191 '

Stand schafft, so hilft zusätzliche Programmhektik gar des Wohngeldes besteht, trifft tagtäglich im Bundes- nichts — im Gegenteil: Die Wohnungsbaupolitik muß bauministerium ein unverändert gewaltiger Zustrom mittelfristig ausgerichtet sein. Andernfalls würde sie von über 1 000 Eingaben aus den neuen Ländern sehr schnell in einer Sackgasse landen. Das heißt auf ein. der anderen Seite zugleich: eine Einschränkung von Förderanreizen im Wohnungsbau können wir über- Die Bürger wollen wissen, wo sie finanzielle Unter- haupt nicht brauchen. Das sage ich ganz bewußt mit stützung für Modernisierungs- und Sanierungsmaß- Blick auf die Situation im Eigenheimbereich. Die För- nahmen erhalten können; sie wollen Klarheit über die derung von Wohneigentum ist kein Subventionsstein- künftigen Mietenregelungen und wollen wissen, wel- bruch. Gefragt ist vielmehr eine Lösung, wie wir die che soziale Absicherung sie erhalten. Und Städte und Wohneigentumsförderung effizienter gestalten kön- Gemeinden fragen nach Städtebaufördermitteln und nen. Dies bereiten wir vor. bitten um Unterstützung in bauordnungs- und bau planungsrechtlichen Fragen. Unsere Politik zur Verbesserung der Wohnungs- situation in ganz Deutschland ist unauflöslich ver- Die weitaus meisten Schreiben machen deutlich, knüpft mit einer wirksamen Politik der sozialen Siche- daß der Wille zum Neubeginn vorhanden ist. Aber rung. Die Bundesmittel für den sozialen Wohnungs- hohe Informationsdefizite bremsen hier noch den bau werden auf insgesamt 2,76 Milliarden DM aufge- dringend erforderlichen Erneuerungsprozeß. Hier ist stockt und mit Hilfe des dritten Förderweges effizien- enorm viel Aufwand und Arbeit erforderlich — ein ter eingesetzt. Aufwand, der von manchem heute immer noch unter- Zusammen mit den Landes- und Kommunalmitteln schätzt wird. können damit im Westen erneut rund 100 000 Bewilli- gungen erteilt und im Osten etwa 30 bis 40 000 Woh- Das Bundesbauministerium hilft, wo es nur kann — nungen modernisiert und neu gebaut werden. in Bonn, in Berlin und vor Ort. Die Beamten des Bau- - ministeriums arbeiten mit bewundernswertem Ein- Außerdem steigern wir unsere Leistungen beim satz, aber sie sind kaum noch in der Lage, den riesigen Wohngeld erheblich. Im Haushalt 1991 spiegelt sich Arbeitsanfall zu bewältigen. In der gesamten Abtei- noch nicht in voller Breite wider, was wir im Wohngeld lung Wohnungswesen in Bonn stehen derzeit nur für die neuen Bundesländer tun. Erst 1992 schlägt die rund 50 Mitarbeiter zur Verfügung für die Mithilfe bei Neuregelung voll durch. Im kommenden Jahr werden der Bewältigung einer gesamtstaatlichen Aufgabe, dann Bund und Länder im Beitrittsgebiet insgesamt die in ihrer Dimension durchaus mit den Herausforde- 3 Milliarden DM an Wohngeldleistungen bereithalten rungen des Wiederaufbaus vergleichbar ist. Und da- — eine gewaltige Summe. bei ist mir eines ganz wichtig: Stereotype, standardi- sierte Hilfestellungen helfen nicht weiter. Sie werden Ungleich gewaltiger ist aber der Subventionsabbau, den persönlichen Umständen des Einzelfalls nicht ge- den wir damit überhaupt erst ermöglichen. Rein rech- recht und können zu Verbitterung, Ablehnung und nerisch wird die neue Wohngeldregelung und die sozialem Unfrieden führen. Mietenreform einen Subventionsabbau bei Mieten und Heizenergie von insgesamt über 10 Milliarden Ich bedauere es deshalb sehr, daß der Haushalts- DM jährlich möglich machen. ausschuß dieser enormen Arbeitsbelastung nicht Rechnung getragen hat. Dies um so mehr, als das Auf- Diese Entscheidungen sind notwendige Schritte auf gabenspektrum des Bauministeriums auch durch das dem Weg zu wirtschaftlich vernünftigen und sozial- Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost deutlich zuge- verträglichen Grundlagen in der Wohnungswirtschaft nommen hat und nicht zuletzt auch mit der Setzung der neuen Bundesländer. Aber das alleine reicht na- neuen Rechts und seiner Anwendung in den neuen türlich nicht aus. Deshalb bieten wir für den östlichen Ländern einen erheblichen Beitrag für die weitere Teil des Bundesgebiets eine Fülle spezifischer Hilfen Entwicklung der neuen Länder leistet. Ich erinnere an, z. B. KfW-Programm, Modernisierungszuschüsse, nur an die Mietrechtsverordnungen und an die zahl- Privatisierungshilfen, steuerliche Sonderregelungen. reichen Einführungserlasse, Musterverwaltungsvor- schriften, Entscheidungshilfen und andere Hand- Trotz dieses großen Straußes von Maßnahmen kann reichungen zur Anwendungserleichterung des sich der Wohnungsbestand natürlich noch nicht von heute auf morgen um 20 Jahre verjüngen. Aber wir neuen Rechts durch die neuen Verwaltungen. Wir nutzen alle vernünftigen Ansätze für einen überzeu- strecken uns nach der Decke und leisten, was wir können. genden und schwungvollen Neubeginn. Ein Problem dabei ist sicherlich, daß die vom Bund Aber dieser Zustand kann auf Dauer so nicht blei- bereitgestellten Fördermittel noch nicht unverzüglich ben. Der Wohnungs- und Städtebau ist für die innere überall dorthin gelangen, wo sie in sichtbarer Weise in Einheit Deutschlands, für die wirtschaftliche Entwick- eine Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingun- lung der neuen Länder und für den sozialen Frieden in gen in den neuen Ländern umgesetzt werden können. unserem Land von ganz zentraler, eminent wichtiger Zum anderen besteht in den neuen Ländern auf allen Bedeutung. Er ist d i e innenpolitische Herausforde- Gebieten des Wohnungs- und Städtebaus ein un- rung der Gegenwart. Ich bitte deshalb dieses Hohe glaublich hoher Beratungs- und Informationsbedarf. Haus ebenso wie meine Ressortkollegen um jede nur denkbare Unterstützung bei den umfangreichen und Obgleich in der Zwischenzeit Klarheit über die großen Aufgaben des Wohnungs- und Städtebaus im mietrechtlichen Änderungen und die Ausgestaltung geeinten Deutschland. 2192 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Anlage 4 Ablieferungsregelung des § 63 Abs. 1 Postverfas- sungsgesetz in 1994 und 1995 Mehrablieferungen von Zu Protokoll gegebene Reden lediglich 4 Milliarden DM, die aber bereits vorschuß- zu Einzelplan 13 — Geschäftsbereich des weise in 1991 und 1992 mit jeweils 2 Milliarden DM Bundesministers für geleistet werden. Ab 1996 gilt dann auch für die Deut- Post und Telekommunikation — sche Bundespost Telekom die normale Unterneh- — Drucksachen 12/513, 12/530 — mensbesteuerung. Gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf muß die Deutsche Bundespost Tele- Manfred Kolbe (CDU/CSU): Dieser erste gesamt- kom somit 4 Milliarden DM weniger an den Bundes- deutsche Bundeshaushalt 1991, den wir hier beraten, haushalt abführen und kann diese in den neuen Län- steht im Zeichen der Wiedervereinigung Deutsch- dern investieren. lands. Insbesondere die Beschlüsse der Konferenz des Außerdem hat der Haushaltsausschuß nahezu ein- Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten vom stimmig das Bundesministerium für Post und Tele- 28. Februar 1991 waren ein bedeutender Schritt auf kommunikation gebeten, die Standortentscheidung dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands. Ich erin- für das neu aufzubauende Bundesamt für Post und nere an drei Hauptpunkte: Telekommunikation zu überprüfen und insbesondere Auf der Einnahmenseite verzichtete der Bund zu- einen Standort in den neuen Ländern in die Überle- gunsten der Ost-Länder auf seinen 15 %igen Anteil gungen einzubeziehen. am Fonds „Deutsche Einheit" von 5,25 Milliarden DM in 1991. Dem Bundesamt obliegen die Hoheitsaufgaben hin- sichtlich der Wahrnehmung der Funkfrequenzverwal- Auf der Ausgabenseite legte der Bund das Gemein- tung, der Erteilung von Funkgenehmigungen, der schaftswerk Aufschwung Ost mit einem Gesamtvolu- Funkkontrolle, der Funkentstörung sowie der Ab- men von 12 Milliarden DM auf. Insbesondere das nahme drahtgebundener Fernmeldeanlagen. Außer- 5 Milliarden DM-Sofortprogramm zur Unterstützung dem hat das Bundesamt die Aufgaben staatlicher kommunaler Investitionen erwies sich als Renner mit Normsetzung sowie staatlicher oder autonomer Kon- hoher Beschäftigungswirkung. trolle auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit und Ergo- Außerhalb des Bundeshaushaltes haben die Länder nomie wahrzunehmen. die unselige umsatzsteuerliche Teilung Deutschlands Das Bundesamt befindet sich erst noch im Aufbau. beendet. Von 418 Planstellen waren erst 251 besetzt. Das Ge- Sehr geehrter Herr Bundesminister der Finanzen, bäude muß noch errichtet werden, bis jetzt ist noch als Abgeordneter aus Sachsen möchte ich diese haus- nicht mal ein Grundstück gefunden. haltspolitischen Maßnahmen zugunsten der neuen Länder ausdrücklich anerkennen. Für 1991 sind damit Allgemein darf ich zur Frage der Verlagerung von die Finanzen der neuen Länder und Kommunen im Bundeshörden in die neuen Länder sagen: Von 176 wesentlichen gesichert. zentralen Bundesbehörden befindet sich derzeit keine einzige in den neuen Ländern außerhalb . Dies Haushalte sind in Zahlen gegossene Politik. Dieser kann nicht so bleiben, wenn die östlichen Länder Bundeshaushalt zeigt, daß es die Koalition ernst meint gleichberechtigt am staatlichen Leben in Deutschland mit der Angleichung der Lebensverhältnisse. Wir teilhaben sollen. Die Reaktion des in concreto betrof- überwinden die Teilung durch Teilen, auch wenn dies fenen örtlichen Abgeordneten mir gegenüber hat mir mal unpopulär ist. So wären die Steuererhöhungen vom März dieses Jahres ohne die Leistungen für die aber auch klar gemacht, daß Behördenverlagerungen deutsche Einheit nicht erforderlich gewesen. Ich be- eine schwierige Angelegenheiten sind, zumal natür- danke mich bei den Koalitionskollegen im Westen lich auch die Interessen der dort Beschäftigten ange- dafür, daß Sie sie beschlossen haben und dadurch viel messen zu berücksichtigen sind. Unbill in Kauf genommen haben. Was also liegt näher, als zumindest eine noch neu Nun zum Einzelplan 13, Post und Telekommunika- aufzubauende zentrale Bundesbehörde im Osten tion. Die Haushaltsberatungen verliefen in der übli- Deutschlands anzusiedeln und somit einen ersten chen sachlichen Atmosphäre. Gestört wurden sie le- kleinen Schritt in die richtige Richtung zu tun? Hierfür diglich von meinem Sohn Fabian, der sich nicht, wie bitte ich Sie ganz herzlich um Ihre weitere Unterstüt- geplant, an die sitzungsfreie Woche hielt, sondern zung. verspätet in der Nacht vor der Berichterstattung im Lassen Sie mich zum Schluß noch einen kurzen Ausschuß zur Welt kam. Der Herr Vorsitzende Rudi Blick auf die Jahre 1992 bis 1994 werfen, zumal ja Walther mußte daher als Mitberichterstatter selbst die auch am 10. Juli 1991 der Regierungsentwurf des Last der Berichterstattung übernehmen, wofür ich ihm Bundeshaushalts 1992 vom Kabinett verabschiedet hiermit noch einmal ganz herzlich danke. werden wird. Sehr geehrter Herr Finanzminister, es Als einzige wesentliche Änderung während der Be- geht nicht darum, einfach mehr Geld zu fordern, son- ratungen sieht Art. 3 des Haushaltsbegleitgesetzes dern es geht darum, eine bestimmte voraussichtliche eine Verminderung der Ablieferung der Deutschen Einnahmenentwicklung im Osten rechtzeitig zu be- Bundespost Telekom an den Bund gemäß § 63 Post- rücksichtigen. verfassungsgesetz vor. Am 18. April 1991 verständig- ten sich der Post- und Finanzminister darauf, daß die Nach bisher unbestrittenen präzisen Zahlen des ursprünglich geplante Zusatzablieferung der Deut- Sächsischen Staatsministers der Finanzen Professor schen Bundespost Telekom in Höhe von 8 Milliarden Milbradt verschlechtert sich die finanzielle Lage der DM in den Jahren 1991 bis 1995 entfällt. Im Gegenzug Ost-Länder von 1992 bis 1994 deutlich, da die Einnah- ergibt eine Streckung des Auslaufens der bisherigen men aus dem degressiv gestalteten Fonds „Deutsche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2193*

Einheit" von 29,8 Milliarden DM in 1991 auf 8,5 Mil- einem Überschuß überhaupt nicht mehr, wahrschein- liarden DM in 1994 zurückgehen werden, während lich sogar mit roten Zahlen gerechnet werden muß. ein gleichzeitiger entsprechender Anstieg der Steuer- Die Nettokreditaufnahme der Telekom für 1991 einnahmen der Ost-Länder leider unwahrscheinlich liegt nach geltendem Wirtschaftsplan bei 13,892 Mil- ist. Dies führt auch auf der Grundlage der neuen Steu- liarden DM. Damit muß die Verschuldung des Unter- erschätzungen vom 16. Mai 1991 dazu, daß die Pro- nehmens als kaum noch vertretbar angesehen wer- Kopf-Einnahmen der Ost-Länder von 3 831 DM in den. 1991 auf voraussichtlich 3 000 DM in 1994 zurückge- hen werden. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum Dabei wird durchaus nicht verkannt, daß gerade die werden die Pro-Kopf-Einnahmen der West-Länder Telekom in den neuen Bundesländern besonderen von voraussichtlich 4 603 DM in 1991 auf 5 584 DM in und geradezu extremen Anforderungen ausgesetzt 1994 ansteigen. Somit wird sich die Differenz der Pro- ist. Aber: Damit kann nicht gerechtfertigt werden, daß Kopf-Einnahmen zwischen Ost- und West-Ländern der Eigenkapitalanteil der Telekom das gesetzliche von 772 DM in 1991 auf 2 584 DM in 1994 erhöhen. In Limit von 33 % bereits in diesem Jahr unterschreiten Prozentzahlen ausgedrückt: Der Anteil der Pro-Kopf- wird und sich gefährlich dem 20 %-Bereich nähert. Einnahmen der Ost-Länder im Verhältnis zu denen Mit dieser Beschreibung übernimmt die SPD durch- der West-Länder verringert sich von 83 % in 1991 auf aus nicht die Sonthofener Strategien der CSU. Denn in nur noch 53 % in 1994. Diese nach dem derzeitigen der letzten Debatte über die Bundespost im Berliner Kenntnisstand wahrscheinliche Entwicklung führt bis Reichstag war es der Postminister selbst, der wörtlich 1994 zu einer wachsenden Finanzkrise im Osten. die „dramatische Veränderung der finanziellen Lage Zur Jahreswende 1994/1995 würden aber auch die der Telekom" beschrieb — bezogen auf die zusätzli- West-Länder zum Opfer dieser drohenden Einnahme- chen Personalkosten von 500 Millionen DM aufgrund verschlechterung im Osten, da dann der gesamtdeut- der Einkommensanpassung zwischen Ost und West. sche Länderfinanzausgleich in Kraft tritt. Auf einen Zu fragen ist allerdings, ob diese dramatische Ver- Schlag müßten die West-Länder dann Transferlei- änderung so unvorhersehbar war. Hat die Bundesre- stungen in Höhe zwischen 30 und 40 Milliarden DM gierung die notwendige Einkommensentwicklung in jährlich erbringen. Dies wäre bei der Haushaltstruktur den alten und neuen Bundesländern wirklich so falsch der West-Länder mit drastischen Einschnitten verbun- eingeschätzt? Zu fragen ist auch, ob eine solche nicht den, die politisch schwer durchsetzbar wären. nur die Bundespost betreffende Entwicklung dramati- Meines Erachtens ist der allmähliche Einstieg in sche Folgen haben muß. Und schließlich: Wie blind den gesamtdeutschen Länderfinanzausgleich bereits muß eigentlich der Finanzminister sein, der trotz die- ab 1992 der einzige Ausweg aus dieser für Ost und ser dramatischen Entwicklung der Bundespost eine West drohenden finanzpolitischen Entwicklung. Er zusätzliche Abgabe von 4 Milliarden DM durchsetzt. trägt auch der Tatsache Rechnung, daß der Bund bis- Diesbezüglich ist allerdings kritisch festzustellen, her in weit höherem Maße als die alten Länder finan- daß sich wohl kein Postminister, welcher Fraktion er ziell den Erfordernissen der deutschen Einheit Rech- auch angehört, den finanziellen Begehrlichkeiten, die nung getragen hat. sich aus Haushaltszwängen scheinbar ergeben, ent- Zurück zum Posthaushalt! Ich bitte Sie, dem Ent- ziehen kann und entziehen konnte. Also ist die politi- wurf des Einzelplans 13 in der Ausschußfassung zuzu- sche Abhängigkeit der Unternehmen der Bundespost stimmen. systembedingt und gerade deshalb existenzgefähr- dend. Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Eine Behandlung Damit wird der amtierende Postminister allerdings allein des Einzelplans 13, also des Haushalts des Mini- nicht aus der Verantwortung entlassen, im Gegenteil: steriums für Post und Telekommunikation, im Plenum Im Verborgenen, nämlich unter dem Mantel der regu- des Deutschen Bundestages wäre durchaus reizvoll, lierenden und fachspezifischen Einflußnahme, trägt denn die Neugründung vielfältiger Behörden und der Postminister heftig zur finanziellen Destabilisie- Ämter, die damit verbundene Aufblähung des Ver- rung der Bundespost bei. Der Versuch, dies verständ- waltungsapparates, mehr noch aber die übertriebene lich zu machen, setzt Vereinfachungen voraus, aber es Personalausstattung des Ministeriums und das damit sei damit auch die Erwartung ausgedrückt, daß der verbundene Hineinregieren in Unternehmensbe- Minister eine klärende Stellungnahme abgibt. lange, würde allein eine Debatte rechtfertigen. Aber So enthalten die vom Minister vorgelegten Eck- damit würde die eigentliche politische Dimension der punktepapiere zum Netz- und Telephondienstmono- Entwicklung bei der Bundespost verkannt werden. pol Bestimmungen, die in Verbindung mit dem Ent- Diese Dimension ist nicht aus dem Bundeshaushalt wurf zur neuen Telekommunikationsverordnung die ersichtlich, sondern aus den Wirtschaftsplänen der unverzichtbaren Monopole der Telekom aushöhlen Unternehmen der Bundespost. und verwässsern. Damit wird p rivaten Unternehmen Die Telekom führt nach geltenden Wirtschaftsplä- Tür und Tor geöffnet, und die finanzielle Leistungsfä- nen 1,3 Milliarden DM an die gelbe Post und 0,39 Mil- higkeit der Telekom wird in besorgniserregender liarden DM an die Postbank ab. Danach verbleibt ihr Weise untergraben. Darauf hat auch die Unterneh- ein Jahresüberschuß von 671 Millionen DM. Dieser mensleitung der Telekom den Minister in unmißver- Überschuß ist angesichts einer Investitionssumme von ständlicher Weise aufmerksam gemacht und darauf 29 Milliarden DM um mindestens das Zehnfache zu hingewiesen, „daß sie nicht mehr in der Lage sein niedrig. Erschwerend kommt hinzu, daß nach heuti- wird, ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen, die In- gem Kenntnisstand in den kommenden Jahren mit frastrukturdienste zu sichern und der Entwicklung 2194* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 anzupassen", wenn der Postminister sich mit seinen stellung von Willkürmaßnahmen des Postministers Vorstellungen durchsetzt. unabhängig zu machen. Es muß sich der Verdacht aufdrängen, daß Minister Damit dürfen und werden sozialdemokratische Schwarz-Schilling der zumindest als Geburtshelfer Grundsätze — wie Daseinsvorsorge, Infrastrukturauf- des Poststrukturgesetzes bezeichnet werden kann, trag, Rechte der Beschäftigten — nicht in Frage ge- sich jetzt als heimlicher Totengräber der Unterneh- stellt. Im Gegenteil, sie sollen gesichert und weiter- men der Bundespost betätigt. entwickelt werden. Heimlicher Totengräber deshalb, weil der Minister Lösungsansätze dieser Art bedürfen ohne Zweifel und sein unglückselig großes Ministe rium nichts un- einer außerordentlich sorgfältigen Diskussion, die die versucht lassen, um die Wettbewerbsposition der Te- gesamte Palette möglicher Handlungsfelder ein- lekom den privaten Konkurrenten gegenüber zu ver- schließen muß. Im Gegensatz zum Ausgrenzen der schlechtern, mit dem Ziel, die Telekom systematisch Beschäftigten bei der Diskussion des Poststrukturge- aus dem Markt zu drängen. Bei einer solchen selbst setzes muß diese Diskussion gemeinsam auch mit den herbeigeführten Entwicklung kann der Ruf nach Pri- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespost vatisierung nicht verwundern — denn die Öffentlich- und ihren gewählten Vertretern in der Deutschen keit erfährt täglich, daß die Bundespost scheinbar dem Postgewerkschaft geführt werden. Wettbewerb nicht gewachsen ist. Die SPD will im Gegensatz dazu eine wirtschaftlich Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Wie jedes Jahr und konzeptionell starke Post, die ihrem Auftrag der so ist auch dieses Jahr die Debatte über den Haus- Daseinsvorsorge gerecht wird, die in der Lage ist, ih- haltsplan des Bundesministeriums für Post und Tele- ren Infrastrukturauftrag zu erfüllen und zu finanzie- kommunikation eigentlich eine Farce. Eine Farce, ren, also auch über eine finanziell gesunde Basis ver- weil nicht etwa über die wirtschaftlichen Aktivitäten fügt. der Postunternehmen im Parlament beraten wird, son- - Im Gegensatz dazu gibt die zu befürchtende Fort- dern nur über die Sach- und Personalausgaben des führung der gegenwärtigen finanziellen Entwicklung, Bundesministeriums für Post und Telekommunika- insbesondere bei der Telekom, die vom Minister tion, der Bundesdruckerei, des Zentralamtes für Zu- selbst als dramatisch bezeichnet wird, Anlaß zu tief- lassungen im Fernmeldewesen und des Bundesamtes greifender Besorgnis. für Post und Telekommunikation. Für uns Sozialdemokraten stellt sich damit die Über die Milliardenumsätze und -investitionen, Frage, ob wir diese Entwicklung mit scharfer Kritik, über eine halbe Million Arbeitsplätze in den drei Post- aber ohne Hoffnung auf Besserung begleiten oder ob unternehmen POSTDIENST, POSTBANK und TELE- wir selbst Initiativen zur Schadensbegrenzung ergrei- KOM wird in den Vorständen und Aufsichtsräten der fen wollen, ja, aus der politischen Verpflichtung für Unternehmen und unter speziellen Aspekten im Infra- eine gesicherte Zukunft der Postunternehmen ergrei- strukturrat beraten und entschieden. De facto heißt fen müssen. das: Wie in der Wirtschaft können die Vorstände der Postunternehmen ihr Geschäft mit aus politischer und Klar ist aber: Die willkürlichen und nach seinem eigenen Poststrukturgesetz gar nicht zulässigen Ein- gesellschaftlicher Sicht unzureichender Kontrolle durch andere und insbesondere durch demokratisch griffe des Postministers in Entscheidungskompeten- nicht transparente Instanzen betreiben. Im Infrastruk- zen der Unternehmensvorstände und der Aufsichts- turrat sind zudem die kleineren Fraktionen im Bun- räte sind unerträglich. Die auch von uns befürwortete Unabhängigkeit der Postunternehmen von sachfrem- destag sowieso nicht vertreten. den politischen Einflußnahmen ist z. Zt. eine reine Es bleibt also nach wie vor eine politische Aufgabe Fiktion. allererster Ordnung, zu erreichen, daß die Pläne, die Auch ist — neben anderen offenen Fragen — die Tätigkeiten, die wirtschaftlichen Ergebnisse, die Einbindung der Unternehmen in den öffentlichen Arbeitsmarkteffekte, die Arbeitsplatzauswirkungen Dienst mit all seinen Widersprüchen zur unternehme- und die sonstigen gesellschaftlichen Folgen wie die rischen Zielsetzung ein ungelöstes Problem. Gefährdung des Datenschutzes im Zuge des Ausbaus der Telekommunikationsinfrastruktur im Parlament Um die Abhängigkeit der Postunternehmen von der beraten und entschieden werden. politischen Einflußnahme zu beenden, läge die eine Lösungsvariante in der Forderung nach Auflösung des Die politische Organisation des Post- und des Tele- Postministeriums. Allerdings wird dann der Finanzmi- kommunikationsbereichs ist, so betrachtet, ein Relikt nister um so größere Begehrlichkeiten entwickeln und eines autoritär-hoheitlichen Staatsverständnisses. Die die Postunternehmen noch schneller in den Ruin trei- Regelungen sind alles andere als bürgerfreundlich ben. oder bürgernah. Eine andere Va riante, der wir uns trotz aller grund- Dieser Mangel an Transparenz und Kontrollmög- sätzlichen Vorbehalte angesichts der nicht in Zweifel lichkeiten ist um so bedenklicher, als Dienstleistun- zu ziehenden ernsten Situation der Postunternehmen, gen der Postunternehmen in erheblichem Maße zur also aus Gründen der Schadensbegrenzung, stellen Grundvorsorge des Staates für seine Bürgerinnen und müssen, ist die Diskussion über eine Änderung des Bürger zu rechnen sind. Insbesondere der Ausbau der Art. 87 des Grundgesetzes — Sondervermögen des Telekommunikationsinfrastruktur in Zukunft bringt Bundes — mit dem Ziel, die Postunternehmen vor al- zudem zahlreiche Gefährdungen für die Menschen in lem auch im Interesse ihrer öffentlichen Aufgaben den Betrieben und in der Gesellschaft insgesamt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2195 '

Die „Informatisierung" oder „Telematisierung" der Behebung der Beschäftigungskatastrophe im Osten Betriebe und der Gesellschaft wird die Beschäfti- zustande kommen. gungsprobleme insgesamt verschärfen, wird die Mög- lichkeiten zur Ausübung qualifizierter Tätigkeiten er- (FDP): Aus der Sicht der Staatsfi- heblich — bei weitem nicht in allen Fällen positiv — Werner Zywietz nanzen ist dies ein geliebter Haushalt. Er weist weit verändern. Die „Informatisierung" ist insbesondere mehr Einnahmen als Ausgaben aus, Einnahmen in der mit der Gefahr des weiteren Marsches in den „Über- Größenordnung von fast 9 Milliarden DM, Ausgaben wachungsstaat" bzw. in die „gläserne Arbeit" ver- insbesondere für Personal, Sachausgaben und klei- bunden. Minutiöse Kontrolle von Verhalten und Lei- nere Investitionen von etwas über 500 Millionen stung im Betrieb, von Tätigkeiten und Bewegungen in der Gesellschaft werden möglich. DM. Mit dem ISDN-System der Zukunft, so befürchten Dies mag auf den ersten Blick verwirrend erschei- etwa Drogen- und AIDS-Beratungsstellen, wird die nen, ist aber ein Ausdruck der Tatsache, daß sich das Anonymität der oder des Ratsuchenden nicht mehr traditionelle Postbild und die Poststrukturen ein gutes gewährleistet werden können. Stück weg von Bundespost in unternehmerische Strukturen hinentwickelt hat. Es wird jetzt auch im Der Rationalisierungs- und Leistungsdruck in den Sprachgebrauch schon von der Briefpost, der Bank- Betrieben, die Beeinträchtigung von Mitbestim- post und der Telekom-Post gesprochen, und das mungsmöglichkeiten werden in diesem Zusammen- macht deutlich, daß eine Aufteilung und eine Verselb- hang ebenfalls zunehmen. Zentrale Entscheidungen ständigung mit mehr, aber nicht ausreichenden Ma- großer internationaler Konzerne werden noch bedeut- nagement-Verantwortlichkeiten realisiert werden samer, als sie jetzt schon sind. Die „Telematisierung" konnte. schafft zudem viele neue Umweltprobleme wie zum Beispiel die Beseitigung des Computer- oder auch des Insofern spiegelt dieser Etat mir das wider, was den Telefonschrotts. Vor allem wird aber dadurch auch Postminister als Konzernherrn eigentlich als Chef der das Zwangswachstum der kapitalistischen Wirtschaft Konzern-Holding-Post zahlenmäßig berührt. Die we- weiter angeheizt, jenes Wachstum, das uns jetzt schon sentlichen ökonomischen Daten spiegeln sich in den in die Nähe der Gefahr der restlosen Umweltzerstö- drei Postunternehmen wider, spiegeln sich in deren rung gebracht hat. Ein Wachstum, das übrigens ge- Wirtschaftsplänen mit Umsatzzahlen, Aufwandsposi- rade wegen der faszinierenden „neuen Techniken" tionen, Ergebnissen, mit Anmerkungen zu den Inve- ein Wachstum ohne große Arbeitsplatzzuwächse ist. stitionen und dem Kreditbedarf und dessen Finanzie- rung. Alles das verlangt nicht nach weniger, sondern nach mehr Transparenz, Kontrolle und Intervention in die- Hier möchte ich für die FDP feststellen, daß wir sem Prozeß. Die fehlende parlamentarische Kontrolle generell den Weg der Dezentralisierung, der Verselb- der Postunternehmen und die zunehmende „ Verbe- ständigung, der Öffnung zu mehr Markt für richtig triebswirtschaftlichung " des Post- und Telekommuni- halten. Aber dieser Weg der marktwirtschaftlichen kationswesens stellen sich dieser Notwendigkeit ent- Öffnung muß noch intensiver beschritten werden. Wir gegen. Wir werden in der Zukunft auch um die Bedin- meinen, daß insbesondere im Bereich Telekom dafür gungen einer ausreichenden öffentlichen Transpa- noch erhebliche Möglichkeiten gegeben sind. renz und Kontrolle dieses immer wichtiger werdenden Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Verän- Teils der modernen Industriegesellschaft kämpfen derung der Bundespost, angedeutet durch das Stich- müssen. wort „von der Behörde zum Konzern" , müssen wir Noch zwei Anmerkungen zur Situation in den östli- auch im Rahmen dieser Haushaltsberatung festhalten, chen Bundesländern: Erstens. Ich habe Hinweise dar- daß der Postminister in seiner Gesamtfunktion ange- auf bekommen, daß wegen des enormen Zeitdrucks sprochen und herausgefordert ist, die Post- und Tele- beim Aufbau und Ausbau des Telefonnetzes in der kom-Dienste in den fünf neuen Bundesländern der früheren DDR Aufträge aus Termineinhaltungsgrün- früheren DDR bedarfsgerecht auszubauen. Dies ist den an westliche statt an östliche Betriebe vergeben nach meiner Auffassung derzeit die zentrale Aufgabe werden. Das Bundesministerium für Post und Tele- der Post. Es ist das Ziel dieser Legislaturperiode nach kommunikation wird aufgefordert, darauf hinzuwir- dem Glücksfall der deutschen Einheit, nach dem er- ken, daß die Modalitäten der Planung und Ausfüh- folgten politischen Rohbau des deutschen Einheits- rung von Aufträgen so geändert werden, daß Bet riebe hauses, jetzt für den Ausbau zu sorgen. in den östlichen Bundesländern vorrangig bei der Auch in dieser Debatte ist deutlich geworden: Den Vergabe der Aufträge berücksichtigt werden kön- meisten Bürgern ist es aus eigenem Erleben klar, wo nen. die Haupthindernisse für den wirtschaftlichen Auf- Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, schwung in den fünf neuen Bundesländern liegen. durch zügigen weiteren Ausbau der Telekommunika- Man hat vor Augen, daß die Verkehrssituation tionsinfrastruktur in den neuen Bundesländern unter schwierig ist. Man hat vor Augen, daß die Regelung Berücksichtigung des zuvor Gesagten Arbeits- und der Eigentumsfragen eine ökonomische Bremse dar- Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine syste- stellt. Man hat vor Augen, daß viele Produktionsberei- matische Strukturplanung auf regionaler Ebene muß che nicht wettbewerbsfähig sind. Man hat aber auch insbesondere ergänzend dafür sorgen, daß weitere vor Augen, wie schwierig es ist, miteinander per Tele- expansive ökonomische Effekte — im Baugewerbe, fon und Telefax umzugehen. Dieser Engpaß, sehr ver- in nachrichtentechnischen Zulieferungssektoren, bei ehrter Herr Minister, muß noch schneller als bislang anwendungsbezogenen Aktivitäten usw., usf. — zur beseitigt werden. Ohne funktionierende Telekommu- 2196' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 nikation ist kein vernünftiger wirtschaftlicher Aufbau Niemand konnte ernsthaft erwarten, daß ein solch möglich. Hier müssen sich alle Verantwortlichen noch anspruchsvolles Ziel von heute auf morgen und ohne stärker ins Zeug legen. Machen Sie die Ausbaukon- alle Schwierigkeiten zu verwirklichen ist. zepte verständlich und gehen Sie stärker dezentral Lassen Sie mich die entscheidenden Punkte der und marktwirtschaftlich vor! Postreform kurz in Ihr Gedächtnis zurückrufen. Die Es ist eben nur eine Behelfslösung, aber kein ehren- Schwerpunkte unserer konkreten Arbeit sind daraus voller Dauerzustand, wenn Schweriner nur mit Ham- abzuleiten. burger Rufnummern schnell erreichbar sind. Sie ha- Mit dem Poststrukturgesetz wurden drei Entschei- ben Anspruch auf ihre eigene Vorwahlnummer. Auch dungen getroffen, die das Wesen der Postreform aus- ist es nicht gut, wenn sich beispielsweise im Umfeld machen: von Berlin zu gewissen Abendstunden Autokarawa- nen auf den Weg zu den Telefonen im alten West- Erstens. Die Funktionen des Schiedsrichters und Berlin aufmachen, um sicher telefonieren zu können. der Mitspieler auf den Märkten des Post- und Fern- Da es sich bei der Verbesserung des Telekommunika- meldewesens wurden organisatorisch getrennt: Die tionswesens vom Grunde her um eine rentierliche betrieblichen und unternehmerischen Aufgaben wer- Angelegenheit handelt, kann auch Privatkapital ein- den von den Unternehmen Postdienst, Postbank und gesetzt werden, um schneller eine bedarfsgerechte Telekom der Deutschen Bundespost wahrgenommen. Kommunikationsstruktur aufzubauen, die ja letztend- Für die politisch-hoheitlichen Aufgaben ist der Bun- lich auch vom Benutzer bezahlt wird. desminister für Post und Telekommunikation mit sei- nen nachgeordneten Behörden zuständig. Die Logik Aber gerade die Bewältigung dieser besonderen dieser Rollenteilung spiegelt sich auch im hier zu be- aktuellen Situation macht deutlich, daß der Weg zu handelnden Einzelplan 13 wider: Die Finanzen der mehr marktwirtschaftlichen Strukturen, weg von Mo- Deutschen Bundespost sind wie schon früher als Son- nopolbereichen, weiterhin zur ökonomischen Vorge- dervermögen des Bundes nicht Gegenstand dieser hensweise, zur härteren Überprüfung von defizitären Beratungen, dagegen ist heute über den Haushalt Bereichen weiterhin beschritten werden muß. bezüglich des hoheitlichen Aufgabenbereichs zu be- Wir meinen, sehr verehrter Herr Minister, die Mittel finden. und Möglichkeiten sind Ihnen gegeben, und Sie ha- Zweitens. Zur Sicherstellung der Infrastrukturauf- ben sicherlich im Parlament, wo erforderlich, einen gaben im Bereich Post und Telekommunikation wur- Kooperationspartner, wenn für diese Aufgabenbewäl- den das Briefdienst-, das Netz- und das Telefondienst- tigung entscheidende Hindernisse und Mängel gege- monopol beibehalten; alle anderen Dienste und alle ben sein sollten. Die Gegenerwartung allerdings ist, Telekommunikationsendgeräte unterliegen nunmehr daß es für einige Zeit absolute Chefsache sein muß, dem Wettbewerb, an dem sich auch die Deutsche die Mängel in den fünf neuen Bundesländern zielstre- Bundespost beteiligen kann. big abzuarbeiten, um damit einen ebenso zwingen- den wie zentralen Mangel zu beseitigen, der uns bis- Drittens. Darüber hinaus besteht für den Postmini- her gehindert hat, möglichst rasch die Lebensverhält- ster die Möglichkeit, durch die Erteilung von Lizenzen nisse in den alten und neuen Bundesländern anzu- auch in den verbleibenden Monopolbereichen des gleichen. Aber gerade dies ist nötig, dies ist die zen- Fernmeldewesens den Marktzutritt p rivater Unter- trale Aufgabe dieser Legislaturperiode. Wir werden nehmer zuzulassen, sofern das Monopol insbesondere Sie gerne und mit Nachdruck bei der Bewältigung hinsichtlich seiner ökonomischen Zielsetzung nicht dieser Aufgabe unterstützen. ausgehöhlt wird. Der Postminister macht von diesem Recht insbesondere dort Gebrauch, wo durch Wettbe- Bundesminister werb die Förderung innovativer Entwicklungen zu Dr. Christian Schwarz-Schilling, erwarten ist, so beim Mobilfunk und beim Satelliten- für Post und Telekommunikation: Fast auf den Tag funk. genau heute vor zwei Jahren ist das Poststrukturge- setz am 8. Juni 1989 verkündet worden. Mit der Ände- Insgesamt gesehen hat die Postreform in einem ent- rung der Organisationsform und der ordnungspoliti- scheidenden Sektor der Volkswirtschaft die Voraus- schen Neukonzeption sind die Voraussetzungen dafür setzungen dafür geschaffen, daß sich durch mehr geschaffen worden, daß die Deutsche Bundespost den Wettbewerb Tatkraft, Ideen und Kapital p rivater Un- Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahr- ternehmen entfalten können ; gleichzeitig wurden die zehnte gut gewachsen sein wird. Diese Neustruktu- Unternehmen der Deutschen Bundespost im Rahmen rierung des Post- und Fernmeldewesens in der Bun- des verfassungsrechtlich Möglichen von politischen desrepublik fügt sich dabei in eine Reformbewegung Einflüssen befreit. Natürlich müssen im Einzelfall po- ein, die andere wichtige Industrieländer bereits Jahre litische und unternehmerische Interessen miteinander vorher umgesetzt haben. Sie steht dabei im Einklang in Ausgleich gebracht werden. Dazu sieht das Post- mit den Bestrebungen der Europäischen Gemein- verfassungsgesetz ausgewogene Mechanismen vor; schaft zur Schaffung liberalisierter Märkte in diesem diese sind notwendig, aber auch ausreichend. Bemer- Wirtschaftssektor. kenswert ist, daß mancher, der sie heute kritisiert, sie vor zwei Jahren für nicht weitgehend genug hielt. Daß eine Reform der Deutschen Bundespost not- wendig war, hatten bereits die Regierungen Brandt Bereits jetzt kann ich feststellen, daß sich die Umset- zung der Postreform im wesentlichen bewährt hat. und Schmidt erkannt, sie scheiterten jedoch an der Problematik. Wir standen deshalb vor der Aufgabe, Nicht zuletzt unsere vielfältigen und schwierigen den überfälligen Umstrukturierungsprozeß auf vielen Aufgaben in den neuen Bundesländern machen deut- Gebieten praktisch gleichzeitig in Gang zu setzen. lich, wie wichtig effizient arbeitende Unternehmens- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2197* führungen heute sind. Dort gilt es, so schnell wie mög- Auf diese Weise wird eine optimale Verbindung von lich eine moderne, leistungsfähige Post und Telekom- Infrastrukturauftrag und p rivater Initiative erreicht. munikationsinfrastruktur herzustellen, die unabding- Öffentliche Unternehmen mit Monopolrechten dür- bare Voraussetzung für ein aktives Wirtschaftsleben fen ihre Tarife nur zur Deckung der angefallenen Ko- ist. Der zügige Aufbau ist — da Grundlage für weitere sten zuzüglich eines Gewinns in angemessener Höhe Investitionen der gesamten Wirtschaft — bereits voll ansetzen. Auf Grund dieser Rechtslage in Verbindung im Gange. Er sichert und schafft somit neue Arbeits- mit dem Ziel wirtschaftli plätze in den neuen Bundesländern, insbesondere im cher Selbständigkeit der drei Postunternehmen wird im Laufe der nächsten Jahre Handwerk und in mittelständischen Unternehmen. die Höhe der Ausgleichsfinanzierungen zwischen den Allein 1991 werden ca. 7 Milliarden DM in die Tele- einzelnen Diensten und den Unternehmen der Deut- kommunikationsinfrastruktur im Beitrittsgebiet inve- schen Bundespost auf ein möglichst niedriges Maß stiert. Die Arbeiten zur Realisierung der Aufbaupro- herunterzuführen sein. gramme 1991 verlaufen planmäßig, und die Ziele des Programms „Telekom 2000" einschließlich des „ Turn- Weiterhin werde ich mein Augenmerk darauf rich- Key-Zusatzprogramms " für 1991 werden erreicht. Es ten, daß im Bereich der Monopolbereiche der Deut- freut mich, an dieser Stelle darauf hinweisen zu kön- schen Bundespost Telekom eine Politik betrieben nen, daß die DBP Telekom derzeit mit Abstand größter wird, die dem Grundsatz der Chancengleichheit aller Investor in den neuen Ländern ist. Wettbewerber auf dem Telekommunikationsmarkt Rechnung trägt. Dies gilt besonders für die Tarifge- Die Verbesserung der Telefonversorgung in den staltung der Deutschen Bundespost Telekom im Mo- neuen Bundesländern bedingt auch Tarifmaßnah- nopolsektor. men. Am 1. Juli dieses Jahres wird deshalb ein Ta rif- harmonisierungspaket der DBP Telekom in Kraft tre- Sowohl mit Blick auf die Funktion des Bundes als ten, wodurch die wesentlichsten Gebührenunter- Eigentümer der Deutschen Bundespost, die durch den schiede zwischen den westlichen und östlichen Tele- Bundesminister für Post und Telekommunikation fondienstleistungen abgebaut werden. Weitere An- wahrzunehmen ist, als auch im Wege der Beaufsichti- passungsschritte werden mit dem zunehmenden Aus- gung der Monopolbereiche hat das BMPT dafür Sorge bau der Infrastruktur erfolgen können. zu tragen, daß der staatliche Infrastrukturauftrag durch die Unternehmen der Deutschen Bundespost Lassen Sie mich nun zu einigen Schwerpunkten erfüllt wird. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf meiner Politik kommen. Zunächst sind in einer Viel- hinweisen, daß die Unternehmen der Deutschen Bun- zahl ausgewogener Einzelschritte Abgrenzungsfra- despost auch dort Pflichten gegenüber der Öffentlich- gen hinsichtlich der Monopoltätigkeit der Deutschen keit zu erfüllen haben, wo sie im Wettbewerb arbei- Bundespost Telekom zu klären und für alle verbind- ten. lich festzulegen. Dabei ist für mich von Bedeutung, daß in diesem Prozeß eine möglichst große Zahl be- Das BMPT ist gerade mit der Frage der Pflichtlei- troffener Institutionen zu Wort kommt. Monopolab- stungen der Unternehmen der DBP befaßt. Dabei wird grenzung bedeutet für mich keinesfalls eine Arbeit sichergestellt, daß der weitere Ausbau der Infrastruk- alleine in den Stuben des Ministeriums. Es ist viel- tur in Deutschland, insbesondere in den neuen Bun- mehr meine Intention, die Regulierungstätigkeit auf desländern, zügig voranschreitet, daß eine leistungs- diesem Feld in möglichst hohem Maße der Öffentlich- fähige und flächendeckende Versorgung mit einem keit gegenüber transparent zu machen, um damit vielfältigen Dienstleistungsangebot erreicht wird, daß auch eine hohe Akzeptanz der gewonnenen Erkennt- die Kontrahierungspflicht bestehen bleibt und die Lei- nisse zu gewährleisten. Mit der bisherigen Arbeit auf stungen der Deutschen Bundespost einen Qualitäts- diesem Gebiet haben wir bereits ein breites und posi- standard aufweisen, der dem hohen Stand unserer tives Echo der angesprochenen Öffentlichkeit errei- Volkswirtschaft entspricht. chen können. Die Unternehmen der DBP werden zum 1. Juli 1991 Um alle Möglichkeiten moderner Kommunikations- ihre Rechtsbeziehungen zum Kunden vom öffentli- technik zu erkunden, benötigen wir den Wettbewerb chen Recht auf das Privatrecht umstellen. Die von den als Entdeckungsverfahren. Ausgehend von diesem Unternehmen erarbeiteten „Allgemeinen Geschäfts- Gedanken habe ich im Mobil- und Satellitenfunk bedingungen" (AGBs) treten zu diesem Zeitpunkt in durch entsprechende Lizenzierungspolitik die Tätig- Kraft. Damit wird ein wesentliches Anliegen der Post- keit privater Unternehmen ermöglicht und ich bin da- reform umgesetzt. Die Unternehmen treten ihren Nut- bei, diesen lizenzierten Bereich noch weiter auszu- zern nicht mehr hoheitlich, sondern als gleichberech- dehnen. Auf diese Weise werden technisches Spezial- tigte Partner im Rechtsverkehr gegenüber. wissen für die Telekommunikation und internationale Insbesondere wegen der verbliebenen Monopol- Erfahrungen gewonnen, die nötig sind, um Deutsch- rechte kann jedoch — nicht zuletzt im Interesse der land auf diesem Sektor in einer weltweiten Spitzen- Verbraucher — auf gewisse, von der Bundesregie- stellung zu halten. rung festgelegte Spielregeln nicht verzichtet werden. Wir haben gleichzeitig darauf geachtet, daß trotz Diese Aufgaben erfüllen die Rahmenverordnungen Hereinnahme p rivater Initiativen die Erfüllung infra- für die Inanspruchnahme der Dienstleistungen im struktureller Pflichten garantiert bleibt. In den ent- Post- und Telekommunikationsbereich. Diese werden sprechenden Vereinbarungen mit den Lizenzneh- derzeit im Infrastrukturrat beim Bundesminister für mern wurde insbesondere auf Flächendeckung, Kon- Post und Telekommunikation behandelt und nach trahierungspflicht, Diskriminierungsverbot und Ein- dessen Beschlußfassung der Bundesregierung zur Zu- haltung eines hohen Qualitätsstandards Wert gelegt. stimmung zugeleitet werden. 2198' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ebenso sind die bereichsspezifischen Datenschutz- Meine Damen und Herren, gemessen am Gesamt- verordnungen für die Unternehmen Telekom, Post- umfang des vorgelegten Haushalts geht es beim Bun- dienst und Postbank, die die Bundesregierung gemäß desminister für Post und Telekommunikation um ver- § 30 Abs. 2 Post-VerfG erläßt, fertiggestellt und wer- gleichsweise geringe Beträge. Bekanntlich kann aber den Ende Juni nach Beschlußfassung verkündet. oftmals mit kleinem Aufwand große Wirkung erzielt werden. Nicht zuletzt im Hinblick auf den angestreb- Die Deutsche Bundespost ist nicht nur mittelbar ten Aufschwung in den neuen Bundesländern enthält über ihre infrastrukturelle Funktion sowie als Investor dieser Einzelplan wichtige Weichenstellungen. Ich ein wichtiger Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, bitte dafür um Ihre Zustimmung. sie trägt auch ganz direkt dazu bei, die Schwierigkei- ten zu bewältigen, die mit einem wirtschaftlichen Wandlungsprozeß — wie im Beitrittsgebiet notwen- dig — verbunden sind. In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß die Unternehmen der DBP nahezu das gesamte Personal der Deutschen Post Anlage 5 übernommen haben. Zu Protokoll gegebene Reden Die Ausbildungsplatzinitiative sieht vor, daß durch zu Einzelplan 23 — Geschäftsbereich des den Bund in diesem Jahr in den neuen Ländern 10 000 Bundesministers für Ausbildungsplätze angeboten werden. Die Unterneh- wirtschaftliche Zusammenarbeit — men der DBP stellen insgesamt rund 3 100 Ausbil- — Drucksachen 12/525, 12/530 dungsmöglichkeiten für junge Leute zur Verfügung. — Die Deutsche Bundespost Telekom ist daran mit 1 500, der Postdienst mit 1 325 und die Postbank mit minde- Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Nach der nahezu stens 300 Plätzen beteiligt. Außerdem haben die Un- völligen Überwindung des Ost-West-Konfliktes wird ternehmen seinerzeit dafür Sorge getragen,- daß alle die Entwicklungspolitik angesichts der globalen Pro- bestehenden Ausbildungsverhältnisse bei der Deut- bleme wie Umwelt- und Ressourcenschutz, Armuts- schen Post übernommen werden konnten. Damit lei- bekämpfung, Lösung der Verschuldungsprobleme, sten die Unternehmen der Deutschen Bundespost ins- Überbevölkerung und Klimaschutz eine der großen gesamt einen wichtigen beschäftigungspolitischen Herausforderungen in den 90er Jahren sein. Dieser Beitrag. Herausforderung können wir wirksam nur durch eine zukunftsorientierte Entwicklungspolitik mit neuer Bei der Umsetzung vieler Aufgaben spielen die dem Schwerpunktsetzung und Ausgestaltung der Instru- Bundesminister für Post und Telekommunikation mente begegnen. Hierzu gehören neben stärkerer re- nachgeordneten Behörden zukünftig eine wichtige gionaler wie sektoraler Konzentration bei der Mittel- Rolle. Das Zentralamt für Zulassungen im Fernmelde- vergabe auch der flexiblere Einsatz unserer Förde- wesen in Saarbrücken nimmt die hoheitlichen Zulas- rungsinstrumente. Somit steht die Entwicklungspoli- sungsaufgaben für Fernmeldeeinrichtungen und tik in den 90er Jahren vor völlig neuen Weichenstel- Funkanlagen wahr. Gegenüber der Deutschen Bun- lungen. despost Telekom besteht nach der Postreform eine konsequente organisatorische Trennung. Für das Ent- Den Stellenwert der Entwicklungspolitik für die stehen vieler neuer Dienste und neuer Endeinrichtun- Bundesregierung eines nunmehr geeinten Deutsch- gen und durch die Weiterentwicklung des Gemeinsa- lands hat Bundeskanzler Helmut Kohl bereits in seiner men Marktes der EG ist die Arbeit des Zentralamtes Regierungserklärung am 30. Januar des Jahres unter- für Zulassungen im Fernmeldewesen von wachsender strichen, indem er ausführte: „Wir stehen zu unserer Bedeutung. Das Zentralamt hat in Halle und in Kol Verantwortung für die Menschen in der Dritten Welt. berg bei Berlin zwei Außenstellen im Beitrittsgebiet Das heißt konkret: Wir werden als vereintes Deutsch- eingerichtet. Insgesamt hat es etwa 200 Kräfte. land unsere Entwicklungshilfe auch in Zukunft stei- gern." Dem neu errichteten Bundesamt für Post und Tele- kommunikation obliegen die Hoheitsaufgaben hin- Mit einem Plafond von 7,96 Milliarden DM (ein- sichtlich der Wahrnehmung der Funkfrequenzverwal- schließlich 200 Millionen Rückflüsse) ergibt sich ge- tung, der Erteilung von Funkgenehmigungen, der genüber dem Haushalt 1990 eine Steigerung von Funkkontrolle, der Funkentstörung sowie der Ab- 7,9 %. Erstmalig wurden im Rahmen der Berichterstat- nahme drahtgebundener Fernmeldeanlagen. Diese tergespräche die Rückflüsse im Titel 186 01 brutto Aufgaben wurden früher von den Fernmeldeämtern — d. h. in voller Höhe — veranschlagt bei gleichzeiti- wahrgenommen. Das Bundesamt hat 55 Außenstellen ger entsprechender Anhebung der Mittel für die in Deutschland, und zwar 43 in den alten, 12 in den Finanzielle Zusammenarbeit (Titel 866 01) um neuen Bundesländern; insgesamt werden mehr als 200 Millionen auf 2,6 Milliarden. Ein wesentlicher 3 000 Bedienstete beim Bundesamt beschäftigt sein, Teil des Zuwachses — ca. 425 Millionen DM — entfal- die im wesentlichen von der Deutschen Bundespost len auf den multilateralen Bereich, insbesondere er- oder Deutschen Post übernommen werden. höhte Abrufe bei IDA und dem EEF. Im bilateralen Bereich entfallen 110 Millionen DM unmittelbar auf Die Gesamtausgaben des Einzelplans 13 betragen die Fortführung von Entwicklungsmaßnahmen der etwa 500 Millionen DM, davon sind etwa 100 Millio- ehemaligen DDR, im wesentlichen in der Aus- und nen DM durch die Deutsche Einigung bedingt; diese Fortbildung, der bilateralen Technischen Zusammen- Kosten werden sich aber im eingeschwungenen Zu- arbeit (TZ) und beim Deutschen Entwicklungsdienst stand in den nächsten Jahren wieder verringern. (DED). Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2199*

Geeignete Rahmenbedingungen sind für eine ef- eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in den fektive Entwicklungspolitik unabdingbar. Die Erfah- Ländern selbst gewährleisten. Als Beispiel möchte ich rungen in den Staaten Ostmitteleuropas bestätigen hier die augenblickliche Entwicklung Angolas anfüh- erneut, daß nur eine marktwirtschaftlich ausgerich- ren — nach 25 Jahren Bürgerkrieg soll nun endlich tete Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologischer eine pluralistische Demokratie und soziale Marktwirt- Verantwortungsbereitschaft den notwendigen Hin- schaft das zerstörte Land wieder aufblühen lassen. Für tergrund für eine erfolgreiche Entwicklung gewähr- das kommende Jahr sind sogar freie Wahlen ge- leistet. Dies wiederum setzt eine demokratische und plant. rechtsstaatliche Ordnung voraus. Unsere Entwick- Angola war das ausgeprägte Beispiel für die soge- lungszusammenarbeit muß diesen Aspekt in Zukunft nannten „Stellvertreterkriege", die ohne Beteiligung noch stärker berücksichtigen und auf die Schaffung anderer Mächte so nicht hätten durchgeführt werden dieser Rahmenbedingungen hinwirken. können. So schickte zum Beispiel Kuba Söldner, und Die Industriestaaten müssen sich verpflichten, die die DDR versorgte den Sicherheitsapparat mit Stasi- notwendigen weltwirtschaftlichen Bedingungen zu Leuten. schaffen, damit ein Wirtschaftswachstum — insbeson- Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß viele Kre- dere für die Länder der Dritten Welt — möglich ist. ditprogramme kleine und mittlere Unternehmen Der Abbau von Handelshemmnissen — bei industriel- kaum erreichen, weil sie über zentrale staatliche Insti- len und landwirtschaftlichen Produkten — und Sub- tutionen abgewickelt werden. Eine sinnvolle Lösung ventionen ist eines der vorrangigsten Ziele, um inter- kann deshalb nur sein, die Privatwirtschaft in Ent- nationalen Wettbewerb zu ermöglichen und damit wicklungsländern über privatwirtschaftliche Struktu- Wirtschaftswachstum auch in den Entwicklungslän- ren zu entwickeln, während der Staat bei der Schaf- dern zuzulassen. Je mehr wir dem Süden die Chance fung geeigneter wirtschaftspolitischer und rechtlicher eröffnen, durch Handel Einnahmen und Arbeitsplätze Rahmenbedingungen unterstützt wird. zu schaffen, desto weniger sind die Länder auf Ent- wicklungshilfe angewiesen. - Drittens. Wesentliche Voraussetzung für die Men- schen in der Dritten Welt, ihre Lebensverhältnisse ei- Zu den Schwerpunkten: genverantwortlich zu gestalten, ist eine angemessene Erstens. Entwicklungsländer können nach Jahren Bildung breiter Bevölkerungsschichten. Mehr Wissen erfolgreicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit ei- schafft Sicherheit und Selbstvertrauen im Umgang mit gener Anstrengung wirtschaftliche Kräfte im eigenen neuen Herausforderungen, aber auch die Bereit- Land stärken, andere weiter fortgeschrittene Länder, schaft, sich korrupten Regierungen zu widersetzen. die wir als Schwellenländer bezeichnen, so z. B. Süd- Grundbildung insbesondere ist das Potential für die korea, Singapur und Kenia, um nur einige zu nennen, Zukunftschancen einer Gesellschaft. Die Beiträge der verdeutlichen dies ebenfalls. Bildungshilfe sind somit vorrangig zu überprüfen, Dies sind noch Ausnahmefälle, die durch geeignete wiederum mit dem Ziel, eigene Ressourcen der Län- politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Rah- der zu entwickeln. Denn die Grundbildungsversor- menbedingungen für Selbsthilfe zum Regelfall wer- gung gehört zu den ureigensten Aufgaben der Ent- den können. Zwei Kategorien sind hier zu unterschei- wicklungsländer selbst. Aus- und Fortbildung zählte den: innenpolitische, d. h. in der Verantwortung eines zu den Schwerpunkten der Entwicklungshilfe der jeden Entwicklungslandes selbst liegende Rahmen- ehemaligen DDR. Wie andere Projekte auch, werden bedingungen (Beachtung der Menschenrechte, De- nach sorgfältiger Prüfung, sinnvolle Vorhaben der frü- mokratieverständnis der Regierung, marktwirtschaft- heren DDR fortgeführt. liche Ordnung, Rechtssicherheit) und weltweite, d. h. Viertens. Erstmals veranschlagt wurden im Einzel- nur durch das internationale Zusammenwirken der plan 23 Ausgaben im Zusammenhang mit internatio- Geber- und Empfängerländer zu beeinflussende Be- nalen Vereinbarungen zum weltweiten Umwelt- dingungen (wie offene Märkte, Wettbewerbsmöglich- schutz. Die Mittel sind vorgesehen für die Beteiligung keiten, aber auch zielgerichtete Ausgaben). Deutschlands an der bei der Weltbank einzurichten- Bei nicht wenigen Ländern wurde wegen bedenkli- den Globalen Umweltfazilität, die aus einem globalen cher, entwicklungshinderlicher Rahmenbedingungen Umwelt-Treuhandfonds und einem Ozonschicht von der Veranschlagung insbesondere finanzieller Treuhandfonds bestehen soll. (VE multilaterale Hilfe: Hilfen (FZ) ganz abgesehen (z. B. Sudan, Somalia). 242,7 Millionen DM). Zur angestrebten stärkeren Selbsthilfeorientierung Die Entwicklungs- und Industrieländer haben eine der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit soll vor gemeinsame Verantwortung für die Umwelt. Begrü- allem auch die Einbeziehung der Nichtregierungsor- ßenswert ist in diesem Zusammenhang das Pilotpro- ganisationen und Selbsthilfegruppen beitragen. Ein jekt zur Erhaltung der brasilianischen Tropenwälder, breit diskutiertes und anerkanntes sektorübergreifen- für das der Bundeskanzler auf dem Weltwirtschafts- des Konzept des BMZ liegt vor, ebenfalls konkrete gipfel in Houston im Juli 1990 250 Millionen DM zu- Erfahrungen und insbesondere Kooperationsange- gesagt hat. bote von Partnern in Entwicklungsländern. Auch über Schuldenerlasse läßt sich eine aktive Zweitens. Gerade die Erfahrungen in den osteuro- Beteiligung der Entwicklungsländer am Umwelt- päischen Staaten bestätigen erneut, daß nur eine schutz erreichen. Verfahren wurde so bei Schuldener- marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsord- lassen an Kenia, Zaire und Äthiopien in Höhe von ins- nung mit sozialem und ökologischem Verantwor- gesamt 1,5 Milliarden DM. Viele Projekte im land- tungsbewußtsein den notwendigen Hintergrund für wirtschaftlichen und industriellen Bereich werden 2200* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 schon mit Umweltschutzkomponenten versehen. Alle Helmut Esters (SPD): Wenn wir ganz am Ende der mit bundesdeutschen Mitteln geförderten Projekte zweiten Lesung den Einzelplan 23 beraten und verab- unterliegen einer Umweltverträglichkeitsprüfung. schieden — mit kargen 7,9 Milliarden DM bei einem Nur wenn auch die Entwicklungsländer dem Umwelt- Gesamthaushalt von 410 Milliarden DM — , dann muß schutz einen höheren Stellenwert im eigenen Land jedem aufgehen, wie wenig das reiche Indust rieland einräumen, kann globale Umweltschutzpolitik erfolg- Bundesrepublik Deutschland im Grunde für die not- reich sein. leidenden Menschen in den Ländern der Zweiten und Dritten Welt übrig hat. Wir wissen doch, welchen rie- Zu den Konsequenzen für die zukünftige Entwick- sigen Finanzbedarf wir allein brauchen, um die Le- lungspolitik: bensverhältnisse von nur 15 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern zu verbessern. In den Ent- Erstens. Rückbesinnung auf die eigentliche Be- wicklungsländern kämpfen dagegen 4 Milliarden zeichnung des Ministeriums: Bundesministerium für Menschen um das tägliche Überleben. wirtschaftliche Zusammenarbeit und eben nicht für Entwicklungshilfe. Zusammenarbeit bedeutet die Be- Ich weiß sehr wohl, daß unsere Entwicklungshilfe rücksichtigung der Interessen beider Partner, bedeu- nur eine Randgröße im Nord-Süd-Ausgleich ist. Viel tet eine einige Verzahnung bzw. Zusammenarbeit bei wichtiger sind Fragen der Marktöffnung und Han- der Abstimmung über gemeinsame Ziele und Maß- delsliberalisierung, einer vernünftigen Agrarpolitik, nahmen wie auch bei der Umsetzung dieser beschlos- gerechter Rohstoffpreise und einer wirksamen Ent- senen Maßnahmen. schuldungsstrategie. Glücklicherweise haben die Umwälzungen in Osteuropa auch in vielen Ländern Zweitens. Wir müssen uns zunehmend von dem lei- der Dritten Welt — wenn auch noch nicht in allen — der immer noch praktizierten Prinzip von mehr oder Veränderungen in Richtung auf mehr Demokratie, weniger festen Länderquoten verabschieden. Partner, Beachtung der Menschenrechte und Abkehr von der die aus eigener Kraft Reformbestrebungen hin zu ei- zentralen Verwaltungswirtschaft gebracht. Diese Pro- ner demokratischen Gesellschaftsordnung verbunden zesse müssen durch unsere Entwicklungspolitik kräf- mit einem marktwirtschaftlich orientierten Wirt- tig — und nicht halbherzig — unterstützt werden. schaftssystem müssen in Zukunft stärker unterstützt Nötig ist, daß wir zugunsten der reformbereiten werden. Länder vom bisherigen Quotensystem bei der Auftei- Drittens. Zukünftig müssen wir außerdem die An- lung unserer Finanzierungshilfen abrücken. Die Er- gemessenheit von Rüstungsausgaben der Entwick- fahrungen, die wir täglich beim Einigungsprozeß im lungsländer bei unserer Entscheidung über wirt- eigenen Lande und in der Zusammenarbeit mit Osteu- schaftliche Zusammenarbeit berücksichtigen. ropa machen, lassen neue Instrumente staatlicher In- Staatenübergreifend muß sichergestellt werden, daß terventionspolitik entstehen, die wir auch in einer Despoten, die Menschenrechte mit Füßen treten, vom Reihe von Ländern der Dritten Welt — nicht in allen — Westen nicht Entwicklungshilfe kassieren, um im zum Einsatz bringen können. Die wichtigste Lehre Osten Waffen einzukaufen. daraus heißt: Wer die Demokratie schaffen und eine sozial verpflichtete Marktwirtschaft einführen will, Die Ost-West-Entspannung erleichtert dies natür- der braucht vor allem eine möglichst effiziente Staats- lich entscheidend — durch die Auflösung der politi- verwaltung. schen und militärischen Machtblöcke ist zahlreichen Der neue Minister hat uns seine Bereitschaft zur Entwicklungsländern die Möglichkeit genommen Zusammenarbeit erklärt. Wir haben das dankbar zur worden, Ost und West gegeneinander auszuspielen Kenntnis genommen; denn in der Entwicklungspolitik indem man einfach androhte, in das „andere Lager" hat die Zusammenarbeit von Regierung und Parla- zu wechseln, um so mehr Geld zu erhalten. ment eine gute Tradition. Sie ist jedoch keine Ein- Viertens. Ein letzter Punkt, der die Entwicklung in bahnstraße. Sie ist von der Opposition auch nicht zum der Dritten Welt behindert, ist die enorm hohe Schul- Nulltarif zu haben. denlast. Wechselkursschwankungen und Schulden- Sozialdemokratische Minister haben die entwick- rückführungen sind die Hauptursachen für diese nach lungspolitische Konzeption der Bundesregierung bis wie vor kritische Situation. 1990 lag die Gesamtver- heute nachhaltig geprägt. Solange Sie, Herr Minister schuldung der Entwicklungsländer bei ca. 2 200 Mil- Spranger, an deren Politik und Erfahrungen anknüp- liarden DM. Die Bundesregierung hat den am wenig- fen, bleiben Sie auf sicherem Boden. Die beiden Vor- sten entwickelten Ländern (Least Developed gänger des neuen Ministers haben zu lange auf die Countries) sämtliche Schulden erlassen — in einer Entscheidung des Kanzlers gewartet, der Entwick- Größenordnung von jetzt rund 9 Milliarden DM. lungspolitik den ihr gebührenden Rang im Rahmen der Gesamtpolitik der Bundesregierung einzuräu- Weitere Schuldenerlasse müssen an klare Bedin- men. gungen geknüpft werden, die Anpassungs- und Re- formprozesse und die Durchführung von Umwelt- Anders als und Helmut Schmidt hat schutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern selbst der gegenwärtige Kanzler in der Dritten Welt keinen garantieren. Jedoch verbirgt sich hier eine erhebliche Namen. Seine Ankündigungen zur Erhöhung der Problematik, da Schuldenerlasse nicht motivierend deutschen Entwicklungshilfe sind ohne Folgen ge- auf die Länder wirken, die ihrerseits ihren Verpflich- blieben. Ich erinnere an das diesem Hause wiederholt tungen pünktlich nachkommen. Eine Abstimmung gegebene Kanzlerversprechen, die Rückflüsse aus der auf internationaler Ebene zwischen Geber- und Emp- Kapitalhilfe wieder für Entwicklungsaufgaben zur fängerländern ist daher unerläßlich. Verfügung zu stellen. Wie dieses Thema seit 1985 von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2201'

Regierung und Koalition behandelt worden ist, gehört sen der Expertenlobby — die Geschäftspolitik unserer nicht zu den Ruhmestaten deutscher Politik. Durchführungsorganisation ändern. Hier drängt sich förmlich der Verdacht auf, die Re- Die im BMZ vorhandene Bereitschaft, hier tätig zu gierung sei nur deshalb untätig geblieben, weil die werden, haben wir — wenn auch noch nicht übermä- Initiativen ursprünglich aus dem Parlament gekom- ßig deutlich — vernommen. Sylvia Espinoza aus Boli- men sind. Wenn Sie es, meine Damen und Herren von vien, die erste ausländische Projektassistentin, die auf der Koalition, mit der entwicklungspolitischen Zu- parlamentarische Initiative von der GTZ eingestellt sammenarbeit ernst meinen, dann erwarten wir bis worden ist, darf keine Alibifrau bleiben. zum Herbst für die Haushaltsberatungen 1992 solide Finanzierungsvorschläge, wie unsere Entwicklungs- Vor wenigen Tagen hat sich in Äthiopien ein über- politik gesetzlich abgesichert werden kann. raschender Umsturz vollzogen, von dem wir alle hof- fen, daß er dem Land einen dauerhaften Frieden und Dieser Vorschlag knüpft an Traditionen der 70er eine demokratische Entwicklung beschert. Dazu kann Jahre an, in denen das Parlament seine Mitverantwor- vor allem ein entwicklungspolitischer Neuanfang im tung für die Dritte Welt besonders ernst genommen Zeichen der „Personellen Zusammenarbeit" beitra- hat. Einige von Ihnen werden sich an den Weltwirt- gen. Hier können wir Ernst machen mit einer Ent- schaftsgipfel von Venedig im Jahre 1977 erinnern. Auf wicklungshilfe, die den Menschen in den Mittelpunkt Vorschlag des Haushaltsausschusses hat das Parla- stellt. ment seinerzeit einstimmig die Finanzierung eines Süd-Europa-Programms in Millionenhöhe gefordert. In der Bundesrepublik Deutschland leben allein Dadurch wurde der spätere EG-Beitritt von Spanien, 16 000 Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea. Sie wer- Portugal und Griechenland vorbereitet, von Ländern den beim Aufbau des kriegszerstörten Landes drin- also, die sich damals im Übergang zur Demokratie gend gebraucht. Die in jüngster Zeit auf Initiative des befanden. Am Erfolg dieser parlamentarischen Initia- Haushaltsausschusses geschaffenen Instrumente der tive besteht heute kein Zweifel. Damals mußte sich Subjektförderung, wie z. B. bef ristete Gehaltszu- der Finanzminister vor dem Parlament den besseren schüsse oder Existenzgründungszuschüsse, müssen Argumenten eines mutigen Entwicklungshilfemini- zur Förderung der Rückkehr dieser Flüchtlinge einge- sters, der unvergessenen Ma rie Schlei, beugen. Im setzt werden. Das „Fachkräfteprogramm Afghani- Blick auf Polen und andere osteuropäische Beitritts- stan", ebenfalls auf parlamentarische Initiative ent- kandidaten erscheint es heute dringend nötig, solche standen, hat hier entscheidende Vorarbeiten gelei- stet. parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten erneut in Erinnerung zu rufen. Schließlich: Warum sollten wir beim Wiederaufbau Minister Spranger hat seine Aufgabe mit drei Äthiopiens keinen einheimischen Freiwilligendienst Schlagworten definiert: Armutsbekämpfung, Umwelt unterstützen, der die bei uns ausgebildeten Flücht- und Bildung. Dagegen haben wir nichts einzuwen- linge in Programmen der Grundbildung oder Basisge- den. Doch mit rund 160 Millionen DM, also knapp sundheit beschäftigt? Soweit das Entwicklungshelfer- 2,5 % des Einzelplans 23, die 1991 weltweit für Bil- gesetz heute noch solchen Einsätzen entgegensteht, dungsobjekte zur Verfügung stehen, läßt sich keine kann es novelliert werden. Für eine derartige Öffnung Schwerpunktbildung begründen. Erst wenn klar for- der Entwicklungsdienste wird sich mit Sicherheit eine mulierte, von den betroffenen Ländern auch ernsthaft breite parlamentarische Mehrheit finden. gewollte Bildungsprogramme vorliegen, können wir Lassen Sie mich am Beispiel der Wasserversorgung uns über die dafür notwendige Verpflichtungser- in Entwicklungsländer verdeutlichen, wie ernst die mächtigung unterhalten. Lage ist. Die Cholera-Epidemien in Lateinamerika Nennen Sie uns konkrete Länder, Herr Minister. und großen Teilen im südlichen Afrika waren vorher- Dann werden wir Sie dabei unterstützen, erste Pilot- sehbar. Ihre Ursachen waren ausschließlich die seit programme der Grundbildung in Gang zu bringen, langem bekannten Mängel bei der Trinkwasserver- deren Inlandskosten wir notfalls über Zeiträume von sorgung und der Abwasserentsorgung. Diese Mängel 15 Jahren übernehmen müssen. Solche Programme lassen sich beheben, wenn wir die Menschen in den müssen nicht unbedingt nach deutschen Kriterien ge- Entwicklungsländern mit wirksamen Techniken der plant werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß sie Wasseraufbereitung vertraut machen würden. Das den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Partner ent- Wissen um diese Techniken liegt in Deutschland vor sprechen. allem bei kommunalen Versorgungseinrichtungen. Mir sind zahlreiche Stadtwerke bekannt, die an der Dazu gehört vor allem, daß unsere Partner auch per- Übernahme solcher Aufgaben interessiert sind. Bis- sonell an der Durchführung solcher Programme betei- lang ist es jedoch nicht gelungen, eine solche Zusam- ligt werden. Mit der Beschäftigung einheimischer menarbeit — vor allem mit der Weltbank — zu orga- Fachkräfte im Rahmen der von uns finanzierten Pro- nisieren. Ich erneuere meinen Appell an die Regie- jekte muß endlich Ernst gemacht werden. Die Glaub- rung, hier für Abhilfe zu sorgen. würdigkeit unserer Bildungsoffensive wird entschei- dend davon abhängen, wie intelligent wir mit dem Wir können uns auf keine Wohlstandsinsel zurück- bereits ausgebildeten Humankapital der Entwick- ziehen. Was wir brauchen, ist mehr Solidarität mit den lungsländer umgehen. Statt für teures Geld deutsche Ländern der Dritten Welt. Was wir erkennen müssen, Experten und Entwicklungshelfer in die Entwick- ist, daß uns für den Aufbau einer solidarischen Welt lungsländer zu schicken, die den dort vorhandenen nur noch wenig Zeit bleibt. einheimischen Kräften Arbeit wegnehmen, müssen Lassen Sie mich deshalb ein deutliches Wort an alle wir — auch gegen geschickt kaschierte Eigeninteres- richten, die durch die Ankündigung, die Armutsbe- 2202* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 kämpfung durch Selbsthilfe zu einem Schwerpunkt markt wird zu keiner Abschottung von den Ländern unserer Entwicklungspolitik zu machen, zutiefst ver- der Dritten Welt und anderen Nachbarn führen. Dies unsichert worden sind. Der Interessenausgleich mit wären die falschen Schlußfolgerungen aus den welt- der Dritten Welt wird uns nur gelingen, wenn wir dort weiten Herausforderungen. Glaubwürdige Nord- genügend Arbeitsplätze schaffen. Diese Arbeitsplätze Süd-Politik verlangt die Bereitschaft zur Übernahme brauchen wir, um den Bedarf von 4 Milliarden Men- ungeteilter Verantwortung und Solidarität, verant- schen auf dieser Welt in kaufkräftige Nachfrage zu wortliches Handeln national und international! Auch verwandeln. bei uns bedarf es dazu der Fortsetzung des notwendi- gen Strukturwandels. Die Bemühungen von Bundes- Dies bedeutet, daß die Industrialisierung der Dritten wirtschaftsminister Jürgen W. Möllemann im Bereich Welt ebenso unvermeidlich ist, wie wir sie als selbst- des Subventionsabbaus sind in diesem Zusammen- verständliche Grundlage unseres Wohlstands für uns hang daher ausdrücklich zu unterstützen. Die Bun- reklamieren. Natürlich muß solch eine Entwickung desrepublik Deutschland wird sich weiterhin für eine die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen dieser kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Dritten Welt Erde im Auge behalten. Aber es macht keinen Sinn, einsetzen. Wir nehmen die Verantwortung in einem sich vor diesem schwierigen Balanceakt zu drücken besonderen Sinne der Wiedervereinigung an. Die und den Entwicklungsländern statt dessen Beschei- deutsche Verantwortung ist größer geworden. Dieser denheit zu predigen. Wer eine so verstandene inter- Haushalt macht es schon in einem Bereich deutlich: nationale Solidarität will, der kommt nicht umhin, den Wir treten für die Leistungen, die bislang von der frü- auch den Zugang zur modernen Entwicklungsländern heren DDR getätigt wurden, alles in allem ein, aller- Technologie zu öffnen, der muß zugeben, daß ohne dings nicht in unkri tischer Weise. Ich will es bildlich moderne Kommunikationsmittel und ein leistungsfä- verdeutlichen. higes Transportwesen die vor uns liegenden Aufga- ben ebenso wenig zu meistern sind wie ohne eine gute Wenn früher die SED Versprechungen besonders staatliche Verwaltung und ein selbstbewußtes Unter- politisch motivierter Art gegeben hat, so fällt das jetzt nehmertum. - in die Verantwortlichkeit der Nachfolgeorganisation PDS mit ihrem nicht kleinen Vermögen. Das ist nicht Nur wenn wir die Armut in diesem Sinne überwin- den, haben wir im Wettlauf mit der Zeit noch eine so ohne weiteres eine Aufgabe, die jetzt vom deut- schen Steuerzahler automatisch zu übernehmen ist. Chance. Auf einen Teil der Faktendarlegung von meinen Vor- rednern möchte ich nicht wiederholend eingehen. Ich WernerZywietz (FDP): Dieser erste gesamtdeutsche möchte an dieser Stelle nur hervorheben, daß ein er- Bundeshaushalt ist Ausdruck des historischen Wan- freulich breiter Konsens in den Haushaltsberatungen dels, der sich mit der Überwindung der West-Ost- über die Strukturierung und Dotierung dieses Einzel- Konfrontation, der Wiederherstellung der Deutschen plans zwischen FDP, CDU/CSU und SPD vorhanden Einheit und der gewachsenen Verantwortung des ver- ist. Ich halte es für sehr erfreulich, daß es bei der einigten Deutschlands in der Welt verbindet. Trotz Dritte-Welt-Politik, dieser besonderen Form einer äu- gewaltiger einigungsbedingter Ausgaben im Inter- ßeren Politik, wenn ich so sagen darf, breite Überein- esse einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz stimmung gibt. Auch dies ist eine Form, durch ge- Deutschland sowie erheblicher Belastungen durch meinsame Politik eine hohe Effizienz zu erreichen. An den Golfkonflikt und zur Unterstützung des Reform- dieser Stelle möchte ich hinzufügen, daß der Bundes- prozesses in Mittel- und Osteuropa ist beim Entwick- minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Carl lungshilfe-Etat 1991 ein guter Zuwachs zu verzeich- Dieter Spranger sich in sehr kurzer Zeit in die Materie nen. Mit einem Volumen von fast 8 Milliarden DM dieses Hauses hineingefunden hat und mit Umsicht steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Vorjahr um diesen Konsens von seiner Seite fördert. Dafür meinen ca. 8 %, bereinigt um die Aufwendungen im Rahmen herzlichen Dank von seiten der FDP. Es ist gut, zwi- der Golfsonderhilfe. Selbst unter Einbeziehung der schen der deutschen Entwicklungspolitik und der 1990 von der ehemaligen DDR gewährten Leistungen deutschen Außenpolitik Kongruenz und nicht Kon- an Entwicklungsländer liegt der erste gesamtdeut- kurrenz festzustellen. sche Entwicklungshilfeetat noch um drei Prozent über Hilfe für die Dritte Welt ist nicht nur eine Frage des der Gesamtsumme aller deutschen Entwicklungshil- Volumens, sondern insbesondere der Effizienz. Dies feleistungen des Vorjahres. ist um so wichtiger, weil die Probleme, die zu Recht Dies sind beachtliche Leistungen nicht nur in die- auch von seiten der SPD festgestellt wurden, geblie- sem Jahr. Sie werden von unserem Staat seit Jahr- ben, vielleicht sogar gesteigert worden sind. Darum ist zehnten erbracht. Dies ist, man muß es so sagen, leider aus Sicht der FDP der methodische Ansatz besonders auch nach wie vor nötig. Denn die Probleme Bevölke- wichtig. Überwindung elementarer Lebensnot kann rungswachstum, Armut und Unwissenheit sowie eine nur gelingen, wenn viel private Initiative entfacht und zunehmende Gefährdung der Umwelt bestehen leider in Mitzieheffekte fortentwickelt werden kann. Dazu in allzu vielen Teilen unserer einen und gemeinsamen ist eine sozial und ökologisch orientierte Marktwirt- Welt fort. Darum ist eine wirksame Entwicklungszu- schaft das beste Instrument. Gerade angesichts der sammenarbeit, die auf Eigenverantwortung, aber Entwicklungen in vielen Ländern wird deutlich, daß auch auf Solidarität und Partnerschaft gegründet sein ein sozialistisch orientiertes System nicht in der Lage muß, im Rahmen einer Weltinnenpolitik dringender ist, die erforderlichen Bedürfnisse der Menschen zu denn je. Dazu bekennen wir ausdrücklich: Das ver- befriedigen. Darum haben wir mit Bedacht darauf ge- einte Deutschland zieht sich nicht auf sich selbst zu- achtet, daß im Rahmen der Möglichkeiten alles, was rück, und der bald bestehende Europäische Binnen Marktwirtschaft fördert, was menschliche Motivation Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2203'

fördert, was zu Mitwirkungs- und Mitzieheffekten Einzelpunkte akzeptabel. Die Art und Weise jedoch, führt, Unterstützung aus diesem Haushalt erfährt. in der sie verknüpft und zueinander in Beziehung gesetzt werden, offenbart tiefe Widersprüche. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wer- den darüber hinaus die Bemühungen beim internatio- Der erste Widerspruch besteht zwischen Anspruch nalen Umweltschutz eine noch bedeutendere Rolle und realen finanziellen Möglichkeiten dieser Kon- spielen. Die auch auf Initiative der Bundesregierung zepte. Knappe 8 Milliarden DM nehmen sich nicht nur vor kurzem geschaffene globale Umweltfazilität der neben einem Verteidigungshaushalt von mehr als Weltbank stellt einen wichtigen Schritt auf dem Wege 52 Milliarden DM geradezu jämmerlich aus. zur Schaffung einer Weltklima-Konvention dar. Zu diesem neuen Finanzierungsinstrument trägt die Bun- Auch die gutwilligsten „Hochrechnungen", die mit desrepublik Deutschland allein rund 266 Millionen einer nominalen Steigerung von 7,8 % argumentieren DM bei. Die Bundesrepublik Deutschland leistet da- (die bei Berücksichtigung der hinzukommenden Ent- mit, neben ihrer internationalen Vorreiterrolle im Be- wicklungshilfe der ehemaligen DDR auf etwa 3 % zu- reich des Tropenwaldschutzes und einem Maßnah- sammenschrumpft), können nicht darüber hinweg- menprogramm mit einem jährlichen Volumen von täuschen, daß nur 0,39 % des BSP für einen Bereich 300 Millionen DM, einen entscheidenden Beitrag zum zur Verfügung gestellt werden, der nach Aussagen globalen Umweltschutz. der verantwortlichen Politiker in den Rang einer „Weltinnenpolitik" erhoben werden muß. Damit liegt Ich möchte allerdings anmerken, daß mit Blick auf der neue Entwicklungshilfeetat unter dem 1989 er- den Volksmund, der da sagt: „Unglück schläft nicht" reichten Anteil am BSP von 0,41 % und ist weit davon — und leider erreignet es sich auch global allzu häu- entfernt, sich den magischen, von der UNO für das fig, wie die jüngsten Naturkatastrophen deutlich ma- Jahr 2000 vorgegebenen 0,7 % auch nur zu nähern. chen — , hier zu Recht unbürokratisch und sofort hu- manitäre Hilfe erfolgen muß. Es kann aber nicht sein, Während die skandinavischen Länder bereits 1989 daß diese Maßnahmen zu Lasten der finanziellen Zu- durchschnittlich 0,89 % ihres BSP für Entwicklungs- sammenarbeit gehen und auch deren Strukturierung hilfe freistellten (Norwegen sogar 1,04 %), ist das in somit erschweren. Hier müssen die entwicklungspoli- Umfang und Verantwortung gewachsene Deutsch- tischen Instrumente neu überprüft werden. land nach Ende der Blockkonfrontation und Auflö- Ein Weiteres, was bei der letzten Haushaltsdebatte sung des Warschauer Vertrages nicht in der Lage, noch mehr als Eventualmöglichkeit angesprochen zumindest ähnliche Aufwendungen zu tätigen. Nie- wurde. Die Veränderungen politischer und markt- mand spricht mehr von der gemeinsamen Beschluß- wirtschaftlicher Art in den Staaten Mitteleuropas, hat empfehlung der Ausschüsse für wi rtschaftliche Zu- sich erfreulicherweise weiterentwickelt. Hier wollen sammenarbeit der Volkskammer und des 11. Deut- wir nicht abseits stehen. Hier müssen wir helfen auch schen Bundestages, bis 1995 die 0,7 %-Grenze in der mit den Mitteln dieses Etats. Denn die ökonomische Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. und damit auch politische Entwicklung in unseren Angesichts derartiger Unterbewertung erscheint es unmittelbaren östlichen Nachbarstaaten ist auch nachgerade müßig, die Verteilung der genannten wichtig für unser aller Wohlergehen. Darum begrüßen Mittel detailliert zu bewerten. wir die vorgesehenen Möglichkeiten, auch in Osteu- ropa aus den Mitteln dieses Etats mitzuhelfen. So, wie sich die Situation jetzt darstellt, gehen so- wohl die deutsche Wiedervereinigung als auch der Die deutsche Entwicklungspolitik basiert auf einem Aufbau in Osteuropa sowie der Drang Deutschlands in sich geschlossenen politischen Gesamtkonzept, das nach politischer Vormachtstellung und militärischer von unserer gemeinsamen Verantwortung für eine Einbeziehung sehr wohl zu Lasten der „Zwei-Drittel- menschliche Entwicklung in allen Teilen der Welt ge- Welt" . Das ist ein weiteres nicht eingehaltenes Wahl- tragen wird. Der heute zur Beratung anstehende Ein- versprechen, diesmal im internationalen Maßstab. zelplan 23 leistet hierzu einen wichtigen Beitrag. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt diesem Einzelplan zu Es erweist sich als recht aufschlußreich, auch die und erwartet, daß Carl-Dieter Spranger und sein Haus Widersprüche zwischen Konzeption und praktischer die für 1991 bereitgestellten Mittel und Verpflich- Umsetzung hinsichtlich der eingangs aufgeführten tungsermächtigungen wirksam zur Bewältigung der Rahmenbedingungen zu analysieren und so zu einem ökonomischen und ökologischen Herausforderungen substantiellen Kritikpunkt zu kommen. in der Dritten Welt einsetzen. Hierbei haben Sie, Herr Minister, und die Mitarbeiter im Geschäftsbereich Ih- Einhaltung der Menschenrechte und Demokratisie- res Hauses auch weiterhin unsere volle Unterstüt- rung der Gesellschaft sind wichtige Kriterien der Ent- zung, wenn es darum geht, die bestehenden Probleme wicklungshilfe. An der Objektivität ihrer Bewertung in der Dritten Welt mit mehr Privatinitiative und öko- und Auslegung durch die Bundesregierung bestehen logischem Augenmaß zu überwinden. jedoch meines Erachtens berechtigte Zweifel. Die entwickelten Länder des Nordens, die mit ihrer Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Das Thema ressourcenverschwendenden Produktions- und Le- dieser Debatte ist der Etat des Bundesministers für bensweise die aktuellen Probleme dieser einen Welt wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es hat in den ver- originär verschuldet haben, maßen sich jetzt an, kraft gangenen Wochen und Monaten sehr viele Ausagen ihres wirtschaftlichen und daraus resultierenden poli- über die entwicklungspolitischen Konzeptionen des tischen und militärischen Machtpotentials mehr als neuen Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit zwei Dritteln der Welt zu diktieren, was Entwicklung gegeben. Diese Schwerpunkte und Kriterien sind als ist und wie man sie macht. Das ist nicht nur ungerecht 2204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 und kurzsichtig, sondern zeugt auch von ungeheurer Lage und Bedrohungen der Zwei-D rittel-Welt „objek Heuchelei. tiv" zu beruteilen und so auch das lohnende Rüstungs- geschäft im Rahmen der Entwicklungspolitik zu in- Der hochentwickelte Norden (bei all seiner inneren strumentalisieren, mehr noch ihre praktische Anwen- Differenziertheit) ist nämlich dabei, durch massiven dung lassen vermuten, daß eher die letztere Ausdeu- Protektionismus, Internationalisierung seiner Struktu- tung der Realität nahekommt. ren und Institutionen und einen unverhohlenen Ab- schottungskurs die von ihm verursachten internatio- Ich möchte an dieser Stelle nicht über den Offenba- nalen Abhängigkeiten und Unrechtsverhältnisse zu rungseid des Staatssekretärs Lengl polemisieren, der verewigen und wenn möglich auszubauen. sicherlich unfreiwillig oder doch zumindest zu einem Gleichzeitig werden die Entwicklungsländer (und taktisch unklugen Zeitpunkte hat erkennen lassen, in übrigens auch Osteuropa) mittels massiven ökonomi- welcher Weise Demokratie und Menschenrechte schen und zunehmend auch militärischen Drucks an- durch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammen- gehalten, sich den Verwertungserfordernissen des in- arbeit und diese Bundesregierung interpretiert wer- ternationalen Kapitals anzupassen, und sei es auch den sollen; oder fragen, warum Länder wie China, um den Preis der Selbstzerstörung. Türkei, Isreal oder Pakistan Mittelzusagen von jeweils über 100 Millionen DM im Rahmen der FZ erhalten Die Folgen solcher Entwicklungsstrategien sind be- haben, obwohl die Menschensrechtssitutation gerade kannt, berechenbar und einkalkuliert im weltweiten auch in diesen Ländern seit Jahren durch internatio- Geschäft des Kapitals, obwohl immer mehr Stimmen nale Organisationen massiv kritisiert wird; oder vor der selbstmörderischen Irrationalität der laufen- warum Nicaragua von jeglicher offizieller Entwick- den Prozesse warnen, die unsere Welt ökologisch lungszusammenarbeit ausgenommen war und sich nicht durchstehen wird. Aber es geht in der bundes- jetzt unter vergleichsweise miserablen Bedingungen deutschen Entwicklungspolitik (so gut es engagierte der Roßkur von Strukturanpassungen unterwerfen Entwicklungspolitiker auch meinen), letztendlich - muß, die Gesundheits- und Bildungswesen um Jahr- nicht um Problemlösung, sondern um Konfliktverwal- zehnte zurückwerfen und den größten Teil der Bevöl- tung und Krisenmanagement. kerung an den Rand des Existenzminimums drücken; Soziale Abfederung von Strukturanpassung wird oder Kuba .. . nicht „erfunden" , weil ärmste und arme Bevölke- Die PDS/Linke Liste im Bundestag sieht die Ent- rungsschichten an den Rand der Existenzmöglichkeit wicklungspolitik dieser Bundesregierung als ein wei- gedrängt werden, sondern aus Sorge um die Funk- ters Mittel, politische Konformität weltweit durch In- tionsfähigkeit der internationalen Finanzmärkte. Die strumentalisierung wirtschaftlicher Überlegenheit als Folge von Verelendung im Zuge der Strukturan- durchzusetzen bzw. zu honorieren. Menschenrechte passung auftretende politische Instabilität in Ländern und Demokratie verkommen zu leeren Worten, ver- der „Dritten Welt" , die erschossenen Demonstranten gleichbar mit der Pervertierung des Beg riffes Völker- und verhungernden Kinder sind für multinationale recht während des Golfkrieges. Konzerne nur insofern beunruhigend, als sie geschäft- liche Unwägbarkeiten verursachen. Deutschland hat auch auf dem zentralen und zu- Das Argument für die „Bekämpfung" von Flücht- nehmend wichtigen Gebiet der Entwicklungszusam- lingsströmen ist nicht das Elend und menschenunwür- menareit gehalten, was es im Zuge seiner Entwick- dige Dasein der Betroffenen, sondern die den Europä- lung zu einem europäischen Machtzentrum ange- ern eindringlich suggerierte Notwendigkeit des droht hat. Selbstschutzes. Daß diese Argumentation nicht der Entwicklung von Toleranz unter den Menschen, son- Bundesminister für wirt- dern einer Abschottungsmentalität und einem noch Carl-Dieter Spranger, schaftliche Zusammenarbeit: Bundeskanzler Kohl hat größeren Eurozentrismus dient, liegt auf der Hand. in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991 in Daß Angst die Bereitschaft zur Gewalt erhöht, ist eindrucksvollen Worten ausführlich die große Bedeu- ebenfalls kein Geheimnis und genausowenig zufäl- tung der Entwicklungspolitik für Deutschland darge- lig. stellt. Der Bundeskanzler betonte ausdrücklich, daß Ein anderer Aspekt. Der Herr Staatssekretär Repnik wir uns nicht nur auf die Aufgaben in unserem Land charakterisiert die Bedeutung der Entwicklungspoli- und Europa konzentrieren dürfen, sondern daß unsere tik mit dem Beg riff „Weltinnenpolitik". Meint dieser Verantwortung nach der Wiedervereinigung vor al- Begriff die notwendige Demokratisierung der interna- lem gegenüber den Entwicklungsländern gewachsen tionalen Beziehungen im Sinne einer gleichberechtig- ist. Die globalen Herausforderungen — er nannte vor ten Partizipation aller Länder an den Regulierungs- allem Armut, Umweltzerstörung, aber auch die Ver- prozessen, den Verteilungs- und Austauschverhält- schuldung und die Bevölkerungsexplosion in der Drit- nissen bei gleichzeitigem generellen Schuldenerlaß ten Welt — verlangten eine intensivere internationale und zeitlich befristeten Schonzeiten z. B. für LDC Zusammenarbeit. Länder? Oder steht dieser Beg riff eher für das gene- relle und uneingeschränkte Recht der Ersten Welt, auf Bundeskanzler Kohl erklärte, zuletzt am 20. Mai in dieser einen Erde nach eigenem Ermessen schalten Washington: und walten zu können? Wir müssen deshalb auch in Zukunft eine Entwick- Die Kriterien für Rahmenbedingungen der Ent- lungspolitik fortsetzen, die den Ärmsten und wicklungshilfe, zumal die jetzt explizit aufgenom- Schwächsten tatkräftig zur Seite steht — und die mene Berechtigung der Geberländer, militärische ihnen vor allem hilft, sich selbst zu helfen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2205'

Diese Äußerungen belegen, welchen hohen Stellen- Die Bundesregierung hat mit dem Etat 1991 die wert die Bundesregierung der Entwicklungspolitik haushaltsmäßigen Konsequenzen aus ihren Zusagen beimißt und beimessen wird. gezogen, die deutschen Beiträge für den Europäi- Entwicklungshilfe lebt vom Verständnis der Men- schen Entwicklungsfonds und für die neunte Wieder- schen füreinander und von unserer gemeinsamen auffüllung der Mittel für die Internationale Entwick- Verantwortung für eine menschliche Entwicklung in lungsorganisation (IDA) deutlich zu erhöhen. Beide allen Teilen der Welt. Bedürftigen Menschen zu hel- Fonds werden maßgeblich von uns mitfinanziert und fen und für eine würdige Zukunft weltweit zu arbeiten unterstützen, wie Sie wissen, in erster Linie die ärm- ist uns eine selbstverständliche humanitäre Verpflich- sten Länder in der Dritten Welt. tung. Erstmals im Haushalt veranschlagt werden Mittel für multilaterale Hilfen beim weltweiten Umwelt- Zugleich gilt: Entwicklungspolitik ist partnerschaft- schutz, die über die maßgeblich durch deutsche Initia- liche Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse, sie tive ins Leben gerufene Globale Umweltfazilität der ist internationale Friedenspolitik. Entwicklungspolitik Weltbank bereitgestellt werden. Für die multilaterale trägt dazu bei, für alle Menschen in Nord und Süd die Zusammenarbeit steht damit 1991 insgesamt fast ein überlebenswichtigen natürlichen Lebensgrundlagen Drittel unserer Ausgaben zur Verfügung, das sind zu erhalten, und sie fördert die soziale und wirtschaft- rund 2,54 Milliarden DM. liche Entwicklung in der Dritten Welt. Die Rolle der multilateralen Organisationen ge- In den ersten Monaten im neuen Amt ging es mir winnt angesichts der globalen entwicklungspoliti- zunächst darum, ein entwicklungspolitisches Schwer- schen Herausforderungen weiterhin an Bedeutung. punktprogramm für die kommenden Jahre zu erarbei- Dennoch lassen Sie mich eines deutlich machen: Die ten. Zur Vorbereitung dieses Programmes habe ich unverzichtbare Säule unserer Entwicklungszusam- eine Vielzahl von Gesprächen geführt, mit Bundes- menarbeit bleibt auch zukünftig die bilaterale Hilfe. tagsabgeordneten aller Fraktionen und mit Vertretern Die bilaterale Hilfe muß gerade angesichts der ge- der Parteien, mit ausländischen Repräsentanten und schilderten Befürchtungen unserer Partnerländer ihre Botschaftern aus der Dritten Welt, mit Ministerkolle- politische Bedeutung als Ausdruck und Markenzei- gen aus anderen Gebernationen und mit zahlreichen chen der gestiegenen Verantwortung behalten, die Experten. Gesprochen habe ich auch intensiv mit Ver- das vereinigte Deutschland weltweit zu übernehmen tretern von Kirchen und Nicht-Regierungsorganisa- bereit ist. tionen sowie der deutschen Wirtschaft. Gut 110 Millionen DM des Zuwachses des Einzel- Die Zustimmung, die meine Arbeit dabei erfahren plans 23 dienen dazu, Entwicklungshilfemaßnahmen hat, hat mich darin bestärkt, daß der politische Stel- der ehemaligen DDR unmittelbar weiterzuführen, im lenwert der Entwicklungspolitik zunehmen wird. Der wesentlichen in der Aus- und Fortbildung, der bilate- Grundkonsens in unserem Land über die Notwendig- ralen Technischen Zusammenarbeit und beim Deut- keit eines Ausgleichs zwischen Nord und Süd bietet schen Entwicklungsdienst. Dazu gehören auch Mittel eine notwendige und tragfähige Grundlage für die für die Wiedereingliederung der ausländischen Ar- deutsche Entwicklungspolitik. Diesen Konsens zu er- beitnehmer in der DDR, die in ihre Heimatländer zu- halten, zu festigen und weiter auszubauen habe ich rückkehren. Das betrifft in erster Linie Vietnamesen mir zur Aufgabe gemacht. und Mosambiquaner. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist auch in Auch die Mittel für die Arbeit der nichtstaatlichen den Ländern der Dritten Welt vielfach begrüßt wor- Träger, insbesondere der Kirchen und der politischen den. Davon konnte ich mich vielfach überzeugen. Sie Stiftungen, werden um 32 Millionen DM erhöht. Ins- war aber auch von der Sorge begleitet, daß Deutsch- gesamt stellen wir für beide Kirchen Mittel in Höhe land sich in Zukunft stärker darauf konzentrieren von 290 Millionen DM bereit. Damit haben wir in un- wird, seine eigenen politischen und wirtschaftlichen serem Haushaltsentwurf 1991 deutliche Akzente ge- Probleme zu lösen. Mittlerweile konnte ich deutlich setzt. machen: Diese Sorgen sind unbegründet. Für die bilaterale Finanzielle und Technische Zu- Der Haushaltsentwurf für den Einzelplan 23 für das sammenarbeit haben wir im Finanzjahr 1991 knapp Haushaltsjahr 1991 belegt: Auch in diesem Jahr wol- die Hälfte der Ausgaben, also 3,77 Milliarden DM, len wir, ungeachtet der angespannten Finanzlage, un- sowie Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von sere Mittel für die Dritte Welt weiter steigern. Weder 4,1 Milliarden DM vorgesehen. Wir hatten uns dabei die Finanzierung von Einheit und Wiederaufbau im an der mittelfristigen Finanzplanung zu orientieren. Osten Deutschlands noch die zusätzlichen Anforde- Viele Entwicklungsländer nehmen die ihnen zuge- rungen, die durch den Golfkrieg entstanden sind, ge- sagten Mittel erheblich schneller in Anspruch als noch hen zu Lasten der Entwicklungshilfe. vor wenigen Jahren. Dies und der verstärkte Abfluß Der Haushaltsentwurf ist die Bestätigung der An- unserer multilateralen Mittel in den nächsten Jahren kündigungen des Bundeskanzlers in seiner Regie- führen dazu, daß wir die Höhe unserer Verpflich- rungserklärung. Mit 7,96 Milliarden DM Volumen er- tungsermächtigungen leicht zurücknehmen mußten. gibt sich für den Einzelplan 23 gegenüber 1990 ein Das ist kein Signal für eine Kürzung der deutschen Zuwachs von fast 600 Millionen DM. Dies entspricht Entwicklungshilfe. Denn entscheidend sind nicht die einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 7,9 %. veranschlagten Verpflichtungsermächtigungen, son- Mit rund 425 Millionen DM entfällt ein wesentlicher dern der tatsächliche Transfer von Mitteln in unsere Teil der zusätzlichen Mittel auf den multilateralen Partnerländer. Und dieser wird durch die gestiegenen Bereich. Ausgabenansätze erhöht. 2206' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bei der regionalen Verteilung unserer Hilfszusagen Staatssekretär Lengl hielt sich vom 25. Mai bis zum liegen, wie in den Vorjahren, Afrika und Asien an vor- 1. Juni in China auf, um Regierungsverhandlungen derster Stelle. Die Anteile für diese beiden Kontinente vorzubereiten. Es wurde besprochen, vorrangig Pro- bewegen sich seit Jahren um jeweils rund 40 % Für jekte in den genannten Bereichen zu unterstützen. Er die Opfer der verheerenden Flutkatastrophe in Bang- hat in seinen Gesprächen mit dem chinesischen Mini- ladesch stellen wir in diesem Jahr 30 Mi llionen DM als sterpräsidenten Li Peng und anderen Regierungsver- Soforthilfe für den Wiederaufbau zur Verfügung. tretern die eindeutige Haltung der Bundesregierung Katastrophen und die Schwierigkeiten der Staaten und ihre Verurteilung der Ereignisse am Platz des der Dritten Welt, mit deren Folgen fertigzuwerden, Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 deutlich neben zu. Wir brauchen daher auch zukünftig ausrei- gemacht. Wie nachdrücklich Staatssekretär Lengl für chend Mittel, um flexibel in akuter Not helfen zu kön- die Einhaltung der Menschenrechte und die Freilas- nen. Dennoch dürfen wir nicht die künftigen Perspek- sung von Inhaftierten eingetreten ist, zeigt eine Nach- tiven aus dem Auge verlieren und vergessen, daß vor richt aus China, die mich soeben erreicht hat und die allem die längerfristig wirksame Entwicklungszusam- ich mit Freude an Sie weitergebe. Die Botschaft in menarbeit notwendig ist. Peking teilt mit, daß die Justizbehörden gestern be- schlossen haben, zwei chinesische Katholiken aus der Die deutsche Entwicklungspoliltik konzentriert sich Haft zu entlassen. Nach letzter Auskunft der Botschaft auf wichtige Schlüsselbereiche : Armutsbekämpfung, befinden sie sich auf freiem Fuß. Umwelt- und Ressourcenschutz, Bildung, Familien- planung, Gesundheit, Förderung privatwirtschaftli- Es kann also keine Rede davon sein, daß Staatsse- cher Initiativen, und, wo relavant, Drogenbekämp- kretär Lengl zu irgendeinem Zeitpunkt die politische fung, werden noch mehr als bisher im Zentrum unse- Situation in China oder die Menschenrechtsverletzun- rer entwicklungspolitischen Aktivitäten stehen. gen beschönigt oder gar gebilligt hat. Hier möchte ich nur einige wenige Zahlen heraus- Sie können sicher sein, meine Damen und Herren, stellen: Auf den Bereich der Grundbedürfnisbefriedi- daß ich wie in der Vergangenheit auch zukünftig dem gung, ein Teilindikator für die Armutsbekämpfung, Thema Menschenrechte entscheidende Bedeutung in werden 1991 rund 49 % (Soll 1990: 45 %; Ist 1989 der Entwicklungszusammenarbeit zumessen werde 33,8 %) unserer Zusagen im Rahmen der Finanziellen und daß ich dafür eintrete, gleiche Maßstäbe und glei- und Technischen Zusammenarbeit entfallen. che Konsequenzen gegenüber allen entsprechenden Der Umwelt- und Ressourcenschutz wird einen An- Regierungen geltend zu machen. teil von 20 % haben. Der Tropenwaldschutz, für den Die Vergabe deutscher Hilfe wird sich auch weiter- wir mehr als 300 Millionen DM bereitstellen, wird da- hin daran orientieren, inwieweit die Regierungen der bei im Mittelpunkt stehen. Entwicklungsländer eine Politik verfolgen, die dem Auf die Projekte im Bereich der selbsthilfeorientier- Wohle der Menschen dient. Hilfe zur Selbsthilfe be- ten Armutsbekämpfung entfallen erstmals 10 % unse- deutet eben auch: Wo der Staat die Entfaltung der rer Zusagen in der FZ und der TZ. Eigeninitiative unterdrückt, kann finanzielle Hilfe von außen wenig bewirken. Mit 17 % unserer Mittel in der Technischen Zusam- menarbeit fördern wir Bildungsmaßnahmen. Dazu ge- Deshalb unterstreicht die Regierungserklärung be- hören insbesondere die Grundbildung sowie die be- sonders die Bedeutung der unternehmerischen Initia- rufliche Aus- und Fortbildung. tive als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung auch Lassen Sie mich gerade angesichts der vorgesehe- in der Dritten Welt. Eine marktwirtschaftlich ausge- nen erheblichen Haushaltssteigerungen unterstrei- richtete Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologi- chen: Auch in Zukunft werden wir unsere Entwick- scher Verantwortungsbereitschaft des einzelnen ist lungshilfe nicht in Fässer ohne Boden geben. auch dort das geeignete Fundament für eine nachhal- tige Entwicklung. Erfolgreiche Armutsbekämpfung, dauerhafte Ent- wicklung und Freiraum für privatwirtschaftliche Wir prüfen daher neue Wege, wie wir die produkti- Initiativen, Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an ven Kräfte der Armen über privatwirtschaftliche politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit, Strukturen noch effizienter fördern können. Meine Rechtssicherheit und nicht zuletzt Achtung der Men- Damen und Herren, die wirksame Bekämpfung der schenrechte bedingen einander. Armut und ihrer Ursachen ebenso wie die Bewälti- gung der neuen globalen entwicklungspoltischen Was unsere Zusammenarbeit mit China angeht, so Herausforderungen der neunziger Jahre — ich nenne halten wir uns strikt an den Beschluß des Deutschen als Stichwort nur die globale Umweltproblematik — Bundestages vom 30. Oktober 1990. Wir müssen zur verlangen uns auch in den nächsten Jahren weitere, Kenntnis nehmen, daß in China Hunderte Millionen gemeinsame Anstrengungen ab. Mein herzlicher Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Wenn Dank gilt daher dem Haushaltsausschuß, insbeson- wir Entwicklungshilfeprojekte vorbereiten wollen, so dere den Berichterstattern, und dem AwZ für eine müssen sie zur Armutsbekämpfung bzw. zum Schutz gute Zusammenarbeit. Damit verbinde ich die Hoff- der Umwelt oder zur Reform der chinesischen Wirt- nung, daß wir auch in Zukunft einen breiten Konsens schaft beitragen. für die eine Politik finden, die für die Menschen in der Zu der Diskussion um den Besuch von Staatssekre- Dritten Welt und auch in unserem Land von großer tär Lengl möchte ich kurz folgendes anmerken. Bedeutung ist.