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Sendung vom 21.12.2004, 20.15 Uhr

Horst Seehofer Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum Alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist . Er ist Mitglied des Deutschen Bundestages, dort stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er ist auch stellvertretender Vorsitzender der Christlich-Sozialen Union, der CSU, und er war Bundesgesundheitsminister in den Jahren von 1992 bis 1998. Ich freue mich, dass er heute hier ist. Ganz herzlich willkommen, Herr Seehofer. Seehofer: Grüß Gott. Reuß: "Politik ist die Kunst, dem lieben Gott so zu dienen, dass es dem Teufel nicht missfällt", lautet ein Bonmot. Was ist denn Politik für Horst Seehofer? Seehofer: Heutzutage ist das einfach das Managen der Lebensbedingungen für die Menschen. Das heißt, der große Systemwettstreit der vergangenen Jahrzehnte - kommunistische Planwirtschaft versus soziale Marktwirtschaft - ist entschieden und deshalb geht es heute nicht mehr um die großen Systemauseinandersetzungen, sondern schlicht und einfach darum, die Lebensbedingungen der Menschen zu organisieren, zu managen und sie, wo immer möglich, zu verbessern. Reuß: Sie haben einmal gesagt, Politik sei für Sie so etwas wie eine Sucht. Was macht denn den Suchtcharakter der Politik aus? Ist das die Macht? Ist das die Popularität? Ist das die Möglichkeit, gestalten zu können? Seehofer: Das ist bestimmt eine Mischung aus diesen drei Dingen. Ohne Zweifel hat ein Politiker Macht, übrigens auch in der Opposition. Macht gibt einem die Möglichkeit, etwas nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Die Lebensbedingungen für 82 Millionen Menschen beeinflussen zu können, die Regeln dafür gestalten zu können, das ist schon etwas, das faszinierend ist. Der andere Punkt ist auch nicht zu unterschätzen. Er wird zwar von Politikern oft bestritten, aber er spielt eine ganz große Rolle: die Stellung des Politikers in der Öffentlichkeit, seine Popularität, sein Bekanntheitsgrad, die Insignien der Macht, die Redenschreiber, die, falls notwendig, Sicherheitsbeamten usw. All dies übt ohne Zweifel auch eine faszinierende Wirkung aus. Zusammen mit der Macht, die man als Politiker hat, kann das in der Tat so etwas wie eine Sucht auslösen. Reuß: "Ich lasse mich nicht verbiegen und lasse mir auch prinzipiell vom Vorsitzenden nicht mehr vorschreiben, was ich zu denken habe, wenn ich prinzipiell anderer Meinung bin." Auch diesen Satz haben Sie gesagt: Wie viel Freiheit kann man sich denn als Volksvertreter erlauben? Man ist ja immerhin eingebunden in eine Partei, in Gremien, in die Fraktion usw. Gilt man da nicht schnell als Querulant, wenn man von der Fraktionsdisziplin abweichen möchte? Seehofer: Sich in der Politik eine eigene Meinung zu leisten, ist ein sehr gefahrenträchtiger Vorgang. Viele Kollegen stufen das ein als Profilierungssucht, als Profilierung zu Lasten der Gesamtheit. Und deshalb haben wir gerade in unseren Tagen die Erscheinung, dass sich um die Führer in den Parteien meistens die Opportunisten versammeln. Es werden keine eigenen Profile mehr deutlich, wie das noch in den siebziger und achtziger Jahren der Fall gewesen ist. Natürlich kann man sich eine eigene Meinung um so mehr leisten, je stärker man selbst etabliert ist. Das gehört auch zur Wahrheit. Ich leiste mir diese eigene Meinung vor allem seit meiner schweren Erkrankung vor zwei Jahren. Wenn man monatelang ans Bett gefesselt ist, dann fasst man natürlich auch Vorsätze für den Fall, dass man wieder mitmachen kann. Und einer meiner Vorsätze war: Ich handle in der Politik in substantiellen Fragen nicht mehr gegen meine eigene Überzeugung. Ich habe ein, zwei politische Entscheidungen ertragen in den neunziger Jahren, die sich später dann als fundamental falsch herausgestellt haben. Ich habe also die Loyalität gegenüber denen, die entschieden hatten – damals waren das und Wolfgang Schäuble –, höher eingestuft als meine eigene Überzeugung. Das war beispielsweise beim Eingriff in die Lohnfortzahlung der Arbeitnehmer so gewesen. Und prompt ging es ab diesem Zeitpunkt politisch bergab mit der damaligen Regierung. Ich habe mir also einfach vorgenommen: Wenn es um substantielle Dinge für unser Land geht, dann werde ich nicht mehr aus reiner Loyalität Dinge mit vertreten, die ich für falsch halte. Reuß: Sie erlauben sich diese Kritik: Sie haben Kritik geübt am so genannten Kopfpauschalen-Modell in der Gesundheitsreform. Das ist ein Modell, dass die CDU entwickelt hat: Das war damals die Herzog-Kommission. Die CDU- Vorsitzende hat dieses Modell übernommen. Sie haben dann sehr offen darüber gesprochen, dass Sie nach dieser Kritik auch von Fraktionskollegen, also Ihren eigenen Parteifreunden, gemobbt worden sind. Man hat Sie wegen Ihrer Kritik als "krank", "psychisch gestört", "machtgeil" und "nicht zurechnungsfähig" beschimpft. Schmerzt eine solche Kritik? Neigt man nach einer solchen Kritik dazu, sich ein bisschen zu zügeln mit seinen Äußerungen? Seehofer: Der Druck, der da aufgebaut wird, ist schon enorm. Sie müssen sich das so vorstellen: Man sitzt an einem Dienstagnachmittag vor 250 Kollegen in der Bundestagsfraktion und dann prasselt die offene und die versteckte Kritik auf einen Politiker hernieder, der sich in der Woche vorher eine eigene Meinung erlaubt hat. Man würde also lügen, wenn man sagen würde, das tropft ab. Natürlich geht es unter die Haut. Aber auf der anderen Seite wird man gerade von der Bevölkerung immer wieder ermuntert, man solle nicht einknicken, man solle stehen bleiben und durchhalten. Diese Motivation, die aus der Bevölkerung bzw. von der berühmten Basis kommt, gibt einem dann immer wieder die Kraft, dieses Mobbing, wie ich es bezeichne, überstehen zu können. Denn das sind schon oft sehr unter die Gürtellinie reichende Auseinandersetzungen. Die jüngste Äußerung stammt von einem Kollegen aus der CDU: "Der Seehofer redet nur Blödsinn!" Im August hat plötzlich ein führender Mann der Fraktion zu Protokoll gegeben: "Ich nehme den nicht mehr ernst!" Der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen meinte vor einigen Monaten, die CSU sollte sich von Seehofer trennen, denn er sei nur mehr Ballast, eine Belastung. Der Generalsekretär der CDU war einmal der Meinung, der Seehofer hätte einen Kopfschuss und so ganz gesund sei er doch noch nicht. So ganz abschütteln kann man das nicht. Aber es ist dann eben doch auch wieder ein Stück sportlicher Ehrgeiz vorhanden, dass man das durchsteht und seinen Weg geht. Reuß: Sie haben es vorhin gesagt: Für Sie ist Politik eine Art Managen von Lebensbedingungen. Die Zeit der großen ideologischen Fragen ist vorüber, aber es wird auch schwieriger, das zu vermitteln. Umso wichtiger ist es daher, wie Sie ebenfalls gesagt haben, welches Menschenbild wir im Herzen tragen. Aber, haben Sie hinzugefügt, heute würde offenbar nur noch der blutigste Reformer gesucht. Ist die Ökonomie inzwischen ein Wert an sich geworden? Sind wir auf dem Weg, eine Gesellschaft zu werden, die von allem den Preis und von nichts mehr den Wert kennt? Seehofer: Ja, diese Gefahr sehe ich. Wir stehen in der Politik in der Tat unter dem Diktat der Ökonomie. Es hat sich in den letzten fünf, sechs Jahren in der deutschen Politik – und zwar bei allen Parteien – etwas Signifikantes verändert. In der letzten Phase der Kohl-Regierung habe ich z. B. noch Folgendes erlebt: Damals gab es noch eine Diskussion über die neue Armut in Deutschland, über die Zweidrittelgesellschaft. Zwei Dritteln der Menschen bei uns geht es gut und ein Drittel fällt durch den Rost. Das war auch in den Medien damals die gängige Diskussion. Es ging also auch um Rücksichtnahme auf das Befinden der Menschen, auf die soziale Lage der Menschen. In den neunziger Jahren war es also noch durchaus populär, in der Politik darüber zu reden. Mittlerweile bestimmen alleine ökonomische Daten die Politik in ihrem Mainstream, die Bilanzen, die Aktienkurse, der Börsenhandel usw. Das sind alles rein ökonomische Größenordnungen. Das meinte ich mit diesem Wort. Und mittlerweile suchen die gleichen Medien die Politiker, die die größte "Tapferkeit" an den Tag legen, wenn es um die sozialen Einschnitte geht. Ich gelte als letzter Blümianer in Deutschland. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dieser so bezeichnete Politiker sei rückwärts gewandt. Reuß: Ein auslaufendes Modell. Seehofer: Ja, ein auslaufendes Modell, das die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Deshalb gibt es ja auch diese Formel "Das Soziale neu denken" - selbst bei den beiden christlichen Kirchen. Damit wird in der politischen Diskussion jeder in die Defensive gedrängt, der einfach einmal sagt: "Moment, wir dürfen nicht nur über Wirtschaftstheorien sprechen, die am Reißbrett alle immer besonders schön aussehen, sondern man muss schon auch mal die Frage stellen, wie sich das in der Lebensrealität der Menschen auswirkt!" Wir müssen doch die Gesellschaft hier in Deutschland so sehen: Wir haben eine gigantische Arbeitslosigkeit; für junge Leute gibt es das riesige Problem einen beruflichen Ausbildungsplatz zu finden; es gibt eine zunehmende Spreizung der Einkommen zwischen gut Verdienenden und den Menschen mit geringerem Einkommen. Und es gibt eine nennenswerte Zunahme von Sozialhilfeempfängern. Das heißt, in unserem Land hat sich auch sozial sehr viel verändert in den letzten Jahren. Es gibt eine Elite, es gibt starke Leute, die zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, die den Nutzen für sich mehren. Dagegen ist ja auch überhaupt nichts zu sagen. Aber es gibt eben auf der anderen Seite auch immer mehr Leute, die auf der Strecke bleiben. Dies alles nur unter ökonomischen Gesichtspunkten zu beurteilen, könnte, wie ich fürchte, zu einer Entwicklung führen, dass aus unseren wirtschaftlichen Problemen eine politische Krise wird, dass also die Menschen sich nicht mehr zu Hause fühlen bei dem, was herkömmliche Parteien anzubieten haben an Antworten und an Zuspruch und sie daher politisch rechts und links in Radikalität ausweichen. Das ist meine große Befürchtung. Reuß: Sie haben es vorhin schon gesagt: Alle Parteien stehen derzeit vor diesem Dilemma. Auch die CSU hat, wie man lesen und hören kann, intern eine heftige Diskussion über den zukünftigen Kurs der Partei. Es gibt da die so genannten Radikalreformer: Da wird quasi der Mutigste gesucht, der am tiefsten schneiden möchte, und es wird gesagt, dass nun endlich Schluss sein müsse mit dem Kümmerer-Staat. Es sollen also die Interventionen, die staatliche Betätigung auf das Allernotwendigste beschränkt werden. Sie jedoch haben einmal davon gesprochen, dass dies “Ichlinge” seien. Und Sie haben an anderer Stelle einmal gesagt: "Der Egoismus in Deutschland ist größer und brutaler, als ich mir das je vorgestellt habe." Steht also auch die CSU vor einem Paradigmenwechsel? Seehofer: Ich hoffe nicht, obwohl es diese Diskussion natürlich auch bei uns gibt. Nur, entscheidend ist, dass diese Diskussion überhaupt stattfindet. Wissen Sie, wenn man dieses Spannungsverhältnis einfach negieren und nicht ausdiskutieren würde, dann bräche das alles plötzlich an anderer Stelle auf. Wir erleben das ja jetzt zwischen der CDU und der CSU. Der Rücktritt von ist ja ein Signal in diese Richtung. Wir müssen in Deutschland einfach wieder eine Diskussionskultur entwickeln, wo wir solche Strömungen, die es in der Gesellschaft ja tatsächlich gibt und die sich natürlich auch in den Parteien widerspiegeln, aufnehmen können. Es gibt ja momentan auch eine junge Generation, wie uns die Shell-Studie sagt, die ganz in diese Richtung geht. Die Shell-Studie spricht hier von so genannten Ego- Taktikern in der jungen Generation. Ich meine das gar nicht vorwurfsvoll, das ist jetzt jedenfalls eine Generation, die zuerst die Frage stellt: "Wie wirkt sich eine politische Maßnahme auf mich persönlich aus?" Wir hatten in der deutschen Geschichte davor oft Jugendbewegungen, die viel mehr die Frage gestellt haben: "Wie kann ich für das Gemeinwohl eintreten?" oder "Wie kann ich die Schöpfung bewahren?" oder "Wie kann ich für die Sicherung des Friedens eintreten?" Heute gibt es nun zum ersten Mal eine Generation, in der es offenbar chic geworden ist, die Frage zu stellen: "Wie wirkt sich Politik auf mich aus?" Der Soziologe Beck beschreibt das folgendermaßen; er sagt, das sei eine Gesellschaft von Ichlingen. Ich trete dafür ein, dass sich ein Mensch durchaus selbst verwirklichen sollte. Aber das sollte sich nicht reduzieren auf blanken Egoismus, auf den Rückzug auf die Frage: "Wie geht es mir?", statt die Frage zu stellen: "Wie geht es meiner Familie, meinem Dorf, meiner Gemeinde, meinem Land?" Deshalb trete ich dafür ein, dass man in diesem Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Ökonomie und Gesellschaftspolitik die Solidarität nicht schleift. Ich glaube, es sollte vielmehr eine Vision in der Gesellschaftspolitik sein, einerseits ja zu sagen zu einer Leistungsgesellschaft, denn sie ist die Grundlage für sichere Renten, für gute Medizin, für hochwertige Bildung; aber diese Leistungsgesellschaft muss eben unbedingt mit der Solidarität verknüpft werden. Solidarität heißt ja nichts anderes als das Füreinander-Einstehen. Jeder von uns ist irgendwann in seinem Leben sogar mehrfach auf den Zuspruch, auf die Hilfe eines Mitmenschen angewiesen. Und deshalb möchte ich gerne, dass wir als gesellschaftliches Leitbild ja sagen zur Leistungsgesellschaft, dies aber mit der Solidarität verknüpfen. Die solidarische Leistungsgesellschaft wäre mein Gesellschaftsmodell für die Zukunft und unsere Antwort auf die Globalisierung und die Ökonomisierung. Reuß: Sie haben es vorhin schon angesprochen, es entsteht eine Veränderung in der Gesellschaft: Wir haben mehr Leistungsempfänger, wir haben weniger Beitragszahler. Dass da etwas umgebaut werden muss, ist für jeden nachvollziehbar. Als Beobachter der Politik hat man jedoch manchmal den Eindruck, dass die Politik sich nicht traut, die ganze Wahrheit zu sagen. Die Menschen spüren das. Die Politiker sprechen von Umbau, von Reformen, obwohl man doch eigentlich Abbau zu meinen scheint. Wenn es so ist, dass es mehr Leistungsempfänger und weniger Beitragszahler gibt, wenn also Abbau notwendig ist und wenn man diesen Abbau eben auch gestalten muss, wieso sagt das dann keiner so deutlich? Seehofer: Nun, der Umgang mit der Wahrheit ist auch ein Problem in der Politik. Die Dinge schauen nach den Wahlen meistens anders aus als vor den Wahlen. Das ist übrigens einer der Gründe für den massiven Ansehensverlust der Politik. Wir hatten in jüngster Vergangenheit zwei Bundestagswahlkämpfe, in denen die Dinge, die im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben, ganz anders aussahen als das Handeln der Politik nach der Wahl. Deshalb glaube ich, dass die nächste Bundestagswahl von derjenigen politischen Kraft positiv entschieden wird, der es gelingt, in der Bevölkerung ein Vertrauen herzustellen. Die Bevölkerung hat nämlich eine Sehnsucht nach Wahrheit, Solidität und Seriosität. Und die Bevölkerung verträgt auch die Wahrheit. Darum halte ich es für einen großen Irrtum zu glauben, man könnte der Bevölkerung hier ein Schauspiel vorführen. Ich habe immer schon gesagt, dass es so etwas wie eine kollektive Intelligenz gibt: Die Menschen kennen zwar nicht alle Einzelheiten der verschiedenen politischen Sachgebiete, aber sie haben einen ganz gesunden Instinkt, wem man trauen kann und was zutreffend ist und was nicht. Und deshalb haben wir meiner Meinung nach auch eine Chance als Politiker. Die Leute sind bereit, die Wahrheit aufzunehmen, und die Politiker sollten daher diese Bereitschaft auch nutzen. Sie haben ja etwas Schönes gesagt: Man könne nämlich diesen Umbau auch gestalten. Dies macht man freilich nicht, indem man beliebig viele Einzelmaßnahmen nebeneinander klebt und stellt, sondern das macht man, indem man den Menschen zuerst einmal vermittelt, was eigentlich der Leitgedanke dabei ist: Was ist das geistige Fundament unseres Tuns? Nach welchen Regeln werden das Arbeitslosengeld oder die Rente oder die Gesundheitspolitik oder die Bildungspolitik verändert? Ich glaube, darüber reden wir zu wenig in Deutschland. Wir haben, was ich sehr, sehr bedauere, neben dieser verdrängten Wahrheit auch eine Erosion unserer Diskussionskultur. Es wird Politik nur noch für die nächste Woche inszeniert: Wie kommt man gut über einen Parteitag, über eine Bundestagsdebatte usw. Aber die große Linie und die Grundüberzeugungen, von denen man ausgeht, werden eigentlich kaum noch vermittelt. Ich muss allerdings sagen, dass man dazu auch kaum noch Gelegenheit hat - mit Ausnahme von BR-alpha. Ansonsten muss man in 60 Sekunden seine politische Überzeugung zum Ausdruck bringen können und deshalb reduziert sich Politik eben auch häufig nur mehr auf Schlagworte. Es geht also darum, den Wandel auch zu gestalten und dies auf einer Grundlage, zu der die Leute sagen: "O.k., da ist ein geistiges Fundament, da ist ein Wertebezug dahinter." Reuß: Sie haben vorhin gesagt, dass man als Politiker – auch in der Opposition – nur gestalten kann, wenn man Einfluss hat, wenn man ein Standing hat, wenn man eine bestimmte Position hat. Sie sind ja stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und stellvertretender Vorsitzender der CSU. Ich habe in diesem Zusammenhang einen schönen Satz von Ihnen gefunden. Sie haben einmal gesagt: "Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Hundehütte und einem Stellvertreter? Die eine ist für den Hund, der andere für die Katz'!" Ist also das Stellvertreteramt eine Placebo-Funktion? Seehofer: Na, es gibt leichtere Fragen. Sie müssen das so sehen: Bei uns in der Christlich- Sozialen Union haben wir mit einen agilen, kompetenten, umtriebigen und programmatischen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten. Ich gehöre ja nun bestimmt nicht zu den Hofsängern: Wir haben manchmal auch unsere kontroversen Diskussionen, aber ich habe höchsten Respekt vor seiner Leistung. Wenn man einen Vorsitzenden hat, der gewissermaßen so dominant ist, der alle wichtigen Dinge selbst entwickelt und nach vorne bringt, dann kommt eben dieses Bild zustande, dass die Funktion des Stellvertreters gelegentlich wie für die Katz' erscheint. Trotzdem, wir haben jetzt in den letzten Monaten eine ganz passable Zusammenarbeit gefunden. Und deshalb macht es mir auch sehr viel Spaß und bin auch wieder motiviert, denn einfach eine Planstelle zu besetzen ohne irgendwelchen Inhalt und ohne Sinn, würde mir bestimmt keinen Spaß machen. Wir haben also jetzt so etwas wie eine sehr, sehr gute Teamarbeit entwickelt: nicht nur zwischen Stoiber und mir, sondern auch in der ganzen CSU-Führung. Ich muss da ja nur einmal an die Spitze der Landtagsfraktion denken, an Joachim Herrmann, an in der Landesgruppe der CSU des Bundestags, an die Stellvertreter von Edmund Stoiber in der Partei, an wichtige Minister seines Kabinetts: Das ist jetzt schon ein ganz schlagkräftiges Team geworden. Insofern würde ich also meine Aussage von der Katz' nicht unbedingt wiederholen. Reuß: Ich würde hier ganz gerne einen kleinen inhaltlichen Schnitt machen und unseren Zuschauern den Menschen Host Seehofer näher vorstellen. Sie sind am 4. Juli 1949 in Ingolstadt geboren. Ihr Vater war Lastwagenfahrer und Bauarbeiter. Wie sind Sie denn aufgewachsen, wie war Ihre Kindheit? Seehofer: Die Kindheit war schwer, wir waren eine typische Arbeiterfamilie mit vier Kindern. Es war vor allem in finanzieller Hinsicht sehr problematisch für uns. Ich habe am Beispiel meines Vaters durchaus erlebt, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Auch damals schon war in der Bauwirtschaft im Winter regelmäßig Arbeitslosigkeit angesagt. Ich habe noch Zeiten erlebt, und zwar über viele Jahre hinweg, in denen mich meine Mutter am Freitagnachmittag ins Lohnbüro der Baufirma geschickt hat, um zu gewährleisten, dass die Lohntüte – damals wurde der Lohn noch bar ausbezahlt – den direkten Weg findet von der Baufirma zu uns nach Hause und nicht, wie das damals in der Bauwirtschaft eben so üblich gewesen ist, irgendwo dazwischen in einem Lokal oder in einer Gaststätte hängen bleibt. Wir brauchten die Lohntüte, um am Freitagnachmittag einkaufen zu können. Man hat also auf das Geld gewartet, um das Abendessen einkaufen zu können. Diese finanziellen Probleme haben sich später auch in der Schule niedergeschlagen. Ich hatte halt ein gewisses Talent in manchen Fächern und die Lehrer haben deshalb gemeint, ich sollte doch unbedingt studieren. Das war aber finanziell nicht drin für uns. Ich habe damals z. B. einen Lesezirkel ausgefahren, um mir zumindest ein bisschen Taschengeld zu sichern, denn sonst hätte ich mir meinetwegen der Besuch eines Fußballspiels – damals war Ingolstadt noch sehr gut im Fußball – nicht leisten können. Wenn ich kein Geld hatte, dann bin ich immer über den Zaun geklettert, weil einfach diese 50 Pfennig für den Eintritt nicht vorhanden waren. Wenn man so aufgewachsen ist, und es kann ja kein Mensch etwas dafür, in welche Situation er hineingeboren wird, dann vergisst man das einfach nicht in seinem weiteren Leben. Das ist jedenfalls ein Punkt, der mich heute sehr stark macht, wenn ich mir immer wieder die Frage stelle, wie sich bestimmte politische Entscheidungen für die kleinen Leute auswirken. Manche stellen mich da als Sozialromantiker in die Ecke, aber ich denke immer an die Situation, wie ich sie persönlich in meiner Kindheit erlebt habe. Reuß: Sie haben dann die mittlere Reife gemacht und 1970 die Verwaltungsprüfung für den gehobenen Dienst absolviert. Sie waren anschließend in verschiedenen Funktionen in Landratsämtern tätig, in Eichstätt und auch in Ingolstadt. Was war da genau Ihre Funktion? Seehofer: Ich habe nie die typische Beamtenfunktion ausüben müssen, wie ich sagen muss, sondern ich hatte immer Oberbürgermeister und Landräte, die mich so gewissermaßen als persönliche Mitarbeiter eingesetzt haben. Ich war lange Zeit Geschäftsführer eines regionalen Planungsverbandes: Da ging es um die Koordination von Planungen der Gemeinden, der Landkreise, der Städte. Und in diesen Funktionen habe ich sehr viele Arbeiten unmittelbar für Landräte und Oberbürgermeister abgeliefert: Sitzungsvorlagen, Reden usw. Das war dann eben auch so ein Kick-Erlebnis, wie man heute sagt. Ich habe ihnen also etwas aufgeschrieben und die haben das dann Wort für Wort vorgelesen. Irgendwann hat sich dann bei mir die Meinung eingestellt: Wenn die vorlesen, was du ihnen aufbereitet hast, dann kannst du das auch selbst vorlesen. Reuß: Sie haben es schon gesagt, Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie, eigentlich der klassischen Klientel der SPD, damals noch sehr viel mehr als heute. Dennoch sind Sie 1969 in die Junge Union und 1971 dann in die CSU eingetreten. Warum? Seehofer: Das hatte ausschließlich mit dem persönlichen Freundeskreis zu tun. Der war einfach so strukturiert und in Ingolstadt eben einfach mehr unions-orientiert. Es war nicht so, wie das viele Politiker von sich behaupten, dass mir gewissermaßen diese Mission für die CSU schon in die Wiege gelegt worden wäre. Nein, das hatte einfach mit dem persönlichen Umgang, mit dem Freundeskreis zu tun. Reuß: Sie haben dann noch Ihr Diplom als Verwaltungswirt erworben an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in München. 1980 sind Sie dann in den Deutschen gewählt worden: im Alter von gerade mal 31 Jahren. Das war ja eine ganz spannende Zeit damals: Sie sind sozusagen in die Opposition hineingewählt worden, aber im Laufe der Legislaturperiode wechselte dann aufgrund eines konstruktiven Misstrauensvotums die Regierung. Wie haben Sie denn als junger Mensch diese spannenden und teils auch dramatischen Debatten im Bundestag miterlebt? Seehofer: Für mich war das paradiesisch, wie ich sagen muss. Ich kam nach diesem Wahlkampf zwischen und Franz Josef Strauß in den Bundestag. Übrigens wären wir mit dem Wahlergebnis von damals heute sehr zufrieden: Das lag damals nämlich weit über 40 Prozent. Trotzdem war das jedoch eine Wahlniederlage. Ich habe es damals nicht verstanden, als Strauß sagte, das sei ein Pyrrhussieg für Helmut Schmidt. Aber exakt so war es dann. Von da an ging es bergab und es kam letztlich zu diesem "Scheidungsbrief" von Graf Lambsdorff und zum konstruktiven Misstrauensvotum. Ich war also Zeitzeuge eines historischen Vorgangs. Mir war das durchaus bewusst. Insgesamt war das eine wunderschöne Entwicklung für mich, weil ich dabei unmittelbar miterleben konnte, wie dramatisch der Unterschied zwischen Opposition und Regierung ist. In der Opposition kann man furchtbar viel arbeiten, aber in Wahrheit arbeitet man doch fast immer nur für den Papierkorb. Man kann nichts durchsetzen. Das war die ersten zwei Jahre so. Und plötzlich waren wir in der Lage, das, was wir uns vorstellten, auch machen zu können. Das war ein Glücksgefühl, das man kaum beschreiben kann. Reuß: Ich mache gleich einen kleinen Sprung: 1989 wurden Sie dann parlamentarischer Staatssekretär bei Norbert Blüm im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Noch im selben Jahr gab es erneut historische Ereignisse: In Berlin fiel die Mauer! Kurze Zeit später gab es dann schon die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die D-Mark wurde auch in der DDR offizielles Zahlungsmittel. Wie haben Sie diese Zeit im Ministerium erlebt, als Sie dabei aktiv mitwirken konnten? Seehofer: Zunächst einmal mitzuerleben, dass die Bevölkerung diese Mauer buchstäblich selbst abgebaut hat, hat in mir ein Gefühl ausgelöst, das mir bis heute tief unter die Haut geht. Reuß: Wissen Sie noch, wo Sie waren, als Sie die Nachricht über den Mauerfall bekommen haben? Seehofer: Ich war in Berlin und habe miterlebt, wie man zunächst einmal nur in der Begleitung der Vopos und nach einer Kontrolle von Ost nach West und von West nach Ost wechseln konnte. Und plötzlich schwoll das alles aber an und dann kamen auch schon die ersten Menschen mit ihren Hämmerchen und schlugen aus der Mauer diese Steinbrocken heraus. Ich habe heute noch einen dieser Brocken zu Hause. Das war unbeschreiblich! Diese Momente waren in meiner ganzen politischen Laufbahn vermutlich das Faszinierendste, das ich miterleben durfte. Denn wir waren doch vorher immer nur in diese geteilte Stadt gekommen: Wir kamen in den Reichstag und bekamen diese ganze Trennung hautnah mit. Und dann kam dieser Abbau der Mauer durch die Bevölkerung – verbunden natürlich mit der Angst, ob die sowjetischen Panzer wirklich in den Kasernen bleiben oder doch ausrücken. Das waren schon Momente, die in meinem Leben so wahrscheinlich nicht wiederkehren werden. Anschließend war es dann so, dass ich als Staatssekretär von Norbert Blüm bei den sozialen Aspekten des Einigungsvertrages mitwirken konnte. Da ging es z. B. um die Übertragung des westdeutschen Gesundheitswesens auf das ostdeutsche, um die Rentenüberführungen, die mit ganz schwierigen Vorgängen verbunden waren. Denn da waren plötzlich Milliarden verschwunden, die die damalige DDR-Regierung in einem anderen Haushalt verbucht hatte. Es bestand die Gefahr, dass wir die Renten nicht pünktlich ausbezahlen konnten. Wir befürchteten, dass die Leute dann erneut auf die Straße gehen werden: diesmal aber gegen uns, weil sie keine Rente bekommen. Da waren also wirklich sehr spannende Momente dabei. Es ist schön, wenn man an so einem historisch einmaligen und unvergleichlichen Vorgang mitwirken kann, auch an der Gestaltung des Einigungsvertrags. Reuß: 1990, nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, wurde der Bereich "Gesundheit" aus dem Arbeitsministerium ausgegliedert: Es gab ein eigenes Ministerium dafür. Zwei Jahre später bereits kam es zu eine Kabinettsumbildung. Verteidigungsminister trat zurück, auch die erste Gesundheitsministerin, Ihre Parteikollegin , verließ das Kabinett von Helmut Kohl und Sie wurden Bundesgesundheitsminister. War das Ihr Traumjob? Seehofer: Ich hatte nie damit gerechnet, Minister zu werden. Gerda Hasselfeldt hatte ja ihren Job gut gemacht. Und sie war eine Oberbayerin und eine Frau. Ich selbst bin auch Oberbayer und deshalb konnte ich aufgrund des Proporzdenkens, das es in der Politik nun einmal gibt, nicht damit rechnen, jemals Minister zu werden. Vor mir stand also eine Oberbayerin und eine Frau: Da war der Weg für einen weiteren Oberbayern eigentlich ganz klar versperrt. Und dann kam ihr Rücktritt und ein nächtlicher Anruf von bei mir: "Ich schlage dich dem Helmut Kohl vor." Helmut Kohl hat mich dann 24 Stunden warten lassen. Ich musste bereit sein, aber er hat mich 24 Stunden warten lassen, um mir dann zu sagen: "Ich nehme Sie, ich habe Vertrauen in Sie, machen Sie es gut! Und kümmern Sie sich um Ihre Vorgängerin!" Das war meine Inthronisierung als Minister. Reuß: Kurz, knapp und präzise. Kaum drei Wochen im Amt legten Sie das erste Gesundheitsstrukturgesetz vor, das einen großen Erfolg hatte. Es hatte große Defizite bei den Krankenkassen gegeben: Neun Milliarden betrug das Defizit vor diesem Gesetz. Innerhalb eines Jahres wurde dann aber aus diesem Neun- Milliarden-Defizit ein Überschuss von fast drei Milliarden. Dennoch, wenn man die Geschichte der Gesundheitsreformen verfolgt: Solche Reformen halten komischerweise nie sehr lange. Warum eigentlich? Seehofer: Es gibt in der Politik kein sensibleres Feld als die Gesundheit. Das ist etwas Existenzielles für die Menschen und deshalb verbieten sich in der Gesundheitspolitik auch immer Radikalmaßnahmen. Die Politik, ganz gleich, wer regiert, beschränkt sich darauf, gewissermaßen für einen überschaubaren Zeitraum die Gesundheit finanzierbar zu halten. Denn es ging ja bei allen Gesundheitsreformen eigentlich nie um die Sicherstellung der Versorgung: Wir hatten in Deutschland da ja nie einen Versorgungsnotstand oder ernst zu nehmende Probleme mit der Qualität. Nein, es ging immer nur um die Finanzierungskrise im Gesundheitswesen. Das heißt, damit waren immer auch finanzielle Belastungen für die Menschen verbunden. Bei allem Bekenntnis zur Wahrheit ist es da nur natürlich, dass man hier nicht sozusagen für die nächsten zehn Jahre die Einschnitte organisieren will, sondern man macht das immer nur für vier, fünf Jahre. Denn die dafür notwendigen finanziellen Opfer für die Menschen sind auf diese Weise noch einigermaßen zumutbar und verantwortbar. Das ist der Grund, warum in der Gesundheitspolitik gewissermaßen in jeder Legislaturperiode eine Gesundheitsreform stattfindet. Ich wage daher die Prognose, dass das auch in Zukunft so bleiben wird. Reuß: Trotz aller "Jahrhundertreformen"? Seehofer: Ja, das ist eben oft der Fehler in der Politik – auch ich habe das gelegentlich gemacht –, dass man viel mehr an Kraft in eine Reform hineininterpretiert, als die Reform tatsächlich zu halten in der Lage ist. Ich würde also das Wort "Jahrhundertreform" in der Politik nie mehr in den Mund nehmen. Denn die Bevölkerung misst einen dann ja auch daran. Wenn die "Jahrhunderte" in Wahrheit nur zwei Jahre dauern, dann löst auch das ein Stück weit den Vertrauensverlust in die Politik aus. Reuß: Während Ihrer Amtszeit gab es ja auch Entwicklungen, die auf kriminelle Machenschaften im Gesundheitswesen schließen lassen, wenn ich das so hart ausdrücken darf. Es gab HIV-verseuchte Blutpräparate, die auf den Markt gekommen sind. Sie haben im Zuge dieses Skandals dann auch das Bundesgesundheitsamt aufgelöst. Es gab Klinikärzte, die überteuerte Herzklappen abgerechnet haben usw. Ist man denn als Politiker solchen Machenschaften gegenüber eigentlich ein Stück weit machtlos und trägt dennoch die Verantwortung dafür? Seehofer: Verantwortung trägt man aus der Sicht der Bevölkerung immer. Für alles, was stattfindet, ist man verantwortlich – auch dann, wenn die Ursachen für diese Entwicklung oft Jahre zurückliegen. Bei den Blutpräparaten waren es Ereignisse aus den achtziger Jahren. Ich war jedoch in den neunziger Jahren Minister. Und die Todesfälle und all diese Probleme traten eben in meiner Ministerzeit auf: Es war dann ungeheuer schwer, der Bevölkerung zu erklären, dass ich nun diesen Skandal aufarbeiten muss, obwohl ich nicht der Verursacher dieses Skandals bin. Herr Reuß, in diesem Zusammenhang muss man eine Sache ganz klar betonen: Diese Dinge kann man nur mit einem Höchstmaß an Unabhängigkeit bewältigen. Wenn ich mich also jemals auf einen Filz, auf Kumpanei mit der Pharmaindustrie oder anderen Beteiligten im Gesundheitswesen eingelassen hätte, dann hätte ich das politisch nicht überlebt. Denn so ist nun einmal der Mensch: Wenn Sie ihm etwas zumuten, wenn Sie eine Affäre aufklären, dann nutzt er natürlich jede Möglichkeit, um sich zu wehren. Und wenn man da selbst in Abhängigkeiten befangen wäre, dann könnte man nicht tun, was notwendig ist, nämlich wieder für saubere Verhältnisse sorgen. Und deshalb bestand auch hier für mich die Lebenserfahrung darin: Die Unabhängigkeit von Verbänden, von Funktionären, von Organisationen ist jedenfalls in einer solchen politischen Position etwas Unverzichtbares. Denn sonst könnte man das, was man für notwendig hält, nicht tun – weil man in Abhängigkeiten steht. Reuß: Ich darf trotzdem noch einmal zu den permanenten Reformbemühungen im Gesundheitswesen kommen. Ich möchte hier gerne noch ein Zitat los werden, weil ich es selbst gar nicht schöner formulieren kann. Eine große deutsche Tageszeitung hat geschrieben: "Beide Parteien" – gemeint sind hier SPD und CDU/CSU – "suggerieren, das Problem bei der Gesundheitsreform sei die Einnahmeseite, statt sich den explodierenden Ausgaben zuzuwenden. Eine echte, umfassende Gesundheitsreform müsste den Gedanken des Wettbewerbs und der Eigenbeteiligung weiter stärken. Sie müsste das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung zerschlagen und direkte Verträge zwischen Versicherungen und Ärzten erlauben. Sie müsste unabhängig vom Einkommen jedem den Wechsel zu einer privaten Kasse erlauben. Sie müsste die privaten Kassen in einen Wettbewerb untereinander zwingen und es privat Versicherten ermöglichen, ohne Verlust des angesparten Kapitals den Anbieter zu wechseln. Und sie müsste den Markt für Apotheken umfassend öffnen." Wenn das so ist, warum wird das nicht gemacht? Seehofer: Ja, weil es eine sehr starke Lobby im deutschen Gesundheitswesen gibt. Diese Lobby erzielt Wirkung in die Fraktionen, in die Parteien hinein und das verhindert – und hat es auch schon bei der letzten Gesundheitsreform verhindert – vieles von dem, was Sie gerade zu Recht zitiert haben. Diese Zeitung hat Recht. Und trotzdem braucht man auch für das Richtige in der Politik eine Mehrheit. Wenn man jedoch die Mehrheit nicht bekommt, weil diese Lobbyarbeit eben zu viele Wirkungen entfaltet, dann hilft einem das ganz Grundbekenntnis zur richtigen Politik nichts, dann muss man immer wieder einen neuen Anlauf unternehmen. Ich kann für meine Person nur sagen, dass vieles von dem, was diese Zeitung als Defizit einer Gesundheitsreform definiert hat, auch bei einer nächsten Gesundheitsreform in vier, fünf Jahren erneut in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Wir können also den Menschen nicht auf der einen Seite Selbstbeteiligung zumuten und auf der anderen Seite bei den kassenärztlichen Vereinigungen, bei den Krankenkassen und sonstigen Verbänden im Gesundheitswesen nur unzureichende Strukturveränderungen vornehmen. In diesem Fall kann ich also nicht widersprechen. Ich kann nur erklären, warum es nicht so gekommen ist: wegen des Haifischbeckens namens deutsches Gesundheitswesen, wie das Norbert Blüm einmal gesagt hat. Reuß: Aber es ist ja auch schon sehr viel, wenn man weiß, warum es so und nicht anders gemacht wird. Nun bedeutet ja manche Reform, dass das Problem erst einmal verschlimmert wird, bevor es besser werden kann. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal pointiert die Frage gestellt: "Wie kann eine Regierung das langfristig Notwendige tun, wenn es kurzfristig unbeliebt ist und den Wahlerfolg bedroht?" Ist das ein Problem für die Politik? Seehofer: Das ist ein Problem. Aber wir haben ja vorhin schon einmal erläutert, dass sich in der Mentalität der Menschen etwas verändert hat. Ich glaube, dass wir das heute im Jahr 2004 ein Stück weit optimistischer sehen können also noch vor einigen Jahren und dass sich die Politik bei der Erneuerung unseres Landes durchaus etwas zutrauen sollte. Allerdings muss man vernünftig vermitteln, was hinter einer Einzelentscheidung an Grundüberzeugung steht. Nehmen Sie als Beispiel das Arbeitslosengeld. Man kann das Arbeitslosengeld bei der Bezugsdauer oder bei der Höhe durchaus zurückfahren, um bei der Arbeitslosenversicherung einzusparen. Aber das Ganze wird man in der Bevölkerung nur dann vermitteln können, wenn man den Menschen sagt: "Wer lange gearbeitet hat und lange Zeit Beiträge gezahlt hat, der soll auch länger Arbeitslosengeld erhalten als ein 20-Jähriger, der nur zwei Jahre Beiträge bezahlt hat." Ich halte es z. B. für einen der großen Mängel bei Hartz IV, dass hier gewissermaßen über einen Kamm geschoren wird. Es gibt nur noch zwölf Monate Arbeitslosengeld für alle. Die Menschen sagen aber mit Recht: "Man muss doch einen Unterschied machen entsprechend der eigenen Lebensarbeitsleistung!" Man muss also den Versuch einer Beteiligungsgerechtigkeit unternehmen. Es geht nicht um eine Verteilungsgerechtigkeit, sondern um eine Beteiligungsgerechtigkeit, indem man sagt, man gestaltet die Laufzeit einer Sozialleistung gemäß der Vorleistung des Versicherten. Wie lange hat jemand Beiträge bezahlt? Wenn man das so macht, dann glaube ich sehr wohl, dass man der Bevölkerung auch tiefere Einschnitte "verkaufen" kann, ohne dass man befürchten müsste, bei der nächsten Wahl nicht mehr gewählt zu werden. Reuß: 1998 ist erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine amtierende Bundesregierung abgewählt worden. Die sie tragenden Parteien hatten nach der Wahl keine Mehrheit mehr. Sie haben einmal gesagt, diese Niederlage könne man an vier Personen festmachen: an Kanzler Helmut Kohl, an Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, an Finanzminister Theo Waigel und an Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer. Inwieweit geben Sie sich selbst Schuld an der Niederlage? Was war falsch? Seehofer: Wir waren in den letzten zwei Jahren unserer Regierungszeit nicht mehr in Bestform. Theo Waigel sagt zu mir immer, dass nach 16 Jahren einfach eine Erschöpfung vorhanden ist: Da glaubt auch die Bevölkerung, dass nun ein Wechsel ganz gut wäre. Und wir hatten in diesen letzten zwei Jahren eine Politik gemacht, die in der Bevölkerung den Eindruck vermittelt hat, "die denken doch nur noch an die Interessen der Wirtschaft und nicht mehr an die Interessen der Menschen". Das schreibt heute übrigens auch Helmut Kohl in seinem Tagebuch. Genau das ist richtig und deshalb kämpfe ich ja im Moment so stark dafür, dass wir diesen Fehler nicht wiederholen, diese neoliberale Politik verbunden mit Einschnitten in die Sozialleistungen ohne jede Rücksicht auf die Betroffenheit der Menschen. Denn das ist ja jetzt auch wieder so eine Strömung. Man muss ja einen Fehler nicht gleich vorsätzlich wiederholen. Das ist eigentlich die innere Motivation, warum ich jetzt gerade bei der Kopfprämie und ähnlichen Dingen so hartnäckig bin. Denn ich habe doch miterlebt, wie hinter verschlossenen Türen die vor lauter Kraft schon gar nicht mehr laufen könnenden Wirtschaftspolitiker tiefe Einschnitte vorschlagen. Und wenn es dann darum geht, das alles in der Öffentlichkeit auch zu vertreten, dann sieht man sie alle nicht mehr. Der verantwortliche Gesundheits- oder Sozialminister steht dann im Brennpunkt der Öffentlichkeit: Er steckt die Prügel dafür ein. Und diejenigen, die einen gezwungen haben, dies zu tun, die hört und sieht man nicht mehr. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass sich dann, wenn es darum geht, unpopuläre Politik in der Öffentlichkeit zu vertreten, die Zahl derjenigen, die für eine Tapferkeitsmedaille in Frage kommen, sehr, sehr in Grenzen hält, lasse ich mich jetzt nicht mehr hinter verschlossenen Türen zu massiven Einschnitten überreden oder sogar drängen, um dann in der Öffentlichkeit alleine dazustehen. Wissen Sie, die Kopfprämie kann man schnell beschließen und viele unserer Anhänger sagen ja auch: "Seid doch geschlossen!" Aber Geschlossenheit im Falschen ist verheerend. Dann ist man zwar geschlossen, aber vertritt die falsche Politik. Und diese falsche Politik dürfen dann diejenigen vertreten, die für dieses Feld verantwortlich sind. In eine Talkshow im Fernsehen geht dann nicht der Wirtschaftsliberale, sondern bei der Kopfpauschale wird man dann zu mir sagen: "Vertrete du das in der Öffentlichkeit!" Aber dazu bin ich nicht bereit, nicht mehr bereit. Ich sagte ja bereits zu Beginn: Früher habe ich mich da noch überreden lassen, heute mache ich das nicht mehr. Reuß: An diese Stelle würde ich gerne noch einmal anknüpfen: Sie haben es eingangs bereits erwähnt, im Dezember 2001 erkrankten Sie schwer. Zunächst begann alles wie eine normale Viruserkrankung. Aber letztlich war das eine Myokarditis, eine Entzündung des Herzmuskels: Ihre Herzleistung betrug zeitweilig nur noch zehn Prozent. 50 Prozent der Menschen mit einem solchen Befund überleben das nicht. Sie waren dann wochenlang selbst Patient und waren sozusagen außer Gefecht gesetzt. Relativiert sich danach sehr vieles oder schleift sich der Alltag dann doch irgendwann wieder ein? Seehofer: Es relativiert sich alles. Man glaubt ja davor, man sei unentbehrlich, man sei ganz wichtig. Dann stellt man jedoch fest, dass man in Wahrheit ein kleines Würmchen ist: Alles läuft weiter, die Arbeit, die man gemacht hat, wird von anderen gemacht und die Bewerbungen um die eigene "Planstelle" nehmen täglich zu. Und man fasst dann sehr wohl Vorsätze. Ich sagte immer, dass man in so einer Situation die Möbel im Kopf völlig anders ordnet. Reuß: Bleibt das? Seehofer: Ja. Worauf ich heute noch stolz bin, ist die Tatsache, dass das nicht nur die berühmten Silvestervorsätze waren, die schon am Neujahrstag wieder vergessen sind. Stattdessen hat das bis heute gehalten. Diese innere Unabhängigkeit, diese innere Distanz den vielen Kleinigkeiten im Alltag gegenüber, dieses Nicht-mehr- verbiegen-Lassen: All das ist auf meine Krankheit zurückzuführen. Ich hatte da furchtbar viel Zeit zum Nachdenken und wollte mein Leben ändern. Und ich habe es geändert. Reuß: Haben Sie jetzt auch mehr Zeit für die Familie? Seehofer: Aus der Sicht der Familie wahrscheinlich nicht. Aus meiner Sicht bin ich, wie ich glaube, schon besser geworden. Reuß: Ich darf mich ganz, ganz herzlich für das sehr angenehme Gespräch bedanken, denn unsere Sendezeit ist schon zu Ende. Ich möchte gerne, wenn Sie erlauben, mit vier Kurzbeschreibungen Ihrer Person enden, die aufzeigen, wie groß das Spektrum der Bewertungen ist und dass Sie doch teilweise polarisieren. Der FDP- Vorsitzende nannte Sie einen "schwarzlackierten Sozialdemokraten", die Münchner "Abendzeitung" bezeichnete Sie als "Rebell mit Rückgrat", die "Süddeutsche Zeitung" schrieb über Sie, Sie seien der "Sozialpapst" der gesamten Union und der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber nannte Sie Deutschlands kompetentesten Gesundheitspolitiker. Sie selbst haben einmal gesagt: Gesund ist, was Spaß macht. In diesem Sinne war dieses Gespräch für mich sehr gesund. Ich darf mich noch einmal ganz herzlich bei Ihnen bedanken, Herr Seehofer. Verehrte Zuschauer, das war unser Alpha-Forum, heute mit Horst Seehofer, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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