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Sendung vom 12.10.2004, 20.15 Uhr

Dr. Norbert Blüm Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, herzlich willkommen zum Alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in allen Kabinetten des ehemaligen Bundeskanzlers , also von Oktober 1982 bis Oktober 1998. Ich freue mich, dass er heute hier ist: Ganz herzlich willkommen, Herr Dr. Blüm. Blüm: Guten Tag. Reuß: "Politik ist Handwerk und nicht Mundwerk", haben Sie einmal gesagt. Wie sieht denn dieses Handwerk aus? Welches Werkzeug und welche Fähigkeiten braucht man dafür? Blüm: Ich wollte mit diesem Satz nur darauf aufmerksam machen, dass sich Politik nicht in Überschriften erschöpfen darf. In einer Marketingwelt ist die Gefahr groß, dass man sagt: "Hauptsache ist, man hat mal was Originelles gesagt!" Handwerk ist: Du musst wissen, wie's geht! Natürlich ist das Mundwerk in der Politik schon auch eines der Berufswerkzeuge, das ist klar. Denn man muss ja um Zustimmung kämpfen – das ist ja der Vorzug der Demokratie. Nur, ich glaube schon, dass es ein Defizit zwar nicht beim Mundwerk, dafür aber beim Handwerk gibt. Reuß: Der französische Journalist Joseph Joubert meinte einmal: "Politik ist die Kunst die Menge zu leiten, nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Mit Blick auf die deutsche Geschichte und ihre zwei Diktaturen mag das ein bisschen ambivalent klingen, dennoch meine Frage: Müssen auch demokratisch gewählte Politiker führen, lenken, leiten wollen – manchmal womöglich gegen den Willen der Mehrheit? Blüm: Wenn es anders wäre, dann bräuchten wir ja gar keine Regierung, dann würde doch "Allensbach" genügen. Man könnte jeden Tag eine Meinungsumfrage machen: "So, was wollen wir denn heute machen?" Das kann natürlich keine Politik sein. Richtig ist aber, dass der Politiker kein Autist sein darf. Er darf nicht die Überzeugung haben: "Ich bestimme, was richtig ist." Nein, er muss lernbereit sein, er muss zuhören können. Aber wenn er von einer Sache überzeugt ist – bis es so weit ist, sollte er sich allerdings genügend Zeit nehmen –, dann muss er auch gegen den Wind segeln können. Reuß: Sie waren jahrzehntelang in der Politik tätig und da blieb es natürlich nicht aus, dass auch Sie viele Etiketten aufgeklebt bekommen haben. Ich habe mal nachgelesen, was man so alles finden kann über Sie. Franz Josef Strauß soll Sie einen "Herz-Jesu-Marxisten" genannt haben. Blüm: Das ist doch ein Kompliment! Reuß: Otto Lambsdorff sagte über Sie: "Das ist ein linkskatholischer Weltverbesserer!" Hans-Olaf Henkel, damals Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, sagte: "Norbert Blüm ist das größte Standorthindernis in Deutschland." Böse Zungen nannten Sie wegen Ihrer Schlagfertigkeit auch einen “Politclown". Der "Spiegel" hat Sie wegen der Einführung der Pflegeversicherung in Anlehnung an den alten Reichskanzler Bismarck "Otto von Blüm" genannt. Was von all dem sind Sie denn oder sind Sie auf keinen Fall? Wie würden Sie sich selbst beschreiben? Blüm: Etiketten sind etwas für Flaschen und ich bin keine Flasche, deshalb kann ich nur sagen: "Klebt auf mich, was ihr wollt; spielt was ihr wollt, ich tanze Walzer!" Nein, im Ernst, wenn man sich daran halten würde, würde man ja verrückt werden. Mir ist es schon passiert, dass ich vormittags bei den Gewerkschaften gewesen bin und die mich ausgepfiffen haben. Nachmittags war ich dann bei den Arbeitgebern und dann haben die ebenfalls gepfiffen. Abends habe ich mir dann gedacht: "Na, beide können ja nicht Recht haben, mindestens eine von beiden Seiten muss hier Unrecht haben!" Reuß: Hat Sie das verunsichert? Blüm: Man muss schon sensibel bleiben und sich auch ein Stück Unsicherheit bewahren. Aber klar ist auch: Werde nicht abhängig von Beifall und Pfiffen! Das sind nämlich beides sehr wetterwendige Reaktionsformen. Es gibt ja jemanden – mit dem ich mich freilich keinesfalls vergleichen würde –, bei dem sie sonntags "Hosianna" geschrien haben und fünf Tage später "kreuzigt ihn!". So schnell geht das. Reuß: Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig meinte einmal: "Wahrheit und Politik wohnen selten unter einem Dach." Wie offen kann man denn in der Politik sein? Wie häufig muss man sich taktisch verhalten? Blüm: Zunächst einmal zum Begriff "Wahrheit": Die absolute Wahrheit besitzt der liebe Gott und Politiker, die sich dünken, sie seien der liebe Gott, sind immer gefährlich. Denn derjenige, der im Besitz der absoluten Wahrheit ist, steht in Gefahr, sie auch mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Wenn ich des Rätsels Lösung für alle Fragen wüsste, dann würde ich das auch notfalls mit Gewalt durchsetzen. Und so war es ja auch in der Geschichte: Die Wahrheitsbesitzer waren alle in Gefahr, gewalttätig zu werden. Das heißt aber nun nicht, dass Wahrheit keine Rolle spielen würde. Man muss vielmehr immer versuchen, der Wahrheit ziemlich nahe zu kommen. Aber man muss wissen, dass alle unsere Entscheidungen immer vorletzte Entscheidungen sind. Insofern kann ich daher Stefan Zweig so nicht zustimmen, als würde Wahrheit keine Rolle spielen. Denn was würden wir denn sonst machen? Da wären wir ja alle nur Gschaftlhuber. Freilich müssen wir immer den Vorbehalt haben, dass es möglicherweise noch andere Einsichten und Wahrheiten gibt. Man hält also immer bis auf weiteres an der eigenen Wahrheit fest und muss gleichzeitig bereit sein, sich auch korrigieren zu können. Denn, wie gesagt, über die letzten Wahrheiten in der Politik wird nur in totalitären Systemen entschieden. In der Demokratie bleibt Politik also die Ordnung der vorletzten Dinge. Reuß: Es gibt einen Satz von Bernhard Vogel: "Es ist fatal: Die Parteien haben bei uns keinen guten Namen; man begegnet ihnen mit Misstrauen, ihre Existenz erscheint vielen peinlich, ihre Mitglieder häufig suspekt. Ihre Arbeit wird als Geschäft angesehen, von dem man leicht schmutzige Hände bekommt." Diese Aussage klingt aktuell, ist aber fast 40 Jahre alt, denn sie stammt aus dem Jahr 1966. Warum ist das so? Warum haben Parteien einen so schlechten Ruf? Blüm: Nun, das ist ja nicht erst seit 40 Jahren so, sondern das ist ja noch älter. Schon Kaiser Wilhelm hat gesagt, "Ich kenne keine Parteien mehr"; Thomas Mann hat die Politik ebenfalls als “schmutziges Geschäft” bezeichnet usw. Es gehört einfach zum Hochmut des deutschen Bürgertums zu glauben, das sei nichts für sie. Und der Stammtisch, eine Stufe drunter, bestätigt dieses Vorurteil. Manchmal bekommt dieses Vorurteil sogar Futter von höchster Stelle. Ich kann mich z. B. noch an die bekannte triumphale Aussage des Herrn von Weizsäcker erinnern, der einmal als Kollektivurteil formuliert hat: "Die Politiker sind machtgeil und machtversessen." Damit bestätigt man nur das Vorurteil, Politik sei ein schmutziges Geschäft. Natürlich gibt es auch da Fehler und Verfehlungen, aber die gibt es in allen Lebensbereichen. Ich ziehe jedenfalls meinen Hut vor Politikern, beispielsweise vor Kommunalpolitikern, die nicht abends vor dem Fernseher sitzen und ein Bierchen trinken, sondern sich um wichtige Fragen ihrer Gemeinden kümmern. So attraktiv ist selbst der nicht, denn ich sehe da keine Unternehmer mehr, keine Ärzte, keine Rechtsanwälte usw. So, als sei das alles nur ein Geschäft, schaut es also nicht aus. Da muss ich meine eigene Kaste schon auch einmal in Schutz nehmen - ohne sie jedoch heilig zu sprechen. Aber dieser Beifall, denn man immer und jederzeit bekommt, wenn man auf Politiker schimpft, ist falsch. Wenn man Beifall haben will, dann muss man nur sagen, die Politiker sind alle korrupt, sind alle faul und Versager. Dafür wird man immer Beifall bekommen. Wenn man dem aber nicht widerspricht, dann wird das politische Personal auch so, wie es eingeschätzt wird, dann werden sich die Menschen nicht mehr in der Politik engagieren. Deshalb widerspreche ich diesem Spießbürgervorurteil, das allerdings seinen Nachschub gelegentlich auch von ganz oben bekommt. Reuß: "Politik muss in ihrem Gestaltungsanspruch bescheidener werden", sagte Ihr Parteikollege Erwin Teufel, der Ministerpräsident von Baden- Württemberg. Sehen Sie das auch so? Speist sich also ein Teil der Kritik an der Politik auch aus deren Anspruch auf Omnipotenz? Wo haben Sie selbst Grenzen staatlich-politischen Handelns erlebt? Blüm: Diese Grenzen erlebe ich auch jetzt noch. Es gibt Anforderungen an die Politik, die der Politiker niemals erfüllen kann. Für die letzten Sinnfragen bin ich einfach nicht zuständig. Sein Leben zu ordnen ist keine Fremdveranstaltung: Es muss jeder die Verantwortung für sich selbst übernehmen – aber nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Deshalb bin ich auch gegen eine absolute Politisierung des Lebens. Eine ganz wichtige Grenze ist z. B. die Privatsphäre. Diktaturen haben ja die Privatsphäre nie akzeptiert. Es müssen also immer Mauern um die Privatsphäre gebaut werden: Die Politik ist nicht allzuständig und man darf auch nicht die Erwartung an sie richten, dass sie alles regelt. In der Sozialpolitik, also in meinem Bereich, können wir Hilfestellungen geben. Aber Nächstenliebe kann ich nicht befehlen: Nächstenliebe ist keine Sache von Paragraphen. Das schönste Gesetz ist nichts wert, wenn es nicht Menschen gibt, die es erfüllen. Noch so viel Geld ersetzt nicht menschliche Zuwendung: Die kann ich politisch nicht organisieren, denn das ist eine Frage der Erziehung, des Menschenbildes usw. Es gibt also sehr wohl Grenzen für die Politik. Dies heißt aber nicht, dass sich die Politik nur mehr als das Management für das Allernotwendigste begreift. Nein, so ist es auch nicht. Aber Politik gehört zum öffentlichen Bereich: Dort muss sie auch bleiben und darf nicht in den Privatbereich hineindrängen. Reuß: Das Dilemma der Politik ist ja auch, dass sie häufig in Unsicherheit entscheiden muss. Sie haben das mal mit Blick auf die Energiepolitik formuliert: "Kernenergie ist zu gefährlich, die Kohle zu schmutzig, das Öl verseucht die Weltmeere, die Windenergie ist zu wenig, die Sonnenenergie noch nicht reif. Was tun?" Wie haben Sie denn Entscheidungen getroffen? Blüm: Handeln, auch im Zustand von Unsicherheit! Wissen Sie, das ist auch der Unterschied zwischen der politischen Diskussion und der akademischen Diskussion. Platon konnte sein ganzes Leben lang über Wahrheit philosophieren und er ist darüber gestorben. Wenn ein Damm bricht, dann muss man jedoch handeln. Da müssen Sandsäcke hingeschleppt werden usw. Da kann man nicht die Seinsfrage stellen, da kann man nicht erst eine Enquetekommission einsetzen, die die beste Lösung sucht. Nein, da muss man handeln. Wenn ein Mensch ertrinkt, dann kann man ihm auch nicht Schwimmunterricht geben. Nein, da muss man handeln. Insofern handelt also die Politik auch mit dem hohen Risiko von Fehlhandlungen. Dies kann man nur umgehen, wenn man entweder gar nicht handelt; dies ist die Empfehlung der Menschen, die die weiße Weste als tägliches Kleidungsstück tragen. Nein, man macht sich schmutzig. Oder man handelt eben nicht. Das ist allerdings eine Form von Feigheit und ich halte nun einmal die Tapferkeit für eine wichtige politische Kardinaltugend. Man muss auch tapfer sein und handeln, selbst wenn man nicht weiß, ob es richtig ist. Man muss sich freilich um das Richtige bemühen. Aber selbst wenn man sich nicht hundertprozentig sicher ist, kann man doch nicht einfach sagen: "Na, dann lass ich die Welt halt absaufen!" Reuß: Ich würde hier gerne einen kleinen Schnitt machen und unseren Zuschauern den Menschen Norbert Blüm etwas näher vorstellen. Sie sind am 21. Juli 1935 im hessischen Rüsselsheim geboren. Ihr Vater war Kraftfahrzeugschlosser und Motorradrennfahrer. Wenn ich es richtig nachgelesen habe, dann fuhr er sogar in der Nationalmannschaft. Blüm: Ja, denn die gab es damals noch in diesem Sport. Reuß: Er war dann später auch noch Testfahrer bei Opel, Busfahrer usw. Wie sind Sie denn aufgewachsen? Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie war Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern? Blüm: Das war eine abnormale Kindheit, weil das eine Kindheit im Krieg war. Ich habe häufig den Wohnort gewechselt: Mein Vater war an der Front und meine Mutter war mit meinem kleinen Bruder, der acht Jahre jünger war als ich, alleine in Rüsselsheim. Ich habe also viele Nächte im Luftschutzkeller verbracht. Wir waren dann in Rheinhessen und auch in Bayern bei Verwandten: immer auf der Flucht vor den Bomben. Insofern weiß ich also, was ein Ausländerkind ist. Ich war häufig der Zugereiste, der erst um Anerkennung kämpfen musste. Ich kann mich daran erinnern, dass es damals im Schwarzwald, wo wir auch mal gelebt haben, einen ziemlich langen Schulweg runter ins Tal gegeben hat. Auf dem Heimweg habe ich an einem bestimmten Baum erst einmal jeden Tag von allen, die da mit dabei waren, meine Prügel bekommen. Nach 14 Tagen wurde dann gesagt: "So, jetzt bist du einer von uns!" Als Kind hat man da also schon viel Angst aushalten müssen, denn die anderen Kinder haben zu mir gesagt: "Wehe, wenn du deiner Mutter was sagst!" Also habe ich auf dem Heimweg immer gezittert, bis wir da an diesem Baum waren. Von wegen idyllische und sonnige Kindheit! So sonnig sind viele Kindheiten nicht, denn viele Kinder haben Angst. Es gibt große kindliche Ängste. Und man muss sich ja auch nur – womit freilich meine Kindheit nichts zu tun hatte – das Elend der Kinder in der Dritten Welt ansehen! Aber zurück zum Thema. Trotzdem war das nicht nur eine Kindheit mit Katastrophen und Ängsten. Ich hatte auch eine schöne Kindheit, weil ich mich immer auf meine Mutter verlassen konnte, und als der Vater wieder nach Hause gekommen ist, auch auf ihn. Das Wichtigste für ein Kind ist: Deine Mutter und dein Vater halten immer zu dir! Es kann passieren, was will, das bleibt so. Selbst dann, wenn ich im Gefängnis gelandet wäre, hätte meine Mutter immer zu mir gehalten. Das gibt Sicherheit. Reuß: Sie haben selbst einmal gesagt, Sie seien das Kind einer "Mischehe", denn die Familie Ihres Vaters war protestantisch, Ihre Mutter war katholisch. Sie selbst wurden katholisch erzogen und waren dann auch Ministrant, später Messdiener. Aber aus Ihrer kirchlichen Karriere ist nichts geworden. Warum? Blüm: Zuerst noch einmal zum ersten Teil Ihrer Bemerkung, denn den finde ich auch wichtig. Die Tatsache, dass meine Eltern verschiedene Konfessionen hatten, hat mir nämlich schon auch ein wichtiges Gepäckstück für mein Leben mitgegeben. Meine Mutter war streng katholisch, mein Vater war eher lau evangelisch. Trotzdem, an Weihnachten ist er immer mit zur Mette gegangen. Mich hat er auf dem Fahrrad morgens um halb fünf mitgenommen, damit ich bei der Messe im Krankenhaus ministrieren konnte und er ist dann weiter zu Opel. Ich habe dabei wirklich ganz wichtige Einsichten gelernt. Denn meine beiden Eltern hatten sich trotz des Konfessionsunterschieds lieb. Was lehrt uns das? Die Grenzen der Kirchen sind nicht die Grenzen der Liebe! Das ist der erste Punkt. Nun zu meiner kirchlichen Karriere: Das hatte einfach mit einer ganz bestimmten, hm, sagen wir mal, bestimmten Gaudi zu tun. Ich war damals Friedhofsmessdiener. Das war eine heiß begehrte Angelegenheit, denn wenn die Beerdigung morgens stattfand, hatte ich deswegen schulfrei! Wenn die zurückgebliebenen Verwandten ein bisschen Geld hatten, dann hat man auch ein schönes Honorar bekommen für seine Arbeit. Wir waren dabei immer zu dritt: ein Weihrauchfassträger – das war ich –, ein Kreuzträger und ein Schiffchenträger, in dem der Weihrauch drinnen ist. Diese Posten hatten sich daher durchaus gegen Konkurrenz zu wehren. Aber das haben wir gut abwehren können. Nur, eines Tages bin ich mal auf die Idee gekommen, diese würdige Weihrauchzeremonie etwas aufzumischen, indem ich meinem Weihrauchschiffchenhalter Schwarzpulver unten den Weihrauch gemischt habe. Das Schwarzpulver war damals leicht zu beschaffen: Man musste nur von der herumliegenden Munition den Bleikopf entfernen und schon hatte man das Schwarzpulver. Ich habe ihm also das untergemischt, er wusste allerdings von der Sprengkraft seiner Ladung nichts. Es kam dann immer – zumindest damals – die Stelle: "Mit himmlischem Wohlgeruch erfülle deine Seele!" Und dann wurde das Weihrauchfass über dem Sarg geschwenkt und die Duftwolken entströmten dem Weihrauchfass. Bevor das geschehen konnte, musste jedoch der Pfarrer auf die glühende Kohle den Weihrauch geben. Der Pfarrer nahm also sein Löffelchen und tat Weihrauch auf die glühende Kohle – und es entstand eine Stichflamme, die den Pfarrer etwas verändert hat, jedenfalls sein weißes Hemd. Der an der Stirnseite des Grabes stehende Kreuzträger fiel vor lauter Lachen in das offene Grab. Die am Grab stehenden Hinterbliebenen bekamen einen gehörigen Schreck, weil sie dachten, der Opa hätte noch einmal zugeschlagen und ihre Erbschleichereien durchschaut. Der Pfarrer jedoch hat ungerührt seine Zeremonie zu Ende gebracht. 20 Meter hinter dem Grab hat er mich dann allerdings verschlagen, weil er mich sofort als Täter verdächtigt hatte. Mir ist auch bald klar geworden, worin mein Fehler gelegen hatte und warum er diese Spur so schnell erkennen konnte. Ich hatte alles gut vorbereitet und alles gut durchdacht, nur an einer Stelle habe ich einen Fehler gemacht: Ich habe das Weihrauchfass entgegen meiner sonstigen Gewohnheit ziemlich weit weg gehalten – weil ich ja wusste, was jetzt gleich passieren wird. Insofern hat er mich also ganz richtig erwischt. Es gab dann seinerseits nur eine Antwort auf mein Verhalten: Entlassung! Und so endete meine Messdienerkarriere. Und damit fiel eine wichtige Brotquelle aus, nämlich das Einkommen aus dieser Tätigkeit. Ich blieb von da an nur noch Laie. Wenn das nicht passiert wäre, wenn es das Schwarzpulver nicht gegeben hätte, dann wäre ich auf dieser kirchlichen Hierarchie vielleicht weiter nach oben gewandert. Man weiß nicht - Bischof, Kardinal? So aber war das Schwarzpulver der Grund dafür, dass meine kirchliche Karriere so abrupt endete. Reuß: "Wer ist sich seines Glaubens schon so sicher, dass er sich damit schmücken könnte?", haben Sie einmal geschrieben. Allerdings gelten Sie doch, wenn man über Sie nachliest, als ein sehr gläubiger Mensch. Was bedeutete Ihnen Ihr Glaube? Welche Rolle spielte er auch in Ihrem politischen Tun? Blüm: Ich kann nur sagen, dass für mich der Pharisäer eine abschreckende Gestalt ist, wenn einer z. B. immer wieder sagt: "Ich faste drei Mal täglich, ich gebe immer meinen Zehnten usw." Mit so etwas kann ich und will ich auch gar nicht protzen. Gläubige Menschen müssen nicht bessere Menschen sein. Aber da wir Menschen nicht alles können, ist es gut zu wissen, dass wir auch nicht alles machen müssen. Da unser Leben kurz ist, jedenfalls begrenzt ist, müssen wir auch nicht den Ehrgeiz haben, in diesem einen Leben alles zu erledigen. Und diese Einschränkung unseres Lebens – vita brevis – lässt sich leichter ertragen, wenn man weiß: "Das ist noch nicht alles, es gibt noch mehr!" Das entspannt etwas. Man muss also in den 70, 80, 90 Jahren seines Lebens nicht alles erledigen, was es zu erledigen gibt. Und selbst – aber jetzt werde ich sehr pathetisch – wenn ich das sage, gibt es Gnade. Man muss nicht Olympiasieger werden, um von Gott geliebt zu werden. Reuß: Kommen wir zurück zu Ihrer Biographie. Sie haben die Volksschule besucht und dann mit 14 Jahren eine Lehre bei der Adam Opel AG zum Werkzeugmacher gemacht. Werkzeugmacher klingt heute nach Hammer, nach Schraubenschlüssel usw. Was ist denn eigentlich ein Werkzeugmacher? Blüm: Das stimmt, der Name führt hier in die Irre. Der Werkzeugmacher ist kein Hersteller von Hammer, Meißel oder Schraubenzieher. Die Werkzeuge, die er herstellt, sind die Bestandteile einer Maschine, z. B. einer Presse. Wenn bei Opel die Dächer oder die Kotflügel gepresst werden, dann gibt es eine Pressmaschine, die das mit großer Kraft macht. Das Werkzeug an dieser Pressmaschine ist Werkzeugmacherarbeit. Das ist also ein Beruf, der mit Schlosserei zu tun hat. Ein schöner Beruf. Reuß: Sie sind dann relativ schnell als Jugendlicher mit 14, 15 Jahren in die IG- Metall eingetreten – und auch in die CDU. Nun würde man ja, wenn man so Ihre Biographie nachliest, zu dem Schluss kommen können, dass Sie als klassisches Arbeiterkind, das gewerkschaftlich organisiert ist, eigentlich eher zur SPD hätten neigen müssen. Was hat denn den Ausschlag für die CDU gegeben? War das Ihr Glaube? Blüm: Wie meistens im Leben war auch das nicht das Ergebnis von nächtelangem Nachdenken. Ich war Pfadfinder, ich war sogar überzeugter Pfadfinder. Wir haben die Bewerbung zur Jugendvertreterwahl als Pfadfinder eigentlich so gemacht, wie wir Geländespiele gemacht haben: mehr als Gaudi. Und glücklicherweise oder vielleicht auch unglücklicherweise haben wir, die Pfadfinder, diese Jugendvertreterwahlen dann auch noch gewonnen. Ich habe eigentlich sehr schnell entdeckt, dass die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen kein Geländespiel ist, sondern eine ganz ernsthafte Sache, und dass man dafür wirklich Gewerkschaften braucht. Deshalb bin ich damals als Erstes in die IG-Metall eingetreten. Aber ich war halt auch Pfadfinder: Da lag der Weg vom katholischen Pfadfinder zur christlichen Betriebsgruppe näher als zur Sozialdemokratie. Insofern vertrug sich das beides sehr wohl. Ich würde im Nachhinein auch bestreiten, dass die Sozialdemokraten das Monopol auf die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen haben. Dies war freilich früher schwieriger zu behaupten. Heute ist das etwas leichter. Aber damals gab es sehr wohl diese Hackordnung: Ein Arbeiter muss in der SPD sein. Es gab allerdings auch die Affinität, dass ein Katholik in der CDU sein müsse. Diesen Konflikt habe ich eigentlich leicht entscheiden können: Ich war in der CDU ein Katholik, der sich der IG-Metall angeschlossen hat. Reuß: Sie haben dann das Abendgymnasium besucht und das Abitur gemacht. Anschließend haben Sie studiert, und zwar als Stipendiat der VW-Stiftung. Sie haben in Köln u. a. Philosophie, Germanistik, Geschichte, Theologie, Soziologie studiert. 1967 haben Sie dann zum Dr. phil. promoviert. Eine Person, die Sie damals kennen gelernt und dann an die 40 Jahre lang regelmäßig getroffen haben, muss Sie damals sehr nachhaltig beeindruckt haben: Das war der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning. Was hat Sie an ihm so beeindruckt? Blüm: Seine Schlichtheit und seine Intellektualität. Das passt so auf den ersten Blick schlecht zusammen; man meint, das wären Gegensätze. Er jedoch konnte ganz komplizierte Sachen auf ganz einfache Fragen zurückführen. Das ist eine große Kunst. Und er war ein leidenschaftlicher und unbestechlicher Kämpfer für Gerechtigkeit. Er war ein Freund der Gewerkschaften, der aber den Gewerkschaften harte Wahrheiten ins Stammbuch geschrieben hat. Er war aber auch als Ratgeber der Arbeitgeber geschätzt. Und er war ein Mann, der fromm war. Ich habe ihn noch 14 Tage vor seinem Tod besucht, nicht wissend, dass das unser letztes Zusammentreffen ist. Dabei hat er zu mir gesagt: "Jetzt werden Sie gleich mal sehen, wie ein großer Geist zerfallen ist!" Was sagt man in so einer Situation? Das ist einem ja peinlich. Ich sagte also: "Aber Herr Pater, wir kennen uns doch schon 36 Jahre lang." "37 Jahre!", meinte er. Am Schluss dieses Gesprächs, das ich noch sehr gut in Erinnerung habe, meinte er: "Ich bin zu nichts mehr nütze. Ich kann nur noch jeden Tag die Messe lesen!" Er war zu diesem Zeitpunkt bereits 102 Jahre alt! "Und wenn ich das nicht mehr kann, dann fahre ich zum Herrgott ab, ab, ab!" 14 Tage später ist er nachts gegen zwei Uhr aus dem Bett gefallen. Seine Mitbrüder haben ihn dann morgens völlig unterkühlt vor seinem Bett liegend entdeckt. Sie wickelten ihn in warme Decken und legten ihn wieder ins Bett. Nell sagte daraufhin: "Aber ich muss doch Messe lesen!" "Heute nicht", wurde ihm geantwortet. Am Nachmittag dieses Tages, dem ersten Tag in seinem Priesterleben, an dem er keine Messe gelesen hat, ist er gestorben. Ich weiß noch ein paar schöne und ganz typische Sachen von ihm. Als er 100 Jahre alt wurde, war bei ihm quasi die ganze Bundesrepublik versammelt. In seiner Rede hat er dann gesagt: "Heute morgen hat mich Radio Vaticano angerufen und mich gefragt, was ich denn der nachfolgenden Theologengeneration als Botschaft zurücklassen könne. Ich verstehe doch schon die Gegenwart nicht mehr, was soll ich denn zur Zukunft sagen? Aber vielleicht gibt es Sache, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtig sind." Die ganze Versammlung denkt, nun kämen die großen Wahrheiten. "Es gilt immer: Versuche im Argument deines Gegners das Körnchen Wahrheit zu finden, das jede wirkmächtige Häresie beinhaltet. Dies aus drei Gründen. Erstens, du verstehst den Gegner besser. Zweitens, du verstehst dich besser. Drittens" – Nell hatte ja immer Angst vorm Pathos, aber alle Zuhörer dachten, dass nun unter Drittens der Höhepunkt seiner Aussage kommen müsse, es kam aber der Kalauer –, "der Gegner denkt auch noch, du wärst fair!" Das war ganz typisch für ihn: Die Wahrheit musste bescheiden rüberkommen. Damit sie ihm nicht ins Pathos abrutschte, kam als Abbinder immer so ein Kalauer bei ihm. Das war Nell. Und übrigens, das ist doch eine große Weisheit: Versuche immer, den Gegner nicht nur zu widerlegen, sondern im Argument deines Gegners auch das zu finden, worin er Recht hat. Wo ist das Körnchen Wahrheit, das ihn eigentlich bewegt? Das ist für mich nicht nur eine Frage der Liebe gegenüber den Menschen, sondern auch der Anerkennung des anderen. Reuß: Sie waren dann bereits als Werkstudent bei der CDA, der Christlich- Demokratischen Arbeitnehmerschaft, also den Sozialausschüssen der CDU. Sie waren dort in der Zeitschrift "Soziale Ordnung" der CDA dann auch Redakteur. Sie waren Hauptgeschäftsführer und später Landesvorsitzender der CDA in Rheinland-Pfalz und wurden schließlich im Jahr 1977 Bundesvorsitzender der CDA. Dies blieben Sie bis 1987, bis Sie das Amt des CDU-Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen übernahmen. Sie waren damals schon Bundesminister, sagten aber dennoch: "Das schönste Amt von allen war das des Vorsitzenden der Sozialausschüsse." Warum war das so? Blüm: Ich habe den Landesvorsitzenden der CDU in Nordrhein-Westfalen mehr aus der Einsicht heraus gemacht, dass das in dieser Situation eben notwendig sei. Aber ein Vorsitzender muss halt immer auch ausgleichen. Er ist eigentlich der verkörperte Kompromiss. Ich weiß ja, dass Kompromisse nötig sind. Aber lieber ist mir schon, ich kann einen Standpunkt ungeschmälert vertreten. Es muss auch Leute geben, die die Fäden zusammenbringen, die die Fäden zusammenknüpfen. Aber ein Kompromiss ist nur dann ein wirklicher Kompromiss, wenn in ihn auch Standpunkte eingehen. Meine Vorliebe ist eigentlich mehr die Formulierung von Standpunkten. Auch ein Arbeitsminister muss Kompromisse schließen. Ich betrachte also Kompromisse nicht abschätzig, ich halte den Kompromiss für die größte Erfindung der Menschheit, nur noch der Erfindung des Rades vergleichbar. Denn ein Kompromiss kommt nur dann zustande, wenn man auch mit dem Kopf des anderen denkt, wenn also jeder sein Gesicht wahren kann. Also ist der Kompromiss etwas ganz Wertvolles. Aber meine Neigung geht eben doch in eine andere Richtung. Ich schließe Kompromisse aus Einsicht, aus Pflichtbewusstsein, aber mit Lust und Laune bin ich eher beim Rambazamba mit dabei, bei dem, was dem Kompromiss vorhergeht. Reuß: Dies nicht nur gegenüber Feinden, sondern auch gegenüber Freunden. Dies haben Sie bewiesen, als Sie 1972 in den Bundestag kamen. Das war damals diese große "Willy-Wahl", in deren Zentrum die Ostpolitik stand. hat damals die SPD zu ihrem größten Wahlerfolg geführt: Sie wurde erstmals stärkste Partei im Bundestag. Entgegen der Haltung Ihrer Partei, der CDU, haben Sie z. B. schon sehr früh die Oder-Neiße-Grenze als Ostgrenze anerkannt. Sie haben gemeint, dass man das anerkennen müsse, dass sich daran nichts mehr ändern werde. Sie haben sich, obwohl die CDU/CSU-Bundestagsfraktion festgelegt hatte, gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR zu stimmen, dazu entschieden, gegen Ihre Fraktion und für den Grundlagenvertrag zu stimmen. Ich glaube, es gab damals in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vier Abgeordnete, die so wie Sie abgestimmt haben. Das war doch ein Verstoß gegen die Fraktionsdisziplin. War das für Sie schwer? Gab es danach auch Ärger und Probleme für Sie? Blüm: Ach, da war ich nicht auf Rosen gebettet, was ich allerdings verstehen kann, denn so etwas hat keine Fraktion gerne. Und ich halte normalerweise auch selbst sehr viel von Fraktionsdisziplin, denn sonst bricht eine Fraktion ja ganz auseinander. Aber es gibt Punkte, bei denen man sagen muss: "Hier ist der Kompromiss zu Ende!" Ich bin auch im Nachhinein immer noch der Meinung, dass dieser Grundlagenvertrag richtig gewesen ist, um nämlich den Kontrahenten auf der anderen Seite Deutschlands zu sagen: "Hör auf mit deiner Polemik, wir wollten dich fressen!" Insofern habe ich die Brandt'sche Ostpolitik von Anfang an unterstützt: die Brücke, die Adenauer zum Westen geschlagen hatte, zu ergänzen durch eine Brücke nach Osten. Ich habe allerdings heute noch genauso wie damals auch eine starke Kritik an dieser Ostpolitik: Sie war eine Politik auf der Ebene der Regierungen, sie hat die oppositionellen Gruppen im Osten umgangen. Bei allem Respekt vor Willy Brandt, aber er hat Lech Walesa nicht die Hand geschüttelt. Unter den Gesichtspunkten von Staatsräson und Diplomatie mag das richtig gewesen sein. Aber damals wie heute bin ich der Meinung, dass Entspannung nicht auf Kosten derjenigen gehen darf, die für die Menschenrechte eintreten. Dies hat meine Entscheidung hinsichtlich des Grundlagenvertrags nicht entscheidend getrübt: Ich habe mich in dieser Situation dazu entschlossen, mit Ja zu stimmen. Aber ich bin eben auch zu Lech Walesa gefahren. Denn so etwas war und ist ja auch ein Stück Lebensschutz für solche Leute. Solche Gruppen überleben nur, wenn sie im Lichtkegel der Weltöffentlichkeit stehen - wobei die Lebensrettung von Walesa nicht vom Besuch durch Norbert Blüm abhängig gewesen ist. Stattdessen bestand seine Lebensrettung darin, dass der Papst seine Hand über ihn gehalten hat. Ohne das Überleben von Walesa hätte es keine Solidarnosc-Bewegung gegeben. Und ohne Solidarnosc hätte es möglicherweise keine deutsche Einheit gegeben. Denn das war der Anfang vom Ende eines waffenstrotzenden Sozialismus: der Aufstand der Menschen gegen diese Diktatur. Reuß: Sie kamen, wenn ich jetzt einen großen Sprung machen darf, noch einmal sehr nahe ran an diese Ostpolitik, denn 1981 wurde Richard von Weizsäcker regierender Bürgermeister in . Er hat Sie damals in seinen Senat berufen. Zu Beginn war das, wenn ich das richtig weiß, sogar ein Minderheitssenat. Sie wurden nicht, wie viele angenommen hatten, Senator für Soziales, sondern Sie wurden Senator für Bundesangelegenheiten und waren damit auch für die Deutschlandpolitik zuständig. Blüm: Ja. Reuß: Sie mussten dafür allerdings, was nicht ganz einfach gewesen sein mag, Ihr Bundestagsmandat aufgeben. Ihre Frau soll damals gesagt haben: "Ja, der Parteisoldat!" Ist das so? Sind Sie ein Parteisoldat? Blüm: Ja, bin ich. Parteien brauchen Parteisoldaten, denn eine Partei ist keine Ansammlung von Solisten. Ich gebe zu, dass mir das damals schwer gefallen ist. Aber das war auch eine Herausforderung, weil das ein Gebiet war, auf dem ich gar nicht zu Hause gewesen bin. Das finde ich aber auch gut, denn ab und zu muss man sich selbst schon auch aus der Routine herauskatapultieren. Man darf sich nicht ausschließlich in das eigene Fachgebiet einsperren lassen. Ich fand das jedenfalls eine gute Schule. Das war ja eine ganz andere Welt, die Deutschlandpolitik: mit Feinheiten, über die man heute nur noch staunen kann. Ich habe z. B. wochenlang meine ganze Arbeitskraft in die Frage investiert, wo, an welcher Stelle die Gasleitung aus der Sowjetunion an Westberlin übergeben wird. Das war nämlich eine Statusfrage: Zwei Zentimeter vor der Grenze? Unter der Mauer? Damit haben sich damals ganze Spezialistenkolonnen befasst. Das kann man aus heutiger Sicht nur noch mit Fragen vergleichen wie "Wie viele Engel tanzen auf einer Schwertspitze?". Damals aber war jeder Schritt in der Deutschlandpolitik eine von der Choreographie vorgeschriebene Ballettaufführung. Das war ich aus der Sozialpolitik nicht so gewohnt gewesen: Da geht es mehr mit dem Hammer zu. Aber in der Deutschlandpolitik war das schon eher Feinmechanikerarbeit. Reuß: Im September 1982 brach dann die sozial-liberale Koalition in auseinander. Über das konstruktive Misstrauensvotum wurde Helmut Kohl Bundeskanzler. Er hat Sie zum Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung berufen. War das für Sie ein Traumjob gemäß Ihrem bisherigen Werdegang? Blüm: Ja. Reuß: Sie haben dann ja auch vieles durchgesetzt wie z. B. die Kindererziehungszeit im Rentenrecht. Sie haben das Erziehungsgeld eingeführt, Sie haben das Kindergeld erhöht usw. Dennoch waren Sie anders als Ihre Vorgänger in der Pflicht: Sie konnten nicht nur das Schöne machen, nämlich das soziale Netz immer enger knüpfen, sondern Sie mussten erstmals auch wieder Maschen aufknüpfen. Aufgrund Ihrer Herkunft in den Sozialausschüssen und Ihrer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft standen Sie ja den Arbeitnehmern sehr nahe, Sie waren Jugendvertreter bei Opel gewesen usw.: Ist Ihnen das schwer gefallen? Hatten Sie in Ihrer Anhängerschaft nicht hohe Erwartungen geweckt aufgrund Ihres Werdegangs, Erwartungen, die Sie dann auch ein Stück weit enttäuschen mussten? Blüm: Im Rückblick kann ich ja nur staunen, wenn heute gesagt wird, es gäbe einen Reformstau, weil 16 Jahren lang unter der Regierung Kohl nichts gemacht worden wäre. Ich bin aber doch von einer Protestversammlung zur anderen gereist. Die faulen Eier sind mir in Kiel, in Konstanz, in ganz Deutschland entgegengeflogen, und zwar wegen höchst unpopulärer Sachen. Wir haben z. B. den Krankenversicherungsbeitrag für die Rentner eingeführt, von Brutto auf Netto umgestellt bei der Rentenberechnung. Wir haben das Arbeitslosengeld gekürzt usw. Aber all diese Dinge waren einfach notwendig, denn bezahlt wird das alles ja nicht vom lieben Gott, sondern von den Beiträgen der Arbeitnehmer. Ich habe eine Krankenversicherungsreform gemacht, die damals immerhin zu einer Beitragssenkung geführt hat: im ersten Jahr zu einer Senkung um 0,8 Prozentpunkte. So etwas ist nie wieder vorgekommen seitdem. Allerdings hatte ich damals mit so gut wie allen Streit deswegen: mit den Ärzten, mit der Pharmaindustrie, mit den Krankenkassen, den Gewerkschaften, den Arbeitgebern, den Steinmetzen auf den Friedhöfen, den Taxifahrern usw. Aber wenn man nicht bereit ist, mit allen Krach zu haben, dann darf man das nicht anfangen. Ich weiß noch, dass damals die Apotheker wochenlang eine Figur in ihren Läden stehen hatten, eine Figur, die meine Kinder sehr amüsiert hat. Das war ein Blüm-Kopf, der aus Schaumgummi gemacht war. Um Aggressionen abzubauen, konnte man also in den Apotheken auf diese Figur hauen. Die Apotheker haben das für besonders originell in ihrem Kampf gegen Blüm gehalten. Sie hatten aber nicht bedacht, dass dieser Schaumstoff nach jedem Schlag wieder hochgeht und so aussieht wie vorher. Und deswegen habe ich dieses Spielzeug sehr gemocht. Was die Pharmaindustrie damals gemacht hat, vergesse ich ihr bis heute nicht. Sie hat damals den Satz in die Welt gestellt: "Wegen dieser Reform gibt es keine Medikamente mehr für Aids- und Krebskranke!" Das werde ich denen nicht vergessen. Das ist nämlich die Taktik, mit der Angst vor dem Tod seine eigenen Interessen zu vertreten. Das war, wie jedermann weiß, eine Lüge, denn es gab auch weiterhin Medikamente für diese Menschen. Das waren also schon recht harte Kämpfe. Einerseits musste ich also sparen, andererseits habe ich aber auch neue Notwendigkeiten erkannt wie z. B. die Pflegeversicherung oder, endlich, das Anerkennen der Erziehungsarbeit der Mütter bei der Alterssicherung. Das Letztere war kein Akt der Barmherzigkeit, sondern lediglich gerecht, denn die Kinder von heute sind die Beitragszahler von morgen: Sie zahlen nämlich auch die Beiträge für die Rente derjenigen, die keine Kinder haben. Insofern waren das wirklich Weichenstellungen. Reuß: Sie haben die Gesundheitsreform im Konflikt mit der Opposition durchgesetzt, die Rentenreform im parteiübergreifenden Konsens. Sie haben damals bei der Rente einen Satz plakatiert, der Sie bis heute verfolgt. Der Satz damals hieß: "Die Rente ist sicher!" Sie haben aber selbst auch gesagt: "Kein System der Welt hält längere Schulzeiten, kürzere Erwerbsphasen, früheres Renteneintrittsalter und höhere Lebenserwartungen aus. Wir haben die ältesten Studenten und die jüngsten Rentner." Hinzu kommt ja auch noch das demographische Problem: Wir werden immer älter, es kommen immer weniger Jüngere nach. Würden Sie diesen Satz, "Die Rente ist sicher!", heute auch noch einem 40- oder 25-Jährigen sagen? Hat so jemand eine Chance, für seine Beiträge eine angemessene Gegenleistung zu bekommen? Blüm: Diesen Satz würde ich auch heute noch sagen, und zwar so wie damals, denn das war ja ein Satz, der im Zusammenhang mit schweren Reformen stand, die die Sicherheit der Renten herstellen sollten. Ich sage diesen Satz auch deshalb heute noch, weil ich kein besseres System kenne als dieses. Und es braucht endlich auch Verteidiger dieses Systems. Ich habe ja nichts gegen private Ergänzungen und Kapitaldeckung. Aber so sicher wie die Rente ist das alles nicht. Wer das bezweifelt, muss sich mal die Geschichte der letzten hundert Jahre ansehen. Die Rente ist immer gezahlt worden. Die Privatversicherung hat nicht immer gezahlt, ihre Beitragssteigerungen – hier komme ich wirklich in Fahrt – sind größer und höher als die der Rentenversicherung. Sie kürzt Leistungen: Darüber redet kein Mensch! Auf dem deutschen Kapitalmarkt sind in 18 Monaten 600 Milliarden Euro durch den Kamin gerauscht! Eine börsenorientierte Alterssicherung ist mit Sicherheit nicht so stabil wie unser Rentensystem. Unser Rentensystem muss allerdings angepasst werden: Es braucht Reformen, weil es heute eine längere Lebenserwartung und den bekannten demographischen Faktor gibt. Gegen alles Geschrei der damaligen Opposition haben wir damals genau diesen demographischen Faktor eingeführt. Herr Schröder hat ihn kraftmeierisch zuerst einmal wieder abgeschafft. Aber jetzt, nach fünf Jahren, führt er ihn wieder ein. Das ist eine Zickzack-Politik. Ich würde gerne noch etwas hinzufügen. Ich habe diesen Satz damals auch im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gesagt. Ich weiß einfach, dass es da eine Generation von alten Menschen gegeben hat, die sehr viel Angst hatte. Sie wussten nämlich nicht, wie es mit ihrer Rente weitergehen wird. Sie waren nämlich in ihrem Leben, mit Verlaub gesagt, mehrmals beschissen worden: von Hitler und von Ulbricht. Und diesen Leuten zu sagen: "Dieses neue deutsche Dach über dir wird dir eine sichere Rente bezahlen!", war ein Gebot der innerdeutschen Solidarität. Ich sage diesen Satz von der Sicherheit der Rente auch deshalb heute noch, weil es einfach auch ein paar Leute geben muss, die dieses System verteidigen. Wie gesagt, dieses System muss allerdings angepasst werden, es muss z. B. den demographischen Veränderungen angepasst werden. Und ohne Arbeit ist alles nichts! Also ist die erste und wichtigste Frage, wie wir wieder zu Arbeit für alle kommen. Denn bezahlt wird zu guter Letzt immer und alles aus der Arbeit. Maschinen kann man im Übrigen nicht essen. Reuß: Reform ist ja eigentlich ein positiv besetztes Wort. Heißt Reform aber nicht doch letztlich Rückbau? Müssen wir uns nicht darauf einstellen, dass wir mehr bezahlen müssen bei allenfalls gleich bleibender, wenn nicht sogar rückläufiger Leistung? Wenn das so wäre, warum wird das nicht so deutlich gesagt? Blüm: Tja, wenn man sich die Diskussionen von früher so ansieht, dann stellt man sehr leicht fest, dass ich immer anrennen musste gegen diejenigen, die diese Notwendigkeit nicht akzeptiert haben. Heute tun sie freilich so, als wären sie immer schon für Veränderungen gewesen. Aber es ist richtig, was Sie sagen. Wobei das mit den Veränderungen schon auch ein bisschen in den Proportionen gehalten werden muss. Meine Mutter und mein Vater haben vor 40 Jahren einen Beitragssatz von zehn Prozent in die Rentenkassen einbezahlt. Hurra! Ihre Enkel zahlen heute rund 20 Prozent, also das Doppelte. Ich will hier nur auf Folgendes aufmerksam machen: Obwohl sie damals im Vergleich zu heute nur die Hälfte des Prozentsatzes an Beitrag gezahlt haben, war ihr Lebensstandard damals ganz klar niedriger als der Lebensstandard der Beitragszahler heute. Diese 90 Prozent, die sie – in diesem Sinne – von ihrem Lohn behalten konnten, bedeuteten weniger Wohlstand als die 80 Prozent, die heute übrig bleiben. Das wollen wir also alles mal in Schach und Proportionen halten. Natürlich können die Beiträge nicht ins Unermessliche steigen. Trotzdem ist doch auch der Wohlstand gestiegen. Das frei verfügbare Einkommen meiner Eltern war trotz geringerer Beitragsbelastung wesentlich geringer als das heutige. Das heißt nicht, dass man die Beitragsentwicklung einfach so laufen lassen könnte. Aber wenn weniger Kinder geboren werden, dann ist nicht nur das Rentensystem in Gefahr. Und selbst wenn die doppelte Anzahl von Kindern geboren würde, aber diese Kinder morgen keine Arbeit hätten, dann wäre damit ebenfalls gar nichts gewonnen. Also geht es immer um die Arbeit! Reuß: Eine letzte Frage, mit der ich zum Schluss gerne noch einmal zum Menschen Norbert Blüm zurückkommen würde. Sie sind verheiratet, haben einen Sohn und zwei Töchter. Wie wichtig ist Ihnen Ihre Familie? Hatten Sie in immer genügend Zeit für Ihre Familie? Oder ist da leider doch manches ein bisschen zu kurz gekommen? Blüm: Ja, ich habe heute mehr Zeit für meine Enkel als damals für die eigenen Kinder. Aber bei uns war schon immer Rambazamba. Ich meine, es hängt ja auch nicht nur von der Zeit ab, die man mit den Kindern verbringt, wie intensiv das Verhältnis zu ihnen ist. Natürlich war das nicht immer nur ein heiteres Umarmen. Aber es war immer schön. Kinder sind wirklich ein ungeheurer Reichtum. Ich hatte allerdings einen kleinen Vorteil. Weil Bonn damals noch Hauptstadt gewesen ist und ich in Bonn gewohnt habe, war ich zwar insgesamt wenig zu Hause, dafür aber regelmäßig. Nachts war ich immer da und morgens beim Frühstück meiner Kinder war ich auch immer da: zwar muffig und nicht sehr gesprächig, aber ich wusste immer, was gespielt wird. Reuß: Unsere Sendezeit ist zu Ende, ich darf mich ganz herzlich bedanken für das sehr, sehr angenehme Gespräch. Ich würde gerne, wenn Sie erlauben, mit zwei kurzen Zitaten über Sie enden. Das eine Zitat stammt von , Ihrem Nachfolger als CDA-Vorsitzender. Er sagte: "Norbert Blüm tritt für eine Sache mit Charme und dem Willen zum Kompromiss, aber bis zur Selbstverleugnung ein. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass es in der Welt nicht einfach nur schwarz und weiß gibt, sondern dass sich eine richtige Lösung von einer unrichtigen oft nur dadurch unterscheidet, dass für die eine 51 und für die andere 49 Prozent sprechen." Und Pater Basilius Streithofen meinte, "Norbert Blüm ist ein ernst-heiterer Mensch", und erklärte dazu: "Ernst-Heiterkeit ist mehr als nur Humor. Tränen und Lächeln, Fröhlichkeit und Geduld gehören ebenso dazu." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Dr. Blüm. Verehrte Zuschauer, das war unser Alpha- Forum, heute mit Dr. Norbert Blüm, dem langjährigen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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