<<

Plenarprotokoll 13/5

Deutscher

Stenographischer Bericht

5. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Inhalt:

Eintritt der Abgeordneten Elke Ferner in den Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Deutschen Bundestag ...... 37 A NEN 103 D Dr. CDU/CSU . . . . . 105 D Begrüßung des Staatspräsidenten der Repu- blik Finnland, Herrn , und Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . 109A seiner Begleitung 58 D CDU/CSU ...... 112 C

Tagesordnungspunkt: Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 114B Regierungserklärung des Bundeskanz- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . . 116B lers mit anschließender Aussprache Andrea Lederer PDS ...... 118 C - Dr. , Bundeskanzler 37 B , Bundesminister BMI . . 120C 48 B SPD Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ Dr. F.D.P. . . . . 51D, 126D DIE GRÜNEN 124C Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 58D SPD 125A 126 B Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 63 D Eckart Kuhlwein SPD . . . . 126 C Peter Dreßen SPD ...... 65C CDU/CSU Dr. Peter Struck SPD (zur GO) 128D Ingrid Matthäus-Maier SPD . . . . . 67 A , Bundesminister BK (zur Joseph Fischer () BÜNDNIS 90/ GO) 128D DIE GRÜNEN ...... 68B Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ Dr. , Bundesminister AA 74 A DIE GRÜNEN ...... 129D Dr. PDS 81 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- () BÜNDNIS 90/ desministerin BMJ 131 D DIE GRÜNEN ...... 84 B (Köln) BÜNDNIS 90/ Manfred Müller PDS 84 B DIE GRÜNEN 132C Dr. Dietrich Sperling SPD ...... 133 A Günter Verheugen SPD ...... 84 C Ulrich Irmer F.D.P...... 134 A Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 88 D Dr. CDU/CSU . . . . 137B SPD ...... 94A, 102C Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . . . 139 D , Ministerpräsident (Saar land) 94B Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . 140A Dr. F.D.P...... 99B Hans-Peter Repnik CDU/CSU . . . . 143C II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. , Mittwoch, den 23. November 1994

Rolf Schwanitz SPD 147B Anlage 1

Heinrich Graf von Einsiedel PDS 148D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 155*A Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. 149 D

Gerhard Zwerenz PDS 150C Anlage 2

Ulla Jelpke PDS 151 D Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Tages- ordnungspunkt: Regierungserklärung des Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 152D Bundeskanzlers mit anschließender Aus- sprache Nächste Sitzung 154 C Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 155* B Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 37

5. Sitzung

Bonn, den 23. November 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Unsere Freunde und Partner wissen, daß wir die liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- Bundesrepublik sicher in die Zukunft führen wer- net. den. Im Rahmen der amtlichen Mitteilungen gebe ich (Zuruf von der SPD: Vorsicht vor Überheb Ihnen zunächst bekannt, daß der Abgeordnete Oskar lichkeit!) Lafontaine am 17. November 1994 auf seine Mitglied- schaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Und so sehen es auch alle jene Wählerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wähler, die für die Koalition der Mitte aus CDU, CSU und F.D.P. gestimmt haben. Seine Nachfolgerin ist die Abgeordnete Elke Ferner, die am 21. November 1994 die Mitgliedschaft im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschen Bundestag erworben hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben in kürzester Zeit die Koalitionsverhand- der PDS) lungen und die Regierungsbildung erfolgreich abge- schlossen. Wir haben dabei zielstrebig und kollegial Ich begrüße die Kollegin, die dem Deutschen Bundes- zusammengearbeitet, und so wird es in den vier tag bereits in der vorigen Wahlperiode angehört hat, Jahren dieser Legislaturperiode auch bleiben. sehr herzlich. Herzlich willkommen! - Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt im anschließender Aussprache fünften Jahr seit der Wiedervereinigung unseres Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vaterlandes in Frieden und Freiheit. „Die Bundesre- die Aussprache nach der Regierungserklärung heute publik konnte 1989 auf vierzig erfolgreiche Jahre neun Stunden, morgen sieben Stunden und am Frei- zurückblicken. Die vergangenen fünf Jahre sind sogar tag vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe, daß Sie damit noch besser gewesen. " So schrieb es kürzlich die einverstanden sind. Dann ist es so beschlossen. „", und sie hat recht. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Die innere Einheit unseres Vaterlandes ist in vielen hat der Herr Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl. Bereichen schon gelebte Wirklichkeit. Wir haben gute Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler (von der CDU/CSU ganz Deutschland fit zu machen für das nächste, das und der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! 21. Jahrhundert. Wir haben dabei das Wohl künftiger Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 16. Ok- Generationen stets im Blick zu halten. Deshalb dürfen tober haben sich die Wählerinnen und Wähler in wir nicht nur für vier Jahre planen. Deutschland für die politische Mitte entschieden. Verändern und Bewahren stehen nicht im Wider- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — spruch zueinander. Sie bedingen einander. Leistung Lachen bei Abgeordneten der SPD und des und Geborgenheit, Selbständigkeit und Hilfsbereit- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaft sind keine Gegensätze. Sie sind untrennbare Freunde und Partner im Ausland haben unseren Teile unserer Vision von der Zukunft Deutschlands in Wahlsieg einhellig als eine gute Nachricht für Europa einer Welt, die sich, wie wir wissen, dramatisch begrüßt, und wir nehmen dies dankbar zur Kenntnis. verändert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Deutschland wird seine schöpferischen Energien Lachen bei Abgeordneten der SPD — Joseph für Werke des Friedens, der Freiheit und der Gerech- Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ tigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft NEN]: Das geht ja gleich lustig los!) sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger 38 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Freund auftreten und handeln. Dieses Ziel, meine — Vielleicht Sie, wenn Sie dazwischenrufen, verehr- Damen und Herren, ist jeder Anstrengung wert. ter Herr Kollege. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Wir brauchen jetzt in unserem Volk ein Bündnis für Offensichtlich fühlen Sie sich betroffen. — die Zukunft. Ich lade alle dazu ein, mit uns die Erneuerung von Staat und Gesellschaft zu wagen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unser Volk als solidarische Gemeinschaft zu stär- ken. Wir müssen deshalb bereit sein, auch unbequeme Ich denke dabei an die vielen ehrenamtlich Tätigen, Wahrheiten auszusprechen und, wenn es not tut, die sich im sozialen, kirchlichen, pädagogischen und Widerstände zu überwinden. politischen Bereich für ihre Mitmenschen engagieren. Wir, die Koalition der Mitte, wollen diese Republik Ich denke an die Soldaten der und an — die Republik des Grundgesetzes — und keine unsere Polizeibeamten, die oft Gefahr für Leib und andere. Leben auf sich nehmen, um den Rechtsstaat und damit unser aller Freiheit zu sichern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wer im Zusammenspiel mit Extremisten von links Ich denke an Handwerksmeister und -meisterinnen oder rechts, mit Kommunisten oder Neonazis, die ebenso wie an Forscher und Entdecker, die mit ihrer Achse unserer Republik verschieben oder verbiegen Kreativität und mit ihrem Fleiß die Grundlagen für die will, dem werden wir entschieden entgegentreten. Arbeitsplätze von morgen legen. Ich denke an die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Land- schaft prägen, ebenso wie an die Industriearbeiter im Unsere Gegner sind dabei nicht jene Bürgerinnen und Ruhrgebiet, im ostdeutschen Chemiedreieck, in nord- Bürger, die aus mancherlei Ärger und Verdruß Radi- deutschen Werften oder im süddeutschen Maschinen- kalen und Extremisten ihre Stimme gegeben haben; bau, die dafür sorgen, daß „Made in " ein sie wollen wir für die demokratischen Parteien Gütesiegel von Wertarbeit bleibt. zurückgewinnen! Unser Gegner sind Kader und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Funktionäre, die aus der Geschichte dieses Jahrhun- derts nichts dazugelernt haben. Ich denke an die Männer und Frauen, die als Entwick- lungshelfer in Ländern der Dritten Welt einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unschätzbaren Dienst auch für das weltweite Ansehen Deutschlands leisten. Ich denke vor allem an die Sie lehnen unsere demokratische Ordnung ab, und Mütter und Väter, die Ja zu Kindern sagen und ihnen viele wollen sie umstürzen. Geborgenheit und Zukunft schenken. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß wir diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Auseinandersetzung gewinnen werden; denn die ordneten der F.D.P.) große Mehrheit aller Deutschen steht auf unserer Jeder wird gebraucht. Wir sind auf die Lebenserfah- Seite. rung der älteren Generation angewiesen. Wir brau- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen die Träume und die Dynamik der Jungen. Wir benötigen das Vorbild behinderter Menschen, die mit Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die großem Lebensmut ihr ganz persönliches Schicksal Welt um uns herum hat sich in den vergangenen meistern. Ich halte es für unverantwortlich, wenn in Jahren grundlegend verändert. Dramatische Verän- unserem Land 55jährigen Arbeitslosen gesagt wird, derungen erleben wir nicht nur im internationalen sie würden nicht mehr gebraucht. Das ist unmensch- Umfeld, sondern auch in unserer eigenen Gesell- lich. schaft. Die neuen Herausforderungen und Chancen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vor denen wir Deutsche an der Schwelle zum nächsten Lachen bei Abgeordneten der SPD, des Jahrhundert stehen, erfordern von uns allen die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Bereitschaft zum Umdenken. Zum notwendigen PDS) Umdenken gehört, daß wir die Widersprüche offen aus- und ansprechen zwischen dem, was viele Men- — Es ist Ihre Sache, dabei zu lachen. Das zeigt auch schen sich wünschen, und dem, was sie dafür selbst zu die Lage, in der Sie sich geistig befinden. tun bereit sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) „Wenn die Freiheit unbegrenzt und beliebig wird", Wahr ist allerdings auch, daß es in unserer Gesell- so hat es Bischof Karl Lehmann in seiner Predigt am schaft Menschen gibt, die wir als Partner im Bündnis 10. November im Berliner Dom formuliert, „schlägt sie für die Zukunft erst noch werben müssen. Wir müssen in eine neue Form der Abhängigkeit um. Wir sind oft manche noch davon überzeugen, daß geistige Unbe- im Taumel der Freiheit gefangen und haben zuwenig weglichkeit und vor allem ideologische Verbohrtheit verstanden, daß zu dieser Freiheit Selbstbeherr- in die Sackgasse führen. schung und Verantwortung gehören." Es ist unbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. streitbar, meine Damen und Herren — und wir alle sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- erleben es täglich —, daß es immer schwerer wird, das SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS — Peter Gemeinwohl gegenüber Einzel- und Gruppeninter- Conradi [SPD]: Wen meint er da nur?) essen durchzusetzen. Viele in unserem Lande erwar- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 39

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl ten vom Staat zuviel und sind selbst zuwenig bereit, Alle diese Beispiele machen deutlich, daß der ein- Mitverantwortung zu übernehmen. zelne und die Gemeinschaft der Bürger stärkere Mitverantwortung und Initiative für das eigene und Jeder von uns kennt die Beispiele aus seinem damit für das Wohl aller übernehmen müssen. Das persönlichen Lebensbereich. Jeder weiß, daß Kinder geht aber nur, meine Damen und Herren, wenn der unsere Zukunft sind, aber gegen Spielplätze in Wohn- Staat dafür Freiräume schafft und sich auf seine vierteln wird gerichtlich vorgegangen, und Kinder zu eigentlichen Aufgaben konzentriert. haben wird immer mehr zum Nachteil bei der Woh- nungssuche. Wir wollen weniger Staat, aber wir wollen einen Staat, der seine eigentlichen Aufgaben voll erfüllt. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung der DIE GRÜNEN]: Wohl wahr! — Zurufe von inneren und äußeren Sicherheit seiner Bürger. der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Meine Damen und Herren, wenn Sie zustimmen, können Sie doch klatschen. Das ist doch ganz einfach Wir glauben an die Kraft der Freiheit. Wir wollen eine für Sie. Gesellschaft, die sich wieder stärker auf ihre eigenen, oft ungenutzten Möglichkeiten besinnt und ihren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ganzen Reichtum an Fleiß, Ideen und Hilfsbereitschaft Wir wissen, daß der Altersdurchschnitt in unserer mobilisiert. Gesellschaft rapide steigt und es damit immer mehr Wir wissen, daß die Familie der Ort ist, wo über pflegebedürftige ältere Menschen gibt. Aber wir füh- unsere Zukunft entschieden wird. Wir wissen, daß die ren gleichzeitig eine erregte Diskussion über den überschaubaren Lebenskreise das menschliche Ge- notwendigen Ausgleich zur Finanzierung der Pflege- sicht unseres Landes prägen. Deshalb kann es bei- versicherung. spielsweise nicht darum gehen, die Familie an die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Arbeitswelt anzupassen, sondern muß es darum DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal Herrn gehen, die Arbeitswelt an die Familie anzupassen. Stoiber!) Dies ist eine gemeinsame Aufgabe für Tarifpartner und für den Staat. Es wird über eine wachsende Anonymität und den Verlust von Bindungen in unserer Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge geklagt, aber zu wenige sind bereit, ihr eigenes ordneten der F.D.P.) Handeln an den oft großartigen Vorbildern gelebter Ein wichtiger Prüfstein für die Menschlichkeit unse- Nachbarschaft und praktizierter Nächstenliebe aus- rer Gesellschaft ist die Art unseres Umgangs mit zurichten. Ausländern Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ( [SPD]: Ja!) ist als allgemeiner Grundsatz inzwischen unbestritten, aber es wird im Alltag zuwenig dafür getan, Frauen - und unsere Bereitschaft, sie zu integrieren. Wir wollen gleiche Chancen zu geben. Einbürgerung erleichtern Uns alle bedrückt die Arbeitslosigkeit, weil wir (Lachen bei der SPD) wissen, was dies für die Betroffenen und ihre Familien und für in Deutschland geborene Kinder der dritten bedeutet. Aber Möglichkeiten, auch längerfristig Generation eine deutsche Kinderstaatszugehörigkeit Arbeitslosen den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit einführen. zu erleichtern, werden vielerorts noch viel zuwenig genutzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir alle wissen, daß wir viele neue Arbeitsplätze Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, jeder brauchen. Aber gleichzeitig gibt es zuwenig gesell- weiß, daß wir im internationalen Wettbewerb ohne schaftliche Anerkennung für diejenigen, die das Wag- Erneuerung an Zukunftsfähigkeit verlieren. Wir ste- nis der Selbständigkeit einzugehen bereit sind und als hen deshalb vor der großen Herausforderung, Innova- Arbeitgeber Beschäftigung für sich und andere schaf- tionsbereitschaft und Dynamik in Wirtschaft und fen. Gesellschaft zu fördern. Wir haben das Glück, daß die deutsche Einheit uns (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Chance gibt, die Erneuerung in Frieden und in Wir erregen uns darüber, daß teilweise 20 Jahre und Gemeinsamkeit zu gestalten. Deutschland hat sich mehr zwischen Planung und Baubeginn für Eisen- seit der Wiedervereinigung tiefgreifend verändert — bahnstrecken liegen. Aber wahr ist auch, daß solche im Osten, aber auch im Westen. Unser Volk hat in Verzögerungen durch zu viele Klagen und Einsprüche einer beispiellosen und weltweit anerkannten Ge- verursacht werden. meinschaftsleistung seine Bereitschaft zur Solidarität Der Ministerpräsident eines Bundeslandes hat mir und seine Kraft zum Neubeginn unter Beweis gestellt. dieser Tage ein besonders anschauliches Beispiel für Wir vertrauen auf diese Bereitschaft und auf diese solche Hemmnisse berichtet: Ein Landkreis, der seit Kraft auch beim Aufbruch in die Zukunft. 15 Jahren eine Müllverbrennungsanlage betreibt, Meine Damen und Herren, wir werden in den muß diese jetzt nachrüsten. Für das Genehmigungs- kommenden Tagen Gelegenheit haben, ausgiebig verfahren hatte er dem zuständigen Regierungspräsi- über die Einzelheiten des Arbeitsprogramms der Bun- denten 23 Aktenordner in 26facher Ausfertigung, also desregierung für diese Legislaturperiode zu sprechen. insgesamt fast 600 Ordner, zu übersenden. Der Text der Koalitionsvereinbarung ist jedermann 40 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zugänglich; ich brauche ihn hier nicht im einzelnen zu — auch das hören wir oft — in den Augen mancher referieren. Ich werde mich deshalb im folgenden auf zum Rechtsverweigerungsstaat wird. Deshalb haben einige der Fragen beschränken, die aus meiner und wir in der Koalition vereinbart: Die Zahl der Bundes- unserer Sicht für die Zukunft unseres Landes von behörden wird durch Streichung oder Zusammenfas- herausragender Bedeutung sind. sung von Aufgaben verkleinert. Der Personalbestand Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und in den Bundesbehörden wird in den nächsten vier Herren, der Staat ist für den Bürger da. Er hat die Jahren jährlich um 1 % gesenkt. Im Rahmen der Rechte der Bürger zu schützen. Er darf ihre Kräfte aber Steuerreform wird das Steuerrecht spürbar verein- facht. Die Bundesanstalt für Arbeit wird stärker nicht durch ein Übermaß an Reglementierungen und Bürokratie fesseln. Viele sagen — und es ist ja auch dezentralisiert und ortsnäher organisiert. Die Instru- so —, sie litten unter einer Flut von Gesetzen, Verord- mente der Wirtschaftsförderung werden gestrafft und nungen und Vorschriften und fühlten sich durch eine die Antragsverfahren vereinfacht. Die vom Staat vor Unzahl von Formularen, Anträgen, Veranlagungen allem den Unternehmen abgeforderten statistischen Angaben werden auf das absolut Notwendige redu- und Erklärungspflichten eingeengt und überfordert. Wir sind in der Tat dabei, uns auf allen Ebenen — im ziert. Bund, aber auch in den Ländern und Gemeinden — in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einem immer dichter werdenden Gestrüpp von büro- kratischen Regelungen zu verfangen. Damit verliert Planungs- und Genehmigungsverfahren sollen kürzer die Gesellschaft die Kraft und die Fähigkeit zu Krea- werden. Mit diesem Ziel streben wir Änderungen im tivität und Innovation. Baurecht, bei Normen und Standards und im Umwelt- recht an. Verwaltungs- und Gerichtsverfahren müs- Um es klar zu sagen: Diese Entwicklung in den sen für den Bürger wieder zeitlich überschaubar und letzten Jahrzehnten haben wir alle gemeinsam zu berechenbar werden. Wir wollen z. B. die überlangen verantworten. Es nützt jetzt gar nichts, rückwärtsge- Rechtsschutzverfahren verkürzen. So kann vielfach wandte Schuldzuweisungen vorzunehmen. Hilfreich die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittelverfah- ist nur, wenn wir den gemeinsamen Willen aufbrin- rens wegfallen, zumindest zeitlich stark begrenzt gen, den Rechts- und Vorschriftendschungel zu werden. Entsprechende Vereinfachungen und Ver- durchforsten und zu lichten. besserungen sollen auch in anderen Gerichtszweigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geprüft werden. Es soll auch geprüft werden, ob es möglich ist, Rechtsvorschriften von vornherein zeitlich Dies ist ebenso eine Aufgabe für den Gesetzgeber auf zu befristen. der Ebene des Bundes und der Länder, wie für Rechtsprechung und die Behörden, die das Recht Meine Damen und Herren, wir müssen in all diesen anwenden. Dabei, meine Damen und Herren, müssen Bereichen ansetzen; denn wir sind heute an einem wir auch prüfen, ob nicht ein übertriebenes Streben Punkt angelangt, wo in unserem Land zuwenig nach Einzelfallgerechtigkeit die Gesetze letztlich so bewegt und zuviel verhindert werden kann. - kompliziert gemacht hat, daß sie undurchschaubar (Peter Conradi [SPD]: Bei der Regierung!) geworden sind. — Ihre Beiträge werden immer bedeutender; das muß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich Ihnen sagen. Viele dieser Regelungen wirken zukunftsfeindlich, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der denn sie zielen auf die Verfestigung von Besitzstän- F.D.P.) den. Hierin treffen sich nur allzuoft die Wünsche von Verbänden und Interessenvertretern mit dem Behar- Ich erinnere Sie an Ihre Zwischenrufe im Mai. Den- rungsvermögen der Bürokratie und auch — das wol- noch stehe ich hier wieder als Bundeskanzler, meine len wir offen zugeben — der Neigung in der Politik, Damen und Herren. solchen Forderungen nachzugehen. Wir haben uns (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vorgenommen, diese Verkrustungen aufzubrechen. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) GRÜNEN]: Das ist ja das Problem! — Joseph Wir wollen einen schlanken Staat. Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Deswegen wird das auch nichts mit (Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem schlanken Staat!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schlanker Staat bedeutet für uns auch die Rückfüh- NEN]: „Schlanker Staat"?!) rung des Anteils der Staatsausgaben am Sozialpro- dukt. Wir wollen diesen Anteil auf 46 % senken, wie Dieser läßt dem einzelnen mehr Freiräume; aber er wir es schon einmal getan haben. weist ihm auch mehr Verantwortung zu. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. Das haben doch auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie im Wahlkampf gesagt. Jetzt sind Sie eingeladen Als ich dies 1982 ankündigte, gab es viel Gelächter mitzumachen: hier, im Bundesrat und in den Ländern. und Skepsis. 1982 lag der Anteil über 50 %. Wir haben Das ist eine einmalige Chance für Sie, sich zu profi- ihn bis 1989 auf 46 % gesenkt. — Dies war eine lieren. Ich kann Sie nur einladen, mitzumachen. wesentliche Voraussetzung, um bei der deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einheit die nötigen Finanzmittel aufbringen zu kön- nen. — Wir wollen die Gefahr bannen, daß der Rechtsstaat erst zu einem reinen Rechtsmittelstaat und schließlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 41

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Der Anstieg der Staatsquote seit 1990 auf jetzt 52 % Leistung wollen wir in den kommenden Jahren wie- war unvermeidlich. Er spiegelt im wesentlichen derholen. wider, daß wir uns den historisch einmaligen Aufga- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ben der deutschen Einheit gestellt haben. Wir alle wissen: Diese waren nicht allein durch Sparen oder Die Koalition aus CDU, CSU und F.D.P. ist sich darin Umschichten zu bewältigen. einig, den Solidaritätszuschlag baldmöglichst abzu- bauen und entsprechende Rückführungsmöglichkei- zu meistern, die in Wir hatten finanzielle Aufgaben ten jährlich festzustellen. Hierüber werden wir auch der Welt ohne jedes Beispiel sind. Das waren und sind mit den Bundesländern die notwendigen Gespräche weiterhin die Aufwendungen vor allem für den Auf- führen. bau in den neuen Bundesländern. Die Bundesregierung wird ihre wachstumsorien- Wir haben mehr als alle anderen Kriegsflücht- tierte, leistungsgerechte, familien- und mittelstands- bei uns linge aus dem ehemaligen Jugoslawien freundliche Steuerreform fortsetzen. In diesem Rah- aufgenommen. Wir haben mehr als alle anderen den men werden wir auch das Existenzminimum der Reformprozeß in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Bürger ab 1996 steuerlich freistellen. sowie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch Hilfe zur Selbsthilfe unterstützt. Natürlich Meine Damen und Herren, heute schöpft der Staat haben wir das auch aus der Überlegung getan, daß ein von jeder D-Mark Wirtschaftsleistung der Bürger und Scheitern dieser Reformen uns erneut vor ungeheure Unternehmen rund 43 Pfennig durch Steuern und Probleme stellen würde. Wir wollen auch deshalb den Abgaben ab. Diese Abgabenquote ist eindeutig zu Erfolg der Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteu- hoch. Wir müssen sie senken; denn sie droht den ropa, vor allem auch in Rußland! Leistungswillen des einzelnen zu erdrücken und erschwert das Entstehen von mehr Arbeitsplätzen in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschland. Trotz dieser gewaltigen zusätzlichen Aufgaben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) werden wir unseren strikten Kurs der Haushaltskon- solidierung weiter fortsetzen. Das Haushaltsmorato- In der Konsequenz heißt das für uns: Im Vordergrund rium bleibt bestehen. Das heißt: Es kann nur dann an müssen solche steuerpolitischen Maßnahmen stehen, einer Stelle mehr ausgegeben werden, wenn gleich- die die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland zeitig an anderer Stelle Einsparungen vorgenommen erleichtern. Deshalb wollen wir unsere Unternehmen werden. vor allem dort entlasten, wo sie im internationalen Vergleich wettbewerbsverzerrende Sonderlasten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tragen, insbesondere also bei den substanzverzehren- der F.D.P.) den Steuern wie der Gewerbekapitalsteuer und der Insgesamt dürfen die Staatsausgaben nur deutlich betrieblichen Vermögensteuer sowie bei der Gewer- weniger zunehmen als das Sozialprodukt. beertragsteuer. Meine Damen und Herren, mit unserer Politik der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Privatisierung und Überführung von Aufgaben in der F.D.P.) privatrechtliche Organisationsformen werden wir Selbstverständlich, meine Damen und Herren, müs- unbeirrt fortfahren. sen und werden wir über die konkrete Ausgestaltung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Steuerreform und der damit im Zusammenhang der F.D.P.) stehenden umfassenden Gemeindefinanzreform mit den Ländern, den Gemeinden und der Wirtschaft Die Zukunft Deutschlands kommt nicht aus dem sprechen und diskutieren. Für mich — das will ich Füllhorn staatlicher Wohltaten. Zukunftsgestaltung betonen — ist es unverzichtbar, daß die Gemeinden beginnt in den Köpfen der Menschen und nicht in der einen fairen Ausgleich erhalten, der das Interesse an Kasse des Staates. Sparzwänge können allerdings der Ansiedlung von Gewerbebetrieben weiterhin durchaus heilsam sein: Sie nötigen zum Umdenken gewährleistet und vor allem die kommunale Selbst- und zur Neufestsetzung von Prioritäten. Sparsamkeit verwaltung stärkt — eine der entscheidenden Voraus- heute schafft finanziellen Spielraum für morgen. Mit setzungen für die positiven Entwicklungen der letzten unserer Entschlossenheit, jetzt am eingeschlagenen 40 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Sparkurs festzuhalten, nehmen wir auch die Verant- wortung gegenüber künftigen Generationen wahr. So (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wie wir die Schöpfung für diejenigen zu bewahren Die notwendige Rückführung des Staates auf seine haben, die nach uns kommen, so haben wir den originären Aufgaben bedeutet keine Schwächung, nächsten Generationen auch die finanziellen Grund- sondern in Wahrheit seine Stärkung; denn diese lagen für die Zukunft zu sichern. So verstanden ist Politik versetzt unseren Staat in die Lage, jene Aufga- -Finanzpolitik immer und vor allem auch Zukunfts ben wirksam zu erfüllen, die nur er wahrnehmen und Gesellschaftspolitik. kann. Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung Die beabsichtigte Senkung der Staatsquote auf innerer Sicherheit. Wir wollen keinen autoritären 46 % ist auch notwendig, um die Steuer- und Abga- Staat, aber wir wollen einen Staat mit Autorität. schrittweise senken benlast für Bürger und Wirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu können. Die von mir geführte Bundesregierung hat in den 80er Jahren beides geschafft: Sie hat die Es geht nicht nur um den Schutz des Bürgers vor dem Staatsquote verringert und die Steuern gesenkt. Diese Staat, sondern immer auch um seinen Schutz durch 42 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl den Staat. Die Rechte der Opfer dürfen nicht hinter Ich habe deshalb den Spitzenvertretern von Wirt- den Rechten der Täter zurückstehen. schaft und Gewerkschaften gemeinsame Gespräche zu diesen wichtigen Zukunftsfragen vorgeschlagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich freue mich darüber, daß die Sozialpartner dies Die Steuerzahler erwarten zu Recht, daß der Staat ebenfalls als notwendig ansehen. Ich werde sehr bald seine Einnahmen vor allem für den Schutz von Leben, zu diesen Gesprächen einladen. Freiheit, körperlicher Unversehrtheit und Eigentum Wir müssen jetzt alle Kraft aufwenden, um eine seiner Bürger verwendet. neue Beschäftigungsinitiative zum Erfolg zu führen. Grund zur Sorge bereiten uns allen die nach wie vor Dabei muß es auch gelingen, diejenigen wieder hohe Eigentumskriminalität und die Gewaltbereit- besser in die Arbeitswelt zu integrieren, die im Wett- schaft in Teilen unserer Gesellschaft. Mit der Öffnung bewerb um Arbeitsplätze oftmals schlechtere Chan- der Grenzen hat — wie in allen anderen europäischen cen haben. Ich denke beispielsweise an Langzeitar- Ländern — auch auf deutschem Boden die grenzüber- beitslose. Auch Schwerbeschädigte und Behinderte schreitende internationale Kriminalität, vor allem der müssen selbstverständlicher Teil unserer Arbeitswelt Mafia und mafiaähnlichen Organisationen, spürbar sein. zugenommen. Zur Bekämpfung der grenzüberschrei- tenden Kriminalität muß die Grenzsicherheit ver- In den Jahren 1983 bis 1992 ist es schon einmal in einer großen Gemeinschaftsleistung gelungen, drei stärkt, der rasche Aufbau von EUROPOL vorangetrie- ben und die bilaterale Kooperation insbesondere mit Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Die- den östlichen Nachbarstaaten intensiviert werden. sen großen Erfolg gilt es zu wiederholen. Der Weg dazu führt über eine Erneuerung und Zukunftsorien- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. der F.D.P.) Die wirtschaftliche Welt wird sich in den nächsten Ich sehe mit großer Genugtuung, daß auch jene 20, 25 Jahren — jeder spürt das — stärker verändern Partner, die noch bei Abschluß des Vertrags von als in den letzten 100 Jahren. Darauf müssen wir uns Maastricht gegen eine solche Zusammenarbeit in einstellen. Ohne positive Einstellung der Gesellschaft Europa waren, jetzt auf Grund eigener Erfahrungen zu wissenschaftlich-technischem Fortschritt kann der zunehmend zu der Erkenntnis gelangen, daß unsere Wohlstand in Deutschland nicht dauerhaft gesichert damaligen Vorschläge in die richtige Richtung wie- werden. sen. Ich denke, wir werden auf diesem Feld jetzt ein wesentliches Stück vorankommen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Für die Koalition sind Verhütung und Bekämpfung Wer z. B. Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie von Straftaten gleichermaßen wichtig. Eine wirksame verteufelt, verkennt die großen Chancen einer ethisch Prävention setzt ein Zusammenwirken von Bund und verantworteten Nutzung dieser Möglichkeiten. Ländern mit den gesellschaftlichen Kräften in allen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bereichen voraus. Zur Bündelung der erforderlichen - Maßnahmen werden wir deshalb das im Jahre 1993 Trotz zunehmender Bedeutung des Dienstlei- vorgelegte Sicherheitsprogramm von Bund und Län- stungsbereichs ist für unser Land eine starke industri- dern zu einem nationalen Kriminalitätsbekämp- elle Basis unverzichtbar. Diese Basis kann nur gesi- fungsplan fortentwickeln. Er muß auch die finanziel- chert werden, wenn wir zu ständiger Innovation bereit len und personellen Rahmenbedingungen sowie eine sind. Wir dürfen uns auch nicht von notorischen Verbesserung der Arbeit von Polizei und Justiz einbe- Angstmachern beirren lassen, die immer nur von der ziehen. „Risikogesellschaft" statt von der „Chancengesell- schaft" reden. Auf Erneuerung setzen — das muß das Die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Motto unserer Arbeit sein! Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminali- tät, zur Geldwäsche und zur Verbrechensbekämp- Wir wollen dabei eine breite Welle unternehmeri- fung werden auf der Grundlage von Erfahrungsbe- scher Initiativen auslösen, um Raum für neue selb- richten ausgewertet. ständige Existenzgründungen zu schaffen. Der Mittel- stand — das ist die Erfahrung von bald 50 Jahren Bevor der Gesetzgeber erneut tätig wird, müssen Bundesrepublik Deutschland — ist der Motor der wir natürlich die bestehenden Möglichkeiten voll Sozialen Marktwirtschaft. Kleine und mittlere Be- ausschöpfen. Sollte sich herausstellen, daß die beste- triebe beschäftigen nahezu zwei Drittel aller Arbeit- henden Gesetze nicht ausreichen, sind wir auch zu nehmer und bilden vier Fünftel aller Lehrlinge in einer Verschärfung dieser Gesetze bereit. Deutschland aus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.) Sie spielen damit eine entscheidende Rolle für die Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik unse- Schaffung zusätzlicher zukunftsfähiger Arbeitsplätze res Landes. bleibt die zentrale Aufgabe aller, die für die Beschäf- tigung Verantwortung tragen. Arbeit für alle muß Seit der deutschen Einheit sind in den neuen unser gemeinsames Ziel sein. Die Erreichung dieses Bundesländern über 400 000 Selbständige bzw. mit- Ziels kann keine demokratische Regierung der Welt telständische Unternehmen tätig geworden. Hierin allein bewirken. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind liegt ein ganz wesentlicher Grund für die großen hier gefordert. Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau Ost. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 43

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Neu gegründete Unternehmen in den neuen Bun- Telekommunikationsnetz zum 1. Januar 1998 aufhe- desländern haben es am Markt, wie wir wissen, oft ben. sehr viel schwerer als die im Westen, weil sie über kein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ausreichendes Kapitalpolster verfügen. Bei schwan- der F.D.P.) kender Nachfrage oder verspätet bezahlten Rechnun- gen ihrer Kunden geraten sie daher leicht in wirt- Eine zukunftsgerichtete Standortpolitik für schaftliche Schwierigkeiten. Wir wollen in solchen Deutschland kann dauerhaft nur dann erfolgreich Fällen von Kapitalknappheit helfen. Der neue Konso- sein, wenn auch ökologische Notwendigkeiten in lidierungsfonds sowie die Förderung von langfristig richtigem Maße berücksichtigt werden. Wir werden gebundenem Beteiligungskapital sind Beispiele hier- daher die wirtschaftlichen Anreize zu einem schonen- für. den Umgang mit der Umwelt und mit unseren natür- lichen Ressourcen weiter verstärken. Im Sinne eines Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Auf- umweltgerechten Verkehrssystems wird die Bundes- holprozeß in den neuen Bundesländern ist eindrucks- regierung ihre Politik des ökologisch ausgewogenen voll und kommt ganz unbestritten voran. Dazu hat die Aus- und Neubaus des Straßen- und Schienennetzes Treuhandanstalt einen entscheidenden Beitrag gelei- und der Binnenwasserstraßen fortsetzen. stet. Daß dabei auch Fehler gemacht wurden, ist angesichts der Dimension und der Dringlichkeit die- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ser einmaligen Aufgabe unvermeidlich. Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Unser Ziel ist es dabei auch, die Umweltbelastung Dies alles ändert nichts daran, daß die Privatisie- rung und Sanierung von über 10 000 Industriebetrie- durch eine Weiterentwicklung der Fahrzeugtechnik erheblich zu verringern. Wir sollten unseren Ehrgeiz ben zu Recht weltweite Anerkennung erfahren haben. dareinsetzen, daß Deutschland das erste Land ist, in Ich danke ganz besonders der Präsidentin der Treu- dem das Fünf-Liter-Auto Standard wird — das heißt, handanstalt Birgit Breuel und ihrem ermordeten Vor- daß der durchschnittliche Kraftstoffverbrauch um gänger, dem unvergessenen Detlev Rohwedder, für etwa ein Drittel gesenkt wird. ihren Dienst an unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) — Ich denke, hier können Sie doch wenigstens einmal klatschen, meine Damen und Herren. Die Arbeit der Treuhandanstalt ist auch eine große Gemeinschaftsleistung. An ihr haben über Parteigren- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ zen hinweg namhafte Vertreter von Wirtschaft und DIE GRÜNEN]: Wenn Sie da noch ein paar Gewerkschaften sowie die Ministerpräsidenten der Fristen genannt hätten, hätten wir gern neuen Bundesländer verantwortlich mitgewirkt. Ich geklatscht! Doch etwas Konkretes haben wir danke allen, die sich für diese beispiellose Aufgabe vermißt!) des Aufbaus der ostdeutschen Wirtschaft in den letz- — Aber wissen Sie, ob Sie klatschen oder nicht, Herr ten vier Jahren persönlich engagiert haben. Kollege, das ist eh egal. Wachstum und Beschäftigung von morgen können Meine Damen und Herren, in der Energiepolitik wir nicht mit dem Wissen und den Verfahren von halten wir am Ziel — und jetzt kommt eine Passage, gestern erreichen. Unsere schnellebige Zeit produ- die Ihnen besonders gefällt — eines ausgewogenen ziert technologische Sprünge in immer kürzeren Zeit- Mixes der verschiedenen Energieträger fest. räumen. Forschung, Technologie und Innovation sind (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heute die wichtigsten Wachstumsquellen unserer Wirtschaft. Gerade wir in Deutschland, einem roh- Dies bedeutet konkret, daß auch in Zukunft die stoffarmen Land, müssen uns in besonderer Weise auf Möglichkeit bestehen muß, neue Kernkraftwerke mit den Zugewinn von Wissen und Können stützen. Trotz den jeweils höchsten Sicherheitsstandards zu aller Haushaltszwänge werden wir deshalb den For- bauen. schungsetat im Bundeshaushalt überproportional (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) steigern. Wir werden selbstverständlich ebenso prüfen, wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) regenerative Energien und ihre Markteinführung Der Technologietransfer zwischen Wissenschaft stärker gefördert werden können. Wirtschaft und und Wirtschaft muß verstärkt werden. Die Umsetzung Gesellschaft brauchen Planungssicherheit im Ener- in marktfähige Produkte muß zügiger erfolgen. Die- giebereich. Deshalb werden wir trotz aller Erfahrun- sem Zweck dient auch der „Rat für Forschung, Tech- gen der jüngsten Zeit die Energiekonsensgespräche nologie und Innovation", den ich zur Intensivierung mit allen Beteiligten wieder aufnehmen. der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirt- Meine Damen und Herren, Umwelt, Verkehr, Ener- schaft und Politik ins Leben rufen werde. gie und Telekommunikation stehen in engem Zusam- menhang mit der Erneuerung unserer Wirtschaft und Meine Damen und Herren, modernen elektroni- Gesellschaft. Heute sind wir bei Umwelttechnologien schen Kommunikationsmitteln kommt für Industrie, führend in der Welt. Diese Spitzenposition müssen wir Handel, öffentliche Verwaltung und Privathaushalte ausbauen. Der Einsatz des Transrapid wie des ICE bei weltweit eine immer größere Bedeutung zu. Mehr uns ist zugleich die beste Werbung für deren Wettbewerb auf diesem Feld wird auch bei uns die Export. Wachstumsdynamik beschleunigen. Wir werden des- halb die Monopole für den Telefondienst und das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 44 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der wirklich Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, an die drängenden Klimaprobleme wäre es töricht, unseren Zukunft zu denken ist nicht nur ein Erfordernis für technologischen Wettbewerbsvorsprung in der Kern- Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft und Technik. energietechnik und ihrer Sicherheit aufs Spiel zu Zukunftsorientierung zeigt sich vor allem in unserer setzen. Bei den neuen Kommunikationstechniken Einstellung zu Kindern. Ohne Kinder verarmt eine geht es um die Wachstumsmärkte der Zukunft, um Gesellschaft. Wer sich für Kinder entscheidet und Hunderttausende neuer Arbeitsplätze. Kinder erzieht, erbringt zugleich eine unverzichtbare Leistung für das ganze Land. Er legt Fundamente für Wir müssen die Fähigkeiten unserer hochqualifi- die Gesellschaft von morgen. zierten Arbeitnehmerschaft noch besser nutzen und unser bewährtes System der beruflichen Bildung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge weiterentwickeln, das weltweit als vorbildlich aner- ordneten der F.D.P. und des BÜNDNIS kannt wird. Die Berufsausbildung kann nicht allein SES 90/DIE GRÜNEN) von Handwerksbetrieben, kleinen und mittleren Wir wollen, daß unsere Gesellschaft Familien- und Unternehmen ge tragen werden. Ich sehe mit Sorge kinderfreundlicher wird. Das ist nicht allein oder in — das will ich hier einmal aussprechen —, daß sich erster Linie immer nur eine Frage des Geldes. Auch größere Be triebe und Unternehmen immer mehr aus hier ist Umdenken angesagt. Jeder ist aufgefordert: ihrer Verantwortung für die Lehrlingsausbildung Bürger, Vereine, Verbände und selbstverständlich zurückziehen. auch die Politik, das Notwendige auf allen Ebenen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) durchzusetzen. Es geht uns darum, die be triebliche Ausbildung zu Es ist doch nicht hinnehmbar, daß starre Öffnungs- sichern und die berufliche Bildung aufzuwerten. Wir zeiten für Kindergärten und unregelmäßige Schulzei- ten das Leben der Familien, nicht zuletzt der Allein- wollen eine Gleichwertigkeit beruflicher und akade- mischer Abschlüsse in der Förderung wie bei den erziehenden, unnötig erschweren, daß die Arbeits- Aufstiegschancen erreichen. welt für Mütter und Väter zu starr organisiert ist und daß Kinder zu einem erheblichen Nachteil bei der Meine Damen und Herren, wir sind entschlossen, Wohnungssuche geworden sind. alle Chancen zu unterstützen und zu nutzen, um neue Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstüt- Beschäftigungsfelder zu erschließen. So wollen wir, zung und Ermutigung. Wir wollen zum einen die Frau Kollegin Fuchs, das große Potential der privaten Leistung der Familie auch finanziell stärker anerken- Haushalte für den regulären Arbeitsmarkt gewin- nen und zum anderen — das ist mir besonders nen. wichtig — die Wohnungssituation für Familien mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kindern nachhaltig verbessern. der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Hierzu werden die steuerlichen Abzugsmöglichkei- ordneten der F.D.P.) - ten, z. B. für Pflege-, Haushalts- und Familienhilfen, Wir wollen Eltern und Alleinerziehende dadurch erweitert und verbessert. stärken, daß wir ihnen nicht wegsteuern, was sie für den Unterhalt der Kinder brauchen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da wird es Ich habe Sie angesprochen, Frau Kollegin, weil Sie als aber Zeit!) eine kluge Kollegin seit langem mit mir diese Mei- nung teilen. Damit tragen wir zugleich der Forderung des Bundes- verfassungsgerichts Rechnung. Wir werden deshalb ( [Köln] [SPD]: Das ist richtig, den Kinderfreibetrag deutlich anheben und ihn stu- Herr Bundeskanzler!) fenweise weiter erhöhen. Das Kindergeld kann dann — Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie in dieser Sache in gleichzeitig stärker auf diejenigen konzentriert wer- Ihrer Fraktion werbend wirken. den, die ein niedrigeres Einkommen und mehrere Kinder haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, für Eltern und Alleiner- Parallel hierzu werden wir unsere Offensive für ziehende sind familiengerechte Wohnungen und ein mehr Flexibilität im Arbeitsleben und mehr Teilzeit- kinderfreundliches Wohnumfeld von größter Bedeu- beschäftigung gemeinsam mit der Wirtschaft und den tung. Vor allem in den Ballungsgebieten besteht Gewerkschaften fortsetzen. Ich muß hier allerdings Mangel an bezahlbaren Wohnungen. sagen, daß hier Bund, Länder und Gemeinden ein (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ besseres Beispiel geben müssen. Dies wird ein wich- DIE GRÜNEN]: Und warum?) tiges Thema der nächsten Monate und Jahre sein. Wir brauchen deshalb neben mehr Wohnraum auch Teilzeitarbeit ist mehr als Halbtagsbeschäftigung. eine Verstärkung der Wohneigentumsförderung ins- Wir haben die große Chance, insgesamt mit einer besondere für Familien mit Kindern. phantasievolleren Ausgestaltung der Arbeitszeiten neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wirtschaft und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Gewerkschaften, Unternehmensleitungen und Be- ordneten der F.D.P.) triebsräte müssen mehr als bisher Arbeitszeitwünsche Bauen ist in Deutschland immer noch zu teuer. Wir der Arbeitnehmer und die bessere Nutzung teurer wollen deshalb kostensparendes Bauen fördern und Maschinen miteinander in Einklang bringen. wohnungspolitische Instrumente stärker als bisher auf Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 45

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl die Erhaltung und die Schaffung bezahlbaren Wohn- Auch hier hoffe ich auf ein gutes Gespräch mit den raums ausrichten. Ländern und den Gemeinden. Ich hoffe, daß all jene Wir werden die Reform des sozialen Wohnungsbaus Bürgermeister und Landräte, die mir unter vier Augen immer wieder sagen, hier müsse eine Änderung fortsetzen sowie das Wohngeld in Ost und West vereinheitlichen und familienfreundlich an die Ein- eintreten, auch bereit sind, dies öffentlich zu sagen kommens- und Mietentwicklung anpassen. und mit durchzusetzen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sichern die Der dritte Schwerpunkt für den Umbau des Sozial- Fundamente unseres Sozialstaats. Er ist eine wichtige staats ist die Fortsetzung der Gesundheitsreform. Ziel Grundlage des sozialen Friedens und unverzichtbarer dieser Reform ist es, die Leistungsfähigkeit und Finan- Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen den zierbarkeit unseres Gesundheitswesens zu erhalten. Sozialstaat durch Umbau festigen. Nur so können wir Wir werden die Reform im kommenden Jahr im auch in Zukunft unser im internationalen Maßstab Gespräch mit allen beteiligten Gruppen und Organi- hohes Niveau sozialer Sicherheit erhalten. sationen erarbeiten und zügig verwirklichen. Wir wenden in Deutschland heute rund ein Drittel Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am unseres Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen 8. Mai des kommenden Jahres wird sich das Ende des auf. Jeder weiß, daß dieser Anteil nicht weiter erhöht Zweiten Weltkriegs zum 50. Mal jähren. Wir werden werden kann. Wir müssen deshalb prüfen, wie wir dabei in besonderer und gemäßer Weise der Opfer des denen stärker helfen können, die der Hilfe am meisten Krieges und der Gewaltherrschaft gedenken. Wir bedürfen. Wir haben uns für den begonnenen Umbau werden uns auch dankbar daran erinnern, daß Kriegs- des Sozialstaats vor allem drei Schwerpunkte gegner von gestern uns die Hand zu Versöhnung und gesetzt: Freundschaft gereicht haben. Die Arbeitsmarktpolitik muß sich noch stärker Seit 50 Jahren leben wir Deutsche in Frieden. Das ist benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt widmen die längste Friedensperiode in der jüngeren deut- und gemeinsam mit Wirtschaft und Sozialpartnern schen Geschichte. Und seit dem Ende des SED- wirksamere Anreize zur Aufnahme einer Beschäfti- Regimes leben alle Deutschen gemeinsam in Frei- gung entwickeln. Das Arbeitsförderungsgesetz muß heit. vereinfacht und übersichtlicher gestaltet, die Effizienz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Arbeitsämter verbessert werden. Wir wollen bei dieser Reform auf die Erfahrungen von Wirtschaft und Wir haben heute — und dies zum ersten Mal in Sozialpartnern zurückgreifen und das notwendige unserer Geschichte — gleichzeitig ausgezeichnete Gespräch mit den Ländern führen. Beziehungen zu Washington, Paris, London und Mos- kau. Wir leben in Eintracht mit allen unseren Nach- Im Sozialhilferecht bleibt es bei dem Grundsatz: barn. Darauf dürfen wir stolz sein. Jeder, der die Solidarität unserer Gesellschaft braucht, muß die erforderliche Hilfe erhalten. Das - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heißt, es geht nicht um lineare Kürzungen. Wir wollen An dem bewährten Kurs der deutschen Außnpoli- jedoch, wo immer möglich, Anreize und Eigeniniti- tik, vor allem der festen Einbindung Deutschlands in ative stärken, um Sozialhilfebedürftigkeit zu überwin- das Atlantische Bündnis und in die Europäische den. Union, werden wir festhalten. Aber, meine Damen Sozialhilfeempfängern, denen die Aufnahme einer und Herren, auch in der Außenpolitik werden wir uns Arbeit zugemutet werden kann, soll verstärkt Arbeit angesichts der Veränderungen in der Welt neuen — auch geringer entlohnte Arbeit — angeboten wer- Herausforderungen mit Umsicht und Klugheit zu den. stellen haben. Zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode wird es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sein, die politische Einigung Europas weiter zu festi- ordneten der F.D.P.) gen und entscheidend voranzubringen. Die deutsch- Das ist eine Chance für einen Einstieg in Beschäfti- französische Freundschaft wird hierbei unverändert gung und zugleich eine Schranke gegen die Ausnut- herausragende Bedeutung haben. Die politische Eini- zung von Sozialhilfe. Es ist auch für die Betroffenen gung Europas ist und bleibt im existentiellen Interesse wichtig, daß sie nicht in der Abhängigkeit von der Deutschlands. Es geht uns nicht darum, einen - Sozialhilfe bleiben. päischen Überstaat zu schaffen. Europa hat nur dann Ungeachtet unserer verschiedenen politischen eine wirklich gute Zukunft, wenn es sich an dem Standpunkte muß es uns allen doch zu denken geben, Prinzip der Einheit in Vielfalt ausrichtet. daß nach einer neueren Untersuchung rund ein Drittel Wir alle kennen die zentralen Themen der in der Sozialhilfeempfänger in der alten Bundesrepu- Maastricht vereinbarten Regierungskonferenz 1996. blik, denen eine zumutbare Arbeit angeboten wurde, Dabei wollen wir die demokratische Verankerung diese abgelehnt hat. und die Bürgernähe der Union stärken. Dazu gehört insbesondere der Ausbau der Rechte des Europäi- (Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!) schen Parlaments. Unsere Auffassung ist, daß dies dann auch eine Die Bürger Europas erwarten von uns eine stärkere Senkung der Sozialhilfe für diese Empfänger zur Zusammenarbeit bei der Innen- und der Rechtspoli- Folge haben muß. tik. Bisherige Initiativen, wie bei EUROPOL und bei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Verwirklichung einer gemeinsamen Asylpolitik, 46 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl haben noch nicht den notwendigen Durchbruch terung von NATO und Europäischer Union in einem erbracht. Wir dürfen hier mit unserem Bemühen nicht engen inneren Zusammenhang. nachlassen. Damit in Europa keine neuen Trennlinien entste- Wir wollen die innere und die äußere Handlungsfä- hen, müssen Integration einerseits und Kooperation higkeit der Union stärken. Dazu müssen wir die andererseits einander ergänzen. Dabei kommt auch Institutionen straffen und effektiver gestalten. In der der Stärkung der KSZE eine wichtige Rolle zu. Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir, daß Europa Meine Damen und Herren, wir haben am 31. Au- in wichtigen Fragen seine gemeinsamen Interessen gust, vor wenigen Monaten, die russischen Soldaten in geschlossen vertritt. einer bewegenden Zeremonie aus Deutschland ver- Ein wesentlicher Baustein des Europa von morgen abschiedet. Sie haben uns die Hand zur Freundschaft ist für uns die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir gereicht. In diesem Geiste wollen wir die Partner- wollen sie unter strikter Einhaltung der im Maastricht- schaft mit Rußland pflegen, das vor schwierigen, ja Vertrag festgelegten Stabilitätskriterien verwirkli- beispiellosen Reformen steht. Wir wollen alles tun, chen, und zwar aller Kriterien, meine Damen und damit diese Reformen Erfolg haben. Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es liegt im deutschen wie im wohlverstandenen Weltpolitische Umbrüche, globale Probleme wie europäischen Interesse, daß wir bei der Erweiterung Armut und Hunger, Bevölkerungswachstum, Flücht- der Europäischen Union immer auch unsere östlichen lingsströme und Umweltzerstörung stellen die deut- Nachbarn — ich meine hier besonders Polen — im sche Entwicklungspolitik vor große Aufgaben. Zur Auge haben. Die Westgrenze Polens darf nicht auf Lösung dieser Aufgaben werden wir gemeinsam mit Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union sein. den anderen Industrienationen unseren Beitrag lei- sten. Ich plädiere in der internationalen Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dafür, daß unsere Leistungen für Mittel-, Ost- und Die Bundesregierung wird sich deshalb mit großer Südosteuropa sowie für die Nachfolgestaaten der Entschiedenheit dafür einsetzen, daß in den kommen- Sowjetunion auch in diesem Zusammenhang berück- den Jahren entscheidende Schritte zur endgültigen sichtigt werden. Überwindung der Teilung Europas und damit zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dauerhaften Sicherung von Frieden und Freiheit getan werden. Auf dem in wenigen Wochen stattfin- Es ist für uns auch selbstverständlich, daß wir die Beziehungen zu den Ländern in Asien, Lateinamerika denden Europäischen Rat in Essen wollen wir eine Strategie zur weiteren Heranführung der jungen und Afrika weiter ausbauen. Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas verab- Noch immer steht eine friedliche Lösung für den schieden. Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus. Noch immer - beherrschen Leid und Tod die Lage besonders in Neue Mitglieder — das sei hier betont — müssen Bosnien. Die Bilder der jüngsten serbischen Aggres- jedoch in jedem einzelnen Fall die notwendigen sion gegen Bihac stehen uns allen vor Augen. Gerade politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen auch jene Deutschen, die noch die eigene Erinnerung erfüllen. Darüber hinaus streben wir eine intensive an Krieg und Not in sich tragen, wissen, welches Leid Partnerschaft auf breiter Grundlage mit den Ländern den Menschen dort zugefügt wird. Osteuropas an, insbesondere mit Rußland und der , aber auch mit den Nachbarregionen Euro- Deutschland war im Rahmen seiner Möglichkeiten pas. mit aller Kraft bei den Verhandlungen und vor allem auch auf humanitärem Gebiet behilflich. Den von den Die Atlantische Allianz — hier vor allem die USA, Frankreich, Großbritannien, Rußland und uns Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Ame- erarbeiteten Friedensplan akzeptieren heute — bis rika — bleibt auch in Zukunft Garant unserer Sicher- auf die bosnischen Serben — alle Kriegsparteien, heit. Wir wollen die deutsch-amerikanischen Bezie- sogar Belgrad. hungen gerade angesichts veränderter weltpoliti- scher Rahmenbedingungen weiter vertiefen. Dazu Ich richte deshalb auch heute von dieser Stelle aus gehören der Ausbau unserer Zusammenarbeit in den eindringlichen Appell an die Führung der bosni- Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und vor allem schen Serben, im Interesse aller Menschen in Bosnien auch mehr Begegnungen zwischen jungen Menschen das Morden zu beenden, humanitäre Hilfe ohne beiderseits des Atlantik. Einschränkung zuzulassen und sich dem Friedens- plan anzuschließen. Hieran führt auf Dauer kein Weg Die Rolle der Allianz, hat sich seit Ende des Kalten vorbei. Krieges dramatisch gewandelt. Im Interesse von (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P.. der Sicherheit und Stabilität in ganz Europa bündeln SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Atlantische Allianz und Europäische Union zuneh- mend ihre Kräfte. In diesem Sinne hat die NATO auf Meine Damen und Herren, die internationale ihrem Gipfel im Januar 1994 den Ländern Mittel-, Ost- Gemeinschaft erwartet vom vereinten Deutschland und Südosteuropas enge Partnerschaft angeboten. die uneingeschränkte Wahrnehmung aller Rechte Zugleich hat sie erklärt, daß sie zu gegebener Zeit und Pflichten als Mitglied der Vereinten Nationen. neue Mitglieder aufnehmen wird. Die Bundesregie- Dies bedeutet, daß wir uns künftig grundsätzlich an rung hat diese Politik von Anfang an maßgeblich Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur mitgestaltet und mitgetragen. Für uns steht die Erwei Aufrechterhaltung des Friedens und der internationa- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 47

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl len Sicherheit beteiligen werden. Wir werden dies Teilung Deutschlands eine feste Grundlage für den ausschließlich im Rahmen kollektiver Sicherheits- Zusammenhalt der Nation. Sie sind heute genauso bündnisse und in enger Abstimmung mit unseren wichtig für die Zukunft unseres Landes. Verbündeten und Freunden tun. Entsprechende Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) scheidungen zur Teilnahme an solchen Aktionen werden wir nur nach gründlicher Prüfung des Einzel- Der Bundeshauptstadt Berlin kommt für die kultu- falls und unter Beteiligung des Deutschen Bundesta- relle Ausstrahlung Deutschlands dabei eine beson- ges treffen. dere Rolle zu. Unsere Bundeshauptstadt muß auch selbst den Erwartungen gerecht werden, die an sie Die grundsätzliche Bereitschaft unseres Landes, in gerichtet sind. Unsere Verantwortung, die des Hohen seine internationale Verantwortung hineinzuwach- Hauses, für den Umzug von Parlament und Teilen der sen, bedeutet in keiner Weise die Abkehr von erprob- Regierung nach Berlin bezieht sich nicht nur auf ten Leitlinien der deutschen Außenpolitik. Jedes Fragen der Architektur und der Organisation. Wir Gerede von einer „Militarisierung deutscher Außen- tragen Verantwortung auch dafür, daß der Charakter politik" ist deshalb falsch und böswillig, und es unseres Gemeinwesens als des freiheitlichsten Staa- diffamiert letztlich alle internationalen Anstrengun- tes in der deutschen Geschichte auch und gerade in gen zur Friedenssicherung unter Einsatz von Solda- Berlin deutlich sichtbar wird. ten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es scheint mir wichtig zu sein, einmal mehr daran zu Im kommenden Jahr jährt sich die Gründung der erinnern, daß der Umzugsbeschluß zwei Teile hat. Wir Bundeswehr zum 40. Mal. Vierzig Jahre lang haben stehen auch in der Verpflichtung gegenüber Bonn, unsere Soldaten an der Seite der Verbündeten Frie- das in vierzig Jahren unsere freiheitliche Demokratie den und Freiheit bewahrt. Dafür schulden wir ihnen wesentlich mitgeprägt hat. Das sollten wir nie verges- Dank. sen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir alle haben die epochalen politischen und Heute dienen junge Wehrpflichtige, ob aus Sachsen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa seit 1989 oder Bayern, aus oder Thüringen, gemein- lebhaft begrüßt. Inzwischen ist in Deutschland immer sam in der Bundeswehr. Als Vater zweier Söhne, die in mehr Menschen bewußt geworden, daß die Wieder- der Bundeswehr gedient haben, finde ich es unerträg- vereinigung uns alle zu einer geistigen Standortbe- lich, wenn unsere Soldaten als „Mörder" diffamiert stimmung zwingt. Ich denke, dabei sollte es unser werden. gemeinsames Bemühen sein, als Deutsche souveräner (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der und gelassener zu werden, auch im Umgang mitein- F.D.P. — Beifall bei Abgeordneten der ander. Eine freie, eine tolerante und weltoffene SPD) Gesellschaft braucht einen Kern an Gemeinsamkei- Grundüberzeugungen und Werten. Das bewahrt Ich bin sicher: So wie ich empfindet das auch die große ten, uns vor jener Hysterie und aggressiven Aufgeregtheit, Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch- die unsere öffentlichen Debatten, auch hier in Bonn, land. oft heimsuchen und die uns in Wahrheit überhaupt Wir brauchen auch in Zukunft gut ausgerüstete und nicht weiterbringen. Wir alle sollten uns stärker ausgebildete Streitkräfte. Die Bundeswehr muß zur anstrengen, daß das Bewußtsein für die unerläßlichen Verteidigung fähig sein. Sie muß aber auch uneinge- Werte eines zivilisierten Zusammenlebens in unserem schränkt am internationalen Krisenmanagement mit- Land erhalten bleibt und an kommende Generationen wirken können. In diesem Sinne haben wir Eckdaten weitergegeben wird. zur künftigen Struktur der Bundeswehr erarbeitet. Wir werden — das ist gut so — in den kommenden Diese Leitlinien geben der Bundeswehr die notwen- Jahren leidenschaftliche Debatten um den richtigen dige Planungssicherheit. Weg unseres Landes in die Zukunft führen müssen. Meine Damen und Herren, das Bewußtsein für die Aber es gehört auch zur politischen Kultur, daß wir gemeinsame Herkunft und der Wille zur gemeinsa- dabei den Respekt vor der Meinung des anderen men Zukunft sind die Voraussetzung für die innere wahren. Einheit unseres Vaterlandes und für die Einigung Meine Damen und Herren, das Ansehen und die Europas. Europa und Nation, das ist kein Wider- Stellung des vereinten Deutschlands in der Welt spruch. hängen nicht nur von seinem politischen Gewicht, Unsere Fähigkeit, gute Europäer zu sein, hängt seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ab, sondern auch davon ab, ob wir bereit sind, uns als Deutsche nicht zuletzt — ich möchte fast sagen: vor allem — selbst anzunehmen. Dazu gehört die Bereitschaft, auch von seiner kulturellen Ausstrahlung. Licht und Schatten, Höhen und Tiefen in der Geschichte unseres Volkes zusammen zu sehen und (Zuruf von der PDS: Hört! Hört!) zu der Verantwortung zu stehen, die sich daraus Wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts unseren ergibt. Dazu gehört, daß wir sowohl die Geschichte Beitrag zu einer menschlicheren Welt leisten wollen, der alten Bundesrepublik als auch jene der früheren müssen wir zur Partnerschaft ebenso fähig sein wie DDR als unabtrennbare Teile unserer gemeinsamen zum friedlichen Wettbewerb der Ideen und Zukunfts- Vergangenheit verstehen. Unsere gemeinsame Kul- visionen. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben tur, Sprache und Geschichte waren in der Zeit der der kommenden Jahre, Spitzenleistungen in Wissen- 48 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl schaft und Kunst stärker zu fördern und auch anzuer- genauso richtig ist: Es hat eine schwache Regierung kennen. Dies ist wiederum nicht nur eine Frage des mit einer knappen Mehrheit. Geldes, sondern auch unseres gemeinsamen Willens, etwa den Hochschulen mehr Eigenverantwortung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und mehr Wettbewerb untereinander zu ermögli- des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen. Aber ich füge hinzu: Es ist eine Mehrheit. (Dr. Peter Struck [SPD]: Aber nur mit mehr (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Geld!) F.D.P.) Was uns in Deutschland bisher fehlt, ist, so glaube ich, ein Forum, das die Themen der Zukunft national Folgerichtig wünsche ich dieser Regierung im Inter- und international diskutiert. Daher wollen wir eine esse des Landes und der Menschen, die hier leben und Deutsche Akademie der Wissenschaften ins Leben arbeiten, auch eine glückliche Hand. rufen. Sie soll in voller Unabhängigkeit eine Stätte des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dialogs von Wissenschaft und Kultur, von Wirtschaft, der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Politik und Gesellschaft sein. Sie kann Ratgeber sein Oh!) und Anstöße geben für eine umfassende Debatte über wichtige Zukunftsfragen unseres Landes. Sie kann Zu diesem Wunsch gehört ein Maß an demokrati- auch, so hoffe ich, mit dazu beitragen, daß die Erfor- scher Gelassenheit und ein gewisser Mut — ein dernisse der Zukunft in unserem Land breitere gewisser Mut angesichts der bisherigen Ergebnisse Zustimmung finden. Dabei geht es ebenso um Wissen- Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, und auch ange- schaftsanregung und -förderung wie um ethische sichts der Koalitionsvereinbarung und dieser Regie- Fragestellungen sowie um Probleme, die uns in rungserklärung, die mit vielen Worten im Grunde Europa und als Teil der Weltgemeinschaft gleicher- genommen nur eine Botschaft vermittelt: Es soll so maßen bewegen. weitergehen wie in den letzten zwölf Jahren. Ich lade nicht zuletzt die Bundesländer, die Reprä- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider! —Joachim sentanten der Wissenschaft und alle, die im Bereich Hörster [CDU/CSU]: Das ist ja nicht von Gesellschaft und Kultur diesen Dialog wollen und schlecht!) suchen, dazu ein, diese Akademie gemeinsam mit uns aufzubauen. Dabei beziehe ich mich nicht auf Ihre Worte; denn Meine Damen und Herren, die innere Einheit unse- wenn es ein Streit um die Worte wäre, dann könnte res Landes ist nicht mit Einheitlichkeit gleichzusetzen. man vielen einzelnen Formulierungen, mancher Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum 3. Okto- Nachdenklichkeit ja durchaus zustimmen. Aber das ber hervorgehoben, daß es auch schon in der Vergan- Entscheidende in der Politik sind nicht die wohlfeilen genheit Verschiedenheiten innerhalb Deutschlands Absichtserklärungen, sondern die Taten, die gesche- gegeben hat. Ich glaube, daß in dieser Vielfalt einer hen, das Handeln, das organisiert wird, die Entschei- der großen Reichtümer unseres Landes liegt. Die dungen, die getroffen werden. Erhaltung dieser Vielfalt in einem zusammenwach- (Beifall bei der SPD) senden Europa setzt die Bereitschaft zu gemeinsamer Verantwortung im Handeln voraus. Ich sage deshalb: Es gehört zu dem Wunsch nach Die vom Grundgesetz festgelegte Mitwirkung der einer glücklichen Hand ein gewisser Mut, weil Sie in Länder bei Gesetzgebung und Verwaltung durch den den letzten zwölf Jahren den Beweis dafür angetreten Bundesrat vermittelt eben nicht nur Rechte. Sie haben, daß über Ihre schönen Worte von der Integra- bedeutet immer auch die Pflicht, das Wohl des Ganzen tion arbeitsloser Bürger, von der Förderung der Kinder zu fördern. Diese Pflicht ist für uns Deutsche nach dem und der Familien, von der Gleichberechtigung der Glück der deutschen Einheit, so denke ich, keine Frau, von der Verstärkung des sozialen Wohnungs- Last. baus, von der Stärkung der deutschen Wirtschafts- kraft, von der Förderung von Investitionen, von der Wir haben allen Grund, mit Zuversicht in die Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten Jüngerer kommenden Jahre zu gehen. Die gemeinsame Ver- und vielem anderen eines zu sagen ist: Sie haben das antwortung, die wir tragen, hat einen Namen: Es geht in der Vergangenheit mit Ihren Taten immer wider- um die Zukunft Deutschlands in einem geeinten legt und genau das Gegenteil dessen getan, was Sie Europa. Die Bundesregierung und die Koalitionsfrak- mit Ihren schönen Worten beschreiben. tionen stellen sich dieser Aufgabe. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS — Lachen bei der CDU/CSU) Deshalb fällt die Prognose, daß das wohl auch für Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der die Zukunft gilt, nicht sonderlich schwer. Denn da, wo Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Sie konkret geworden sind — auch diese seltenen Rudolf Scharping. Ausnahmen haben Sie uns heute gegönnt —, schim- mert dasselbe Muster durch: Die angekündigten Taten widersprechen den vielen wohlfeilen Worten. Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon Gegen diese Politik werden wir uns stemmen — mit richtig: Dieses Land steht vor großen Aufgaben. Und aller Kraft, mit aller Vernunft und auch mit aller Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 49

Rudolf Scharping Leidenschaft. Wir haben dafür Möglichkeiten, und wir Leben in diesem Land besser und sicherer sein werden sie nutzen. könnte, als es heute ist. (Beifall bei der SPD) Aus unserer Sicht lohnt es sich — das werden wir auch tun —, für eine Gesellschaft zu arbeiten und Wir werden diese Möglichkeiten hier im Deutschen darum zu ringen, die ihre Lebensqualität durch eine häufiger Bundestag nutzen und die knappe Mehrheit gesündere Umwelt, durch weniger Angst vor risiko- vor die Frage stellen, ob sie konkrete Entscheidungen reichen Technologien, durch eine menschliche im Interesse des Landes und der Mehrheit seiner Arbeitswelt und durch mehr Zeit der Menschen für Bürgerinnen und Bürger wirklich ablehnen will. selbstbestimmte eigene Aktivitäten erreicht. Eine Wir haben diese Möglichkeit im Bundesrat, Gesellschaft, in der menschenwürdige Arbeit für alle, die arbeiten wollen und arbeiten können, erreichbar ( [CDU/CSU]: Blockadein ist, in der Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit strument der SPD!) zwischen Männern und Frauen gerechter verteilt sind. der nun wahrlich kein parteipolitisches Instrument Eine Gesellschaft, in der sich Leistungsfähigkeit und und schon gar nicht ein Blockadeinstrument ist Mitbestimmung nicht ausschließen. Eine Gesell- schaft, in der Einkommen gerechter verteilt sind, (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) soziale Sicherung verläßlich ist und die Arbeitnehmer — seien Sie doch froh, daß in dieser Frage Überein- einen Anteil am wachsenden Produktivvermögen stimmung besteht —, haben. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Haben Sie (Beifall bei der SPD) denn schon einen Vorsitzenden des Vermitt Eine Gesellschaft, die Gleichheit und Solidarität zwi- lungsausschusses? Sie haben ja noch nicht schen Männern und Frauen, Jüngeren und Älteren einmal einen Vorsitzenden des Vermitt sichert. lungsausschusses!) in dem aber Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- (Beifall bei der SPD) kraten durch die Führung von oder Beteiligung an Eine Gesellschaft, vor der sich andere nicht fürchten 14 Landesregierungen — ich vermute, daß das in und die ihre Verantwortung für Frieden und Mensch- wenigen Tagen der Fall sein wird — eine ungewöhn- lichkeit in der Welt wahrnimmt, auch eine Gesell- lich starke Stellung haben, von der wir konstruktiven schaft, in der Bürgerinnen und Bürger, wo immer sie Gebrauch machen werden. Wir haben diese Möglich- sich betroffen fühlen, an den Entscheidungen mitwir- keiten auch durch die gemeinsamen Gremien von ken und das Gemeinwesen als ihre eigene Angele- Bundestag und Bundesrat. genheit verstehen können. Ich schicke das deshalb voraus, weil ich am Anfang Das ist das Leitbild einer sozialen Demokratie, überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen lassen - einer Demokratie, die in der sozialen Gerechtigkeit will, daß sich die Sozialdemokratie insgesamt, d. h. eine stabile Grundlage findet, einer Demokratie, die selbstverständlich auch ihre Bundestagsfraktion, an sich nicht im Wahlgang erschöpft, sondern im alltäg- dem orientieren wird, was für die Verbesserung der lichen Leben der Menschen lebendig und erfahrbar Lebenssituation von Menschen in Deutschland geeig- ist, net ist. Wir werden uns nicht darauf konzentrieren, künstliche Konflikte mit der Regierung herbeizufüh- (Beifall bei der SPD) ren, Konflikt um des Konfliktes, Streit um des Streites, einer Demokratie, von der jeder und jede einzelne Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung wil- sich angenommen weiß und sich auch ermutigt fühlen len zu betreiben, sondern immer den Zielpunkt im kann, eigene Beiträge zu ihrer Entwicklung zu lei- Auge behalten, was unser Handeln dazu beitragen sten. kann, die kontrete Situation von Menschen in Deutschland, ihre Lebensbedingungen und ihre (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bisher ha- Zukunftschancen zu verbessern. ben Sie das aber nicht befördert!) (Beifall bei der SPD — Eduard Oswald [CDU/ Dieses Ziel einer lebenswerten, einer von Solidarität CSU]: Das ist ja ganz neu! Das klingt ja ganz und Fortschritt geprägten Gemeinschaft ist es, was energisch! Sie sind ganz energisch, weil Herr unserer Arbeit Richtung, Zusammenhang und Ener- Schröder heute da ist!?) gie geben kann und geben wird. Ich füge hinzu: Wenn ich auch heute Defizite Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich beschreibe, die mit einer besseren Politik in Deutsch- beschreibe das, weil es praktische Konsequenzen land dringend überwunden werden müssen, dann nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für unsere mache ich das nicht, weil ich überall nur Gefahren Initiativen haben wird. Da wird in der Regierungser- oder Risiken sehe. Wir haben ein durchaus positives klärung des Bundeskanzlers beispielsweise von der Bild von der Gesellschaft, in der wir gemeinsam leben. Notwendigkeit gesprochen, mehr zu tun für die wirt- Worum es allein gehen wird, sind eine bessere Art des schaftliche Kraft des Landes, und dann ist der Satz Lebens und des Zusammenlebens. Risiken und gefallen, daß sich daran — ich sage das einmal in Gefahren, Defizite und Ängste, die in der politischen meinen Worten — die Zukunft auch vieler anderer Auseinandersetzung vielleicht hier und da eine sehr Bereiche in unserem Land entscheiden wird. Das ist stark beherrschende Rolle spielen, finden nur deswe- wohl wahr. Aber wenn ich diese Ankündigungen in gen unsere Aufmerksamkeit, weil wir wissen, daß das ihrer schönen Allgemeinheit höre — mit den wenigen 50 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping konkreten Ausnahmen —, dann frage ich mich: Wer auch gar nichts Konkretes einzuspeisen hat? Wie soll spricht hier eigentlich? das denn gehen? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Derjenige, der von der Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung redet und sie als eine Wieviel Vertrauen kann ein Regierungschef be an Chance für den einzelnen Menschen und als eine -spruchen, der sich mit der Tatsache herumschlagen Notwendigkeit für unsere gemeinsame wirtschaftli- muß, daß sein eigenes Handeln bisher che Zukunft begreift, ist der Bundeskanzler, der die (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Erfolgreich Verantwortung dafür trägt, daß es bisher eine Gleich- gewesen ist!) wertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung nicht gibt, ist der Vorsitzende einer Partei, die jede genau diesen Dialog, diesen notwendigen gesell- Anstrengung in den Ländern zur Herbeiführung die- schaftlichen Konsens, diese notwendige gemeinsame ser Gleichwertigkeit bisher heftig bekämpft und dif- Anstrengung belastet statt gefördert hat? famiert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Sieg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fried Hornung [CDU/CSU]: Bisher haben Sie DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der doch alles blockiert!) PDS) Da gibt es ein hübsches und übrigens auch sehr Es ist der Bundeskanzler selbst, der die Verantwor- eklatantes Beispiel. Sie reden davon, wir dürften nicht tung dafür trägt, daß die Möglichkeiten z. B. der mehr die Arbeitskraft und die Erfahrung von 55jähri- Aufstiegsförderung genauso zerstört worden sind, wie gen Arbeitslosen verschleudern. das kreative Potential der Arbeitnehmer durch die Streichung der Erfindervergünstigung beschädigt (Heiterkeit bei der SPD — Joachim Hörster wurde. [CDU/CSU]: Recht hat er!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist richtig. Genauso richtig ist, Herr Bundeskanz- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ler, daß Sie bisher eine Politik gemacht haben, die PDS) genau zu dieser Verschleuderung der Erfahrung und der Arbeitskraft geführt hat. Damit wir uns richtig verstehen, Herr Bundeskanz- ler: Ich sage das nicht, um jetzt, wie Sie gesagt haben, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE die Aufrechnung der Vergangenheit zu betreiben GRÜNEN und der PDS) oder den Wahlkampf fortzusetzen. Ich sage es aus Sie sind ganz offenkundig nur an einer einzigen einem einzigen Grund: Wieviel Glaubwürdigkeit - Stelle konkret geworden. Es wird gesagt: Man muß kann ein Mann beanspruchen, der für zwölf Jahre einmal über die Effizienz der Arbeitsverwaltung nach- Politik und nicht nur für seine guten Absichten, wenn denken. Tun Sie das, und teilen Sie die Ergebnisse sie denn für die Zukunft gut sind, geradezustehen mit! hat? (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wird gesagt, man müsse anfangen, über die Regio- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nalisierung der Arbeitsmarktpolitik nachzudenken. PDS) Tun Sie das, und sagen Sie einmal, was Sie an den Das alles kleiden Sie in das freundliche Bild, das Vorstellungen der Sozialdemokratie zur Änderung seien nicht nur Ankündigungen. Manches von dem, des Arbeitsförderungsgesetzes konkret auszusetzen was getan werden müßte, ist ja wieder einmal haben! zunächst in Expertenkommissionen verbannt worden. (Beifall bei der SPD) Und dann kommt die freundliche Einladung, man solle möglichst viel miteinander reden. So viele Einla- Es wird gesagt, man wolle — jetzt wird es konkret; das dungen zum gemeinsamen Gespräch habe ich noch ist die einzige konkrete Ankündigung — die Anreize selten gehört: an die Länder, an die Gemeinden, an zur Aufnahme von Arbeit verstärken und im Zweifel die Sozialpartner, an die Gewerkschaften und derglei- die Sozialhilfe kürzen, wenn zumutbare Arbeit nicht chen mehr. aufgenommen werde. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! — Weite Die haben alle Verantwortung! — Joseph rer Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!) Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wenn das der zentrale Punkt sein soll, dann stelle NEN]: Helmut, der Diskursive!) ich einen anderen daneben, von dem wir überzeugt sind, daß er wesentlich wichtiger ist. Wir werden Da frage ich mich: Wie will denn eine Regierung, endlich dazu kommen müssen, die Belastung der von der die Menschen zu Recht erwarten können, daß Arbeit und der Arbeitsplätze mit Kosten, und zwar sie Vorstellungen von ihrem eigenen Handeln hat, insbesondere mit Kosten durch die sozialen Siche- den notwendigen Diskurs mit gesellschaftlichen rungssysteme, zurückzuführen. Gruppen, mit Gemeinden, mit Ländern, mit anderen führen, wenn sie selbst in diesen Dialog nichts, aber (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 51

Rudolf Scharping Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, die deutsche war ja überschrieben mit „Noch eine Chance für die Einheit zu finanzieren. Liberalen" . (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred (Beifall bei der SPD) Müller [Berlin] [PDS]) Ich habe den Eindruck, das ist bei Ihnen ebensowenig angekommen wie der Gedanke, daß die größtmögli- Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, aktive che Freiheit des lohnabhängigen Bürgers mit einem Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren. Das ist eine Höchstmaß an wirtschaftlicher Effektivität verbunden gemeinschaftliche Aufgabe. werden sollte und daß, so sagte Karl-Hermann Flach, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es die liberale Aufgabe des 20. und 21. Jahrhunderts des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sei, Bürgerrechte am Arbeitsplatz zu stärken. PDS) (Dr. [F.D.P.]: Ganz Wer sich einmal anschaut, was der Bundesverband lesen!) der Deutschen Industrie zu diesem Thema sagt, der Meine Damen und Herren, wir werden deshalb die stellt sich nur noch die verwunderte Frage, warum wirtschaftspolitischen Fragen, die Fragen, die mit den nicht wenigstens diese konkreten Vorschläge bei Arbeitsplätzen zu tun haben, nicht nur als ein ökono- dieser Bundesregierung gefruchtet haben. misches Problem begreifen, sondern weiter das Ziel (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. verfolgen, daß die Kreativität, die Phantasie, die Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wie Bereitschaft zur Mitverantwortung von Arbeitnehme- finanzieren Sie es denn?) rinnen und Arbeitnehmern auch wirksam werden können, daß sie dafür Regeln zur Verfügung gestellt Mich wundert das nicht. Wir haben es ja nicht nur bekommen, daß das Betriebsverfassungsgesetz ent- mit dem Bundeskanzler, sondern auch mit einem sprechend erweitert wird, Kabinett zu tun, in dem jeder Neue oder jeder, der eine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph neue Aufgabe übernommen hat, eine faire Chance Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ verdient. NEN]) (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) wenn es um neue Technologien und neue Arbeits- Ich bin allerdings auch fest davon überzeugt: Es wird plätze geht, daß Mitbestimmung gesichert bleibt — uns nicht weiterhelfen, wenn wir in diesem Bereich eine Uridee in der Bundesrepublik Deutschland, von immer nach den Methoden des alten Denkens vorge- der sich die CDU in der Praxis und die F.D.P. in der hen. Praxis und im Gedankengut verabschiedet hat. Deshalb will ich Ihnen, gerade mit Blick auf den (Beifall bei der SPD) einen oder anderen hier unter uns, einmal mit einem kleinen Zitat dienen: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Scharping, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Das finden wir - Burkhard Hirsch? aber schön!)

Der Rechtsanspruch auf Sozialversicherung ist in Rudolf Scharping (SPD): Wenn es nicht allzuviel Wahrheit der wichtigste Besitztitel in der industri- wird, gerne. ellen Massengesellschaft. Nicht der ist wahrhaft frei, der alle Lebensrisiken selber trägt und am (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Ende der Gemeinschaft häufig ziemlich rechtlos — Ich meine, in bezug auf die Zahl der Zwischenfra- zur Last fällt, sondern derjenige, dem die Angst gen. vor unverschuldeter Not, unberechenbaren Risi- ken und vor dem Alter genommen wird. Die Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Verehrter Herr Kol- Befreiung von der Existenzangst, soweit men- lege, da Sie Karl-Hermann Flach zitiert haben, möchte schenmöglich, gehört zu den entscheidenden ich Sie fragen: Wären Sie bereit, daran mitzuarbeiten Aufgaben in der Massengesellschaft. — und wenn ja, wie Sie sich das vorstellen —, die (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung Rechte des einzelnen Arbeitnehmers im Betrieb zu [CDU/CSU]: Das ist bei uns in höchstem stärken und nicht nur die Rechte der Organisationen Maße gewährleistet!) von Arbeitnehmern? (Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der Ich bedauere es ein bißchen, daß die F.D.P. — das SPD) zeigt ja, wohin sie sich entwickelt hat — (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Rudolf Scharping (SPD): Herr Kollege Hirsch, ich Jetzt aber vorsichtig!) will gerne versuchen, das im weiteren Verlauf meiner da keinen Beifall bekunden kann. Ausführungen deutlich zu machen, im Zweifel auch in einem persönlichen Gespräch. Allerdings möchte ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Chri- einem Mißverständnis, das bei Ihnen möglicherweise stian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Da gäbe vorhanden sein könnte — Sie wissen, daß ich Sie es aber auch bei Ihnen noch ein paar solcher schätze —, vorbeugen: Zu glauben, daß die Interes- Felder!) senvertretung von Arbeitnehmern durch Betriebsver- Denn Karl-Hermann Flach hat 1971 zu Recht von den fassungen, Betriebsräte bzw. Personalräte oder Chancen für die Liberalen gesprochen. Das Büchlein Gewerkschaften die Rechte oder die Chancen des 52 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping einzelnen Arbeitnehmers begrenzen könnte, das tung, daß sie ihrerseits die Gesellschaft, in der sie halte ich für ein grobes Mißverständnis, um es höflich leben, annehmen und anerkennen können. Das ist zu formulieren. keine Einbahnstraße. Das ist nicht mit Worten zu leisten, sondern nur mit Taten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD) PDS) Vor diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler, Sie ist die Grundlage dafür, daß der einzelne seine haben Sie zum wirtschaftlichen Bereich davon Möglichkeiten überhaupt entfalten kann. gesprochen, Sie wollten zunächst die Gewerbekapi- talsteuer abschaffen, am Ende auch die Gewerbe- Meine Damen und Herren, ich will zu einem steuer selbst. wesentlich wichtigeren Punkt zurück. Wer wirtschaft- lichen Fortschritt haben will, der wird nicht nur dafür (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist rich sorgen müssen, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik tig und notwendig!) und Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung gibt Wir reden, wenn das für die Dauer dieser Legislatur- und die Lohnnebenkosten dadurch gesenkt werden, periode gemeint sein sollte, über einen Betrag von daß allgemeine Aufgaben auch von allen gemeinsam mehr als 40 Milliarden DM. Darüber läßt sich mit finanziert werden, sondern der muß auch dafür sor- wolkiger Allgemeinheit nicht hinweggehen, vor allen gen, daß es ein vernünftiges Verhältnis zwischen Dingen nicht wegen der Folgen und weil Sie bisher Leistung, individuellen Möglichkeiten und Verant- keine Auskunft darüber geben, wie dieser angesichts wortung gegenüber der Gemeinschaft gibt. einer hohen Verschuldung sowieso unverantwortli- Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren stark che Einnahmeausfall kompensiert werden soll. beschädigt worden. Ich lese beispielsweise, daß Kollege Schäuble (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Von Ih- (Oh-Rufe von der CDU/CSU) nen!) — haben Sie etwas dagegen, wenn man sich auf Ihren Es ist häufig der Eindruck entstanden, als sei soziale eigentlichen Vordenker bezieht? —, Gerechtigkeit ein wesentliches Prinzip nur für jene, (Beifall und Heiterkeit bei der SPD) die leider arbeitslos sind, leider keine bezahlbare Wohnung finden, wegen der Zahl ihrer Kinder leider wenn das „Handelsblatt" zutreffend berichtet, davon Schwierigkeiten haben usw. Wohlverstanden — spä- gesprochen hat, man könne über einen kommunalen testens seit der Politik des amerikanischen Präsiden- Hebesatz für die Lohn- und Einkommensteuer nach- ten Roosevelt — ist der Sozialstaat aber mehr. Er ist denken. nicht allein Hilfe für Bedürftige oder Benachteiligte; er (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!) ist konstitutives Prinzip einer parlamentarischen Demokratie. Denn vom sozialen Frieden profitiert die Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Wir gesamte Gesellschaft, und zwar wirtschaftlich und - hatten in diesem Haus und im Bundesrat schon einmal hinsichtlich der Qualität des Zusammenlebens. eine Debatte über die Frage, ob es klüger sei, Steuern im Bereich der Unternehmensbesteuerung, also Spit- (Beifall bei der SPD) zensteuersätze, allgemein zu senken, oder ob es Gesellschaften ohne kulturelle, ohne soziale und gerade wegen der Stärkung des Investitionsstandor- ohne wirtschaftliche Chancen für alle sind auf Dauer tes Deutschland und der Schaffung von Arbeitsplät- nicht zukunftsfähig. Alle Erfahrung der Vergangen- zen nicht vernünftiger sei, dafür zu sorgen, daß heit beweist: Wenn die Frage nach der sozialen Unternehmen, die investieren, forschen, entwickeln Gestaltung des Zusammenlebens der Vermutung aus- und neue Produkte in den Markt bringen, gezielt gesetzt wird, die soziale Leistung sei gewissermaßen entlastet werden, daß der Mittelstand gezielt entlastet der Lazarettwagen am Ende einer unvermeidlichen wird. wirtschaftlichen Entwicklung, dann verlieren Gesell- (Beifall bei der SPD) schaften ihren Zusammenhalt. Sie dürfen sich darauf einrichten: Wir werden allem (Beifall bei der SPD) widerstehen, was die kommunale Finanzkraft und die Sie verlieren das konstitutive Element, das sie erst zu kommunale Finanzhoheit aushöhlt. Wir werden allem Gesellschaften macht. widerstehen, was am Ende nur dazu führt, daß ein breiter Steuerregen über alle Unternehmen hernie- Deshalb sind wir der Meinung, daß Massenarbeits- dergeht, während diejenigen, die investieren, die losigkeit überwunden, Wohnungsnot abgebaut und forschen, die entwickeln und die etwas für Arbeits- das Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und West- plätze tun, eben nicht die notwendige Entlastung deutschland zügig verringert werden müssen, und erfahren. Genau das geschieht aber, wenn Sie Ihr zwar nicht, weil wir einäugig auf die Interessen von Vorhaben durchsetzen wollen. Gruppen, sondern auf das gemeinschaftliche Inter- esse an einem solidarischen Zusammenleben hin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten orientieren wollen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden nicht dazu die Hand reichen, daß die (Beifall bei der SPD) Gemeinden ein Interesse an der Ansiedlung von Nur dann, wenn sich alle oder fast alle von der Betrieben verlieren. Wir werden nicht dazu die Hand Gesellschaft, in der sie leben, angenommen und reichen, daß sie ihre Gebühren und Abgaben erhöhen anerkannt fühlen, gibt es gute Gründe für die Erwar- müssen. Es stellt sich hier auch die Frage, wie bei- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 53

Rudolf Scharping spielsweise der Magistrat der Stadt Frankfurt die Generationenvertrages und stellt die Frage, was diese Bürger von Kronberg eigentlich heranziehen soll, Regierung denn eigentlich vorhat. Sie wollen den damit sie die Oper, die kulturellen, die sportlichen und sozialen Wohnungsbau stärken oder den Wohnungs- sonstigen Einrichtungen dieser großen Stadt für ihr bau insgesamt. Ich höre das gerne und frage mich: Ist Umfeld bezahlen können. da wirklich die Umkehr von der bisherigen Politik oder nur das wortreiche Bemänteln mit dem Ziel, (Beifall bei der SPD) genau die gleiche Politik fortzusetzen? Wie sind Sie Vor diesem Hintergrund, kulturelle Einrichtungen denn mit dem Mietrecht umgegangen, wie mit den zu schließen oder teurer zu machen, soziale Einrich- Mitteln für den sozialen Wohnungsbau, wie mit den tungen, auf die viele Menschen angewiesen sind, Verhältnissen bei Familien und Kindern? öffentliche Einrichtungen, ein Dienstleistungsange- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bot für die Bürger immer teurer zu machen, indem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man die kommunale Finanzbasis immer weiter schwächt, werden wir nicht mitmachen, schon gar Es hört sich gut an, daß Kinder ein Armutsrisiko nicht, wenn es auf der wirtschaftlichen Seite gegen- geworden seien und ein Hindernis auf der Suche nach über investierenden Unternehmen keine einzige einer bezahlbaren Wohnung. wirksame Verbesserung bedeutet. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN]: Seit vielen Jahren!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Auf Grund vieler meiner eigenen Reden in der Ver- PDS) gangenheit kommt es mir sehr bekannt vor, wenn ich Meine Damen und Herren, damit ist eine Brücke zur höre, daß auf der einen Seite die Kinderfreundlichkeit sozialen Entwicklung in Deutschland geschlagen. In einer Gesellschaft beschworen wird, dann aber gegen diesen Tagen ist der Konsultationsprozeß der beiden die Spiel- oder Bolzplätze geklagt wird. Wie war es christlichen Kirchen zur wirtschaftlichen und sozia- denn, als hier, im Deutschen Bundestag, in solchen len Lage in Deutschland eröffnet worden. Wer vorher Fragen über die konkreten gesetzgeberischen Ent- geglaubt hatte, es sei das Geschrei einer gewerk- scheidungen verhandelt werden mußte? Wie sah das schaftlich organisierten Interessengruppe oder die in den Haushalten aus, wie in Ihrer konkreten Poli- besondere Betroffenheit von Wohlfahrtsorganisatio- tik? nen, wenn die soziale Lage in Deutschland beklagt Herr Bundeskanzler, ich bitte sehr um Verständnis: wird, der wird sich hoffentlich gerade in Parteien, die Eines können Sie nicht tun. Sie können nicht sagen, für sich das Christliche beanspruchen, durch diese die Bürgerinnen und Bürger hätten die Koalition der Debatte in den Kirchen eines Besseren belehren Mitte, die in Wahrheit eine Koalition der Schwäche ist, lassen. Was Sie den Bürgerinnen und Bürgern in gewählt, gleichzeitig aber sagen: Jetzt betreibe ich Deutschland signalisieren, ist zum Beispiel von Hans selbst höchstpersönlich Opposition gegen die Politik, Küng mit einem guten Satz abgelehnt worden: die ich in den letzten zwölf Jahren gemacht habe. Lebensstandard alleine ergibt keinen Lebenssinn. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN und der PDS) Materieller Wohlstand alleine ergibt keinen Sinn und Sie können nicht sagen, die Bürgerinnen und Bürger übrigens auch keinen Zusammenhalt für das Leben hätten die Kontinuität gewollt. — Ich fürchte, sie untereinander. Wenn das aber so ist, dann müssen Sie werden diese Art von Kontinuität aber bekommen. sich fragen lassen, warum Sie in Ihrer praktischen Politik bisher alles ignoriert haben, was von den Wo ist der konkrete Vorschlag zur Förderung des Gewerkschaften, von den sozialen Wohlfahrtsorgani- sozialen Wohnungsbaus? Wo ist der konkrete Vor- sationen und mittlerweile auch von den Kirchen an schlag, Bauland preiswerter zu machen? Wo sind die besorgten Stimmen und an konkreten Vorschlägen konkreten Vorschläge, die Spekulation mit Bauland angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwick- und sein Horten zu verhindern, zumindest zu lung in Deutschland geäußert worden ist. Ich finde es erschweren? Welche konkreten Maßnahmen stellen erstaunlich, daß ein Regierungschef aus den Reihen Sie sich vor? Wir haben noch runde zwei Tage Zeit, das der Christlich-Demokratischen Union in diesen Tagen hier miteinander zu besprechen. Vielleicht ist es eine Regierungserklärung abgeben kann, ohne ein einem Regierungschef nicht möglich, bei den vielen einziges Wort dazu zu sagen, wie die Kirchen und die Dingen, die er ansprechen will, ansprechen muß oder Wohlfahrtsorganisationen die soziale Lage dieses meint, ansprechen zu müssen, zu den Fragen des Landes beurteilen. praktischen politischen Entscheidens Stellung zu neh- men. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nein, wenn Sie ankündigen, daß Sie die Kinderfrei- GRÜNEN und der PDS) beträge erhöhen wollen, wenn Sie ankündigen, daß Neben der Arbeit und der Stärkung der wirtschaft- Sie in diesem Bereich eine bittere soziale Ungerech- lichen Leistungskraft, neben der Stärkung der Investi- tigkeit noch ausbauen wollen, dann rechnen Sie bitte tionen in Deutschland, der Förderung neuer Techno- mit dem entschlossenen Widerstand der Sozialdemo- logien wird die Frage nach der Befestigung der kratie. sozialstaatlichen Grundlage unseres Zusammenle- bens die zweite entscheidende Zukunftsfrage sein. (Beifall bei der SPD) Das betrifft Frauen wie Männer, Kinder wie Ältere, Sie haben Teile der Wohnungsbauproblematik stellt die Frage nach der Wirksamkeit des sozialen genauso wie die Frage der Steuerfreiheit des Exi- 54 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping stenzminimums zunächst in Expertenkommissionen träglichkeit unter den Menschen, die heute leben, und verbannt. Das hat Ihnen über den 16. Oktober hin- dem Maßstab der Verträglichkeit mit den Lebens- weggeholfen. Es wird Ihnen aber in den nächsten vier chancen künftiger Generationen. Niemand hat heute Jahren, wenn sie es denn werden, nicht weiterhel- das Recht, deren Lebenschancen einzuengen. fen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, eine Regierungserklä- DIE GRÜNEN) rung von so allgemeiner Wolkigkeit macht es in Natürlich ist der Schutz von Umwelt, die Produktion manchen Bereichen schwer, zu erkennen, was denn umweltverträglicher Güter, auch eine große wirt- wirklich geschehen so ll. Deshalb will ich an dieser schaftliche Chance. Natürlich ist die ökologische Stelle lieber sagen, was wir durchsetzen wollen. Wir Orientierung der gesamten Volkswirtschaft, das Den- wollen durchsetzen, daß es einen gerechten und jedes ken in mehr produktintegriertem Umweltschutz, weg Kind gleichermaßen ernst nehmenden Familienlei- von diesen End-of-Pipe-Technologien, die am Ende stungsausgleich gibt. eines Schornsteins, eines Abwasserrohres mit feinzi- (Beifall bei der SPD) selierten Überwachungsbehörden alles mögliche kontrollieren wollen, hin zu einer in das Produkt Wir wollen durchsetzen, daß es ein einheitliches verlagerten Idee von Umweltschutz, natürlich ist das Kindergeld gibt. Denken in kreislauforientierter Wirtschaft die Grund- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lage. Wir wollen durchsetzen, daß von den gleichen Chan- Dann fallen eine ganze Reihe von konkreten Ent- cen der Frauen, daß von der Vereinbarkeit von scheidungen. Familie und Beruf nicht nur in öffentlichen Bekundun- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Diese In gen geredet wird, sondern daß dieser Deutsche Bun- dustrien, die vertreiben Sie doch alle aus destag entsprechende Rahmengesetze verabschiedet, unserem Land!) die den einzelnen Frauen überhaupt eine Chance geben. — Verehrter Herr Kollege, wenn Sie wüßten, daß wir mit dem Umweltschutz immer noch einen der größten (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph Wachstumsmärkte haben, Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie werden spätestens bei der Frage der Reform des § 218 beantworten müssen, wie Sie es denn mit dem wenn Sie wüßten, daß die Unternehmen in Deutsch- Rechtsanspruch auf einen Platz im Kindergarten hal- land mittlerweile vorrechnen, daß ihre Belastungen ten. Wenn hier unterschiedliche Öffnungszeiten mit Umweltschutzkosten wesentlich niedriger sind als beklagt werden oder die Tatsache, daß die Schule mal jene Lasten, die Sie ihnen mit einer unzuverlässigen um 12, mal um 11, mal um 13 Uhr zu Ende geht und es - Währungspolitik, den daraus entstehenden Schwan- für Mütter und Väter folglich schwierig ist, sich darauf kungen und den Lohnnebenkosten aufgehalst ha- einzurichten, dann ist das alles schön zu hören. ben, Solange aber diese Bundesregierung nicht bereit ist, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die von ihr selbst und von der Koalition gesetzten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rahmenbedingungen denen die Mittel in die Hand zu geben, die das ausführen müssen, bleibt das alles wenn Sie das alles einmal beachten würden, dann Makulatur. würden sich Ihnen die Augen öffnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es dürfte Ihnen nicht verborgen sein, daß mittler- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der weile weltweit so angesehene Institute wie das MIT in PDS) Boston und viele andere Institutionen, angeführt von einer Gruppe international tätiger Unternehmen, wo Folglich wollen wir auch durchsetzen, daß im sich 50 Frauen und Männer zusammengeschlossen Bereich des Wohnungsbaus Vorschläge aufgegriffen haben, selbst als Unternehmen die Umkehr hin zu werden, daß nicht mehr mit einer unmittelbaren, einer ökologisch orientierten Wirtschaft fordern. Die durch Zuschüsse in barem Geld organisierten Förde- sind doch in den Unternehmen mittlerweile viel weiter rung, sondern im Zweifel durch Bürgschaften oder als das Denken in der CDU/CSU oder in der F.D.P. entsprechende Eigenkapitalsurrogate wesentlich oder in dieser Regierung. besser geholfen wird, als uns das in der Vergangen- heit gelungen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, die dritte große Zukunftsaufgabe ist der Schutz unserer natürlichen Wenn Sie allerdings immer einen Wirtschaftsmini- Lebensgrundlagen. Auch da zeigt sich, daß wirt- ster da hinschicken, bei dem die Gewerkschaften nur schaftliche, soziale und ökologische Erfordernisse noch sagen: „Was soll es?" und bei dem die Arbeitge- sinnvoll miteinander verknüpft werden können. So, ber sagen: „Das kann man gleich zur Seite winken" wie wir einen sozialen Generationenvertrag brauchen — das wird doch auch auf den Fluren der Unterneh- und erhalten müssen, brauchen wir auch einen öko- mensverbände nicht mehr sonderlich ernst genom- logischen Generationenvertrag. men —, dann kommen diese Informationen bei Ihnen nicht an. Jede Entscheidung, die wir heute treffen, muß zwei Maßstäben genügen: dem Maßstab der sozialen Ver (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 55

Rudolf Scharping Das will ich gerne verstehen, aber das ist natürlich gelebt haben, die zwar nicht miteinander zu verglei- inakzeptabel für die Politik einer solchen Regie- chen sind, aber doch beide Diktaturen gewesen sind. rung. Ihnen Respekt entgegenzubringen und sie mit ihrer Lebenserfahrung zu integrieren, sie nicht auszugren- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zen, die Schwierigkeiten eines solchen Lebens zu Persönliche Verunglimpfungen waren noch akzeptieren — das wäre nicht nur ein guter Grundsatz, nie gut!) sondern auch ein wichtiger Maßstab für das, was Frau Kollegin Merkel, ich wünsche Ihnen persön- konkret in Zukunft geschieht. Elemente des Straf- lich viel Erfolg. — Mehr kann ich leider nicht tun. rechts haben im Rentenrecht nichts zu suchen, (Lachen bei der SPD — Siegfried Hornung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [CDU/CSU]: Das ist aber traurig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der So richtig es ist, daß man eine Chance einräumen soll, PDS) so richtig ist es leider auch, daß Sie das Amt nicht und folglich werden wir auch auf diesem Gebiet unbedingt haben wollten. Initiativen ergreifen. Wenn man dann in diesem wesentlichen Bereich Das ist aber viel mehr als nur ein wirtschaftlicher einen Wirtschaftsminister hat, der es nicht kann, eine Vorgang, Hilfe bei Investitionen, Sicherung von Umweltministerin, die es nur muß, und einen Umwelt- Arbeitsplätzen, Förderung von aktiver Arbeitsmarkt- minister von ehedem, der es gerne gewollt hätte, aber politik, Förderung der Entwicklung des Handels, nicht durfte, Nutzen der großen Kenntnisse und Erfahrungen, gerade was das östliche Mitteleuropa und die damit (Lachen bei der SPD) zusammenhängenden Sprachkenntnisse und berufli- dann zeigt das, daß an dieser Schnittstelle der künfti- chen Erfahrungen angeht; es ist viel mehr. Wenn die gen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ent- wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse signalisie- wicklung weder inhaltliche Konzeptionen noch perso- ren, daß man die Menschen selbst nicht respektiert, nelle Kompetenz eingesetzt wird. Das ist die eklatan- dann wird das Zusammenwachsen der Deutschen in teste Schwäche dieser Regierung. emotionaler, in kultureller und menschlicher Hinsicht auf eine unerträgliche Weise beschwert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Auch das kann man ja wieder mit ein paar Beispie- Meine Damen und Herren, das folgende Beispiel len unterlegen: Wie weit ist die Entwicklung der will ich nun doch verwenden: Man kann über eine Solartechnik? Welche eigenartige Vorstellung von der Rede eines Alterspräsidenten das eine oder andere weiteren Nutzung der Atomenergie haben Sie? sagen, auch kritisch. Aber wenn man sich nicht der einfachsten Formen der Höflichkeit befleißigen (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) kann, Was sind Ihre Bekundungen hinsichtlich der Reduzie- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei rung des CO2-Ausstoßes noch wert? Das kommt Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE überhaupt nicht mehr vor. Früher gab es ja einmal GRÜNEN) eine vollmundige Ankündigung, daß man ihn um ist auch das ein Signal von Mißachtung. 25 % herunterschrauben wolle. Ich frage: Wie sehr ist eine führende Industrienation wie Deutschland mit (Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!) einer solchen Regierung an der Spitze wirklich enga- Ich habe politisch überhaupt keine Nähe zu dem, was giert, weltweit ein Vorbild zu sein? Die Antwort darauf der Abgeordnete Heym vertritt, läßt sich am besten ablesen, wenn m an die Vorberei- tungen für die Folgekonferenz des Erdgipfels und die (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, na!) Klimakonferenz, die in Berlin stattfinden soll, genau überhaupt keine. Ich finde, es ist aber ein schändliches studiert. Sie hatten auch im Hinblick auf Ihre Präsi- und beschämendes Vorgehen, wenn man eine Rede dentschaft des Europäischen Rates angekündigt, was dort nicht abdruckt, wo sie üblicherweise abgedruckt Sie in dieser Beziehung alles voranbringen wollten. wird. Auch das ist ein Signal für Mißachtung. Nichts, Herr Bundeskanzler, ist geschehen. Wo soll (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dann das Vertrauen herkommen, daß in Zukunft GRÜNEN und der PDS) etwas geschehen würde? Wir werden die eine große Integrationsaufgabe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwischen Ost und West nicht bewältigen können, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wenn bei aller notwendigen und auch sehr grundsätz- PDS) lichen politischen Auseinandersetzung der Respekt Neben diesen großen Modernisierungsaufgaben in vor schwierigen Lebenswegen und vor manchen bezug auf den Wirtschaftsstandort, die Grundlagen Unzulänglichkeiten nicht wenigstens in den Grund- des Zusammenlebens und die natürlichen Lebens- beständen da ist, die man für menschliches Zusam- grundlagen steht Deutschland vor großen Integra- menleben braucht. tionsaufgaben. (Beifall bei der SPD) Die eine Integrationsaufgabe bezieht sich auf jene Die zweite große Integrationsaufgabe wird sein, Frauen und Männer, die im Osten Deutschlands leben den Frauen im Beruf, in der Gesellschaft und in der und die, soweit sie es erlebt haben und erleben Politik gleiche Chancen einzuräumen. Ich habe in mußten, in der Zeit von 1933 bis 1989 in Systemen dem sozialen Zusammenhang darüber schon einiges 56 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping gesagt und will mich hier deswegen auf eine Bemer wirklich wohl fühlen, weil ihr mich immer noch als ung beschränken. Auch da, Herr Bundeskanzler, Ausländer bezeichnet. Das sagt sie in breitestem habe ich mir Ihre Regierungserklärung erstens auf- bayerischen Dialekt, den sie wesentlich besser merksam durchgelesen und zweitens nach dem Lesen beherrscht als das Türkisch ihrer Eltern. Diese Men- mit — das muß ich einräumen — etwas reduzierter schen haben nach unserem Verständnis Anspruch Aufmerksamkeit zugehört und versucht, diese ganzen darauf, auch mit der Staatsbürgerschaft das Signal der Worte in mich aufzunehmen. Da fiel mir eigentlich nur Integration zu bekommen. ein, daß man das mit Ihrer politischen Praxis, und zwar (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE in Ihrer unmittelbarsten und eigensten Verantwor- GRÜNEN und der PDS — Widerspruch bei tung, konfrontieren sollte. Ich finde, eine Partei, die der CDU/CSU) mit Hilfe ihrer Fraktion eine Regierung trägt, macht sich bei dem proklamierten Anspruch der Gleichbe- Meine Damen und Herren, ich wollte mit ein paar rechtigung von Frauen und Männern ziemlich lächer- Streiflichtern beleuchten, welche drei großen Moder- lich, wenn sie das in ihrem eigenen Verantwortungs- nisierungs- und welche drei großen Integrationsauf- bereich noch nicht einmal ansatzweise durchsetzen gaben wir sehen: Modernisierung des Wirtschafts- kann. standortes, Modernisierung und Befestigung der sozialen Grundlagen unseres Zusammenlebens, Mo- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dernisierung und Verbesserung unseres Schutzes und GRÜNEN und der PDS) der praktischen Politik zum Schutz der natürlichen Vorstellungen, die am Ende darauf hinauslaufen, Lebensgrundlagen; Integration in Deutschland, glei- traditionelle Rollenbilder zu verfestigen, haben weder che Chancen für Frauen und Männer, Integration der mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch mit Bürgerinnen und Bürger, die wir heute als ausländi- ihrer wahrscheinlichen Entwicklung, auch nicht mit sche Mitbürger bezeichnen. Wir wissen sehr wohl, daß ihrer wünschbaren Entwicklung, zu tun. der Staat für diese Aufgaben Gestaltungsspielraum Die dritte große Integrationsaufgabe ist die gegen- zurückgewinnen muß, daß er seine Tätigkeit moder- nisieren muß, daß er sich dazu auf Wesentliches über jenen Menschen, die mit einem anderen Paß konzentrieren muß, und wir wissen auch, daß das unter uns leben. Ich zögere bei dem Wort „Ausländer" mehr als eine finanzielle Aufgabe ist. schon deshalb, weil es mir nur schwer in den Kopf und über die Lippen kommt, einen Menschen, der hier 20, Soweit es eine finanzielle Aufgabe ist, will ich Ihnen 30 Jahre lebt, dessen Kinder hier geboren sind, dessen sagen, daß wir nicht nur Regeln, Genehmigungsver- Kinder in den Sportverein, in die Schule gegangen fahren und anderes durchforsten müssen. Ich kenne sind usw., noch als Ausländer zu bezeichnen; das ist er viele Beispiele, wie das gehen könnte. Ich will das nur von seinem Paß her. aber mit Rücksicht auf die Zeit nicht näher ausfüh- ren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eines will ich allerdings sagen: Wer nicht den Mut PDS) -k hat, sich mit dem gewachsenen System der Beamten- besoldung anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich mit Man erlebt auch als einzelner Mensch auf diesem dem gewachsenen System von Aufgabenverteilung, Gebiet ziemlich viel. Wenn ich mir anschaue, wie Organisation von Verantwortlichkeiten und derglei- bisher mit der Frage der Integration, für die die chen anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich das Staatsbürgerschaft ein Element ist — vielleicht noch System der Dienstaltersstufen anzuschauen, der wird nicht einmal das allein entscheidende und wichtig- weder von der Geschwindigkeit seiner Entscheidung ste —, umgegangen wird und was Sie da jetzt verein- noch von der Modernität staatlichen Handelns und bart haben, muß ich ganz offen sagen: Auch die schon gar nicht von den finanziellen Grundlagen her Kalkulation größter Koalitionszwänge und größtmög- zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können. licher Rücksichtnahme aufeinander rechtfertigt eine solche Lächerlichkeit wie die „schnuppernde Staats- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bürgerschaft" in keiner Weise. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im übrigen braucht dieses Land mehr als andere DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der vielleicht die Integrität seiner Institutionen. Sie ist für PDS) die zivile Konfliktaustragung unverzichtbar. Deshalb ist es so bedenklich, daß diese Koalition völlig unfähig Wer Integration wirklich will — das ist etwas anderes geworden ist. Ein nationaler Plan zur Verbrechensbe- als multikulturell —, darf die Menschen nicht ausgren- kämpfung — was soll das denn sein? zen, die lange hier leben, die völlig integriert sind — außer mit Blick auf ihre Staatsangehörigkeit —, die Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie sind doch zur Finanzierung unserer gemeinschaftlichen Einrich- gar nicht mehr in der Lage, eine gemeinsame Sub- tungen ebenso beitragen wie zur kulturellen Berei- stanz von Politik zu formulieren, wenn es um die cherung unseres Landes. Ich mag nicht einsehen, daß Bewahrung der inneren Sicherheit in diesem Land es einem jungen Menschen so geht, wie ich es kürzlich geht. bei einer jungen Frau mit türkischen Eltern in Regens- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten burg erlebt habe: daß sie in dieser Stadt studiert, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nachdem sie in dieser Stadt Abitur gemacht hat, voll in PDS) das kulturelle und gesellschaftliche Leben integriert ist und dann Hunderten von Menschen öffentlich Da redet der Bundeskanzler hier von mafiaähnli- erklären muß: Ich kann mich in diesem Land nicht chen Organisationen. Das ist leider eine wachsende Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 57

Rudolf Scharping Realität. Da ist zu reden davon, daß der Verdacht der eine gemeinsame Nation ohne Abgrenzung gegen- Korruption — ein mittlerweile immer weiter wachsen- über anderen nur dann werden, wenn wir Toleranz des Thema — die Integrität demokratischer Institutio- und Respekt in der Gegenwart fördern und eine nen und deren Ansehen in der Bürgerschaft allmäh- gemeinsame Idee davon entwickeln, in welche lich zu gefährden beginnt. Was geschieht konkret? Sie Zukunft dieses L and eigentlich gehen soll. haben ein absolut lächerliches Geldwäschegesetz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorgelegt, von dem Ihnen mittlerweile jeder beschei- DIE GRÜNEN) nigt, daß es gänzlich unbrauchbar ist. Wir sind eine jedenfalls in weiten Teilen gefestigte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Demokratie und auch ein verläßlicher Partner. Sie sind leider noch nicht einmal in der Lage, sich Dem, Herr Bundeskanzler, was Sie zur Außenpoli- bei Ihrer Koalitionsvereinbarung auf das zu verständi- tik und zur Europapolitik gesagt haben, stimmen wir gen, was das Minimum sein sollte. Organisierte Kri- ausdrücklich zu. Ich füge allerdings einiges hinzu. Ich minalität darf nicht zu einem lohnenden Geschäft in habe versucht, sehr genau nachzuempfinden, was Sie Deutschland werden. Das darf auch kein Ruhe- oder im Zusammenhang mit internationalem Engagement Rückraum für solche werden, die in anderen Ländern ini einzelnen gesagt haben. konsequenter verfolgt werden. Soweit es Europa angeht: Nicht nur mit den Worten, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sondern in der praktischen Politik brauchen wir ein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dauerhaft gutes, d. h. in der Zukunft verbessertes PDS) Verhältnis zu Frankreich. Das ist vermutlich sinnvol- Wir wissen auch, daß zur Modernisierung und zur ler als alle herumgereichten Vorstellungen von einem Rückgewinnung von Gestaltungsspielraum ziviles Europa mit erster und zweiter Klasse und einem Engagement der Bürgerinnen und Bürger gehört. möglicherweise größeren Wartesaal. Kein Gesetz, keine Polizei, keine Justiz und keine (Beifall bei der SPD) öffentliche Institution kann am Ende schützen, was die Bürger nicht auch selbst schützen wollen. Folglich ist Für die kluge Einordnung Deutschlands in Europa ist ziviles Engagement eine unverzichtbare Grundlage ein gutes und sich wieder verbesserndes Verhältnis zu für demokratische und solidarische Entwicklung. Frankreich unverzichtbar. Ziviles Engagement muß ermutigt werden. Es gibt Wir stimmen zu, wenn Sie sagen, daß bei der dieses Engagement Gott sei Dank in unglaublich Revision des Maastricht-Vertrages die demokratische reichhaltiger Form. Manche, vielleicht auch in diesem Verankerung der Gemeinschaft und die völlige Orien- Raum, glauben, Politik fände nur in Parteien oder tierung ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Ent- Parlamenten statt. Diese Menschen warne ich vor dem wicklung an dem Kriterium der Stabilität Vorrang Trugschluß, der sich daraus ergibt, nämlich jene als haben soll. Hoffentlich geschieht das dann auch. politikverdrossen zu bezeichnen, die sich weniger für Entscheidungen gegenüber anderen europäischen parlamentarische Debatten oder Engagement auf Partnern, wie sie im Europäischen Rat oder von den Dauer in Parteien interessieren. Finanzministern getroffen worden sind, verheißen nicht immer Gutes, was diese absolute Orientierung Es gibt viel mehr Menschen, die sich für die öffent- an Stabilität angeht. lichen, die allgemeinen Angelegenheiten interessie- ren, als dem einen oder anderen vielleicht bewußt ist. Wir stimmen auch zu, wenn Sie in einem klugen Sie engagieren sich z. B. für Umweltschutz oder Men- Verhältnis der Beachtung der Interessen Rußlands die schenrechte, für humanitäre Hilfe gegenüber Südost- Integration der mittelosteuropäischen Staaten in die und Mittelosteuropa. Das ist aus meiner Sicht auch die Europäische Gemeinschaft vorantreiben wollen. Das beste Grundlage für eine auf Frieden und Hilfe sind europäische Staaten. Warschau, Budapest, Prag orientierte Politik dieses Landes. und andere sind genauso europäische Städte wie Berlin, Paris, Rom oder London und andere. Wer dieses Engagement im Innern nicht fördert, es eher als Belästigung einer eingefahrenen Routine Wer diese Integration allerdings will, der sollte sich versteht, der wird am Ende entmutigen, anstatt Men- auch bei dem besonderen Verhältnis, das zwischen schen ein neuerliches Motiv und eine Ermutigung Deutschland und Polen besteht, dennoch nicht nur auf dafür zu geben, mit diesem Engagement fortzufahren, Polen beziehen. Auch die Tschechische Republik, auf das dieser Staat überhaupt nicht verzichten kann, auch Ungarn oder andere gehören zu Europa hinzu. wenn er menschliches Zusammenleben erhalten Europa bliebe ohne sie unvollständig. will. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Es ist uns bewußt, daß hier schwierige, vermutlich in Auch das hat etwas mit Respekt und Toleranz zu Deutschland, in der Europäischen Union, in der NATO tun. Ich bin der Auffassung, daß wir zum Verständnis und in anderen Bereichen von uns ja nicht allein zu unseres Landes, zum Verständnis dessen, was wir bestimmende, aber von uns zu fördernde, voranzu- Nation nennen, nicht nur eine gemeinsame Sicht bringende Entwicklungen und Entscheidungen an- unserer, nicht nur von Höhen und Tiefen oder Licht stehen. Wir wollen deshalb die Basis festhalten, daß und Schatten, Herr Bundeskanzler, sondern von Deutschland ein europäisches Land mit fester euro- schrecklichsten Grausamkeiten zwar nicht aus- päischer Einbindung und einer starken Freundschaft schließlich, aber mitgeprägten Geschichte brauchen. zu Frankreich ist, weil nur von daher die Kraft ent- Vor allen Dingen werden wir ein einiges Land und steht, andere in die Gemeinschaft aufzunehmen. 58 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping Dabei sollte uns auch die Erfahrung leiten, daß die Sie ist kaum noch in der Lage, aus eigener Kraft und Integration Spaniens, Portugals und Griechenlands mit eigenen Möglichkeiten das zu tun, was für die nicht nur Zeit, Übergangsfristen oder finanzielle Hilfe Zukunft unseres Landes, für die Verbesserung seiner erfordert hat. Das Wichtigste ist wohl, daß die Integra- wirtschaftlichen Lage, für die Stärkung der sozialen tion dieser Staaten in die Europäische Gemeinschaft Gerechtigkeit und den Schutz seiner Lebensgrundla- die Befestigung ihrer Demokratien ermöglicht hat. gen getan werden muß. Das gilt gegenüber dem östlichen Europa genauso. Unsere Opposition — das ist die Rolle, die uns die (Beifall bei der SPD) Wählerinnen und Wähler am 16. Oktober zugewiesen haben — wird sich daran orientieren, daß wir mit allen Ich füge hinzu, daß wir uns innerhalb der NATO und unseren politischen Möglichkeiten die Ziele verfol- auf der Grundlage eines ebenso festen und freund- gen, für die wir in den letzten Monaten und Jahren schaftlichen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten eingetreten sind. Wir werden uns an diesen sachli- von Nordamerika deutsche Sicherheitspolitik und chen Überzeugungen — an nichts sonst — orientieren, deutsche Außenpolitik gut — und im Zweifel in den und dabei wird diese Regierung sehen, daß eine Grundlinien auch im Konsens mit dieser Regierung — Opposition außerordentlich wirksam sein kann. Wie vorstellen können, wenn es bei den beschriebenen lange Sie im Amt sind — ob jetzt ein Jahr, zwei oder Grundlinien bleibt. Was die internationale Rolle vier Jahre —, ist für uns nicht der erste Punkt. Jeder Deutschlands angeht, bekräftige ich, was ich für die Tag ist im Prinzip zuviel. SPD hier in der Aussprache über die Einsätze in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Adria und bezogen auf das ehemalige Jugoslawien der PDS) und das heutige Bosnien-Herzegowina gesagt habe. Richten Sie sich also darauf ein, daß wir orientiert an Das muß ich hier nicht wiederholen. der Sache eine Opposition betreiben, die das Ziel hat, Ich will aber deutlich machen, daß eine gemeinsam den Menschen in diesem Land zu helfen, aber ganz entwickelte europäische Außenpolitik dann auch sicher nicht zum Ziel haben wird, Sie länger als Abschied davon nehmen muß, daß wir in Europa unbedingt notwendig in dem Amt zu sehen, in das Sie — wie leider in der Vergangenheit — unseren Part- noch einmal gewählt worden sind. nern signalisieren, im Zweifel würden wir nach unse- (Langanhaltender Beifall bei der SPD — ren eigenen Vorstellungen verfahren, ohne die Politik Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirklich aufeinander abgestimmt zu haben. sowie bei Abgeordneten der PDS — Bundes kanzler Dr. Helmut Kohl: Herr Scharping, Meine Damen und Herren, ich komme zum das verstehe ich!) Schluß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und — Wenn Sie eingeschlafen sind, stört mich das relativ - Herren, bevor wir die Aussprache fortsetzen, möchte wenig. Denn daß ich Sie nicht überzeugen kann, das ich auf der Ehrentribüne im Namen aller Mitglieder ist mir von vornherein klar. Den Versuch will ich gar des Deutschen Bundestages ganz herzlich den Prä- nicht machen. sidenten der Republik Finnland, Herrn Martti (Beifall bei der SPD) Ahtisaari, und seine Begleitung begrüßen. (Beifall) Wenn meine Fraktion und die Bürgerinnen und Bür- ger, die eine solche Debatte verfolgen, meine Ausfüh- Wir freuen uns über Ihren Besuch und möchten Ihnen rungen als sinnvoll empfinden, ist das etwas ganz bei dieser Gelegenheit sagen, daß der Bundestag mit anderes. großer Freude Ihre Beitrittserklärung und die Zustim- mung beim Referendum zur Kenntnis genommen hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sind froh, daß Sie dabei sind. Herzlich willkom- der PDS — Widerspruch bei der CDU/ men! CSU) (Beifall) Sie wissen, wie eng unsere bilateralen Beziehungen Deshalb halte ich zum Schluß fest: Wir haben von sind. Auch das soll durch diesen Besuch weiter fort- einer Regierung mit denkbar knappster Mehrheit eine gesetzt werden. Herzlichen Dank. dünne Koalitionsvereinbarung und eine weitgehend substanzlose Regierungserklärung. Nun hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Abgeordneter Dr. Wolfgang Schäuble, das (Beifall bei der SPD) Wort. (V o r s i t z : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) Wir hören von dieser Koalition freundliche Absichts- erklärungen, aber sie hat nicht den Mut zu konkreten Taten. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) (mit Beifall von (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr Wir haben auf der Seite der Regierung die ganz geehrten Damen und Herren! Wir haben im Jahre schlichte Erkenntnis, daß sie selbst — einschließlich 1994 genügend Wahlkämpfe gehabt. Deswegen ist es des Regierungschefs — eine Regierung auf Abgang vielleicht gut, wenn wir das heute nicht fortsetzen, ist. Herr Kollege Scharping. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 59

Dr. Wolfgang Schäuble Die Wähler haben uns am 16. Oktober im Rahmen gehen, solange die Zusammenarbeit der Sozialdemo- unserer gemeinsamen Verantwortung für diese kraten im Landtag von Sachsen-Anhalt mit der kom- Demokratie unterschiedliche Aufgaben zugewiesen. munistischen PDS weitergeht. Ihre Aufgabe ist es in der Tat nicht, dafür zu sorgen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge daß die Regierung möglichst lange im Amt bleibt. Der ordneten der F.D.P. — Zurufe von der SPD Regierungsauftrag für die Koalition der Mitte und für Bundeskanzler Helmut Kohl ist klar. Die Unionsfrak- und der PDS) tion wird Kanzler, Regierung und Koalition unterstüt- Da können Sie miteinander schreien, soviel Sie zen. Wir werden der F.D.P. verläßliche Partner blei- wollen, das hilft gar nichts! ben. (Zuruf von der PDS: Eine kommunistische (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Partei gibt es hier nicht, Kollege Schäuble!) Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das glauben die Ihnen nur Ich lese Ihnen eine Agenturmeldung vom heutigen nicht mehr!) Tag vor, in der es heißt, daß der frühere Wirtschafts- minister von Sachsen-Anhalt, Jürgen Gramke, SPD Alle anderen Spekulationen oder Hoffnungen sind — den Sie zum Wirtschaftsminister gemacht haben, abwegig und eitel. — Lassen Sie alle Hoffnung fahren, nicht wir! —, seinen Rücktritt mit den Einflußmöglich- Herr Kollege Fischer. keiten der SED-Nachfolgepartei PDS auf die Politik in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ begründet hat. DIE GRÜNEN]: Nein, das glauben die Ihnen (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) nicht mehr!) Herr Scharping, ich will Sie ja gerne beim Wort Wir werden nichtsdestotrotz, was immer Sie glau- nehmen, und Sie sagen ja bei jeder Gelegenheit, Sie ben mögen, mit anderen Fraktionen fairen Umgang wollten keine Zusammenarbeit mit der PDS. Aber pflegen, und wir wollen niemanden ausgrenzen. Scharping beim Wort nehmen heißt für die Sozialde- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) mokraten, die Zusammenarbeit mit der PDS in Sach- Voraussetzung ist, daß die Regeln, die für alle Abge- sen-Anhalt zu beenden und diese Minderheitsregie- ordneten und Fraktionen in diesem Hause gelten, von rung, die ohne die Zustimmung der PDS und die allen akzeptiert werden. Das hat sich bei den GRÜ- Zusammenarbeit mit ihr nicht im Amt wäre und nicht NEN gegenüber 1983 geändert. im Amt bliebe, so rasch wie möglich zu beenden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P. — Zuruf von der PDS) Wenn Sie das nicht möglichst schnell tun, gerät die — 1983 sind sie mit der Erklärung in den alten SPD auf die schiefe Ebene, Plenarsaal eingezogen, sie würden sich an all die bestehenden Regeln nicht halten. Wir sind auch damit (Lachen bei der SPD) zu Rande gekommen. Diesmal haben sie es anders - wie man bei Herrn Stolpe, wie man in Mecklenburg- erklärt. Damit gelten die Regeln auch für sie, positiv Vorpommern und auch an Ihren Reaktionen hier in und negativ. dieser Debatte schon wieder feststellen kann. ( [CDU/CSU]: Fischer hat sogar (Zuruf von der SPD: Auf einer schiefen Ebene eine Krawatte an!) geht es auch aufwärts! — Meine Damen und Herren, ein Zweites kommt [SPD]: Die Blockflöten sind in Ihrer Partei!) hinzu. Es ist auch Voraussetzung, daß man unmißver- —Ja, ja. Schreien Sie ruhig weiter! Getroffene Hunde ständlich und unzweifelhaft für die Prinzipien der bellen. Deswegen will ich es noch einmal sagen. pluralistischen Demokratie und des freiheitlichen Rechtsstaates eintritt. Weil das bei der PDS zumindest (Zurufe: Sie bellen doch! — Wadenbeißer!) zweifelhaft bleibt, muß die SPD, Herr Kollege Schar- Integrationsbemühungen um die Wähler, auch um ping, ihr Verhältnis zu der kommunistischen PDS solche Wähler, die gestern oder vorgestern radikale klären. oder extreme Parteien gewählt haben, sind richtig, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sind von uns allen zu leisten und werden von uns, Herr Wolfgang Thierse [SPD]: Sie wollten doch Scharping, auch nicht denunziert. Aber man kämpft keinen Wahlkampf mehr machen!) um die Wähler nicht, indem man mit den extremen Parteien gemeinsame Sache macht. Das ist genau die — Wir machen überhaupt keinen Wahlkampf. Das hat falsche Art von Integrationsbemühungen. mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun, (Wolfgang Thierse [SPD]: Natürlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sondern mit der Stabilität unserer freiheitlichen Die Wähler in Deutschland, meine Damen und Demokratie. Herren, haben auch entschieden, daß wir im Bundes- tag und im Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge haben. Das ist so, und das nimmt alle Beteiligten in ordneten der F.D.P. — Zuruf von der SPD: eine besondere Verantwortung. Wollten Sie nicht den Wahlkampf been den?) Der neue Präsident des Bundesrates, Ministerpräsi- dent Rau, Die Debatte über die Zusammenarbeit von Sozial- demokraten und kommunistischer PDS wird weiter (Zuruf von der SPD: Ein guter Mann!) 60 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble hat bei seinem Amtsantritt dieser Tage gesagt, der Ich füge hinzu: Wenn wir die innere Stabilität Bundesrat sei weder Vollzugsinstrument der Bundes- unserer freiheitlichen Demokratie ernst nehmen, regierung — das ist der Bundestag auch nicht — noch dann müssen wir angesichts zunehmender Wande- Instrument der Opposition im Bundestag. Das ist in rungsbewegungen die Steuerung und Begrenzung beiden Teilen richtig. Aber das Wort vom Machtzen- von Zuwanderung möglichst auf europäischer Ebene trum der SPD, Herr Ministerpräsident Schröder, ist weiter voranbringen, damit der innere Frieden in damit nicht zu vereinbaren. Deswegen sollten Sie es unserem Lande erhalten bleibt. möglichst schnell zurücknehmen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P.) Nach Art. 50 unseres Grundgesetzes wirken die Das heißt zugleich, daß wir die Integration der auf Länder durch den Bundesrat bei der Gesetzgebung Dauer hier lebenden ausländischen Mitbürger ver- des Bundes mit. Damit ist nicht ein parteipolitischer bessern müssen. Mißbrauch der Mehrheit im Bundesrat gemeint, Herr Kollege Scharping, ich habe überhaupt nicht (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ verstanden, was Sie dazu gesagt haben. DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Schäuble!) (Zuruf von der SPD: Das ist kein Wunder!) sondern ausdrücklich ausgeschlossen. Auch das muß Es ist völlig unstreitig zwischen uns, daß beispiels- in der ersten Debatte dieser Legislaturperiode gesagt weise die von Ihnen genannte Mitbürgerin mit dem werden. bayerischen Akzent und der türkischen Staatsange- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hörigkeit so, wie Sie das beschrieben haben, einen Rechtsanspruch auf den Erwerb der deutschen Staats- Das Zusammenwirken von Regierung, Bundestag angehörigkeit hat. und Bundesrat ist im Grundgesetz geregelt. Die ver- fassungsmäßigen Institutionen und Verfahren werden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) übrigens bei unterschiedlichen Mehrheiten nicht Herr Kollege Scharping, wenn wir die Integration durch runde Tische oder Allparteienkoalitionen außer der ausländischen Mitbürger verbessern wollen, dann Kraft gesetzt, sondern sie werden sich auch bei fängt das damit an, daß wir den Menschen in unserem unterschiedlichen Mehrheiten zu bewähren haben. Lande die Wahrheit sagen und nicht Verunsicherung Sie werden sich auch bewähren, und sie lassen zu schüren. Das gilt auch für Reden im Deutschen Bun- jedem Zeitpunkt genügend Raum für jedes vernünf- destag. tige Gespräch, zu dem wir immer bereit sein wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge den. ordneten der F.D.P.) Meine Damen und Herren, wenn wir im Rahmen Die Wahrheit ist, daß die hier seit acht und mehr unserer gemeinsamen Verantwortung unsere unter- Jahren rechtmäßig lebenden ausländischen Mitbür- schiedlichen Aufgaben so wahrnehmen, dann werden - ger einen Rechtsanspruch auf Erwerb der deutschen wir unsere Demokratie und unseren freiheitlichen Staatsangehörigkeit haben. Das muß man sagen. Rechtsstaat stärken und bewahren, den wir ja auch Darüber darf man nicht hinwegtäuschen, weil man nach außen und innen schützen müssen. Der Erhalt sonst Integration nicht fördert, sondern behindert. des inneren Friedens bleibt zentrale Herausforde- rung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Weil meine Sorge heute nicht in erster Linie ist, daß unser Staat zu allmächtig werden könnte und deshalb DIE GRÜNEN]: Das ist aber eine sehr banale die Freiheit gefährdet, sondern weil ich eher die Sorge Argumentation!) habe, daß unser Staat zu schwach werden könnte, um Vielleicht — aber das haben Sie nicht gesagt, die Freiheit noch zu schützen, deswegen müssen wir sondern sorgfältig verschwiegen; warum wohl? — die Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Kor- sind wir in der Frage der doppelten Staatsangehörig- ruption und Extremismus entschieden fortsetzen und keit unterschiedlicher Meinung. verstärken. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Aber in dem Fall sagen Sie, was Sie meinen, und reden ordneten der F.D.P.) Sie nicht davon, daß diese junge Frau mit dem Das wird eine gemeinsame, eine gesamtstaatliche bayerischen Akzent die deutsche Staatsangehörigkeit Aufgabe von Bund und Ländern und im übrigen auch nicht erwerben kann. Das ist doch gelogen. Es ist doch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. gelogen! Ich denke auch, daß wir den Kampf gegen die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Geißel der Drogenabhängigkeit mit Entschiedenheit Widerspruch bei der SPD — Ingrid Matthäus intensivieren müssen: Maier [SPD]: Das hat er doch gar nicht gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) — Aber natürlich hat er das gesagt. Am besten wäre durch Vorbeugung, Warnung und Werbung für ein es, Sie ließen schnell das stenographische Protokoll korrigieren, damit wir das nicht nachlesen können. Leben ohne Drogen, durch Therapie für die abhängig Gewordenen und durch Bekämpfung der internatio- (Manfred Opel [SPD]: Dafür haben Sie doch nal operierenden Drogenkriminalität. Herrn Waigel!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 61

Dr. Wolfgang Schäuble Er hat es gesagt. Jeder hat ihn so verstanden, daß diese Viele sagen und schreiben, das Bekenntnis zu den Dame mit dem bayerischen Akzent nicht Deutsche Grundsätzen unserer Verfassung sei das wichtige werden kann und daß sie darunter leidet. Nein, sie Element der Staatsbürgerschaft. Darüber kann man ja kann es, und zwar durch einfache Erklärung. reden. Aber dann fängt das Bekenntnis doch mit der Entscheidung an, daß man eben die deutsche Staats- (Zurufe von der SPD: Nein!) angehörigkeit haben möchte und nicht beliebig viele — Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin wirklich Staatsangehörigkeiten. Deswegen wollen wir die dafür, daß wir gerade bei einem so schwierigen regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit nicht. Thema sorgfältig argumentieren. Wir wollen aber nicht schon die Kinder vor diese (Zustimmung bei der CDU/CSU — Zuruf von Entscheidung stellen. Man kann darüber streiten, ob der SPD: Eben! — Günter Verheugen [SPD]: es der Weisheit allerletzter Schluß ist, aber ich glaube, Sie müssen zuhören!) wir haben versucht, beide Prinzipien gut miteinander zu verbinden, indem wir erklären: Wir wollen nicht Wir wollen festhalten: Sie kann die deutsche Staats- schon die Kinder vor diese Entscheidung stellen, angehörigkeit erwerben. Sie hat einen Rechtsan- sondern sie sollen ihre bisherige Staatsangehörigkeit spruch. behalten, die sie übrigens nach dem Abstammungs- Jetzt lassen Sie uns über die doppelte Staatsange- prinzip, also dem Jus sanguinis, von ihren Eltern hörigkeit reden. erhalten, und sie sollen eine vorläufige deutsche (Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD]) Staatszugehörigkeit erhalten. Mit dem Eintritt der Volljährigkeit sollen sie sich selbst entscheiden, ob sie — Bitte hören Sie einen Moment zu, Herr Opel. Wir auf Dauer die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben werden das Problem genau beschreiben. Dabei werde oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten ich vielleicht auch an Sie appellieren, daß Sie den wollen. Versuch, zwei konkurrierende Gesichtspunkte mit- einander zu verbinden, die beide notwendig und Das bezeichnen Sie hier als Lächerlichkeit. Ich richtig sind, wenn wir die Integration unserer auslän- finde, Herr Scharping, das wird dem Anliegen der dischen Mitbürger verbessern wollen, nicht einfach Sache und dem Lösungsvorschlag nicht gerecht. Des- als Lächerlichkeit bezeichnen, sondern vielleicht erst wegen sollten wir ernsthafter darüber reden. einmal sorgfältig darüber nachdenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Worum geht es? Ich bin davon überzeugt, daß die Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ generelle Gewährung doppelter Staatsangehörig- NEN]: Das ist lebensfremd!) keit — — — Frau Vollmer, ich sage ja: Wir können doch im (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das will kei einzelnen darüber reden. ner!) Der Nachteil einer uneingeschränkten doppelten — Entschuldigung, dann müssen Sie aber wirklich Staatsangehörigkeit bis zum 18. Lebensjahr besteht in - sorgfältiger argumentieren, als es Herr Scharping folgendem. Sie wollen sie ja wahrscheinlich generell, getan hat, auf Dauer. Das wollen die Sozialdemokraten nicht, wir (Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das auch nicht. — An der Reaktion von Herrn Fischer sieht kann sie gar nicht!) man: Es wechselt dauernd. — Frau Matthäus-Maier kann das. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Damit kann ich in aller Ruhe Wir sagen: Wir wollen nicht regelmäßige doppelte leben!) Staatsangehörigkeit. -- Sie sollen ja auch leben. So als Opposition, wie Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) es jetzt sind, ist es recht; mehr wäre schlecht. Wir sind davon überzeugt, daß die Gewährung der (Zustimmung bei der CDU/CSU) doppelten Staatsangehörigkeit, d. h. die regelmäßige Belassung der bisherigen Staatsangehörigkeit bei der Wenn man die doppelte Staatsangehörigkeit auf Einbürgerung ausländischer Mitbürger in Deutsch- Dauer nicht will, dann ist die Frage, ob man sie bis zum land — das führt nämlich zur regelmäßigen doppelten 18. Lebensjahr einführen kann oder ob m an nicht Staatsangehörigkeit — im Ergebnis die Integration besser etwas Kindgemäßes macht und damit die der ausländischen Mitbürger nicht fördert, sondern Entscheidung bis zum Eintritt der Volljährigkeit offen- beschädigt. läßt. Darüber wird man jedenfalls ernsthafter reden können, als Sie, Herr Scharping, diesen Vorschlag in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ihrer Rede kommentiert haben. ordneten der F.D.P.) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Die Reaktion der Menschen wird nämlich sein, die Allerdings!) Betreffenden seien privilegiert. Wir wollen aber nicht benachteiligen, und wir wollen nicht privilegieren. Ich will eine Bemerkung dazu machen, daß unsere Wir wollen vielmehr gleiche Rechte und Pflichten. Freiheitsordnung auch in Zukunft nach außen Deswegen darf nicht regelmäßig die doppelte Staats- geschützt werden muß. Herr Kollege Scharping, wo angehörigkeit der Preis der Einbürgerung sein. Sie wir nicht streiten müssen, brauchen wir nicht zu müssen sich entscheiden, wenn sie sich dauerhaft streiten. Deswegen ist es gut, daß Sie gesagt haben, integrieren wollen. Auch das ist nicht zuviel ver- Sie unterstützen das, was der Bundeskanzler Helmut langt. Kohl in seiner Regierungserklärung zur Außen- und 62 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble Europapolitik gesagt hat. Ich will das unterstreichen; stand zu tabuisieren, weil wir so nur Zukunft verwei- wir unterstützen das auch. gern.

Lassen Sie mich lediglich die Bemerkung hinzufü- Für uns, für CDU/CSU und die Koalition der Mitte, gen, daß jemand, der wie ich seit Jahren sagt, daß das wird bei dem, was zu geschehen hat, der weitere elende Gemetzel auf dem Balkan die Legitimität Aufbau der neuen Bundesländer auch in den kom- europäischer Einigung und atlantischer Solidarität, ja menden Jahren Vorrang haben. Nun ist es aber nicht der ganzen zivilisierten Völkergemeinschaft gefähr- so, daß in den Jahren seit 1990 nicht viel erreicht den kann, von Woche zu Woche immer grausamer worden wäre. Angesichts der Tatsache, daß der Kol- bestätigt wird. Manchmal denke ich bei der Betrach- lege Scharping so getan hat, als sei in den letzten zwölf tung der politischen Nachrichten des Tages, ob wir Jahren in diesem Land nur Elend gewachsen, den Film nicht schon einmal gesehen haben. Wollen wir nicht wirklich ernsthafter und entschiedener der (Dr. [F.D.P.]: Ja!) Wiederholung, der Wiederaufführung dieses Films, solange noch Zeit dazu ist, entgegentreten? muß man leider doch ein wenig daran erinnern, was seit 1982, seit Helmut Kohl Bundeskanzler ist und mit (Beifall bei der CDU/CSU) der Koalition der Mitte dieses Land regiert, in diesem Land erreicht worden ist. Ich sage das nur, weil Herr Ich finde, daß durchgesetzt werden muß, daß poli- tische oder sonstige Ziele wenigstens in Europa nicht Scharping wirklich so getan hat, als seien das zwölf mit Waffengewalt verfolgt werden können. Weil dies Jahre wachsenden Elends gewesen. Man fragt sich kein Land für sich allein sicherstellen kann, muß der manchmal, wo Sie gelebt haben. Rückfall in nationalstaatliche Auseinandersetzungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — unter allen Umständen vermieden und verhindert Wolfgang Thierse [SPD]: Sie bauen sich werden. Deswegen gibt es keine verantwortbare immer einen Popanz auf, auf den Sie dann Alternative zur unumkehrbaren europäischen Einheit einschlagen können!) mit einer wirkungsvolleren und gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und zur atlantischen Solidari- — Er hat doch so geredet. Herr Thierse, es tut mir leid: tät. Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender davon redet, daß in dieser Regierungserklärung lediglich die Fortsetzung Weil wir, meine Damen und Herren, im übrigen dieser zwölf Jahre angekündigt sei nicht wissen, wieviel Zeit uns die Geschichte läßt, brauchen wir die Erweiterung der Europäischen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Stimmt ja auch!) Union und gleichzeitig deren Vertiefung. Deswegen können wir nicht sagen, jetzt wollen wir sie erst einmal und daß das das Schlimmste von allem sei, dann fünf Jahre vertiefen, und dann schauen wir, ob wir müssen Sie mir schon erlauben, darauf hinzuweisen, vielleicht auch unseren Nachbarn in Osteuropa Halt daß in diesen zwölf Jahren nicht nur die Wiederverei- und Stabilität geben. nigung in Frieden und Freiheit erreicht worden ist, - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] Weil dies so ist, werden sich wohl die Integrations- [F.D.P.]: Zum Beispiel!) fähigen und -willigen besonders anstrengen müssen. Sie sollen sich auch anstrengen, denn wir brauchen sondern auch die europäische Einigung wesentlich das Vorangehen der Franzosen und der Deutschen, vorangebracht worden ist. In Westdeutschland sind im hoffentlich auch der Briten, der Beneluxländer, der Saldo drei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich geschaf- Italiener, der Spanier, wer auch immer mag. Es soll ja fen worden, niemand ausgegrenzt werden. Es sollen ja alle mitma- chen, es sind alle gewollt. Wir wollen keinen ausgren- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zen. Wir wollen, daß möglichst viele die Europäische Union voranbringen. Wir brauchen sie, weil sonst der bei Preisstabilität wurde eine ständig wachsende Friede in Europa und damit auch der Friede für uns Wirtschaft erreicht, Deutsche nicht sicher bleibt. (Zuruf von der PDS: Wachsende Arbeitslo (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sehr gut!) sigkeit, wachsende Armut!) Wir brauchen die Fortschritte der europäischen die Umweltverhältnisse sind dramatisch verbessert Einigung auch, um unsere wirtschaftliche Wettbe- worden. werbsfähigkeit zu erhalten. Ohne den einheitlichen Binnenmarkt und ohne den Stabilitätsdruck des Es ist übrigens nicht wahr, Herr Scharping, daß in Maastricht-Prozesses sind unsere Chancen in dem unserer Koalitionsvereinbarung, auf die der Bundes- härter gewordenen weltweiten wirtschaftlichen Wett- kanzler in seiner Regierungserklärung verwiesen hat, bewerb sehr viel schlechter. Dieser Weg wird auch bei die Umweltproblematik, mit der CO2-Reduzierung uns selbst große Anstrengungen erfordern. Jedenfalls nicht vorkommt. wird der Erhalt unserer wirtschaftlichen Leistungsfä- (Rudolf Scharping [SPD]: Davon habe ich higkeit und der dazu notwendige Umbau unseres nicht gesprochen, sondern von der Vorberei Sozialstaats mehr Veränderungen erfordern und tung der Berliner Konferenz!) erzwingen, als wir das bis 1989 in unserem so zu Besitzstandswahrung neigenden Land noch gewohnt — Doch. Im Gegensatz zu Ihren Kollegen jetzt waren waren. Aber es macht eben keinen Sinn, jeden Besitz- wir bei Ihrer Rede ziemlich zahlreich anwesend. Wir Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 63

Dr. Wolfgang Schäuble haben zugehört, als Sie gesagt haben, das sei mit — Es ist wirklich nicht fair, daß man durch ständiges keinem Wort erwähnt worden. Dazwischenreden nicht die Chance hat, zwei Gedan- ken an einem Stück auszuführen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Lesen Sie es doch einmal vor! (Wolfgang Thierse [SPD]: Wenn es wenig Das ist interessant, was da drinsteht!) stens ein Gedanke wäre!) — Jetzt fangen Sie schon wieder an. Dann warte ich — Herr Fischer, da Sie ja nach mir reden, können Sie noch ein bißchen. dann die Koalitionsvereinbarung vorlesen. (Zuruf von der SPD: Schämen Sie sich!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Herr Thierse, es hilft alles nichts. Wenn Ihr Fraktions- DIE GRÜNEN]: Ich habe sie gelesen!) vorsitzender in seiner ersten Rede in dieser Funktion diese zwölf Jahre, in denen Helmut Kohl Bundeskanz- Das ist vielleicht das Beste, was Sie machen kön- ler war, so negativ beschreibt, dann werden Sie nen. ertragen, daß der Vorsitzende der größten Fraktion im (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Deutschen Bundestag in wenigen Sätzen sagt, was in der F.D.P.) diesen zwölf Jahren erreicht worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge In diesen zwölf Jahren sind — in den 80er Jahren — ordneten der F.D.P.) gegen den Widerstand von Rot-Grün schadstoffarme Autos eingeführt worden. Ich will darüber sprechen — daran werden Sie mich nicht hindern —, daß wir trotz dieser großen Erfolge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vor ungeheuer großen Aufgaben stehen, weil sich Lachen bei der SPD — Michael Müller [Düs unser Land, Europa und die Welt dramatisch verän- seldorf] [SPD]: Das ist doch alles nicht dert haben. Das ist kein Vorwurf an die Regierung; das wahr!) ist auch kein Widerspruch. Daß wir trotz aller Erfolge in diesen zwölf Jahren vor großem Veränderungsbe- — Aber natürlich. darf stehen und große Aufgaben vor uns haben, ist (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ kein Widerspruch, sondern das Ergebnis der Tatsa- DIE GRÜNEN]: Ich erinnere mich noch an che, daß sich der Gang der Geschichte beschleunigt Herrn Zimmermann! „Am Brenner bleiben hat, und zwar außenpolitisch wie wirtschafts- und die Autos stehen", so hieß es damals! Hören sozialpolitisch. Sie doch auf, Herr Schäuble! — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Informieren!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- — Es hilft doch alles nichts; wir haben alle die legen Geißler? Auseinandersetzung in Erinnerung. Ich will nicht über die 80er Jahre diskutieren; ich weise nur angesichts - (CDU/CSU): Aber bitte, der Rede von Herrn Scharping, der so getan hat, als Dr. Wolfgang Schäuble gern. seien das die schlimmsten zwölf Jahre der deutschen Geschichte gewesen, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. (Günter Verheugen [SPD]: 12 Jahre? Das ist eine Gemeinheit!) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Darf ich den Frak- darauf hin: Es waren gar keine schlechten Jahre. tionsvorsitzenden zur Erweiterung und Verbesserung Wenn wir in den nächsten zwölf Jahren noch einmal so der Beurteilung der vergangenen Jahre darauf hin- gute Jahre bekommen, dann ist das recht für unser weisen, daß — — Vaterland. (Zuruf von der SPD: Frage!) — Darf ich darauf hinweisen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein! — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Das ist doch das Problem, und darüber muß man doch -N EN]: Jetzt muß er nein sagen!) sprechen können. Darf ich darauf hinweisen, daß es ein Buch gibt, in dem (Günter Verheugen [SPD]: 12 Jahre? Das ist folgende Zitate enthalten sind: das Schlimmste, was ich je gehört habe!) Die gesamte innen- wie außenpolitische Lage spricht prima facie für die optimistische Erwar- —Jetzt lassen Sie doch mich einmal wieder eine Weile tungshaltung über die Zukunft des vereinten reden, ohne ständige Zwischenrufe. Deutschland, und ohne jeden Zweifel sind die (Günter Verheugen [SPD]: Nach der Ge historischen Bedingungen für eine f riedliche, meinheit mit den 12 Jahren gerade?) demokratische und damit erfolgreiche Entwick- lung Deutschlands in Europa so günstig wie nie Das ist doch wirklich nicht fair. zuvor in der Geschichte dieses Landes. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie bauen einen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber nicht mit Popanz auf und hauen dann darauf ein! — dieser Regierung!) Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND ... Vielleicht wird die Zeit der „Bonner Repu NIS 90/DIE GRÜNEN) blik", aus dem Abstand einiger Jahre betrachtet, 64 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Heiner Geißler dereinst als die glücklichste (West)-Deutschlands Wir werden das nur erreichen, wenn wir in allen im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet werden. Bereichen — im Bundeshaushalt wie im übrigen auch Darf ich darauf hinweisen, daß diese Zitate von bei Ländern und Gemeinden — die Ausgabenzu- Herrn stammen? wächse streng begrenzen. So haben wir es in den 80er Jahren auch erreicht. Ich bin gespannt auf die Haus- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und haltsberatungen im einzelnen, wo wir in den ganzen der F.D.P. — Zustimmung bei Abgeordneten 12 Jahren niemals Sparvorschläge der SPD erlebt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben, sondern immer nur Kritik an zu hohen Steuern und Kritik an zu hoher Verschuldung, Kritik aller Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsident, Sparvorschläge, gelegentlich eine Blockade im Bun- die Antwort auf die Frage meines Freundes Heiner desrat, und anschließend ist das Mikrofon ausgefal- Geißler lautet ganz korrekt: Ja. Ja, du darfst darauf len, wenn es an eigene Sparvorschläge gegangen hinweisen. ist. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der F.D.P.) Wir werden unseren Weg fortsetzen. Im übrigen habe ich auf diese Weise festgestellt, daß die Vorstellung dieses Buches durch dich doch einen (Ministerpräsident Gerhard Schröder [Nie guten Sinn gehabt hat. dersachsen]: Das werfe ich meiner Opposi tion auch immer vor!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] — Ja, das mag sein. Herr Schröder hat gesagt, bei ihm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er muß weiter würde die Opposition auch ähnliche Kritik üben. Aber zitieren!) so brutal hat noch selten ein Regierungschef Wahlver- sprechen innerhalb weniger Monate gebrochen, wie Liebe Kolleginnen und Kollegen, der entschei- Sie es in Niedersachsen gemacht haben. dende Punkt ist, daß wir angesichts der vielen Verän- derungen trotz aller Erfolge einen gewaltigen Verän- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — derungsbedarf haben. Es ist ja wahr, daß der Standort Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Deutschland durch zu hohe Lohn- und Lohnnebenko- Und da lacht er noch! — Joseph Fischer sten, zu viele Steuern und Abgaben und zu langwie- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rige Genehmigungsverfahren, die in ihrem Ausgang Das Jahr 1990 war aber auch nicht schlecht zu schwer kalkulierbar und auch deswegen zu teuer mit Ihrer Steuerlüge!) sind, belastet ist und daß wir aus diesem Grund einen Wir haben übrigens seit 1992 Jahr für Jahr im schlankeren Staat brauchen und daß wir uns auf Bundeshaushalt über alle Stellen der Bundesverwal- technischen und wissenschaftlichen Fortschritt kon- tung jährlich 1 % der Stellen gekürzt, und wir werden zentrieren müssen. Dazu ist übrigens die gesamtge- das in den nächsten Jahren fortsetzen. Wir haben in sellschaftliche Akzeptanz von technisch-wissen- - Westdeutschland, in den alten Bundesländern, Sub- schaftlichem Fortschritt von entscheidender Bedeu- ventionen in größerem Maße gekürzt, als dies die tung. Deswegen hoffe ich, daß die Akademie der allermeisten Sachverständigen 1990 überhaupt für Wissenschaften einen Beitrag dazu leisten kann, daß möglich gehalten haben. Wir haben seit 1990 insge- unser Land dem technisch-wissenschaftlichen Fort- samt Subventionen in einer Größenordnung von schritt insgesamt verpflichtet bleibt. 70 Milliarden DM jährlich gekürzt. Der Weg muß Natürlich brauchen wir entscheidend eine Rückfüh- fortgesetzt werden. Aber das zeigt, wir sind durchaus rung der zu hoch gewordenen Staatsquote. Aber auch erfolgreich auf dem richtigen Weg. dabei muß man daran erinnern: Die Staatsquote ist Ich will übrigens, Herr Kollege Scharping, Ihre heute so hoch, wie sie 1982, beim Amtsantritt der Bemerkung zur Gewerbesteuer aufgreifen. Zunächst Regierung Kohl, gewesen war, nämlich 52 %. Das ist einmal muß man richtigstellen: Wenn Sie sagen: die auf die Dauer zu hoch. Wir haben in den zwölf Jahren, Gewerbesteuer insgesamt, dann redet man von einem Herr Kollege Scharping, unter der Verantwortung Volumen von 40 Milliarden DM. Das ist richtig, aber dieser Bundesregierung von 1982 bis 1989 die Staats- nicht ganz richtig, denn Sie müssen dazusagen, daß quote von 52 % auf unter 46 % zurückgeführt. Sie ist die Gewerbesteuerzahlungen bei der Einkommen- uns durch die besonderen Aufgaben und Belastungen und Körperschaftsteuer anrechenbar sind. Das heißt: im Gefolge der deutschen Einheit seit 1990 wieder auf Das Nettoaufkommen beträgt nicht 40 Milliarden DM, 52 % hochgesprungen. Sie muß mittelfristig wieder sondern irgend etwas in der Größenordnung zwischen zurückgeführt werden. Aber eine Regierung, die es in 25 und 30 Milliarden DM. den 80er Jahren schon einmal geschafft hat, bietet die besten Voraussetzungen dafür, daß es auch in den (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß der doch 90er Jahren wieder gelingen wird. gar nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir reden ja von einer gesamtstaatlichen Veranstal- Ich weise im übrigen darauf hin, daß das neue tung. Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutach- Zweite Bemerkung. Ich glaube nicht, daß man ganz tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gera- schnell eine Abschaffung der Gewerbesteuer errei- dezu identisch ist mit den entsprechenden Ankündi- chen wird; jedenfalls brauchen wir dazu ein Zusam- gungen von Regierung und Koalition, was ja weder menwirken von Bund, Ländern und Kommunen. gegen den Sachverständigenrat noch gegen Regie- Genauso haben wir es in unsere Koalitionsvereinba- rung und Koalition spricht. rungen hineingeschrieben. Was Sie dagegen kritisiert Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 65

Dr. Wolfgang Schäuble haben, ist, etwas ganz anderes. Darüber haben wir Peter Dreßen (SPD): Herr Schäuble, würden Sie mir auch in den Koalitionsverhandlungen gesprochen. zustimmen, daß bei der Abschaffung der Gewerbe- Ob, Herr Finanzminister, Ihre Pressestelle das weiß, steuer weder der VW noch der Daimler oder ein weiß ich nicht, aber in den Koalitionsverhandlungen Anzug um 50 Pfennig billiger würden, wenn Sie als haben wir darüber ausführlich gesprochen. Ersatz vorschlagen, einen Hebesatz bei der Lohn- und (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Die Einkommensteuer einzuführen, daß dies nur schlicht brauchen nicht über alles informiert zu weg nur wieder eine Umverteilung von oben nach sein!) unten wäre? Deswegen würde mich interessieren, wie Sie die Preisentwicklung sehen, wenn Sie die Gewer- — Die brauchen nicht über alles informiert zu sein. besteuer abschaffen: Was wird da billiger? (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: So ist es!) (CDU/CSU): Herr Kollege Das ist wahr. Wenn man die Gewerbesteuer insgesamt Dr. Wolfgang Schäuble Dreßen, wenn Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden so abschafft — und darüber sind sich alle Kommunalpo- aufmerksam zugehört haben wie ich, dann werden Sie litiker und die gewerbesteuerzahlende Wirtschaft gehört haben, daß er gesagt hat, es sei seine Meinung, einig — daß man unternehmerische Erträge dort, wo Wachs (Zuruf von der SPD: Das ist doch nicht tum entsteht, steuerlich entlasten sollte. wahr!) (Zuruf von der SPD: Nach Ihren Vorschlägen — aber natürlich —, braucht man eine originäre haben wir gefragt!) Finanzquelle der Gemeinden. Die kann man nur — Ja, ich sage es doch gerade. Meinen Vorschlag finden, wenn man die Gemeinden entweder an der habe ich doch nun lange erläutert. Mehrwertsteuer oder durch ein eigenes Hebesatz- recht an der Lohn-, Einkommen- und von mir aus auch In der Logik der Überlegung von Herrn Scharping, an der Körperschaftsteuer beteiligt. Darüber muß man die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, um unter- vernünftig miteinander reden. Wenn man dies tut, nehmerische Erträge entlasten zu können, liegt nun verbreitert man übrigens die Bemessungsgrundlage. genau der Vorschlag, die Gewerbesteuer abzuschaf- Ich weiß gar nicht, warum Sie das hier so streng fen und durch ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf abgelehnt haben. Ich kann das aus der Logik Ihrer Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erset- Einlassung gar nicht erkennen. zen. Das wird im Ergebnis wachstumsfördernd sein. Wir beseitigen den gewaltigen Nachteil des Stand- (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) orts Bundesrepublik Deutschland, Sie müßten sich vielleicht einmal sagen lassen, daß (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) einer der schlimmsten Nachteile des Wirtschafts- und daß wir mit Ausnahme von Luxemburg als einziges Investitionsstandorts Deutschland die Tatsache ist, Land unternehmerische Erträge zweimal besteuern, daß wir mit Gewerbekapital- und Gewerbeertrag- steuer das für Wachstum und Arbeitsplätze einge- nämlich mit Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer - und Gewerbesteuer. Wir vereinfachen das Steuer- setzte Kapital und die daraus entstehenden Erträge recht gewaltig. Wir stärken die kommunale Selbstver- besteuern. Das genau ist der Fehler, den wir korrigie- waltung, indem die Gemeinde selber durch ein Hebe- ren wollen. satzrecht über ihre Einnahmen entscheiden kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deswegen lade ich Sie herzlich ein: Denken sie erst Wir werden — ich sage das noch einmal — im einmal nach, bevor Sie nein sagen! Lassen Sie uns Dienstleistungsbereich, im Bereich von H andel, vernünftig miteinander darüber reden! Handwerk und Dienstleistungen, zusätzliche Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) plätze gewinnen müssen. Ich will eine Bemerkung dazu machen, Herr Präsi- Es wird übrigens nicht auf dem Weg gehen, vorhan- dent, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß dene Arbeit anders aufzuteilen, Herr Ministerpräsi- wir bei allem wirtschaftlichem Wachstum nicht allein dent Schröder. Wenn Sie schon nicht auf Herrn im industriellen Bereich hinreichend Arbeitsplätze Schiller hören, der das als Arbeitsamtssozialismus finden werden. Deswegen ist es so wichtig, daß wir im bezeichnet hat, dann sollten Sie vielleicht die Beschäf- Dienstleistungsbereich zusätzliche Beschäftigungs- tigungsstudie der OECD vom Juli dieses Jahres lesen, potentiale erschließen. Das ist keine Alternative zu wo ausdrücklich ausgeführt ist, daß die erzwungene einer auf Wachstum gerichteten Politik, aber es ist die Aufteilung von Arbeitsplätzen noch in keinem Fall notwendige Ergänzung; denn bei allem Wachstum in Arbeitslosigkeit signifikant verringert hat. der Industrie werden wir nicht so viel Arbeitsplätze (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) haben, wie wir brauchen, um dem Ziel Arbeit für alle Wir brauchen mehr näherzukommen. Wir brauchen mehr Flexibilität. Teilzeitarbeit. Wir müssen nicht nur Frau Fuchs dafür gewinnen, sondern die ganze SPD, daß wir reguläre Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Arbeitsverhältnisse im privaten Bereich steuerlich Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? absetzbar machen, um so mehr Beschäftigung zu bekommen. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Bitte, gern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir mehr Teilzeitarbeit wollen, müssen wir in Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Abgeordne- der Tat auch das Umfeld, Kindergartenöffnungszei- ter Dreßen. ten, Geschäftszeiten, Verkehrsdienstleistungen, dar- 66 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble auf ausrichten, daß auch Frauenerwerbsarbeit und schenwürdig leben können. Dabei ist darauf zu Familienarbeit besser miteinander vereinbar ist. achten, daß dadurch nicht eine falsche Bequem- lichkeit Platz greift, die das notwendige Arbeits- Im übrigen, Herr Kollege Scharping, weil Sie ethos in der Gesellschaft aushöhlt. danach gefragt haben: Wir wollen den Rechtsan- spruch auf einen Kindergartenplatz nicht abschaffen. Auch dieser Satz ist richtig. Alle Sätze sind rich- Wir hatten ihn ausdrücklich in unserem Wahlpro- tig. gramm; wir haben ihn auch in unserer Koalitionsver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge einbarung. Es bleibt bei einem Rechtsanspruch auf rdneten der F.D.P.) einen Kindergartenplatz. Deshalb laden wir auch Sie ein, miteinander über Ich füge hinzu: Wenn die Kapazitäten in manchen die Schnittstellen zwischen Arbeitseinkommen, Bundesländern nicht ausreichen, dann bin ich dafür, Lohnersatzleistungen und Transferleistungen unvor- daß man übergangsweise die Richtlinien über die eingenommener zu diskutieren und diese Schnittstel- Ausstattung an Sach- und Personalmitteln für Kinder- len neu so zu justieren, daß auch geringer bezahlte gärten ein Stückweit lockert, damit jedes Kind ab 1996 Arbeit in unserem L ande nicht in Schwarzarbeit und tatsächlich in jedem Bundesland einen Kindergarten- Schattenwirtschaft abgedrängt wird. Denn es ist bes- platz bekommt. ser, zeitlich befristete oder Teilzeit- oder geringer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bezahlte Arbeit zu haben, als dauerhaft arbeitslos zu sein. Das ist die schlechteste aller Alternativen. Wir müssen die Schnittstellen zwischen Arbeitsein- kommen, Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) überprüfen. Wenn wir für weniger Konsum und für mehr Inve- Herr Kollege Scharping, weil Sie die Diskussions- stitionen in die Zukunft sind, dann heißt das auch eine grundlage für die Konsultationen über ein gemeinsa- neue Anstrengung für mehr Vermögensbildung. Wir mes Wort der Kirchen erwähnt haben, will ich erstens wollen Kapitalbeteiligungen fördern, auch durch ein Wort des Respektes für diesen Text sagen. Ich will tarifvertragliche Öffnungsklauseln für Betriebsver- dazu sagen, daß meine Fraktion mit großer Intensität einbarungen. der Einladung beider Kirchen folgen wird und sich an diesem Diskussionsprozeß beteiligen wird. Vor allen Dingen ist mir wichtig, daß wir in den neuen Bundesländern staatliche Maßnahmen und (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Der Bundeskanz Leistungen der Investitionsförderung endlich mit der ler hat die Kirchen nicht eingeladen! Er hat Mitarbeiterbeteiligung verbinden, damit wir nicht alle eingeladen, aber nicht die Kirchen! Das durch die hohen Transferleistungen in einigen Jahren ist doch interessant!) eine Eigentums- und Vermögensverteilung in den — Frau Kollegin Fuchs, es geht jetzt um eine Einla- neuen Ländern bekommen, die unver antwortlich dung der Kirchen. Sie können ganz sicher sein, daß --oist. das Verhältnis des Bundeskanzlers zu beiden Kirchen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und das Verhältnis beider Kirchen zum Bundeskanz- ler sehr viel besser sind, als es bei vielen Ihrer Deswegen ist dies ein notwendiger Schritt, den wir in sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Fall diesen Jahren gehen wollen und gehen werden. ist. Da können Sie ganz beruhigt sein. Das Subsidiaritätsprinzip stärken — was ja heißt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge mit der Idee eines schlanken Staates ernst zu ordneten der F.D.P.) machen — und freiwillige Solidarität zu fördern, die besser als eine staatlich verordnete ist — auch das Aber das ist nicht der Punkt. steht übrigens in dem Diskussionspapier der beiden Ich möchte ein Wort des Dankes für diesen Text und Kirchen —, das heißt vor allen Dingen auch Familien des Respekts an beide Kirchen sagen. Wir werden uns stärken. Das heißt ebenfalls — das steht auf Seite 29 an diesem Diskussionsprozeß intensiv beteiligen, weil des Papiers; Frau Matthäus-Maier, hören Sie gut zu—, wir für jede Anstrengung dankbar sind, in diesem daß das Steuersystem familiengerecht auszugestalten Lande einen Konsens darüber herbeizuführen, was ist. Das heißt: Ehepaare mit Kindern und Alleinste- notwendig ist, um die Zukunft zu gewinnen, soziale hende mit Kindern müssen steuerlich spürbar besser Probleme so gut wie möglich zu bewältigen, Wärme in gestellt werden als kinderlose Steuerzahler. Auch diesem Land zu erhalten und damit alle Menschen dieses werden wir in den kommenden vier Jahren — stark oder schwach, behindert oder nichtbehin- weiter verbessern. — Sie sehen, wir haben eine breite dert — eine möglichst gute Zukunftschance haben. Palette von Möglichkeiten. Aber das ist kein Gegensatz zu unserer Politik. Denn (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Unser Ziel!) ich finde z. B. in dieser Diskussionsgrundlage auf der Seite 50 in der Ziffer 123 den Satz: — Nein, Sie wollen ein einheitliches Kindergeld, und Sie wollen Kinder steuerlich nicht mehr berücksichti- Soziale Gerechtigkeit verlangt, daß niemand, gen. auch keine Gruppe, aus der Gesellschaft ausge- (Widerspruch bei der SPD) schlossen wird. Das heißt, daß diejenigen, die nicht in der Lage sind, eine eigene ausreichende Sie wollen, daß bei gleichem Bruttoeinkommen der Arbeitsleistung zur Wirtschaft beizusteuern, von Steuerpflichtige mit vier Kindern genausoviel Steuern der Gesellschaft so viel erhalten, daß sie men zahlt wie der Steuerpflichtige ohne Kinder. Das wol- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 67

Dr. Wolfgang Schäuble len wir nicht. Darüber sind wir unterschiedlicher Gesellschaft werden, die Teile der Bevölkerung aus- Meinung. grenzt, damit wir eine Gesellschaft bleiben, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Schwache schützt und die Geborgenheit und Wärme ordneten der F.D.P.) vermittelt. Ohne die Stärkung der Familie ist dies nicht zu erreichen. (Zuruf von der SPD: Wer grenzt denn aus? Sie Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — sind es doch!) Frau Matthäus-Maier. Verantwortung für die Zukunft, verehrte Kollegin- nen und Kollegen, heißt auch, daß wir uns den großen ökologischen Fragen stellen müssen. Die Schöpfung Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Schäuble, darf bewahren, die natürlichen Lebensgrundlagen für ich Sie fragen, ob Ihnen wirklich entgangen ist, daß wir in all den Jahren, in denen wir über das Kindergeld künftige Generationen erhalten, das erfordert einen gesprochen haben, und jetzt im Wahlkampf, als wir schonenden Umgang mit Natur, Umwelt und Ressour- cen. gefordert haben, daß es vom ersten Kind an 250 DM (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ für alle geben soll, immer hinzugefügt haben, daß DIE GRÜNEN]: Deswegen bauen wir so viele dieses Kindergeld sofort von der Lohn- und Einkom- neue Straßen! — Gegenruf von der CDU/ mensteuer abgezogen werden muß, daß z. B. dann CSU: Wo denn?) — hier im Bundestag habe ich x-mal dieses Beispiel genannt —, wenn bei Ford in Köln zwei Arbeitnehmer Schon Immanuel Kant hat davon gesprochen, daß es nebeneinander am Band stehen und der eine drei und letztlich eine Frage unserer eigenen Selbstachtung ist, der andere keine Kinder hat, derjenige mit den drei daß es eine Pflicht gegen uns selbst ist, wie wir als Kindern dreimal 250 DM gleich 750 DM weniger Geschöpfe Gottes mit der Geschöpflichkeit der Natur Lohnsteuer zahlen soll? Ist Ihnen das entgangen, oder umgehen. Wir, die Christlich-Demokratische und die ist es ein Zeichen von Unfairneß, daß Sie das heute Christlich-Soziale Union, sind überzeugt, daß auch wieder einmal überhört haben? bei der Bewahrung von Natur und Umwelt Eigeninte- (Beifall bei der SPD) resse und freiwillige Überzeugung der Menschen zu besseren Ergebnissen führen als Reglementierung, Bürokratie und Verbote. Deswegen setzen wir eben Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Mat- nicht auf immer mehr Verbote und Reglementierun- thäus-Maier, ich habe Ihre Wahlplakate gesehen, gen, sondern auf marktwirtschaftliche Anreize und habe sie mir angeguckt — manche waren so komisch, technologische Innovation. daß man zweimal hinschauen mußte —, und dabei habe ich gelesen: Einheitliches Kindergeld von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 250 DM. Jetzt ergänzen Sie das. ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Steht so im - Sie haben doch ein Gesetz nach dem anderen Regierungsprogramm!) gemacht!) — Ich glaube, die Plakate habe ich jetzt richtig — Herr Kollege Fischer, Sie sind ja in den Jahren seit wiedergegeben. der deutschen Einheit nicht hier gewesen. Wenn man (Zurufe von der SPD) die Ergebnisse von 40 Jahren real existierendem — Ja, gut. — Jetzt sagen Sie, das sei ja dasselbe, weil Sozialismus und 40 Jahren Sozialer Marktwirtschaft in Sie das mit der Lohnsteuer verrechnen wollen. den beiden Teilen des einst geteilten Deutschland (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Man zahlt wirtschaftlich, sozial und umweltpolitisch vergleicht, ist doch wohl bewiesen, daß freiwillige Initiative, dann weniger Steuern!) marktwirtschaftliche Anreize und das Setzen auf tech- — Ich habe es schon verstanden. Ich will ja antwor- nologische Innovation die besseren Ergebnisse für ten. — Ich glaube nicht, daß die Verrechnung von Mensch und Umwelt ermöglichen. Deswegen werden Kindergeld mit der Lohnsteuer dem Anliegen ausrei- wir diesen Weg weitergehen. chend gerecht wird, daß Familien mit Kindern weni- ger Steuern zahlen müssen als Familien ohne Kin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge der. ordneten der F.D.P.) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie zahlen Im übrigen sind auch dabei globale Lösungsansätze sehr viel weniger Steuern!) das beste. Es gehört auch zu der Bilanz dieser zwölf Das reicht mir in dieser Verrechnung nicht aus. Jahre, daß es der Bundeskanzler Helmut Kohl gewe- sen ist, der Umweltpolitik zum Bestandteil europäi- (Beifall bei der CDU/CSU) scher Politik, zur Politik der Europäischen Gemein- Aber gut, wir werden ja darüber weiter diskutieren. schaft wie auch zu einem wesentlichen Auftrag der Ich möchte jedenfalls den Satz hinzufügen: Wenn wir Bemühungen des Weltwirtschaftsgipfels seit 1985 die Familie stärken, fördern wir besser als auf jede gemacht hat. andere Weise auch die Solidarität zwischen den Generationen. Diese Solidarität zwischen Generatio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen, zwischen Jung und Alt, ist gerade angesichts Wir brauchen in der Umweltpolitik europäische einer Entwicklung im demographischen Aufbau unse- Harmonisierung; denn sonst werden unsere nationa- rer Bevölkerung, in dem der Anteil älterer Menschen len Alleingänge möglicherweise die Wettbewerbssi- immer größer wird, um so wichtiger, damit wir keine tuation des Standortes Deutschland weiter ver- 68 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble schlechtem. Damit dies nicht geschieht, damit den Bundeskanzler nicht durchzubekommen — in der Umwelt und Arbeitsplätze nicht gegeneinander aus- Tat war es ja denkbar knapp, und es lag nicht nur gespielt werden können, was der Umwelt nicht hilft daran, daß einer verschlafen hat —, für dieses Land und den Arbeitsplätzen auch nicht, brauchen wir „zukunftsfähig" sei! Diese Koalition der Angst ist stärkere Fortschritte in der Harmonisierung der euro- nicht in der Lage, inhaltliche Festlegungen klipp und päischen Umweltpolitik. klar zu treffen. Darüber möchte ich heute sprechen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gleich am Anfang möchte ich dem Kollegen Schar- Kolleginnen und Kollegen, es wird zu Recht viel über ping widersprechen. die grundlegenden Werte für unsere Gemeinschaft nachgedacht und diskutiert. Diese Debatte ist nötig, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) weil ohne einen Bestand an gemeinsamen Werten — Ob Sie jetzt gleich noch weiterklatschen, weiß ich jede Freiheitsordnung verkommt. Wenn zu diesen nicht. Ich hoffe, Sie klatschen gleich. Hören Sie den Werten freiwillige Solidarität, Verantwortung für die Satz erst einmal ganz an! Zukunft, auch Bescheidenheit, auch, wo nötig, Bereit- schaft zum Verzicht gehören, dann wächst aus solchen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Grundwerten auch die Chance für mehr globale SES 90/DIE GRÜNEN) Verantwortung, ökologische Verantwortung und Ver- Herr Scharping, ich bin im Gegensatz zu Ihnen der antwortung für die Zukunft. Wir besitzen auch in den Meinung, daß es für die Opposition in der Tat darauf großen Überlebensfragen der Menschen die Befähi- ankommt und daß es die Pflicht der Opposition ist, gung zur Freiheit. alles zu tun, was mit demokratischen Mitteln möglich Wir wissen nicht alles, und wir wissen auch nicht ist, damit diese Regierung so schnell wie möglich alles besser. Deshalb sind wir zum Gespräch mit allen abgelöst werden kann. Denn ich bin der Meinung, und zum Ringen um die bessere Lösung bereit. An der meine Damen und Herren — jetzt dürfen Sie Mat- Schwelle zum nächsten Jahrhundert geht es um schen —, unsere Zukunft, und das, verehrte Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegen, ist unser aller Auftrag. Die Fraktion von sowie des Abg. [PDS]) CDU und CSU ist dazu bereit. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und daß diese Regierung nicht mehr die Kraft zur der F.D.P.) Zukunftsgestaltung haben wird und daß wir deswe- gen wertvolle Jahre verlieren werden, die wir für die Erneuerung dieses Landes dringend brauchen. Das Wort hat jetzt Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der Kollege Fischer. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Heym [PDS]) ( [F.D.P.]: Muß das sein?) - Der entscheidende Punkt ist doch völlig klar. Sie von der CDU und von der CSU müssen sich gar nicht Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE so sehr angesprochen fühlen. Ihr großes Problem ist GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- doch, daß die Freien Demokraten von einem politi- ren! Wir debattieren heute die Regierungserklärung schen Schlaganfall in den letzten Jahren getroffen der Regierung Kohl, die auf der Grundlage einer wurden, von dem sie sich nicht mehr zu erholen Koalitionsvereinbarung, geschlossen von CDU/CSU drohen. und F.D.P., eine gemeinsame Regierung gebildet hat. (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Mal Es ist diesmal eine merkwürdige Regierungsbildung sehen! Warten Sie es ab!) gewesen, Herr Bundeskanzler; denn Sie haben ja alles versucht — — Ihr großes Problem ist doch, daß die sogenannte Koalition der Mitte schlicht und einfach daran schei- (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Es ging tert, daß die F.D.P. nicht mehr in der Lage ist, ihre schnell!) historische Funktion als Vertretung des politischen — Ja, es ging sogar sehr schnell. Ich kann Ihnen auch Liberalismus in diesem Lande wahrzunehmen, weil sagen, warum es so schnell ging: Es ging diesmal so sie diese Position schon längst geräumt hat. schnell, weil Sie in der Tat nicht mehr die Kraft hatten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine einzige konkrete politische Festlegung außer sowie bei Abgeordenten der SPD und der der, daß Sie gemeinsam eine Koalition bilden wollten, PDS) zu machen. Wenn man nämlich diese Regierungsbil- dung und die Koalitionsvereinbarung gemeinsam Das ist doch Ihr Problem, nicht wahr? betrachtet, stellt man fest, Herr Solms: Diese Regie- Wir Bündnisgrüne hören die neuen Freundlichkei- rung mußte diesmal offensichtlich im Sack gekauft ten vom Kollegen Schäuble gern. Wir sind immer für werden; denn Sie hatten alles zu vermeiden, was Freundlichkeit. Ich finde es aber merkwürdig, daß in angesichts Ihrer knappen Mehrheit vor der geheimen diesem Land sozusagen immer noch die Ausnahme als Wahl des Bundeskanzlers diese schmale Mehrheit Normalität begriffen wird und die Normalität als noch weiter hätte gefährden können. Und dann erzäh- Ausnahme erwähnenswert ist. Ich finde, daß dort, wo len Sie dem deutschen Volk via Deutscher Bundestag, schwerwiegende Grundrechtseingriffe vom Gesetz- daß ausgerechnet eine Koalition, die mit klappernden geber beschlossen wurden — der Eingriff in das Zähnen aus der Angst heraus, Telefon- und Fernmeldegeheimnis ist schwerwie- (Lachen bei der CDU/CSU) gend —, alle Fraktionen im Deutschen Bundestag die Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 69

Joseph Fischer (Frankfurt) Kontrolle der Exekutive vornehmen müssen und daß dann muß man sich die Frage stellen: Wer hat denn dies nicht ein Liebesdienst, Dankbarkeitsgeschenk dieses Land zwölf Jahre regiert? Man ist immer wieder oder ähnliches sein kann. Es muß eine Selbstverständ- baff. Da wird die Ausweitung der Mafia beschworen. lichkeit sein, daß alle Fraktionen in diesem Hause Wer hat denn dieses Land zwölf Jahre regiert? Da wird daran beteiligt werden. Das gilt auch für andere in tränenreicher Erklärung der traurige Zustand der Dinge. Lage der Familie in Deutschland erklärt. Welche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN christliche Regierung hat denn zwölf Jahre dafür die sowie bei Abgeordneten der SPD) Verantwortung zu tragen? Das große Problem ist doch, daß die Position des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) politischen Liberalismus in einem Ausmaß zu verwai- Da wird von Ihnen ein Übermaß an Bürokratie, gerade sen droht, daß die F.D.P. in der Tat unter die fünf auch gegenüber den Umweltschützern und den Prozent gerutscht ist und rutschen wird. Umweltverbänden, angeführt, als wenn dies das ent- (Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Problem!) scheidende Standorthemmnis wäre. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Wer hat denn noch im letzten — Nein, das ist überhaupt nicht mein Problem, denn halben Jahr der Legislaturperiode ein bürokratisches um die F.D.P. tut es mir überhaupt nicht leid, obwohl Monstrum wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz durch- ich der Meinung bin, daß wir eine starke liberale gebracht, weil Sie den Mut nicht hatten, endlich Position in diesem Lande brauchen. Aber eine Partei, ökonomische Steuerungsinstrumente in Form von die sich nur noch als Interessenvertretung von irgend- Ökosteuern und -abgaben durchzusetzen? Das ist welchen Maklern oder ähnlichem versteht, hat mit doch der entscheidende Punkt. politischem Liberalismus nichts mehr zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD und der Sie reden von Deregulierung, aber Sie haben den PDS) Mut nicht, im Umweltbereich daraus die Konsequen- In der Koalitionsvereinbarung stellt man fest, daß zen zu ziehen, indem Sie einfach nur sagen: Wir Sie das geworden sind, was in der „FAZ" ein Ihnen wollen den Nachtwächterstaat. Ich kann Ihnen für wohlmeinender Jou rnalist im Wirtschaftsteil so meine Fraktion anbieten: Wir können auf vieles an bezeichnet hat, daß Sie nichts anderes sind als die Regelwerk verzichten — das ist doch kein Selbst- „Abteilung Liberalismus von Helmut Kohl". Dazu zweck —, wenn wirtschaftliches Verhalten umwelt- sind Sie geworden. Das ist das Problem dieser Regie- verträglich über ökonomische Anreize gesteuert rung. Daran wird Ihre Mehrheitsfähigkeit letztendlich wird. scheitern. Das wissen Sie auch. Deswegen ist es grotesk, daß Sie die zentrale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerreform, nämlich die Umweltsteuerreform, den sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) entscheidenden Hebel zum Umbau unserer Industrie- - gesellschaft zu einer umweltverträglichen Industrie- Sie haben Anspruch darauf — wir, BÜNDNIS 90/ gesellschaft des 21. Jahrhunderts, nicht angehen oder, DIE GRÜNEN, wollen unsere Opposition so gestal- wie der Finanzminister, nicht begreifen, auch lapidar ten —, daß es nicht zu einem Generalverriß durch die nur erklären: Das funktioniert alles nicht. Opposition kommt, Herr Schäuble. Ich kenne das von der hessischen Politik. Wenn da jemand von der CDU Meine Damen und Herren, wenn es nicht gelingt, ans Podium schritt, z. B. der verehrte Kollege Kanther jetzt entscheidende Strukturreformen im Umweltbe- oder sein Nachfolger, dann war alles Mist, was Rot reich, im Industriebereich vorzunehmen, wenn wir Grün gemacht hat. Eine solche Opposition der Däm- jetzt nicht die umweltverträgliche Industriegesell- lichkeit dürfen Sie von uns nicht erwarten. schaft des 21. Jahrhunderts in der Energiepolitik, mit einer Wende in der Verkehrspolitik, mit einer Öko- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steuerreform schaffen, dann, prophezeie ich Ihnen, sowie bei Abgeordneten der SPD) werden wir die Schlacht um das Schaffen neuer Wir gehen davon aus, daß eine Regierung selbstver- Arbeitsplätze und den Kampf gegen die Massenar- ständlich auch viel Richtiges tut, daß nicht alles, was beitslosigkeit verlieren, ja verlieren müssen. CDU/CSU und F.D.P. an Überzeugungen vertreten, grundfalsch ist, daß aber die Unterschiede herausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) arbeitet werden müssen. Und dort, wo es erhebliche Denn nur in dem Bereich, meine Damen und Herren, Unterschiede, ja, wo es Gegensätzlichkeiten gibt, liegen in der Tat diejenigen qualitativen Potentiale, respektive dort, wo die Koalition und diese Regierung die wir brauchen, um neue Arbeitsplätze schaffen zu nicht mehr in der Lage sind, die Zukunft dieses Landes können. so, wie wir sie uns vorstellen, zu organisieren und die notwendigen Probleme anzupacken, werden wir Da ist das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr energisch widersprechen und alles tun, damit diese Bundeskanzler, ein Dokument der Mutlosigkeit. Sie Regierung möglichst schnell zu einem Endpunkt wollen ein Fünfliterauto. Ich hätte auch gerne kommt. geklatscht, nur, ich hätte es gerne konkret. Denn wenn Sie in der Tat das Fünfliterauto zum Ziel haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn Sie sagen: okay, wir wollen das in acht Jahren Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, durchsetzen, dann sage ich Ihnen: Machen Sie es nicht wenn man Ihre Regierungserklärung gehört hat bürokratisch, machen sie es nicht mit Hypnose der — Herr Kollege Scharping hat darauf hingewiesen , Automobilindustriellen, sondern greifen Sie zu dem 70 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Joseph Fischer (Frankfurt) Instrument der kontinuierlichen Erhöhung der Mine- einfordern. Da nützt auch die Flucht in Zukunftsmini- ralölsteuer! sterien oder ähnliches nichts, denn das wird nichts bringen. Denn die Konsequenz wird sein, meine Damen und Herren, daß Verbraucher und Industrie sofort reagie- Herr Kollege Schäuble, wir haben seit 1989 — da ren werden. Diese Mittel werfen wir dann nicht weiter sind sich ja alle Redner bisher einig gewesen — einen in Waigels Rachen, sondern die werden zweckgebun- dramatischen Umbruch in dieser Welt. Ich nehme an, den, und wir geben sie an die Kommunen für den daß diejenigen Wissenschaftler, die meinen, daß ein Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs zu- Wandel vor den industriellen Gesellschaften — auch rück. Dann hätte das Ganze eine sinnvolle politische des Westens — liegt, davon ausgehen, daß dies ein Initiative gegeben, bei der unsere Fraktion gerne ähnlich tiefer sein wird wie der Übergang von der geklatscht hätte, auch wenn wir dann wieder in Agrarwirtschaft zur Industriewirtschaft. schwarz-grünen Verdacht gekommen wären. Aber solche Verdächte würden wir dann in Kauf nehmen, Wenn Sie gleichzeitig sehen, daß seit 1989 schock- denn dann würden wir eine Strukturreform anstoßen, artig eine völlig neue Wirtschaftgeographie global die in der Tat die Verkehrspolitik ökologisieren und entstanden ist — und damit natürlich auch völlig neue die gleichzeitig den Menschen über verbesserte Ver- Warenströme sowie völlig neue Konkurrenzbedin- kehrsdienstleistungen im öffentlichen Verkehr die gungen —, dann wird sich doch nicht die Frage stellen, erhöhte Belastung zurückgeben würde. Diese erhöhte ob wir uns den Produktionsbedingungen in Vietnam, Belastung wäre ja keine auf Dauer, weil ich sicher bin, in Schanghai oder wo auch immer angleichen können, das Fünf- bis Dreiliterauto wird dann sehr schnell sondern es stellt sich dann die Frage, ob wir den Mut Realität werden. und die Kraft haben, international und national den nächsten Schritt zu tun, nämlich in der Wahrnehmung An diesem Beispiel kann man klarmachen, meine unserer ökologischen Verantwortung die Industrie- Damen und Herren, daß diese Bundesregierung unter gesellschaft von morgen als eine umweltverträgliche dem Gesichtspunkt Zukunftsfähigkeit ein bißchen zu schaffen. Das ist für mich die entscheidende Her- was angedacht hat, aber daß sie sich nicht wirklich ausforderung. Dort — ich habe es vorhin schon traut. gesagt — wird auch die Arbeitsplatzfrage entschie- Ich komme noch einmal, Herr Schäuble, auf die den. Und da, Herr Bundeskanzler, sehe ich ein Pro- Deregulierung zurück. Es spricht ja manches dafür. blem, von dem ich mir — ich möchte es ansprechen, Als Umweltpraktiker bin ich doch der letzte, der darin ohne daß ich eine Lösung dafür anbieten kann — — sozusagen eine besondere Befriedigung findet, wenn Beamte, mehr oder weniger gut bezahlt, sich in (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es Legionsgröße durch irgendwelche Aktenordner- ist ja bei Ihnen immer so, daß Sie keine bände hindurcharbeiten müssen, mit Entscheidungen Lösungen haben!) nicht vorankommen und ähnliches. In der Umwelt- — Ach, Herr Weng, das ist jetzt wirklich ein Zwischen- politik nennt man das Vollzugsdefizit. ruf — der ist so etwas von intelligent gewesen. Aber wenn Sie das ernst meinen und wenn Sie nicht (Ina Albowitz [F.D.P.]: So wie Ihre Rede bis den Nachtwächterstaat herbeiführen wollen, der jetzt!) dann bei der nächsten Umweltkatastrophe wieder das Gegenteil von Ihrer Deregulierung machen muß, — Ich versuche jetzt wirklich einmal einen Punkt dann müssen Sie verdammt noch mal doch endlich anzusprechen, der vermutlich Ihnen genauso wie der alles tun, damit umweltgerechtes Verhalten betriebs- Bundesregierung und der Opposition auf den Nägeln wirtschaftlich zum Tragen kommt. Und das werden brennt, nämlich daß wir seit 1989 in einen Prozeß der Sie nur über die Preise erreichen können. Globalisierung hineingeraten sind. Es kommt damit Nun haben Sie die Alternative, Herr Kollege zunehmend zu einem Kompetenzverlust der Entschei- Schäuble: Warten Sie, bis der Markt wirkt, à la F.D.P., dungsebenen: von der nationalstaatlichen Ebene weg dann, sage ich Ihnen, werden die sozialen Kosten hin zu multinationalen Unternehmen, zu globalen enorm sein, die wir bis zum Eintritt einer Umweltkrise Finanzmärkten und ähnlichem. und der entsprechenden Marktreaktion über die Die große Frage, die sich da stellt, ist: Was kann man Preise zu tragen haben. Nimmt dagegen der Staat tun, was muß man tun? Ich glaube nicht, daß dieser seine Verantwortung zum Handeln wahr und setzt Prozeß aufhaltbar ist, weil es sich um einen säkularen, darauf, nicht umfängliche Gesetzeswerke zu verab- um einen historischen Prozeß handelt. Aber mehr und schieden, sondern endlich den Mut zu haben, unser mehr wird es dazu kommen, daß nationalstaatliche Steuersystem so umzubauen, daß wir nicht zu einer Parlamente und Regierungen zwar Adressaten von weiteren höheren Belastung von Arbeit und damit zu berechtigten Wünschen und Kritiken von Menschen einem Herausnehmen von Arbeitnehmerinnen und werden, aber im Grunde genommen die falschen Arbeitnehmern aus dem Produktionsprozeß kommen, Adressaten sind. Gerade in der Wirtschaftspolitik ist sondern daß wir endlich Umweltverbrauch, Umwelt- das doch ein ganz entscheidender Punkt. zerstörung und Umweltbelastung steuerlich höher belasten, dann, bin ich mir sicher, könnten wir uns Wenn man das so sieht, meine Damen und Herren, manches an gesetzlichem Regelwerk schenken. daß dieser Prozeß der Globalisierung unaufhaltsam ist, dann wird doch die entscheidende Frage sein: Wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können wir den Legitimationsverlust nationalstaatlich/ Das ist eine Aufgabe, die vor dieser Bundesregierung demokratisch legitimierten Handelns in der Politik liegt. Sie zu bewältigen, werden wir immer wieder auffangen? Diese Frage stellt sich für mich jenseits Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 71

Joseph Fischer (Frankfurt) der persönlichen Tragödien, die Massenarbeitslosig- und Landräte-Baudenkmäler handelt, die unbedingt keit immer bedeutet. noch in die Landschaft „gepflastert" werden sollten. Anders als das große Amerika glaube ich nicht, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir in Kontinentaleuropa mit unseren nationalen Ich möchte Ihnen, Herr Bundeskanzler, an diesem Widersprüchen und Traditionen, die sich hin zu Natio- Punkt, an dem es um den ökologischen Umbau geht, nalismus, zu einem aggressiven, kriegerischen Natio- konstruktive Zusammenarbeit dann anbieten, wenn nalismus und Rassismus entwickeln können, daß wir es energisch in die richtige Richtung geht. Aber diese inneren Widersprüche der amerikanischen genauso kündige ich Ihnen eine in der Sache nicht Gesellschaft aushalten können und aushalten wer- nachstehende Opposition an, wenn Sie nicht in diese den, ohne daß es zu einem Anknüpfen an jene fatale Richtung gehen. Und das, was Sie heute vorgetragen europäische und auch deutschen Tradition des Natio- und was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrie- nalismus kommen wird. ben haben, zeigt: Diese Regierung hat nicht mehr die Wenn man das so sieht, meine Damen und Herren, Kraft zum ökologischen Umbau, der zentralen Her- dann muß ich aber der Bundesregierung vorhalten: ausforderung, vor der wir heute stehen. Sie springen angesichts dessen, was an Herausforde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rungen in diesem Lande jetzt vor uns liegt, viel zu kurz. Es wird nichts nützen, daß wir nur ein bißchen Meine Damen und Herren, Sie haben heute auch deregulieren, sondern dann müssen wir neue Struktu- sehr viel über Solidarität gesagt. Wenn man das ren schaffen. einfach so hören würde, ohne das Drumherum zu kennen, könnte man manchem abstrakten Satz sogar Die Frage der Atomenergie — ja oder nein — ist zustimmen. Doch gerade Sie als christliche Demokra- doch durch die weltwirtschaftliche Entwicklung schon ten müßte es sehr nachdenklich stimmen, daß in den längst entschieden. Die Perspektive wird weder in der letzten zwölf Jahren in diesem Land die Armut zuge- Kohle, bei den fossilen Energieträgern noch in der nommen hat. Viele Leute sind reich geworden, sind Atomenergie liegen. Wenn wir als eines der führen- wohlhabend geworden, wir haben eine breite Mittel- den Industrieländer den Durchbruch zur Energiespar- schicht. Aber wir haben gerade in den großen Städten, wirtschaft nicht anpacken und schaffen, wenn wir als Herr Schäuble, das Problem, daß zunehmend Men- eines der führenden Industrieländer den Durchbruch schen an den sozialen Rand und darüber gedrückt zu den erneuerbaren Energieträgern im nächsten werden — und das in Größenordnungen, die gerade Jahrtausend nicht schaffen, meine Damen und Her- Sie als christliche Demokraten alarmieren müßten. ren, dann werden wir mit den heute bekannten Energieerzeugungstechnologien der selbstgestellten Es geht nicht um eine neue Klassenkampfposition. globalen Energie- und Umweltfalle nicht entkommen Aber was Sie in schönem, altkonservativem Deutsch können, und wir werden es gleichzeitig mit massivem einklagen — Verzicht, Solidarität —, das muß man Arbeitsplatzverlust zu bezahlen haben. doch gerade gegenüber denen einklagen, die in diesem Land stärkere Schultern haben und demnach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch mehr tragen können. Das ist doch der entschei- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dende Punkt. Es wird auf eine Spaltung dieser Gesell- PDS) schaft hinauslaufen — das wird nicht eine Zweidrittel- gesellschaft, sondern perspektivisch eine Halb-Halb- In der Verkehrspolitik geht es mir doch nicht um Gesellschaft werden —: in Besitzstandswahrer mit Automobilfeindlichkeit, um Technikfeindlichkeit. guten Einkommen, die weniger Steuern bezahlen Das ist doch nicht die Frage. Unsere Opposition gegen wollen, als sie bezahlen müßten, die eine gute Ausbil- den Transrapid begründet sich darin, daß wir nicht dung haben und hochkreativ sind, und diejenigen, die glauben, daß diese Milliardenbeträge jemals rentier- über den Rand gedrückt werden und teilweise sogar lich sein werden. Wir hätten diese Milliardenbeträge hinunterfallen. Eine solche Gesellschaft halten Sie lieber in den Ausbau der heute vorhandenen Rad- auch mit mehr Polizei nicht mehr zusammen, Herr Schiene-Systeme und in ihre Erneuerung investiert. Schäuble. Das ist unser entscheidender Kritikpunkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der SPD und der PDS) Wenn wir einer Meinung sind, daß wir Schienevor- Wenn man Solidarität neu definieren will, dann rangpolitik betreiben wollen, Herr Bundeskanzler, gehört Mut dazu. Sie werden es hier bei BÜNDNIS 90/ dann haben Sie doch den Mut, den jetzigen Bundes- DIE GRÜNEN mit einer Opposition zu tun haben, die, verkehrswegeplan zurückzuziehen! wenn Sie Besserverdienenden diese Wahrheit zumu- ten werden, daraus keinen populistischen Gewinn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schlagen wird, weil wir es für nötig halten, daß Solidarität neu definiert wird. Man kann ja darüber reden und streiten, welche Verkehrswege „Straße" wir im Ost-West-Bereich Natürlich ist es nach wie vor so, daß wir eines der brauchen. Aber ich kann Ihnen für Hessen — und ich reichsten Länder sind, in dem der Kindergartenplatz nehme an, daß Herr Kollege Scharping das für Rhein- für jedes Kind eben nicht selbstverständlich ist. Als land-Pfalz ebenfalls kann — aus dem Stand zehn ehemaliger Landespolitiker weiß ich: Wenn wir vom Projekte nennen, bei denen es sich um Planungen der Kindergartenplatz für jedes Kind reden, dann reden 60er und 70er Jahre im Nord-Süd-Zusammenhang wir im Grunde von einem Alter von vier bis sechs oder um die berühmt-berüchtigten Bürgermeister- Jahren. Wir wissen aber, wie wichtig es unter dem 72 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Joseph Fischer (Frankfurt) Gesichtspunkt des Zusammenhalts der Familien ist, sie bei uns eingeführt wurde, überhaupt nicht einver- die Vereinbarkeit von Familie und Beruf so zu orga- standen waren. nisieren, daß sie funktioniert. Warum haben wir nicht (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ die Kraft, hier aus diesem Bundestag heraus klarzu- NEN) machen, daß es einer großen Anstrengung bedarf, die in hohem Maße eine Zukunftsinvestition ist? Und es ist Ich kann Ihnen nur sagen: Anders geht es nicht. sinnvoll, diejenigen, die mehr belastet werden kön- Rückblickend muß man das feststellen. Diese Erfah- nen, dafür auch mehr zu belasten, meine Damen und rung haben auch Sie gemacht, meine Damen und Herren. Warum haben wir diese Kraft nicht? Herren. Nehmen Sie das nicht als Hohn, sondern sehen Sie den echten Fortschritt. Nur: Der entschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dende Punkt wird sein, den nächsten Schritt zu sowie bei Abgeordneten der SPD — Zuruf machen. Wir sind uns einig — wenn Sie so wollen, ist des Abg. Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]) das ein selbstkritisches Eingeständnis eines alten 68ers —, ob Familie oder Lebensgemeinschaft — das — Nein, das tut ihr nicht. Wenn ihr das tätet, fände ich sehen wir nicht so ideologisch verengt wie Sie —: das sehr gut. Das Gegenteil ist der Fall. Kinder müssen in einem festen emotionalen, elternbe- zogenen Zusammenhang aufwachsen. Ich sage Ihnen noch etwas zu den Mieten. Herr Bundeskanzler, Sie sollten einmal in Frankfu rt frei- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was heißt tags ab 12 Uhr vor dem Haus der „Frankfurter „elternbezogen"?) Rundschau" sein. Da sehen Sie jeden Freitag eine „Elternbezogen" heißt, daß sie mit den Eltern zusam- „realsozialistische" Schlange von Menschen stehen, men aufwachsen. Daß das heute nicht mehr in lebens- die verzweifelt preiswerten Wohnraum im Ballungs- langen Ehen allein geschieht, wissen Sie aus eigener gebiet suchen. Sie sollten einmal in die Noteinwei- Erfahrung in den Reihen Ihrer Fraktion. sungsquartiere der großen Städte gehen. Dort sehen Sie Menschen, die überhaupt nicht Ihrem gängigen (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Klischee entsprechen, sie bezögen Sozialhilfe und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wollten nicht arbeiten, sondern die auf Grund von SPD und der PDS) individuellen Schicksalen — Mieterhöhungen, Ar- Das finde ich auch völlig okay. Ich finde auch die beitsplatzverlust und ähnlichem — in die Noteinwei- Erklärung der katholischen Bischöfe völlig okay, daß sung hineingedrängt wurden. Meine Damen und Sie nicht mehr von den heiligen Sakramenten ausge- Herren, wenn wir es mit dem Kampf gegen die schlossen werden, wenn Sie sich wieder verheiraten. Wohnungsnot ernst meinen, ist das erste, was zu tun Der Papst sieht das noch etwas anders. Aber diesen ist, die Zweckentfremdung von Wohnraum in den Streit brauchen wir heute nicht unter uns zu führen. Ballungsgebieten zu unterbinden. Wir können gar Ich glaube, der ganze Bundestag ist in dieser Frage nicht so viel neu bauen, wie wir dadurch verlieren. fortschrittlicher als Kardinal Ratzinger und die Kurie. - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Das sollte man an anderer Stelle austragen. bei der SPD und der PDS) Für mich ist der entscheidende Punkt: Wir müssen den nächsten Schritt tun. Wir müssen die Bedingun- Das zweite: Sie müssen endlich Mietpreise möglich gen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für machen, die bezahlbar sind. Das ist der entscheidende Mann und Frau bei Arbeitsplätzen, bei Schulen, Punkt. Wenn Sie bezahlen können, bekommen Sie Vorschulen, Kindergärten, im Versicherungsrecht, heute sofort jede Wohnung. Aber diese Zahlungsfä- kurz: überall, schaffen. higkeit haben die wenigsten Menschen in diesem Lande, und das ist die eigentliche Tragödie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, die Union hat die Nur dann wird Frauengleichstellung wirklich kon- Frauengleichstellung entdeckt. Das finde ich hervor- kret. ragend. Lassen Sie mich zum Schluß noch einiges zur (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Außenpolitik sagen. Herr Kollege Geißler hat ein Zitat NEN) von mir gebracht. Das freut mich. Er hat nur nicht vollständig zitiert. Das meine ich überhaupt nicht zynisch. Es zeigt: Sie begreifen, daß das traditionelle Geschlechterver- (Zuruf von der F.D.P.: Man soll es nicht ständnis in unserer Gesellschaft nicht mehr durchsetz- übertreiben!) bar ist. Der Wertewandel von 1968, Herr Kollege — Man soll es nicht übertreiben, aber man sollte Schäuble, ist sozusagen unumkehrbar, so leid es mir immer das Richtige zitieren, und man sollte vollstän- tut. dig zitieren. Denn unvollständige Zitate sind irrefüh- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ rend. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Das ganze Buch kann er nicht vorlesen!) Das haben Sie jetzt begriffen, und das finde ich sehr — Das kann ich Ihnen nur empfehlen. Aber bitte. gut. Ich wünsche Ihnen bei der Durchsetzung der Quote viel Erfolg. Das meine ich nicht zynisch. Denn (Heiterkeit im ganzen Hause — Ina Albowitz ich selbst gehöre zu denen, die im Jahre 1982/83, als [F.D.P.]: Was kostet das Buch denn?) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 73

Joseph Fischer (Frankfurt) Der entscheidende Punkt, auf den ich zu sprechen sein. Darauf bezog sich mein Zwischenruf, Herr Kol- kommen möchte, ist: Wird die Berliner Republik, wie lege Schäuble. Wissen Sie, was in der Koalitionsver- sie von einigen bereits genannt wird, einen anderen einbarung steht? Darin steht — insofern guter Rechts- Weg gehen als die Bonner Republik? Sie sagten: Nein. anwalt, der Sie sind, ist Ihre Kritik am Kollegen Sie setzen auf Kontinuität. Das wollen wir untersu- Scharping formal korrekt, aber nur formal — auf chen. Wir wollen nicht sagen: Kohl ist der neue Seite 35: Nationalist. Vielmehr wollen wir untersuchen, ob Das bereits verabschiedete nationale CO2-Kon- stimmt, was er sagt. Das ist eine Form von Opposition, zept zur Reduzierung von Kohlendioxid wird die ich intelligent finde, statt, wie ihr das immer macht, umgesetzt und fortentwickelt. zu sagen: Die sind des Teufels. Die entscheidende Frage ist, ob die Kontinuität in dem, was Sie tun, So! Nun wissen Sie so gut wie ich, Herr Schäuble tatsächlich angelegt ist. Ich sehe die große Gefahr, daß — und Sie lachen; jetzt lassen Sie uns mal schwäbisch es nicht zur europäischen Einigung kommt, und zwar schwätze —: Das ist natürlich eine Schlitzohrformulie- aus einem bestimmten Grund, den ich Ihnen nennen rung; denn in diesem nationalen CO2-Konzept steht will: weil der entscheidende qualitative Schritt, die nichts Konkretes drin. Das wissen Sie so gut wie ich. Souveränitäts- und Demokratiefrage, bisher ausge- Da ist nicht eine konkrete Festlegung drin, meine spart wurde. Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Setzen darauf, Herr Bundeskanzler, wie es auch Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die neue Umwelt- einige Kommentatoren, wie es auch kluge Analytiker ministerin und auch Sie, Herr Bundeskanzler, Sie tun, daß sich die EG auf Grund der Notwendigkeiten waren ja in Rio; Sie werden gefragt sein. Wenn die immer aus dem nächsten praktischen Schritt heraus Bundesrepublik Deutschland sich international bei entwickelt habe, reicht nicht aus. Das haben die ihren CO2-Reduktionsverpflichtungen weiter so hän- Volksbefragungen klargemacht, und das wird der genläßt, bedeutet das im Klartext, daß sich alle ande- französische Präsidentschaftswahlkampf jetzt wieder ren wichtigen Industrienationen ebenfalls werden klarmachen. Sie müssen doch jeden Abend Rosen- hängenlassen. kränze beten, damit Ihr Parteifreund, der mit einer antieuropäischen Plattform in Frankreich in die Wahl Deswegen wird es auch unter dem Gesichtspunkt geht, nicht französischer Präsident wird! der globalen Entwicklung und der Entwicklung der Arbeitsplätze von zentraler Bedeutung sein, daß die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundesrepublik Deutschland vorangeht, und zwar mit Der entscheidende Punkt ist: Wenn die Völker nicht konkreten Zahlen. Sie müssen endlich durchsetzen, eingebunden werden, wenn es nicht zu einer wirkli- daß nicht mehr kleinkarierte, rückwärtsgewandte chen Demokratisierung von EG-Europa kommt, Wirtschaftsinteressen, wie sie der Wirtschaftsminister (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Kommt es gegenüber dem Bundesumweltminister vorgebracht doch!) hat, die Oberhand gewinnen, sondern daß die Bun- desregierung mit einem konkreten, an Daten und dann werden Sie feststellen, daß es nicht weitergehen, Zahlen festgemachten Konzept nach Berlin geht, daß sondern rückwärtsgehen wird, meine Damen und wir mit unserer globalen Verantwortung endlich Ernst Herren. machen und uns davor nicht mehr drücken. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir Meine Damen und Herren, das sind für mich die sehen doch gegenwärtig das Drama in Bosnien. Wir wichtigen Herausforderungen. Diese Herausforde- erleben das grauenhafte Morden in Bihac. Herr Schar- rungen stellen sich in Ost- und Westdeutschland ping hat vorhin angefügt: Europa besteht nicht nur aus gleichermaßen. Ich halte überhaupt nichts davon zu Westeuropa, sondern auch aus Osteuropa, aus Paris, meinen, im Osten müsse man jetzt die 60er, 70er und Prag, Berlin und Budapest; auch aus Sarajevo, muß 80er Jahre nachholen; irgendwann werde man mit man hinzufügen. einer beschleunigten Aufholjagd dann schon den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Standard des Westteils unseres Landes erreichen. Das sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) würde ein bitteres Erwachen geben. Der Aufbau Ost Wir sollten alles tun, damit dieser grauenhafte Krieg kann nicht Nachbau West werden, endlich zu einem Ende kommt. Sie haben hier für eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Politik, die das Morden beendet, die Menschen schützt und ihnen Hilfe gibt, die Unterstützung des sondern die neuen Länder müssen mit ihren Struktur- ganzen Hauses. Aber, Herr Bundeskanzler, wir wür- entscheidungen der modernere Teil dieses Deutsch- den uns auch wünschen, daß Ihr Innenminister dann lands werden, d. h. auch der umweltverträglichere. aufhört, Menschen in die Kriegsgebiete abzuschie- Deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein, ben, daß z. B. Deserteure nicht mehr abgeschoben klarzumachen, daß der Kampf um die Arbeitsplätze, werden. Dann wäre der Konsens noch wesentlich eine ökologische Strukturreform im Energie- und im größer. Verkehrsbereich, eine Steuerreform auch und gerade für Ostdeutschland von zentraler Bedeutung sind, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wenn es nicht nur bei Versprechungen in bezug auf bei der SPD und der PDS) die Arbeitsplätze, mehr Arbeit, mehr Investitionen Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt bleiben soll, bei denen letztendlich nichts oder nur eingehen. Ganz entscheidend wird das Verhalten der sehr wenig herauskommen wird. Das sind die zentra- Bundesrepublik auf dem Berliner Gipfel zu bewerten len Herausforderungen, vor denen dieses Land steht 74 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Joseph Fischer (Frankfurt) — innenpolitisch, außenpolitisch, wirtschaftspolitisch erteilt und sich für eine erfolgreiche Zukunft entschie- und umweltpolitisch. den. Ich traue Ihrer Regierung die Kraft, diese Struktur- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — reformen anzupacken, nicht mehr zu, Herr Bundes- Detlev von Larcher [SPD]: So klar, Herr kanzler. Das zeigt auch Ihre Regierungserklärung. Kinkel, war das nicht!) Statt dessen wird Deutschland mit Ihrer Regierung weitere Jahre verlieren. Sie werden in diesen ent- Die Bürger wissen sehr wohl, daß das Schicksal scheidenden Strukturreformen zu kurz springen, und dieses Landes bei dieser Regierung und bei dieser deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein, daß Koalition in guten Händen ist. diese Koalition das Ende der Legislaturperiode nicht erreicht. Detlev von Larcher [SPD]: Oh Gott, oh Gott!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Als deutscher Außenminister füge ich noch hinzu: Das Ausland weiß das erst recht.

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat jetzt (Zuruf des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜND der Bundesminister des Auswärtigen, unser Kollege NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. Klaus Kinkel. — Warten wir es ab. Mit Ihnen werden wir uns auseinandersetzen. Passen Sie auf. Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Nun zu Ihnen, Herr Fischer. Schon zum zweiten Mal Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entgegen muß ich Ihnen sagen: Lautstärke ersetzt nicht Argu- dem, was Herr Fischer Ihnen hier gesagt hat — bei mente. Ich räume ein, daß sie vielleicht den Unterhal- dem ganz offensichtlich der Wunsch der Vater des tungswert erhöht. Aber ich frage Sie erneut, warum Gedankens ist und worauf ich nachher gern eingehen Sie hier immer so laut in den Saal brüllen. möchte —, ist die Koalition gemeinsam entschlossen, ihr Bündnis der Mitte fortzuführen. Wir Liberalen Daß Sie sich mit dem Liberalismus auseinanderset- werden unseren zuverlässigen Anteil dazu beitra- zen und sich um die Zukunft der F.D.P. sorgen, gen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne DIE GRÜNEN]: „Sorgen" ist übertrieben!) ten der CDU/CSU) das freut uns; das ehrt Sie auch. Aber — das muß ich Auch darin, Herr Fischer, widerspreche ich Ihnen: noch einmal wiederholen — bei Ihnen scheint der Entgegen dem, was Sie meinen und gerne hätten, hat Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Diesen diese Koalition — jedenfalls auf Bundesebene — die Wunsch werden wir Ihnen nicht erfüllen. Kraft, die Kompetenz und im Gegensatz zu Ihnen auch die Erfahrung für weitere vier gute Regierungs- - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne jahre. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Weil Sie sich mit Wahlergebnissen auseinanderge- Wir werden den Wählerauftrag ernst nehmen, der setzt haben, möchte ich Ihnen sagen: Sie sollten sich lautet: das wiedervereinigte Deutschland erneuern. mit sich selber beschäftigen. Ich sage Ihnen mit großer Gelassenheit und Ruhe: (Ina Albowitz [F.D.P.]: Vor allem in den SPD und Grüne werden sich für weitere vier Jahre auf neuen Ländern!) den harten Oppositionsbänken einrichten müssen. Das sagen wir Ihnen voraus. — Ja, vor allem in den neuen Ländern. — Wir hatten (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) und haben schweres Fahrwasser und haben auch unsere Sorgen. Sich aber so damit auseinanderzuset- Dabei haben Sie von der Opposition sich große zen, wie Sie das versucht haben, ist leicht schäbig. Mühe gegeben, das Ergebnis der Koalitionsverhand- Schauen Sie in Ihren eigenen Bericht und sorgen Sie lungen mieszureden. Dem sachlichen Gehalt sowie sich erst um Ihre eigene Partei! Dann können wir uns den ehrgeizigen Zielsetzungen und konkreten Vorha- hier gern wieder treffen. ben, die wir in der Koalitionsvereinbarung festgehal- ten haben, wird diese Kritik einfach nicht gerecht. (Beifall bei der SPD) Ich kann verstehen, daß die SPD und insbesondere Und seien Sie ganz sicher: Was Ihre Themen, Ihr Herr Scharping frustriert sind. Die ersten Auftritte im Programm, Ihre Visionen anbelangt, so werden wir Deutschen Bundestag und auch innerhalb der SPD uns damit befassen, und zwar sehr genau. waren ja alles andere als glänzend. Deshalb verstehe ich, daß Sie frustriert sind. (Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das sagen Sie, DIE GRÜNEN) Herr Kollege! — Weitere Zurufe von der — Ja, wir werden uns sehr genau damit befassen. — SPD) Joschka Fischer kommt plötzlich auf Samtpfoten — Nein, Herr Scharping, hören Sie genau zu! Deutsch- daher. Da gilt, was bei Arzneimitteln nachzulesen ist: land hat sich entgegen dem, was Sie gesagt haben, Zur Vermeidung von Risiken und Nebenwirkungen eben nicht auf den Wechsel gefreut. Im Gegenteil, lesen Sie das Programm der GRÜNEN und von Deutschland hat dem Wechsel eine klare Absage BÜNDNIS 90, dann wissen Sie, wohin die Reise gehen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 75

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel soll. — Das werden die Bürger tun, und das werden Haben Sie sich einmal den Dreck angesehen, den Sie auch wir tun. dort hinterlassen haben, als Sie fortgegangen sind? (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — ten der CDU/CSU) Lachen und Widerspruch beim BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN) Lieber Herr Fischer, wenn das Wirklichkeit würde, was Sie in der Außen-, in der Sicherheits-, in der — Ja, den Dreck muß man sich ansehen. Jahrelang Wirtschafts- und in der Technologiepolitik in Ihrem hatten Sie die Chance, dort Ihre Visionen und Ihr Programm und in Ihren Vorstellungen vorhaben, dann Geschrei in der Praxis zu verwirklichen. Aber es ist bei kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Visionen und Theorie geblieben, und in der Praxis haben Sie nichts gebracht; denn Hessen hat von (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sämtlichen Länderregierungen mit am meisten abge- ten der CDU/CSU) wirtschaftet. Daran sind Sie mit schuld. Das ist auch der Grund, warum die Wähler richtig (Beifall bei der F.D.P. und der [CDU/CSU] — entschieden haben, nämlich Sie auf Bundesebene Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Richtig, nicht ranzulassen. ein Versager sind Sie! Schämen Sie sich! — Zuruf von der SPD: Das ist doch kein (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Niveau!) DIE GRÜNEN]: Hallo wach, Herr Kinkel!) Meine Damen und Herren, ich will zu dem zurück- — Herr Fischer, so wach wie Sie bin ich schon kommen, was ich eigentlich sagen wollte. Wir haben lange. — ich sage es noch einmal, weil Sie es so miesgemacht Sie ist (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Auch haben — eine gute Koalitionsvereinbarung. schon in der Früh!) vom gemeinsamen Willen zum Handeln getragen. Natürlich enthält sie Kompromisse — das sage gerade Wenn Sie immer wieder den Eindruck erwecken ich als F.D.P.-Vorsitzender—, aber sie läßt jeder Partei — wie es ja Ihr Programm ist —, als drehe sich die ihre eigene Identität. Die Qualität einer Koalitionsver- ganze Welt, als drehe sich die Bundesrepublik allein einbarung wird nicht durch eilige Vorabkritik der um ökologische Probleme, dann ist daran richtig, daß Opposition zu Beginn bestimmt, sondern durch das, das alles außerordentlich wichtige Fragen für uns was am Ende der Legislaturperiode unter dem Strich sind. Aber Sie müssen andererseits doch auch sehen, herauskommt. Da bin ich sicher: Diese Bilanz wird daß die Zukunft dieses Landes und die Zukunft dieser nach vier Jahren positiv sein. Welt nicht ausschließlich von diesem Thema abhän- Sie wollen uns ja aus der Opposition heraus vier gig ist, sondern auch noch von ein paar anderen Jahre lang jagen. Ich kann Ihnen nur sagen: Dem Fragen, und um die will ich mich anschließend küm- sehen wir mit großer Gelassenheit und Ruhe entge- mern. - gen. Schon manches Jägerlatein war relativ früh am (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Ende, und die Trefferquote bei den ersten Schüssen ten der CDU/CSU) ging, wenn ich Ihnen das ehrlich sagen darf, gegen Null. Also, wir sehen dem mit großer Gelassenheit Wenn Sie, Herr Fischer, Solidarität von denen entgegen. einfordern, die die Besserverdienenden sind, wie Sie das nennen, von denen, die mehr verdienen, dann (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ kann ich Ihnen nur sagen: Sie übersehen offensicht- DIE GRÜNEN]: Sie müssen aufpassen, daß lich, daß wir in diesem Land bewußt ein progressives Sie nicht auf die Rote Liste kommen!) Steuersystem haben und daß beim Füllen der Steuer- Und weil Sie vorhin von den „wackelnden Zähnen" körbe der wesentliche Anteil schon jetzt von denen gesprochen haben, halte ich Ihnen entgegen: Sie erbracht wird, die mehr leisten und die Körbe mit — speziell Sie, Herr Fischer — werden sich an uns die ihren Leistungen füllen. Dabei wollen wir es dann Zähne ausbeißen. auch belassen, ohne die sozial Schwächeren auszu- grenzen. Darauf will ich nachher gern noch einmal (Beifall bei der F.D.P. — Joseph Fischer eingehen. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: O ja!) Hier den Eindruck zu erwecken, mit sozialem Neid und bloßer Umverteilung kämen wir in diesem Land Meine Damen und Herren, Deutschland muß wirt- und in Europa vorwärts, ist falsch, und das lassen wir schaftlich, sozial, ökologisch, als liberaler Rechtsstaat auch nicht zu. und auch in der Außenpolitik Spitze bleiben. Unsere Lösungsvorschläge sind: Wir wollen einen schlanken (Beifall bei der F.D.P.) Staat mit weniger Bürokratie, weniger Vorschriften. Im übrigen muß ich mein ganzes Konzept umstellen, Wir wollen die Modernisierung unserer Wirtschaft in um mich jetzt mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich den alten und in den neuen Ländern durch konse- halte Ihnen zum Schluß einen Punkt vor, Herr Fischer: quente Förderung des Mittelstands und Stärkung der Wie lange waren Sie eigentlich in der hessischen Marktkräfte. Wir stehen gerade als F.D.P. für die Landesregierung? Sicherung der Staatsfinanzen und die Fortsetzung der Steuerreform. Und, Herr Fischer, wir setzen uns (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Zu für den Schutz der Umwelt durch mehr Marktwirt- lange!) schaft und für die Festigung des Sozialstaats durch 76 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel seinen Umbau ein, wohlgemerkt nicht durch den wären zum Scheitern verurteilt. Eine große Wirt- Abbau von Sozialleistungen. schafts-, Industrie- und Kulturnation zu sein — ich sage dies noch einmal — ist Anspruch und Verpflich- Wir wollen schließlich eine Offensive für Bildung, tung. Sie kann es sich nicht erlauben, sich zu sehr mit Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie den Erhalt sich selber zu beschäftigen, des inneren Friedens in diesem Land, weil wir eine große Wirtschafts- und Kulturnation sind und bleiben (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) wollen. mit Themen und Problemen, die gar nicht von aller- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- erster Bedeutung sind. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Vor allem wollen wir die Einheit unseres Landes Wir müssen als Land nach außen hin orientiert bleiben vollenden. Ich meine, daß die Menschen in den neuen und wieder zur Kenntnis nehmen, daß wir uns mit den Ländern in der praktischen Politik spüren müssen, daß wirklichen Problemen befassen müssen, daß wir nicht es uns damit ernst ist. allein auf dieser Welt sind und daß sich nicht alles nur (Vor s i t z : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) um Deutschland und unsere Probleme dreht. Es gibt ein paar Probleme mehr auf dieser Welt. Meine Damen und Herren, diese Legislaturperiode führt uns an die Schwelle des 21. Jahrhunderts. Nur (Beifall bei der F.D.P.) wenn dieser 13. Deutsche Bundestag seine Kräfte für Genauso gilt natürlich: Nur wer zu Hause leistungs- eine entschlossene Erneuerung unserer Gesellschaft fähig ist, kann nach außen handeln und gestalten. In bündelt und nutzt, wird er seiner Verantwortung für der Entwicklungspolitik und in der humanitären Hilfe die kommenden vier Jahre gerecht werden. Über können wir nur das verteilen, was wir vorher erwirt- Parteigrenzen hinweg wird es im Bundestag und im schaftet haben. Deshalb ist auch außenpolitisch wich- Bundesrat im Interesse unseres Landes und der Men- tig, was wir uns in der Koalitionsvereinbarung innen- schen notwendig sein, Lösungen bei den wahrhaftig politisch vorgenommen haben. nicht wenigen Sachproblemen zu finden. Dabei mögen wir über die besten Wege zu diesen Lösungen Thema Umweltschutz. Auch hier heißt das Stich- ruhig miteinander streiten und kämpfen. wort Innovation. Die wirtschaftlichen Anreize zu einem schonenden Umgang mit Natur und Umwelt Wir stehen, wenn ich es richtig sehe, vor einer müssen wir verstärken. Aber anders als die SPD und doppelten Herausforderung: der Modernisierung DIE GRÜNEN setzen wir beim Umweltschutz auf nach innen und dem globalen Wettbewerb nach marktwirtschaftliche Anreize für den Bürger statt auf außen. Wir werden die Erneuerung nur dann schaffen, immer mehr Verbote gegen ihn. wenn wir um uns herum gute Freunde, stabile Nach- barn und offene Märkte haben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!) - Die Ratschläge des Sachverständigenrats in seinem Beispiel Umwelt: Der Ausstoß von CO2 und FCKW jüngsten Gutachten zeigen, daß wir uns auf dem oder die Bekämpfung des Ozonlochs lassen sich doch richtigen Weg befinden. Die marktwirtschaftliche nicht mehr im nationalen Alleingang bewältigen, Herr Weichenstellung in der Umweltpolitik wird unsere Fischer. Beispiel Beschäftigung: Nur wenn die Unternehmen anspornen, immer bessere Umwelt- Beschäftigungsinitiative der Europäischen Union ins- und Energiespartechniken zu entwickeln. So wird gesamt gelingt und nur wenn wir offenen Zugang zu sich die Wettbewerbssituation auf diesem Sektor, wo den asiatischen Wachstumsmärkten erhalten, werden wir schon heute Gott sei Dank Weltklasse sind — auch wir zu Hause die notwendigen neuen Arbeitsplätze das muß einmal erwähnt werden —, weiter verbes- schaffen können. Jede lohn- oder sozialpolitische sern. Entscheidung hat unmittelbare Auswirkungen auf Thema Beschäftigungspolitik. Es ist schon gesagt unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit, unsere worden: Wir brauchen Flexibilität und Deregulierung Position im Wettbewerb. Wer diesen Wettbewerb für im Arbeitsmarkt, vor allem aber eine konzertierte sich entscheiden will, muß die vorhandenen Kräfte Offensive in Bildung, Wissenschaft und Forschung. bündeln und versuchen, neue Kräfte freizusetzen: Wer im eigenen Land keine international anerkann- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Sieg- ten Spitzenkräfte hervorbringt, kann die Hoffnung auf fried Hornung [CDU/CSU]) eine Spitzenposition im technologischen Wettbewerb draußen — auf sie sind wir angewiesen — im eigenen in Forschung, in Entwicklung, in Bildung und Ausbil- Interesse begraben. dung, bei der Deregulierung und bei der ökologischen Steuerreform. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich komme zu einem Punkt, der für mich sehr wichtig ist. Die klassische Wir dürfen nicht zulassen, daß die deutsche Hoch- Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik gehört schullandschaft für ausländische Studenten und For- der Vergangenheit an. scher leider immer weniger attraktiv wird. Eine mög- lichst große Zahl qualifizierter ausländischer Absol- (Günter Verheugen [SPD]: Ja!) venten an unseren Universitäten ist auch eine ganz, ganz wichtige Investition in unsere eigene Zukunft. Erfolgreiche Innenpolitik, Umweltpolitik, Finanz- politik ohne ein klares außenpolitisches Konzept (Beifall bei der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 77

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Im Wettbewerb mit Eliteuniversitäten wie Stanford Daß wir der Mittelstandspolitik künftig einen noch oder Oxford werden wir aber nur dann bestehen stärkeren Impuls geben wollen, weist die Koalitions- können, wenn auch in unsere Hochschullandschaft vereinbarung, wie ich finde, klipp und klar aus. Wir der frische Wind des Wettbewerbs einzieht. werden einen Parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium für den Mittelstand einrich- (Beifall bei der F.D.P.) ten. Wir müssen unsere Studenten mehr als bisher nach (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Extra! — Günter draußen schicken. Es ist ein riesiges Mißverhältnis, Verheugen [SPD]: „Weniger Staat"!) daß auf 30 asiatische Studenten in Deutschland nur ein Deutscher kommt, der in Asien studiert. Ich habe Allen notorischen Nörglern sei ins Stammbuch das Gefühl, daß uns das wahrhaftig zu denken geben geschrieben: Eine erfolgreiche Mittelstandspolitik muß. wird das zentrale Thema der nächsten vier Jahre für uns sein. Thema Mittelstandspolitik. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Rabattgesetz!) ten der CDU/CSU) Selbständige, Existenzgründer und Freiberufler sind Was den Solidaritätszuschlag anbelangt, haben wir Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Der Mittel- vereinbart, daß dieser Solidaritätszuschlag keinen stand braucht Erleichterungen und nicht eine zusätz- Tag länger aufrechterhalten werden soll als unbe- liche Arbeitsmarktabgabe, wie die Opposition sie dingt notwendig. fordert. Die SPD will dem Mittelstand wie einem Packesel immer neue Belastungen aufbürden, statt (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) dem Mittelstand zu helfen und ihn zu entlasten. Er Dies war ein starkes liberales Anliegen. Wir werden braucht Entlastung und Hilfe und keine neuen Bür- uns dafür einsetzen, daß es in der Praxis tatsächlich so den. kommt. (Beifall bei der F.D.P. — Detlev von Larcher (Beifall bei der F.D.P.) [SPD]: Wer hatte hier denn in den letzten vier Thema Sozialabgaben: Die Koalitionsvereinbarung Jahren die Mehrheit? — Ingrid Matthäus- sieht die Einberufung einer Kommission vor, Maier [SPD]: Ihr Minister hat doch die För- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schon wie derkurse gestrichen!) der!) Wir planen die Abschaffung der Gewerbekapital- die unter Einschluß unseres Bürgergeldkonzepts steuer zum 1. Januar 1996 als erste Stufe zu einer Lösungsvorschläge prüfen soll, wie wir künftig die Abschaffung der Gewerbesteuer. Wir haben in der soziale Hilfe zielgenauer leisten können. Koalitionsvereinbarung gerade für den Mittelstand und — das ist ganz wichtig — vor allem für den Diese Bundesregierung wird die Anreize für regu- läre Erwerbsarbeit stärken und Sozialbürokratie Mittelstand in den neuen Ländern sehr, sehr viel. Dort - hat er nämlich gezeigt, was er in Wirklichkeit zu abbauen. Wir halten nämlich nichts davon, daß es leisten in der Lage ist. Die weit überwiegende Zahl der heute bei den Sozialleistungen 37 Anlaufstellen für Arbeitsplätze, die in den neuen Bundesländern 152 verschiedene Hilfearten gibt. Davon profitiert geschaffen worden sind, kommt vom Mittelstand. Das erfahrungsgemäß nicht der, der Hilfe am meisten muß man einmal anerkennen und deutlich und klar braucht, sondern derjenige, der sich am besten im sagen. Paragraphendschungel auskennt. Das kann nicht richtig sein; denn wir wollen denen helfen, die wirk- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- lich hilfsbedürftig sind und Hilfe benötigen. ten der CDU/CSU) Ich bleibe dabei, daß mit der notwendigen Sensibi- Im übrigen würde ich gern an die Adresse des einen lität auf sozialem Gebiet für uns gilt, daß sich ein oder anderen selbsternannten Mittelstandspapstes Rechtsstaat, eine Demokratie dadurch auszeichnet, (Detlev von Larcher [SPD]: Das sind Sie, die wie sie mit den Schwächeren, den nicht so Leistungs- F.D.P.! — Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi fähigen, den Ausgegrenzten und den Hilfsbedürfti- [PDS]) gen umgeht. Das wird für uns mit erstes Motto sein und bleiben. — Sie, Herr Gysi, sind es sicher nicht , der versucht hat, die Leistungen von Bundeswirtschaftsminister (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Rexrodt herunterzureden, sagen — das sage ich auch ten der CDU/CSU) gegenüber Herrn Scharping deutlich und klar —: Die Anreize zur Schwarzarbeit müssen endlich Lassen Sie diese unfairen und unsachlichen Angriffe! beseitigt werden. Auch dazu kann das Bürgergeld- Günter Rexrodt macht gute Wirtschaftspolitik, gerade konzept einen wichtigen Beitrag leisten. für den Mittelstand. Meine Damen und Herren, das sind einige Auf ga- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ben der Koalition im Innern. Aber es stehen natürlich ten der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — auch nach draußen gewaltige Probleme an. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Weiterhin im Kel- Wer glaubte, mit dem Ende der Ost-West-Ausein- ler! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Erfolg- andersetzung werde der allgemeine Landfriede in reich versteckt!) diesem Land oder in Europa einkehren, hat sich leider — Sie haben es noch nicht gemerkt. Sie werden das bitter getäuscht. Richtig ist, daß wir im engeren noch merken. Europa nicht mehr einer unmittelbaren militärischen 78 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Bedrohung gegenüberstehen. Darin liegt in der Tat — Hören Sie erst einmal zu! ein enormer Gewinn für Frieden und Stabilität und ein besonderes Glück für uns Deutsche. Das Ausländerrecht wird novelliert. Das Amt der Ausländerbeauftragten wird gesetzlich geregelt — Aber wir stehen heute vor anderen, neuartigen ein besonderes Kompliment an Frau Schmalz-Jacob- Herausforderungen und völlig anderen und minde- sen, die diesem wichtigen Amt Profil gegeben hat. stens so großen Risiken. Allein in den nächsten vier Jahren wird die Menschheit um 400 Millionen wach- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne sen, d. h. um mehr als die gesamte Bevölkerung der ten der CDU/CSU — Joseph Fischer [Frank erweiterten Europäischen Union. Wichtig ist: Über furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da soll 90 % dieses Bevölkerungswachstums entfallen auf ten Sie Ihren Gesetzentwurf gleich einbrin Entwicklungsländer. In vielen dieser Länder ist die gen!) Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, hat aber — Wenn Sie es für notwendig halten, dazu höhnische so gut wie keine Zukunftsaussichten. Kein Wunder, Bemerkungen zu machen: bitte. Ich finde, daß die daß Fanatismus, fundamentalistische Strömungen Arbeit von Frau Schmalz-Jacobsen wahrhaftig her- und Gewaltbereitschaft immer mehr Zulauf erhal- vorragend war und daß sie sich des Beifalls und der ten. Unterstützung des ganzen Hauses sicher sein kann, Es ist uns nach dem Wegfall der Ost-West-Ausein- die sie verdient. andersetzung die zweite große Weltgeißel geblieben: die Nord-Süd-Problematik. Deshalb müssen wir die (Beifall bei der F.D.P. — Ingrid Matthäus traditionelle Nord-Süd-Politik zu einer globalen Ent- Maier [SPD]: Was hat sie denn zu dieser wicklungs- und Umweltpartnerschaft weiter entwik- Kinderstaatsangehörigkeit gesagt?) keln. Es wird eine Reform des Staatsangehörigkeits- Aber alle Entwicklungsbemühungen und Maßnah- rechts geben. Im Einbürgerungsverfahren werden men zum Schutz der Umwelt sind zum Scheitern Ermessensentscheidungen durch Rechtsansprüche verurteilt, wenn sie nicht durch eine konsequente ersetzt. Die Möglichkeiten einer Regelung zur Steue- Bevölkerungspolitik begleitet werden. Die weiter rung und Begrenzung der Zuwanderung werden wir wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, weltweit untersuchen. für menschenwürdige Arbeitsplätze zu sorgen und gleichzeitig die ökologischen Auswirkungen des Im übrigen rufe ich, wie so oft nach drinnen und Wirtschaftswachstums unter Kontrolle zu halten, sind draußen, die zentralen internationalen Aufgaben, denen wir (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich habe Sie noch uns als 80-Millionen-Volk im Herzen Europas und als nie rufen hören!) eines der reichsten Länder dieser Erde stellen müs- sen. Ihnen hier im Deutschen Bundestag erneut zu, daß von diesem Land nie mehr Ausländerfeindlichkeit, (Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/ - Ausländerhaß und Antisemitismus ausgehen dürfen. CSU) Sorgen wir gemeinsam dafür, daß das nie mehr Wir brauchen, meine Damen und Herren, Solidari- möglich ist! tät nach drinnen. Wir brauchen sie aber auch nach draußen. Die Mobilität der Menschen nimmt zu. Die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen sowie bei Abgeordneten der PDS) erfolgreichen Industriestaaten und in Not versinken- Auch die Kinderstaatszugehörigkeit ist ein Schritt den Entwicklungsländern verschärfen sich. Wir haben nach vorne. enorme Migrationsbewegungen. Der Wanderungs- druck von Ost nach West und von Süd nach Nord wird (Detlev von Larcher [SPD]: Frau Schmalz gerade Deutschland in den nächsten Jahren noch viel Jacobsen sieht das anders!) stärker als bisher beschäftigen. Vor allem deshalb brauchen wir eine zukunftsorientierte Ausländerpoli- — Hören Sie bitte erst einmal zu. tik. In keinem anderen Bereich — das hat sich in den Wir haben uns sehr ernsthaft mit dem Kinderstaats- Koalitionsverhandlungen gezeigt — wird die Ver- zugehörigkeitsproblem beschäftigt, das im Zusam- knüpfung zwischen äußerer und innerer Entwicklung menhang mit Art. 16 und Art. 6 nicht unerhebliche so deutlich, und in keinem anderen Bereich ist der Rechtsprobleme aufweist. Unter anderem diese liberale Rechtsstaat so gefordert. Rechtsprobleme waren es, die in mancher Beziehung Unser Ziel war und ist die bessere Integration der nur schwer überwindbar waren und zu der Einrich- vor allem schon länger bei uns lebenden Ausländer, tung der Kinderstaatszugehörigkeit geführt haben. die wir in unseren Kulturkreis, in unser Land aufneh- Ich muß Ihnen deutlich und klar sagen: Ich verwehre men wollen und auch verkraften können. Darin ist sich mich gegen diejenigen, die gerade diesen Punkt zum die Koalition einig. Im Ergebnis der Koalitionsver- Gegenstand billiger Polemik machen wollen. Dafür ist handlungen haben wir durchaus Schritte getan, die die Sache zu ernst. Dafür haben wir zu sehr darum sich sehen lassen können: gerungen! Dafür gab es zu große rechtliche Probleme. Dafür ist zu wichtig, was jetzt für ausländische Kinder (Lachen bei der SPD — Joseph Fischer in der dritten Generation in Deutschland, erreicht [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: worden ist. Was ist denn mit dem Einwanderungsrecht, Herr Kinkel?) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 79

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel In diesen Zusammenhang gehört auch die Bekämp- schen Partner mit dem Ziel der Mitgliedschaft immer fung der nationalen und der internationalen Krimi- enger an die Europäische Union heranführen. nalität. Wir wollen vor allem ein Europa der Bürgernähe. (Jörg Tauss [SPD]: In diesen Zusammen Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darüber hang?) gesprochen, daß gerade in letzter Zeit so unsinnige Dinge wie ein einheitlicher Asbestanzug für sämtliche Es ist schon darüber gesprochen worden: Das Organi- Feuerwehren in Europa eingeführt worden sind. Als sierte Verbrechen, Drogen- und Menschenhandel, ob das nicht jede Gemeinde selbst regeln könnte! Geldwäsche bedrohen unsere offene Gesellschaft. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Stand früher der Schutz der Freiheitsrechte des ein- zelnen vor dem Zugriff eines übermächtigen Staates Ich füge hinzu: Die Bürger mögen diesen Blödsinn im Vordergrund, so geht es heute vielfach darum, und diese Regelungswut aus Brüssel nicht mehr. unseren Bürgern das Gefühl zu geben, daß der Staat in Deshalb müssen wir Abhilfe schaffen. der Lage ist, ihnen Schutz vor allem dann vor neuen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — und bisher nicht gekannten Verbrechensformen zu Günter Verheugen [SPD]: Ich denke, Sie sind gewähren. Die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats, der Präsident da in Brüssel!) auf den wir stolz sind, dürfen dabei aber nicht über — Schreien Sie doch nicht so laut! Bord gehen. (Beifall bei der F.D.P.) In zwei Wochen werden wir Bilanz ziehen, was unsere Präsidentschaft anbelangt. Entgegen dem, Gerade in Zeiten, in denen die innere Sicherheit sehr was Sie vorher geäußert haben — ich verstehe ja, daß im Vordergrund steht, müssen wir Augenmaß und Sie all das miesmachen wollen —, werden wir uns mit rechtsstaatliche Sensibilität bewahren. dieser Bilanz draußen sehen lassen können. Sie wer- Aber natürlich kann es nicht richtig sein — da waren den feststellen, daß wir dafür in Europa und interna- und sind wir uns einig —, daß es ausgerechnet die tional Anerkennung bekommen werden, und zwar Drogenhändler und Mafiabosse sind, die vom Wegfall klare Anerkennung! der Zollschranken in Europa profitieren sollen. Der Kampf gegen das internationale Verbrechen läßt sich national nicht mehr gewinnen. Deshalb kann EURO- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Kin- POL, bei dem wir zugegebenermaßen nur sehr lang- kel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordne- sam vorankommen ten Frau Matthäus-Maier? ( (CDU/CSU): Zu langsam!) Dr. Bundesminister des Auswärtigen: — es liegt aber nicht an uns Deutschen, sondern an Klaus Kinkel, Nein, bitte nicht; ich möchte im Konzept bleiben. anderen hier in Europa — nur ein Anfang sein. Wenn wir ernst machen wollen, brauchen wir eine neuartige (Zuruf von der SPD: Das ist peinlich!) - weltweite Allianz gegen das Verbrechen. — Nein, das ist nicht peinlich. Ich bin gern bereit, mich Meine Damen und Herren, wo sind die Prioritäten mit Ihnen nachher zu unterhalten. für die deutsche Außenpolitik in den nächsten vier (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist nicht Jahren? Ich nenne vier Schwerpunkte. anonym Brüssel, sondern der Ministerrat!) Erstens. Unser wichtigstes Ziel bleibt die Schaffung Auch künftig werden alle Mitglieder der Union einer handlungsfähigen und bürgernahen Europäi- gleichermaßen gebraucht, die kleinen wie die großen, schen Union. Wir wollen, daß Europa in der Welt mit und allen Mitgliedern müssen alle Felder gemeinsa- einer einzigen Stimme auftreten und sich Gehör mer europäischer Politik gleichermaßen offenste- verschaffen kann. Deshalb brauchen wir weiterhin hen. den engen Schulterschluß mit Frankreich. Ich frage Zweitens. Wir brauchen ein System europäischer mich tatsächlich, Herr Scharping, wo es da Probleme und transatlantischer Sicherheit, das die Vereinigten geben soll. Nun mache ich schon seit über zweiein- Staaten weiterhin fest an Europa bindet und anderer- halb Jahren Außenpolitik in engstem Schulterschluß seits Rußland nicht ausgrenzt. Das europäisch-ameri- mit den Franzosen, doch die Probleme, die Sie — er ist kanische Verhältnis bedarf gerade jetzt aufmerksa- leider nicht da — geisterhaft geschildert haben, sehe mer Pflege. ich nicht. Ich sage nochmals: Das transatlantische Verhältnis (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ist weit mehr als ein rein militärisches Zweckbündnis. Die hat ihm der Verheugen aufgeschrie Die Wertegemeinschaft, die uns mit den USA verbin- ben!) det, ist ein Grundelement unseres außenpolitischen Selbstverständnisses. Ich würde gerne von Ihnen in einem Privatissimum hören, wo es diese Probleme geben soll. Die NATO bleibt unentbehrlich zentrales Funda- ment unserer Sicherheit. Ihre Kernfunktionen dürfen Daß Frankreich mit uns zusammen Achse und nicht ausgehöhlt und ihr innerer Zusammenhalt darf Motor dieser europäischen Einigung bleiben muß, nicht geschwächt werden. darüber sind wir uns Gott sei Dank einig. Ein Wort zu Jugoslawien. Es ist heute von der Wir wollen den Vertrag von Maastricht in all seinen NATO im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Teilen einschließlich der Wirtschafts- und Währungs- Bihac-Zone ein zweiter Angriff geflogen worden. Was union umsetzen und unsere mittel- und osteuropäi im früheren Jugoslawien nach wie vor an Schreckli- 80 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel chem geschieht, ist und bleibt eine Schande für Bewältigung der globalen Herausforderung und zur Europa. Friedenserhaltung, ebenso wie zur Sicherung der Es bleibt dabei: Es gibt keine Alternative zu dem Menschenrechte. Mit Beginn des kommenden Jahres Friedensplan der Europäischen Union. Militärische wird Deutschland für zwei Jahre einen nichtständigen Aktionen allein können den Frieden in dieser Region Sitz im Sicherheitsrat der UN einnehmen. Wir haben jedenfalls nicht bringen. Wir müssen alles, wirklich damit die Chance, uns in gewissem Sinne auf einen alles tun, um den Menschen humanitär zu helfen und ständigen Sitz vorzubereiten, den wir ja gemeinsam den Zusammenhalt der Kontaktgruppe aufrechtzuer- wollen und bei dem ich sicher bin, daß wir ihn in absehbarer Zeit, allerdings nicht schnell und nicht in halten. den nächsten Jahren, direkt erhalten werden. Schon Ich habe für den 2. Dezember die Außenminister der jetzt wird im UNO-Rahmen weit mehr als bisher von Kontaktgruppe nach Brüssel eingeladen, und ich uns erwartet, bei der Förderung demokratischer werde am Samstag mit dem russischen Außenminister Strukturen, bei der Konfliktprävention, bei Wahlbe- Kosyrew in Bonn zusammentreffen, um diese Fragen obachtungen, insbesondere bei der humanitären vorzubereiten. Hilfe. Gerade hier vertraue ich auf die Bereitschaft des Die Aggressoren müssen wissen — ich hoffe, daß Deutschen Bundestages, uns Mittel, die dem ständig dieses Hohe Haus das unterstützt —, daß die NATO weiterwachsenden Bedarf entsprechen, zur Verfü- bereit und fähig ist, wenn notwendig, militärisch zu gung zu stellen. handeln. Sie hat das heute erneut gezeigt. Diejenigen, Deutschland wird auch künftig gut beraten sein, die bei den bosnischen Serben Verantwortung tragen wenn es dem Erhalt des Friedens weiterhin vor allem — an der Spitze Herr Karadzi ć —, müssen wissen, daß mit nichtmilitärischen Mitteln dient. Dabei wird es es nicht richtig sein kann, daß eine Million Menschen, auch bleiben, schon deshalb, weil man mit Panzern angeführt von einer verbohrten Führerschaft im mili- und Raketen keine Schulen errichten und keine tärischen und politischen Bereich, die Welt drangsa- Brunnen bohren kann. liert und in Atem hält. Das kann und darf nicht richtig (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne sein. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Aber, meine Damen und Herren von der Opposi- sowie bei Abgeordneten der SPD und des tion, mit einer Schönwetteraußenpolitik allein ist es BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eben nicht getan. Wir können nicht mehr Mitsprache Die Angriffe auf Biha ć müssen unverzüglich been- fordern und uns dann verstecken, wenn von uns ein det werden. Auch mein Appell an Karadzi ć und seine Engagement gefordert wird, wie es unsere Freunde Helfer in Pale ist: Akzeptieren Sie endlich den Frie- und Partner schon jahrelang auch für uns leisten. densplan und stellen Sie sich nicht auf Dauer außer- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne halb der Staatengemeinschaft! ten der CDU/CSU) - Die schrittweise Erneuerung der NATO muß in Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts engem Zusammenhang mit der Erweiterung der hat für unsere Soldaten endlich Klarheit geschaffen. Europäischen Union und der WEU stehen. Innerhalb Auf unsere Bundeswehr kommen neue Aufgaben und der EU darf es keine Zonen unterschiedlicher Sicher- Risiken zu. Nicht nur in Somalia haben unsere Solda- heit geben. Wir können nicht unsere wirtschaftlichen ten gezeigt, daß sie sich schnell und gut in neue, und sozialen Geschicke mit neuen Partnern verflech- wichtige Rollen hineinfinden. Wir sind stolz auf unsere ten, diese aber zugleich sicherheitspolitisch ausgren- Bundeswehr. Sie war und bleibt Garant von Frieden, zen. Freiheit und Demokratie. Dafür gebührt ihr Dank, und Umgekehrt sind neue Sicherheitsgarantien wenig dafür verdient sie Ihre Unterstützung. glaubwürdig, wenn sie nicht durch ein solides Funda- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ment politischer, wirtschaftlicher und kultureller ten der CDU/CSU) Gemeinsamkeiten untermauert werden. Zu den Menschenrechten: Respekt vor den Men- Auch das neue Rußland muß seinen legitimen Platz schenrechten ist die notwendige Voraussetzung für in dieser neuen Ordnung finden. Wir müssen dafür Frieden, kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt. sorgen, daß die Staaten, die der NATO nicht beitreten Diese gesellschaftliche Vielfalt ist für mich nicht wollen oder können, das Bündnis als Sicherheitspart- Gefahr, sondern Bereicherung. Ich bin überzeugt: Der ner und nicht als Gegner betrachten. Denn ohne Zusammenprall der Kulturen, den einige voraussagen Rußland wird es keine kooperative Friedensordnung und den man vielleicht ja auch in gewissen Bereichen in Europa geben. Im Hinblick auf diese neue Ordnung befürchten muß, ist keineswegs unabwendbar. bleibt für uns die KSZE ein ganz unentbehrlicher Pfeiler, (Freimut Duve [SPD]: Eine völlig falsche These!) (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Den Pfeiler habt ihr Gerade deshalb brauchen wir das klare Bekenntnis zu abgebaut!) universal gültigen Menschenrechten. Das meine ich, den wir weiter verstärken wollen und in bezug auf den wenn ich von „wertorientierter Außenpolitik" spre- wir in Budapest dazu beitragen wollen, daß neue che. Ideen, die auch von uns kommen, durchschlagen. Die unsäglichen „ethnischen Säuberungen" sind Wir brauchen drittens eine funktionsfähige UNO. Schandflecke des internationalen Friedens. Deshalb Wir brauchen Instrumente zur Konfliktprävention, zur ist es dringend notwendig, daß wir die Ins trumente zur Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 81

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Durchsetzung dieser Menschenrechte schaffen und gelungen. Da samma wieder, und diesmal mit 30 Ab- stärken. geordneten. Schließlich brauchen wir ein liberales Weltwirt- Nun könnte man natürlich davon ausgehen, daß schaftssystem, das dem Kampf gegen den Protektio- eine Gruppe mit 30 Abgeordneten parlamentarisch nismus verpflichtet bleibt. Wenige Länder sind vom mehr Rechte hat als eine mit 17 Abgeordneten. Aber Außenhandel derart abhängig wie Deutschland: das Gegenteil ist der Fall. Dafür will ich einige Unsere Außenhandelsintensität pro Kopf ist fast dop- Beispiele nennen. pelt so hoch wie die Japans oder der USA. Bei uns wird Pro Parlamentsstunde steht uns eine Redezeit von jede vierte Mark im Export verdient. Als bedeutende fünf Minuten zu. Das hat sich nicht geändert. Am Handelsnation brauchen wir offene Weltmärkte wie Anfang der 12. Legislaturperiode durften wir unsere der Fisch das Wasser. Der Wettbewerb um Absatz- Redezeit bei längeren Debatten so zusammenziehen, märkte und technologische Innovationen wird härter daß ein geschlossener Vortrag von 20 Minuten mög- werden. Wir wollen keine Festung Europa; wir wollen lich war. Dies wurde dann geändert, und wir durften aber auch keine Festung Asien-Pazifik. bei längeren Debatten nur noch 15 Minuten sprechen Ich komme zum Schluß. — wie gesagt, bei 17 Abgeordneten. Heute ist mir bei Meine Damen und Herren, in letzter Zeit ist viel einer vorgesehenen neunstündigen Debatte nur noch über Macht- und Interessenpolitik geschrieben und eine maximale Redezeit von 10 Minuten eingeräumt geredet worden. Natürlich verfolgt Deutschland seine worden; insofern lohnt es sich ohnehin kaum. Interessen wie jeder andere Staat. Wir können unsere (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind neunein Interessen aber dann am besten durchsetzen, wenn halb Minuten zuviel!) wir erkennen, daß sie mit denen unserer Nachbarn untrennbar verflochten sind. Bemerkenswert ist, daß diese Initiative im Ältestenrat vom parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Herrn Struck, ausging und daß der parlamentarische ten der CDU/CSU — Freimund Duve [SPD]: Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Daß niemand Angst vor uns hat!) stillschweigend zugestimmt hat. Denn sie dürfen ja — Ja, daß niemand Angst vor uns hat. — Macht und die Redezeit von über vier Stunden zusammenfassen. Einfluß in der Welt beruhen heute nicht mehr primär Aber gerade er war es, der sich in der letzten Legis- auf der Fähigkeit, mit militärischer Macht zu drohen, laturperiode, als auch die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE sondern auf den kreativen Ressourcen, auf der Fähig- GRÜNEN davon be troffen war, vehement dafür ein- keit, zur Bewältigung globaler Herausforderungen setzte, daß die Gruppen die Möglichkeit erhalten, ihre beizutragen. Redezeiten auch zusammenhängend zu nutzen. Wer über Gewaltmittel verfügt, wird gefürchtet, wer (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE aber Vertrauen erwirbt und Investitionen in die GRÜNEN]: Das tun wir auch heute noch! Zukunft erbringt, wird als Partner gesucht und geach- Reine Legendenbildung!) tet. Das wollen wir sein. Faire Partnerschaft, gleichbe- - rechtigte Kooperation, Vertrauensbildung, Freiheit Er begründete das hier in einer öffentlichen Debatte und die Herrschaft des Rechts und der Demokratie mit dem Schutz von Minderheitenrechten. Nun stellt sind die außenpolitischen Leitbilder, denen sich diese sich aber heraus: Es ging doch nur um die eigenen Bundesregierung verpflichtet fühlt. Rechte und nicht um ein generelles Plädoyer für Minderheitenrechte. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Im Inneren ist es aber das Gleichgewicht von (Beifall bei der PDS) Liberalität und Gemeinsinn, Leistung und sozialer Das Besondere besteht also darin, daß die Initiative Verantwortung, das den großen Erfolg unseres Lan- von der SPD ausgeht, die GRÜNEN dazu schweigen des nach dem Krieg ausgemacht hat. Diesen Erfolg und CDU/CSU und F.D.P. selbstverständlich begei- wollen wir durch einen neuen Aufbruch in eine neue stert zustimmen. Zeit hineinführen. Dafür sind wir angetreten, und das Diese ganze Kleinkariertheit, diese mangelnde werden wir auch gemeinsam schaffen. Souveränität und Gelassenheit begleitet uns nun seit (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der dem ersten Tag dieses 13. Bundestages. Es begann mit CDU/CSU) der Arroganz der Macht gegenüber dem Alterspräsi- denten dieses Bundestages, Stefan Heym. Es setzt sich dadurch fort, daß erstmalig im Regierungsbulletin die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Rede des Alterspräsidenten nicht veröffentlicht wird. der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. Es zeigt sich darin, daß wir in diesem Saal kleinlich in die zweite Reihe verdammt werden, und da rin, wie selbstverständlich entschieden wurde, daß uns entge- Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der 12. Legislaturperiode zog gen dem bisherigen Rechnungsmodell im Bundestag die PDS auf Grund eines spezifischen Wahlrechts mit weder ein Ausschußvorsitz noch ein stellvertretender 17 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag ein. Vorsitz übertragen wird. Das wird sich fortsetzen, Alle anderen Parteien haben sich in den letzten vier wenn es um die Frage des Fraktionsstatus oder um Jahren reichlich Mühe gegeben und mit allen Mitteln andere Fragen geht. versucht, den Wiedereinzug der PDS in den Deut- Aber, meine Damen und Herren, wir sind an die schen Bundestag nach Wegfall dieser spezifischen Beschränkung unserer Rechte gewöhnt und werden Regelung zu verhindern. Dies ist bekanntlich nicht auch in Zukunft damit umgehen. Letztlich fallen diese 82 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Gregor Gysi Methoden immer auf die Verursacher zurück; denn Sie hätten doch längst prüfen können, um jetzt die diejenigen, die uns gewählt haben, wissen schon, daß Veränderungen herbeizuführen. sie damit gemeint sind. Es werden ja die Rechte ihrer Lassen Sie mich etwas zu Ihren Stichworten sagen: Vertreterinnen und Vertreter eingeschränkt. Schlanker Staat — das klingt ja gar nicht schlecht. (Beifall bei der PDS) Entbürokratisierung ist wichtig. Ich komme aus einem Land, wo die Bürokratie wirklich irrsinnige Blüten Dann wird gesagt, es gehe um Integration. In der trieb. Das ist alles wahr. Nun bin ich aber in ein Land Praxis jedoch geht es nur um Ausgrenzung und um gekommen, wo die Bürokratie noch irrsinnigere Blü- nichts anderes. ten treibt. Das hätte ich mir gar nicht vorstellen Da können Sie auch nicht zwischen uns einerseits können. und unseren Wählerinnen und Wählern andererseits (Beifall bei der PDS — Dr. Wolfgang Freiherr splitten und teilen. Das wird nicht funktionieren. von Stetten [CDU/CSU]: Aber rechtsstaat Zu alledem gehört auch die Zerstörung der politi- lich!) schen Kultur. Das Spiel von Heckelmann und Kanther — Ja, das ist doch richtig. Der Unterschied wird doch im Vorgriff auf die Eröffnung des 13. Bundestages war gar nicht geleugnet. gesetzwidrig und abenteuerlich. Wissen Sie, was das Problem ist? Wenn Sie sich das Heute muß sich ein Mann wie Stefan Heym mit genau ansehen, dann geht es tatsächlich gar nicht um seiner Biographie für irgendein imaginäres Telefon- Entbürokratisierung, sondern um zwei andere Dinge. gespräch aus dem Jahre 1966 rechtfertigen. Aus Sie wollen den Staat aus seiner Verantwortung entlas- seinem privaten Tagebuch, das ihm die Staatssicher- sen, für ökologische Umgestaltung und soziale heit gestohlen hatte und das jetzt wiederum aus seiner Gerechtigkeit zu sorgen. Das nennen Sie dann einen Opferakte gestohlen worden ist, wird im öffentlich- schlanken Staat. rechtlichen Fernsehen zitiert — so weit sind wir runtergekommen —, und das bei seiner Biographie, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ die einigen in diesem Saal nicht paßt, weil er nicht bis CSU]: Kompletter Unsinn!) zum „Endsieg" wie Sie, Herr Dregger, gekämpft hat, Das ist aber ein Staat, der seiner Verantwortung nicht sondern weil er die Waffe gegen den deutschen gerecht wird. Das ist etwas völlig anderes als ein Faschismus in die Hand genommen hat. Das ist die schlanker Staat. Tatsache. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich habe ge (Beifall bei der PDS sowie des Abg. Uwe dacht, Sie sind ein bißchen intelligenter!) Hiksch [SPD] — Dr. [F.D.P.]: Sie wollen Bürgerrechte einschränken. Ein Beispiel Peinlich!) — und jetzt wird das wahr, was ich vor vier Jahren Jetzt komme ich zum Thema. Jetzt ist nur noch angekündigt habe —: Sie benutzen den Osten als wenig Zeit für die Regierungserklärung. Aber es war - Testfeld. Dort haben Sie das Verkehrswegeplanungs- ja auch insgesamt wenig Zeit. Da die Regierungser- beschleunigungsgesetz eingeführt, um zu sehen, wie klärung auch nicht so gewichtig war, kommt es auch es funktioniert, wenn man Bürgerinnen und Bürgern nicht darauf an, daß man viel Zeit darauf verwen- wesentlich weniger Rechtsmittel gibt. Jetzt sagen Sie, det. das hat so wunderbar funktioniert, da kann man schon (Beifall bei der PDS) nach sechs Wochen eine Autobahn bauen, das wollen wir auch im Westen haben. Deshalb werden Sie den Wahr ist schon: Wir stehen vor riesigen Herausfor- Rechtsmittelabbau auch im Westen fortsetzen. derungen. Sie haben viel von Zukunft gesprochen, Herr Bundeskanzler. Aber ohne Visionen gibt es (Beifall bei Abgeordneten der PDS) keine Zukunft. Aber das ist kein schlanker Staat, sondern das ist ein Ich füge hinzu: Wir stehen vor großen Herausforde- Staat mit weniger Rechten für Bürgerinnen und Bür- rungen, die neue Antworten erfordern. Aber im ger und Demokratieabbau. Das ist bestimmt nicht der Grunde genommen wollen Sie so weitermachen wie Ansatz zur Lösung der Probleme, vor denen wir bisher. Das Ganze ist Rumgewurschtel, und so wird es stehen. nicht funktionieren. Offensichtlich trägt auch die (Beifall bei der PDS) knappe Mehrheit dazu bei. Wenn man aber so viele Ein Zweites: Sie sprechen vom Umbau des Sozial- Stimmen verliert und nur noch knapp regieren kann, staates. Das ist eine vornehme Formulierung. Wenn wäre doch die Stunde der Selbstkritik gekommen, in man aber genau hinsieht, geht es um den Abbau des der man sich überlegen muß, was man anders als Sozialstaates. Soweit Sie Anträge usw. entbürokrati- bisher machen muß. Ich habe davon im wesentlichen sieren wollen, haben wir nichts dagegen. Wo steht nichts festgestellt. denn eigentlich geschrieben, daß ein Antrag auf (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da dürfen Sozialhilfe, auf Wohngeld oder Kindergeld derartig Sie bei sich zuerst anfangen!) kompliziert und umfassend sein muß, daß man zwei Hochschulabschlüsse braucht, um den bloß ausfüllen Da, wo Sie etwas andeuten, sagen Sie, Sie wollen zu können, und daß man den dann auch noch perma- prüfen. Wie lange denn noch? Sie regieren doch schon nent wiederholen muß, weil ein tiefes Mißtrauen seit zwölf Jahren. gegen die eigene Bevölkerung besteht? (Beifall bei der PDS — Ernst Hinsken [CDU/ Da könnten Sie wirklich Bürokratie abbauen. Aber CSU]: Erfolgreich!) das machen Sie ja nicht. Nein, Sie wollen den Sozial- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 83

Dr. Gregor Gysi staat umbauen. Wenn man sich das genau ansieht, Mieten natürlich drastisch angehoben werden. Das ist geht es um zunehmende soziale Kälte. Es geht darum, die Tatsache. daß Sie z. B. die Arbeitslosen, die Arbeitslosenhil- Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel sagen, es geht feempfängerinnen und -empfänger und vor allem die um Massenarbeitslosigkeit. Was tun Sie denn nun Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger benach- wirklich dagegen? Wo sind denn die großen Refor- teiligen wollen. men? Ich will nur vier Dinge nennen, die wir unbe- Ich sage Ihnen: Ich finde es unerträglich, wie hier dingt ändern müßten. Das wissen Sie auch; kein Wort immer Polemik gegen die Ärmsten in der Gesellschaft davon in der Regierungserklärung. gemacht wird, indem ihnen immer in Nebensätzen Erstens. Wenn Sie das Verhältnis von Finanz- und vorgeworfen wird, daß sie eigentlich zum Arbeiten zu Produktionskapital nicht ändern, werden wir kein faul sind und nicht bereit sind, sich an den Leistungen Investitionsklima erreichen. Solange es sich in erster dieser Gesellschaft zu beteiligen, nachdem diese Linie lohnt, sein Geld und seinen Gewinn zur Bank zu Gesellschaft ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten bringen, und dort die höhere Rendite erwirtschaftet vorenthält. wird als in der Wirtschaft, wird niemand in die (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Wirtschaft investieren. Sie müssen das Finanzkapital der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- entprivilegisieren. So müßte eine Steuerreform ausse- NEN) hen. Nichts davon in Ihren Vorschlägen. (Beifall bei der PDS) Das ist doch die entscheidende Tatsache. Zweitens. Sie müßten bereit sein, die Lohnneben- Sie sagen, Sie wollen straffen. Was heißt denn kosten ganz anders zu berechnen, und zwar genau Leistung straffen? Das heißt doch eigentlich kürzen nicht mehr nach der Zahl der Beschäftigten, sondern und nichts anderes. Sprechen Sie das doch wenigstens endlich nach Umsatz und Gewinn, so daß ein Unter- direkt aus. nehmen mit vielen Beschäftigten belohnt wird im (Beifall bei der PDS) Vergleich zu einem Unternehmen mit hohen Gewin- Dann wollen Sie Arbeitszwang für Sozialhilfeemp- nen, aber wenig Beschäftigten. Jetzt ist es umgekehrt. fängerinnen und Sozialhilfeempfänger einführen und Sie bestrafen indirekt immer Beschäftigung, weil das drohen mit Leistungskürzung, wenn dem nicht die Einnahmen des Unternehmens reduziert. Ändern gefolgt wird. Das alles finde ich in einer Gesellschaft Sie das Abgabenrecht. Sorgen Sie dafür, daß in die ziemlich schlimm, die so reich ist wie unsere und in der Versicherungssysteme nach Umsatz und Gewinn ein- man im Grunde genommen die wirklich Vermögen- gezahlt wird und nicht länger nach den Lohnkosten den, die Reichen und die Besserverdienenden, auch und nach der Zahl der Beschäftigten, um hier wirklich zu mehr Solidarität bewegen könnte, wenn man sich eine Umgestaltung zu erreichen. wenigstens die Mühe geben würde, sie an ihre Ver- Drittens brauchen wir mehr soziale Gerechtigkeit, antwortung zu erinnern, statt immer Entschuldigun- um die Kaufkraft zu erhöhen und damit es aufhört, daß gen dafür zu finden, daß sie nicht solidarisch sein die einen, die Reichen nämlich, immer reicher werden müssen, weil angeblich die Armen in dieser Gesell- und wir uns andererseits an Armut gewöhnen, die Sie schaft eh faul sind und ihre Solidarität nicht verdient dann mit mehr Polizei beherrschen wollen. haben. So stellen Sie das immer wieder dar. Viertens brauchen wir eine tiefgreifende ökologi- Jetzt nenne ich noch ein Beispiel —ich habe mir Ihre sche Umgestaltung. Dazu hat Joschka Fischer gespro- Koalitionsvereinbarung genau angesehen —: Woh- chen. Ich sage hier dazu nichts, weil die Zeit dafür nen und Mieten. Da schlagen Sie vor, daß das Bauen nicht reicht. billiger werden muß. Darüber kann man ja reden. — Aber das ist doch zunächst nur eine Leistung für den (Zurufe von der CDU/CSU: Gott sei Dank! Sie nichts davon verstehen!) Vermieter. Wo folgt denn dann der Vorschlag, daß Sie Weil auch garantieren, daß bei billigerem Bauen wirklich — Es tut mir leid. Sie haben Ihren Beitrag mit dazu die Mieten billiger werden? Wo sind überhaupt die geleistet, daß wir nur zehn Minuten sprechen dür- Vorschläge für sozialverträgliche Mieten? fen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie schon Ich sage Ihnen als letztes: Auch was Sie an Integra- einmal etwas von Angebot und Nachfrage tionsvorschlägen für den Osten gemacht haben, ist gehört?) völlig unbefriedigend. Keine Aussage, wann die Gehälter und Löhne in Ost und West endlich angegli- Davon steht in Ihrer Vereinbarung gar nichts drin. chen werden sollen. Keine Aussage, wie Sie die Schauen Sie sich die an. Ostdeutschen vor erhöhten Mieten schützen wollen. Sie wollen ein einheitliches Wohngeld. Wissen Sie, Keine Aussage darüber, wie Sie Kultur- und Wis- was drin steht? Sie wollen die Vergleichsmiete im senschaftseinrichtungen wirklich erhalten oder auf- Osten 1995 einführen. Haben Sie auch den Menschen bauen wollen. Sie wollen plötzlich die Industriefor- im Osten einmal gesagt, was für eine Miete damit auf schung wieder entwickeln, nachdem Sie sie im Osten sie zukommt, welche Steigerungen damit verbunden schon fast auf Null gefahren haben. sind? Ich sehe doch, wie das heute organisiert wird. Schauen Sie sich einmal den Prenzlauer Berg an: an (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Ist doch nicht wahr!) jeder dritten Ecke eine ganz teure Oase. Das wird dann alles in die Vergleichsmieten einbezogen. Und Keine Aussage darüber, wie Sie konkret den Mittel- dann werden die auch heute noch relativ niedrigen stand fördern wollen. 84 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Gregor Gysi Und keine Aussage darüber, wie Sie das politische Fischer und mir klar war, gestern im Ältestenrat eben Strafrecht im Rentenrecht beseitigen wollen. Alle nicht klar. haben das im Wahlkampf angekündigt. Was steht in (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ der Koalitionsvereinbarung? Wir wollen es prüfen. CSU]: Zehn Minuten reichen aus! — Freimut Alles. Keine Aussage, wann und in welchem Umfang Duve [SPD]: Es wird festgestellt, daß wir politisches Strafrecht im Rentenrecht abgeschafft füreinander Gegner sind! Das ist doch wird. okay!) (Widerspruch bei der CDU/CSU)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gysi, trotzdem der Abgeordnete Günter Verheugen. ist Ihre Redezeit beendet. Günter Verheugen (SPD): Frau Präsidentin! Meine Dr. Gregor Gysi (PDS): In Ihrem Kampf gegen sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich Rechtsextremismus und Kulturlosigkeit fällt Ihnen auf den außenpolitischen Teil der Regierungserklä- nichts anderes ein als eine lächerliche doppelte rung und der bisherigen Debatte beschränken und Staatsbürgerschaft für Kinder, für eine so begrenzte zunächst folgendes sagen: Eine außenpolitische Gruppe von Menschen, daß Sie sich schämen sollten, Betrachtung an der Schwelle des Jahres 1995 macht das als liberalen Ansatz hier überhaupt zu verkau- sehr schnell deutlich, daß deutsche Außenpolitik fen. unter anderen Voraussetzungen und Bedingungen und vor einem anderen historischen Hintergrund (Anhaltender Beifall bei der PDS — Ernst betrieben werden muß als die Außenpolitik anderer Hinsken [CDU/CSU]: Keine Ahnung!) Länder. Ich habe hier allein die Liste der Gedenktage der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich möchte für das ersten fünf Monate des Jahres 1995 liegen. Ich will Präsidium noch einmal klarstellen: Uns liegt die Ihnen ein paar nennen: 5. Januar Julius Leber ermor- Information vor, daß die Redezeit unter den parlamen- det; 26. Januar KZ Auschwitz befreit; 2. Februar Carl tarischen Geschäftsführern vereinbart worden ist. Friedrich Goerdeler ermordet; 4. Februar Konferenz (Widerspruch bei der PDS) von Jalta; 13. Februar Zerstörung Dresdens. All dies geschah jeweils vor 50 Jahren. Das geht weiter bis — Entschuldigen Sie. Wir sind auch in der Vergan- zum 8. Mai, Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, genheit so vorgegangen. Wenn das heute streitig und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima am gestellt ist, muß es im Ältestenrat besprochen wer- 6. August 1945. den. Wir werden uns ja mit all diesen Daten im nächsten Das Wort zur Kurzintervention hat zunächst Herr Jahr zu beschäftigen haben. Ich möchte aus gemach- Schulz. ter Erfahrung mit einer Bitte beginnen: Unser Umgang mit unserer eigenen Geschichte ist nicht immer von Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ- besonderer Sensibilität geprägt gewesen. Es wäre gut, NEN): Kollege Gysi, ich möchte mit aller Deutlichkeit wenn wir uns darauf verständigten, dieses ganz klarstellen, daß wir uns in keinster Weise an einer besondere Jahr 1995, gerade auch wegen der hohen Diskriminierung Ihrer Bundestagsgruppe beteiligen. außenpolitischen Bedeutung, die diese Gedenktage Das gilt hinsichtlich der Zusammenlegung der Rede- haben, so zu gestalten, daß sich rechtzeitig Regierung, zeiten, der Anerkennung des Fraktionsstatus und Parlament, Parteien und gesellschaftliche Gruppen auch in der Frage, wo und wie Sie sitzen. darüber verständigen, wie wir mit diesen Gedenkta- gen umgehen wollen. (Zurufe von der PDS) (Beifall bei der SPD) Wenn es nach uns ginge — hören Sie doch wenigstens zu —, dann sollten Sie hier mit vollen parlamentari- Es ist eigentlich bedauerlich, daß man eine solche schen Rechten arbeiten. Bitte äußern muß, weil es für selbstverständlich gehal- ten werden sollte. Aber die Regierung hat es in der Ich lasse aber nicht zu, daß Sie, bevor Sie Ihre Vergangenheit eben zu häufig an der notwendigen eigenen Geschichtslügen geklärt haben, hier bereits Sensibilität im Umgang mit diesen Fragen fehlen neue Legenden in Umlauf bringen. lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der SPD-Vorsitzende hat heute morgen in seiner sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und grundsätzlichen Antwort auf die Regierungserklä- der F.D.P. — Dr. Gregor Gysi [PDS]: Beifall rung darauf hingewiesen, daß dem außenpolitischen von der CSU!) Teil der Regierungserklärung im Grundsatz zuge- stimmt werden kann. Es ist richtig und notwendig, auch in einer solchen Stunde den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Müller, bitte. Konsens in den Grundfragen der Außenpolitik noch einmal heraus- zuarbeiten, weil wir fest davon überzeugt sind, daß ein Manfred Müller (Berlin) (PDS): Herr Schulz, Sie Volk, wenn es in Frieden miteinander und mit den werden doch wohl bestätigen, daß ich gestern mit anderen leben will, nicht nur Übereinstimmung über meiner Forderung — mindestens 15 Minuten — völlig die Grundfragen seiner staatlichen, seiner sozialen, alleine gestanden habe und mich niemand unterstützt seiner wirtschaftlichen und seiner rechtlichen Ord- hat. Insofern war das, was heute früh zwischen Herrn nung haben muß, sondern daß es auch in Übereinstim- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 85

Günter Verheugen mung in den Grundfragen seiner außenpolitischen Deutsche Außenpolitik muß in allen ihren Schritten Orientierung leben muß. und in allen ihren einzelnen Aktionen erkennbar dem Ziel der Schaffung, der Sicherung und der Erhaltung Wenn wir heute feststellen können, daß wir gemein- des Weltfriedens dienen. Dazu gibt es eine Menge von sam sagen, die deutsche Zukunft liegt in Europa, es Fragen zu stellen, die in der Regierungserklärung wird keine deutschen Sonderwege mehr geben, dann leider nicht beantwortet worden sind. waren nicht alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang an auf diesem Weg. Das ist ja auch nicht schlimm. Wie geht es denn nun weiter mit der europäischen Sicherheit? Wie stellen Sie sich denn nun wirklich die Wenn wir heute feststellen, daß die Atlantische europäische Sicherheitsarchitektur vor? Vor der Bun- Partnerschaft, die feste Einbindung in das westliche destagswahl haben wir erlebt, daß der Widerspruch in Verteidigungsbündnis für unser Land unverzichtbar Ihrer Regierung kurz aufbrach. Dann hat der Bundes- geworden ist, dann waren auch nicht alle von Anfang kanzler einen Deckel darauf gemacht und Ihnen, Herr an auf diesem Weg. Kinkel, und Herrn Rühe ein Redeverbot erteilt. Aber wir möchten doch nun einmal gerne wissen: Wie ist Wenn wir feststellen, daß Entspannungspolitik der das denn nun mit der Zukunft der NATO und ihrer Weg gewesen ist, der das herbeigeführt hat, was der Osterweiterung? Soll das denn nun schnell gehen? Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung so her- Wer soll dabeisein? Wo soll die Ostgrenze der NATO ausgehoben hat — den Zustand, daß wir als ein sein? Oder soll es nur in Verbindung mit der Ost- vereintes Land und Volk in Frieden leben mit allen erweiterung der Europäischen Union geschehen? Soll unseren Nachbarn und mit Freunden und Partnern es vielleicht in zehn Jahren angefaßt werden? Wie nah und fe rn gute Beziehungen haben —, dann ist denken Sie sich das? dieses Ergebnis das Ergebnis einer Politik, der auch nicht alle in diesem Hause von Anfang an zugestimmt Wie stellen Sie sich vor, daß unsere Partner die haben. Ausdehnung der Sicherheitsgarantie der NATO auf (Beifall bei der SPD) osteuropäische Länder gestalten wollen und wir mit ihnen, solange nicht klar ist, wie Rußland in die Was mir leider gefehlt hat — auch bei Ihnen, Herr europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt einge- Kollege Dr. Kinkel —, das ist der Hinweis, daß neben bunden wird? Ich war etwas erstaunt darüber, daß den Fragen Europa, atlantische Partnerschaft und heute morgen in dem außenpolitischen Teil der Reden neue Ostpolitik die Nord-Süd-Dimension unserer so wenig von Rußland die Rede war. Man hat fast das Außenpolitik mindestens genauso wichtig geworden Gefühl gehabt, als bestünde hier die Auffassung, daß ist, wenn nicht noch wichtiger. Rußland gar nicht zu Europa gehört. (Beifall bei der SPD) (Jörg van Essen [F.D.P.]: Dann haben Sie nicht zugehört!) Ich habe nicht gerne gehört, was Sie, an den — Ich habe sehr gut zugehört. Kollegen Fischer gerichtet, gesagt haben: daß sich nicht alles um die Ökologie dreht. Nicht alles dreht So richtig das mit Polen, Ungarn, Tschechien und sich um die Ökologie. Aber ohne ökologische Rück- der Slowakei alles ist: Die entscheidende Frage ist sicht können Sie heute auch keine Außenpolitik mehr doch die: Gelingt es uns, eine tragfähige europäische betreiben. Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die nicht gegen irgendwen gerichtet ist, die nicht irgendwer als ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Instrument verstehen muß, das ihn bedroht oder das DIE GRÜNEN — Bundesminister Dr. Klaus andere vor ihm schützen soll, die also eine neue Kinkel: Das steht in meiner Rede!) sicherheitspolitische Spaltung in Europa bedeuten würde, oder gelingt es uns, in Europa ein Sicherheits- Wenn Sie nicht verstehen, daß Friedenssicherung, system zu schaffen, das alle einbezieht und ganz Kooperation, weltweiter ökologischer Umbau und besonders auch Rußland? Konfliktprävention zusammengehören, dann werden wir uns an diesem Punkt nicht verstehen. (Beifall bei der SPD) Unabhängig davon, daß es in den Grundfragen Deshalb hätte ich mir gewünscht, daß in der Regie- weitgehende Übereinstimmung gibt, muß und darf es rungserklärung etwas mehr Gewicht auf die Möglich- in außenpolitischen Fragen auch Streit geben. Wir keiten gelegt worden wäre, die die KSZE bietet. Die haben in der vergangenen Legislaturperiode genug KSZE — ein Instrument, das bald zwanzig Jahre alt ist; davon gehabt. Ich sehe auf Grund dessen, was uns ursprünglich auch umkämpft — hat einen ganz heute vorgetragen worden ist, daß es auch in den vor wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß Konflikte in uns liegenden Jahren eine Menge Gelegenheit zur Europa frühzeitig erkannt und friedlich geregelt wer- außenpolitischen und sicherheitspolitischen Ausein- den können. Es wurde eine Menge von Instrumenten andersetzung geben wird. Wir werden diese Ausein- entwickelt, von denen wenig die Rede ist. Ich will andersetzung mit dem Ziel führen, für unser Land jedoch einmal erwähnen, daß es schon heute eine einen Weg zu finden, der das sichert, was wir immer Anzahl von erfolgreichen und wichtigen KSZE-Mis- als Grundlage unserer deutschen Außenpolitik emp- sionen gibt. funden haben: Deutschland als ein Ort, von dem Ich wünschte mir, daß von unserer Regierung mehr immer wieder neue und starke Initiativen zur Schaf- Initiative ausginge, die KSZE in ihren Instrumenten, in fung einer dauerhaften friedlichen Weltordnung aus- ihren Institutionen und in ihren rechtlichen Grundla- gehen. gen weiter auszubauen. In der KSZE haben wir den (Beifall bei der SPD) sicherheitspolitischen Rahmen, der ganz Europa und

86 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Günter Verheugen Nordamerika einbezieht. Ich möchte sehr davor war- Ihre Vorgänger haben das vermeiden können. Sie nen, eine Politik zu betreiben, die in einseitiger sollten nicht damit beginnen. Fixierung auf die NATO oder auf die Europäische Union und der damit notwendigerweise verbundenen (Beifall bei der SPD) Grenzziehung irgendwo — wo immer diese Ostgrenze sein wird; aber irgendwo wird sie sein — die Möglich- Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der keiten außer acht läßt, die uns die KSZE bietet: am letzten Jahre und das, was wir heute gehört haben, Ende eben doch zu einem ganz Europa umfassenden bestätigen leider etwas, was ich als Vermutung seit System gegenseitiger Sicherheit zu kommen. langer Zeit habe, als Verdacht seit einiger Zeit und als Ich möchte auch fragen, Herr Bundeskanzler und Gewißheit seit kurzem: daß ein Gesamtkonzept deut- Herr Außenminister, wie die Position der Bundes- scher Außenpolitik unter den völlig veränderten Rah- regierung in den konkreten Fragen der europäischen menbedingungen, den weltpolitisch neuen Bedin- Zukunft, der Zukunft der Europäischen Union ist. gungen nicht mehr erkennbar ist. Wir haben eine Außenpolitik, die die Probleme auflistet. Das haben Sie heute wieder getan. Prioritäten haben Sie in Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Verheugen, Wahrheit nicht gesetzt. Wir haben eine Außenpolitik, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten die reagiert, bei der ich aber nicht erkennen kann, was Irmer? sie tut, um vorbeugend zu wirken. Denn es ist ja nicht so, als wüßten wir nicht, welche Fragestellungen, welche Probleme, welche Gefahren, ja welche tödli- chen Risiken in der Zukunft auf uns warten. Warum (SPD): Nein, ich möchte keine Günter Verheugen geschieht da nichts? Warum werden die Möglichkei- Zwischenfragen zulassen. ten der Konfliktvermeidung, der Konfliktprävention, Ich höre sehr wohl die deutlichen Bekenntnisse zu der Früherkennung von Konflikten und der friedli- Europa. Aber ich war doch schon mehr als irritiert, chen Konfliktregelung nicht in den Mittelpunkt der Herr Dr. Kinkel, daß ausgerechnet Sie, der deutsche Außenpolitik gestellt? Außenminister und Vorsitzende des Rates der Euro- päischen Union, sich hier hinstellen und Europaver- Ich will ein Beispiel nennen. Sie haben auf den drossenheit in der Art und Weise fördern, wie ich das Einsatz der Bundeswehr in Somalia hingewiesen. sonst nur an deutschen Stammtischen gehört habe. Sie Auch wir haben der Bundeswehr für das gedankt, was sollten sich nicht hier hinstellen und darüber klagen, sie in Somalia geleistet hat. Denjenigen, die den daß irgendwo anonym in Brüssel zuviel reglementiert Einsatz angeordnet haben, ist allerdings nicht zu wird, sondern Sie sollten darüber aufklären, wer es in danken. Denn sie haben die Bundeswehr in einen Europa ist, der diese Reglementierungen betreibt. Auftrag geschickt, der nicht zu erfüllen war und bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem auch gar nicht erkennbar war, was er am Ende der PDS) eigentlich sollte. Sie haben am allerwenigsten Grund, sich über Reglementierungswut zu beklagen. Denn in Ihrer (Beifall bei der SPD) Hand liegt es, dafür zu sorgen, daß sie nicht stattfindet. Sie sollten die Vermischung von Innen- und Außen- Ich nenne nur die Frage: Wäre es nicht sehr viel politik, von der Sie gesprochen haben, nicht so weit klüger, statt, wie im Falle Somalia, alles in allem wohl treiben, daß Sie wichtige außenpolitische Fragen in mehr als 2 Milliarden Dollar auszugeben, um ein in den Dienst Ihrer innenpolitischen Bedürfnisse stellen, Bürgerkrieg verstricktes Land zu befrieden, rechtzei- Herr Außenminister. tig dafür zu sorgen, daß durch eine vernünftige Politik der Entwicklungszusammenarbeit, durch eine ver- (Beifall bei der SPD — Ingrid Matthäus- nünftige Politik der internationalen Wirtschafts- und Maier [SPD]: Das war nicht in Ordnung, Herr Finanzbeziehungen, durch eine vernünftige Ent- Kinkel!) schuldungsstrategie der Länder der Dritten Welt sol- Wenn ich schon bei diesem Thema bin, will ich che sozialen und ethnischen Konflikte in den Ländern gleich noch etwas anmerken. Wenn es stimmt, was ich der Dritten Welt gar nicht erst entstehen. heute in einer großen Tageszeitung gelesen habe, daß Sie die Politik fortsetzen wollen, das Auswärtige Amt (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr als „Entsorgungsanstalt" für ausgediente Politikerin- von Stetten [CDU/CSU]: Warum sind Sie so nen Ihrer Partei zu benutzen, blauäugig, Herr Verheugen?) (Freimut Duve [SPD]: An sich mehr „Versor- gung" ! ) — Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich beschäftige dann will ich Sie eindringlich davor warnen, das zu mich mit diesen Ländern seit vielen Jahren, wahr- tun. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Sie werden Gelegen- scheinlich etwas länger als Sie. Und es ist nicht heit haben, dazu noch Stellung zu nehmen. blauäugig, wenn ich Ihnen sage, daß ich vor vier Jahren in diesem Bundestag darauf hingewiesen (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das stimmt nicht! habe, was in Ruanda und Burundi passieren wird. Es — Bundesminister Dr. Klaus Kinkel: Das wäre möglich gewesen, etwas zu tun. Heute lesen Sie stimmt nicht!) 'in den Berichten der Agenturen, daß jetzt in Burundi — Dann ist es ja gut. Dann bin ich um so beruhigter. das Massakrieren anfängt. Was hat denn diese Regie- Dann gehen Sie gar nicht erst auf diesen Weg. Alle rung getan? Was hat sie ernsthaft getan, um dafür zu Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 87

Günter Verheugen sorgen, daß dort etwas geschieht, damit es nicht so meinen als Aufrechterhaltung von Frieden, dann muß anfängt? das sehr deutlich gesagt werden. Dann bleibt es dabei, daß an dieser Stelle die Grenze der Konsensbereit- (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr schaft liegt. von Stetten [CDU/CSU]: Was hätte sie denn machen sollen?) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird in jedem einzelnen Fall, wo Sie die Absicht haben, die Das ist nicht blauäugig, verehrter Kollege, das ist das Bundeswehr im Rahmen von internationalen Frie- Erkennen der Tatsachen, mit denen wir es in der Welt densoperationen einzusetzen, prüfen, ob das Mandat zu tun haben. politisch so gewertet werden kann, daß die Operation Wer glaubt, daß das noch viele Jahre so weitergeht, auch zu einem politischen Ziel führt, so daß am Ende daß wir die Augen vor den Entwicklungen in der wirklich ein stabiler Friede steht. Dritten Welt, der Welt, die so zu nennen wir uns (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das wird der ganze angewöhnt haben, fest verschließen, daß wir sie fest Bundestag tun, nicht nur die sozialdemokra vor der Erkenntnis verschließen, was dieses Bevölke- rungswachstum, diese Verelendung, diese Zunahme tische Fraktion!) von Menschenrechtsverletzungen und Konflikten Es wird sehr genau geprüft werden, ob deutsche bedeutet, wer glaubt, daß wir uns auf eine Wohl- Beteiligung in dem gegebenen Einzelfall zweckmäßig standsinsel zurückziehen könnten, die wir mit neuen ist. Es kann immer einmal Fälle geben, wo gerade Mauern und eines Tages vielleicht mit Stacheldraht deutsche Beteiligung das genau nicht ist. Und es wird gegen die anderen verteidigen, der täuscht sich. sehr genau geprüft werden müssen, ob auch ein nationales Interesse vorliegt; denn nicht in jedem Fall Jetzt müssen wir uns diesen Problemen stellen, müssen wir dabeisein, wenn irgendwo in der Welt meine Damen und Herren, jetzt müssen wir es tun! etwas gemacht werden muß. Das wird zu prüfen (Beifall bei der SPD) sein. Dazu brauchen wir eine Außenpolitik, die andere Wir sehen eine unverrückbare Grenze auf jeden Instrumente einsetzt als bisher. Sie haben in Ihrem Fall dort, wo deutsche Soldaten jenseits der Landes- Auswärtigen Amt den Titel „Demokratisierungs- verteidigung oder der Bündnisverteidigung in einen hilfe", Herr Kinkel. Dieser Titel ist so lächerlich Krieg geschickt werden sollen. Da werden Sie nicht ausgestattet, und ich weiß, wie wichtig er ist. mit der Unterstützung der sozialdemokratischen Par- (Zuruf von Bundesminister Dr. Klaus tei und Bundestagsfraktion rechnen können, auch in Kinkel) den nächsten Jahren nicht. Wenn Sie das vorhaben — ich hoffe es nicht —, dann werden Sie harte — Nein, nein, wir haben immer mehr verlangt, das Debatten nicht nur in diesem Parlament, sondern auch können Sie schon glauben. in der deutschen Öffentlichkeit erleben. Diese Demokratisierungshilfe für Länder, die sich in - Ich sage Ihnen noch einmal, was ich schon oft gesagt Krisen befinden, ist ganz sicher wichtiger und besser habe: Es wird von uns auch nicht verlangt, daß wir uns angelegtes Geld — wir sparen am Ende auch noch an solchen militärischen Operationen beteiligen. Was etwas dabei —, als dann, wenn es zu spät ist, die der Bundeskanzler gesagt hat, ist richtig: Wir sollen Bundeswehr oder Verbündete hinzuschicken, die unsere Rechte und Pflichten als Mitglied der Verein- wieder Ordnung schaffen sollen. ten Nationen erfüllen. Dazu gehört aber nicht, daß wir (Beifall bei der SPD) uns an Kriegen irgendwo in der Welt beteiligen. Das ist weder das Recht noch die Pflicht der Mitglieder der Die internationale Verantwortung unseres Landes, Vereinten Nationen. von der in der Regierungserklärung des Bundeskanz- lers die Rede war, ist ein Thema, das uns in der letzten (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Legislaturperiode vor allen Dingen im Zusammen- DIE GRÜNEN) hang mit dem Einsatz und der Erweiterung der Ich wünschte mir, daß Sie sich etwas mehr mit der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beschäftigt Frage beschäftigen würden, wie man die Vereinten hat. Nationen arbeitsfähiger und konfliktlösungsfähiger Der Bundeskanzler hat in seiner Rede eine bemer- machen kann, als mit der Frage, wie man die Bundes- kenswerte Formulierung gebraucht. Er hat gesagt, wehr einsetzen kann. Das ist jahrelang versäumt daß wir uns künftig grundsätzlich an Maßnahmen der worden. Die Jahre, in denen die Vereinten Nationen internationalen Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung über ihre Reform diskutierten, sind nicht gerade von des Friedens und der internationalen Sicherheit betei- deutschen Beiträgen bestimmt gewesen. Man kann ligen werden. Ich wiederhole es noch einmal: daß wir das nur bedauern. uns grundsätzlich an Maßnahmen zur Aufrechterhal- Die Frage der deutschen Mitgliedschaft im Sicher- tung des Friedens und der internationalen Sicherheit heitsrat — gegen die ich überhaupt nichts habe; im beteiligen werden. Ich will hier keine Wortklauberei Gegenteil, ich habe vor Herrn Kinkel schon gesagt, betreiben; aber das Wort Aufrechterhaltung verstehe daß es richtig wäre, im Sicherheitsrat vertreten zu sein ich so, daß die Bundesregierung sich dem nähert, was — haben Sie in den letzten Jahren in den Mittelpunkt wir schon seit einigen Jahren sagen, daß sich nämlich Ihrer operativen Außenpolitik gestellt. unsere Mitwirkung darauf beschränken sollte, die Vereinten Nationen bei friedenswahrenden Operatio- (Zuruf von der CDU/CSU: Doch nicht in den nen zu unterstützen. So verstehe ich das Wort „Auf- Mittelpunkt!) rechterhaltung von Frieden". Wenn Sie etwas anderes — Aber ja. 88 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Günter Verheugen Die Grundfragen sind überhaupt noch nicht geklärt. Hintergrund des jüngsten Einsatzes der Nato gegen Wie sieht denn die Strukturreform des Sicherheitsra- serbische Stellungen: Wir sollen die Soldaten nicht tes aus, in dem wir Mitglied sein wollen? Wie wird er überfordern. Der Frieden ist die Aufgabe der Politik regional zusammengesetzt sein? Wie wird das mit den und nicht des Militärs, meine sehr verehrten Damen Vetorechten geregelt sein? Wird es Mitglieder erster, und Herren. zweiter, dritter Klasse in diesem Sicherheitsrat geben (Beifall bei der SPD) oder nicht? Unter welchen Bedingungen wollen Sie Das letzte Mittel der Politik sind niemals Soldaten, eigentlich hinein? Ich rate sehr dazu, diese Frage ein sondern die friedenschaffenden Mittel der Diploma- bißchen niedriger zu hängen. Schon heute steht fest, tie, des Miteinander-Redens, des vertrauensvollen daß die von Ihnen genannten Daten, wann Deutsch- Aufeinander-Zugehens. land ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sein wird, unerreichbar sind. Das wird in diesem Jahrhundert (Beifall bei der SPD) nicht mehr geschehen. Das ist völlig eindeutig. Meine Damen und Herren, vollkommen gefehlt haben in den Darstellungen der Regierung Initiativen Besser ist es, wir betreiben eine aktive Politik in den zum Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es hat Vereinten Nationen, die sie stärkt und die sicher gefehlt das Thema Nichtweiterverbreitung von Mas- macht, daß die Vereinten Nationen auch wirklich tätig senvernichtungswaffen, es hat gefehlt das Thema werden können, daß nicht nur die Probleme vor ihrer Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke. Haustür abgeladen werden, aber sie nicht die Mittel und die Instrumente bekommt, um mit diesen Proble- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das men auch umgehen zu können. geht alles von meiner Redezeit ab!) Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß dies brennende Bundeswehr sagen. Die Bundeswehr ist und bleibt für außenpolitische Fragen sind, mit denen wir uns drin- uns nach wie vor das entscheidende Instrument der gend beschäftigen müssen, nicht zuletzt deshalb, weil Landesverteidigung. Die Landesverteidigung ist die wir es doch sicherlich gemeinsam erreichen wollen, ethische und die staatspolitische Begründung für die endlich dahin zu kommen, daß uns die Veränderung Existenz der Bundeswehr. Dabei muß es auch bleiben. der weltpolitischen Lage, der Abbau der Spannungen, Es reicht nicht, wenn hinsichtlich der Bundeswehr das Ende der Blockkonfrontation auch in die Lage schöne Lippenbekenntnisse hier abgegeben werden, versetzen sollen, unsere schöpferischen Kräfte, unsere sondern man muß sich den Zustand der Bundeswehr, technologischen Fähigkeiten, unsere finanziellen und insbesondere ihren inneren Zustand, ansehen, um zu wirtschaftlichen Ressourcen nicht länger für Rüstung begreifen, was hier in den letzten Jahren vernachläs- und Überrüstung auszugeben, sondern für Werke des sigt worden ist. Friedens. Die Angehörigen der Bundeswehr beklagen zu Ich danke Ihnen. Recht, daß sie keine Planungssicherheit mehr haben. (Beifall bei der SPD) Die Menschen in unserer Bundeswehr — es ist unsere gemeinsame Bundeswehr, nicht die der Regierung —, d. h. die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und deren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächstes spricht Familien, haben einen Anspruch darauf, endlich ein- der Bundesminister für Finanzen Dr. . mal klar von Ihnen zu hören, was eigentlich ihr Auftrag ist, in welcher militärischen Struktur dieser Auftrag erfüllt werden soll, wie sicher ihre Arbeits- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: plätze, ihre Dienstposten, eigentlich sind, und vor Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und allen Dingen, wann sie endlich für das, was sie tun Herren! Das heute von Bundeskanzler Helmut Kohl sollen, angemessen ausgebildet und ausgerüstet wer- vorgetragene Regierungsprogramm bietet ein solides den sollen. Fundament für die politische Arbeit der kommenden vier Jahre. Die Stimmung und die Motivation von Soldaten und Interessant ist der Dissens, der sich hier zwischen zivilen Mitarbeitern in der Bundeswehr ist so schlecht Herrn Scharping und Herrn Fischer ergeben hat. wie noch nie. Deshalb brauchen wir endlich eine Während sich Herr Scharping realistischerweise auf Gesamtbestandsaufnahme. Geben wir der Bundes- vier Jahre Opposition einstellt, glaubt Herr Fischer, wehr ein konkretes Ziel, und halten wir gemeinsam das verkürzen zu sollen, aber dann muß er sagen, mit daran fest. Ich glaube, wir brauchen ein Bundeswehr- welchem Instrument. Er kann es in den vier Jahren nur aufgabengesetz, das das regelt. mit einem konstruktiven Mißtrauensvotum tun, und Ich empfehle Ihnen sehr, meine Damen und Herren dann müßte er auf jeden Fall auf die Stimmen der PDS von der Koalition: Hören Sie endlich einmal auf den zählen. Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der (Beifall bei der CDU/CSU) seit Jahren mit wachsender Deutlichkeit auf die sozia- Dann müssen sich die Herrschaften bei den GRÜNEN/ len Defizite, vor allen Dingen aber auch auf die BÜNDNIS 90 überlegen, ob sie in einer so entschei- Führungsmängel innerhalb der Truppe hinweist. denden Frage mit den Kommunisten, ihren schärfsten (Beifall bei der SPD) Feinden von gestern, gemeinsame Sache machen wollen. Wir danken der Bundeswehr für das, was sie für die Integration unseres Landes in den Westen und für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einheit unseres Landes geleistet hat. Ich möchte aber Herr Kollege Verheugen, Sie haben ein ganz wich- eines ganz deutlich machen, gerade auch vor dem tiges Thema am Rande angesprochen. Sie haben dem Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 89

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Außenminister vorgeworfen, er habe nichts zur sieht: Wir haben sie richtig gestellt. Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke ge- Die sechs Forschungsinstitute, der Sachverständi- sagt. Es gibt niemanden in der Welt, der wie Deutsch- genrat, aber auch die OECD und der IWF bestätigen land sich dieses Themas auf allen Konferenzen der den Aufschwung. Die Wachstumswerte werden stän- Außenminister, der Finanzminister und der Regie- dig nach oben korrigiert. Inzwischen können wir für rungschefs angenommen hat. Wir haben die entschei- Gesamtdeutschland 1995 real 3 % Wachstum erwar- denden Initiativen in Tokio, vorher schon in München, ten. Die Rezession ist überwunden. Alle Konjunktur- über die entsprechenden Programme Europas mit in indikatoren zeigen aufwärts, der Arbeitsmarkt wird die Wege geleitet. Wir wären dankbar, wenn auch folgen, und die D-Mark ist stabil geblieben. andere endlich dieses Engagement zeigen würden; denn die anderen sind davon genauso betroffen wie Meine Damen und Herren, die heute vorgenom- Deutschland und alle anderen Staaten in Europa und mene Steuerschätzung 1995 bestätigt den Auf- in der Welt. schwung. Mir liegt zu diesem Zeitpunkt nur die Schätzung für den Bund vor: Durch die bessere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Konjunktur erwarten wir für den Bund 3,5 Milliarden In den Vereinbarungen zwischen den Koalitions- DM mehr Steuereinnahmen, als noch im Mai ange- parteien haben wir die vor uns liegenden Herausfor- nommen. Damit ist der Haushalt 1995 von seiten der derungen definiert und Lösungswege aufgezeigt, die Steuereinnahmen abgesichert. Die Mehreinnahmen sich nicht an Versprechungen, sondern am politisch fließen voll in die Senkung der Nettokreditauf- Machbaren orientieren. Mit der Vorstellung des nahme. Regierungsprogramms, der Wahl des Bundeskanzlers (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und der Bildung des neuen Kabinetts haben die Koalitionspartner ihre Handlungsfähigkeit bestätigt Nur zwei Länder erfüllen bereits 1994 alle Kriterien und die Entschlossenheit unterstrichen, aufbauend des Maastrichter Vertrages, nämlich Luxemburg und auf der erfolgreichen Arbeit seit 1982 Deutschlands Deutschland. Neueste, uns jetzt vorliegende Berech- Weg in die Zukunft mit Mut und Augenmaß zu nungen zeigen erstmals: Deutschland wird auch im gestalten. Meine Damen und Herren von der Opposi- Jahre 1995 alle Kriterien von Maastricht erfüllen. tion, das haben Sie nicht erwartet, daß innerhalb von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vier Wochen alle wichtigen Entscheidungen stattfin- Freimut Duve [SPD]: Dann freuen wir uns mit den und diese Koalition Handlungsfähigkeit unter Ihnen!) Beweis gestellt hat. — Herr Duve, ich bedanke mich. Sie lernen in Sachen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Finanzpolitik dazu. Einer unter Ihnen, der die Dinge realistisch sieht, ist Ministerpräsident Oskar Lafontaine; (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Innerhalb von drei Minuten!) (Detlev von Larcher [SPD]: Aha! — Freimut Duve [SPD]: Sehr gut!) - Beim Defizitkriterium unterschreiten wir mit 2,5 % die 3-%-Grenze klar. denn er hat sein Bundestagsmandat zurückgege- ben, Auch beim Schuldenstandskriterium bleiben wir trotz der Übernahme der Erblastenschuld in einer (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Größenordnung von fast 400 Milliarden DM unter der der F.D.P.) Grenze von 60 %. Dieser große und noch vor kurzem in der rechten Erkenntnis: Hier ist die nächsten vier für nicht möglich gehaltene Erfolg ist ein unmittelba- Jahre für Sie, Herr Lafontaine, und Ihre Freunde kein res Ergebnis der besseren Konjunktur und unserer Blumentopf zu gewinnen. Insofern ist es richtig, sich Konsolidierungspolitik. auf das Saarland zu konzentrieren. (Freimut Duve [SPD]: Und des Wegdrückens Meine Damen und Herren, wir werden die erfolg- in Schattenhaushalte!) reiche Finanzpolitik fortsetzen. — Nein, nein, da ist alles enthalten. Das wissen Sie (Freimut Duve [SPD]: Hat einen leeren ganz genau. Alle Instrumente der Wiedervereinigung Finanztopf und spricht hier von Blumentöp werden ab 1995, dazu noch die Bahnschulden, voll in fen!) den Haushalt einbezogen. Sie wissen das ganz — Seit wann verstehen Sie, Herr Duve, etwas von genau. Geld? (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Der Duve weiß das (Freimut Duve [SPD]: Ich gebe die Frage nicht!) zurück an Sie, Herr Waigel!) Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, das zu kritisie- Es wundert mich schon, daß Sie von Geld reden. ren. Brecht hat davon mehr verstanden. Meine Damen und Herren, soeben noch hat die In der 12. Legislaturperiode haben wir die Weichen EU-Kommission auch Deutschland einen blauen Brief für die Bewältigung der deutschen Einheit und die wegen der im nächsten Jahr erwarteten knappen Überwindung der Rezession gestellt. Jeder, der mit Überschreitung des Schuldenstandskriteriums ge- klarem Blick urteilt, schrieben. (Freimut Duve [SPD]: Ja, aber Herr Waigel (Freimut Duve [SPD]: Das war eine rote nicht!) Karte!) 90 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Dieser Brief ist damit bereits erledigt. Ich bin zuver- desregierung. Dazu kommen etwa 370 Milliarden DM sichtlich, daß das auch der letzte blaue B rief war, den im Erblastentilgungsfonds, die allein durch das Deutschland bis zum Eintritt in die dritte Stufe erhält. marode SED-Regime entstanden sind. Meine Damen und Herren, wer hätte es für möglich gehalten, daß wir neben Luxemburg der einzige Staat 290 Milliarden DM von den 470 Milliarden DM sein werden, neuen Bundesschulden entfallen auf den Zeitraum zwischen 1990 und 1995. Allein die Finanztransfers (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Richtig!) aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder betra- der bereits 1994 und 1995 alle Stabilitätskriterien, die gen aber in den Jahren 1991 bis 1995 netto über wir in den Vertrag von Maastricht hineingeschrieben 350 Milliarden DM. Schon daraus ist ersichtlich, daß haben, erfüllen wird — trotz der Probleme mit der wir vor allen Dingen durch Sparen und durch deutschen Einheit und der finanziellen Mehrbela- Umschichtung den entscheidenden Beitrag dafür stung, die kein anderes Land in dieser Größenord- geleistet haben, um durch Verzicht im Westen das nung hat, obwohl wir 5 % des Bruttosozialprodukts für Notwendige im Osten finanzieren zu können. den Wiederaufbau des anderen Teils des Vaterlandes (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zur Verfügung stellen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Koalition hat die Eckpunkte der Finanzpolitik für die 13. Legislaturperiode festgelegt. In ihnen Das ist, wie ich meine, ein beachtlicher Erfolg der zeigen sich Kontinuität, Verläßlichkeit, Ehrgeiz und deutschen Finanzpolitik. zielbewußte Entschlossenheit. Der Konsolidierungs- Auch beim strukturellen Defizit zeigen die neu- kurs wird ohne Wenn und Aber fortgesetzt. Auf dieser esten Berechnungen 1994 einen Rückgang um 10 Mil- Basis kann dann die für den Standort Deutschland liarden DM, 1995 um weitere 8 Milliarden DM an. unverzichtbare Rückführung der Steuer- und Abga- Damit hat sich unser strukturelles Defizit in nur vier benlast angepackt werden. Jahren halbiert. Das Vertrauen der internationalen Wir müssen bei den finanz- und steuerpolitischen Finanzmärkte und unserer Partner in die Stabilitäts- Kennziffern mittelfristig wieder die Zahlen erreichen, politik Deutschlands wird damit ein weiteres Mal die wir vor der Wiedervereinigung durch eine konse- eindrucksvoll bestätigt. quente Politik der Defizitbegrenzung erreicht hatten. Dabei muß man, liebe Kolleginnen und Kollegen, Die Staatsquote von jetzt knapp 51 % muß bis zum einmal darauf hinweisen, welche Aufgaben wir in den Jahr 2000 wieder auf knapp 46 % gesenkt werden. letzten Jahren zu bewältigen hatten. Die öffentliche Hand hat zwischen 1990 und 1994 Jahr für Jahr für die Allen Koalitionspartnern ist klar: Nur das unbedingt neuen Länder rund 150 Milliarden DM bereitgestellt. Notwendige kann seriös finanziert werden. S trikte Ein neuer Finanzausgleich zugunsten der neuen Län- Konsolidierung bedeutet, das Haushaltsmoratorium der ist unter Dach und Fach und kann 1995 wirksam gilt weiter für die gesamte Legislaturperiode. Wir werden. Der Bund hat durch massive Aufstockung der begrenzen den Ausgabenanstieg auf einen Wert deut- direkten Bundesergänzungszuweisungen und durch lich unter dem Zuwachs des nominellen Bruttoinland- die Abgabe von Umsatzsteuerpunkten über 30 Milli- produkts. arden DM, insbesondere zugunsten der neuen Län- Bereits Mitte Dezember werden wir den Haushalt der, zur Verfügung gestellt. 1995 vorlegen. Es wird im wesentlichen der bereits Mit dem Erblastentilgungsfonds übernehmen wir bekannte Entwurf sein, allerdings werden wir die ab 1. Januar 1995 die Hinterlassenschaft von 40 Jah- deutlich niedrigere Kreditaufnahme von 1994 auch für ren sozialistischer Mißwirtschaft. Dabei zeichnet sich 1995 festschreiben. Dies ist allerdings nur möglich, ab: Die vorsichtigerweise dafür angesetzten 400 Mil- weil 1995 einige einmalige Einnahmen anfallen: Pri- liarden DM werden wir wohl nicht ganz in Anspruch vatisierung Lufthansa, Privatisierung DKB, Fusion der nehmen. Nur, es war wichtig, bei der Einschätzung Staatsbank mit der KfW. 1996 stehen diese Einnah- und bei der Berechnung auf der sicheren Seite zu men nicht zur Verfügung. Das heißt, der Konsolidie- kalkulieren. Es ist allzumal besser, am Schluß nicht so rungskurs muß unbeirrt und klar fortgesetzt werden, viel ausgeben zu müssen, wie wir befürchtet hatten. auch wenn die Konjunktur heute gewisse Erhellungen zeigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschland hat die finanziellen Belastungen der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einheit verkraftet, ohne die innere und äußere Stabi- Die finanziellen Spielräume ab 1996 sind außeror- lität zu gefährden. Die D-Mark hat nicht gewackelt, dentlich eng und müssen vorrangig für die notwendi- Spekulanten haben sich daran die Zähne ausgebis- gen steuerlichen Verbesserungen beim Existenzmini- sen. Das Vertrauen der Kapitalmärkte und unserer mum und beim Familienleistungsausgleich genutzt Partner in Europa ist gestärkt worden. werden. Weitere Spielräume müssen durch die Fort- Horrormeldungen über die Höhe der Staatsver- führung des Konsolidierungskurses erst verdient wer- schuldung, meine Damen und Herren, nutzen nie- den. Konjunktur, Wachstum, Investitionen für neue mandem. Die Zahlen sind allen bekannt. Von der Arbeitsplätze haben unmittelbar mit dem Standort Staatsverschuldung 1995, die voraussichtlich etwa Deutschland zu tun. Den stärken wir nicht, wie man- 2 050 Milliarden DM betragen wird, entfallen etwa che glauben, mit konsumorientierter Umverteilung, 780 Milliarden DM auf den Bund. Davon haben wir sondern mit investitionsorientierter Wachstumspoli- 308 Milliarden DM 1982 vorgefunden. Das macht tik. rund 470 Milliarden DM neue Schulden dieser Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 91

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Darum muß die Unternehmensteuerreform in der als jetzt für ein Hauen und Stechen gesorgt. Meine kommenden Legislaturperiode fortgesetzt werden. Damen und Herren, ich wundere mich über manche Publikationen: In den letzten Jahren wurde uns, wenn Unsere exportorientierte Wirtschaft steht in schar- wir nur einen einzigen der über 70 in der Experten- fem weltweiten Wettbewerb. Auch bei kleinen Ver- gruppe genannten Punkte diskutiert haben, sofort besserungen in den letzten Jahren liegen laut einer sozialer Kahlschlag vorgeworfen. Jetzt, wo wir das neuen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft addiert, fünfzig-, sechzigfach, umsetzen sollen, wird die Lohnstückkosten in Deutschland immer noch dies in den Kommentaren als ein großartiger Wurf der weltweit an der Spitze, trotz unserer hohen Produkti- Neuregelung des Steuerrechts bezeichnet. Die Auf- vität. fassungen sollten in sich konsistent sein, bevor man Immer noch haben wir international fast einmalig eine solche Bewertung abgibt, die für den Kenner der hohe Steuersätze und ertragsunabhängige Belastun- Szene sehr problematisch ist. gen. Für die Betriebe fällt insbesondere die — in Österreich soeben abgeschaffte — Sonderbelastung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mit der Gewerbesteuer ins Gewicht. Im Vordergrund Der Vorschlag des Kollegen Schleußer führt aller- muß dabei die Senkung der Gewerbesteuerbelastung dings in eine Richtung, die wir nicht einschlagen stehen. Die ertragsunabhängige Gewerbekapital- wollen. Hier feiert die leistungsfeindliche Ergän- steuer soll abgeschafft werden. Es muß weitere mittel- zungsabgabe der SPD in anderem Gew and fröhliche standsfreundliche Entlastungen bei der Gewerbeer- Urständ: Jeder fünfte Steuerzahler in Deutschland tragsteuer geben. Die Gemeinden sollen einen fairen wird zusätzlich belastet. Wir streben einen Tarif an, Ausgleich erhalten. Wir werden mit den Ländern, mit der ohne Mehrbelastung auskommt. den Kommunen und mit der Wirtschaft darüber zu reden haben, welchen Anteil die Kommunen an einer Ich bleibe dabei: Das Ziel muß eine Lösung sein, die der großen Steuern, wie es der Kollege Schäuble das Existenzminimum bei geringen Einkommen in erwogen hat, an der Lohn- und Einkommensteuer, verfassungskonformer Weise steuerfrei stellt und den gegebenenfalls an der Körperschaftsteuer oder an der geradlinig ansteigenden Steuertarif, den Hauptvorteil Umsatzsteuer, zu erhalten haben. Das sind die zwei der Steuerreform 1990, beibehält. Auch eine lei- Möglichkeiten, über die zu reden sein wird, und zwar stungsfeindliche Verschärfung der Progression muß deswegen, weil das Interesse an einer Ansiedlung von vermieden werden. Gewerbebetrieben dadurch gewahrt bleibt. Dazu brauchen wir eine Steuerkoalition der Vernunft. (Detlev von Larcher [SPD]: Geht es denn ein bißchen konkreter?) Sie, Herr Kollege Scharping, haben sich vor einiger Zeit für eine grundlegende Reform des Steuersystems — Das kommt bald; eines nach dem andern. Sie ausgesprochen. Ich greife dieses Angebot gerne auf. müssen sich heute mit so vielem beschäftigen, daß Sie Wenn Sie und die SPD-regierten Länder bei Vorschlä- damit überlastet werden. gen der Gutachter, die sehr schwierig und umstritten sind, mitziehen, bin ich zu einer offenen Diskussion (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der jederzeit bereit. F.D.P.) Meine Damen und Herren, wir müssen bei der Dabei ist eine abnehmende Entlastung bei steigen- Unternehmensteuerreform aber auch sehen, daß nur den Einkommen verfassungsgemäß. Das hat das Bun- eine für die öffentliche Hand aufkommensneutrale desverfassungsgericht in seinem Urteil schwarz auf Gestaltung durch eine Verbreiterung der Bemes- weiß ausgeführt. Ich zitiere: sungsgrundlage bei den Unternehmenssteuern mög- lich ist. Das bedeutet allerdings nicht, daß jeder Steuer- pflichtige vorweg in Höhe eines nach dem Exi- Nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts stenzminimum bemessenen Freibetrags ver- muß die Bundesregierung bis zum 1. Januar 1996 eine schont werden muß. dauerhafte Neuregelung der Steuerfreistellung des Existenzminimums vorlegen. Dazu gibt es Thesen Die weitere Verbesserung des Familienleistungs- einer vom Finanzministerium eingesetzten Gutach- ausgleichs ist ein wichtiges Element in der Politik der tergruppen, seit letzter Woche auch einen Vorschlag Bundesregierung. Durch den stufenweisen Ausbau meines nordrhein-westfälischen Kollegen Schleußer. des 1983 von dieser Regierung wieder eingeführten Die Thesen der Gutachter laufen auf eine sehr weit- Kinderfreibetrags auf jetzt rund 4 100 DM und die gehende Veränderung unseres gesamten Systems der Aufstockung des Erstkindergeldes auf 70 DM werden Einkommensbesteuerung hinaus. seit 1992 im Ergebnis rund 6 200 DM pro Kind Eine so drastische Umstellung unseres Einkom- steuerfrei gestellt. Insgesamt haben wir die steuer- mensteuerrechts ist unter den gegebenen politischen lichen Entlastungen und Geldleistungen für die Fami- Konstellationen, aber auch bereits wegen der Kürze lien in 1994 auf 60 Milliarden DM erhöht. Dies sind der Zeit, wie ich meine, nicht zu verwirklichen. 32 Milliarden DM mehr als 1982. Unabhängig davon besteht bei einzelnen Vorschlä- In dieser Legislaturperiode soll der Kinderfreibetrag gen sicherlich Diskussionsbedarf. um weitere 1 000 DM erhöht werden. Langfristig soll Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die das Existenzminimum eines Kindes voll durch den Diskussion bei der großen Steuerreform 1986, 1988 Kinderfreibetrag abgedeckt werden. Kindergeld be- und 1990. Damals hatten bereits vorgeschlagene Ge- kommen dann Familien mit niedrigem Einkommen genfinanzierungen in erheblich geringerem Umfang oder Familien mit mehreren Kindern. 92 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Nun zum Solidarzuschlag. Der Solidarzuschlag Auch an einer Straffung und Vereinfachung der muß so schnell wie möglich wieder abgeschafft wer- Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsge- den. richtsverfahren kommen wir nicht vorbei. Wenn bei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) uns bei Großvorhaben Planungs- und Genehmi- gungsverfahren bis zu zwei Jahre, vor unserer Haus- Steuersenkungen aber müssen erst durch Konsolidie- tür in Ungarn, Tschechien oder Polen nur drei bis vier rung erwirtschaftet werden. Mit dem Jahr 1995 über- Monate dauern, dann dürfen wir uns nicht wundern, nehmen wir erhebliche Lasten der Einheit in den wenn Arbeitsplätze mittelfristig exportiert werden. Bundeshaushalt. Noch weitere Ansprüche kommen in den nächsten Jahren auf den Haushalt zu, beispiels- Immer dort, wo es sinnvoll ist, muß Staatstätigkeit weise die Neuregelung des Existenzminimums und durch privates Handeln ersetzt werden. Die unmittel- die Fortsetzung der Bahnreform. Es wäre daher ver- baren und mittelbaren Beteiligungen des Bundes sind früht, bereits heute einen detaillierten Zeitplan für von 956 in 1982 auf unter 400 in 1994 zurückgeführt den Abbau des Solidaritätszuschlags festzulegen. Der worden. Diesen Weg werden wir konsequent weiter- Solidarzuschlag wird aber jedes Jahr an Hand objek- verfolgen. tiver Kriterien überprüft werden. Sollten gegenüber Der erste Schritt der Privatisierung der Deutschen dem Finanzplan die Finanzausgleichsleistungen für Telekom AG 1996 wird die bisher größte deutsche die neuen Bundesländer deutlicher als erwartet Aktienplazierung sein. Die Börseneinführung und die zurückgehen, sollten die Steuereinnahmen auf Grund internationale Plazierung der Telekom-Aktien ist der konjunkturellen Entwicklung besser sein als bis- auch ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des Finanz- her erwartet, dann werden wir dies an den Bürger platzes Deutschland. zurückgeben. Auch die Restprivatisierung der Lufthansa und die Deshalb wird der Solidaritätszuschlag von 7,5 % zur Umsetzung der Bahnreform werden wir entschlossen Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer nicht in weiter betreiben. den neuen Steuertarif eingearbeitet. Damit machen wir deutlich: Der Solidaritätszuschlag darf keine Mit den Verträgen von Maastricht haben wir einen Dauerbelastung werden. konsequenten Prozeß zur weiteren politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas in die Wege gelei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tet. Nur wenn die europäischen Staaten auf der Meine Damen und Herren, unser Steuerrecht mit Grundlage nationaler Selbständigkeit, freiheitlicher vielen Ausnahmen, Vergünstigungen und Sonder- Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung ihre regeln ist zu kompliziert geworden. Im Interesse der Zusammenarbeit intensivieren, wird Europa sein Steuerzahler und der Finanzverwaltung gilt es, das internationales wirtschaftliches und politisches Ge- Ruder jetzt herumzuwerfen. Die Steuergesetzgebung wicht auf der Schwelle ins nächste Jahrtausend auf- muß wieder in ruhigeres Fahrwasser gebracht wer- rechterhalten können. den. Das Steuerrecht muß deutlich vereinfacht und - (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge transparenter gestaltet werden. ordneten der F.D.P.) Zur Steuervereinfachung habe ich bereits Anfang Der Ausbau der Europäischen Union muß dabei auf September ein Diskussionspaket vorgelegt. Dieser zwei Pfeilern aufbauen: Nach innen gilt es, die Union Plan ist in den Koalitionsverhandlungen akzeptiert durch institutionelle Reformen zu stärken und die worden und wird nun umgesetzt. Zusammenarbeit in der Innen-, Rechts- sowie in der Um auch mit den kommenden Gesetzgebungsvor- Außen- und Sicherheitspolitik zu verstärken. haben die Finanzverwaltungen nicht zu überlasten, Nach außen müssen wir die Gemeinschaft offenhal- werden wir sie in einem Gesetz, nämlich dem Jahres- ten für beitrittswillige und beitrittsfähige Staaten. steuergesetz 1996, zusammenfassen. Österreich, Finnland, Schweden und, ich hoffe, auch (Detlev von Larcher [SPD]: So toll ist das Norwegen werden hier am 1. Januar 1995 den Anfang machen. nicht!) Konsolidierung muß auch für Europa gelten. Spar- Meine Damen und Herren, Kostensenkung, Ratio- samste Haushaltsführung, Konzentration und Bünde- nalisierung und Steigerung der Produktivität sind für lung von Aufgaben sind notwendig. Darum müssen jedes Unternehmen im Wettbewerb eine Dauerauf- nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa alle gabe. Das gilt auch für den Staat. Unter dem Stichwort Programme auf den Prüfstand, ob sie noch notwendig „schlanker Staat" werden wir daher die kritische sind und ob sie ihren Sinn erfüllen. Durchleuchtung der Staatstätigkeit weiterführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Dabei haben wir bereits einiges erreicht. Nachdem ordneten der F.D.P.) durch die deutsche Einheit der Personalbestand bei den Bundesbehörden zunächst angewachsen war, Anläßlich der Revisionskonferenz 1996 wird das werden zwischen 1991 und 1995 fast 52 000 Stellen Funktionieren des Vertrags von Maastricht einer Prü- abgebaut. Das bedingt Arbeitsvereinfachungen, Ra- fung unterzogen und weiterentwickelt. Dabei stehen tionalisierung und Dezentralisierung. Bei 70 000 DM für uns die harten Kriterien nicht zur Disposition. In pro Stelle im Durchschnitt ist das zugleich eine dau- jedem Fall wird für den Beginn der dritten Stufe und erhafte Entlastung für den Haushalt von etwa 3,5 Mil- für die Auswahl der Teilnehmer allein die Erfüllung liarden DM pro Jahr. Bis 1998 werden wir weitere der im Vertrag niedergelegten Konvergenzkriterien 12 000 Stellen abbauen. entscheidend sein. Für uns gilt: Strikte Konvergenz Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 93

Bundesminister Dr. Theodor Waigel hat Vorrang vor starren Zeitplänen. Ich habe immer unternehmen wir einen mutigen Schritt, um diese auf ein Europa konzentrischer Kreise hingewiesen. Einbürgerung zu erleichtern. Verschiedene Integrationsdichten sind heute bereits (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS europäische Realität. Die Wirtschafts- und Währungs- SES 90/DIE GRÜNEN) union sieht eine Integration mit unterschiedlichen Die Zulassung der Mehrfachstaatsangehörigkeit Geschwindigkeiten ausdrücklich vor. muß auch in Zukunft die Ausnahme für echte Pro- Wie die Europäische Union muß sich auch die blemfälle bleiben. Nordatlantische Allianz Schritt für Schritt den osteu- (Beifall bei der CDU/CSU) ropäischen Reformstaaten öffnen. Dies läßt sich nur auf der Grundlage einer dauerhaften und verläßlichen Gegen ausländerfeindliche Ausschreitungen hilft der Partnerschaft mit Rußland und den anderen Nachfol- Besitz von zwei oder mehreren Pässen nicht. Hier hilft gestaaten der Sowjetunion verwirklichen. In der jetzi- nur ein konsequenter Einsatz von Polizei und Justiz. gen Zeit des weltweiten Umbruchs und der damit (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) verbundenen Unsicherheit bleibt die NATO das Fun- Gleiches gilt für jene Ausländer, die sich bei uns dament der äußeren Sicherheit des geeinten Deutsch- schwerkrimineller Vergehen schuldig machen und lands. die entsprechend dem geltenden Ausländerrecht kon- Die Gewährleistung der inneren Sicherheit muß zu sequent verfolgt und auch abgeschoben werden müs- einem Schwerpunkt der politischen Arbeit der kom- sen. menden vier Jahre werden. Wir brauchen ein gemein- Meine Damen und Herren, wir haben den politi- sames nationales Sicherheitsprogramm gegen die sich schen Kurs für die kommenden vier Jahre abgesteckt. immer stärker ausbreitende internationale Kriminali- Das Regierungsprogramm ist eine Plattform, in der tät von Rauschgift- und Waffenhändlern genauso wie sich jeder Koalitionspartner wiederfindet; es ist ein gegen die besorgniserregende Massenkriminalität, Kompromiß, ein demokratischer Interessenausgleich vom Autodiebstahl angefangen bis hin zu den Woh- aller drei Koalitionspartner. Es verdeutlicht den Vorrat nungseinbrüchen. an Gemeinsamkeiten zwischen CDU, CSU und der F.D.P. Die CSU steht zur Koalition der Mitte. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) werden weiterhin eine stabilisierende Kraft dieser Koalition sein. Wir haben in der zurückliegenden Legislaturpe- riode wichtige Maßnahmen zur besseren Verbre- Nach dem Ende des Kalten Krieges befinden wir chensbekämpfung auf den Weg gebracht. Wir werden uns inmitten einer grundlegenden Zeitenwende. in den vor uns liegenden Monaten die Effizienz dieser Deutschland ist wiedervereinigt; Europa gibt sich eine Maßnahmen gegen die Geldwäsche und die organi- neue Struktur. sierte Kriminalität überprüfen. Wir werden das Meine Damen und Herren, in seiner ersten Rede vor gesetzliche Instrumentarium verbessern, wo es not- dem Deutschen Bundestag hat der Abgeordnete wendig ist. - Heym darauf hingewiesen, man könne und dürfe die Einheit nicht vordringlich dem Finanzminister über- Das neue Asylrecht greift. Viele haben das vor zwei lassen. Das ist richtig. Nur, der Bundesfinanzminister, Jahren nicht für möglich gehalten. das Finanzministerium und die Finanzpolitik haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Einheit ordneten der F.D.P.) geleistet, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Unsere Änderung war notwendig, sinnvoll und erfolg- ordneten der F.D.P.) reich. Die Zahl derjenigen, die ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen bei uns Asylanträge stellen, während Herr Heym zur deutschen Einheit nichts, hat erheblich abgenommen. Wir wollen diese Politik aber auch gar nichts beigetragen hat. konsequent fortsetzen und den gezielten Kampf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gegen das unmenschliche Schlepperwesen verschär- ordneten der F.D.P.) fen. Deutschland kann in diesem Prozeß seiner politi- Für die politisch tatsächlich Verfolgten bleibt unser schen und historischen Verantwortung nur gerecht Tor offen. Aber das Asylrecht ist kein wirksames werden, wenn wir den Kurs der politischen Mitte, der Instrument zum Abbau des Wohlstandsgefälles zwi- Verläßlichkeit nach außen und der Stabilität nach schen Westeuropa und den Ländern der dritten oder innen beibehalten und allen extremen Positionen, ob der vierten Welt. von links oder von rechts, eine klare Absage ertei- len. (Zuruf von der SPD: Das stimmt!) Für unsere Ausländerpolitik muß gelten: weitere Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Wai- Begrenzung der Zuwanderung bei gleichzeitiger ech- gel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne- ter Integration der rechtmäßig und längerfristig bei ten Duve? uns lebenden ausländischen Mitbürger.

(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Mit der Einführung des Instituts der Staatszugehörig Ja, weil er sich vorhin in der Finanzpolitik lernfähig keit für Ausländerkinder der dritten Generation gezeigt hat. 94 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Freimut Duve (SPD): Herr Bundesminister, sind Sie der Franco-Zeit auseinanderzusetzen, und daß die — auch bei Passagen starker Polemik — bereit, demokratischen Parteien vereinbart hatten, nach anzuerkennen, daß ein Beitrag zur deutschen Einheit vorne zu schauen; denn eine allzu hartnäckige und durch einen Literaten, durch einen Autor, der in allen administrative Aufarbeitung der Franco-Zeit hätte zu deutschsprechenden Staaten gelesen wird, immer Ergebnissen geführt, die dem ganzen spanischen geleistet wird und daß bei Ihrem Urteil über Herrn Volk nicht zugute gekommen wären. Er hat aber Heym seine Leistung als Autor nicht berücksichtigt gleich hinzugefügt: Ich weiß, daß das bei euch sicher- worden ist? lich anders ablaufen wird. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: wirklich Veranlassung hätten, bei dieser Auseinan- Daß Herr Heym auf deutsch schreibt, ist kein Beitrag dersetzung nicht in unehrliche Polemik zu verfallen. zur Wiederherstellung der politischen, sozialen und Genau das werfe ich der CDU/CSU hier an erster kulturellen deutschen Einheit. Stelle vor. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten SPD) der PDS) — Sie können sich beruhigen, ich komme zum Schluß. Ich finde, Ihr Umgang mit dem Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages ist nicht gerade ein Glanz- (Zuruf von der CDU/CSU: Weiter so!) stück der deutschen Parlamentsgeschichte gewesen. Deutschland wird in der internationalen Völkerge- Wenn Sie Herrn Heym und seine Rolle in dem System meinschaft als friedliebender, gleichberechtigter überhaupt würdigen wollen, empfehle ich Ihnen ein- Partner respektiert und geschätzt. Diesen Weg konse- mal, den „König-David-Bericht" zu lesen — ich bin quent weiterzugehen, das ist die wichtigste Aufgabe sicher, daß nicht einmal 5 % Ihrer Fraktion das Buch in der 13. Legislaturperiode. der Hand gehabt haben —; dann wüßten Sie, daß er Ich danke Ihnen. sich hier in Form eines Gleichnisses, einer Parabel (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eben auch mit diesem System und seinen Denkverbo- ten auseinandergesetzt hat. Meine Damen und Her- ren, ich bitte Sie, Ihre Haltung noch einmal zu Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt überprüfen. der Ministerpräsident des Saarlandes Oskar Lafon- taine. Zweitens. Es ist nun einmal eine Tatsache — das muß klargestellt werden und geht an Ihre Adresse, Herr Dr. Kohl und Herr Dr. Schäuble —, daß Sie auf Ministerpräsident (Saarland): Oskar Lafontaine kommunaler Ebene und auf der Ebene der Landkreise Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mit der PDS eine Koalition haben. Herren! Erlauben Sie mir zunächst zwei grundsätz- liche politische Bemerkungen. In dieser Debatte ist (Detlev von Larcher [SPD]: Hemmungslos!) wiederum mehrfach — in moderater Form in der Wer angesichts dieses Sachverhalts so redet, wie Sie Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, in etwas pole- das immer tun, ist entweder nicht ganz normal oder mischerer Form in der Erklärung des Fraktionsvorsit- pharisäerhaft. Ich muß das hier in aller Klarheit zenden der CDU/CSU und auch jetzt wieder in dem sagen. Beitrag des Bundesfinanzministers und CSU-Vorsit- (Beifall bei der SPD und der PDS) zenden — die Frage des Umgangs mit der PDS und der DDR-Vergangenheit Gegenstand der Erörterun- Drittens. Ich würde auch gegenüber den Mitglie- gen gewesen. dern der ehemaligen Blockparteien hier gerne anders Erlauben Sie mir dazu zunächst eine Bemerkung: argumentieren. Aber durch Ihre unehrliche, phari- Ich habe es im Vorfeld dieser Auseinandersetzungen säerhafte Vorgehensweise erzwingen Sie eine Aus- für richtig gehalten, dem spanischen Ministerpräsi- einandersetzung, die nicht gerade der Integration denten Felipe Gonzalez eine Frage zu stellen, als ich dienlich ist. Sie mögen es ja für richtig gehalten haben, einmal die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. trotz der Warnung Ihres ehemaligen Generalsekre- Herr Bundeskanzler, ich duzte ihn schon, bevor Sie tärs, Herrn Rühe, der damals auf die Integration der ihn kannten. Blockparteien angesprochen, noch sagte: Wer sich neben einen solchen stinkenden Haufen stellt, (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Mit beginnt selber zu stinken. Sie mögen es ja im nach- Honecker auch!) hinein anders gesehen haben, aber dann stehen Sie — Wenn ich jetzt alle aus Ihren Reihen vorführen auch dazu. Versuchen Sie nicht, auf pharisäerhafte würde, die sich bei Honecker angebiedert haben, Art und Weise unterschiedliche Maßstäbe anzule- müßte ich meine Redezeit damit ausschöpfen. gen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die standen auf der Leipziger Messe immer Schlange; deshalb bin ich schon gar nicht mehr dahin gegangen, Die Blockparteien haben das System, die Mauer, den meine Damen und Herren. Also lassen wir das Stacheldraht und all die Fehlentwicklungen mitgetra- Thema. gen. Felipe Gonzalez hat mir damals gesagt, daß es für Hören Sie endlich auf mit dieser Diskussion! Sie ein Land wie Spanien natürlich schwierig war, sich mit gewinnen dabei keinen Blumentopf. Sie haben bei Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 95

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) uns keine Möglichkeit, diese Diskussion so zu führen, geringachteten. Auch hier möchte ich Ihre Heransge- daß wir in irgendeiner Form vor Ihnen zurückweichen hensweise ausdrücklich unterstützen. müssen. Einigkeit besteht darin, daß der Ausgabenanstieg (Freimut Duve [SPD]: Jetzt stinkt es gewal des Gesamthaushaltes und der Einzelhaushalte tig!) immer unter dem nominalen Anstieg des Bruttosozi- alproduktes liegen muß. Wir haben sonst keine Herr Dr. Schäuble hat den Bundesrat angespro- Chance einer längerfristigen Perspektive für die Kon- chen. Nun komme ich zu dem Anliegen, das ich hier solidierung der öffentlichen Haushalte. heute vortragen wollte. Er hat wieder gesagt: Der Bundesrat möge keine Obstruktionspolitik betrei- Ich möchte für die Sozialdemokraten diese Heran- ben. gehensweise nachdrücklich und ausdrücklich unter- stützen. Dabei versteht es sich von selbst, daß wir nicht Meine Damen und Herren, ich sage jetzt für den nur in den Ländern — das sollte hier auch einmal Bundesrat: Das ist eine falsche Herangehensweise an registriert werden; wir sollten uns das nicht gegensei- die Aufgabe, die wir zu lösen haben. Wir haben die tig, wie vorhin im Fall des Landes Niedersachsen Aufgabe, die unterschiedlichen Mehrheitsverhält- wieder geschehen, um die Ohren schlagen — bei der nisse zu respektieren, zu wissen, daß es unterschied- Konsolidierung der Haushalte die Personalausgaben liche Vorstellungen gibt, und bei unseren Vorschlä- zurückfahren müssen. gen die unterschiedlichen Vorstellungen, die es mm einmal gibt, zu berücksichtigen. Da hat es keinen Das gilt für den Bund und für die Länder. Es ist wenig Sinn, der jeweils anderen Seite vorzuwerfen, sie suche sinnvoll, sich das dann gegenseitig immer wieder um nicht die Kooperation oder sie betreibe Obstruktion. die Ohren zu schlagen. Wenn es um Kooperation und Zusammenarbeit geht, Wir sollten aber so ehrlich sein, gleich hinzuzufü- sind Bundesrat und Bundestag gleichwertige Organe. gen, daß dies über kurze F rist — das gilt auch für die Sie sollten das bei Ihren Formulierungen im Interesse mittelbaren Bereiche Post und Bahn — natürlich nicht der Zusammenarbeit berücksichtigen und beherzi- zu einer Steigerung der Beschäftigung führen wird, gen. sondern nur längerfristig, indem produktivere Investi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionen durch sparsame öffentliche Haushalte ermög- Nun komme ich zu dem Gegenstand, zu dem ich licht werden. heute sprechen wollte, zur Wirtschafts- und Finanzpo- Soweit meine Bemerkungen zu Ihrem Herangehen litik. an die bisherigen Probleme. Ich nehme an, daß Sie erkennen, daß es hier nicht um Polemik um ihrer (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Für selbstwillen geht. Wirtschaft ist doch Schröder zuständig!) Natürlich bin ich auch hierhergekommen, um zu — Ach Gott, Herr Dr. Schäuble, Sie haben schon erfahren, wie die Fragen, die wir nun seit Monaten bessere Zwischenrufe gemacht. Sie sind für alles - und Jahren erörtern, von Ihrer Seite angegangen und zuständig, insofern sind Sie ein ganz großer M ann. gelöst werden sollen. Es ist keine Polemik, wenn ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) feststelle, daß die Erklärungen doch bisher reichlich unverbindlich waren. Ich bedauere dies. Die Länder — Gucken Sie genau, wer da klatscht; sie sollten von und die Gemeinden warten darauf, daß sie für ihre den Hinterbänken aufrücken dürfen. Planungen der nächsten Jahren wissen, wie es jetzt (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) mit der Steuerpolitik weitergeht, welche Einnahme- ausfälle sie zu verkraften haben, welche Umschich- Ich komme zunächst einmal zur Haushaltspolitik tungen eventuell zu erwarten sind. Daher hätten wir und möchte sagen, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Ich uns gewünscht, daß trotz der Schwierigkeiten konkre- halte es für richtig, daß der Bundesfinanzminister in tere Ankündigungen gekommen wären, wie denn die den Verhandlungen, auch in den Koalitionsverhand- einzelnen Fragen zu lösen seien. lungen, Überlegungen widerstanden hat, leichtfertig auf öffentliche Einnahmen zu verzichten. Er hat die (Beifall bei der SPD) Situation der öffentlichen Haushalte, hier weniger auf Ich spreche zunächst das Existenzminimum an. die Maastricht-Kriterien bezogen, relativ positiv dar- Herr Kollege Waigel, da werden Sie nicht sagen gestellt. Ich werde dazu nachher noch etwas sagen. können, wir würden Sie jetzt unnötig unter Zeitdruck Ich habe es aber im Interesse des Ganzen für richtig setzen. Sie selbst und die Bundesregierung haben gehalten, nicht leichtfertig vorzeitige Ankündigun- bereits mehrfach angekündigt, für den Sommer dieses gen in die Welt zu setzen, die die öffentlichen Haus- Jahres entsprechende Vorlagen zu erarbeiten. halte wiederum in Schwierigkeiten bringen wür- (Zurufe von der SPD: Ja, ganz konkret! — Ein den. Gesamtkonzept!) Zweitens. Ich habe bereits vor der Wahl signalisiert, Nun ist das, wie wir vermutet haben, im Hinblick auf daß die Herangehensweise an das Existenzminimum den Wahlkampf nicht geschehen. Dann haben wir unsere Unterstützung findet. Es wäre sicherlich ver- gedacht, Sie hätten das Expertengutachten zurückge- messen, wenn wir von einer Größenordnung von über halten, hätten daraus vielleicht einige Vorschläge 40 Milliarden DM reden und uns dabei selbst täuschen realisieren wollen und hätten aus Opportunitäten der würden, wenn es darum ginge, solche Einnahmeaus- Wahlkampfführung heraus bis zum Wahltag ver- fälle zu verkraften, und wenn wir die Schwierigkeiten, schwiegen, daß Sie solche Pläne haben. Aber auch die aufkämen, wenn man das anders lösen würde, zu dies scheint nun ein Irrtum zu sein. 96 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Nun frage ich aber, nachdem Sie die Vorschläge der Wenn man dann andere Lösungen als eben die Expertenkommission verworfen haben und nachdem einer Veränderung des Tarifs mit stärkerer Besteue- Sie hier etwas zu den Vorschlägen des nordrhein- rung der höheren Einkommen hat, dann soll man sie westfälischen Finanzministers gesagt haben: Wo sind hier vortragen, und dann soll man auch die ökonomi- denn eigentlich ihre Vorschläge? sche Schlüssigkeit vortragen. Dann sind wir zu einem Gespräch bereit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Das zweite ist der Familienlastenausgleich. Der PDS — Zuruf von Bundesminister Dr. Theo- Kollege Scharping und der Kollege Fischer haben, dor Waigel) wenn ich das richtig mitbekommen habe, ja bereits darauf hingewiesen. Nun hören wir aus dem Papier Der Herr Bundesfinanzminister sagt, ich solle noch der Kirchen, wie schlecht es den Familien geht. Das ist ein Weilchen warten. Aber wir haben jetzt schon viele ja aus der Sicht der Kirchen auch verständlich. Aber Weilchen gewartet. wenn Sie in allen Erklärungen immer wieder sagen, (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Bis wie schlecht es den Familien geht und daß der zum Christkind!) Familienlastenausgleich ungerecht ist, und wenn der Bundespräsident, der ja bestimmt unverdächtig ist, — Bis zum Christkind sollen wir warten. Immerhin ist sagt, der Familienlastenausgleich in unserem Lande das eine Perspektive, die wir haben. ist ungerecht, und das Steuerrecht ist familienfeind- lich, dann sind doch die Fragen aufzuwerfen: Wer ist (Zurufe von der SPD) denn dafür verantwortlich? Wer hat denn zwölf Jahre Ob dies dann aber wirklich ein Geschenk Gottes zu regiert? Weihnachten wird, das weiß ich natürlich nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber bitte jetzt ernsthaft: Es ist wirklich ein Vorwurf, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Mül den man Ihnen machen muß, daß Sie die Vorlage viel ler [Berlin] [PDS]) zu lange verzögern. Dies ist für die Planungen des Sie mögen ja, wie das der Kollege Schäuble wieder Gesamtstaates und natürlich auch der Gemeinden, getan hat, unsere Vorschläge für falsch halten, aber der Länder und der Wirtschaft schädlich. dann legen Sie doch einmal Ihre Vorschläge auf den (Beifall bei der SPD) Tisch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich war gestern auf der Tagung eines Wirtschafts- verbandes und wurde immer wieder gefragt und auch Außer allgemeinen und unverbindlichen Ankündi- immer wieder auf die unterschiedlichsten Modelle gungen, daß man die Freibeträge wieder erhöhen und angesprochen. Ich habe dafür plädiert, auch die natürlich beim Kindergeld etwas tun will, habe ich Vorschläge der Bareis-Kommission nicht in Bausch nichts gelesen und nichts gehört. - und Bogen zu verdammen, sondern sie objektiv zu (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll diskutieren, weil sich der wissenschaftliche Sachver- mer) stand ja allmählich verarscht, entschuldigen Sie, vor- kommen muß, wenn er monatelang in Anspruch Meine Damen und Herren, wir teilen die Auffas- genommen wird, aber dann, sobald Vorschläge vor- sung der Kirchen, daß über die Kinderfreibeträge nun gelegt werden, in Bausch und Bogen verdammt wird. einmal die Kinder wohlhabender Familien über Das ist eine falsche Herangehensweise, meine Damen Gebühr vom Staat gefördert werden. Daher halten wir und Herren. Ihre in Umrissen bekannten Vorschläge für falsch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) In bezug auf das Existenzminimum haben wir also Nun komme ich zur Unternehmensteuerreform. Sie keine Vorlage der Bundesregierung. Wir wissen nicht, haben gesagt, sie wollen die Gewerbekapitalsteuer wie es weitergehen soll. Sie haben bei der Ergän- abschaffen. Dazu ist allerhand zu sagen. Zunächst zungsabgabe bei den Vorstellungen des Herrn Kolle- einmal ist es interessant, daß man jetzt von unter- gen Schleußer wieder gegen leistungsfeindliche schiedlichen Modellen hört, wie das denn finanziert Besteuerung polemisiert. Erlauben Sie mir hier noch werden soll. Auch da lautet mein Vorwurf: Die Ankün- einmal eine Wiederholung, meine Damen und Her- digung nützt doch wenig, wenn Sie nicht sagen, wie ren. Die Tatsache, um das einmal ganz klar zu sagen, das finanziert werden soll. daß das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß widerrechtlich über 40 Milliarden DM unten Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß der weggesteuert werden, ist nicht ein Skandal für die Herr Kollege Schäuble auf dem Forum des „Handels- oberen Einkommensschichten und die Leistungsträ- blatts" einen bestimmten Vorschlag gemacht hat. Sie ger, von denen Sie jetzt wieder gesprochen haben. Es haben den jetzt noch in Ihr Manuskript eingebunden. ist ein Skandal für die unteren Einkommensschichten. Das ist ja auch in Ordnung. Sie selber, Herr Kollege Das ist der entscheidende Unterschied. Waigel, haben hier — da war der Vorschlag von Herrn Schäuble noch nicht enthalten — gesagt: Die Gemein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den sollen einen fairen Ausgleich erhalten, am besten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der durch einen orts- und wirtschaftsbezogenen Anteil an PDS) der Umsatzsteuer. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 97

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Natürlich stellen wir dann die Fragen: Wer soll denn Thema zu einer Lösung zu führen. Doch es bleibt diesen Anteil an der Umsatzsteuer aufbringen? Soll gleichwohl auf der Tagesordnung. die Umsatzsteuer erhöht werden? Ich habe immer wieder versucht, von Ihnen Klarheit zu erhalten. Das Statt dessen — ich sage das auch auf Grund der haben dann alle — ob es ihnen heute leid tut, weiß ich jüngsten Diskussionen — sind Sie dann hingegangen nicht — dementiert. Sie müssen sagen, wer etwas und haben den ordnungspolitischen Sündenfall der abgeben soll, meine Damen und Herren. Es hat doch letzten Legislaturperiode begangen, indem Sie die keinen Sinn, immer wieder solche Geschichten in die Pflegeversicherung beitragsfinanziert gestaltet und Welt zu setzen. damit die Lohnnebenkosten noch weiter in die Höhe getrieben haben. Ich sage das hier einmal in aller (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klarheit — auch für viele Kollegen aus dem Bundes- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rat — : Dies war der ordnungspolitische Sündenfall der Weder beim Existenzminimum noch beim Familienla- letzten Legislaturperiode. stenausgleich, noch bei der Unternehmenssteuerre- form ist also irgendeine Klarheit geschaffen. Wenn ich jetzt sehe, daß an dem mühsam erarbei- teten Kompromiß wieder überall — auch von den Ich will Ihnen zur Gewerbesteuerreform noch CDU-Fraktionsvorsitzenden und von einzelnen Bun- etwas sagen, meine Damen und Herren: Manchmal ist desländern — herumgefummelt wird, dann stellt sich es auch gut, wenn hier Leute tätig sind, die über allmählich die Frage, was Absprachen überhaupt längere Zeit in Gemeinden Verantwortung hatten. noch wert sind. Dann wüßten Sie vielleicht — Herr Kollege Kinkel ist — — (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Die Pflegeversicherung ha (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Glauben ben doch Sie gefordert!) Sie, Sie sind das alleine?) — Ich bin dankbar, daß noch einer dabei ist. Ich — Herr Kollege Solms, ich schicke Ihnen gerne das begrüße Sie herzlich. Regierungsprogramm zu, für das ich 1990 gestanden habe. Darin stand — richtigerweise, wie ich es sehe —: (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Steuerfinanzierte Lösung mit Bedürftikgeitsprüfung. Ich spreche das nur an, weil der Kollege Kinkel hier Die Lösung für die jetzt auch die F.D.P. gestimmt hat, Ausführungen gemacht hat, daß der Mittelstand nicht ist eine Lösung zur Schonung der Vermögenden und genügend gefördert würde und daß insbesondere die der Erben, und diese halte ich ordnungspolitisch für Sozialdemokraten da besondere Versäumnisse hät- falsch, um das einmal in aller Klarheit zu sagen. ten. Es wäre einmal an der Zeit, daß bei Ihnen bekannt würde, daß die große Mehrheit, und zwar zwei Drittel (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto der Betriebe, überhaupt keine Gewerbesteuer zahlt. Solms [F.D.P.]: Sie haben doch zuge - stimmt!) (Beifall bei der SPD) — Hier haben wir uns ein bißchen auf Sie verlassen, Es wäre notwendig, daß Sie das einmal klarmachen, aber da war unser Kalkül leider nicht ganz richtig. wenn Sie von Klein- und Mittelbetrieben reden. Sie können ja nicht diese zwei Drittel der Betriebe als Statt eine Minderheit von Unternehmen zu entla- nichtexistent bezeichnen und deren Beitrag für den sten, müßten wir in einer Situation, in der wir viel Arbeitsmarkt ignorieren, meine Damen und Herren. zuwenig Beschäftigung haben, die erste Priorität dort (Beifall bei Abgeordneten der SPD) setzen und nicht bei einer Minderheit von Unterneh- men. Wenn Sie es sich genauer ansehen, ist es eine Etwas gemeindliche Praxis wäre vonnöten. Dann verschwindend geringe Zahl von Unternehmen, die käme es nicht zu Vorschlägen, die in der Priorität den Löwenanteil der Gewerbesteuer aufbringen. Das falsch gesetzt sind. scheint Ihnen gar nicht klar zu sein. Man darf nicht bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der verschwindenden Minderheit von Unternehmen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des ansetzen, sondern muß es bei der großen Mehrheit, Abg. Manfred Müller [Berlin] [PDS]) also bei denen, die Beschäftigung schaffen — das ist auch der kleinste Unternehmer mit einer Halbtags- Viel sinnvoller nämlich wäre es, statt bei der Gewer- kraft —, und dort muß man die Lohnnebenkosten besteuer immer wieder irgendwelchen Forderungen senken. Das wäre prioritär, würde den Standort nach entgegenzukommen, dann aber andere Prioritäten vorn bringen und der Beschäftigung dienen. nicht setzen zu können, die Lohnnebenkosten endlich zurückzufahren, die an der Grenze nicht hängenblei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben und die in einer Exportnation wie der unsrigen auf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dieser Höhe nicht bleiben können und schon gar nicht PDS) immer weiter nach oben gefahren werden können. Dies kann auch gegenfinanziert werden, wenn man (Beifall bei der SPD) denn bereit ist, mutige Schritte zu machen, indem man Hier ist leider in den letzten Jahren nichts gesche- dies mit der ökologischen Steuerreform verbindet, hen. Der Kollege Biedenkopf und ich haben bei den wie wir oft genug gesagt haben. Daß sich hier die Verhandlungen zum Solidarpakt versucht, das Thema Koalition nicht zu einer klaren Auffassung durchrin- einmal einzuspeisen. Aber vielleicht war die Zeit bei gen kann, daß jetzt selbst Herr Necker für den BDI diesen schwierigen Verhandlungen nicht reif, das zumindest verbal einen größeren Reformeifer an den 98 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Tag legt als die Koalition, ebenso der Wirtschaftsver- Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen zur band, bei dem ich gestern zu sprechen hatte, Wirtschafts- und Währungsunion. Ich habe mit Inter- esse dem zugehört, was Sie jetzt vorgetragen haben. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da waren Sie Der Bundeskanzler hatte sich hinsichtlich des Zeit- aber nicht besonders gut, ist mir gesagt plans heute morgen etwas anders geäußert. Ich will worden!) ausdrücklich unterstreichen, daß der Zeitplan nicht ist nicht verständlich. das erste Kriterium sein darf — wie Sie es hier angeführt haben —, sondern es muß sicher sein, daß Ich möchte daher wiederholen, was Rudolf Schar- diese Währungsunion tatsächlich eine Stabilitäts- ping hier bereits angesprochen hat: Diese Koalition ist union wird und daß die Stabilitätskriterien nicht leider nicht mehr in der Lage, solche entscheidenden aufgeweicht werden. Selbst wenn Sie, Herr Kollege Reformschritte auf den Weg zu bringen, die wir Waigel, das in guter Absicht getan haben und wenn es eigentlich schon viel früher gebraucht hätten. auch Argumente dafür gibt — Sie haben sie ja schon mehrfach vorgetragen —: Die Kritik, die national und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ international aufgekommen ist, hat sicherlich ihre DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Berechtigung. Denn der Verdacht, daß allzusehr poli- PDS) tisch statt nach objektiven ökonomischen und finanzi- Meine Damen und Herren, wenn Sie sich hinter der ellen Kriterien entschieden werden könnte, ist ja auf Europäischen Gemeinschaft verstecken, dann wer- Grund der Geschichte der Europäischen Union nicht den wir eines Tages feststellen, daß wir dieses Reform- von der Hand zu weisen. vorhaben viel zu spät auf den Weg gebracht haben (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ich und daher diesem Standort keinen Dienst erwiesen selber habe das kritisiert!) haben. — Ja. Ich sage also: Wir wollen an den Stabilitätskri- Ich sage es noch einmal: Unser Vorsprung auf dem terien festhalten. Aber ich füge hinzu: Sie allein Gebiet der Umwelttechnik und Umweltwirtschaft ist reichen ökonomisch gesehen nicht aus. Nach diesen nicht das Ergebnis einer gezielten Politik, sondern das Kriterien erfüllt auch Malaysia die Voraussetzungen, Ergebnis des außerparlamentarischen Engagements in die europäische Wirtschaftsunion aufgenommen zu vieler Bürgerinnen und Bürger, die in unserer Gesell- werden. schaft das Klima dafür bereitet haben, daß wir in Deutschland frühzeitig und rechtzeitig mit dem (Widerspruch bei der CDU/CSU) Umweltschutz begonnen haben. — Das ist nun einmal so. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Aber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nur eine geringe Chance! Die haben auch PDS — Zurufe von der CDU/CSU) keinen Antrag gestellt!) Meine Damen und Herren, ich habe hier auch Ich will damit nur sagen: Es handelt sich um einen wieder gehört, daß die Steuervereinfachung ein ökonomischen Prozeß, der mit Haushaltskriterien Thema ist. Auch da müßten wir natürlich konkret allein nicht zu beschreiben ist. Oder anders ausge- werden. Das Ziel ist unstreitig. Sie wissen selbst, Herr drückt: Bei dem Zusammemschluß verschiedener Kollege Waigel, wie Ihre Vorschläge, auf die Sie Volkswirtschaften unter dem Dach einer gemeinsa- Bezug genommen haben, kommentiert worden sind. men Währung spielen die Produktivität und die Lei- Ich hatte ja bereits bei der letzten Bundesratsausein- stungsfähigkeit der Volkswirtschaften die entschei- andersetzung darauf hingewiesen, daß allein zu dende Rolle, nicht die schlichten Haushaltskriterien. Beginn dieses Jahres — ich wollte es zunächst selbst Wenn das wieder übersehen wird, kommt es zu nicht glauben — über 100 neue Rechtsvorschriften in Fehlentwicklungen, die wir nicht wollen. Kraft getreten sind. Ich will das nicht Ihnen allein Sie haben wiederum von den zwei Geschwindigkei- vorwerfen; denn das wäre wirklich unfair. Wir sind da ten gesprochen. Das ist ein Problem. Als diese Gedan- ja alle beteiligt. Aber man faßt sich allmählich nur ken zum erstenmal vorgetragen wurden, habe ich noch ans Hirn, wenn man sieht, in welchem Umfang mich dazu geäußert. Es haben sich auch andere über Gesetze und Verordnungen das Steuerrecht so geäußert. Ich will es noch einmal ansprechen. Es gab kompliziert gemacht worden ist, daß es sozial unge- einmal einen Konsens, daß man zuerst die politische recht geworden ist. Union anstrebt und dann die Wirtschafts- und Wäh- rungsunion. Als der Vertrag von Maastricht auf den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weg gebracht worden ist, hat man den gegenteiligen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Weg gewählt. Das wurde damals auch gleich kritisiert. Wenn Finanzwissenschaftler sagen, Steuern zahlten Nun ist man in dem Spannungsverhältnis, daß dieje- nur noch die Dummen — wie wir jetzt wieder lesen nigen, die sich politisch zur Europäischen Gemein- konnten —, dann ist das doch ein Alarmsignal und ein schaft bekennen, nicht gleichzeitig die strengen Vor- Auftrag an uns alle, die Steuervereinfachung jetzt aussetzungen einer Währungsunion erfüllen. Dieses wirklich beherzt und energisch anzugehen. Hierzu Dilemma gilt es so zu lösen — hier kommt uns erwarten wir nun einmal, Herr Bundesfinanzminister, besondere Verantwortung zu —, daß es bei den Vorschläge, die — ich sage das ganz klar — über die kleineren und insbesondere bei den schwächeren Ankündigungen, die Sie vor einigen Monaten oder Staaten in Europa nicht zu Mißtrauen kommt. Das ist Wochen vorgelegt haben, hinausgehen. Wir brauchen die schwierige Aufgabe. Ich sage hier in diesem hier energischere Schritte. Parlament noch einmal: Mir wäre der andere Weg Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 99

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) lieber gewesen. Die europäischen Staaten sind den arbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dikta- Maastrichter Weg gegangen. Wir haben das als Aus- tur in Deutschland" gehabt. Dort ist nachzulesen, wie gangsposition zu respektieren. Aber wir sollten alles das geschichtlich zu beurteilen ist. Darauf will ich gar daransetzen, daß es hier nicht zu einer Fehlentwick- nicht eingehen. Das Entscheidende ist: Es ist völlig lung und zu einem Aufweichen der Stabilitätskriterien unseriös, kommt. (Freimut Duve [SPD]: Daß die einen dahin Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Es gegangen sind und die anderen weiterge ist kein polemischer Vorwurf, wenn Ihnen verschie- macht haben?) dene Sprecher dieses Hauses vorgeworfen haben, daß Ihre Regierungserklärung und Ihre Koalitionsverein- die Mitglieder der Blockparteien, die sich demokrati- barung Dokumente der Schwäche sind. Ich habe ein schen Parteien angeschlossen haben, genauso wie die Angebot gemacht, indem ich Ihnen gesagt habe, Herr früheren Mitglieder der SED, die jetzt möglicherweise Kollege Waigel, wo wir Ihren Ansatz unterstützen. Das bei Ihnen oder bei anderen Parteien sind, und die gilt auch für den Bundesrat. Ich habe versucht, deut- SED-Mitglieder, die heute noch in ihrer alten Partei lich zu machen, daß wir zur Lösung der anstehenden sind und die alte Politik weitermachen, in einem Topf Fragen auch gesprächsbereit sind. Aber Sie müssen zu werfen. sich schon der Aufgabe unterziehen, die konkreten Fragen zu beantworten: Wie wollen Sie das Existenz- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — minimum freistellen, und wie wollen Sie das finanzie- Widerspruch bei der SPD) ren? Das ist doch ein Unterschied, und deswegen halte ich (Beifall bei der SPD) das für unseriös. Jeder muß doch das Recht haben, sich Wie wollen Sie den Familienlastenausgleich gestal- zum demokratischen Staat zu bekennen und daran ten, und wie wollen Sie das finanzieren? Wie wollen mitzuwirken, wie auch immer seine Vergangenheit Sie die Gewerbesteuersenkung gegenfinanzieren? war. Sie sollten sich nicht mit vagen Ankündigungen des (Zurufe von der SPD und der PDS) Kollegen Schäuble oder auch Ihren Erklärungen, die ich hinterfragt habe, begnügen. Sie sollten endlich Aber das heute in einen Topf zu werfen ist völlig erkennen — Stichworte: Pflegeversicherung und Ver- unzulässig. doppelung der gesetzlichen Lohnnebenkosten in den letzten zwanzig Jahren —, daß es sich bei den Lohn- (Detlev von Larcher [SPD]: Nein, es ist für Sie nebenkosten um ein vorrangiges Strukturproblem unangenehm!) unserer Volkswirtschaft handelt und daß wir hier Das muß ich hier noch einmal sagen. Prioritäten setzen sollten. Wir bieten an, die ökologi- sche Steuerreform damit zu verbinden. Weiter zur Pflegeversicherung, Herr Lafontaine. Meine Damen und Herren, wenn wir den Proble- Das ist nun auch wieder eine Geschichtsklitterung. - men ausweichen, stabilisieren wir vielleicht für eine Hätten Sie in den, weiß Gott, schwierigen Beratungen, Zeitlang eine Koalition. Aber unserem Lande haben die sich über Monate und Jahre hingezogen haben, wir damit nicht gedient. die Position durchgehalten und vertreten, daß die Pflegeversicherung jedenfalls für die heute Pflegebe- (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall dürftigen und für die pflegenahen Jahrgänge steuer- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei finanziert werden müßte und daß für die jüngeren der PDS) Jahrgänge ein Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut werden kann, dann hätten wir sehr schnell ein viel Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt besseres Modell gefunden. der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Hermann Otto (Beifall bei der F.D.P.) Solms. (Freimut Duve [SPD]: Das war eine Pre Aber Sie sind ja von Ihren Grundüberlegungen miere!) abgewichen, haben das beitragsfinanzierte System von Herrn Blüm unterstützt, auch über die Bundeslän- der, und damit ist diese Pflegeversicherung, wie wir Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Frau Präsidentin! sie heute haben, verabschiedet worden, und zwar im Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die einfüh- Bundestag genauso wie im Bundesrat. Sie haben renden Worte von Herrn Lafontaine bringen mich zugestimmt, nicht nur wir. dazu, von meinem Konzept abzuweichen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Der Bun (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD — desrat hat sie noch verschlechtert!) Freimut Duve [SPD]: Bravo!) und auf die wirklich höchst unsoliden und unseriösen Sie haben zugestimmt, ganz persönlich. Bemerkungen (Beifall bei der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was? — Freimut Duve [SPD]: Vorsitz!) Deswegen bitte ich: Machen Sie hier nicht so eine zur Tätigkeit von Blockparteien und Blockparteimit- Fehldarstellung. So ist die Sache zustande gekom- gliedern einzugehen. men. Meine Damen und Herren, wir haben hier im Meine Damen und Herren, ich hatte eigentlich Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission „Auf- gedacht, wir sollten heute gejagt werden. Ich habe 100 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Hermann Otto Solms von der Jagd noch nicht viel gemerkt, aber vielleicht mer und der Verwaltung — wegen der Verwaltungs- kommt das noch. vereinfachung. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Seien Sie doch (Zustimmung bei der F.D.P. — Detlev von nicht so ungeduldig!) Larcher [SPD]: Gehen Sie doch einmal auf das Argument ein!) Das einzig Neue, was heute vorgetragen worden ist, ist dieser so schnell, zügig und sachverständig Meine Damen und Herren, zur Steuerpolitik ist noch zustande gekommene Koalitionsvertrag. Das ist es ja, einiges andere zu sagen, wenn ich an Ihre Klage was Sie verwirrt hat: daß wir so schnell einen so denke, das Konzept läge nicht vor. Der Bundesfinanz- weitreichenden Koalitionsvertrag zustande bringen minister hat mir gerade gesagt, und die Regierungsbildung so problemlos gestalten (Freimut Duve [SPD]: Er arbeitet daran!) würden, wie es gelungen ist. daß in wenigen Wochen, noch in diesem Jahr oder Es ist gut so, daß es gelungen ist. Was mich nur mindestens im Januar nächsten Jahres, das Konzept irritiert — — vorgelegt wird. (Freimut Duve [SPD]: Daß nichts drinsteht!) (Detlev von Larcher [SPD]: Er wollte es vor dem Sommer machen!) Wir stehen jetzt vor einer vierjährigen Periode. Alles andere ist Wunschdenken. — Ich sage ja gerade, in den nächsten Wochen. Herr Lafontaine, Sie haben dann wieder Gelegenheit, hier (Freimut Duve [SPD]: Was irritiert Sie? Die herzukommen und dazu Stellung zu nehmen. Das ist vier Jahre? Können wir verkürzen!) ja für Sie eine Chance und keine Belastung.

Wir stehen vor einer vierjährigen Periode . (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Und für Sie ein Gewinn! ) (Freimut Duve [SPD]: Die vier Jahre sollten Sie doch nicht irritieren!) Diese wenigen Wochen können wir abwarten; denn das Gesetz muß ja bis Mitte nächsten Jahres verab- Sie tragen im Bundesrat große Verantwortung, und es schiedet sein, damit es in der Verwaltung rechtzeitig gibt Anlaß, in vielen Bereichen Möglichkeiten der eingearbeitet werden kann. Zusammenarbeit zu eruieren. (Detlev von Larcher [SPD]: Vor dem Sommer Wenn ich bei der Finanzpolitik bleibe, so haben wir 1994 sollte das kommen!) beispielsweise ein Angebot gemacht und im Koali- tionsvertrag ausdrücklich festgeschrieben, daß dar- Meine Damen und Herren, jetzt stellt sich die Frage, über mit den Ländern, mit den Kommunen und mit der ob Sie die Politik der grundsätzlichen Erneuerung Wirtschaft gesprochen werden soll. Es geht um das unserer gesellschaftspolitischen Strukturen mitge- Konzept einer durchgreifenden Gemeindefinanzre- - hen wollen oder nicht. Wollen Sie blockieren, oder form mit dem Ziel der Abschaffung der Gewerbe- wollen Sie mitmachen? Seinerzeit unter steuer und damit einer erheblichen Steuervereinfa- ist die SPD als Reformpartei angetreten, um mehr chung. Denn die beste Steuervereinfachung ist natür- Demokratie zu wagen. Heute hat sie sich zu dieser lich die Abschaffung einer Steuerart. Strategie noch nicht durchringen können. Noch beschränkt sie sich auf Ablehnung und Blockade. Das Nun sollte man jetzt nicht polemisieren, Herr Lafon- wird aber nicht weit tragen. Das liegt natürlich daran, taine, wie das gegenfinanziert wird, sondern sagen: daß die klaftertiefen Widersprüche in der SPD ausge- Wir nehmen das Angebot an, setzen uns zusammen klammert werden müssen, weil Sie sich in der eigenen und schauen, ob wir dieses Werk zuwege bringen. Partei auf eine solche Politik jedenfalls bis jetzt nicht einigen können. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. — Detlev von Larcher [SPD]: So einfach können Sie es sich nicht Denn jeder, der sich in irgendeiner Weise mit einmal in der Grundschule machen!) Wirtschafts- und Finanzpolitik beschäftigt, weiß doch, daß die Gewerbesteuer, wie wir sie in der Bundesre- Das war auch nicht anders zu erwarten. publik haben, äußerst beschäftigungsfeindlich ist. Sie (Beifall bei der F.D.P. — Joachim Poß [SPD]: wirkt sich beschäftigungsfeindlich aus, weil sie die Herr Solms, Sie haben es bei dem Zustand Investitionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ein- der F.D.P. gerade nötig, solche Bemerkun schränkt. Deswegen muß sie beseitigt werden. Dazu gen zu machen!) muß man ein neues Konzept finden. Weil dafür voraussichtlich eine Verfassungsänderung notwendig Joschka Fischer, der wohl die Absicht hat, die sein wird, bedarf es ohnehin Ihrer Mithilfe auch hier GRÜNEN in einem Schnellzug von der Fundamental- im Bundestag, nicht nur im Bundesrat. opposition hin zur rechten Machtbeteiligung zu füh- ren, hat sich heute so geäußert, daß er doch neidisch Deswegen wäre es gut und vernünftig, wenn wir zur F.D.P. schielt und gerne unsere Position überneh- zusammenkommen und sagen würden: Wir wollen men will. uns hinsetzen und grundsätzlich und gründlich über- legen, wie wir so eine für die Bundesrepublik drin- (Beifall bei der F.D.P. — Lachen beim BÜND gend notwendige Reform zustande bringen können, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne übrigens im Interesse der Wirtschaft, der Arbeitneh ten der SPD) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 101

Dr. Hermann Otto Solms Das wird nicht passieren. Das kann ich Ihnen versi- Bei den Finanzen geht es darum, den Haushalt so zu chern. gestalten, daß wir die Neuverschuldung reduzieren können und die Steuerbelastung der Bürger abbauen Wir haben kein gutes Wahlergebnis erzielt. Es war können. Beides kann gelingen. Der Finanzminister allerdings kaum schlechter als Ihres, zwei oder drei hat gerade darauf hingewiesen, daß wir auf gutem Zehntel, ich weiß es nicht. Aber wir haben die Lehre Wege sind. Das entpricht auch dem, was vor 2000 verstanden. Wir sind dabei, zu einer grundsätzlichen Jahren Marcus Tullius Cicero schon gesagt hat: Der Erneuerung von Politik, Organisation und Personal Staatshaushalt muß ausgeglichen sein, die öffentli- des organisierten Liberalismus zu kommen. chen Schulden müssen verringert, die Arroganz der (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Behörden muß gemäßigt und kontrolliert werden. Ich kann Ihnen zusagen, daß Sie mit uns rechnen (Beifall bei der F.D.P.) müssen. Wir werden die Position in der Mitte des Parteienspektrums, in der wir verwurzelt sind, nicht Recht hat der Mann! Man muß sich eben immer aufgeben. wieder auf alte Lehren besinnen. (Beifall bei der F.D.P.) (Freimut Duve [SPD]: Eben war es die Wir werden uns weder nach links noch nach rechts Erneuerung, und jetzt kommt Cicero! Also bewegen, wenn schon, dann nur nach vorne in Rich- wirklich!) tung Modernisierung und Erneuerung. Dazu sind wir bereit, und dazu sind wir fest entschlossen. Deswegen Bei den Ausführungen von Herrn Fischer habe ich bin ich zuversichtlich, daß wir wieder interessante und — genau wie bei den Ausführungen von Herrn positive Entwicklungen in der F.D.P. vor uns haben. Lafontaine vor einigen Wochen — gemerkt, daß viele das Funktionieren unseres Steuersystems gar nicht Uns geht es jetzt um eine liberale Erneuerung der richtig verstehen. Wir haben einen progressiven Steu- Gesellschaft. Wir wollen die Bürgerfreiheiten durch ertarif, der die Menschen so belastet, wie es ihrer Förderung von Eigenverantwortung, Leistungsbereit- Leistungsfähigkeit, d. h. ihrer Einkommenssituation, schaft, Kreativität und Mitmenschlichkeit sichern. Wir entspricht. Das ist eine Spannbreite zwischen gar wollen uns vom Gedanken der Subsidiarität leiten keiner Besteuerung bei Geringverdienern über rund lassen und dadurch staatliche Bevormundung zurück- 20 % Besteuerung beim Eingangssteuersatz bis hin zu drängen. Kurz gesagt: Wir setzen auf den Menschen 60 % Besteuerung unter Einschluß des Solidarzu- als Mittelpunkt unserer Bemühungen, auf seine Ver- schlages und der Kirchensteuer bei Vielverdienern. nunft, sein Verantwortungsgefühl, seine schöpferi- schen Fähigkeiten und seine Leistungsbereitschaft. (Zuruf von der SPD: Eine Verhöhnung ist das!) In diesem Sinne ist die Koalitionsvereinbarung ein Dokument der Erneuerung Deutschlands für Freiheit, — Das ist keine Verhöhnung, das ist ein Faktum. Fortschritt, Leistung und soziale Verantwortung. - Gerade in diesen Punkten finden Sie immer wieder Wer das sieht, weiß eben, daß wir an dieser Steuer- die liberale Handschrift. Darauf ist es uns angekom- schraube nicht weiterdrehen können, wenn wir die men. Leute nicht dahin bringen wollen, die Leistung zu (Beifall bei der F.D.P.) verweigern oder sich dieser Belastung zu entziehen. Deswegen geht kein Weg daran vorbei, diese Bela- Ich will nur auf einzelne Gesichtspunkte eingehen: stung zu senken. Das gilt auch für den Solidarzu- schlanker Staat — ein urliberales Thema. schlag, der so schnell wie möglich abgebaut werden (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) muß. Seit langem wird davon geredet. Auch in der letzten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Legislaturperiode haben wir einige konkrete Be- ten der CDU/CSU) schlüsse dazu gefaßt; ich erinnere an das Investitions- Meine Damen und Herren, wir brauchen eine erleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Das reicht durchgreifende Modernisierung unserer Wirtschaft. nicht aus. Wir müssen hier schneller und energischer Die Wettbewerbsverhältnisse haben sich verschlech- vorankommen. tert und erschwert, nicht zuletzt durch den Wegfall Dies muß in den Köpfen der Menschen, gerade des Eisernen Vorhangs. Wir haben es mit einem derjenigen in der Verwaltung, beginnen. Die Verwal- brutalen Kostenwettbewerb zu tun. Wer unsere Wirt- tung muß lernen, daß sie zur Dienstleistung am schaft stärken will, muß sie flexibler handeln lassen Bürger und nicht zur Bevormundung des Bürgers können. Das gilt insbesondere für die kleinen und berufen ist. mittleren Unternehmen, auf die es ja zentral (Beifall bei der F.D.P.) ankommt, weil sie die Beschäftigung werden sicher- stellen müssen; die großen werden ja über Rationali- Wenn es uns gelingt, dies in die Köpfe einzupflanzen, sierung weiter Personal entlassen, und das kann nur dann können wir auch eine neue Politik gestalten. von den kleinen und mittleren Gesellschaften im Deswegen bedarf es dieser breiten gesellschaftspo- Dienstleistungsbereich, bei Handel, Handwerk und litischen Diskussion. Denn wir machen keinen guten Gewerbe sowie bei den freien Berufen aufgefangen Staat mit immer mehr Staat. Wir brauchen einen werden. Darauf müssen wir uns im Rahmen der effizienten, leistungsfähigen und schlanken Staat, der Wirtschaftspolitik ganz besonders konzentrieren. weiß, daß er eine dienende Funktion zu übernehmen Wenn wir sie nämlich nicht besser differenzieren und hat. flexibler handeln lassen, bleiben wir gnadenlos in 102 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Hermann Otto Solms diesem Wettbewerb zurück. Das darf auf keinen Fall Sie gehört aber mit zu den wichtigsten Lebensgrund- geschehen. lagen einer Gemeinschaft. Private und öffentliche Förderung der Kunst erfolgt nicht, weil sie unterhalt- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- same, vergnügliche Dinge zuwege bringt — auch das ten der CDU/CSU) tut sie und soll sie natürlich tun; man sollte das nicht zu Das nächste Thema, um das es mir geht, ist das gering schätzen —, die Förderung der Kunst erfolgt, Thema Umbau des Sozialstaates. Herr Kinkel hatte ja weil die Kreativität des Menschen das Herzstück schon darauf hingewiesen, daß wir heute etwa 150 dessen ist, was wir unter Freiheit verstehen. Die soziale Leistungen durch über 30 Behörden auszahlen Rahmenbedingungen für diesen liberalen Grundsatz lassen. Kein Mensch in der Republik hat noch einen zu verbessern ist unser engagiertes Ziel. Überblick darüber, was dort wirklich geschieht. Das (Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu führt zwingend dazu, daß die Schlauen das System einer Zwischenfrage) mißbrauchen und ausnützen, während die, die wirk- lich bedürftig, aber nicht ganz so clever sind, nicht — Bitte schön. einmal das bekommen, was ihnen zusteht. Das ist (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das nicht mehr erträglich. Dieses System führt eben auch Wort erteilt die Frau Präsidentin! — Freimut zu sozialer Ungerechtigkeit. Wer mehr soziale Duve [SPD]: Darf ich Ihnen eine Zwischen Gerechtigkeit im Sozialstaat will, muß sich dieser frage stellen?) Reform, dem Umbau des Sozialstaats, stellen, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Sie dürfen ten der CDU/CSU) erst, wenn ich den Redner gefragt habe, ob er eine damit er effizienter wird, damit er sozial gerechter Zwischenfrage zuläßt. wird, damit die Bedürftigen das bekommen, was (Beifall bei der CDU/CSU) ihnen zusteht, und damit der Übergang aus Lohner- satzleistungen oder aus der Sozialhilfe hin in die Beschäftigung gleitender und mit weniger Widersprü- Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin, darf ich eine chen gelingen kann, so daß es immer einen Anreiz Zwischenfrage stellen? — Herr Kollege, Sie haben gibt, eine ordentliche Beschäftigung am ersten eben Kunst und Kultur sehr lobend erwähnt. Darf ich Arbeitsmarkt aufzunehmen. Dafür haben wir unser daraus entnehmen, daß sich die F.D.P.-Fraktion, Bürgergeldsystem angeboten; das muß noch einmal obwohl dieser Bereich in der Regierungserklärung genau überprüft werden. Man muß auch einen Stu- weggefallen ist, in besonderer Weise zur Wiederher- fenplan entwickeln, wie man zu mehr Transparenz stellung der Bundesfinanzierung einsetzen wird? und zu mehr Kontrollierbarkeit des Sozialstaates kommt. Das ist ein Angebot, und das ist eine Aufgabe, Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Sie wissen ja, daß der wir uns keinesfalls entziehen dürfen. - wir die sogenannte Leuchtturmliste beschlossen Ein weiterer Punkt ist die stärkere Betonung von haben, zugunsten der besonders herausragenden Bildung, Forschung und Kultur in unserem Lande. Kulturdenkmäler in den neuen Bundesländern. Dar- Das ist ein Thema, das gerade im Bund — weil er hier über hinaus wollen wir uns bemühen, das Stiftungs- nur teilweise und begrenzt zuständig ist — häufig recht im Sinne der besseren Kulturförderung zu ver- unter den Tisch fällt. Wir müssen uns der Bildungs- bessern, damit auch mehr privates Kapital für die politik stärker annehmen, denn die Bildung ist Grund- Finanzierung kultureller Dinge bereitgestellt wird. lage der Zukunft für unsere jungen Leute. Je besser sie (Beifall bei der F.D.P.) ausgebildet sind — je vielfältiger, je moderner —, desto leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger wird Das ist vereinbart, muß aber natürlich konkretisiert die Gesellschaft in Zukunft sein. Deswegen dürfen wir werden. Die „Leuchtturmliste" — Sie kennen sie das auf gar keinen Fall vernachlässigen. sicher — ist konkret. (Freimut Duve [SPD]: Das ist eine Leucht (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) wurmliste geworden!) Dabei geht es uns insbesondere darum, eine Gleich- — Nun, das fällt immerhin eigentlich in die Hoheit der behandlung von beruflicher, allgemeiner und Hoch- Länder. Wir leisten hier Zusätzliches. schulbildung zu erreichen. Die berufliche Bildung wird leider schlechter behandelt und diskriminiert. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Sie wird nicht in dem Maße in den Mittelpunkt der Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist doch toll gewor Bemühungen gestellt, wie es notwendig wäre. den! Das müssen Sie zugeben, Herr Duve!) Meine Damen und Herren, Gesetz und Ordnung (Zuruf von der SPD: Also, was wollt ihr sind in unserem Staatswesen kein Selbstzweck. Ihren machen?) Rang und ihre Würde erhalten sie dadurch, daß sie die In unserer Verfassung ist von Kunst nur einmal die Voraussetzung für ein freies geistiges, politisches, Rede: In Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes ist festgelegt, soziales und wirtschaftliches Leben schaffen. Denn daß die Kunst frei ist. Das ist auch alles, was ein einer verbreiteten Vorstellung von Freiheit zum Trotz freiheitlich-demokratischer Staat über das Verhältnis sind Freiheit und Schrankenlosigkeit nicht dasselbe. von Staat und Kunst festlegen kann. Jedes Wort mehr Sie kann nur in einem Klima gedeihen, das von wäre von Übel. Aber in einer Demokratie sollte es Toleranz und Verantwortung bestimmt ist. Auch keine geistige Trennung zwischen Kunst, Staat und innere Sicherheit und persönliche Freiheit gehören Gesellschaft geben, denn dann gibt es keine Kultur. zusammen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 103

Dr. Hermann Otto Solms Deshalb wollen wir mit allem Nachdruck die Politik muß ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung beste- und den Vollzug der Verbrechensbekämpfung ver- hen. bessern, allerdings ohne die Grundrechte, die Persön- Sorgen allerdings bereitet unseren Mitbürgern der lichkeitsrechte in unserer Verfassung einzuschrän- gewaltige Strom an Zuwanderung in den letzten fünf ken. Ich glaube, daß man bis zu dieser Schranke der Jahren; denn jedes Land hat eine gewisse Kapazität Einschränkung der Grundrechte noch vieles tun kann für Integration und Aufnahme. und wir zunächst die erheblichen Vollzugsdefizite, die wir bei Polizei und Justiz haben, schließen sollten, Herr Kollege, bevor man überhaupt über einen solchen Schritt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nachdenkt. Das ist die für uns entscheidende Ihre Redezeit geht zu Ende. Maxime. (F.D.P.): Vielen Dank. Ich In diesem Sinne möchte ich auch etwas zu dem Dr. Hermann Otto Solms komme zum Schluß, Frau Präsidentin. Argument von Herrn Scharping in bezug auf das Geldwäschegesetz sagen: Wenn wir genügend Erfah- Hier müssen die Regeln des Asylrechts in aller rungen damit haben — es ist ja erst zwei Jahre in Strenge angewendet werden. Auch darauf will ich Kraft —, dann werden wir überprüfen, ob das geän- hinweisen. dert und verbessert werden muß. Das haben wir in der Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir werden Koalitionsvereinbarung verabredet. Das heißt aber uns nicht, wie zu lesen und zu hören war, zufrieden nicht, daß man gleich dazu übergehen muß, Art. 14 zu zurücklehnen, sondern wir haben uns ein sehr ambi- ändern, die Eigentumsgarantie in Frage zu stellen, tioniertes Programm gesetzt. Wir werden in vier und Vermögensbeschlagnahme schon im bloßen Ver- Jahren — davon bin ich überzeugt — Rechenschaft dachtsfalle durchführen kann. Meine Damen und über eine Politik der Reformen und des Fortschritts Herren, wer dazu übergeht, der stellt natürlich unsere ablegen können, die unserem Volk den Schritt in die verfassungsrechtliche Ordnung auf den Kopf. Zukunft mit Zuversicht ermöglicht. Wir laden Sie, insbesondere die SPD, ein, bei dieser Politik mitzuwir- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Ru ken; denn Sie haben über Ihre Mehrheit im Bundesrat pert Scholz [CDU/CSU]) entsprechende Verantwortung. Wir können viele Im bloßen Verdachtsfalle — selbst im Falle eines Dinge nur gemeinsam tun; wir sollten sie aber auch begründeten Verdachts — zur Vermögensbeschlag- gemeinsam tun. nahme zu greifen, bedeutete eine Änderung unserer Vielen Dank. Grundrechte, ein Angriff auf die Eigentumsgarantie, was ich nicht mittragen könnte. Hier muß man eben (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) immer abwägen, welchen Schritt zu gehen man bereit ist. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dies gilt - auch für unsere Mitbürger mit anderen Nationalitä- ten. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Interes- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Joseph santeste, Herr Solms, an Ihrer Rede fand ich, daß Sie Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sich bei der Zitierung der lateinischen Klassiker der NEN]) „Zizero"- und nicht der „Kikero " -Schule zugeschla- Wir haben diese Menschen eingeladen, zu uns zu gen haben. Das ist ein wichtiger Ansatzpunkt zwi- kommen. Sie haben Anteil daran, daß unser Zuhause schen GRÜNEN und F.D.P., wahrscheinlich aber auch funktioniert. Sie tragen zu unserem Wohlstand, unse- der einzige. Denn die Ausführungen, die Sie zum rer starken deutschen Wirtschaft, unserem Sozialpro- Liberalismus gemacht haben, teilen wir überhaupt dukt bei. Sie zahlen Steuern, sie leisten Sozialabga- nicht. ben für unser ganzes System. Sie leben also mit ihren (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Da sind wir aber Familien mitten unter uns. froh!) Für ihr Lebensgefühl hat es ein elementares Wir sind mittlerweile die Partei, die die Menschen Gewicht, wie sich ihre staatsbürgerliche Stellung angesprochen hat, die für Menschenrechte, für Bür- entwickelt. gerrechte, für Minderheitenrechte und für Frauen- rechte eintritt. (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für sie ist von Bedeutung, eines Tages endlich die Empfindung loszuwerden, nur mitarbeitende Bürger Diese Menschen haben wir gesammelt, und sie wer- zu sein. Wir müssen uns weiter für ihre Integration und den wir nicht mehr hergeben. Ihren unsozialen Wirt- Gleichberechtigung einsetzen. Das haben wir ja auch schaftsliberalismus mögen Sie behalten; da gibt es in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben, keine Anknüpfungspunkte. Wir werden uns ener- auch wenn das, so sage ich freimütig, nicht so weit gisch dagegen einsetzen. Ich kann Ihnen sagen: In geht, wie wir uns das gewünscht haben. Aber es geht dieser Frage werden wir Fundamentalisten bleiben. weiter, als es vorher der Fall war. Wir wollen nach wie vor den Globus und nicht die F.D.P. vor dem Untergang retten. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Es ist richtig, was Herr Schäuble gesagt hat: Für Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das hat lange Zeit und dauerhaft hier wohnende Ausländer auch niemand verlangt!) 104 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ludger Volmer Zurück zur Außenpolitik. Wir alle vermuten, daß die Deutsche Interessenwahrung gegenüber den Ent- Bundesregierung auch Außenpolitik betreiben will. Das wicklungsländern. Das steht im Koalitionsvertrag. entnehmen wir zwar nicht der Koalitionsvereinbarung Nicht deren Schulden aus der Entwicklungshilfe und oder der Regierungserklärung. Ein Indiz dafür könnte den Hermes-Krediten will die Regierung erlassen, aber sein, daß der Bundeskanzler einen Außenminister nicht Armut will sie bekämpfen, nicht selbsttragende ernannt hat. Was dieser wirklich will, wissen wir auch Entwicklungen fordern, nicht den europäischen nach seiner Rede noch nicht so genau. Aber auf der Markt für Produkte des Südens öffnen, nein, selbst Grundlage einzelner Versatzstücke, die man in den den Ärmsten der Armen gegenüber hat sie nur das letzten Monaten vernehmen konnte, könnte man Ziel der deutschen Selbstbehauptung. Und auch dafür zumindest einige Mutmaßungen anstellen. will sie Europa instrumentalisieren — Zitat aus dem Vertrag —: Beginnen wir mit der Frage — das ist eine theoreti- sche Frage —: Was müßte eine Regierung tun, um, ohne öffentliches Aufsehen zu erregen, unter dem Die EU muß als Instrument zur Stärkung einer Deckmantel deutscher Normalisierung eine neue, solchen Ordnung, insbesondere auch über die national orientierte, militärgestützte Außenpolitik Welthandelsorganisation (WTO), konsequent durchzusetzen? Sie könnte das nicht mehr als einzel- eingesetzt werden. ner Nationalstaat tun — diese Zeiten sind vorbei —, wohl aber im Tandem mit einem anderen, der auf Meine Damen und Herren, früher nannte man so nationale Größe Wert legt, am besten mit einem etwas schlicht Imperialismus. Atomstaat, z. B. mit Frankreich. Neben diesem Land müßte ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN strebt werden. Zusammen könnten sie sich zum Kern- sowie bei Abgeordneten der SPD und der europa erklären, das für den Rest des Kontinents den PDS) Takt angibt. Gemeinsam müßten sie die Anker eines eigenen westeuropäischen Militärsystems bilden. Die Wo ausschließlich eigene Interessenvertretung Streitkräfte müßten so umstrukturiert werden, daß sie handlungsleitend ist, müssen wir befürchten, daß die nicht nur der Landesverteidigung dienen, sondern Bundesregierung die Menschenrechtsfrage miß- weltweit intervenieren können. Um überall operieren braucht, um einem historisch überholten Militär zu können, müßten die Luftlandekapazitäten ausge- neuen Sinn zu geben. Man wird den Eindruck nicht baut werden. Ein als Flugzeugträger und Landungs- los, wenn immer ein regionaler Konflikt entsteht, fragt schiff verwendbares Mehrzweckschiff könnte der die Bundesregierung nicht, wie dieser zu lösen sei, Partner bauen, während man selber die Flugzeuge sondern wie sich die Bundeswehr beteiligen könne. dazu beisteuert. In den eigenen verteidigungspoliti- Mit dieser Haltung aber wird die notwendige Diskus- schen Leitlinien müßte als Ziel die Sicherung von sion um eine moderne Sicherheitspolitik zunichte Rohstoffen und Handelswegen genannt werden. - gemacht. So mancher würde sich durchringen kön- Wer nun glaubt, dies alles seien Phantasiegebilde, nen, auch einer deutschen Beteiligung bei friedenser- der irrt. All dies sind Elemente der Koalitionspolitik, so haltenden Maßnahmen der UNO oder bei der Über- wie sie in einzelnen Äußerungen führender Mitglie- wachung von Embargomaßnahmen zuzustimmen, der in den letzten Monaten zum Ausdruck kamen. wenn er nicht mit der berechtigten Furcht konfrontiert Wenn man genau hinschaut, findet man vieles davon wäre, dies sei nur der Türöffner für eine militärge- im Koalitionsvertrag wieder, vor allem in seinen stützte deutsche Großmachtpolitik. Weglassungen. Auf der einen Seite ist er so konkret, daß er ein ganzes Kapitel zu der Selbstverständlich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit enthält, daß der Bundestag über Entwürfe von sowie bei Abgeordneten der SPD und der Vorschriften der Europäischen Union unterrichtet PDS) werden muß. Na bravo! Auf der anderen Seite findet man dort aber nicht ein einziges Wort zur Durchset- Friedenserhaltende Maßnahmen und Sanktionsüber- zung der Menschenrechte — auch das ist eine Aus- wachung brauchen extra ausgebildete und in Kon- sage —, kein ernstzunehmendes Wort über die Besei- fliktvermittlung trainierte Einheiten. Die Bundeswehr tigung weltweiten Unrechts. taugt dazu nicht. Schauen wir uns die Nord-Süd-Politik an. Das Schlußkapitel des Vertrages enthält dazu Aussagen, Statt zu fragen, welche neuen sicherheitspolitischen wie sie allsonntäglich von bayerischen Kanzeln ver- Instrumente wir angesichts der veränderten global kündet werden. Der konkrete Gehalt erschließt sich politischen Lage brauchen, wird gefragt, welche Auf- gaben wir für die bestehende Militärstruktur erfinden erst bei einem Blick auf die Handelspolitik. Kein Wort ist dort über eine ökologische und solidarische Umge- können. Damit wird die einmalige historische Chance, staltung der Weltwirtschaft zu finden. Im Gegenteil. die das Ende der strategischen Zweiteilung der Welt Man findet — wenn man das Wortgeklingel weg- bietet, leichtfertig verspielt. Nach dem Ende der läßt — den bemerkenswerten Kernsatz — ich zitiere —: atomaren Vernichtungsdrohung müßten doch alle Kräfte eingesetzt werden, um zu einer umfassenden Ein offenes, multilateral geordnetes System des multilateralen Abrüstung zu gelangen, zu Sofortmaß- Welthandels bleibt der beste Rahmen zur Wah- nahmen wie einem Atomteststopp, einer Verlänge- rung der weltweiten Interessen der deutschen rung der Nichtverbreitung von Atomwaffen, der Wirtschaft ... auch im Verhältnis zu den Entwick- Beseitigung aller biologischen und chemischen Waf- lungsländern. fen, einer Reduzierung der Truppenstärke, der Ver- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 105

Ludger Volmer nichtung aller taktischen Atomwaffen in Europa. Das gesagt, eine Angelegenheit für die Geschichtsbücher. fordern wir. Auch Herr Kinkel tönte so. Eine Woche vor der Wahl aus Profilgründen sein Kurswechsel: Plötzlich ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deckte er die KSZE. — Nun steht sie im Koalitionspa- Es muß nach Sicherheitsmodellen gesucht werden, pier, leider nur an die Idee der NATO-Erweiterung die nicht neue Blockkonfrontationen heraufbeschwö- angehängt, den Militärstrategien nachgeordnet. Den- ren, sondern die Gegner von einst mit dem Ziel der noch sehen wir dies als Bestätigung unserer Auffas- Nichtangriffsfähigkeit unter einem Dach vereinen. Es sung, daß sich eine moderne Sicherheitspolitik über muß nach Methoden der Konfliktvorhersage, nach die KSZE verwirklichen muß. Frühwarnsystemen, nach nichtmilitärischer Konflikt- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS regelung und, wo Zwang denn notwendig werden SES 90/DIE GRÜNEN) sollte, nach nichtmilitärischen Formen gesucht wer- den. Warum wird nicht dieselbe Intelligenz, politische Statt diese Chancen zu sehen, verkrampft sich die Energie, Finanzkraft und strategische Planung, wie Bundesregierung in dem Versuch, nationale Interes- sie eine Militäroperation erfordert, in Wirtschafts- sen zu definieren. Als sei nicht die Idee der Nation sanktionen investiert? Sie wären wahrscheinlich selbst historisch überholt! Dabei hat ihr Beharren auf höchst effektiv. Praktisch aber werden Sanktionen so der Idee des Nationalen schon so furchtbare Folgen lasch gehandhabt, als wolle man ihr Scheitern gera- gehabt. dezu demonstrieren, um endlich wieder Waffen ein- Heute stehen wir fassungslos vor den Geschehnis- setzen, um Waffen so lange in Nichtspannungsgebiete sen in Bihač , wo sich die Barbarei nackter Nationalis- exportieren zu können, bis sie zu Spannungsgebieten men entlädt, in einem Staatsgebiet, das eigentlich werden. multikulturellen Charakter tragen könnte. Wenn aber In Deutschland hängen nur noch 140 000 Arbeits- heute die Serben in ihrem nationalistischen Wahn plätze direkt von der Rüstungsproduktion ab. Warum unfaßbare Greueltaten begehen, dann hat das auch wird diese Branche nicht geschlossen? Weil die damit zu tun, daß die Nationalstaatsbildung als Rüstungsfirmen gleichzeitig die vom Staat am meisten Lösungsmodell für den Jugoslawienkonflikt von deut- geförderten Forschungseinrichtungen sind. Warum scher Seite mit befördert worden ist. legt die Bundesregierung nicht ein umfassendes Kon- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS versionsprogramm auf, das die Technologieentwick- SES 90/DIE GRÜNEN) lung nicht an die Bedürfnisse der Militärs bindet, Das war Wasser auf die Mühlen der ohnehin national sondern an die der Umweltschützer und Ökologen? denkenden Serben. Wenn heute niemand mehr so Weil sie immer noch nicht begriffen hat, daß die recht weiß, was noch zu tun ist, wenn alle Seiten dieses größten Gefahren, die der Menschheit drohen, aus der Hauses sich im Entsetzen und im Abscheu einig sind, negativen Wechselwirkung von Armut und Umwelt- dann sollten sie sich auch einig sein, die einzig zerstörung, Hunger und Flucht resultieren. Auch die mögliche Lehre zu ziehen, nämlich daß Nationalismus Kriege der Zukunft, die Kriege in der Dritten Welt nie eine Lösung ist, sondern immer das Problem. werden hier ihre Ursache haben. Wir halten dagegen: - Wer heute statt in Rüstung in die natur- und kulturan- Danke. gepaßte Technologieentwicklung investiert, braucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN morgen keine Zinksärge für die eigenen Kinder, die er sowie bei Abgeordneten der SPD — Beifall in den Krieg geschickt hat, um die Folgen seiner bei der PDS) Fehlentscheidungen zu beseitigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt bei der PDS sowie bei Abgeordneten der der Abgeordnete Dr. Alfred Dregger. SPD) Auch in der wichtigsten strategischen Frage, näm- Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! lich der nach der Rolle von NATO und KSZE hat die Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestat- Bundesregierung keine Antwort. Der Verteidigungs- ten Sie mir, daß ich am Beginn einer neuen Legislatur- minister drängt auf die Osterweiterung der NATO, bis periode einige Gedanken vortrage, die mir wichtig er sogar von seinem amerikanischen Kollegen erscheinen. gebremst wird. Und der Außenminister schweigt. Wer macht in dieser Regierung eigentlich die Außenpoli- Das vereinigte Deutschland ist verläßlicher Verbün- tik: die Militärs oder die Zivilisten? Wie stark kann deter des Westens und zugleich geschätzter und eigentlich ein Außenminister sein, der sich als Vorsit- gesuchter Partner des Ostens. Mit all unseren Nach- zender einer untergehenden Partei nur soeben in eine barn, auch im Norden und im Süden, unterhalten wir politische Weiterexistenz retten konnte? freundschaftliche Beziehungen. Das hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Es ist das Die Diskussion über die KSZE macht dies deutlich, Ergebnis deutscher Politik von bis Herr Kinkel. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben Helmut Kohl. Monate vor der Wahl gefordert, daß die KSZE zum neuen politischen Kern eines Systems kollektiver (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Sicherheit werden müsse, das die alten Militärstruk- SPD: Willy Brandt!) turen ablöst. Hohngelächter haben wir geerntet, nicht Unsere Nachbarn verbinden mit ihren gutnachbar- nur wegen unserer Utopie einer zivilen Außenpolitik, lichen Beziehungen zu Deutschland zunehmend auch weil wir die KSZE überhaupt wieder ins Hoffnung für sich selbst, Hoffnung in einem Ausmaß, Gespräch brachten. Sie sei doch längst tot, wurde uns wie es vor Jahren noch nicht zu erwarten war 106 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Alfred Dregger Deutschland nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bürger erkennbar werden, daß die Europäische Union Hoffnungsträger seiner Nachbarn? In gewissem nicht zu Lasten ihrer Nationalstaaten verwirklicht Umfang sind wir es; wir sind es auf Gegenseitigkeit. wird, die ihnen Schutz, Geborgenheit und Identität Auch wir verbinden damit Hoffnungen und Erwartun- geben, sondern zu deren Nutzen und Ergänzung. gen an unsere Nachbarn. Meine Damen und Herren, Nationalstaat und Euro- Bei dieser außerordentlichen Verflechtung der päische Union widersprechen sich nicht. Zusammen Beziehungen und Interessen ist es wichtig, daß wir uns sind sie das Modell der Zukunft. Das sollte unsere in die Lage unserer Nachbarn versetzen können und Botschaft in der Europadebatte sein. diese sich in die unsrige. Auch wenn die Entscheidun- gen auf nationaler Ebene getroffen werden, die Aus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wirkungen werden auch die anderen mitzutragen ordneten der F.D.P.) haben. Deswegen meine ich: In dieser Lage hat jeder Meine Damen und Herren, im Laufe dieser Legisla- nicht nur mit dem eigenen Kopf, sondern auch mit turperiode werden wichtige Entscheidungen darüber dem Kopf des Nachbarn zu denken. getroffen, ob, wann und wie die Staaten Ostmitteleu- Meine Damen und Herren, Grundlage unserer ropas einschließlich der baltischen Staaten Vollmit- glieder der Europäischen Union werden. Es liegt nicht Europapolitik ist und bleibt unser Zusammengehen mit Frankreich. Es schützt uns vor der Gefahr der nur im deutschen, sondern auch im europäischen Isolierung, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Interesse, daß das geschieht und daß es bald unser Schicksal gewesen ist. Solange Frankreich an geschieht. Schwebezustände führen zu Instabilität. unserer Seite steht, kann es eine Gleichgewichtspoli- Sicherheit wollen und können diese Staaten nur tik unseligen Angedenkens gegen Deutschland als durch ihre Zugehörigkeit zum Westen finden. Die dem wirtschaftlich stärksten Staat Europas nicht mehr NATO zögert bisher, sie aufzunehmen. Das ist gefähr- geben. Die deutsch-französische Sonderbeziehung lich, nicht nur für diese Staaten selbst, sondern für kann aber nur Bestand haben, wenn sie europabezo- ganz Europa. Denn ihre Unsicherheit wäre auch die gen, und zwar auf das ganze Europa bezogen, bleibt. unsrige. Auch Großbritannien, Italien, Spanien, Polen, Ungarn Deshalb sollte meines Erachtens Europa selbst aktiv und die anderen sind selbstverständlich wichtige werden und diesen Völkern eine konkrete Perspek- Partner für uns. tive bieten, nicht nur für ihren Beitritt zur Europäi- Neben Paris ist Washington unsere wichtigste schen Union, sondern auch zur gemeinsamen Sicher- Adresse. Die USA waren diejenigen, die uns bei der heit des Westens. Die politische Anbindung der Staa- Wiedervereinigung ohne jeden Vorbehalt unterstützt ten Ostmitteleuropas an die Europäische Union ist haben. Sie haben sich als stark und verläßlich erwie- meines Erachtens noch wichtiger als die ökonomische sen. Einen solchen Verbündeten muß man pflegen; Anbindung. denn er wird nicht zu ersetzen sein. Auch deshalb sage ich: Es kann keine europäische Konstruktion geben, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) - die die Allianz mit den USA ersetzen könnte. Im übrigen hängt eines vom anderen ab. Erst wenn die Sicherheit gewährleistet ist, werden die Investoren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge kommen, vorher nicht. ordneten der F.D.P.) Meine Damen und Herren, Europa braucht außer Unsere Beziehungen zu Moskau sind anderer Art, einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik aber ebenfalls von größter Bedeutung. Wir müssen auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungs- Rußland helfen, damit es die Chance hat, seine jetzige politik. Das jetzt geltende Europäische Währungssy- Krise zu überwinden. Wir Deutsche tun in dieser stem (EWS) ist meines Erachtens besser als sein Ruf. Es Hinsicht mehr als alle anderen zusammen. hat den Vorteil, daß unterschiedliche Inflationsraten Aber ebenso klar ist: Wir Deutsche könnten nicht in Europa durch Auf- und Abwertungen aufgefangen damit einverstanden sein, wenn Rußland den ostmit- werden können. Die Einführung einer europäischen teleuropäischen und den baltischen Staaten als Hege- Einheitswährung setzt meines Erachtens voraus, daß monialmacht gegenübertreten wollte. Das widersprä- die Produktivitäts- und Stabilitätsunterschiede zwi- che geschlossenen Verträgen und würde im zusam- schen den europäischen Volkswirtschaften mehr als menwachsenden Europa jedes Vertrauen zerstören. bisher einander angeglichen sind. Rußland ist seit dem nordischen Krieg Anfang des Auch unsere Partner werden verstehen, daß wir 18. Jahrhunderts europäische Großmacht. Es war als Deutsche nicht bereit sind, auf unsere stabile Wäh- solche an allen gesamteuropäischen Entscheidungen -rung zu verzichten. Wir sind aber bereit, die D beteiligt. Das wird so bleiben. Wir können und wollen Mark-Prinzipien der Geldwertstabilität auf ganz die europäische Friedensordnung daher nicht gegen, Europa auszudehnen, wenn unsere Partner es wollen sondern mit Rußland bauen. und bereit sind, die Konsequenzen zu tragen, die damit verbunden sind. Wie hervorragend diese Prin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge zipien sind, hat sich in diesen Monaten gezeigt. ordneten der F.D.P.) Unsere D-Mark ist unter der Belastung des Aufbaus In der Demokratie wird politisches Bewußtsein vor Ost nicht weich, sondern noch härter geworden. allem durch die öffentliche Auseinandersetzung ver- mittelt. Deshalb brauchen wir eine große öffentliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Debatte über Inhalt, Ziel und Weg der europäischen Deshalb werden wir an den im Vertrag von Maas- Integration. Darin muß meines Erachtens für unsere tricht vereinbarten Stabilitätskriterien mit aller Ent- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 107

Dr. Alfred Dregger schiedenheit festhalten. Sie aufzuweichen würde Eine ähnliche Dankesschuld empfinde ich auch nicht nur uns, sondern allen Beteiligten schaden. Ich gegenüber Joseph Rovan, einem in Berlin aufgewach- glaube, mit Herrn Ministerpräsidenten Lafontaine in senen Franzosen, der als Jude Dachau überlebt hatte diesem Punkt einer Meinung zu sein. und dennoch schon 1945 dazu bereit war, im Auftrag der französischen Regierung ein Hilfsprogramm Meine Damen und Herren, es gibt neben dem gegen die schreckliche Not der deutschen Kriegsge- politischen und ökonomischen noch einen dritten fangenen in den Rheinwiesen-Lagern durchzuführen. Grund, warum gerade wir Deutschen auf Europa Dieser Franzose und Europäer, emeritierter Professor angewiesen sind. Meines Erachtens ist er der wichtig- für Geschichte an der Sorbonne, war der würdige ste. Frieden für Deutschland gibt es nur — das zeigt Festredner auf der zentralen Gedenkfeier am 17. Juni die Geschichte — im europäischen Verbund. 1993 zum 40. Jahrestag des Volksaufstandes vom Deutschland liegt in der Mitte. Es ist wirtschaftlich und 17. Juni 1953. Rovan hat in seiner Rede, die ich sozial stärker als jeder seiner Nachbarn. Es hat mit insbesondere Herrn Abgeordneten Heym zur Lektüre Ausländern mehr als 80 Millionen Einwohner. In empfehlen möchte, die Freiheitskämpfer des 17. Juni Frankreich sind es mit Ausländern 57,5 Millionen, in in eine Reihe gestellt mit jenen, die 1814 gegen die Großbritannien 57,8 Millionen. Dieser Größenunter- Despotie Napoleons aufgestanden sind; er hat sie schied macht uns bei unseren Nachbarn nicht belieb- verglichen mit den demokratischen Freiheitskämp- ter. Hinzu kommen die Lasten der Vergangenheit, die fern von 1848 und mit den Widerstandskämpfern des sich unschwer gegen Deutschland instrumentalisie- 20. Juli 1944, die Deutschland von Hitler befreien ren lassen. Wenn Deutschland nicht im europäischen wollten. Verbund lebte, könnte sich wiederholen, was in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts geschehen ist. Joseph Rovan schloß seine Rede mit der Feststel- Daher sage ich: Friede, Freiheit, Sicherheit, Wohl- lung — ich zitiere ihn —: stand — all das geht nicht ohne Europa. Wäre die Politische Union Europas, die wir jetzt bauen, schon zu Die Frauen und Männer des 17. Juni sind damit in Beginn des Jahrhunderts entstanden, dann wären uns die Reihen derer getreten, denen das deutsche — davon bin ich überzeugt die beiden Weltkriege Volk es verdankt, daß es in Ehren weiterleben erspart geblieben. kann. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, in Ehren weiterleben zu Europapolitik ist daher vor allem Friedenspolitik. können, das scheint mir das Wichtigste für den 1995 wird das Ende des Zweiten Weltkrieges Bestand und die Zukunft der deutschen Nation zu 50 Jahre zurückliegen. Der Bundeskanzler hat heute sein. morgen daran erinnert. Ich gehöre zu den letzten in Die Maximen von Joseph Rovan sollten wir uns zu diesem Hause, die diesen Krieg als Frontsoldaten eigen machen. Mir geht es, wenn ich mich dafür mitgemacht haben. Ich bin Angehöriger des Jahr- einsetze, nicht um die Vergangenheit, sondern um die gangs 1920, eines Jahrgangs, der schon wegen seines Zukunft unseres Volkes. Denn kein Volk erträgt es, damaligen Lebensalters Hitler nicht gewählt hat, der immer nur an den dunklen Seiten seiner Geschichte aber von Hitler in den Krieg geschickt wurde. Über die gemessen zu werden. Hälfte dieses Jahrgangs ist gefallen. Als Vertreter der Kriegsgeneration, die auch die Generation war, die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut hat, DIE GRÜNEN]: Na ja!) möchte ich sagen: Niemand hat das Recht, den deut- — Sie können das aushalten, Herr Fischer; aber kein schen Soldaten des Zweiten Weltkrieges pauschal die Volk würde das aushalten, auch das unsrige nicht. Ehre abzusprechen. Deshalb sage ich: Unsere Geschichte hat nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zwölf, sondern 1 200 Jahre gedauert. Was in diesen der F.D.P.) 1 200 Jahren auf nahezu allen Gebieten in auf bauen- Das wäre nicht nur ungerecht, sondern würdelos. Es der Weise geleistet wurde, darauf können wir Deut- würde in extremem Gegensatz zu dem stehen, was die sche ebenso stolz sein wie auf das, was wir zur Zeit als Gründer unserer Republik, Konrad Adenauer, Kurt freier, demokratischer Staat für Europa und die Welt Schumacher und Theodor Heuss, dazu gesagt haben. leisten. Auch unsere ehemaligen Kriegsgegner sehen das (Beifall bei der CDU/CSU) nicht anders. Zum Schluß ein Wort zum Zusammenwachsen der Anläßlich der „Abmeldung" der letzten russischen Nation im vereinten Deutschland. Wir sind in man- Soldaten aus Deutschland, an die der Bundeskanzler chen unserer Auffassungen noch sehr verschieden, ebenfalls erinnert hat, sagte Präsident Jelzin am was kein Wunder sein kann, da wir in vielen Jahr- 31. August dieses Jahres in Berlin, Hitler habe die zehnten ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht Sowjetunion zum Krieg gezwungen. Das deutsche haben und auch heute die Herausforderungen nicht Volk sei daran nicht schuld gewesen. Man habe sogar für alle dieselben sind. Jetzt müssen wir in einem in den Jahren „schwierigster Prüfungen" eine klare mühsamen und manchmal schmerzlichen Prozeß Grenze zwischen den Deutschen und der verbreche- zusammenwachsen. Da hat es keinen Sinn, die Unter- rischen Führung gezogen, die in Deutschland an die schiede zu verkleistern und auf Harmonie zu machen. Macht gekommen sei. — Wir sollten Präsident Jelzin Wir müssen miteinander reden, gegebenenfalls auch für diese noble Geste dankbar sein. miteinander streiten. Aber wir sollten es nicht als Ossis 108 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Alfred Dregger und Wessis tun, sondern als Deutsche, die die Einheit dem Sie in Ihrer Partei Heimat und Aktionsrahmen wollen. bieten. Wir wissen in Ost und West noch zuwenig vonein- Wir brauchen in Deutschland keine „kommunisti- ander, zuwenig über die Zeit unserer Trennung und sche Plattform", ebensowenig wie wir nach 1945 eine zuwenig auch über unsere gemeinsame Geschichte. nationalsozialistische Plattform gebraucht haben. Der totale Krieg, die totale Niederlage, die Teilung der Nation und ihr Aufgehen in entgegengesetzten politi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schen Systemen waren ein ungeheurer Eingriff in die Die Kommunisten haben über Deutschland genug Gefühlswelt der Menschen, insbesondere unserer Unglück gebracht, in der Weimarer Zeit sogar zeit- Landsleute im Osten, die sich jetzt nach der Wieder- weise im Bündnis mit den Nationalsozialisten. Nein, vereinigung zum Teil, wenn auch unbegründet, als wir brauchen keine Plattform dieser Art. Wir brauchen Verlierer betrachten. Demokraten. In Wahrheit sind alle Deutschen in Ost und West (Andrea Lederer [PDS]: Solche wie Sie!) Gewinner der deutschen Einheit. Nur die Träger des alten Gewaltregimes haben einen Teil ihrer Privile- Auf Kommunisten sind wir auf Grund der Wahler- gien verloren. Das war auch dringend notwendig. Alle gebnisse auch nicht angewiesen, Gott sei Dank, aber haben die Menschenrechte gewonnen, alle sind weder im Osten noch im Westen; es sei denn, uns sind frei und können sich frei entfalten. Das ist mehr als der Posten von Gnaden der Kommunisten wichtiger als unsere materielle Lebensstandard, der sich im Schnitt für alle demokratischen Grundsätze und Überzeu- verbessert hat. gungen. Wir müssen zur inneren Einheit finden. Im politi- In Magdeburg hat die SPD diese Wertung leider schen Bereich müssen wir allerdings Unterschiede nicht vorgenommen. machen. Wir Christlichen Demokraten und Christlich- (Zuruf von der SPD: Jetzt reicht es aber!) Sozialen sind gegen alle totalitären Systeme, auf der Rechten wie auf der Linken. Wir sind deshalb auch — Sie müssen die Wahrheit anhören. — Auch in Antikommunisten, und die Menschen in der ehemali- Schwerin scheint es ihr schwerzufallen, sich eindeutig gen DDR sind es in ihrer großen Mehrheit auch. Wir von der kommunistischen SED/PDS zu distanzieren. müssen diesen Menschen, die ja nicht über alles (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und orientiert waren — das waren wir in der Hitler- der F.D.P.) Diktatur auch nicht —, sagen, daß die neue PDS die alte SED mit neuem Namen ist. Die SPD schadet sich dadurch zunächst selbst, aber darüber hinaus unserem freiheitlichen System, das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir nicht verraten, sondern ausbauen wollen. Es waren SED-Kommunisten — niemand anderes —, Meine Damen und Herren, unsere Aufgaben wer- die die DDR ruiniert und ausgebeutet haben, die im den auch in der jetzt beginnenden Legislaturperiode - Auftrag des SED-Staates schreckliche Verbrechen nicht leicht sein, aber sie sind erfüllbar, und wir begangen haben, die ihre Bürger an der Grenze werden sie erfüllen. Das bisher Geleistete ist eine erschossen haben wie die Hasen. Auch das Zuchthaus Ermutigung für das, was vor uns liegt. Bautzen und seine Folterer können und dürfen wir nicht vergessen. Die bisherigen Ergebnisse, Einheit in Freiheit, sta- biles Geld für alle Deutschen, eine unter dem euro- Hinzu kommt, daß die SED/PDS aus der Geschichte, päischen Durchschnitt liegende Neuverschuldungs- auch aus ihrer eigenen, bisher nichts gelernt hat. Wer, rate — und das trotz der ungeheuren finanziellen wie Sie noch heute, meine Damen und Herren von der Anstrengungen für den Aufbau Ost — der begonnene PDS, „gesellschaftliche Investitionslenkung" will, wer Wirtschaftsaufschwung und die Tatsache, daß diejeni- wie Sie „Wirtschafts- und Sozialräte auf nationaler, gen, die die deutsche Einheit wollten und sie herbei- regionaler und lokaler Ebene schaffen" will, wer wie geführt haben, wiederum vom deutschen Volk den Sie — man höre genau hin — „den außerparlamenta- Auftrag zur Regierungsbildung erhalten haben, sind rischen Kampf und gesellschaftliche Veränderungen eine große Ermutigung für uns und für alle, die jetzt in für entscheidend" hält, der steht nicht voll und ganz der inneren Einheit Deutschlands die vorrangige auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Der will Aufgabe sehen. fortführen, was Ulbricht, Honecker und Genossen in Deutschland angerichtet haben. Die fünfte Regierung Kohl setzt sich aus erfahrenen Ministern und aus jungen Talenten zusammen. Vor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — allem aber ist es ein Glück für Deutschland, daß Widerspruch bei der PDS) Helmut Kohl wieder Bundeskanzler ist. Meine Damen und Herren, im Ergebnis wären das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wiederum Unterdrückung statt Menschenwürde, Un- ordneten der F.D.P.) freiheit statt Freiheit, Kommandosystem und Kollekti- vismus statt Sozialer Marktwirtschaft, Verarmung Alle unsere Partner in Ost und West haben darauf statt Wohlfahrt. Ich füge hinzu: Sagen Sie sich los von gehofft. Helmut Kohl verkörpert ein Vertrauenskapi- Ihrer „kommunistischen Plattform", dem Stoßtrupp tal, das uns unsere weitere Arbeit für Deutschland der DDR-Vergangenheit, erleichtern wird. Natürlich wird die Opposition oppo- nieren, das ist ihre Aufgabe. Aber sie sollte sich hüten, (Andrea Lederer [PDS]: Das überlassen Sie zu blockieren, wie sie es zum Schaden des deutschen mal uns!) Volkes, zum Schaden unserer Demokratie, letztlich Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 109

Dr. Alfred Dregger aber auch zum eigenen Nachteil beim Asyl allzu lange hin ein anderer ist? Wir sind nämlich zukünftig an der gemacht hat. Formulierung von Europapolitik beteiligt. Das ist (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ keine Sache, die Sie uns über die Presse mitteilen CSU]: Sehr wahr!) können. Insofern ist es vielleicht besser, wenn Sie uns ihre Absichten schriftlich mitteilen. Denn es gab Meine Damen und Herren, auch BÜNDNIS 90/DIE Ankündigungen — und dabei ist es geblieben —, GRÜNEN sollten ihre Haltung überprüfen. Sie haben informelle Ratstagungen und Schauveranstaltungen, gemerkt, daß wir bereit sind, wenn es vertretbar ist, die in letzter Konsequenz keinerlei praktisches Ergeb- auch mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Herr Volmer nis gebracht haben, weder bei der Frage der Harmo- hat mich heute allerdings nicht gerade ermutigt, nisierung der Quellensteuer noch im Wohnungsbau darauf zu hoffen. noch in irgendeinem anderen Bereich. Selbst die Wir alle aber, Regierung und Opposition, haben den Würzburg-Tagung der Kulturminister, bei der eigen- Vorzug, vom deutschen Volk zu seinen Vertretern artigerweise der Außenminister den Vorsitz geführt gewählt worden zu sein. Wir alle sollten uns dessen hat, hat für die Menschen in unserem Lande keine würdig erweisen. praktischen Ergebnisse gebracht. Glückauf! Es lebe Deutschland, unser Vaterland! Ich will an dieser Stelle verkürzt sagen: Hätten diese (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 13 informellen Ratstagungen nicht stattgefunden und wäre statt dessen ein wirklich entscheidender Beschluß zur Frage der Bekämpfung von Arbeitslo- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nun sigkeit gefaßt worden, dann hätte das dem Europäi- die Abgeordnete Heidemarie Wieczorek - Zeul. schen Rat und dem Ministerrat zur Ehre gereicht. Das wäre das gewesen, was in dieser Phase notwendig gewesen wäre. - (SPD): Frau Präsiden- Heidemarie Wieczorek Zeul (Beifall bei der SPD — Abg. Ulrich Irmer tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde heute [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischen hier den Schwerpunkt Europapolitik mit ansprechen. frage) Vorher möchte ich sagen: Es gäbe hier vieles an die Adresse des letzten Redners zu kommentieren. Was Wir haben in der Diskussion der letzten Wahl- z. B. den Umgang mit der Geschichte angeht, so halte kampfwochen ein Kerneuropa-Papier gehabt, das zu ich es — und ich denke, eine große Mehrheit der großer Verwirrung bei den europäischen Nachbar- deutschen Bevölkerung ebenfalls — mit dem, was staaten beigetragen hat. , der außenpoli- Richard von Weizsäcker aus Anlaß des 8. Mai 1945 tische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, hat sich jetzt gesagt hat: Das Geheimnis der Versöhnung .heißt noch einmal auf einer Reise in den europäischen Erinnerung. — Ländern bemüßigt gesehen, zu erklären, was gemeint sei. Ich stelle fest: Das hat, jedenfalls nach Berichten (Beifall bei der SPD) von Kolleginnen und Kollegen, zu mehr Verwirrung Aus dieser Erinnerung werden wir hoffentlich alle - geführt als zu mehr Klarheit. Ich frage mich, was unsere Verantwortung für die Zukunft unseres Landes eigentlich in den Koalitionsvereinbarungen jetzt aus tragen. So habe ich das immer verstanden. diesem Konzept Kerneuropa geworden ist. Ist es jetzt Das zweite, was ich sagen wollte — deshalb werde wirklich auf diese Art und Weise erledigt? Oder sind ich mich in diesem Deutschen Bundestag jedenfalls da wieder Formelkompromisse gemacht worden, die nicht mit der CDU/CSU und auch nicht mit der F.D.P. dann nicht hier im Deutschen Bundestag politisch und schon gar nicht mit anderen Parteien in eine diskutiert werden, sondern die uns anschließend in Diskussion darüber begeben —: Herr Dr. Dregger, die einer neuen Form von Regierungskonferenz, Maas- Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei, die tricht II, sozusagen durch die Hintertür mit Konzepten, nach dem Ende des Nationalsozialismus ihren ehr- etwa zur europäischen Verteidigungspolitik oder der- lichen Namen nicht hat ändern müssen. Und von gleichen, serviert werden? Parteien, die das von sich nicht sagen können, lassen wir uns keine Belehrungen in Demokratie und Men- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, schenrechte geben. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer? (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist Geschichts- - (SPD): Nein danke, der klitterung! — Weitere Zurufe von der CDU/ Heidemarie Wieczorek Zeul Herr Irmer kann sich wieder setzen. CSU) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Ich möchte diese Diskussion heute dazu benutzen, SPD) um im Vorfeld des europäischen Gipfels am 9. und 10. Dezember das zu tun, was eigentlich eine Notwen- Gestatten Sie digkeit von seiten der Bundesregierung gewesen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eine Zwischenfrage des Abgeordneten Günther wäre, nämlich etwas zur Bilanz der europäischen (Duisburg)? Ratspräsidentschaft zu sagen. (Zuruf des Bundesministers Dr. Klaus Kin- Heidemarie Wieczorek - Zeul (SPD): Nein, auch kel) nicht. — „Schriftlich vorlegen! " Herr Dr. Kinkel, haben Sie immer noch nicht gemerkt, daß der Umgang des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie gar Deutschen Bundestages mit der Europapolitik fürder- keine Zwischenfragen? 110 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Das kommt rung daraus? Ich habe von Waigel heute hier nur ein drauf an. Vielleicht kommt noch etwas Interessanteres entschiedenes „Weiter so à la Maastricht" gehört. Das an Rückfragen. würde das Ansehen Europas endgültig demolieren. (Zuruf von der F.D.P.: Sie hat Angst vor der Wäre es nicht besser, liebe Kolleginnen und Kolle- Wahrheit!) gen, sich mit dem Datum 1996 für die Revision des Ich komme auf das Thema zurück: Was ist aus dem Maastricht-Vertrages nicht selbst unter Zeitdruck zu Konzept des Kerneuropa geworden? Ich will an dieser setzen, die dann wieder die üblichen Konsequenzen Stelle darauf hinweisen, daß in der Phase der Ratsprä- produzierte und unter Ausschluß der Öffentlichkeit sidentschaft der Bundesrepublik nichts beschlossen stattfände, worden ist, was real die Situation von Menschen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sagen Sie verbessern würde. doch einmal, was Sie wollen!) Ich sage an die Adresse des Sozialministers: Eine und statt dessen in großen Foren sowie in Anhörungen der großen Ankündigungen war, wir bräuchten ein des Deutschen Bundestages und in der Öffentlichkeit europäisches Gesetz, das Lohn- und Sozialdumping der Bundesrepublik Deutschland die weitere Ent- auf den Baustellen in unserem Land und bei Dienst- wicklung der Europäischen Union nach der Auf- leistungen verhindert. Es ist nicht nur nicht gekom- nahme Schwedens, Finnlands, Österreichs und hof- men, fentlich auch Norwegens zu diskutieren und dabei vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD) allem die Frage der Stärkung der parlamentarischen sondern es findet sich auch in den Koalitionsvereinba- Demokratie und die Leistungsfähigkeit der Europäi- rungen überhaupt nicht mehr als Ziel der jetzigen schen Union in den Vordergrund zu stellen? Das muß Bundesregierung. Das heißt: Es war offensichtlich meines Erachtens die Orientierung sein, damit die lediglich eine Ankündigung im Wahlkampf. Akzeptanz in der Bevölkerung überhaupt wieder (Horst Kubatschka [SPD]: Denen sind ja auch erreichbar ist. die Bauarbeiter wurscht!) (Beifall bei der SPD) Selbstverständlich teile ich die Auffassung, wenn Welche Schlußfolgerungen — das ist heute bei gesagt wird, es gehe darum, daß es in europapoliti- Joschka Fischer angeklungen — zieht denn die Mehr- schen Fragen in den Grundlinien Gemeinsamkeiten zahl konservativer Regierungen in Europa aus der gibt. Aber auch hier die gleiche Konzeptionslosigkeit: veränderten Lage nach dem Wegfall der Mauer in Was jetzt hier vorgelegt worden ist und was heute die wirtschaftspolitischen Fragen? Unter dem neuen Vertreter der Regierung in europapolitischen Fragen Druck von Wettbewerb setzen sie auf Lohnsenkungen dargestellt haben, zeigt, daß „Durchwurschteln" bei und Sozialabbau. Das ist ihr Konzept. Ihnen angesagt ist und daß es Unklarheiten gibt. Der Ich meine, es wäre die große Chance für die Hauptgrund für diese Unklarheiten ist meines Erach- Westeuropäer, das zu stärken, was in Westeuropa am tens, daß die Bundesregierung es immer noch nicht meisten vorhanden ist, was den Menschen insgesamt verstanden hat, daß eine zentrale Voraussetzung der am meisten nutzt, nämlich die Qualifikation der bisherigen Europapolitik heute nicht mehr existiert, Arbeitskraft von Menschen, die Ausbildung von Men- nämlich die unbestrittene Akzeptanz in der Bevölke- schen, ihre Arbeitsmöglichkeit und ihre Berufstätig- rung. keit. Arbeitslosigkeit zerstört jeden Tag aufs neue das Wichtigste, das Menschen besitzen, nämlich ihre berufliche Qualifikation und Fähigkeit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es liegt noch eine Von der Bundesregierung ist zu diesem Bereich der Bitte nach einer Zwischenfrage vor. Europapolitik überhaupt keine Aussage zu hören gewesen. Wenn es aber nicht gelingt, den 18 bis 20 Millionen arbeitslosen Menschen in Europa wieder Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Danke. — Es ist Arbeit zu geben, dann brauchen wir uns über die alles wahr und richtig, was an dieser Stelle Herr Akzeptanz der europäischen Einigung überhaupt Dregger und auch der Bundeskanzler zur Frage der keine Gedanken mehr zu machen, weder mit erster, Friedenssicherung durch die Europäische Union zweiter oder dritter Geschwindigkeit, liebe Kollegin- gesagt haben. Das ist alles wahr und richtig. nen und Kollegen. Aber es ist auch wahr und richtig — und wir wie die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung müssen daraus Konsequenzen zie- DIE GRÜNEN) hen —: Für die Mehrzahl der Menschen in Europa rechtfertigt sich die europäische Einigung heute nicht Die Diskussion über zwei Geschwindigkeiten oder mehr allein aus den schrecklichen Erfahrungen der was auch immer interessiert die Leute nämlich einen europäischen Geschichte, und sie rechtfertigt sich feuchten Kehricht. noch weniger allein aus dem großen gemeinsamen Ein anderer Punkt bei den Grundfragen, die wir uns Markt. In den 50er und 60er Jahren stand Europa für stellen müssen, die sich diese Bundesregierung und den demokratischen Aufbau und für die Verbesse- im übrigen eine — hoffentlich bald kommende — rung von Wohlstand. Heute wird es — und dies muß sozialdemokratisch geführte Bundesregierung stellen doch einmal ehrlich zugegeben werden — bestenfalls muß: Die alte Europäische Gemeinschaft konnte noch als Reparaturbetrieb angesehen. auf dem ungebrochenen Vertrauen in die Unerschöpf- Welche Konsequenzen ziehen die Regierungen lichkeit natürlicher Grundlagen, von Rohstoffen, daraus? Welche Konsequenz zieht die Bundesregie- Umwelt usw. aufbauen. Heute wissen die Menschen, Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 111

Heidemarie Wieczorek-Zeul daß wir auf eine globale Katastrophe zusteuern, wenn men werden, sind es über 100 Milliarden DM. Die dieser Ansatz beibehalten wird. Wenn das knappe Übertragung der EU-Agrarpolitik auf die Länder Mit- Drittel der Menschen, die in Westeuropa, in Japan und tel- und Osteuropas würde in deren Agrarpolitik in den USA leben, für zwei Drittel der Belastung des unmittelbar eine Katastrophe bewirken. Sie würde Ökosystems verantwortlich ist, dann muß zuallererst längerfristig nochmals zu rund 100 Milliarden DM hier bei uns etwas geändert werden. Und dann wäre Kosten führen. es doch die Aufgabe der Europäischen Union, Initia- Jetzt müssen Sie Ihre Widersprüche klären und tiven für einen Öko-Gipfel und für Maßnahmen zum offen auf den Tisch des Hauses legen. Wenn die Energiesparen und zur ökologischen Modernisie- Bundesregierung also für die Einbeziehung dieser rung der Industrie in allen zwölf — und künftig 16 — Länder in die wirtschaftliche europäische Integration Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu ergrei- ist, muß sie entweder der Bevölkerung in Deutschland fen. sagen, daß es teuer wird, daß es mit hohen Transfers (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verbunden ist, oder sie muß sagen, daß es nicht DIE GRÜNEN) machbar ist, oder sie muß sich — drittens — dafür einsetzen, daß die EU-Agrarpolitik endlich so refor- Ein weiterer Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, miert wird, daß die Aufnahme dieser Länder auch in bei dem die Bundesregierung unehrlich ist: An meh- wirtschaftliche Strukturen der Europäischen Union reren Stellen heißt es in den Koalitionsvereinbarun- möglich ist. gen, es gehe darum — und das ist auch hier wieder gesagt worden —, die Länder Mittel- und Osteuropas (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Sieg in die Europäische Union aufzunehmen. An anderen fried Hornung [CDU/CSU]: Sie redet von wieder heißt es, notwendig seien strikte europäische etwas, wovon sie nichts versteht!) Haushaltsdisziplin — das hat die Abteilung Waigel — Herr Kollege, die Tatsache, daß in Ihren Reihen hier vorgetragen — und die Überprüfung von Pro- offensichtlich immer noch sexistische und machisti- grammen. Weiter wird im Agrarkapitel die Fortset- sche Zwischenrufe an der Tagesordnung sind, zung der bisherigen Form der EU-Agrarpolitik als Forderung aufgenommen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wundert dich das?) (Zuruf von der CDU/CSU: Aber selbstver- spricht Bände. Sie sollten einmal darüber nachden- ständlich!) ken! Im Wirtschaftskapitel — und heute wieder in allen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ich habe Reden — wird überall eine Deregulierungsoffensive gesagt, daß Sie davon nichts verstehen!) und die Verbesserung der Marktkräfte gefordert. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Welcher Mehr Frauen in Ihren Reihen wären auch unter Bereich ist mehr reguliert und bürokratisiert als die solchen Gesichtspunkten gut. EU-Agrarpolitik? - (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN und der PDS — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer es wirklich ernst nimmt, der setzt an dieser Stelle Ab auf die Hinterbank!) einmal an, weil sich Arbeitnehmer fragen, warum die segensreichen Kräfte des Marktes eigentlich nur bei Es ist im übrigen auch notwendig, klarzumachen, ihnen und ihrer Situation wirken sollen und warum es daß dann andere Sprüche, die der Außenminister oder Bereiche gibt, die völlig aus dem Markt herausgenom- der Finanzminister manchmal bringen, einem Test zu men sind. unterziehen sind. — herr Waigel ist jetzt leider nicht (Beifall bei der SPD) da. — Wenn die Agrarreform stattfände und der Anteil der Agrarausgaben von jetzt 50 am EU- Ich sage also: Keines der vier Ziele, die da formuliert Haushalt reduziert würde, wären zum einen die finan- sind, ist mit den anderen drei Zielen in irgendeiner ziellen Rückflüsse in die Bundesrepublik sehr viel Form zu vereinbaren. Sie werden aber unverbunden höher. Zweitens wären Betrugsmöglichkeiten, die der in diese Koalitionsvereinbarung übernommen. Ent- Europäische Rechnungshof in den letzten Wochen weder ist es also so, wie — in diesem Fall einmal aufgedeckt hat — die offensichtlich auch in Deutsch- zutreffend — Herr Ministerpräsident Stoiber gesagt land praktiziert werden —, auf diese Art und Weise hat, daß diese Bundesregierung auch auf Grund der leichter zu verhindern, und man könnte so dazu Organisation von Europapolitik überall etwas und im beitragen, daß keine Finanzmittel verschleudert wer- Außenministerium eher die Frühstücksdirektoren den. stelle — entweder ist sie also wirklich so unkoordi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir niert —, oder die Bundesregierung erzählt der Bevöl- müssen eine Grundentscheidung treffen — davor kerung in diesen Fragen bewußt nicht die Wahrheit — drückt sich die Bundesregierung in all diesen Diskus- oder beides. Wir verlangen aber Wahrheit und Klar- sionen —, wie stark wir die heit. Ausweitung der Europäi- schen Union über die jetzt aufzunehmenden Länder Die Bundesregierung weiß — Herr Kollege Dreg- Schweden, Finnland und Österreich — und hoffent- ger, das muß dann auch gesagt werden —, daß die lich auch Norwegen — hinaus wollen. Wir müssen uns Aufnahme von Tschechien, der Slowakischen Repu- klarmachen, daß es dabei auch Grenzen gibt. Eine blik, Polen und Ungarn in die Strukturfonds der Europäische Union, in der sich demokratische Mitwir- Europäischen Union 52 Milliarden DM jährlich kostet. kung, regionale Eigenständigkeit und sozialer Zu- Wenn alle Länder in Mittel- und Osteuropa aufgenom- sammenhalt nicht mehr organisieren lassen, ist nicht 112 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Heidemarie Wieczorek-Zeul die Europäische Union, die die Gestaltung Europas Rudolf Seiters (CDU/CSU): Frau Präsidentin! und die Entwicklung unseres Kontinents nach dem Meine Damen und Herren! Ich bin in diesen Tagen in Ende des Ost-West-Konflikts ermöglichen würde. Gesprächen mit polnischen und auch tschechischen Ich möchte einen praktischen Vorschlag in die Gesprächspartnern noch einmal an den deutsch- Diskussion bringen. Der Maastricht-Vertrag sieht ja polnischen Asylvertrag, den wir im letzten Jahr abge- nur die Möglichkeit der wirtschaftlichen Assoziierung schlossen haben, und an den deutsch-tschechischen, dritter Staaten vor, also die Integration in die wirt- Herr Kollege Kanther, den wir in diesem Jahr abge- schaftlichen Strukturen. Warum ändern wir den schlossen haben, erinnert worden. Ich finde, beide Maastricht-Vertrag nicht so, daß ab 1997 die Assozi- Verträge sind Beispiele für eine faire inte rnationale ierung mittel- und osteuropäischer Lander an die Zusammenarbeit und Lastenteilung, wie auch von gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie an unseren polnischen und tschechischen Gesprächs- die Innen- und Rechtspolitik möglich wird, damit wir partnern immer wieder unterstrichen wird. für diese Länder eine europäische Perspektive bieten, Ich erwähne dies deshalb, weil ich heute sagen die sie brauchen, um ihre Reformen abzusichern? möchte: Wohin wir auf unserem Kontinent auch blik- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ken, die Probleme in Europa und die internationalen Herausforderungen sind fast überall mit nationalen Ich füge hinzu: Das hat auch Konsequenzen für Maßnahmen und Programmen allein nicht zu bewäl- Marktöffnungen. Denn absichern und finanziell hel- tigen, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln fen müssen wir. Aber ich wage zu bezweifeln, daß es und aus gemeinsamer Verantwortung zusammen mit diesen Ländern oder der Europäischen Union insge- unseren europäischen und amerikanischen Nach- samt nutzt, wenn sie in eine unreformierte Europäi- barn: die Wohlstandsgrenze, die mitten durch Europa sche Union einbezogen würden. verläuft, die Konflikte und Krisen in unserer Nachbar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaft, die labile Situation in Rußland und auch die Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist von Weiterentwicklung der Europäischen Union. einem der GRÜNEN-Diskussionsredner bemängelt Wir sollten dabei die Rolle des wieder vereinten oder sozusagen am Rande gesagt worden, es sei Deutschlands nicht überschätzen; aber ohne jeden überflüssig, daß in der Koalitionsvereinbarung stehe, Zweifel ist unsere Verantwortung größer geworden. die Bundesregierung wolle den Bundestag frühzeitig Unsere Partner in der Welt erwarten auch, daß wir die über europäische Regelungen unterrichten, die Verantwortung wahrnehmen. Und an die Adresse des geplant seien. Ich möchte an dieser Stelle ausdrück- Kollegen Verheugen will ich doch sagen, weil er die lich sagen: Offensichtlich hat die Bundesregierung außenpolitische Rolle der Bundesregierung, wie ich Art. 23 der Verfassung nicht richtig gelesen. Es geht finde, heute morgen sehr oberflächlich bemäkelt hat: nicht nur darum, daß sie den Deutschen Bundestag Ich meine, daß wir in Sachen Verläßlichkeit, Vertrau- frühestmöglich informiert. Nach dem Grundgesetz ist enswürdigkeit und Solidarität mit unseren Partnern der Deutsche Bundestag Teil der Willensbildung der keinen Nachholbedarf haben. Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen - Union. Es ist ein ganz hohes politisches Gut, daß wir heute (Beifall bei der SPD) sagen können: Das Ausland, unsere Nachbarn, sie vertrauen Deutschland, sie vertrauen diesem Kanzler Wir wollen nicht nur unterrichtet werden, sondern uns und dieser Bundesregierung. an der Willensbildung beteiligen. Wir wollen vor allen Dingen dazu beitragen, daß die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU) diese Stellungnahmen berücksichtigt. So sagt es näm- Ich finde, das ist eine sehr gute und tragfähige lich das Grundgesetz. Grundlage für die Außenpolitik der kommenden Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß: Wenn Jahre. man an der Regierung ist, fällt einem das schwer. Ich Als erstes möchte ich auch aus der Sicht unserer sage es in Kenntnis der Tatsache, daß ich dafür streite, Bundestagsfraktion die Bedeutung der Regierungs- daß die Sozialdemokratie in diesem Land so schnell konferenz 1996 und die Notwendigkeit der Vertie- wie möglich die Regierung stellt, damit die verlorene fung der Europäischen Union unterstreichen, weil Zeit in europapolitischen wie auch anderen Fragen, diese Konferenz zu einer deutlichen Stärkung der die wir heute diskutiert haben, endlich aufgeholt wird, Europäischen Union in den politischen Schlüsselbe- damit Gestaltung und vor allem die ehrliche Beant- reichen führen, die gemeinsame europäische Vertei- wortung von Grundfragen angesagt ist. digung schaffen und die institutionelle Handlungsfä- Es ist bei der Frage der Kosten der deutschen higkeit der Union deutlich verbessern muß. Einheit so viel gelogen worden, und es muß endlich auch mit den Lügen im Bereich der europäischen Ich stimme Ihnen zu, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul: Einigung Schluß sein. Die Vorbereitung dieser Regierungskonferenz sollte auch nach unserer Meinung nicht nur eine Angele- Ich danke Ihnen sehr. genheit der zuständigen Ministerien, der Abgeordne- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph ten oder kleiner Kreise in Publizistik und Wissenschaft Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sein. Denn wir sollten auch aus der Debatte um NEN]) Maastricht gelernt haben. Wir brauchen eine breite öffentliche Diskussion über die Inhalte und Ziele der Regierungskonferenz, auch darüber, daß wir uns Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt einen Stillstand nicht leisten können. Die Bürger der Abgeordnete Rudolf Seiters. müssen nachvollziehen und akzeptieren können, Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 113

Rudolf Seiters warum die Vertiefung der Europäischen Union not- erlebt, wie schwierig das Ringen um die dringend wendig ist. notwendige gemeinsame Politik zur Bekämpfung des internationalen Verbrechens und um eine gemein- Aber gerade deswegen — ich sehe auch den Kolle- same Strategie der Europäischen Union in der Asyl- gen Lamers im Plenum — waren und sind die Über- und Zuwanderungspolitik war und heute noch ist. legungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur eu- ropäischen Politik wichtig, weil wir bei der konse- Die Entscheidungen für Europol sind im Grundsatz quenten Weiterentwicklung der Europäischen Union gefallen. Ganz wichtig bleiben der Abschluß der niemanden von unseren Partnern ausschließen. Doch Konvention und der Ausbau von Europol zu einem es gilt auch der Satz des Bundeskanzlers: Wir wollen europäischen Polizeiamt mit den notwendigen Hand- nicht, daß das langsamste Schiff im Geleitzug das lungsmöglichkeiten. Das ist eine aktuelle und unver- Tempo der europäischen Entwicklung bestimmt. zichtbare Aufgabe und Herausforderung angesichts der Bedrohung von Staaten und Gesellschaften durch (Josef Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE das internationale Verbrechen. GRÜNEN]: Deshalb muß man nicht wie ein Nashorn durchs europäische Unterholz tra- Ebenso wichtig ist ein anderes Feld der Zusammen- ben! Der Name des Nashorns ist bekannt! — arbeit, auf dem sich die Mitgliedstaaten noch sehr Ulrich Irmer [F.D.P.]: Im europäischen Unter- schwer tun und auf dem auch der Gedanke der holz gibt es keine Nashörner!) Lastenteilung und der Solidarität unter den europäi- schen Staaten noch nicht besonders ausgeprägt ist: ein Bei der europäischen Währungsunion, Herr Fischer, gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Flücht- gilt das gleiche. Unsere Bürger werden die Währungs- lingspolitik, eine gerechte Verteilung von Flüchtlin- union, die zu einem weiteren Souveränitätsverzicht gen auf die Mitgliedstaaten und — nicht zu verges- führen wird, akzeptieren, wenn sie auch deren Vor- sen — eine gemeinsame Politik zur Verbesserung der teile und deren Notwendigkeit erkennen, wenn sie Lebensbedingungen in den Herkunftsländern. Denn also das sichere Gefühl haben, daß ihnen die Wäh- es bleibt wahr: Das Asylrecht kann frühestens an rungsunion nützt und daß sie der Stabilität und unseren eigenen Grenzen Wirksamkeit entfalten. Die Prosperität der europäischen und damit der deutschen Ursachen für Wanderung und Flucht aber liegen in Wirtschaft dient, und wenn sie die Überzeugung den Herkunftsländern. Sie müssen dort mit unserer haben, daß die künftige europäische Währung wirksamen gemeinsamen Hilfe beseitigt oder jeden- genauso stabil wie die sein wird. Theo falls gemildert werden. Es wäre auch im Hinblick auf Waigel hat heute für die Regierung in einer sehr die deutschen Interessen kurzsichtig, wollten wir überzeugenden Weise die Erfolge der Stabilitätspoli- unseren Nachbarn diese Hilfe verweigern. tik der Bundesregierung und auch völlige Klarheit bei den Zielen dargestellt, so daß diese Klarheit von dem Die vierte Bemerkung: Der Deutsche Bundestag hat Kollegen Lafontaine nicht angemahnt werden in seinem Entschließungsantrag zur europäischen mußte. Integration vom 15. Oktober 1993 von einem dringen- den Handlungsbedarf in der gemeinsamen Außen- Unser Ziel bleibt, daß die Wirtschafts- und Wäh- und Sicherheitspolitik gesprochen. Es gibt wohl rungsunion vertragsgemäß bei strikter Beachtung der nichts, was klarer für die Notwendigkeit eines im Vertrag festgelegten Kriterien verwirklicht wird. gemeinsamen Vorgehens und einer gemeinsamen Ich erinnere aber auch an den gemeinsamen Beschluß Verteidigungspolitik im Kontext zur transatlantischen des Deutschen Bundestages vom 1. Dezember 1992 zu Zusammenarbeit spricht als die jüngste Entwicklung der Frage, wie im Rahmen der Endstufe dauerhaft im ehemaligen Jugoslawien einschließlich der Frage eine gleichgerichtete Wirtschafts- und Fiskalpolitik in des Waffenembargos. Ich denke, zur Ehrlichkeit allen Mitgliedsländern erreicht werden kann, und an gehört auch die Selbstkritik. Der Eskalation der Kon- unsere Forderung, bei der Revisionskonferenz 1996 flikte, dem Morden und der Brutalität hätte ganz diesen Teil des Vertrages präziser zu fassen. anders begegnet und Einhalt geboten werden kön- Jedenfalls bleibt es dabei: Die angestrebte Wirt- nen, wenn die Völkergemeinschaft von Anfang an in schafts- und Währungsunion ist ein Schlüsselfaktor der Lage gewesen wäre, entschlossen und geschlos- für wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand in Europa. sen zu handeln, oder wenn sich, mit Blick auf die Aber diese Währungsgemeinschaft ist nur als Stabili- Europäer, Europa wenigstens in der Bewertung der tätsgemeinschaft möglich und darf nur jenen Ländern Vorgänge einig gewesen wäre. eröffnet werden, die die im Vertrag von Maastricht Es geht uns wahrscheinlich doch allen gemeinsam geforderten Kriterien erfüllen. Anders gesagt, auch so: Fassungslosigkeit, daß am Ende dieses Jahrhun- mit Blick auf unsere Bevölkerung — das sagen wir derts mitten im zivilisierten Europa so etwas möglich auch als Vertreter der eigentlichen deutschen Stabili- ist, Trauer über die Ereignisse und auch der Zorn, daß tätspartei —: es bisher nicht möglich war, den schrecklichen Krieg (Lachen bei der SPD) einzudämmen oder zu beenden. Wir werden die Stabilität der Währung nicht auf dem Natürlich ist es beklagenswert, daß die USA jetzt in Altar der europäischen Wirtschafts- und Währungs- der Frage der Überwachung des Waffenembargos union opfern. einseitig von der gemeinsam vereinbarten Linie abge- (Beifall bei der CDU/CSU) wichen sind. Es muß alles getan werden, um eine Krise im Bündnis und damit auch in der Europäischen Union Die dritte Bemerkung: Ich habe auch als Innenmi- zu vermeiden. Aber das kann nicht die einzige Ant- nister in den vergangenen Jahren auf internationalen wort auf die Probleme sein, die sich hier stellen. Es Konferenzen und in bilateralen Verhandlungen wird jetzt entscheidend darauf ankommen, nicht nur 114 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Seiters den internationalen Druck auf die bosnischen Serben Ich habe dann noch einmal in die Koalitionsverein- zu erhöhen, die den internationalen Friedensplan barungen geschaut, die eher ein Dokument der Aus- ablehnen und ständig gegen UNO-Beschlüsse versto- klammerung und des Stillstandes sind, und fand dort ßen, sondern auch, wenn nötig, erneut die notwendi- einen Satz, in dem zwar auch von Zukunft die Rede ist, gen militärischen Maßnahmen zu ergreifen. Der Bun- der aber trotzdem schlagartig alle meine aufkeimen- deskanzler hat mit seiner Forderung recht, die kriege- den Hoffnungen zerschlug. Es heißt in diesem Satz: rischen Handlungen endlich zu beenden, die humani- „Aus unseren Erfahrungen und Leistungen der ver- täre Hilfe endlich zuzulassen und den Friedensplan gangenen Jahre leitet sich unser Anspruch ab, die endlich anzuerkennen. Zukunft weiterhin erfolgreich zu gestalten. " Das ist Vorrangiges Ziel deutscher Außenpolitik bleibt die nicht nur Arroganz, das ist wirklich eine Drohung. Sicherung von Frieden und Freiheit. Dieses Ziel Statt Zukunft, Erneuerung, sozialer Gerechtigkeit, werden wir nur dann erreichen, wenn wir verläßliche sicherer Finanzen, Gemeinsinn und Wärme, die Sie Partner sind, Solidarität mit unseren Nachbarn üben uns hier in schönen Reden versprechen, heißt die und uns der größer gewordenen Verantwortung Parole genau wie im Wahlkampf: Weiter so, Deutsch- an- Deutschlands in der Welt nicht entziehen. Nachdem land! Das ist tatsächlich eine unverhohlene Kampf das Bundesverfassungsgericht Klarheit über die Ein- sage, nicht nur an zwei Drittel der Menschen in satzmöglichkeiten der Bundeswehr geschaffen hat, unserem Land, sondern auch an die Umwelt dieses können zu Recht unsere Partner in der NATO von uns Landes. Sie entzieht allem, was in der Koalitionsver- Deutschen ein klares Ja zur europäischen Verteidi- einbarung dann noch an teilweise sogar Sinnvollem gungspolitik und zur Verteidigung und die Bereit- folgt, jede Glaubwürdigkeit. schaft der Bundesrepublik Deutschland erwarten, sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im vollen Umfang auf der Grundlage der Bestimmun- Seit Jahren, seit sie an der Macht sind, sprechen die gen der Charta der Vereinten Nationen an Maßnah- Vertreter der Bundesregierung von der Konsolidie- men der Staatengemeinschaft zur Aufrechterhaltung rung der öffentlichen Finanzen und von Steuerrefor- des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit men. Herr Kohl und Herr Waigel, was haben Sie denn zu beteiligen. Auch die Opposition sollte begreifen eigentlich all die Jahre gemacht? Tatsächlich hat diese — das hat mit Militarisierung der Außenpolitik nichts Regierung doch die öffentlichen Schulden in eine zu tun —: Wenn es um Frieden und Freiheit in der Welt unvorstellbare Höhe getrieben, und der Finanzmini- und Europa sowie um internationale Solidarität geht, ster hat sich rettungslos im Gestrüpp einer konzep- darf Deutschland nicht abseits stehen und keine tionslosen Steuerpolitik verheddert. Sonderrolle spielen. Dies wäre für die Zukunft unseres Landes verhängnisvoll. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Schuldenmajor!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Kosten dieser Politik werden den Schwachen und Wehrlosen dieser Gesellschaft auferlegt, oder sie - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt werden über Schulden einfach in die Zukunft verla- der Abgeordnete Gerald Häfner. gert. Der Finanzminister hat in den Jahren des Wachs- tums geschludert. Heute, wo wir das Geld dringend bräuchten, fehlt nicht nur das Geld, sondern es fehlt Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- auch jedes Konzept für die Meisterung der Krise. ehrte Frau Präsidentin Vollmer! Liebe Kolleginnen Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte wird und Kollegen! Weihnachten naht, und der Finanzmi- bis zum Jahre 1995 auf sage und schreibe mehr als nister, der sich selbst laut meiner Tageszeitung in 2,3 Billionen DM steigen. Das bedeutet eine Verdop- erstaunlicher Verkennung des Realitätsbezugs von pelung in einem Zeitraum von lediglich fünf Jahren. Vornamen und übrigens auch der neutestamentlichen Die Bundesschulden machen dabei den allergrößten Theologie für ein Göttergeschenk hält und dies öffent- Teil der Gesamtverschuldung aus. Mit 800 Milliarden lich erklärt hat, spricht vom Christkindl und verspricht DM im Jahr 1995 werden sie um fast 300 Milliarden auch hier heute Wunderbares, nämlich die Gewähr- DM höher liegen als noch vor fünf Jahren. Hinzu leistung solider Staatsfinanzen, die Sicherung und kommen die Schulden aus den Erblastentilgungs- Schaffung von Arbeitsplätzen und ein größtmögliches fonds und den anderen Nebenhaushalten, so daß die Maß an sozialer Gerechtigkeit. Gesamtschuldenbelastung des Bundes bei etwa 1 400 (Detlev von Larcher [SPD]: Das hat er schon Milliarden DM liegen wird. immer verheißen!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was ist Als dann der Bundeskanzler heute noch von Erneue- denn mit dem Geld alles gemacht wor rung und Herr Kinkel, man höre, von Gemeinsinn und den?) sogar Herr Schäuble von einer Gesellschaft sprach, Damit wird die finanzpolitische Handlungsfähigkeit die Schwache schützt und Geborgenheit und Wärme immer weiter eingeschränkt. Schon heute muß jede vermittelt, da wollte ich es am liebsten selbst schon fünfte Steuermark für Zinsen aufgewendet werden. glauben. 1995 werden die Zinsausgaben sogar ein Viertel des (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Steueraufkommens absorbieren. DIE GRÜNEN]: „Halleluja" kann man da nur Je nachdrücklicher Sie, Herr Bundesfinanzminister, noch sagen!) von einer Konsolidierung der Staatsfinanzen gespro- Denn jeder Mensch, auch der schwärzeste, ist zur chen haben, desto ungezügelter ist die Neuverschul- Erkenntnis und zur Umkehr fähig. dung des Bundes angestiegen. So wird es sich auch in Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 115

Gerald Häfner Zukunft verhalten. Die Zahlen, die Sie in der Prognose GRÜNEN aufruft, können Sie sich nicht mehr einkrie- bis 1998 vorgelegt haben, werden sich schon bald als gen. Makulatur erweisen. In einem Punkt kann man sich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — denke ich, tatsächlich auf den Finanzminister verlas- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sen: Seine Zahlen sind mit Sicherheit falsch, sie sind DIE GRÜNEN]: So wandert der Segen wei geschönt, sie entsprechen nicht der Wirklichkeit. ter!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die steuerliche Freistellung des Existenzminimums wird nach Ihrer sehr niedrig angesetzten Schätzung Weder für die Steuerbefreiung des Existenzmini- 15 Milliarden DM kosten. Abgesehen davon, daß Sie mums noch für die Verbesserung des Familienlasten- noch nicht einmal dafür eine finanzielle Vorsorge ausgleichs noch für die Unternehmensteuersenkun- getroffen haben, wird eine solche Schmalspurreform gen, die Sie sinnwidrigerweise versprechen, sind in kaum ausreichen. Nötig ist eine Gesamtrevision unse- der Planung entsprechende Mindereinnahmen be- res Steuerrechts. Nötig ist es, ungerechte Privilegien rücksichtigt. Selbst das Bundeskanzleramt, also quasi abzuschaffen. Sie erinnern sich an das Expertengut- das Hauptquartier der Bundesregierung, hat jetzt achten für die Umweltministerkonferenz, das seiner- Alarm geschlagen und festgestellt, daß die Zahlen des zeit festgestellt hat, daß Subventionen in Höhe von Finanzministers eine Lücke von 30 Milliarden DM 10 Milliarden DM einseitig umweltschädliches Ver- offenbaren. halten fördern. Hier könnten Sie, angefangen beim Ich fordere Sie deshalb auf, endlich ein Finanz- Flugbenzin, endlich einmal mit dem Abbau von Sub- tableau vorzulegen, ventionen und einer Vereinfachung des Steuerrechts im Sinne der Schaffung von mehr Transparenz und (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das hat mehr Steuergerechtigkeit Ernst machen. doch bei Ihnen keinen Sinn! Sie können doch nicht rechnen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihre Politik ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist in das glaubwürdige, wahrheitsgemäße Zahlen enthält hohem Maße auch wirtschaftspolitisch — das meine und alle finanzpolitischen Risiken berücksichtigt. ich im wahrsten Sinne des Wortes — kontraproduktiv. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Denn z. B. durch die Verlagerung eines Großteils der DIE GRÜNEN]: Schluß mit den Luftbuchun- Kosten der deutschen Einheit in die Sozialversiche- gen! Jetzt wollen wir mal die Wahrheit rungssysteme hinein haben Sie die vielfach beklagten hören!) Lohnnebenkosten in diesem Land nach aktuellen Schätzungen um etwa 100 Milliarden DM angeho- Ich denke, nicht nur wir, dieses Parlament, sondern ben. auch die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht Wieder bosseln Sie am Steuerrecht herum. Wieder auf die Wahrheit. - wollen Sie hier und da etwas ändern. Wieder werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie es mit Ihren Plänen nur verschlimmbessern. Wie- der gehen Sie die eigentliche Aufgabe nicht an, Sie sprechen immer noch von Reformen, aber Sie nämlich eine grundsätzliche Überarbeitung des haben in Ihrer Amtszeit noch keine einzige vernünf- Steuerrechts mit dem Ziel der Vereinfachung, der tige Reform zustande gebracht. Verständlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Vor allem vor der größten Aufgabe, Herr Finanzmi- DIE GRÜNEN]: So ist es!) nister, kneifen Sie vollständig: nämlich vor einer Ökologisierung unseres Steuerrechts. Es ist doch Sie haben, statt mehr soziale Gerechtigkeit zu schaf- völlig absurd und auch durch nichts gerechtfertigt, fen, die Lasten immer mehr auf den Schwachen dieser daß wir die menschliche Arbeitskraft steuerlich mas- Gesellschaft abgeladen und vor den mächtigen Inter- siv verteuern, während der Verbrauch von Umwelt essengruppen gekuscht. Mit christlich und mit sozial und Umweltgütern so billig wie nur irgend möglich hat das, Herr Waigel, schon lange gar nichts mehr zu gehalten wird. Es ist nicht immer nur böser Wille, tun. Vielmehr haben die Finanz- und Steuerpolitik der wenn ein Unternehmer teure Arbeitskräfte entläßt letzten Jahre sowie der Kahlschlag bei den Soziallei- und durch wesentlich billigere Maschinen — Maschi- stungen die Spaltung der Gesellschaft vertieft. Weil nen übrigens, die sehr viel Energie und Rohstoffe Sie und Ihre Parteifreunde sich über die gemeinsame verbrauchen — ersetzt, sondern Sie zwingen ihn mit Erklärung der Bischöfe in Deutschland aufgeregt und Ihrer Steuerpolitik in vielen Fällen dazu. Immer öfter gefordert haben, die Kirchen sollten sich gefälligst aus ist das Folge eines anachronistischen, sozial- und dem Wahlkampf und dem Parteienstreit heraushal- umweltschädlichen Steuerrechts. ten, Sie predigen doch so gerne Marktwirtschaft. Was (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie aber, Herr Minister, wenn der Markt nicht funktio- können ja frei reden!) niert, weil die von Ihnen gesetzten Rahmendaten schon längst nicht mehr stimmen? Marktwirtschaft muß ich Sie daran erinnern, wie Sie, Herr Waigel, sich müßte doch eigentlich bedeuten, daß knappe Güter immer über das alle vier Jahre rechtzeitig erschei- sehr viel teurer, während Güter, bei denen das Ange- nende Hirtenwort der Bischöfe gefreut haben, als es bot die Nachfrage überwiegt, billiger sind. Aber wie noch die Wahl Ihrer Partei empfahl. Heute, wo es ist es denn nun bei den beiden Produktionsfaktoren zwischen den Zeilen zur Wahl von BÜNDNIS 90/DIE Umwelt und Arbeit? Durch die vielen Belastungen, die 116 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Gerald Häfner auf den Arbeitskosten liegen, sind Arbeitskräfte, Veränderungen gegeben hat, ist ihm offensichtlich obwohl im Übermaß vorhanden, enorm teuer. Umwelt entgangen. dagegen — heute wahrlich ein knappes Gut — gibt es Die F.D.P.-Bundestagsfraktion, meine Damen und quasi zum Nulltarif. Die ökologischen Folgekosten Herren, stellt mit Befriedigung fest, daß die Regie- tauchen in der unternehmerischen Kalkulation gar rungserklärung des Bundeskanzlers die Durchset- nicht auf. Sie werden vielmehr auf die Bürgerinnen zung der Koalitionsvereinbarungen in vollem Umfang und Bürger abgewälzt. Das führt zu einem völlig beinhaltet. verzerrten Wettbewerb zuungunsten der Umwelt und der Menschen in unserem Land, die Arbeit suchen. (Detlev von Larcher [SPD]: Das kann man doch gar nicht feststellen!) Die Zustimmung zu unserem Konzept einer ökolo- gischen und sozialen Steuerreform geht inzwischen Ein Schwerpunkt für die Freien Demokraten bleibt weit über Umweltverbände hinaus. Auch die Gewerk- der Politikbereich, der letztendlich 1982 zum Wechsel schaften, die Kirchen, der Bundesverband junger der Koalition und zur Neuorientierung der deutschen Unternehmer, die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Politik geführt hat: die Sicherung der Staatsfinanzen. Unternehmer in Deutschland, ja sogar der Sachver- Ein Endpunkt dieser erfolgreichen Politik ist die ständigenrat für Wirtschaftsfragen haben dies aufge- Erringung der deutschen Wiedervereinigung in Frei- griffen. Nur die Bundesregierung ist alleine, mauert heit. Wir stellen uns gerne den daraus resultierenden sich ein und hält sich die Ohren zu. Aufgaben, die natürlich, Herr Kollege, eine ganze Wir brauchen eine ökologische Steuerreform mit Menge mit Finanzen zu tun haben. dem Ziel, die Umwelt zu schützen und Arbeitsplätze Durch die jahrzehntelange sozialistische Mißwirt- zu schaffen. Sie, Herr Waigel, tun keines von beiden. schaft in der DDR und durch die Notwendigkeit der Damit aber stehen Sie bald alleine. Im bekannterma- Umstrukturierung und der Privatisierung der Staats- ßen nicht sehr umfangreichen Metaphernschatz des wirtschaft ist es zu enormen Umwälzungen gekom- Bundeskanzlers spielt der Zug, den man erwischen men, nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutsch- muß, eine große Rolle, auch wenn der Bundeskanzler land. Wir wollen die Bereitschaft der Bürger, den meistens mit dem Auto bzw. dem Flugzeug reist. Notwendigkeiten der deutschen Einheit Rechnung zu Dieser Zug ist ohne Sie abgefahren. Sie haben ihn tragen, auch wenn diese Bereitschaft ab und an mit verpaßt. Andere sitzen schon längst drin. Sie sollten einigem Murren versehen ist, hier und heute erneut schauen, daß Sie schleunigst aufspringen. Sie sollten würdigen. Alle unsere Bürger haben aus dem Geschil- nicht den alten Wein in kaum runderneuerten Schläu- derten Lasten zu tragen. Sie sind hierzu bereit. chen verkaufen, sondern sich den großen Aufgaben Daß, meine Damen und Herren, der Umbruch einen der Zukunft stellen. enormen Leistungstransfer in die neuen Bundeslän- Hier bieten wir unsere Zusammenarbeit an. Wir der bedeuten mußte und daß dies auch die Bürger im werden unsere Vorstellungen und Konzepte, unsere Westen an allen Ecken und Enden spüren, muß Alternativen einbringen und zur Diskussion stellen. - erwähnt werden. Wir müssen dankbar dafür sein, daß Wir hoffen als Opposition darauf, in der einen oder sie es akzeptieren. Es ist selbstverständlich, daß wir anderen Frage hier Mehrheiten zu finden. Denn auch diese Leistungen im Sinne der inneren Einheit dort, wo es die Vernunft am schwersten hat, nämlich Deutschlands gern erbringen. Wir wissen auch, daß dort, wo Partei- und Fraktionsgrenzen eine Rolle die Belastungen der Menschen im Osten noch größer spielen, wollen wir unsere Hoffnung auf Vernunft und sind. Aber die Situation wird von Tag zu Tag bes- auf Reformfähigkeit nicht aufgeben. ser. Ich danke Ihnen. Die Wirtschafts- und Währungsunion bedeutete ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weltweit nie dagewesenes Expe riment. Der Mut der Koalition, die Finanzierungsfolgen der deutschen Ein- heit aus laufenden Mitteln zu versuchen, hat sich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt gelohnt. Überall geht es aufwärts. der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng. (Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/ CSU)

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Prä- So begründet der Hinweis von Herrn Scharping, sidentin! Meine Damen und Herren! Eine Reihe den Herr Häfner gerade wiederholt hat, ist, daß ein Kollegen der Grünen haben ausweislich des Hand- Teil der Leistungen aus den Sozialetats geschehen ist, buchs ihre vierjährige Abwesenheit im Parlament zur daß also Transfers aus den Sozialetats stattgefunden Fortbildung genutzt. Der Kollege Häfner hat das haben, muß dem doch entgegengehalten werden, daß leider versäumt. eine Alternative dazu weder gegeben war noch damals oder heute von Ihnen dargestellt worden wäre. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Die Frage, ob all die Leistungen steuerfinanziert aus DIE GRÜNEN]: Da haben Sie noch viel öffentlichen Haushalten hätten getragen werden kön- Fortbildungszeit vor sich in den kommenden nen, muß verneint werden. 20 Jahren! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben das leider gar nicht genutzt!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein! Das ist falsch! Solidaritätszuschlag wäre richtig ge Denn das, was er hier vorgetragen hat, begann wesen!) eigentlich nahtlos dort, wo er vor vier Jahren aufge- hört hat. Das Interessante, daß es nämlich in der Deswegen geht das Klagelied von Herrn Scharping Zwischenzeit in unserem Land eine ganze Reihe von ins Leere. Frau Kollegin Fuchs, die neben Ihnen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 117

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) sitzende Kollegin hat über zu viele Ausgaben aus dem nen Herr Fischer und seine Fraktion deutlich machen, öffentlichen Haushalt immer vehement geklagt. Sie daß sie, wie Sie heute morgen angekündigt haben, hat Finanzierungen für zusätzliche Wünsche nie in Herr Fischer, tatsächlich eine eigenständige Opposi- genügendem Umfang deutlich gemacht tionsrolle spielen, daß sie nicht von vornherein zu (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: „Zuviele allem nein sagen, was von der Seite der Koalition auf Schulden", habe ich gesagt!) den Tisch kommt. Auch im zukünftigen Wettbewerb der politischen Parteien in geänderter Parteienland- Ich bitte Sie wirklich, ganz sorgfältig einmal aufzuli- schaft wird niemand für Fundamentalopposition dau- sten — nicht an dieser Stelle; das können Sie schrift- erhaft Anhänger finden. Der Wettbewerb wird härter, lich nachreichen —, in welcher Weise die Steuerbela- damit aber auch interessanter. Wir sind überzeugt, stung der Bürger gestiegen wäre, wenn die Leistun- daß wir ihn bestehen, sosehr Sie hier auch mit Ansprü- gen der Sozialetats in die neuen Bundesländer ausge- chen in einer Reihe von Politikbereichen antreten. Wir fallen wären und hier eine totale Haushaltsfinanzie- werden denen entgegentreten und inhaltlich darüber rung hätte stattfinden müssen. Das wäre nicht zu diskutieren. leisten gewesen. (Detlev von Larcher [SPD]: Wir reden nach (Jörg Tauss [SPD]: Aber ehrlicher!) der nächsten Landtagswahl weiter!) Erfreulich in diesem Zusammenhang sind Meldun- gen, daß der Zuschußbedarf sinkt — Wir vertrauen auf mündige Bürger, die erneut Liberale in die Parlamente senden werden. (Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Peter Dreßen [SPD]: Da gibt es nur noch wenige!) — nein, Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammen- hang sprechen —, weil die beginnende Dynamik der Die Koalitionsvereinbarung beinhaltet die Fortfüh- Wirtschaftsentwicklung auch am Arbeitsmarkt Besse- rung der Privatisierung. Dieses betrifft nicht nur rung bringt. Die Voraussage, daß die Bundesanstalt Industrievermögen des Bundes — Sie wissen, daß wir für Arbeit im kommenden Jahr einen wesentlich hier in den vergangenen Jahren das Wesentliche geringeren Zuschuß benötigt, als dies bisher progno- getan haben —, sondern ganz nachhaltig auch den stiziert war, signalisiert auch einen Teil Entspannung. Dienstleistungsbereich. Natürlich betrifft es ebenso Auch hier sehen wir richtige Politik mit guten Ergeb- die Gebietskörperschaften, die Länder und Gemein- nissen. den, in denen in viel größerem Umfang als beim Bund Privatisierungen möglich sind. Wir haben in der Es bedeutet Mut, und die Koalition hat diesen Mut, Endphase der vergangenen Wahlperiode mit der daß trotz knapper Kassenlage steuerliche Entlastung Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes noch und steuerliche Veränderungen in wichtigen Berei- einen Versuch gemacht. Hierauf wollen wir zurück- chen in Angriff genommen werden. Das gilt für den kommen; denn es besteht, wie schon gesagt, dringen- Familienlastenausgleich ebenso wie für die geplante der Handlungsbedarf. Freistellung des Existenzminimums von Steuern. - (Detlev von Larcher [SPD]: Ihr habt genug Auch hier möchte ich die SPD gerade wegen ihrer Zeit gehabt!) heute mehrfach erwähnten Verantwortung im Bun- desrat und wegen ihrer Verantwortung in vielen Das gilt aber auch für die Ankündigung von Verän- Städten und Gemeinden unseres Landes auffordern, derungen bei der Gewerbesteuer. Es ist, meine den gesellschaftlichen und politischen Notwendigkei- Damen und Herren, eine Uraltforderung der F.D.P., ten Rechnung zu tragen. Sie sollten zukunftsgerich- die Gewerbesteuer durch ein anderes Steuersystem tete Politik nicht blockieren. für die Kommunen zu ersetzen. (Detlev von Larcher [SPD]: Die machen Sie ja (Peter Dreßen [SPD]: Von den kleinen Leuten nicht! — Jörg Tauss [SPD]: Dann legen Sie zu den großen!) mal Ihre zukunftsgerichtete Politik auf den Es ist außerordentlich erfreulich, daß nach langen Tisch! Das ist ja unglaublich!) Jahren auch bei vielen Kommunen ein Umdenken stattgefunden hat. Sie könnten, wie schon so oft, zu spät die Kurve kriegen; denn daß weniger Staat, daß mehr Politik mit (Beifall bei der F.D.P. — Peter Dreßen [SPD]: weniger öffentlichen Geldern die zwangsläufige Ent- Bei welchen denn?) wicklung der kommenden Jahre ist, ist nicht zu Die Ankündigungen des Herrn Bundeskanzlers in bestreiten. der Regierungserklärung heute morgen und auch die Meine Damen und Herren, die Reduzierung des vom Kollegen Schäuble hierzu gemachten Ausfüh- Personalbestands in den Bundesbehörden ebenso rungen waren so vernünftig, daß ich die sehr harsche wie die Zusammenlegung und Auflösung von nicht Ablehnung durch Herrn Scharping nicht verstehen mehr notwendigen öffentlichen Einrichtungen gehö- kann. Ich fordere die SPD-Fraktion dringend auf, zu ren mit zur Politik der Koalition. diesen Vorschlägen nicht ohne Prüfung nein zu sagen, denn diese Vorschläge bedeuten für den Wirtschafts- (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist noch keine standort Bundesrepublik Deutschland eine nachhal- Staatsreform!) tige Verbesserung, ja eine Notwendigkeit. Wir werden im Bereich der Ministerien zusätzlich ein Ich will in diese Aufforderung auch BÜNDNIS 90/ Augenmerk darauf richten, daß die während des DIE GRÜNEN ausdrücklich einbeziehen. Hier kön Einheitsprozesses erforderlichen zahlreichen Stellen 118 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) für Spitzenbeamte wieder auf das Normalmaß zurück- sie nicht genügend aufgepaßt, um das begreifen zu geführt werden, können. (Detlev von Larcher [SPD]: Und das ist Staats- Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinba- reform?) rung und die heutige Regierungserklärung sind eine gute Basis für zukunftsgerichtete Arbeit der Koalition dies verbunden mit Organisationsstrukturen der künf- aus Union und F.D.P. Wir wissen, daß diese Arbeit bei tigen Ministerien, Herr Kollege von Larcher, die knapper gewordener Mehrheit nicht leicht wird. Aber effektiv und ohne unnötig aufgeblähten Wasserkopf wir stellen uns dieser Aufgabe im Bewußtsein, daß die sein müssen. Mehrheit der Wähler unsere zukunftsgerichtete Poli- (Vorsitz : Vizepräsident ) tik wünscht. Die Freien Demokraten im Deutschen Hierzu erbitte ich schon heute die Flankierung Bundestag werden jeden möglichen Anteil zum durch den Bundesrechnungshof, der als Beauftragter Gelingen der Koalition und ihrer Politik leisten. für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung unser natür- Vielen Dank. licher Partner ist. Natürlich wissen wir, daß es mit der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bundesregierung ein bißchen schwieriger werden wird. Vermutlich ist es auch deswegen nicht gelun- gen, dies in dem Maße in die Koalitionsvereinbarung Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin zu bringen, wie ich es hier vorgetragen habe. Andrea Lederer. Meine Damen und Herren, die Vereinfachung des Steuerrechts ist angekündigt. Ich will zusätzlich dar- Andrea Lederer (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolle- auf hinweisen, daß auch Überlegungen bezüglich ginnen und Kollegen! Nach acht Stunden halten wir flexiblerer Haushaltsverfahren und Instrumente jetzt um 17 Uhr unseren zweiten Redebeitrag. Da die einen wichtigen Schritt in die Zukunft bedeuten. Wir Debatte auch im Vorfeld nicht strukturiert worden ist, wünschen höhere Verantwortung an der Peripherie komme ich wieder auf die Außenpolitik zurück. und werden daher Chancen für eine solche höhere Verantwortung geben. Das heißt, die allzu starre Vorab aber eine Bemerkung zum Redebeitrag des Einengung der handelnden Behörden wird künftig Abgeordneten Dregger: Ich weiß nicht, ob er hier zumindest versuchsweise aufgelockert werden. seine verhinderte Alterspräsidentenrede gehalten hat. Sollte das der Fall sein, kann man wirklich nur Ich sage für die F.D.P.-Fraktion: Wir werden sehr dankbar sein, daß Stefan Heym Alterspräsident dieses sorgfältig prüfen, ob der neuen Verantwortung ent- Parlaments geworden ist. sprechend Rechnung getragen wird; denn wenn wir erreichen, daß das November-/Dezemberfieber wirk- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten lich abgeschafft wird, wollen wir damit natürlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) keinen allgemeinen Schlendrian oder fehlende Trans- In ähnlich diffamierender Weise habe ich den Bei- parenz beim Umgang mit öffentlichen Mitteln und mit trag des Finanzministers Waigel zu Stefan Heym dem Geld des Steuerzahlers bekommen. verstanden. Solche Beiträge werden Ihnen knallhart Mehr Verantwortung bei Angehörigen des öffentli- auf die Füße zurückfallen. Das garantiere ich Ihnen. chen Dienstes kann mehr Risiko für diese Angehöri- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gen bedeuten, auch wenn unsere Idee einer Beförde- DIE GRÜNEN]: Das will er doch!) rung auf Zeit nicht Teil der Koalitionsvereinbarung Zur Außenpolitik: Der bisherige Kurs der „interes- wurde. senwahrenden und wertorientierten Außenpolitik" Das Haushaltsmoratorium, die Ankündigung ge- der Bundesregierung soll entschlossen fortgesetzt ringeren Wachstums des Bundesetats gegenüber dem werden. Diese Kontinuität wird in der Außenpolitik in Sozialprodukt, liest sich in der Vereinbarung ganz der Tat zu einer Bedrohung. Deshalb hat es mich einfach. Es wird in der Durchführung manches Zäh- erschrocken, feststellen zu müssen, daß der Vorsit- neknirschen bei den Kollegen geben, die die Finan- zende der SPD-Fraktion nicht eine Nuance anderer zierung von Wünschen nicht durchsetzen können. Vorstellungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, Auch hier könnte eine konstruktive Opposition in als sie die Regierung hier vertreten hat, nennen Zukunft beweisen, daß es ihr wirklich um unser Land konnte — nicht eine einzige! Das haben die Beiträge und seine Bürger geht und sie nicht mit schlichter des Kollegen Verheugen und von Frau Wieczorek- Blockadehaltung parteipolitischen Vorteil zu gewin- Zeul ein wenig wiedergutgemacht. Aber nicht einmal nen sucht. zum Thema „Rolle der Bundeswehr" hat er nur eine abweichende Vorstellung geäußert. Man hatte gar den Eindruck, es handele sich in diesem Bereich schon Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weng, Sie wieder um eine große Koalition. sind schon ein Stück über die Zeit. Zu dieser Koalitionsvereinbarung läßt sich folgen- des feststellen: Erstens. Für die Bundesregierung heißt Außenpolitik Europapolitik, vor allem Westeuropa, Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä- Westeuropa und nochmals Westeuropa. An die osteu- sident, das ist zu bedauern, weil ich noch so viel zu ropäischen Staaten werden im wesentlichen schöne sagen hätte, was sagenswert ist. Worte gerichet. (Lachen bei der SPD) Zweitens. Der Rest der Welt wird praktisch unter Ich ende dann, obwohl das nicht gerade nach Zustim- den Gesichtspunkten „Eindämmung von Flüchtlings- mung der Kollegen klingt; aber wahrscheinlich haben strömen" und „Erschließung neuer Märkte" abge- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 119

Andrea Lederer handelt. Der Absatz zur sogenannten Entwicklungs- zum Fernhalten von und Abschotten vor Flüchtlingen politik ist angesichts der globalen Probleme purer abschließen. Zynismus. Die zwölf Zeilen zur Entwicklungspolitik — ich Drittens das mögen Sie noch hundertmal bestrei- habe es bereits erwähnt — sind rein zynisch. Anstatt in ten —: Das Militärische wird zunehmend Charakteri- diesem Bereich, der sich immerhin mit globalen Pro- stikum deutscher Außenpolitik, sowohl hinsichtlich blemen zu befassen hat, konkrete Vorschläge zur der Rolle und der Aufgaben der Bundeswehr als auch Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit, zur Siche- in der Schwerpunktsetzung nunmehr in der Europa- rung sozialer und anderer Menschenrechte, zur politik. Es gibt die Militarisierung der deutschen Bewältigung ökologischer Fehlentwicklungen und Außenpolitik. Auch wenn Sie es, wie gesagt, hundert- vor allem zur Konfliktvorbeugung zu unterbreiten, mal bestreiten, werden wir es immer wieder feststel- wird auch dieser Bereich unter das „deutsche Inter- len. esse" subsumiert. Besorgt stellt man fest, daß wohl mehr Unterstützung verlangt werden wird, aber nicht Bei der Europapolitik sieht es folgendermaßen aus: ein Vorschlag zur Veränderung der Weltwirtschafts- Die einmal als „zaghafte Überlegungen" titulierten ordnung wird unterbreitet. Vorstellungen und Vorschläge des Fraktionsvorsit- zenden der CDU/CSU zur Europapolitik sind jetzt So, wie Sie im Inneren des Landes Politik betreiben, Regierungsprogramm. Es soll ein Europa der zwei bis so betreiben Sie auch Außenpolitik: auf Kosten der fünf Geschwindigkeiten geben, eine Europäische Schwächeren und zum Nutzen der Stärkeren. Wenn Union, die kaum Rücksicht auf schwächere Staaten Sie darauf verweisen, daß Entwicklungshilfe schließ- nimmt, eine Union, die nicht nur einen Kern hat, lich erwirtschaftet werden muß, so können wir uns sondern einen Kern des Kerns, und diesen bilden eines ausmalen: Der künftige Entwicklungshilfehaus- Deutschland und Frankreich. Das ist heute wiederholt halt wird real sinken, d. h. es gibt nichts, abgesehen worden. von Profiten für einige deutsche Unternehmen. In drei zentralen Bereichen soll die Europäische Wir fordern die Bundesregierung auf, im Hinblick Union, wie Sie es nennen, eine Erneuerung erfahren: auf die Revisionskonferenz zum Maastricht-Vertrag Zum einen ist zu befürchten, daß die Währungsunion alle Anstrengungen darauf zu richten, mehr Demo- rücksichtslos, ohne die Folgen für ökonomisch schwä- kratie, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Solidarität chere Länder zu berücksichtigen und ohne Maßnah- gegenüber den anderen Kontinenten und mehr Maß- men dagegen zu ergreifen, durchgesetzt wird. Die nahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens zu errei- katastrophalen Folgen für solche Länder, die dort chen. Wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode nicht mithalten können, sind den Autoren dieser konkrete Forderungen einreichen. Wir verlangen, daß Vereinbarung nicht einmal eine Zeile wert. sich die Bundesregierung dafür einsetzt, daß Entwick- lungsländer reale Chancen auf dem Weltmarkt erhal- Zweitens soll mit der Entwicklung der Westeuropäi- ten, daß eine wirkliche Öffnung der Märkte erfolgt, schen Union zum militärischen Arm der Europäischen daß Preis- und Absatzgarantien festgeschrieben wer- Union eine Orientierung auf eine militärische Identi- den. tät der Union zum Schwerpunkt gemacht werden: Identität Europas durch Soldaten. Ich habe jetzt schon Es jährt sich im nächsten Jahr auch der Tag der Verteidigungsminister Rühe im Ohr, wie er davon Gründung der UNO. Nicht ein Vorschlag ist hier schwärmen wird, wie der europäische Einigungspro- seitens des Außenministers Kinkel erwähnt worden. zeß in einem Leopard-Panzer vorangebracht werden Er hat wiederum nur darüber palavert, daß der stän- kann; so, wie er es damals getan hat, als es um die dige Sitz im UNO-Sicherheitsrat noch nicht erreicht ost-west-deutsche Einigung ging und er uns hier sei und man nunmehr mit dem nichtständigen erst vortrug, wie herrlich sich die beiden deutschen Solda- einmal eine Weile vorliebnehmen müßte. Nicht ein ten aus Ost und West in einem Panzer verstanden Vorschlag zum Thema Reform und Demokratisierung hätten. der UNO. Die KSZE wird an keiner einzigen Stelle in der Im Februar 1995 wird der Weltsozialgipfel stattfin- Vereinbarung erwähnt; sie ist heute auch in dem den. Die Bundesregierung hat sich geweigert, die von Redebeitrag des Kanzlers nicht vorgekommen. Es ist der UNO geforderte nationale Kommission zur Vorbe- bezeichnend, daß Sie diese Institution, die hier gelobt reitung überhaupt einzurichten, obwohl die soziale wurde als eine Institution, die die Kultur des Gewalt- Situation weltweit unbestritten sehr viel mit der Ent- verzichtes entwickelt habe, abgeschrieben haben; Sie stehung von Konflikten, von Kriegen, von Flüchtlings- orientieren sich rein auf Militärbündnisse und die strömen — wie Sie es nennen — und von Verhältnis- traditionellen Strukturen. sen, die dazu führen, daß Menschen ihre Heimat verlassen müssen, zu tun hat. Zum dritten sollen osteuropäische Länder erst dann eingegliedert werden, wenn sich der Kern des Kerns Das Thema der Verlängerung des Vertrages über und der Kern Westeuropas hierarchisch gefestigt die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen ist haben. Die Mahnung des Kanzlers an die osteuropäi- der Koalition nichts wert. Es kann hier nicht nur darum schen Staaten war mehr als deutlich. Es wird die gehen, den Vertrag zu verlängern, sondern es muß ein Erfüllung politischer und ökonomischer Vorausset- für allemal im Grundgesetz verankert werden, daß zungen gefordert. Ansonsten gibt es schöne Worte. dieses Land auf Nuklearwaffen, auf ABC-Waffen Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wird verzichtet. Die Bundesregierung muß sich dafür ein- es keine Realisierung dieser schönen Worte geben, setzen, daß tatsächlich sämtliche Kernwaffen aus sondern dann wird man nur bilaterale Abkommen Europa abgezogen werden. 120 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Andrea Lederer Noch ein Thema, das wir ansprechen und zu dem Zusammenarbeit Carl-Dieter Spranger vorliegen, der wir Vorschläge einbringen werden: Rüstungsexport. bittet, es zu Protokoll geben zu dürfen. Besteht Ein- Wenn die Koalition unter der Überschrift „Deutsche verständnis des Hauses damit? — Das ist offensichtlich Position in der Weltwirtschaft ausbauen" von der der Fall. *) Harmonisierung der Exportkontrollregeln spricht, Dann erteile ich das Wort dem Bundesminister des dann ist eben zu befürchten, daß damit wieder einmal Innern, Herrn Manfred Kanther. alle Regelungen zum Rüstungsexport gemeint sein werden, die auf möglichst niedrigem Niveau nivelliert (Detlev von Larcher [SPD]: Warum gibt er werden sollen. Sie können sich jeden Verweis auf seine Rede nicht auch zu Protokoll?) strenge deutsche Vorschriften ersparen; denn immer- hin ist es der BRD trotz dieser Vorschriften gelungen, auf der Liste der Länder mit den meisten Waffenex- porten auf Platz 3 zu kommen. Wir fordern, daß die Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Herr Rüstungsproduktion drastisch eingeschränkt, der Rü- Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Szenen- stungsexport für dieses Land verboten und das auch wechsel zu einigen Bemerkungen zur Innenpolitik, im Hinblick auf die Europäische Union angegangen die ein wesentliches Feld der kommenden Legislatur- wird. periode sein wird, wobei sie bei ihren vielen Verant- wortlichkeiten eine im Vordergrund sehen muß. Das (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ ist die dauerhafte Gewährleistung des inneren Frie- DIE GRÜNEN) dens. Ich betrachte das als einen weiteren Kreis um die Zum Schluß noch eine Bemerkung zu der vom innere Sicherheit herum. Beides hat wichtige Zusam- Kollegen Verheugen geäußerten Illusion, was das menhänge. Verständnis der Bundesregierung zum Thema „Auf- rechterhaltung des Friedens" anbelangt. Ich bin mir Natürlich ist die Bewahrung des inneren Friedens sicher — und wer die Koalitionsvereinbarungen eine komplexe Aufgabe für Wirtschafts-, Sozial-, genau liest, wird das auch feststellen können —, daß Gesellschafts- und Bildungspolitik; die Innenpolitik die Bundesregierung leider nicht die Aufrechterhal- leistet aber ihre Beiträge dazu. Sie leistet ihre Beiträge zur Gewährleistung eines verträglichen Zusammen- tung des Friedens mit entsprechenden Blau - Helm- Einsätzen meint — davon werden wir bzw. vor allem lebens der Gruppen und der einzelnen. Das ist eine andere Länder in Zukunft auch betroffen sein —, entscheidende Aufgabe. sondern davon ausgeht, daß die Bundeswehr grund- Wir werden nie erreichen, in einer konfliktfreien sätzlich bei allen Maßnahmen uneingeschränkt mit- Gesellschaft zu leben. Die Zurücknahme der Konflikte machen kann, d. h. auch im Rahmen von Sicherheits- auf die Basis der Verträglichkeit und der Bereitschaft systemen, wie es das Karlsruher Urteil leider festge- zum generellen Konsens ist aber schon eine wesent- schrieben hat. liche Aufgabe. Bei der Komplexität unserer Gesell- schaft ist das eine Aufgabe, die viele Gruppen betrifft. Vizepräsident Hans Klein: Die Zeit, Frau Kollegin. Ganz besonders trifft dies für die Frage des verträg- lichen Zusammenlebens von deutschen und auslän- dischen Mitbürgern in Deutschland zu. Wir haben Andrea Lederer (PDS): Ich komme zum Schluß. Es erlebt, wie diese Verträglichkeit im Vorfeld des Asyl- geht dort nicht nur um UNO-Einsätze, sondern es wird kompromisses gefährdet war. Wir haben erlebt, wie es um eigenständige Einsätze der NATO und der WEU in der Bevölkerung Angst gab vor unkontrollierter gehen, und wir werden hier auch konfrontiert sein mit Zuwanderung, die die Politik der Mitte nicht mehr Kampfeinsätzen, an denen sich die Bundeswehr betei- steuern kann, wie praktische Probleme zugenommen ligen soll. Ich stelle die Frage an alle Oppositionspar- haben und wie schwierig es war, die sehr plötzliche teien: Was haben Sie vor, um Barrieren dagegen übergroße Zuwanderung im Griff zu behalten. aufzustellen? Wir werden jedenfalls unser antimilita- ristisches Engagement so fortsetzen, wie wir es in der Das Phänomen dieses Zusammenlebens als einer letzten Legislaturperiode gemacht haben. herausragenden und wichtigen Frage des inneren Friedens wird uns weiter begleiten. Die Vorstellung, Ich danke. eine solche Problematik könne uns in Zukunft verlas- (Beifall bei der PDS) sen, ist irreal. Das Zusammenleben der Deutschen mit einer großen Zahl von Ausländern wird dauerhaft unsere Zukunft sein. Denn die Bedingungen dafür Frau Kollegin Lederer, Vizepräsident Hans Klein: werden fortbestehen. ich glaube nicht, daß der Ausdruck „palavern" ausge- sprochen unparlamenta risch wäre. Nicht nur die 7 Millionen Ausländer, die im Land leben, sondern auch die vielfältigen Konfliktfelder in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Welt, die magnethafte Anziehungskraft unseres DIE GRÜNEN]: Na ja!) Landes, offene Grenzen, um die wir lange Jahre Nur kann nach allgemeinem Sprachverständnis ein gestritten haben und die bei aller Notwendigkeit ihrer einzelner nicht palavern; das kann nur eine Sicherung fortbestehen werden, bedeuten, verträgli- Gruppe. ches Zusammenleben zwischen Deutschen und Aus- (Zurufe von der SPD: Oh!) ländern zu gestalten. Meine Damen und Herren, ich habe hier das Rede- manuskript des Bundesministers für wirtschaftliche *) Anlage 2 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 121

Bundesminister Manfred Kanther Die Aufgabe ist, dies realitätsbewußt zu tun und unzumutbare Härten das verlangen. Überhaupt tritt nicht von irgendwelchem Wunder- und Wunschglau- unsere Rechtsordnung ausländischen Mitbürgern ben oder hinter Schimären herjagend geleitet. ohne solche Härten entgegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ordneten der F.D.P.) DIE GRÜNEN]: Was ist denn die Haltung der Dazu gehört, daß wir natürlich ein Integrationsange- Frau Justizministerin? Die soll mal was dazu bot, soweit das nach unseren Kräften möglich ist, an sagen!) jeden machen, der es annehmen will und kann. Ich Aber wir werden uns nicht weismachen lassen, daß schiebe jetzt nur ein, ohne es näher auszuführen, daß juristische Schritte Integration ersetzen können. wir nicht ausschließlich Integration anbieten. Es ist (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ natürlich das Recht von Ausländern, in Deutschland CSU]: Sehr richtig!) auch nicht integriert zu leben. Vor kurzem habe ich einen der letzten Beiträge in Aber bleiben wir bei dem schwierigen Feld der diesem Zusammenhang gelesen, der da sagt: dop- Integration. Das hat etwas mit der Zahl derer zu tun, pelte Kinderstaatsangehörigkeit für all diejenigen an die sich das Angebot wendet und die die Forderung Ausländerkinder, die hier geboren sind. Das ist zum erheben. Das hat etwas mit der Zeitschiene zu tun, auf Teil auch Ihre Position. Wenig später las ich das der sie sich abspielen kann. Das hat etwas mit der Argument: Abkehr vom Abstammungsrecht und Gewöhnung der Menschen an das Phänomen in der Ersetzung durch das Bekenntnis zur Verfassung und Zeit zu tun. Damit werden auch die Grenzen der zu den Gesetzen des Gastlandes. gesellschaftlichen Leistungskraft deutlich, Grenzen, die sich aus Sprache und Bildung, aus Fragen von (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Arbeit und Nichtarbeit, aus Fragen der Eingewöh- Meine Damen, meine Herren, Sie müssen sich schon nung in die Gesetze des Gastlandes oder ihres Bruchs einmal überlegen, welches Argument sie wollen: ergeben. Abstammung oder Jus soli? Aber wenn Jus soli, dann Deshalb wird diese Koalition alles tun, was prakti- doch bitte nicht verschnitten mit der Verfassungstreue sche Integrationshilfen bedeuten kann. Wir werden des hier geborenen Säuglings. alles tun, was das Leben der ausländischen Mitbürger (Detlev von Larcher [SPD]: Das stimmt!) mit ihren deutschen Mitbürgern verbessern kann. Aber wir können nicht glauben, daß bare juristische Man muß sich nur einmal an einem Beispiel überle- Schritte an die Stelle wirklicher Integration in die gen, was die Argumente taugen. Dann kommt man Lebensumstände treten können. auch zu praktischen Lösungen für dieses schwierige Feld. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir werden uns deshalb, oft eingefordert, um (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] Verfassungstreue eines zusätzliche Chancen für die Integration von jungen - Ausländern, von ausländischen Kindern bemühen: Säuglings!?) auf der EG-Basis, beim Schüleraustausch, bei Schü- — Sie müssen sich nur die Argumente überlegen, Herr lerreisen, studentischem Leben. Das werden wir mit Fischer. einer hohen Wahrscheinlichkeit noch während unse- Ich bin für die praktischen Eingliederungshilfen rer Präsidentschaft leisten können. Das war immer zuständig und nicht für die juristischen Schimären wie eine wichtige Forderung. den Rechtsanspruch auf doppelte Staatsangehörig- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ keit. Ausländerwahlrecht per se ohne Integration, DIE GRÜNEN]: Das ist aber auch alles, was Einwanderungsgesetz ohne zu sagen, was man damit Sie hinbekommen!) will und wie es aussehen soll, und auch die übergroße Bleiben wir bei den menschlichen Dingen, lieber Zahl noch immer unberechtigter Asylbewerber oben- Herr Fischer: daß ausländische Schüler im Bus, wenn drauf — dies alles trägt nicht zum inneren Frieden bei, sie mit der Klasse nach Österreich fahren wollen, sondern bringt ihn eher in Gefahr. keinen anderen Paß vorzeigen müssen als deutsche (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Kinder. Das war ein Teil dieser Forderungen. Das Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ werden wir mit der Kinderstaatsangehörigkeit und DIE GRÜNEN]) dem gleichen Paß leisten. Bleiben wir bei den kleinen Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe der Innen- praktischen Fragen, politik — und die kann nur von Bund und Ländern (Jörg Tauss [SPD]: Ein deutscher Eltern gemeinsam gelöst werden — in der Durchführung des teil!) gefundenen Asylkompromisses in allen seinen Kom- und reiten wir nicht die juristischen Schimären zu ponenten: in der Gewinnung von Grenzsicherheit, in Tode. den Verfahren im Inland, in der Notwendigkeit der Abschiebung von nicht zum Aufenthalt berechtigten Doppelte Staatsangehörigkeit als Rechtsanspruch Ausländern und in der Absicherung dieser Politik in wird es nicht geben, weil sie die Integration behindert Rückübernahmeabkommen mit unseren Nachbarlän- und nicht fördert. dern bis hin zu den Herkunftsländern. (Beifall bei der CDU/CSU) Nur wer den Asylkompromiß getreulich erfüllt, Doppelte Staatsangehörigkeit als Ausnahme ist längst kann auf seine friedenstiftende Wirkung rechnen. gängige Praxis in Deutschland, nämlich dort, wo Wer ihn mit Abschiebestoppabkommen, unterschied- 122 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Manfred Kanther lieh nach jedem einzelnen sozialdemokratisch regier- Schule, der zwei Jahrzehnte lang in manchen Bundes- ten Land, unterläuft, ländern niedergemacht worden ist, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — DIE GRÜNEN]: Na! Na!) Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ leistet keinen Beitrag zu diesem inneren Frieden. DIE GRÜNEN: Oh!) die kritische Einstellung zu Medienbeiträgen, die (Beifall bei der CDU/CSU) Wiederbelebung einer Wertediskussion, die mit Sekundärtugenden abgewertet worden ist. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wir warten seit 1983 Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, auf die geistig-moralische Führung! — gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burk- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ hard Hirsch? DIE GRÜNEN]: Jawohl, Herr Hauptfeldwe bel!) Weil uns die Sekundärtugenden jetzt fehlen, sieht Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: manches in der inneren Sicherheit so schlecht aus. Das Nein. alles hat etwas mit den Präventivkräften der Gesell- schaft zu tun. Dazu gehören europäische Regelungen, die nicht allein von uns erarbeitet werden können. Die über- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wältigende Mehrzahl der Asylbewerber und Flücht- DIE GRÜNEN]: Wer macht denn die Medien linge in Europa hat in Deutschland Unterkunft gefun- politik? Wer hat denn 10, 20, 30 Kanäle den. Schwachsinn zu verantworten?) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ — Herr Fischer, da ich doch Ihre Zwischenrufe nun seit DIE GRÜNEN]: Ein echter Eisenbeißer!) zehn Jahren von anderer Stelle alle kenne, Leider ist es so, daß unsere westlichen Nachbarn es (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ nicht schrecklich eilig haben, sich diese Belastung mit DIE GRÜNEN]: Die werden Sie auch noch uns zu teilen. An dieser Stelle werden wir noch eine weitere Jahre ertragen müssen!) wichtige europäische Überzeugungsarbeit leisten antworte ich Ihnen gerne auf die Frage nach den müssen. privaten Medien und ihrem unerfreulichen Gewalt- Die Komplexität dieser Politik muß offen erklärt und angebot, das sich allerdings nur minimal von dem der keine ihrer Facetten darf verschwiegen werden. Denn öffentlichen Sender unterscheidet, aber es immer wenn die demokratische Mitte in den Geruch kommt, noch übertrifft. mit diesen Problemen nicht fertigzuwerden — und in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — dem Geruch war sie vor dem Asylkompromiß —, dann - Widerspruch bei der SPD — Zuruf des Abg. ist das die Stunde der Rattenfänger von rechts mit Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ihren vereinfachten Ordnungskonzepten. DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU) — Herr Fischer, es ist wieder ein Zeichen Ihrer Daß wir sie niedergerungen haben, war eine heraus- Maschinenstürmerei und Technikabwendung, ragende Leistung nicht nur der Union, aber auch und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ganz besonders der Union. Auf diesem Wege wollen DIE GRÜNEN]: Ach, woher! — Widerspruch wir fortfahren: die Radikalen von allen Seiten, aber bei der SPD) natürlich auch von rechts, in der Bedeutungslosigkeit daß Sie nicht unterscheiden können, daß man mit dem zu halten, in die sie gehören. Hammer einen Schädel einschlagen oder einen Nagel Das ist um so wichtiger, als sich das Thema des in die Wand klopfen kann, und so ähnlich ist es mit den verträglichen Zusammenlebens von Deutschen und privaten Medien. Ausländern mit wichtigen Fragen des engeren Kreises (Beifall bei der CDU/CSU) der inneren Sicherheit begegnet. Einige Bemerkun- gen zu diesem unendlich wichtigen Thema der Daß sie ihren Unterhaltungsauftrag mit dem Angebot Gewährleistung der inneren Sicherheit, des Schutzes an Gewaltsendungen, das sie heute produzieren, der Bürger vor Verbrechen gegen Leib und Leben, falsch erfüllen, sage ich jeden Tag, Eigentum und persönliche Bewegungsfreiheit. (Detlev von Larcher [SPD]: Stellen Sie es Wir wissen, daß dazu zuallererst die Abwehrkräfte ab!) der Gesellschaft im ganzen gestärkt werden müssen. und wir werden sie dahin bringen, daß sie eine Alle Antworten, die mit Polizei und Gericht am Ende unschädlichere Form von Unterhaltung anbieten. der Kette gegeben werden, sind schlechter als dieje- nigen, die die Gesellschaft präventiv geben kann. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Dazu muß sie zusammenrücken. Dazu muß sie Fehl- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ entwicklungen korrigieren. Dazu müssen Politiker DIE GRÜNEN]) viele, viele ihrer Verheißungen der Vergangenheit Nur, das ist keine Aufgabe, die sich allein an private überprüfen. Ich will das jetzt nicht im einzelnen Medien richtet. Das ist ein Aspekt. Dazu müssen die ausführen, aber dazu gehören die Stärkung von Fami- Kräfte der Wirtschaft, die daran beteiligt sind, diese lie, die Stärkung des Erziehungsgedankens in der Werbeecken zu suchen, und die Agenturen, die dort Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 123

Bundesminister Manfred Kanther hinschalten, und die Unternehmungen, die dort ihre schreitende Kriminalität im Schlepperunwesen; Nu- höchsten Einschaltquoten für die Konsumgüterwer- klearkriminalität, Kraftfahrzeugdiebstahl oder orga- bung suchen, mitwirken. Ganz am Schluß gibt es eine nisierter Einbruch; neue Methoden und Techniken hohe Einschaltquote nur deshalb, weil irgend jemand sowie neues Management im organisierten Verbre- den Apparat anschaltet. Dann schließt sich ein Kreis chen, eine grenzüberschreitende Kriminalität, die im zur schwierigen Erziehungsaufgabe z. B. in der Fami- Bereich der organisierten Kriminalität überwiegend lie oder in der Schule. ist. Zwei Drittel bis drei Viertel aller Delikte der organisierten Kriminalität haben internationale Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) sammenhänge. An über der Hälfte der Delikte im Natürlich gehört zu den präventiven Kräften in Land sind Ausländer beteiligt, deliktorientiert nach einem engeren Sinne, bestimmten ethnischen Gruppen.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Es liegt auf der Hand, daß wir neues Handwerks- DIE GRÜNEN]: Ein echter Kulturkämpfer!) zeug benötigen, um in so abgeschlossene Gruppen daß wir uns auf das besinnen, was wir auch neu von Kriminalität mit neuen Methoden der Bekämp- können in der Prävention. Was die Prävention bei fung hineinzukommen, mit technischen Methoden, weitem noch heute zu wenig bedenkt, ist der ganze mit Kronzeugenregelung und natürlich — das füge ich Sektor der Ausstattung von Waren und Dienstleistun- hinzu — mit dem Abhören von Gangsterwohnungen gen mit inhärenter Sicherheit. Das ist nicht nur eine als für mich unverzichtbare Notwendigkeit der Krimi- Forderung der Verbrechensbekämpfung, das ist auch nalitätsbekämpfung. eine Chance für Märkte von morgen, wie wir sie etwa in der Umweltpolitik wahrnehmen. Wir können zwar (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer auf den Mond fliegen, aber wir lassen uns 144 000 [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Autos stehlen. Es werden weniger gestohlen, wenn sie Und wieso steht das nicht in der Koalitions endlich eine elektronische Wegfahrsperre haben wer- vereinbarung?) den. — Ich bestreite doch nicht, daß es darüber einen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Konflikt in der Koalition gibt, den wir noch nicht haben DIE GRÜNEN]: Liegt das am Innenminister, lösen können. oder woran liegt das?) Deshalb ringen wir um diesen Weg, und Sie wissen, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ daß wir dazu eine Änderung des EG-Rechts brauchen, DIE GRÜNEN]: Aha! — Gegenruf von der von der ich hoffe, daß wir sie bald bekommen. Wir CDU/CSU: Na und?) müssen unsere Kräfte in der Wirtschaft anstrengen. Ich habe auch nicht vor, bei den Maßnahmen, die wir Ein Viertel des Schadens beim Kreditkartenbetrug ergreifen werden, Ihnen die heile Welt vorzuspiegeln. tritt auf dem Versandwege ein; ich wiederhole: ein - In einigen Punkten werden wir uns bei der Über- Viertel des Schadens auf dem Versandweg. Also prüfung des geltenden Handwerkszeugs zusammen- müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir Kredit- raufen. Aber wir werden das leisten. karten so einrichten, daß sie nicht bereits vor dem Ankommen beim Empfänger mißbraucht werden Vor allem werden wir die unerfreuliche Entwick- können. lung der Kriminalität im Bereich der organisations- und bandenmäßig begangenen Kriminalität mit (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ neuen Methoden angehen. Wir werden uns dabei DIE GRÜNEN]: Ein Zeitzünder!) nicht von den abgestandenen Vorschlägen der Ver- Viele Punkte gehören dazu. gangenheit leiten lassen. Wir werden dabei nicht über In diesen Zusammenhang der Prävention gehört die die unerfreulichen Aspekte des Themas hinwegse- Bemerkung, daß es falsch ist, Hemmschwellen zu hen, weil das wieder ein Punkt ist, an dem mit den senken, Massendelikte und geringe Mengen oder vereinfachten Ordnungskonzepten der Rechten die bestimmte Gruppen von Rauschgiften straffrei zu Menschen eingefangen werden können, wenn das stellen. Notwendig ist, die Hemmschwelle hochzuhal- demokratische Zentrum in der Verbrechensbekämp- ten fung vor den Mitbürgern nicht hochleistungsfähig (Beifall bei der CDU/CSU) erscheint. und die gesellschaftlichen Kräfte so zu stärken, daß Diese Aufgabe wird die Bundesregierung ganz die Zahl der Delikte abnimmt, aber nicht vor der Zahl entschieden und mit den Bundesländern anpacken. der Delikte durch Stellung von Straffreiheit zu kapi- Heute morgen hat Herr Scharping zu meinem gerin- tulieren. gen Vergnügen — wie Sie sich vorstellen können — darauf hingewiesen, daß binnen kurzem in 14 von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 16 Bundesländern Sozialdemokraten mitregieren. ordneten der F.D.P.) Zu den Neuheiten in unserem Leben gehört be- (Joseph Fischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ dauerlicherweise, insbesondere nach der Öffnung von NEN]: Das wird so bleiben! — Gegenruf von Grenzen, eine Vielzahl von Delikten, die wir vor vier der CDU/CSU: Das ändern wir wieder!) bis fünf Jahren in der organisierten Kriminalität kaum oder nur im Ansatz gekannt haben: neue Rauschgift- — Sehen wir einmal, ob es so bleibt! Darüber unter- routen an den östlichen Landesgrenzen; grenzüber halten wir uns noch einmal! 124 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Manfred Kanther

Das bedeutet eine maßgebliche Mitverantwortung Dr. Angelika Köster - Loßack (BÜNDNIS 90/DIE von Sozialdemokraten für die innere Sicherheit in GRÜNEN): Herr Kanther, ich stelle fest, daß Sie gesagt Deutschland. haben, der innere Frieden in dieser Republik sei erst (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch die Verabschiedung des Asylkompromisses wiederhergestellt worden. Es ist eine Pervertierung Denn Polizei und Ge richte sind ihre Sache, zuvörderst des Begriffs „innerer Frieden", ihn in diesem Zusam- in den Ländern. Das heißt für den Bundesinnenmini- menhang zu erwähnen. Sie haben gesagt, die Rechten ster natürlich: Zusammenwirken mit den Ländern so seien von Ihnen niedergerungen worden. Das Gegen- gut und so oft und intensiv, wie es geht. Gerade teil ist der Fall: Sie haben sie mit dem Nachgeben deshalb ist es falsch, die Einheitlichkeit von Innen- gegenüber diesen menschenfeindlichen Forderungen politik durch Länderalleingänge zu unterlaufen. Das eingebunden, die heute dazu führen, daß Menschen sage ich noch einmal. Das gilt nicht nur für den in Kriegsgebiete oder in Gebiete abgeschoben wer- Asylbereich. Davor muß man auch in anderen Sekto- den, wo sie der Folter, der Inhaftierung und dem ren warnen und rechtzeitig die Stimme erheben, um sicheren Tod ausgesetzt werden. Ich kenne sehr viele die Kräfte der Verbrechensbekämpfung in einheitli- Fälle. Ich komme aus der Asylarbeit. chen Konzepten zusammenzuführen, wie wir uns das in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — und wie es eine Ebene der Politik nicht für sich allein Zuruf von der CDU/CSU: Das merkt man!) kann — nicht nur Bund und Länder zusammenzufüh- Wenn heute in diesem Hause angesichts der Tatsa- ren, sondern weit darüber hinaus, weil die wirklichen chen so argumentiert wird, dann müssen Sie sich auch Probleme der Verbrechensbekämpfung leider die gefallen lassen, daß wir Sie immer wieder darauf neuen Facetten ihrer Internationalität sind, auf euro- hinweisen, wenn Sie von der inneren Sicherheit päischer und darüber hinausgehender Ebene zusam- reden, daß Sie die Verantwortlichkeiten verschieben, menzuarbeiten, auch mit unseren östlichen Nachbar- indem Sie auch noch mit ethnischen Kategorien staaten. Es gehört leider zur Realität Europas - der operieren und in bezug auf Ausländerkriminalität Bundeskanzler hat das heute morgen in Bemerkun- diese nicht nur als eine Globalkategorie benennen, gen zu Europol oder Schengen angesprochen —, daß sondern auch noch bestimmte ethnische Gruppen unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit deutlich aus- nebulös irgendwo erwähnen. geprägter ist, was vielleicht auch etwas mit unserer (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] zentralen Lage und den vielen offenen Landgrenzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zu tun hat, als die anderer europäischer Partner. So ist dies eine noch keineswegs erfüllte, sondern eine Das erinnert mich durchaus an Argumentationsfi- angegangene Aufgabe. guren, die wir vor fünfzig und vor sechzig Jahren schon einmal hatten. Es gibt Streit um Fragestellungen der europäischen Sicherheitspolitik, den man nur mühsam nachvollzie- (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Ul rich Heinrich [F.D.P.]: Unglaublich! — Dr. Wolf hen kann. Warum man, wenn man Europol will, über - die Rechnungsprüfung von Europol zwischen zwölf gang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So ein Regierungen streiten muß, ist mir absolut unerfind- Unfug! — Weitere Zurufe) lich. Ich lebe mit nahezu jedem Rechnungsprüfungs- Ich bin der Meinung, daß so etwas unterbleiben muß. modell, das man sich da ausdenken kann. Aber ich Jeder, der sich mit Kriminologen und Kriminologin- möchte gern, daß Europol schnell für die Drogenseite nen unterhält, weiß, daß solche Behauptungen unhalt- und möglichst weitere Deliktbereiche in Gang gesetzt bar sind. Sie stiften inneren Unfrieden in dieser wird. Republik (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Ich kann aber leider nicht darüber hinwegsehen, daß CSU]: Ein Unfug!) andere Länder, mit denen wir auskommen wollen und mit solchen Argumentationsfiguren. müssen und ohne die wir in der Verbrechensbekämp- fung gar nicht können, hier den Kernbereich ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nationalen Souveränität angetastet sehen — ob wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der das nun für richtig halten oder nicht — und deshalb PDS) ein mühsamer Überzeugungsweg gegangen werden muß. Diese Komplexität der Aufgabe wollte ich Ihnen Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, Sie vorstellen. In diesem Sinne werden sich Koalition und sind neu in diesem Parlament. Ich darf Ihnen sagen: Es Bundesregierung an die Bewältigung dieser heraus- ist hier eine Tradition, Vergleiche der Art, wie Sie sie ragenden, schwierigen und wichtigen Aufgabe der soeben gezogen haben, in der Argumentation mit dem kommenden vier Jahre machen. politischen Gegner nicht zu ziehen. Ich danke Ihnen. (Zuruf von der PDS: Das ist ja ein Witz! — Weitere Zurufe) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Bundesminister Kanther, wenn Sie wünschen, haben Sie das Wort zu einer Replik.

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort zu (Bundesminister Manfred Kanther: Dazu fällt einer Kurzintervention der Abgeordneten Dr. Köster- mir nicht viel ein!) Loßack. — Danke. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 125

Vizepräsident Hans Klein Ich erteile dem Abgeordneten Otto Schily das spricht und jedenfalls das Abstammungsprinzip um Wort. das Jus soli ergänzt. Ich glaube, dann sind wir endlich (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ auf dem Niveau europäischer Zivilisation ange- DIE GRÜNEN]: Ja, Otto, zeig es ihm! Hau langt. ihn!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Otto Schily (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Das ist, Herr Kanther, nicht nur eine rechtstechnische und Herren Kollegen! Eine Gesellschaft, in der die Angelegenheit; das verstehen Sie nicht richtig. Das ist Legitimationskraft der staatlichen Institutionen er- eine Frage auch der Bewußtseinsbildung, des geisti- kennbar dramatisch abnimmt und daraus folgend die gen Standortes der Menschen in Deutschland. Das Konsensfähigkeit gefährdet wird, befindet sich in der können natürlich Sandkastenspiele mit einer befriste- Krise. Darauf müssen wir eine Antwort finden. In der ten Staatsangehörigkeit, einer Staatsangehörigkeit Regierungserklärung finden wir sie nicht. mit eingebautem Verfalldatum, nicht leisten. Die Wirklichkeit hat das Vorstellungsvermögen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung längst überholt. Es hilft dieser Bun- DIE GRÜNEN) desregierung wenig, daß sie ein Zukunftsministerium So etwas taugt nur zur Verba llhornung unserer Ver- einrichtet, solange sie so vielen verstaubten Vergan- fassung und zu sonst nichts. genheiten verhaftet bleibt wie bisher. Großzügigkeit, meine Damen und Herren Kollegen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist gefordert, nicht Kleinlichkeit in solchen Fragen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Gewiß ist eine unbeschränkte Zuwanderung in einem PDS) dichtbesiedelten Gebiet wie Deutschland in Mitteleu- Welchen kläglichen, armseligen Begriff präsentieren ropa nicht möglich. Sie uns mit Blick auf die Zukunft! Wenn Herr Hintze mit seinem bekannten ängstlichen Musterschüler (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) Lächeln ankündigt, er wolle Deutschland für die Die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes war aus Zukunft, für das nächste Jahrhundert fit machen, diesem Grunde, so schmerzlich das für viele aus sehr (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ ehrenwerten Gründen gewesen sein mag, unum- CSU]: Das macht er sehr gut!) gänglich. Aber das zweite Teilstück dieser Reform steht noch aus: ein Gesetz zur Regelung der Zuwan- dann wissen wir genau, daß von dieser Regierung derung, die wir nicht allein auf wirtschaftliche Inter- nichts mehr zu erwarten ist. essen beziehen und reduzieren sollten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) PDS) - Sonst landen wir am Ende bei dem in der Schweiz Du lieber Himmel, eine Regierung als Fitneßcenter: neuerdings diskutierten Modell von Einwand erungs- Das ist zu dürftig für dieses große Land, meine Damen zertifikaten, die von der Industrie meistbietend erstei- und Herren. gert werden. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Vor allem bei Wir sollten auch darauf Bedacht nehmen, daß sich diesem schlappen Bundeskanzler! — Dr. unsere Bereitschaft zur Asylgewährung für politisch Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Verfolgte nicht in der kalten und starren Vollstrek- Das war kein guter Vergleich!) kung von Gesetzesvorschriften erschöpfen darf. Die Nein, es ist an der Zeit, daß wir Gesellschaft und Staat moralische Instanz unseres Gewissens muß an der erneuern, die Demokratie vertiefen, der Freiheit mehr einzelnen Entscheidung immer noch beteiligt bleiben. Raum geben und Solidarität üben. Das ist nämlich aus Wir sollten deshalb der Ausländerbeauftragten und den Flüchtlingshilfeorganisationen ein stärkeres Mit- dem berühmten Dreiklang der Französischen Revolu- tion ein wenig in den Hintergrund gerückt worden. spracherecht verleihen. Solidarität gehört auch zu Freiheit, Gleichheit, Brü- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derlichkeit — so hieß es damals, heute würden wir DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Geschwisterlichkeit sagen —, Solidarität üben übri- F.D.P.) gens auch ganz im buchstäblichen Sinn. Warum ist es beispielsweise nicht möglich, der Den inneren Frieden werden wir nur wahren, wenn Ausländerbeauftragten ein Vetorecht zuzubilligen, es uns gelingt, uns als moderner, weltoffener Staat damit Härtefälle vernünftig und menschlich gelöst weiterzuentwickeln. Dazu gehört vor allem, daß wir werden können? Das würde uns als Land im Herzen Zuwanderung als demographische, kulturelle, huma- Europas auszeichnen. nitäre und auch wirtschaftliche Notwendigkeit aner- kennen. Auch die Indust rie hat das längst erkannt, (Beifall bei der SDP sowie bei Abgeordneten Herr Bundesminister Kanther. der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Koalitionsfraktionen loben die Kirchen, aber sie Kernstück einer Neubestimmung unserer staatli- nehmen ihre Mahnungen nicht ernst. Das ist doch das chen Fundamente muß daher eine grundlegende Faktum. (Beifall bei der SPD) Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sein, das dann dem Niveau der europäischen Zivilisation ent- In diesem Kirchenpapier heißt es wörtlich: 126 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Otto Schily Wie wir mit Flüchtlingen und Asylsuchenden übersehen habe, daß Herr Kanther nicht mehr hier ist. umgehen, ist ein Lern- und Bewährungsfeld Jetzt ist auch sein Stellvertreter nicht mehr da. dafür, ob wir in der Lage sein werden, uns als (Zuruf von der SPD: Wo ist er denn?) offene demokratische und soziale Gesellschaft den dahinterliegenden, weit umfassenderen Her- ausforderungen zur Überwindung der Flücht- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine kleine lingsursachen zu stellen. Zwischenbemerkung, die das aufklärt? Wie wahr! Nehmen Sie ernst, was in diesem Papier steht, und handeln Sie danach! Das ist keine Sonn- Otto Schily (SPD): Bitte sehr. tagspredigt, das ist eine Aufforderung zum Handeln, meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktio- Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Der Innenmini- nen. ster, Herr Kanther, hat sich ordnungsgemäß entschul- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ digt. Sein Staatssekretär ist hier. Herr Kanther mußte DIE GRÜNEN) zu einer Veranstaltung und ist schon länger hierge- Warum sträubt sich der Bundesinnenminister Kan- blieben als geplant. Insofern kann man ihm überhaupt kein Versäumnis vorwerfen. Er ist unterwegs und geht ther dagegen, 40 000 Vietnamesen, die seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten in Deutschland leben seiner Pflicht nach. — wenn auch zunächst einmal im anderen Teil (Widerspruch bei der SPD) Deutschlands —, auf geräuschlose und anständige Weise in unsere Gesellschaft zu integrieren? Otto Schily (SPD): Frau Kollegin Baumeister, ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möchte nur auf folgendes hinweisen: Die Tatsache, der PDS — Detlev von Larcher [SPD]: Wo ist daß wir so fahrlässig mit Parlamentsdebatten umge- denn Herr Kanther geblieben?) hen, bedeutet auch eine Schwächung der Legitima- Das wäre nicht nur eine richtige humanitäre Maß- tionsinstrumente für die Politik. nahme, sondern übrigens auch — hören Sie gut zu! — (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ein Gebot wirtschaftlicher Klugheit. Bekanntlich blok- GRÜNEN und der PDS) kiert die starre Haltung des Bundesinnenministers die Wir sollten das Parlament sorgsamer behandeln. deutsche Wirtschaft in der Anbahnung ihrer wirt- schaftlichen Beziehungen zu Vietnam, die sehr viel- Legitimationsschwächen des Staates lassen sich im versprechend sind. Eine Milliarde DM geht uns durch übrigen nur aufholen, wenn sich die Bürgerinnen und die Bockbeinigkeit des Herrn Kanther auf diese Weise Bürger stärker als bisher an Entscheidungen und an verloren. deren Vorbereitung beteiligen können. Sie haben sich in der vergangenen Legislaturperiode nicht dazu Wenn sich Herr Kanther als Mitglied der Bundesre- durchringen können, einen Volksentscheid auf Bun- gierung derart schwerhörig gegenüber humanitären desebene in die Verfassung aufzunehmen. Anliegen gebärdet wie etwa im Fall des 13jährigen türkischen Jungen Muzafer Ucar, dann muß er sich im übrigen nicht wundern, wenn in der Gesellschaft Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, es dieselben Verhaltensweisen und dieselbe Hartherzig- besteht ein weiterer Fragewunsch. Der Kollege Hirsch keit in anderer und möglicherweise aggressiverer würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Form wiederkehren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Otto Schily (SPD): Herr Kollege Hirsch, sehr DIE GRÜNEN) gerne.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Schily, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhl- ehe Sie sich einem anderen Thema zuwenden und wein? weil der Bundesinnenminister mir vorhin die Zwi- schenfrage nicht gewährt hat: Empfinden Sie es nicht ebenso wie ich als ein bißchen beschämend, daß zwar Otto Schily (SPD): Bitte schön. die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber, die sich heute in der Bundesrepublik melden, aus dem Gebiet des früheren Jugoslawien kommt, daß es aber Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Schily, ist Ihnen aufgefallen, daß der Bundesinnenminister, mit Bund und Ländern bisher trotzdem nicht gelungen ist, dem Sie sich jetzt zu Recht auseinandersetzen wollen, den im Asylkompromiß vereinbarten gesonderten gar nicht mehr im Saal ist und daß er auch nicht Bürgerkriegsstatus für Flüchtlinge aus diesen Gebie- hinterlassen hat, warum er den Saal verlassen ten herbeizuführen? mußte? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wäre es nicht wichtig, daß auch die Länder, an deren Otto Schily (SPD): Es fällt manchmal nicht auf, wenn Herr Kanther nicht da ist. Das mag deshalb verzeihlich Regierungen die Sozialdemokraten beteiligt sind, sein. Ich erinnere mich an ein Wort des Kollegen einen Schritt auf uns zu machen, um endlich eine Fischer, gewandt an den Herrn Bundeskanzler, daß er finanzielle Einigung herbeizuführen? nur den Bundeskanzler sehe und dahinter nicht sehr (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Waigel viel. Ich denke, das ist der Grund dafür, daß ich ist zu geizig!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 127

Dr. Burkhard Hirsch Ich schäme mich, daß es uns nicht gelungen ist, diesen rung in seinem Leben vermittelt wird, werden wir wichtigen Teil des Asylkompromisses zu verwirk- nach meiner Überzeugung nach neuen Formen der lichen. Strafjustiz suchen müssen. Das gilt insbesondere für (Beifall bei der F.D.P.) die Jugendgerichtsbarkeit. In der Anwendung des Jugendstrafrechts und im Jugendstrafvollzug haben wir in der Vergangenheit nach meiner Überzeugung Otto Schily (SPD): Herr Kollege Hirsch, ich stimme schwerwiegende Fehler gemacht, deren Aufarbei- Ihnen ausdrücklich zu, daß die Lösung solcher Fragen tung dringlich ist. nun wirklich nicht an finanziellen Engherzigkeiten scheitern darf. Ich möchte Ihnen ausdrücklich zustim- (Beifall bei der SPD) men. Das setzt stärkere Verantwortung und mehr Phan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf tasie voraus, als wir bisher investiert haben. Den nicht von der CDU/CSU: Auf der Bundesratsbank immer einfach durchschaubaren Zusammenhang von sitzt ja keiner mehr! — Weitere Zurufe) gesellschaftlicher Entwicklung und Aufkommen von Kriminalität dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren. Sie haben sich in der vergangenen Legislatur- Auch die besorgniserregende Ausbreitung der orga- periode — wenn Sie erlauben, daß ich an meinen nisierten Kriminalität ist in gewisser Weise das Resul- Gedankengang anknüpfe; ich glaube, daß das auch tat des Auseinanderbrechens des Wertegefüges unse- den Kollegen Hirsch interessiert nicht dazu durch- rer Gesellschaft und des Legitimationsverlustes des ringen können, einen Volksentscheid auf Bundes- Staates. Wenn bittere Armut, soziales Elend, Obdach- ebene in die Verfassung aufzunehmen. Wer aber Staat losigkeit eine Alltäglichkeit werden, die wir achsel- und Demokratie festigen will, darf sich nicht scheuen, zuckend hinnehmen, wird das nicht ohne Auswirkun- das Volk unmittelbar an Sachentscheidungen zu gen auf das allgemeine Rechtsempfinden der Men- beteiligen. Daran werden wir Sie auch im Verlaufe schen bleiben. dieser Legislaturperiode im Blick auf die künftige (Beifall bei der SPD) Arbeit erinnern, solange Sie sich nicht zu einer besse- ren Einsicht bequemen. Das gleiche gilt für ein ungerechtes, wirtschaftsfeind- liches und innovationshemmendes Steuersystem. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei der Kriminalitätsbekämpfung, gerade was die Ein Satz, meine Damen und Herren Kollegen, gilt organisierte Kriminalität angeht, sollten wir viel stär- allgemein — vielleicht für einige Juristen eher über- ker darauf bedacht sein: Wie können wir die Gesell- raschend: Alles Recht, das zwischen Menschen schaft gegen Kriminalität immunisieren? Das ist eine besteht und entsteht, verdankt seine Geltung nicht in Aufgabe der Erziehung, der Selbsterziehung, der erster Linie oder wohlmöglich sogar ausschließlich Kultur. Nach einem Be richt der Tageszeitung in dieser den Zwangsmitteln, die zu seiner Durchsetzung ver- Woche hat Palermos oberster Ermittlungsrichter hängt werden, sondern dem Einverständnis der Men- Caselli, der an vorderster Front gegen die Mafia schen untereinander. Geht die Konsensfähigkeit ver- kämpft, erklärt, daß nicht die Staatsanwälte und die loren, dann ist es um das Recht geschehen. Da hilft Polizei, sondern nur ein kultureller Wandel Erschei- keine Polizei und kein Gerichtsvollzieher. nungen wie die Mafia besiegen kann. Gewiß, der Staat darf nicht vor der Gewalt oder vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem Unrecht zurückweichen. Polizei und Justiz müs- Das kann nur heißen — und das sollten wir ernst sen mit den notwendigen Instrumenten ausgerüstet nehmen —, daß wir die Maßlosigkeit überwinden und sein, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Wie zu einer Kultur des Maßes gelangen müssen, in der diese Instrumente auszusehen haben, darüber gibt es der Egoismus nicht das alleinherrschende Leitmotiv bekanntermaßen erheblichen Streit. Dieser Streit unseres Wandeins bleibt. kann nur sachgerecht entschieden werden, wenn in aller Ruhe und ohne Hektik nationale und internatio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nale Erfahrungen bei der Bekämpfung der Kriminali- DIE GRÜNEN) tät geprüft werden. Die Empfehlung von Heribert Selbstverständlich bedeutet das nicht den Verzicht Prantl, die Effizienz der letzten gesetzgeberischen auf entschiedenes Vorgehen von Justiz und Polizei. Neuerungen zu untersuchen, bevor neue ergriffen Durch gutes Zureden lassen sich weder gewalttätige werden, sollten wir beherzigen. Keinesfalls kann der extremistische Jugendliche noch international organi- Kampf gegen das Verbrechen dadurch gewonnen sierte Banden von Gewalttaten und sonstigen Verbre- werden, daß wir bewährte rechtsstaatliche Grund- chen abhalten. Aber es sollte uns schon zu denken sätze aufgeben. Das gilt in jeder Blickrichtung. geben, daß sich jugendliche Gewalttäter vor allem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dort zusammenrotten, wo die kulturelle Verarmung der F.D.P.) am weitesten vorangeschritten ist. Wir werden uns aber auf die Frage einlassen müs- Wenn heute in einer großen Tageszeitung geschil- sen, ob die Ausgestaltung der Strafgerichtsbarkeit in dert wird, daß Eltern in den USA gegenüber ihren den überkommenen Formen Kriminalität so zu begeg- Kindern in der Regel mit Zeit und Raum knausern, nen weiß, daß daraus so etwas wie ein gesellschaftli- dann trifft diese Kritik auch uns, wenn wir unseren cher Heilungsprozeß entstehen kann. Wenn wir das Kindern und Jugendlichen nicht genügend Raum und Wort „richten" in seinem Wortsinn so verstehen, daß Zeit für ihre Entfaltung bieten und sie statt dessen der dem abirrenden Menschen die Einsicht in seine geistigen Verödung und Verrohung überlassen. Dies Schuld und die Notwendigkeit einer Richtungsände- betrifft nicht zuletzt das, was wir hier diskutiert haben: 128 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Otto Schily daß in den elektronischen Medien Abend für Abend die Grundzüge der Reform des öffentlichen Dienst- Bilder über die Mattscheibe ausgestrahlt werden, die rechtes wird eine Verständigung über die Verfahrens- sich als Nachbilder in die Tiefen des Bewußtseins von weise bei dessen Verwirklichung keine allzu großen Kindern absenken. Die Gefahren einer solchen Ent- Schwierigkeiten bereiten. Ein reformiertes öffentli- wicklung sollten wir nicht unterschätzen. ches Dienstrecht wird die Effizienz staatlichen Han- delns steigern, seine Plausibilität erhöhen und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eigenverantwortung der einzelnen Menschen stär- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ken. PDS) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit Kriminalitätsbekämpfung — es scheint so, als würden folgenden Worten schließen: Viele setzen in dieser wir uns in diesem Punkt sogar ein wenig treffen; aber unsteten, risikoreichen und gefährdeten Welt auf die dies ist, so denke ich, in der Tat nur scheinbar der Restauration überkommener Wertvorstellungen. Das Fall — ist daher auch und vielleicht zuallererst eine ist eine Illusion. Die Werte werden von den Menschen Erziehungsaufgabe. nicht mehr von außen angenommen, sie werden nicht Wenn wir die Legitimationskraft des Staates und mehr von außen oktroyiert werden können. Unsere seiner Institutionen stärken wollen — lassen Sie mich, Hoffnung ruht auf dem Menschen selbst, auf dem meine Damen und Herren, auch auf diesen Punkt Menschen, der zu sich „ich" sagt und darin seine noch eingehen —, müssen wir ein weiteres großes Würde und Verantwortlichkeit erkennt. Nirgendwo Reformvorhaben auf die Tagesordnung dieser Legis- anders wird mit dem Beginn des nächsten Jahrhun- laturperiode setzen: die Neuordnung des öffentlichen derts und Jahrtausends eine Verankerung des inneren Dienstes. Zusammen mit den Ländern und Kommu- und äußeren Friedens möglich sein. nen wird der Bund die Aufgabenstellung des öffentli- Ich sage es mit den Worten von Paolo Flores chen Dienstes auf der Grundlage folgender Fragestel- d'Arcais — ich zitiere —: lungen überdenken müssen: Erstens. Welche Aufga- Das Bewußtsein der endlichen Existenz enthält ben nehmen der Staat und die Kommunen wahr? Die die Aufgabe, darin so etwas wie einen fragilen Überfrachtung des Staates einerseits und die übermä- provisorischen Sinn zu finden, durch die mit allen ßige Ausdehnung des Staatsapparates andererseits ist geteilte Erfahrung der ernstgenommenen Demo- eine Fehlentwicklung, die als solche von allen Seiten kratie. erkannt wird. Vielleicht empfiehlt es sich, wieder an Das ist eine Botschaft auch an dieses Parlament. Überlegungen anzuknüpfen, die Wilhelm von Hum- boldt in seiner Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Vielen Dank. Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem zu Papier gebracht hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Beifall bei Abgeordneten der PDS) Die zweite Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen: Wie nimmt der Staat seine neu zu bestimmen- Herr Kollege Struck den Aufgaben wahr, in öffentlich-rechtlicher Verant- Vizepräsident Hans Klein: wortung, durch Umstellung der Behördenstruktur auf wünscht das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte, Herr privatrechtliche Organisationsabläufe oder in öffent- Kollege Struck. lich-rechtlicher Verantwortung durch Delegation an privatrechtliche Organisationen? Diese Alternativen Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine werden vernünftig und in objektiver Form zu disku- Damen und Herren! Da ich es für einen sehr eigenar- tieren sein. tigen Vorgang halte, daß der Bundesinnenminister hier eine Rede abläßt und sich dann auf Wahlkampf- Die dritte Frage: Wer wird diese Aufgaben wahrzu- reise oder sonstwohin begibt nehmen haben? Soll der Beamtenstatus geändert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden, auf hoheitliche Tätigkeiten in engerem Sinne DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der beschränkt werden, und sollen für die übrigen Aufga- PDS) benbereiche dann Angestellte und Arbeiter nach den Maßstäben des allgemeinen Tarifrechts tätig sein? und es nicht nötig hat, in der parlamentarischen Eine solche Übung wäre allerdings dann für die Katz, Auseinandersetzung die Argumentation der Opposi- wenn es dabei bleibt, daß solche Tarifverträge ent- tion anzuhören, beantrage ich bis zum Wiedereintref- sprechend der derzeitigen Sachlage inhaltliche Paral- fen des Bundesinnenministers eine Unterbrechung lelen zum Beamtenrecht haben. Dann würde die der Sitzung. Sache nur weitaus teurer, wie sich auch aus einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jüngst veröffentlichten Studie des baden-württember- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gischen Finanzministeriums ergibt. PDS) Wir fordern die Bundesregierung auf, zur Reform des öffentlichen Dienstrechtes ein schlüssiges Ge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister samtkonzept vorzulegen. Angesichts der Tatsache, Bohl. daß genügend Materialien vorliegen, müßte es der Bundesregierung selbst bei schleppender Arbeits- Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- weise möglich sein, ein solches Konzept binnen eines gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Präsi- halben Jahres zu erarbeiten. Zu einer konstruktiven dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich Mitwirkung an einem solchen Reformvorhaben sind glaube, es ist in diesem Hause schon häufiger der Fall wir bereit. Bei einer grundsätzlichen Einigung über gewesen, daß Abgeordnete der Opposition, aber auch Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 129

Bundesminister Friedrich Bohl Regierungsmitglieder Verpflichtungen eingegangen Ich habe daraufhin mit Herrn Kollegen Kanther im sind, Auto telefoniert. Er hat selbstverständlich seine Fahrt (Eckart Kuhlwein [SPD]: Er hat hier aber sofort abgebrochen und wird in wenigen Minuten im doch eine Regierungserklärung abgelassen Deutschen Bundestag eintreffen. Deshalb liegt es und will nicht zuhören, wenn wir darüber selbstverständlich im Ermessen des Deutschen Bun- reden!) destages, die Beratung für einige Minuten zu unter- brechen oder meiner Versicherung zu glauben, daß er die von der Gegenseite akzeptiert wurden. in schätzungsweise fünf Minuten hier sein wird. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Ein unglaubliches Ich bitte den Bundestag und insbesondere die Verhalten!) Oppositionsfraktionen noch einmal um Nachsicht. Es Es hat dann immer auch Möglichkeiten gegeben, sich war keine böse Absicht. Es ist selbstverständlich, daß darüber zu verständigen. sich die Bundesregierung auch bei der Debatte über die innere Sicherheit und die Regierungserklärung (Detlev von Larcher [SPD]: Erst reden und hier im Deutschen Bundestag der Auseinanderset- dann weggehen!) zung stellt. Im konkreten Fall ist Herr Bundesminister Kanther Herzlichen Dank für Ihre freundliche Aufmerksam- vor Monaten eine Verpflichtung eingegangen. keit. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wir auch! Wir hat (Beifall bei der CDU/CSU) ten auch welche, aber wir sind hier! — Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- mußten damit rechnen, bei der Bundestags ren, erlauben Sie mir bitte eine Frage an die Kollegin wahl zu verlieren!) Kerstin Müller. Bezieht sich Ihr Redebeitrag wesent- Er glaubte, daß er sich angemessen entschuldigt lich auf die Innenpolitik? hätte. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Eckart Kuhlwein [SPD]: Es gibt keine Ent GRÜNEN]: Ja, sicherlich!) schuldigung dafür!) Dann, meine Damen und Herren, schlage ich vor, daß — Nun hören Sie doch einmal zu. wir dem Antrag folgen und warten, bis der Bundesin- nenminister wieder eingetroffen ist. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Die Regierung gibt hier eine Erklärung ab, und dann muß sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich auch anhören, was dazu gesagt wird!) DIE GRÜNEN) — Aber vielleicht hören Sie sich erst einmal an, was (Unterbrechung von 18.12 Uhr bis 18.26 ich Ihnen sage. Dann können Sie anschließend ant- Uhr) worten. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Was Sie sagen, kann - Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- überhaupt nichts entschuldigen! — Joseph ren, ich bitte, Platz zu nehmen. Wir setzen die unter- Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ brochene Sitzung fort. NEN]: Laß ihn doch! Er will nur Zeit schin Ich erteile das Wort der Kollegin Kerstin Müller. den! Friedrich, komm zum Schluß!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): also üblich in diesem Hohen Hause gewesen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber nicht, daß man Kanther! sich klammheimlich verpissen darf! — (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der DIE GRÜNEN]: Laß ihn doch!) PDS) Noch nie hat es wohl eine Regierungskoalition fertig- gebracht, eine derart dürftige Koalitionsvereinba- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- rung vorzulegen. 40 Seiten Blindtext, dazwischen ren, hören Sie sich doch die paar Sätze des Kollegen einige versteckte Gemeinheiten — wirklich eine reife Bohl bitte an. Leistung. Auch die Regierungserklärung des Bundes- kanzlers sowie die Ausführungen von Herrn Kanther haben uns nicht weitergeführt. Diese Regierung hat Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- meiner Meinung nach nichts anzubieten, was zur gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Kan- Lösung der drängenden Probleme in unserer Gesell- ther ist davon ausgegangen, daß er sich auch ange- schaft taugt. Wo sind Ihre Ideen, wo Ihre Vorschläge messen entschuldigt hat. für Reformen? Wo ist das Neue in Ihrer Politik? Was Sie Die Bundesregierung — das will ich hier in aller uns heute hier gesagt haben, das hören wir von der Form tun — bittet um Nachsicht, wenn dieses offen Bundesregierung schon seit zwölf Jahren. ichtlich nicht der Fall war. Es ist selbstverständlich, -s Mit schwarzen Leihstimmen hat es die F.D.P. noch daß Herr Bundesminister Kanther, wenn die Opposi- einmal in den Bundestag geschafft; jetzt kassiert die tion es wünscht — und diesen Wunsch hat sie deutlich Union vor allem bei der Innen- und Rechtspolitik die zum Ausdruck gebracht —, an dieser Debatte weiter- Leihgebühren. Die F.D.P. sucht ihr liberales Heil im hin teilnimmt. Koalitionsvertrag in vagen Formulierungen. Bei ein- 130 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Kerstin Müller (Köln) deutigeren Aussagen wäre Ihnen doch Ihr eigener — wie wir ja heute wieder hören konnten —, keine Laden um die Ohren geflogen. Der politische Deal ist: erleichterte Einbürgerung. Für Zugeständnisse an die F.D.P.-Wirtschaftspolitik Deshalb fordern wir: Wer in Deutschland geboren ist man bereit, den Schutz und den Ausbau von ist oder fünf Jahre hier lebt, soll einen Rechtsanspruch Bürgerrechten abzuschreiben. auf den deutschen Paß bekommen. Der Maßstab für (Bundesminister Manfred Kanther führt eine die Erlangung der Staatsbürgerschaft darf nicht län- Unterredung — Rudolf Bindig [SPD]: Das ist ger das Blut der Ahnen sein. Das ist wilhelminischer unverschämt!) Anachronismus. — Ich warte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Kriminalitätsbekämpfung, Drogenpolitik, Staats- bürgerschaftsrecht — kein Jota des liberalen Pro- Wir wollen die doppelte Staatsbürgerschaft ermög- gramms wurde umgesetzt. lichen, weil sie, Herr Kanther, nicht die Integration verhindert, sondern sie gerade erst möglich macht. Sehr geehrte Damen und Herren von der F.D.P., dieser Ausverkauf der Ideen des politischen Libera- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS lismus wird Sie aber nicht retten, sondern nur noch SES 90/DIE GRÜNEN) schneller in den Abgrund treiben. Schon der Vorschlag der Ausländerbeauftragten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Schmalz-Jacobsen, wäre da ein großer Fort- schritt. Den Vogel abgeschossen haben Sie allerdings mit der Diese Fragen sind für viele Menschen sehr drän- Einführung einer neuen Rechtskategorie, nämlich der gend, und, ich finde, es besteht Handlungsbedarf. der „deutschähnlichen Kinder". Diese Schnupper- Deshalb habe ich folgenden Vorschlag: Lassen Sie uns staatsbürgerschaft ist juristisch, finde ich, bestenfalls auf der Grundlage des Entwurfs der Ausländerbeauf- Flickschusterei. Diesen mißratenen Vorschlag präsen- tragten über die Parteigrenzen hinweg mit einer tieren Sie den Bürgerinnen und Bürgern doch bloß tatsächlichen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts deshalb als Verlegenheitslösung, weil Sie immer noch beginnen. Wir sind dazu bereit. nicht anerkennen wollen, daß die Bundesrepublik längst ein Einwanderungsland geworden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN PDS) sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Herr Schily hat dazu auch schon einiges gesagt. 6,9 Millionen Ausländer leben in Deutschland. (Detlev von Larcher [SPD]: Wieso klatscht da Allein 1993 wurden 100 000 hier geboren. Sie alle sind nicht einmal die F.D.P.?) Inländer. Das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht aber - Herr Schäuble, meine Damen und Herren von der macht sie weiterhin zu Ausländern. Das ist ein Skan- CDU, verlassen auch Sie endlich die Wagenburg und dal, und an diesem Skandal will die Regierung nichts erkennen Sie an, daß die Bundesrepublik ein Einwan- ändern. derungsland ist! Nach Hünxe und Mölln, nach (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Hoyerswerda und Solingen brauchen wir ein klares SES 90/DIE GRÜNEN) Signal. Dieses Signal muß lauten, daß die Einwande- rer zur Gesellschaft gehören. Ich fordere Sie auf, die Statt dessen präsentieren Sie uns eine Staatszugehö- Sonntagsreden über die „lieben ausländischen Mit- rigkeit auf Probe, die womöglich nicht einmal vor bürger" zu lassen und ihnen statt dessen gleiche Abschiebung schützt. Ich garantiere, das wird in Rechte zu geben. Karlsruhe keinen Bestand haben. Dieser Vorschlag ist nicht einmal einer der berühmten ersten Schritte in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richtige Richtung; er ist ein Rohrkrepierer. Mit der sowie bei Abgeordneten der SPD und der neuen Staatszugehörigkeit bleibt alles beim alten. PDS) Einwanderer sollen auch weiterhin nicht zu dieser Während Sie in der Ausländerpolitik mit einem Gesellschaft gehören. Millionen von Menschen zah- politischen Scherzartikel aufwarten, bieten Sie uns in len Steuern und haben keine politischen Rechte. Ihre der Kriminalpolitik, finde ich, nur die alten Kamellen. Steuergelder finden im Haushalt Verwendung, aber Wie wir von Herrn Kanther heute auch hören konnten, über die Politik dieses Landes dürfen sie nicht mitbe- erhält die F.D.P. in Sachen großer Lauschangriff doch stimmen. Herr Kanther, ich sage: Es muß endlich nur eine Gnadenfrist. Jetzt müssen Sie Ihren Offenba- Schluß sein mit dieser juristischen Apartheid! rungseid noch nicht leisten, Herr Kinkel, das reicht auch noch während der Wahlperiode; das haben die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU-Verhandlungsführer gönnerhaft erklärt. Bei der sowie bei Abgeordneten der SPD und der Kriminalitätsbekämpfung setzen Sie weiter auf Re- PDS) pression und Abbau von Grundrechten, statt die Die politische Aufgabe, die ganz oben auf der Ursachen von Kriminalität anzugehen. Tagesordnung steht, ist die, auch der ersten und (Zuruf von der CDU/CSU: Ach je!) zweiten Einwanderergeneration eine Perspektive der Integration zu bieten. Wer hier auf Dauer lebt, muß Krassestes Beispiel hierfür ist die Drogenpolitik der auch gleiche Rechte haben. Aber genau dagegen Bundesregierung. Wir haben 1 700 Drogentote jähr- sperren Sie sich: keine doppelte Staatsbürgerschaft lich. Jeder zweite Diebstahl, jeder dritte Einbruch, Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 131

Kerstin Müller (Köln) mehr als jeder fünfte Raub fällt unter die Beschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — fungskriminalität. Damit steht fest: Ihre Drogenpolitik Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ist gescheitert. DIE GRÜNEN]: Was ist daran Unsinn? Kau fen Sie mal eine Flasche Schnaps, dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wissen Sie, wie das wirkt!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Machen Sie endlich Schluß mit Ihrer Obstruktions- Sie ist, so könnte man auch sagen, ein einziges politik gegen städtische Spritzenräume wie in Frank- Arbeitsbeschaffungsprogramm für organisierte Kri- furt! Die können nämlich helfen, die Ausbreitung von minalität. Aids und Hepatitis unter Süchtigen einzudämmen. Geben Sie doch Ihre ideologische Blockadepolitik auf! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Und schicken Sie um Gottes willen endlich Ihren sowie bei Abgeordneten der SPD) Drogenbeauftragten, Herrn Lintner, in den Ruhe- stand! Denn mit der Kriminalisierung des Drogengebrauchs Danke schön. und -erwerbs garantieren Sie dem illegalen Drogen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN handel enorme Gewinnspannen. Ohne die Beschaf- sowie bei Abgeordneten der SPD und der fungskriminalität würde vielen Hehlerinnen und Hehlern die ökonomische Basis entzogen. Was Sie PDS) unter dem Stichwort Drogenpolitik vereinbart haben, ist daher nicht mehr als Pfeifen im Walde, eine Ich erteile der Bundesmi- Aneinanderreihung von frommen Wünschen: Verrin- Vizepräsident Hans Klein: nisterin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenber- gerung der Zahl der Drogeneinsteiger, Auseinander- ger, das Wort. setzung mit den Ursachen, noch entschlossenere Bekämpfung der Drogenkriminalität. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herrn Lintner zurück an die Meine Damen und Herren, würden Sie nun einmal Maas! „Ozapft is" heißt die Drogenpolitik in sagen, wie Sie diese Ziele erreichen wollen! Dieses Bayern!) Drogenkonzept ist symptomatisch für die Hilflosigkeit Ihrer Innen- und Rechtspolitik. Mit einem trotzigen

„Weiter so" verschärfen Sie die Probleme. Statt den Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- Teufelskreis von Sucht und Kriminalität zu durchbre- nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr verehr- chen, drehen Sie weiter an der Schraube des Drogen- ten Damen und Herren Kollegen! Frau Müller, Herr elends. In der Tat muß man höchste Besorgnis haben, Volmer, Ihre Arroganz den Wählerinnen und Wählern was die Entwicklung im Drogenbereich anbelangt. gegenüber ist ja sehr bezeichnend.

Auch wir wollen nicht mehr Abhängige. Auch wir (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der wollen, daß weniger Süchtige Autos oder Wohnungen - CDU/CSU) aufbrechen oder zur Prostitution gezwungen werden. Stimmen, die ganz bewußt auf Grund einer Koalitions- Aber das geht nur, wenn Sie endlich anfangen, Lehren aussage, die ganz selbstverständlich war — vielleicht aus dem gescheiterten Konzept des Drogenkriegs zu machen Sie ja in vier Jahren auch einmal eine ganz ziehen. Wir brauchen eine Abrüstung im Drogen- bestimmte Koalitionsaussage , krieg. Wir wollen eine grundlegende Wende in der (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Drogenpolitik. Die Parole vor allem an die Konsumen- DIE GRÜNEN]: Das nächste Mal wählen Sie ten muß heißen: Die Waffen nieder! Die Antwort auf uns, Frau Leutheusser-Schnarrenberger! In Krankheit und Sucht darf nicht länger das Strafrecht vier Jahren wählen Sie uns!) sein. abgegeben worden sind, sind keine Leihstimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Außerdem besitzt man die Stimmen von Wählerinnen sowie bei Abgeordneten der SPD und der und Wählern nicht, sondern man muß versuchen, sie PDS) durch die eigene Politik bei den nächsten Wahlen zu gewinnen. Die Bundesregierung muß auch den Mut finden, die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) rechtlichen Ungereimtheiten zu beseitigen, die durch Dazu muß man in einen Wettbewerb eintreten. Genau den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gege- ben sind. Nun ist zwar der Besitz kleiner Mengen Hanf das werden wir tun. de facto straflos, aber nicht der entsprechende Erwerb (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der durch den Konsumenten. Stellen Sie sich das einmal CDU/CSU — Joseph Fischer [Frankfurt] übertragen auf einen anderen, einen legalen Suchtbe- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sollten reich vor: Der Besitz einer Flasche Schnaps wäre das gemeinsam tun!) straffrei; wenn der Trinker aber den Schnaps kaufen — Ich glaube nicht, daß wir allzuviel Gemeinsamkei- wollte, läge eine Straftat vor. Das ist doch absurd. ten haben und das deshalb gemeinsam tun können, Herr Fischer. Wir werden das deshalb tun, weil wir, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ und zwar die Liberalen, den organisierten Liberalis- CSU]: Das ist doch Unfug, was Sie da erzäh- mus len!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wer — So ist das. ist das?) 132 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gerade auch in dieser Legislaturperiode und bei den wirklich der richtige Schritt in die richtige Richtung wichtigen Fragen der Rechts- und Innenpolitik deut- getan wird. lich machen werden.

(Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) Vizepräsident Hans Klein: Frau Ministerin, gestat- — Nein, überhaupt nicht. ten Sie eine Zwischenfrage? Wie ich vernommen habe, haben Sie, Frau Müller, anscheinend die Koalitionsvereinbarung gerade zu Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- den Punkten, in denen sie konkret ist, nicht richtig nisterin der Justiz: Ja, bitte. gelesen. Deshalb erlaube ich mir, hier auch ein bißchen Nachhilfeunterricht zu geben. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Uwe Frau Kollegin, wären Sie so freundlich, uns Abgeord- Lühr [F.D.P.]: Das brauchen die!) neten mitzuteilen, auf wie viele der hunderttausend in Denn die Koaltionsvereinbarung im Bereich der Deutschland geborenen Ausländer in jedem Jahr Rechts- und Innenpolitik ist davon getragen, daß wir diese Regelung der Kinderstaatsbürgerschaft für die den liberalen Rechtsstaat stärken, die Bürgerrechte dritte Generation, die ja sehr eingeschränkt ist, indem verteidigen und auch die Sicherheit der Bürger ein Elternteil in Deutschland geboren sein muß und gewährleisten wollen. Deshalb ist das Ausländer- und die Eltern sich mindestens zehn Jahre hier aufhalten, Staatsangehörigkeitsrecht für uns ein ganz wesentli- zutreffen würde. cher Bereich, weil wir durch konstruktive Politik keine Ängste entstehen lassen wollen oder aber Ängste und Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- Befürchtungen, die entstanden sind, abbauen wol- nisterin der Justiz: Zunächst einmal darf ich auf die len. Frage antworten, daß Sie auch wissen, daß da ein sehr Das geht dadurch, daß man konkrete Vorschläge dynamisches Element enthalten ist, weil wir sich macht. Das, was hier von Frau Müller an die Adresse ständig entwickelnde und im Zweifel steigende Zah- der Bundesregierung gefordert wird, steht schon in len haben werden. der Koalitionsvereinbarung, nämlich eine umfas- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Da Denn es ist keine Ist-Zustandsbeschreibung, wird nicht geprüft, ob wir eine Reform vornehmen wollen. Nein, es wird eine umfassende Reform des (Zuruf von der SPD: Nennen Sie doch einmal Staatsangehörigkeitsrechts von seiten der Bundesre- eine Zahl!) gierung vorgenommen, weil wir Ihnen, dem Parla- sondern es sind alle Kinder der dritten Generation. ment, die Vorschläge vorlegen werden. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Anke - Ich kann Ihnen die genaue Zahl nicht sagen. Sie ist Fuchs [Köln] [SPD]: In welche Richtung?) fünfstellig. Selbstverständlich, da können Sie nachfra- — Das steht genau auf Seite 41, zweiter Absatz, erste gen. Aber ich kann sie Ihnen nicht genau sagen, weil Zeile. Da steht es ganz konkret. wir auch nicht zu allen diesen Punkten im einzelnen die ganz konkreten Zahlen vorliegen haben. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber mehr als eine Zeile ist das auch nicht!) Aber ich glaube, Herr Beck, es geht doch überhaupt nicht um die absoluten Zahlen. Es geht um das, was Natürlich gibt es sehr viele Einzelpunkte, über die dahintersteckt. manche vielleicht unterschiedlicher Meinung sein (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne würden. Aber, worum es uns geht, ist — — ten der CDU/CSU) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Es geht nämlich darum, daß wir gesagt haben: Wir DIE GRÜNEN]: Das wird mit der F.D.P. doch wollen für Kinder ausländischer Eltern der dritten nichts!) Generation hier die Möglichkeit eröffnen, mit Geburt — Das wird ganz hervorragend. Sie sollten weiter einen besseren Status als jetzt zu haben, und ihnen ab zuhören, was wir noch alles machen wollen. dem 18. Lebensjahr die Umwandlung in die deutsche Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzun- (Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms gen ermöglichen. [F.D.P.]) (Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir ja In diesen Zusammenhang gehört auch das hier so nun kapiert!) geschmähte Institut der Kinderstaatszugehörigkeit. Es ist neu, und von daher muß es nicht gleich von Wenn wir bei diesem Punkt sauber debattieren, vornherein, ohne daß man sich vielleicht etwas näher dann müssen wir auch trennen: einmal zwischen dem Jus soli, nämlich den Elementen des Territorialprin- damit beschäftigt hat, mit einer polemischen und pauschalen Kritik überzogen werden. zips, das wir mit der Kinderstaatszugehörigkeit in einem ersten Ansatzpunkt hier aufnehmen, in Ergän- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der zung zum geltenden Abstammungsrecht und zum CDU/CSU) anderen der doppelten Staatsangehörigkeit. Wenn Sie sich die Eckpunkte — und die stehen zu (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE diesem Punkt in der Koalitionsvereinbarung auf GRÜNEN]: Sie wissen nicht, was Sie da Seite 41 — ansehen, dann werden Sie sehen, daß hier reden! Es ist doch entsetzlich!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 133

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger — Nein, das ist genau das, was sich aus diesem aus etwas anderes, mehr in eine Richtung, vorgestellt, meiner Sicht richtigen Schritt in die richtige Richtung aber verwischen Sie bitte nicht immer zwei Elemente, ergibt. Ich kann offen sagen, wir hätten gerne noch nämlich Jus soli und die doppelte Staatsangehörig- mehr gewollt. keit! Das ist zu trennen. Das ist etwas Unterschiedli- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ches. — Wieso lachen Sie da? Es ist doch richtig, daß man (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) sich auf das verständigt, was im Moment konsens- und Ich bin auch nicht der Meinung, daß wir für jeden, einigungsfähig ist. Ich halte es für richtig, wenn wir der in Deutschland geboren ist, oder für jeden, der sich das tun, gerade zur Stärkung der Integration von hier einige Jahre aufgehalten hat, generell die dop- Kindern, die hier in Deutschland geboren werden, pelte Staatsangehörigkeit schaffen sollten. Ich bin unter bestimmten Voraussetzungen. Wir werden, zwar schon der Meinung, daß das unter bestimmten wenn wir an die gesetzliche Ausformulierung gehen, Voraussetzungen — gerade auch in Härtefällen — uns über die Einzelheiten sehr wohl und in Ruhe möglich sein muß, und das kann man auch noch weiter unterhalten. Dann wird man sehen, was sinnvoll ist. fassen, als das bisher der Fall ist, aber ich halte nichts Aber an konkreten Aussagen ist, glaube ich, gerade von einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit dieser Punkt in der Koalitionsvereinbarung nicht zu auf Dauer. überbieten. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Vizepräsident Hans Klein: Frau Ministerin, der Kol- CDU/CSU) lege Sperling würde ebenfalls gerne eine Zwischen- frage stellen. Das ist die unterschiedliche politische Ansicht, die wir eben zu diesem Punkt haben. Aber da muß man auch sauber argumentieren, das sauber auseinander- Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- nisterin der Justiz: Ja, bitte. halten und nichts miteinander verwischen. (Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben doch Bitte, Herr Kollege. Vizepräsident Hans Klein: viel mehr Differenzen zur CSU als zu uns!)

Dr. Dietrich Sperling (SPD): Frau Ministerin, ist denn Vor allem darf man das auch nicht mit dem Recht auch ein Kinderwahlrecht vorgesehen, damit sich das, der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung was Sie da vorschlagen, auch positiv auf Ihre Partei verwischen. auswirken kann? (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der SPD: Das haben wir doch auch nicht!)

Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- Was heißt das? Auch Sie haben wieder nichts nisterin der Justiz: Aus Ihrer Frage merke ich, daß es gelesen. Schauen Sie bitte einmal in das Koalitions- Ihnen nicht ernsthaft um die Kinder geht, mit denen papier. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung zu wir uns hier beschäftigen. diesem Punkt — ich sage Ihnen auch offen, warum — (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einen Prüfungsauftrag für Regelungen zur Steuerung Von daher möchte ich eigentlich gerne fortfahren und und Begrenzung der Zuwanderung aufgenommen, noch hinzufügen, was wir denn im Bereich der besse- weil es, glaube ich, kaum möglich ist, innerhalb ren Integration von Menschen ausländischer Her- kürzester Zeit Kriterien für die Steuerung der Zuwan- kunft in Deutschland weiter tun wollen. derung vorzulegen, die sowohl arbeitsmarktpoli- Wir werden die Ermessensentscheidungen, die in tischen als auch humanitären Gesichtspunkten Rech- vielen Bestimmungen in unserem Ausländergesetz nung tragen. enthalten sind, in Rechtsansprüche, soweit es geht, (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard verändern. Das heißt eine ganz erhebliche Besserstel- Hirsch) lung. Wir werden die Einbürgerung erleichtern, indem wir die Fristen des Aufenthaltes von derzeit Das ist schwierig. Wir müssen uns über folgendes 15 Jahren verkürzen. Das wird weniger sein, das unterhalten: Wie ist es mit denjenigen, die einen werden möglicherweise zehn Jahre sein, vielleicht ist Rechtsanspruch haben, sich hier aufhalten zu können? es auch eine andere Zahl, etwa acht. Aber darüber Wie bringen wir dies beides zusammen? wird man sich verständigen. Das ist ja nicht der entscheidende Streitpunkt. Wir ich sage: die Liberalen — wollen das, aber wir (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ können Ihnen auch nicht sofort ein fertiges Konzept DIE GRÜNEN]: Sieht das die CDU auch auf den Tisch legen. so?) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Es geht doch um das Gesamtkonzept, mit dem wir wußten wir schon länger!) hier nämlich an vielen Punkten ansetzen und tatsäch- lich etwas zur Verbesserung der Integration — nicht Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, daß wir uns zur Assimilation — der Menschen, die sich hier in gerade mit diesen Fragen mit Hilfe von Experten Deutschland auch integriert fühlen und hier leben beschäftigen — vielleicht auch unter Berücksichti- wollen, tun. Von daher halte ich es wirklich für sehr gung dessen, was wir in anderen Ländern sehen, die polemisch, diesen Vorschlag hier in Bausch und ganz andere Bedingungen haben —, die dann auch Bogen abzutun. Sagen Sie ehrlich, Sie hätten sich Vorschläge machen, die in eine Regelung zur Steue- 134 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger rung und Begrenzung der Zuwanderung einfließen Deshalb steht in der Koalitionsvereinbarung auch können. ganz klar, daß ihre Rechtsstellung und ihre Funktion (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] gesetzlich geregelt werden soll. Natürlich verbinden [F.D.P.]) wir damit die Auffassung, daß sie eine stärkere Möglichkeit als bisher haben muß, ihre Stimme Das ist ehrlich, weil es das ist, was wir im Moment — auch hier im Parlament — zu erheben, und daß sie tatsächlich in der Lage sind zu leisten. auch im Rahmen der Bundesregierung noch mehr Möglichkeiten der Beteiligung bekommen kann. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie (Detlev von Larcher [SPD]: Und was sagt die eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer? CDU dazu?) Das werden wir im Rahmen der gesetzlichen Rege- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- nisterin der Justiz: Ja. lung, die wir schaffen wollen, erörtern. Aber das zeigt doch, wie wichtig gerade uns diese Fragen insgesamt sind und daß es nicht angebracht ist, hier so pauschal Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte, Herr Kol- in Bausch und Bogen etwas abzulehnen, was wirklich lege. diese Kritik in der Form bei weitem nicht verdient hat. Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Bundesministerin, bin ich Aber ich möchte gern — und das ist bei der Debatte richtig informiert, daß die Türkei, die ja ein starkes der Innen- und Rechtspolitik notwendig — auch zum Interesse daran hat, daß hier lebende Türken bei uns Bereich der Kriminalitätsbekämpfung und der inne- eingebürgert werden können, durch Änderung ihrer ren Sicherheit etwas sagen. Dazu möchte ich zwei eigenen Gesetzgebung selbst Erhebliches dazu bei- Aussagen machen. tragen könnte, daß den Türken dieser Schritt z. B. dadurch erleichtert wird, daß die Türkei in ihrem Die erste ist, daß in der Koalitionsvereinbarung Erbrecht oder in ihrem Grund- und Bodenrecht Ände- entscheidend ist, daß wir die verabschiedeten Gesetze rungen vornimmt, so daß Türken, die sich hier einbür- und die, die am 1. Dezember in Kraft treten werden, gern lassen, dann keine Nachteile mehr erleiden, nämlich das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das wir wenn sie ihre eigene angestammte türkische Staats- ja in einem gemeinsamen Kompromiß zustande angehörigkeit aufgeben? gebracht haben, sich erst einmal bewähren lassen wollen. Wir wollen Erfahrungen mit den Änderungen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sammeln, und es sind ja weitgehende Änderungen, die wir dort im Bereich der Bekämpfung der Krimina- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- lität, der organisierten Kriminalität wie auch der nisterin der Justiz: Wir beschäftigen uns mit der Massenkriminalität der Eigentumsdelikte, vorgenom- erweiterten Hinnahme der doppelten Staatsangehö- men haben. Letzteres ist ja gerade der Deliktsbereich, rigkeit, gerade weil es besonders in der Türkei bisher der insbesondere zu Ängsten und Befürchtungen der ganz, ganz schwierig ist, die türkische Staatsangehö- Bevölkerung führt. rigkeit aufzugeben, bzw. weil in manchen Fällen solche Nachteile erlitten werden, daß es wirklich nicht Rechtspolitik und Kriminalitätsbekämpfung heißt zumutbar ist, daß sie aufgegeben wird. Die Türkei auf der einen Seite natürlich wie wir das kennen —: selbst könnte natürlich ganz entscheidend durch Immer prüfen, ob wir andere Gesetze brauchen, ob wir Änderung ihrer Bestimmungen dazu beitragen, mehr Gesetze brauchen, ob wir Lücken schließen müssen. Aber allein die gesetzgeberische Aufrüstung (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ist nicht Ziel von Kriminalitätsbekämpfung, sondern den Menschen, die in Deutschland leben, die Ent- dazu gehört gerade eine moderne Politik der Ursa- scheidung zu erleichtern. chenbekämpfung, die wirksame internationale Zu- (Detlev von Larcher [SPD]: Es ist für die sammenarbeit und ein funktionierender Vollzug der F.D.P. auch leichter, wenn die Türken das beschlossenen Gesetze. ändern!) (Beifall bei der F.D.P.) Das wäre ein ganz wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Aber solange das nicht der Fall ist, ver- Dieser Punkt ist schon von einigen Rednern heute suchen wir wirklich, mit unseren Möglichkeiten hier angesprochen worden. Denn wenn wir Defizite eindeutig Verbesserungen zu bekommen. haben, dann beim Vollzug der bestehenden Gesetze, nicht in erster Linie bei den Eingriffsbefugnissen und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord- Eingriffsmöglichkeiten, die man dem Staat geben neten der CDU/CSU) möchte. Im Zusammenhang mit der Ausländer- und Staats- angehörigkeitspolitik spielt die Ausländerbeauf- Aber Kriminalitätsbekämpfung kann auch nicht tragte eine ganz entscheidende Rolle; heißen, daß jedes Mittel nur deswegen gewählt wer- den könnte, weil es möglicherweise nützlich ist. Denn (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ genau wie die innere Sicherheit und der Erhalt der DIE GRÜNEN]: Leider nicht!) inneren Sicherheit wichtig ist, müssen die Bürger- denn sie ist ja das Sprachrohr derjenigen, die mit zu und Freiheitsrechte beachtet werden und muß ihnen den Schwächeren in Deutschland gehören. vor allen Dingen das nötige Gewicht beigemessen (Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) werden. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 135

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Da ist — und das hier zu sagen liegt mir doch am und da ist es genau die Argumentation. Herzen — in jüngster Zeit eine ganz andere Argumen- tation entstanden, und zwar die Argumentation, aus Dazu kann ich nur sagen: Wir können nur diejeni- unserer Verfassung und aus den Grundrechten herzu- gen Möglichkeiten und Maßnahmen ernst nehmen, leiten, daß der Staat schon nach dem Grundgesetz die nicht dazu führen, daß das, was in unserer Verfas- verpflichtet sei, den Bürger vor Grundrechtseingrif- sung als Wertesystem verankert ist, auf das sich heute fen Dritter zu schützen, und zwar auch um den Preis viele in dieser Debatte zu Recht berufen haben, eines staatlichen Eingriffs in die Grundrechte der auseinanderbricht. Bürger. Den originär als Abwehrrechte gegen staatli- che Eingriffe konzipierten Grund- und Freiheitsrech- Deshalb, meine Damen und Herren, haben wir aus ten wird auf diese Weise eine Pflicht des Staates guten Gründen in unsere Koalitionsvereinbarung entgegengesetzt, dann in diese bürgerlichen Rechte nicht einen Strauß von Maßnahmen, von Möglichkei- eingreifen zu müssen, wenn dies zum Schutz vor ten aufgenommen. Eingriffen Dritter erforderlich sei. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist die Position der Denn wir können das im Moment auf Grund der Bundesregierung? Ihre oder die des Bundes- vorliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen nicht innenministers?) vertreten und nicht rechtfertigen. Darüber hinaus sind — Nein, das ist nicht die Position der Bundesregie- wir ganz klar der Auffassung, daß Vertrauen in den rung. Wenn Sie die politischen Äußerungen verfolgen Rechtsstaat, in die Institutionen dieses Staates nicht — ich denke einmal an das, was der Innenminister des durch Aktionismus bei der Gesetzgebung gewonnen Landes Brandenburg sagt —, werden kann, sondern in erster Linie dadurch, daß diese Institutionen funktionieren und ihre Aufgaben (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wahrnehmen können. Damit wird das Vertrauen in sie DIE GRÜNEN]: Uns interessiert, was für eine verstärkt und verbessert! Haltung die Bundesregierung hat!) dann ist das eine Überlegung, die immer stärker um (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) sich greift, um alle Eingriffsmaßnahmen und -mög- lichkeiten zu legitimieren, die, angeblich begründet Hier, meine Damen und Herren, müssen wir noch aus einer Schutzpflicht des Staates, hergeleitet aus der einiges tun. Es reicht nicht, daß wir die Justiz in den Verfassung, gegeben seien. neuen Bundesländern funktionsfähig gemacht haben. Ich warne davor, diese Verfassungsinterpretation, die Es fehlen noch wesentliche Dinge. Ich denke an die Fragen des Herr Schily, ich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil aus Jugendstrafvollzugs — dem Jahre 1975 zum § 218 zum Schutz des ungeborenen glaube, Sie haben das angesprochen, oder Sie, Frau Lebens entwickelt hat, auszudehnen, überzuinterpre- Müller —, an gesetzliche Grundlagen für den Straf- vollzug gerade von Jugendlichen — das ist so in die tieren und zu weit zu fassen, weil das nämlich dazu führen würde, daß letztendlich über alle politisch zu Koalitionsvereinbarung eingegangen und an Rege- treffenden Maßnahmen das Bundesverfassungsgericht lungen für die Untersuchungshaft von Jugendlichen. Das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns vorgenommen entscheiden würde, weil jeder klagen würde, weil der haben, den wir in der letzten Legislaturperiode, in der Staat aus seiner Sicht nicht alles, was die Verfassung wir uns mit den rechtlichen Herausforderungen der eigentlich hergebe, zum Schutz seiner Rechtsgüter täte. deutschen Einheit intensiv beschäftigt haben, nicht mehr haben bewältigen können. Das haben wir nicht Deswegen halte ich es für ganz wichtig, daß wir uns mehr schaffen können. gemeinsam darüber einig sind, daß diese Argumenta- tion nicht greifen kann und nicht die richtige ist, wenn Dazu gehört ein weiterer wichtiger Punkt, der sich es um die wichtige Frage geht: Was darf ein Staat, wiederum an den Gesetzgeber richtet. Wir haben uns welche Eingriffsmöglichkeiten geben wir ihm, und wo bisher in der Debatte mit der Rechtsstellung ausländi- ziehen wir klar die Grenzen? scher Kinder beschäftigt und suchen nach vernünfti- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gen Lösungen, sie zu verbessern. Es gibt jedoch auch DIE GRÜNEN]: Was sagt die Bundesregie- sehr, sehr viel zu tun, um die Rechtsstellung der rung dazu?) Kinder, die in Deutschland geboren sind und deutsche Eltern haben, zu verbessern und zu stärken. Deshalb mein Appell an alle hier, sich an dieser — — (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) GRÜNEN]: Was Sie und der Bundes- innenminister meinen, das ist von Interesse!) Das betrifft gerade die Situationen, wo sich die Eltern trennen oder nicht miteinander verheiratet sind. Hier — Nein, nein, schauen Sie bitte einmal in die Länder. muß es im Bereich des Sorgerechts, des Umgangs- Was wird denn dort teilweise alles gefordert? Ich rechts und des Unterhaltsrechts erhebliche Verbesse- schaue nach Brandenburg und lese sehr gründlich, rungen geben, damit unsere Kinder eine bessere was dort gefordert wird, rechtliche Absicherung haben. Denn sie haben einen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE Anspruch auf ihre Eltern. Sie haben einen Anspruch GRÜNEN]: Wir sind nicht in Brandenburg, darauf, daß sich auch der unverheiratete Vater mit sondern im Deutschen Bundestag! Wir wollen seinem Kind treffen kann, daß es Umgangsregelun- wissen, was die Bundesregierung meint!) gen gibt, daß die Eltern, die nicht verheiratet sind, 136 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gemeinsam die Sorge für ihr Kind oder ihre Kinder außerhalb des Ministeriums prüfen, welche Bestim- ausüben können, wenn sie es wollen. mungen wir nicht brauchen, wo wir Bestimmungen aufheben können, wo wir sie befristen können. Denn (Zustimmung bei der F.D.P.) es nützt nichts, einen Begriff zu gebrauchen und ihn Ich glaube, im Interesse der Kinder sind wir gut dann nicht mit Leben zu füllen. Das müssen wir — ich beraten, wenn wir in dieser Legislaturperiode hier die glaube, Sie alle können das gut beurteilen — mit Schwerpunkte im Bereich der Familienrechtspolitik Experten tun, die Situationen von außen viel krasser, und der Kindschaftsrechtspolitik setzen. viel deutlicher, viel kritischer beurteilen und bewer- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ten können als diejenigen, die diese Bestimmungen liebevoll in jahrelanger Arbeit geschaffen haben, Finanzielle Verbesserungen sind wichtig und not- Bestimmungen, die von Ihnen, den Parlamentariern, wendig. Wir haben sie in die Koalitionsvereinbarung in vielen Punkten zu Recht angemahnt und gefordert aufgenommen. Aber auch die Stellung der Kinder worden sind. Das ist ein wichtiger Bereich. muß rechtlich abgesichert sein, ihr Recht, besser als bisher mit den Eltern umgehen zu können, wenn diese (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Und die sich nicht mehr verstehen und auseinandergehen. Das die Kommentare dazu schreiben!) ist ganz wichtig. — Die natürlich auch Kommentare und Aufsätze dazu (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat schreiben, über die wir dann hier debattieren kön- doch Herr Kinkel vor vier Jahren schon nen. vergeblich angekündigt!) Schlanker Staat muß auch die Übertragung von — Sie wissen auch, Herr Schmidt, daß das ein Vorha- Verantwortung bedeuten, die Übertragung von ben ist, das sich nicht aus ein oder zwei Bestimmungen Kostenverantwortung und die Mobilisierung des zusammensetzt. Vielmehr ist es ein ganz wichtiges Beamtenapparates. Wer dem Staat lebenslänglich gesellschaftspolitisches Vorhaben. In der letzten dienen will, muß das da tun, wo der Staat ihn für die Legislaturperiode sind dazu drei Gesetzentwürfe in Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben auch tatsäch- die Beratungen eingebracht worden. Sie sind in den lich braucht, aber nicht für Aufgaben, die sehr wohl Ausschüssen nicht mehr abschließend beraten wor- auch von anderen langfristig besser, flexibler, mobiler den. und effektiver wahrgenommen werden können. (Margot von Renesse [SPD]: Warum wohl?) (Beifall bei der F.D.P.) — Das kann ich Ihnen sagen: weil gerade im Rechts- Damit wir einen funktionsfähigen öffentlichen ausschuß als dem federführenden Ausschuß die wich- Dienst haben, den wir alle brauchen und der Ver- tigen Fragen für die neuen Bundesländer beim trauen verdient, müssen wir dort natürlich auch die Bodenrecht, bei den Vermögensfragen oder bei den Leistungsanreize verbessern. Es müssen gute Aus- Eigentumsfragen rechtliche Sicherheit zu schaffen sichten bestehen, berufliche Karriere machen zu kön- die Zeit in Anspruch genommen hat. Es gab sogar nen; aber das darf keine Automatik sein. Es darf mit nächtelange Sondersitzungen. Deshalb war es leider dem Eintritt in den Staatsdienst nicht sicher sein, wie nicht mehr möglich, diese Gesetze im Rechtsausschuß die Karriere in 15 Jahren verlaufen sein wird. abschließend zu beraten. Das meinen wir, wenn wir in die Koalitionsverein- Das heißt aber, daß wir in dieser Legislaturperiode barung die Stärkung der Attraktivität und die Verbes- diese Gesetze wie auch die wichtigen Regelungen serung der Mobilität aufgenommen haben. Wir wer- zum Sorgerecht und zum Unterhaltsrecht einbringen den uns auch mit einigen Entwicklungen beschäftigen und beraten werden. Die Vorarbeiten sind geleistet. müssen, die immer wieder als feste Größe behandelt Die Überlegungen und Vorstellungen, die unter Hin- werden, nämlich mit der Frage: Wie ist jemand zuziehung von Fachleuten entwickelt worden sind, flexibler an einem anderen Ort, vielleicht auch bei sind schon sehr weit fortgeschritten. Ich bin sehr einem anderen Dienstherrn einsetzbar? Davor werden zuversichtlich, daß wir hier bald in die parlamentari- wir nicht haltmachen. Das wird auch bei den Beratun- schen Beratungen und Auseinandersetzungen gehen gen zum öffentlichen Dienstrecht und zur Reform des und dann wirklich in dieser Legislaturperiode die öffentlichen Dienstrechts insgesamt ein wesentlicher große Chance haben, rechtliche Regelungen aus Punkt sein. einem Guß zu verabschieden. (Zuruf von der SPD: Da bin ich aber Ich rechne damit und bitte darum, daß alle diejeni- gespannt!) gen, die sich in der vergangenen Legislaturperiode zu Ja, das werden Sie dann, hoffe ich, etwas gründli- Recht mit diesen Fragen beschäftigt haben, jetzt cher ausgearbeitet als das, was in der Koalitionsver- konstruktiv mitarbeiten, damit wir auch bei diesen einbarung enthalten ist, vorfinden und in Ruhe disku- wichtigen Punkten zu einem Abschluß der Gesetzge- tieren und bewerten können. bung kommen können. Meine Damen und Herren, wenn wir die Bereiche Erlauben Sie mir noch ein Wort zu dem Begriff des Ausländerstaatsangehörigkeitsrecht, innere Sicher- schlanken Staates, der in vielen Bereichen eine wich- heit, Kriminalitätsbekämpfung, Familienrecht, Stär- tige Rolle spielt. Der schlanke Staat ist mehr als nur kung der Institutionen dieses Staates und ihrer Tätig- Deregulierung, d. h. mehr als Aufhebung rechtlicher keiten, Verbesserung der Verfahrensabläufe sehen, Vorschriften. dann wird deutlich, daß die Bewertung der Bundesre- Ich kann Ihnen zu diesem Punkt nur sagen: Im gierung, man solle nicht in erster Linie nur auf mehr Justizministerium werden wir auch mit Experten von und andere Gesetze setzen, richtig ist. Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 137

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Es ist richtig und wichtig, den liberalen Rechtsstaat Zuständigkeiten und gesellschaftlicher sowie bürger- zu erhalten, dem Bürger mehr zu vertrauen, gerade licher Eigenverantwortung. Wir sprechen vom schlan- den Begriff der Freiheit sehr ernst zu nehmen, die ja, ken Staat. In der Tat, jetzt ist — nicht nur unter dem wie schon ganz andere vor vielen Jahren viel besser Druck der leerer gewordenen öffentlichen Kassen — gesagt haben, wenn, dann scheibchenweise stirbt, die Stunde der Besinnung auf die Fragen: Was kann was man meist erst merkt, wenn es zu spät ist. der Staat leisten, was hat er zu leisten, und wo hat er Deshalb stehe ich als Vertreterin liberaler Politik zu sich im Zeichen richtig verstandener Subsidiarität denen, die im Staat den Verwalter und den Sachwalter zurückzunehmen? der unterschiedlichen und wandelbaren Wertvorstel- Das ist aber eine schwierige Aufgabe. Ich habe mit lungen, Interessen und Lebensentwürfe der Bürger großer Freude einiges von dem gehört, was Herr sehen. Nur der Staat der offenen Gesellschaft, der Schily gesagt hat. Ich frage mich, ob das vielleicht die seine Stärke aus der konsequenten Erfüllung der ihm sozialdemokratische Politik der Zukunft ist, ob der legitim übertragenen Aufgaben bezieht, nicht aber Glaube der Sozialdemokraten hinsichtlich der All- aus einem Zusammensuchen immer neuer Befugnisse macht des Staates selbstkritischer geworden ist. zum Eingriff in Grundrechte, kann seine Legitimität aus der Freiheit des einzelnen Bürgers beziehen. Sich Das wäre ein gutes Zeichen, meine Damen und dafür einzusetzen lohnt sich. Gerade das ist eine Herren. Denn wir müssen kritisch staatliche Zustän- wichtige Aufgabe der F.D.P. in dieser Koalition, in digkeiten zurücknehmen. Der grundgesetzliche dieser Regierung. Dafür stehen wir. Deshalb, Herr Rechtsstaat, der liberale Rechtsstaat, ist ganz ent- Fischer, scheuen wir auch nicht den Wettbewerb mit scheidend auf Subsidiarität angelegt und nicht auf den Grünen in diesem Punkt. Ich glaube, da haben wir hypertrophe Verwaltungsstaatlichkeit mit einem für einiges mehr zu bieten als Sie. den Bürger immer undurchschaubarer werdenden Vielen Dank. Verwaltungsmachtanspruch. Das geht nicht mehr. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das geht aber auch in der Gesetzgebung nicht mehr. Das heißt, wir haben diese Frage auch uns selbst zu stellen. Die Gesetzgebungsmaschinerie läuft Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der bekanntlich von Legislaturperiode zu Legislaturpe- Abgeordnete Professor Rupert Scholz. riode immer schneller, immer breiter und immer (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ intensiver. Wir müssen uns ganz ehrlich und wie- DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Gegenpro- derum selbstkritisch die Frage stellen, ob es wirklich gramm! Nach der liberalen Position die fun- immer richtig ist, jedes Detail gesetzlich zu regeln. damentale Position!) Wer über die Gesetzgebung immer mehr Einzelfall- gerechtigkeit gewährleisten will, schafft in Wahrheit nämlich immer mehr Undurchschaubarkeit und damit Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Wollen wir den auch mangelnde Gerechtigkeit. Clown erst abschalten? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] sowie bei Abgeordneten der SPD und des [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute viel über — zusammenge- Wir müssen uns der Frage stellen, ob das Verhältnis faßt — unseren Rechtsstaat gesprochen. Ich glaube, er von Gesetzgebung und Exekutive nicht grundlegend steht mit Recht ganz entscheidend im Zentrum der überdacht werden muß, dann allerdings auch im begonnenen neuen Legislaturperiode. Dieser Rechts- Sinne einer Stärkung der Eigenverantwortung der staat hat sich bewährt; darüber besteht sicherlich Exekutive. Wenn der Gesetzgeber glaubt, daß er Konsens. Er hat Freiheit und Liberalität garantiert, er berufen ist, mehr oder weniger gar jedes vollzugstech- hat lange Zeit ein hohes Maß an Rechtssicherheit nische Detail selbst zu regeln, dann macht er einen gewährleistet, und er hat ein außerordentlich hohes Fehler. Er überfordert sich im Ergebnis selbst, und er Maß an Rechtsförmlichkeit, ja Justizförmlichkeit in entmündigt, er demotiviert die Exekutive. unsere staatlichen Verfahren gebracht. Die Verwaltung kann und darf nicht demotiviert Inzwischen häufen sich aber deutlich die kritischen werden. Wir sprechen mit Recht davon — ich habe mit Symptome und die kritischen Entwicklungen. Des- Freude und Zustimmung gehört, daß auch Sie, Herr halb bedarf dieser Rechtsstaat wieder der Stärkung Schily, über diese Frage nachdenken —, daß wir das auf unterschiedlichen Gebieten und in unterschiedli- öffentliche Dienstrecht anfassen müssen. Das öffent- chen Richtungen. Er bedarf in vielfältiger Hinsicht der liche Dienstrecht ist aber ein Feld, das im Grunde ein Erneuerung, gerade da, wo es um Verkrustungen, den Instrument unseres Verständnisses von Verwaltung Abbau von Überregulierungen — Punkte, die bereits und Exekutive ist. Das heißt, das öffentliche Dienst- angesprochen worden sind — his hin zu Fragen des recht schwebt nicht in freiem Raum. Wenn ich lei- effektiven Rechtsschutzes geht. Er bedarf in vielfälti- stungsbewußte, leistungsbereite öffentliche Bedien- ger Hinsicht auch der Wiederbesinnung auf das, was stete haben will, dann muß ich auch das Verständnis seinen Grundwert ausmacht: Freiheit in Verantwor- von Aufgaben und Verantwortung der Angehörigen tung, d. h. Liberalität und nicht Libertinage. des öffentlichen Dienstes entsprechend definieren. Erstens. Es geht um die Grenzen staatlicher Zustän- Das heißt, die Fragen hängen in ganz entscheidender digkeiten. Es geht um das Verhältnis von staatlichen Weise miteinander zusammen. 138 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Rupert Scholz Unser Staat muß sich also rückbesinnen, auf Kern- Kinder nachts nicht allein in der U-Bahn fahren lassen. verantwortung, auf ein wirklich auch operativ umge- So wird es von den Menschen empfunden. setztes Subsidiaritätsprinzip. Er muß den Schritt der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Privatisierung weitergehen. Hier hat die Koalition in ordneten der F.D.P.) der vergangenen Legislaturperiode bereits Wesentli- ches und Grundlegendes geleistet. Der Ruf nach Wir müssen Signale ernst nehmen, wie etwa jene Deregulierung darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Umfragen, denenzufolge heute schon rund 40 % der jüngeren Menschen in unserem Land das Gewaltmo- Dies alles formuliert im Ergebnis aber eine buch- nopol des Staates in Frage stellen, es für einen nicht stäblich fundamentale Gemeinschaftsaufgabe von mehr verteidigungswürdigen oder sehr akzeptablen Bund und Ländern bis hin zu den Kommunen. Das Wert bezeichnen. Es gibt keinen wehrhaften Rechts- kann nicht allein in diesem Hause geleistet werden. staat, der gerade für die Schwächeren und auch für die Heute war sehr häufig mit Recht die Rede davon, daß Minderheiten Sicherheit gewährleisten kann, wenn auch das andere Verfassungsorgan, der Bundesrat, nicht das Gewaltmonopol des Staates absolut außer konstruktiv sein und das, was dieses Haus beschließt, Streit steht. aufnehmen muß, daß er eben nicht blockieren darf. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gibt kaum eine größere Herausforderung, als unseren der F.D.P.) Staat dort zu modernisieren, und zwar in dem hier bereits vielfältig konsensmäßig konstatierten Sinne, Viertens. Wir müssen uns um das Rechtsbewußtsein das aufzunehmen, gemeinsam zu erarbeiten und der Bürger kümmern. Ich nehme das Wort von Ihnen, umzusetzen. Herr Scharping, auf, das Sie heute früh gebraucht haben. Sie haben zur Ermutigung zivilen Engage- Zweitens. Unser Rechtsschutz ist perfekt. Es gibt ments aufgerufen. Ich glaube, daß das durchaus kein Land in der Welt, das ein so perfektes Rechts- richtig ist. Aber wir dürfen auf der anderen Seite, schutzsystem wie die Bundesrepublik Deutschland wenn wir an den Bürger in diese Richtung appellieren, hat. Trotzdem haben wir auch hier inzwischen Defi- ihn nicht allein lassen. Das heißt, vor allem der zite zu beklagen. Der Rechtsschutz ist immer perfek- Gesetzgeber, aber auch die Exekutive darf den Bürger tionierter geworden. Er ist damit immer komplizierter mit seinen Ängsten, mit seinen Sorgen nicht allein geworden. Er ist immer langsamer geworden. Ganz lassen. entscheidend ist: Wenn man Recht gibt, und der Bürger hat ein Recht auf Recht, dann muß Recht auch Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode schnell gegeben werden. Wer effektiven Rechtsschutz Wesentliches auf den Weg gebracht. Das Verbre- wirklich will, muß Rechtsschutz und Recht schnell chensbekämpfungsgesetz war ein entscheidender geben. Fortschritt. Aber wie schwer haben Sie sich getan: Hier haben Sie abgelehnt, dann ging die Sache zum (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesrat, in den Vermittlungsausschuß — hin und - her. Das ist wie beim Asylkompromiß gewesen. Sie Auch hier müssen wir die Wege finden, von mancher brauchen immer so unendlich lange, bis Sie zur Überperfektionierung und Überkomplizierung Ab- Vernunft kommen. schied zu nehmen. (Jörg Tauss [SPD]: Ihr hetzt immer, das ist Drittens. Unser Rechtsstaat muß wieder wehrhafter euer Problem! Es geht euch doch nicht um die werden. Das Grundsystem, das Grundbild unseres Lösung von Problemen!) grundgesetzlichen Rechtsstaates ist das des wehrhaf- — Ich schlage vor, daß Ihre Zwischenrufe zu Protokoll ten Rechtsstaates. Das heißt, wir müssen die richtigen genommen werden. Ich werte sie gerne als Zwischen- Antworten finden auf das Anwachsen der Kriminali- frage, dann geht meine Erwiderung nicht zu Lasten tät, der organisierten Kriminalität, der internationalen meines Zeitkontos. So, glaube ich, haben wir eine gute Kriminalität, der Drogenkriminalität, auf all das, was Lösung. heute vielfältig angesprochen wurde und was ich hier nicht erneut aufnehmen will. ( [CDU/CSU]: Der weiß doch gar nicht, was er will!) Wir müssen vor allem die Ängste der Bürger ernst Fünftens. Wir dürfen nicht den Weg der Bagatelli- nehmen, die heute beginnen, wenn sie ihr Haus sierung von Kriminalität gehen. verlassen und Angst vor einem Einbruch haben. Die Bürger haben Angst, ein öffentliches Verkehrsmittel (Beifall bei der CDU/CSU) zu benutzen, sie haben Angst, nachts mit der U-Bahn Ich erinnere an das, was der Deutsche Anwaltverein zu fahren. kürzlich gesagt hat. Unter dem sicherlich lobenswer- Wer das Vertrauen des Bürgers auf den Rechtsstaat ten Vorzeichen, die Justiz zu entlasten, vertrat er die voraussetzt — ich glaube, es ist doch wohl unsere ganz Auffassung, daß etwa Ladendiebstähle künftig erst entscheidende Aufgabe, dieses Vertrauen zu stützen beim fünftenmal strafbar sein sollen. und diesem Vertrauen gerecht zu werden —, der muß (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ diese Ängste der Bürger sehr, sehr ernst nehmen. Im DIE GRÜNEN]: Zwick!) Rahmen der Umweltschutzpolitik wird davon gespro- Wer in dieser Weise sozusagen auf mehrfache Wie- chen, die Menschen sollten nicht oder weniger Auto dervorlage setzt — und auch der Ladendiebstahl ist fahren, sie sollten öffentliche Verkehrsmittel benut- Diebstahl —, zen. Sprechen Sie mit den Menschen auf der Straße! Die sagen Ihnen: Ich kann meine Frau oder meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 139

Dr. Rupert Scholz bis die Tat als Unrecht geahndet werden soll, der Mund nehmen und das mir fast verhängnisvoll erschüttert das Rechtsbewußtsein in entscheidender erscheint: an den Ruf nach Waffengleichheit mit den Weise. heute hochtechnisierten internationalen Banden. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wenn die Polizei schon nach Waffengleichheit rufen DIE GRÜNEN]: Wie ist das mit Steuerhinter- muß, dann stimmt etwas in unserem Staat nicht ziehung und mit Spezis?) mehr. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Das gilt im übrigen ganz genauso für das, was hier CSU]: Ja, so ist es!) vorhin von einer meiner Vorrednerinnen zur Drogen- kriminalität gesagt worden ist. Das erinnert mich ein bißchen an jene Argumentation, die immer gegen das Gewaltmonopol des Staates (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- angeführt wurde und mit der nach Gegengewalt ordneten der F.D.P.) gerufen wurde. Das ist das umgekehrte Vorzeichen. Ich nenne das Beispiel der Fixerräume. Aber eine Polizei, die erst Waffengleichheit einfordern muß, ist keine wirklich leistungsfähige rechtsstaatli- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ che Polizei mehr. DIE GRÜNEN]: Ja, wollen Sie, daß die sich auf dem Bahnhofsvorplatz die Spritze setzen, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ wie auf dem Bahnhof Zoo? Wollen Sie CSU]: Richtig!) das?) Auch die Polizisten sind Bürger unseres Landes. — Herr Fischer, ich weiß, daß Sie während jeder Rede, Auch sie haben ein Recht darauf, nicht nur in bezug die hier gehalten wird, 50 % der Redezeit in Anspruch auf die Waffen gleichgestellt zu werden, sondern nehmen. Das weiß ich, und deshalb antworte ich auch insgesamt, von der Gesetzgebung bis hin zur Technik, gerne auf Sie. mit dem Instrumentarium ausgerüstet zu werden, daß sie ihren Dienst, den sie übernommen haben und der (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ vielfältig gefahrvoll und hart ist, so leisten können, wie DIE GRÜNEN]: Herr Professor, wenn Sie so es von ihnen erwartet wird und wie es unsere Bürger etwas absondern, dann gehe ich darauf von ihnen mit Recht fordern. ein!) Ich danke Ihnen. — Lieber Herr Fischer, ich gehe doch auf Sie ein. Darf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich jetzt replizieren? Sie stellen die Frage völlig falsch. Daß ein Mensch, Das Wort hat die der drogenabhängig ist, ein schwerkranker Mensch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Abgeordnete Frau Däubler - Gmelin. ist, dem man helfen muß, ist wohl unbestritten. Aber wer aus diesem Tatbestand gleichzeitig schließt

— deshalb stelle ich das unter die Überschrift verfehlte Dr. Herta Däubler - Gmelin (SPD): Herr Präsident! Bagatellisierung, ja Banalisierung einer solchen fun- Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Scholz, damentalen Gefahr für Menschen, vor allem für jün- lassen Sie mich mit dem Satz beginnen, mit dem Sie gere Menschen —, man müsse Drogen quasi legalisie- aufgehört haben, nämlich mit Ihrer Forderung nach ren, wie das selbst bei Ihrem dummen Beispiel mit der Waffengleichheit zwischen Polizeibeamten und Kri- Schnapsflasche zum Ausdruck kam, minellen. Ich finde, Sie sollten sich schon die Sprache, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ in der Sie Ihre Forderungen vortragen, genauer über- DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran dumm? legen. Das ist eine legale Droge, und zwar eine sehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ harte Droge!) DIE GRÜNEN) der kann nicht erwarten, daß junge Menschen begrei- Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Scholz: Uns fen, vor welcher Gefahr sie stehen. Vor dieser Gefahr allen geht es um den inneren Frieden. Es besteht auch sind junge Menschen zu schützen! Einigkeit darüber, daß wir genau überlegen müssen, welche Rolle der Staat spielen und was in den näch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sten vier Jahren Ihre Politik zur Sicherung des inneren Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Friedens sein muß. Nur, eines dürfen wir nicht DIE GRÜNEN]: Sie mit Ihrer Politik betrei- machen: aus Hilflosigkeit, weil Sie keine vernünftigen ben die Geschäfte derer, die an den Drogen Konzepte haben, in militärische Sprache und in fal- verdienen!) sche Vergleiche abdriften. Ich komme zu meinem sechsten Punkt, meine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Damen und Herren. Wir haben natürlich die Justiz zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der stärken, und wir haben es der Justiz leichter zu PDS) machen. Dies wiederum ist eine entscheidende Auf- „Waffengleichheit" zwischen jenem, der den gabe auch der Gesetzgebung. Wir haben aber auch Rechtsstaat verteidigt und den inneren Frieden ver- für die Polizei ganz Entscheidendes zu tun. Die Polizei tritt, und einem Kriminellen, der ihn angreift, darf es ist zwar Ländersache, aber auch wir haben hier, so nicht geben. Polizei und andere, die den inneren glaube ich, einen wichtigen, einen zentralen Beitrag zu leisten. Frieden verteidigen und vertreten, müssen mit unse- rer Unterstützung die Möglichkeit haben, Rechtsbre- Ich erinnere an das Wort, das Vertreter der Polizei cher und Kriminelle zu bekämpfen. Aber seien Sie so gerade heute, häufig in anklagendem Tone, in den freundlich und hören Sie auf, von Waffengleichheit zu 140 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Herta Däubler-Gmelin sprechen. Sie setzen nicht vergleichbare Dinge gleich. sion, nicht begegnet werden kann. Wir brauchen Den Schaden hat der Rechtsstaat. vielmehr die Rückbesinnung auf die Aufgabe des (Beifall bei der SPD) Staates in einer sozialen Demokratie. Sonst geben wir ja nicht nur das auf, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Schaffung des Grundgesetzes Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, als epochale Erneuerung wollten. Wir müßten ver- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen rückt sein, das ausgerechnet in einer Zeit zu tun, in der Scholz? wir uns daran erinnern sollten, daß dieser soziale und demokratische Rechtsstaat die Antwort auf die

Dr. Herta Däubler - Gmelin (SPD): Aber gern. Erkenntnis war, daß allein der Rechtsstaat, wenn nichts anderes hinzukommt, zu Weimar führt, wenn die Zeiten härter werden. Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Frau Däubler-Gme- lin, verzeihen Sie, wenn ich Sie gleich zu Beginn Ihrer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rede mit einer Zwischenfrage störe. Mir geht es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) darum: Haben Sie bei dem, was ich gesagt habe, Diese Erinnerung, Herr Scholz, bitte ich Sie - ich zugehört? weiß, daß Sie das wissen — nicht nur im Kopf zu (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ja!) haben, sondern auch tatsächlich darüber zu reden. Ich habe mich gegen den Begriff der Waffengleichheit Jetzt zur Sorge für den inneren Frieden. Ich habe gewandt. Haben Sie das zur Kenntnis genommen? den Eindruck, daß die Koalition wirklich gut daran tut, Dieser Begriff ist in der Tat unvergleichbar. Deshalb ihr Konzept für den inneren Frieden in den nächsten bitte ich Sie, das zu akzeptieren. vier Jahren nicht nur zu überdenken, sondern alles das, was da an Überlegungen kam — Bewahren durch Dr. Herta Däubler - Gmelin (SPD): Hervorragend. Ich Erneuerung und Reform —, ernst zu nehmen. Warum? bin für diese Klarstellung sehr dankbar. Es ist gut, Herr Einfach deswegen, weil die Anlässe für die Sorge um Scholz, wenn Sie das so gemeint haben. Das haben wir den inneren Frieden in unserem Land auf der Hand alle anders verstanden. liegen. Es sind doch nicht nur wir, die in den Zeitun- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nein, nein, gen lesen, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalt- nein!) taten eben nicht so abgenommen hat, wie wir es gerne Aber ich bin froh, daß es dieses Mißverständnis nicht hätten. Es sagen nicht nur uns Behinderte, daß sich mehr gibt. Eine Waffengleichheit zwischen Men- das Klima auf der Straße verändert habe, rauher schen, die den inneren Frieden vertreten, und Krimi- geworden sei, daß ellbogenmäßig stärker gegen sie nellen kann es nicht geben. Ich danke Ihnen. vorgegangen werde, daß man sie häufiger diskrimi- niere und mißachte. Da war natürlich das Theater in Es gibt noch einen zweiten Punkt, Herr Scholz, von der Verfassungskommission um die Nichtdiskriminie- dem ich glaube, daß es sich lohnt, wenn wir uns - rung von Behinderten nicht sehr hilfreich. Das hat darüber unterhalten, vielleicht auch streiten. Das ist auch dazu beigetragen. die Frage nach der Rolle des Staates zur Sicherung des inneren Friedens. Ich stimme vielem, was Sie hier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorgetragen haben, zu. Nur, Herr Scholz, müssen Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eines bedenken: Sie reden über den Staat. Sie haben Meine Damen und Herren, natürlich ist das Anstei- unsere Unterstützung darin, daß wir Bürokratie und gen der Kriminalität in bestimmten Bereichen eine diese ständig zunehmende Regelungsdichte, die den Bedrohung des inneren Friedens, um die sich diese Menschen das Leben schwerer macht, abbauen und Koalition mit Sicherheit kümmern muß. Wenn ich mir Zurückhaltung in der Gesetzgebung üben müssen. das alles anschaue, dann kann ich schon verstehen, Nur: Es wäre ganz gut, Sie würden damit anfangen. daß Sie sagen: Ihre bisherige Konzeption war wohl Ich darf Sie daran erinnern: Sie regieren seit zwölf nicht erfolgreich. Ich stimme Ihnen da völlig zu. Die Jahren. Die Gesetze, die Sie uns vorlegen, sind doch war es wirklich nicht. Deswegen ist der Ruf nach immer vom gleichen Typus. Erneuerung und Reform richtig. (Beifall bei der SPD) Da freut man sich dann an manchem, was bei Ihnen Ich stimme Ihnen auch darin zu, daß wieder mehr anklingt. Als Sozialdemokratin lassen Sie mich sagen: Raum für Entscheidungsfreiheit geschaffen werden Wir alle kennen das Wort, ein sehr überlegtes Wort muß. Das ist alles richtig. Aber in einem Punkt müssen von , dem ehemaligen Justizmini- Sie das, was Sie gesagt haben, nochmals genau ster und Bundespräsidenten, der gesagt hat: In einer überdenken. Der Staat, den wir wollen, ist nicht nur sich so schnell verändernden Welt kann nur bewah- der Rechtsstaat, nicht allein der starke Rechtsstaat, ren, wer zu verändern bereit ist. sondern ist der Staat des Grundgesetzes. Dies bedeu- tet: der demokratische und soziale Rechtsstaat. (Beifall bei der SPD sowie beim BÜND (Beifall bei Abgeordneten der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist sehr wichtig, weil ich glaube, daß der Sorge Dafür sind wir auch wenn es um den inneren Frieden um die innere Sicherheit bei all dem, was man hier an geht, gerade wenn es um die Erhaltung des Vertrauen Unterschiedlichkeit zwischen Herrn Kanther, Frau der Bürger in den Rechtsstaat geht. Nur, meine Damen Leutheusser-Schnarrenberger und Ihnen im einzel- und Herren, was kommt denn dann heraus, wenn man nen heraushören konnte, alleine mit einer Rückbesin- Ihre Rede, wenn man Ihre Koalitionsvereinbarung nung auf den Rechtsstaat, sprich bei Ihnen: Repres- und wenn man die Regierungserklärung auf das hin Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 141

Dr. Herta Däubler-Gmelin abklopft, was Sie sagen? Ich habe den Eindruck, daß dem zu tun, was diese Kinder an Gewalt erfahren die alten Denkfehler und die nicht gezogenen Konse- haben, in welcher Vereinsamung, in welcher geisti- quenzen doch immer wieder durchscheinen. Ich kann gen Verwahrlosung sie haben aufwachsen müssen. Sie nur auffordern, diese Denkfehler zu beseitigen und die Konsequenzen richtig zu ziehen. Ich will (Beifall bei der SPD) Ihnen einiges dazu sagen. Das zu wissen heißt natürlich auch, daß man dieses Denkfehler Nr. 1 ist folgender: Innerer Friede Phänomen nicht nur beschreiben kann, um dann zu braucht sozialen Frieden. Das heißt: Wer inneren sagen: Die Eltern sind schuld, die Lehrer sind schuld. Frieden will, muß sich mit der Politik, die er betreibt, Nein, Ihre Verantwortung als Regierung ist es, dann, nicht nur um den Rechtsstaat, sondern zugleich auch wenn Sie diesen Werteverfall feststellen, mit Ihrer um den sozialen Frieden kümmern. Politik nicht nur über diesen Werteverfall zu jammern, sondern politisch die Strukturen zu schaffen, die z. B. (Beifall bei der SPD) Kindern nicht nur mehr Chancen, sondern eben auch Dies ist eine ganz einfache Grundwahrheit, die in den Geborgenheit, Förderung und Forderung, soziales letzten Jahren leider Gottes nicht genügend berück- Lernen und Verantwortung ermöglichen. sichtigt wurde. Dabei haben Sie im auswärtigen (Beifall bei der SPD) Bereich gar keine Schwierigkeiten, das zuzugeste- hen. Friede ohne Gerechtigkeit ist nicht möglich. Das Da, lieber Herr Kanther, fehlt bei Ihnen eine ganze wissen wir im Bereich des Auswärtigen alle. Aber so Menge. Ich weiß, daß vieles in der Kompetenz der ist es auch im Innern. Inneren Frieden ohne Solidarität Länder liegt; darüber müssen Sie mit mir nicht strei- und eine Politik der Solidarität, d. h. der Solidarität der ten. Stärkeren mit den Schwächeren, eine Politik der Verantwortlichkeit der Stärkeren für die Schwäche- Nehmen wir aber einmal den Bereich der Gewalt- ren kann es nicht geben. bekämpfung. Sie machen es sich da zu einfach, wenn Sie sagen: Ja, ich bin auch der Meinung, daß die Heute morgen hat Herr Kinkel in bezug auf die privaten Medienanstalten zuviel Gewalt bringen! südliche Halbkugel unserer Erde davon geredet, daß Richtig ist, die beuten alles, jedes menschliche Gefühl es einen klaren Zusammenhang zwischen Chancen- aus und auch sonst alles, was die Einschaltquoten losigkeit, Perspektivlosigkeit, Fanatismus, Extremis- erhöht, denn davon leben sie. Zensur, meine Damen mus und Kriminalität gebe. Aber, meine Damen und und Herren, wird — abgesehen davon, daß keiner von Herren von der Koalition, das gilt doch nicht nur auf uns dafür ist — viel zu spät greifen. Das heißt: Wenn der südlichen Halbkugel. Das gilt auch bei uns im Sie nicht wollen, daß mit Gewaltdarstellungen die Innern. Einschaltquoten erhöht werden, wenn Sie — mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns — nicht wollen, daß jedes 18jährige Kind in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der seinem Leben schon etwa 20 000 Morde gesehen hat, F.D.P.) dann müssen wir über die Strukturen nachdenken, die Existenzbedingungen für Privatfernsehen mit dem, Das heißt, der Grundsatz, daß derjenige, der den was an gesellschaftlichen, grundgesetzlichen Werten inneren Frieden will, mit seiner Gesellschaftspolitik in unserer Gesellschaft umgesetzt werden muß, ver- für den sozialen Frieden sorgen muß, ist richtig. Diese binden. Erkenntnis zieht aber eine ganze Reihe von Folgerun- (Beifall bei der SPD) gen nach sich. Gestern haben der Rat der Evangeli- schen Kirche in Deutschland und die deutsche Klagen über „Libertinage" reichen nicht mehr. Bischofskonferenz in ihrem gemeinsamen Wort dar- Auch ein Zitat von Herrn Bischof Lehmann, so sym- auf aufmerksam gemacht, was in bezug auf den pathisch es auch ist, reicht nicht. Sie werden in den sozialen Frieden in unserem Land falsch ist. Und wie nächsten vier Jahren von uns und von den Bürgerin- ist Ihre Reaktion? Sie sagen freundlich ja in der nen und Bürgern dieses Landes herausgefordert, Hoffnung, es werde dann niemand darüber reden, daß Politik für die innere Sicherheit, aktive Gesellschafts- es Ihre Politik war, die Spaltung vertieft, Risse vergrö- politik zu betreiben. ßert, sozialen Unfrieden zuläßt und verstärkt. Lassen Sie mich noch etwas sagen: Wir haben (Beifall bei der SPD) immer bestritten, daß unsere Gesellschaft, unser Staat eine Schönwetterdemokratie sei. Wir alle haben Meine Damen und Herren, Sie sind hier mit neuer davon geredet, daß sich unsere soziale, rechtsstaatli- Politik gefordert, gerade auch den inneren Frieden zu che Demokratie auch in stürmischen Zeiten bewähren bewahren. muß und kann. Ich halte das für richtig. Nur, meine Der zweite Punkt betrifft etwas, was Herr Kanther Damen und Herren, in Zeiten schweren Wetters, wenn angesprochen hat. Herr Kanther, ich finde es schön, es ökonomisch nicht gut läuft, ist Politik für den daß Sie wieder hier sind. inneren Frieden und soziale Gerechtigkeit noch mehr gefordert. Das heißt: Es muß eine Politik her, die (Bundesminister Manfred Kanther [CDU/ Solidarität fördert, sie nicht verhindert. Es muß eine CSU]: Ich bin ganz hingerissen!) Politik her, die die Verantwortlichkeit von Stärkeren —Ja, das ist hervorragend. Es reicht nicht aus, daß Sie gegenüber Schwächeren fördert, sie nicht verhindert. mit uns die Auswirkungen des Werteverfalls bekla- Es muß eine Politik her, die die Integration von gen. Gewaltanwendung durch immer jüngere Täter Minderheiten fördert, nicht sie weiter an den Rand entspringt nicht dem „Bösen im Menschen" oder dem schiebt. — Ich war ganz gerührt, als ich Frau Leut- Bösen in diesen Kindern, sondern hat viel auch mit heusser-Schnarrenberger zugehört habe, die auch 142 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Herta Däubler-Gmelin noch diese „Schnupperzugehörigkeit" für ausländi- Dann muß natürlich mehr Substitutionstherapie sche Kinder hat vertreten müssen. Sie Arme, Sie tun her. Und wenn uns die Mediziner sagen, daß Süchtige mir wirklich furchtbar leid. im Endstadium von Aids oder HIV-Infektionen geschützt werden müssen, dann brauchen wir auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die kontrollierte Abgabe, um diesen Menschen zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der helfen. PDS) Der dritte Punkt — Herr Scholz, jetzt wird es speziell Meine Damen und Herren, eine Politik, die in für uns Innen- und Rechtspolitiker interessant —: Ich Kenntnis der Probleme — fragen Sie doch einmal Ihre glaube schon, daß wir uns dazu durchringen müssen, Ausländerbeauftragte — die Probleme nicht einmal ganz klar zu sagen: Was den Besitz von Drogen zum mehr ordentlich beschreibt, geschweige denn die Eigenverbrauch angeht, gehen wir vom Legalitäts- längst vorhandenen und bekannten Wege zu ihrer prinzip auf das Opportunitätsprinzip über, und wir Lösung aufzeigt, kann für den inneren Frieden so stecken alle Ressourcen in die Verfolgung der Mafia wenig bewirken, wie das in den vergangenen Jahren bosse und der Dealer. der Fall war. Lassen Sie mich noch etwas zur Politik gegen (Beifall bei der SPD) Drogen sagen. Herr Scholz, ich muß noch etwas Wenn wir dies nicht tun, haben wir keine Chance. ergänzen, weil Sie das angesprochen haben. Zum Ich werbe deswegen für dieses gesamte Antidrogen- ersten: Richtig, Ihre Drogenpolitik ist gescheitert. konzept. Ich hoffe, daß Sie sich dazu durchringen Unsere Kinder werden nicht mehr geschützt. Jeder, können. Wir werden immer wieder darauf zurück- der etwas anderes behauptet, hat unrecht; das wissen kommen. auch Sie. Zum zweiten: Den Süchtigen wird nicht geholfen. Ich finde sehr gut, was Sie gesagt haben. Es Jetzt lassen Sie mich noch einmal zur Integration sind in der Tat Kranke. Zum dritten: Wir haben eine von „ausländischen Mitbürgern", wie es immer so große Begleit- und Beschaffungskriminalität, die Poli- schön heißt, kommen. Im nächsten Jahr jährt sich zum zeitätigkeit und Gerichte verstopft und vieles von 40. Mal das Datum des ersten Anwerbevertrages der dem, was bei der Bekämpfung schwerer Verbrechen Bundesrepublik Deutschland. Seit dieser Zeit sind die notwendig wäre, nicht mehr zuläßt. Ganz abgesehen Menschen hier. Seit dieser Zeit befolgen sie unsere davon verdienen natürlich die Mafiabosse und viele Gesetze. — Die ausländische Wohnbevölkerung ist andere ihr Geld auch auf Grund dieser verfehlten nicht krimineller als die deutsche; das wissen alle. — Politik gegen Drogen. Ich glaube, dies muß man der (Beifall bei der SPD) Ehrlichkeit halber sagen. Seit dieser Zeit arbeiten sie für unseren Wohlstand, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahlen Steuern wie die Deutschen, sogar den Solida- der PDS) ritätsbeitrag für die deutsche Einheit. Aber seit dieser Was ist denn die Folgerung daraus? Herr Scholz, ich - Zeit haben sie keine aktiven Staatsbürgerschafts stimme Ihnen zu: Es ist völlig unsinnig, daß sich die rechte. Das muß geändert werden. Justizminister, obwohl sie es heute müssen, darüber Sie können das begründen, wie Sie es wollen. Ich streiten, ob jetzt eine, zwei oder drei Portionen des begründe das aus dem Demokratiegebot: Eine Eigenbesitzes von Cannabis zur Anklage führen sol- anständige Demokratie kann sich auf Dauer Men- len. Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtstrategie, schen erster und zweiter Klasse nicht leisten. Sonst ist die den gesellschaftspolitischen Teil ebenso wie den sie nicht mehr anständig. Teil der Repression — ich bin sehr dafür — wie auch den Teil der Prävention mit einbezieht. Was heißt (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei das? Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Erstens. Sie müssen sich dazu durchringen, generell GRÜNEN und des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) eine Politik gegen die Suchtabhängigkeit zu wollen, meine Damen und Herren von der Koalition. Deswegen bin ich der Meinung, daß es Integrations- (Beifall bei der SPD) gesichtspunkte, Gleichberechtigungsgesichtspunkte sind, die uns dazu veranlassen müssen, unser Staats- Da stockt vielen von Ihnen schon der Atem. Sie waren angehörigkeitsrecht wieder auf die Höhe der europäi- doch noch nicht einmal in der Lage, mit uns am Ende schen Zivilisationen zu bringen. Otto Schily hat dazu der letzten Legislaturperiode ein Gesetz durchzuset- etwas ausgeführt. zen, das für Gaststätten und öffentliche Treffs vorge- sehen hätte, daß das billigste Getränk ein alkohol- Meine Damen und Herren von der Union, ich weiß freies sein muß. ja, daß Sie das nicht wollen. Aber wenn Sie so freundlich wären, einfach einmal nach Frankreich (Beifall bei der SPD) oder in die Schweiz zu gucken: Diese beiden Länder Wenn es um Alkohol- oder um Zigarettenwerbung leben mit der Hinnahme der Doppelstaatsangehörig- geht, dann hören Sie doch schon auf zu denken. keit, sie leben mit der Ergänzung des Abstammungs- prinzips durch das Territorialprinzip seit langen Jah- Der zweite Punkt: Wir müssen uns dazu durchrin- ren. Nicht einmal Sie würden der Schweiz oder gen, Süchtige als Kranke zu behandeln und ihnen eine rankreich den Charakter eines zivilisierten europäi- Abstinenztherapie zu ermöglichen. Das gilt bei Dro- schen Rechtsstaats absprechen. Oder ist es nicht so? gensüchtigen genauso wie bei Alkoholkranken; da gibt es keinen Unterschied. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 143

Dr. Herta Däubler-Gmelin Das sind die Punkte, auf denen wir bestehen. Ich Herzlichen Dank. sage Ihnen: Sie werden sich dazu durchringen müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen, oder Sie entlarven alles das, was Sie zur Demo- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der kratie, zur Gleichberechtigung oder zur Integration PDS) sagen, als das, was es ist, nämlich Heuchelei.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Abgeordnete Repnik. Ich sage das ganz abgesehen davon, daß wir hun- derttausendfach Doppelstaatler in unserem Land haben; das wissen Sie. Wer heute eine Französin oder Hans - Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident! einen Italiener heiratet, der wird selbstverständlich Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Doppelstaatler, wie auch seine Kinder. Das stört diesem innen- und rechtspolitischen Schlagabtausch überhaupt niemanden. möchte ich Sie noch einmal einladen zu einem Diskurs zu wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen. Bei der Bekämpfung von Kriminalität hätte ich die Bitte, Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarren- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ berger, daß Sie viel stärker als bisher auf Prävention DIE GRÜNEN]: Heilix Blechle!) setzen. Ich glaube, da gibt es eine Menge guter — Für die Regie trage ich keine Verantwortung, Herr Beispiele. Erst dann, wenn Prävention die Repression Kollege Fischer. ergänzt, wird ein wirklicher Schuh daraus. Dann In der vergangenen Woche ist, wie wir alle wissen, haben wir eine Chance, mit Kriminalität fertigzuwer- Helmut Kohl zum fünften Mal zum Bundeskanzler den. gewählt worden. Ich bin dankbar, daß Sie sagen, daß würden künftig (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer mehr Gewicht im internationalen Bereich auf Koope- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ration über die Grenzen legen. Halleluja, halleluja! Der Herr ist groß in seiner Gnade!) Ich darf jedoch noch einmal sagen — Sie sind seit Das ist gut so. Es kann nicht oft genug gesagt werden, zwölf Jahren an der Regierung —: Die Tatsache, daß gerade auch nach dem Beitrag von Herrn Kollegen Europol nicht weiter funktioniert, ist nicht unsere Scharping heute vormittag: Die vergangenen zwölf Schuld, sondern mit Ihre. Jahre unter der Regierung Kohl waren zwölf gute (Beifall bei der SPD) Jahre für Deutschland, (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Die Tatsache, daß heute ein Justizangestellter, ein [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richter oder ein Polizist in Baden, wenn er mit seinen Aber Herr Repnik, für einen Ministranten Kollegen im Elsaß nicht nur gelegentlich zusammen- sind Sie viel zu alt! Lassen Sie das Weih - arbeiten, sondern gemeinsam Verbrechensbekämp- rauchfaß doch weg!) fung betreiben will — ich meine jetzt nicht das Problem der Nacheile —, einen irrsinnig langen Weg nicht zuletzt im Bereich der Finanz- und der Wirt- der Bürokratie über , über Bonn, über Paris schaftspolitik. und wieder zurück nach Straßburg gehen muß, behin- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der dert die Verbrechensbekämpfung über die Grenzen Opposition, auch wenn es weh tut: Ich will Ihnen die hinweg. Wahrheit nicht ersparen. Die unter SPD-Kanzlerschaft zerrütteten Staatsfinanzen wurden konsolidiert. Daß wir z. B. im Waffenrecht oder daß wir bei den Grundsätzen der Bioethikkonvention endlich Über- (Lachen und Widerspruch bei der SPD — einstimmung und eine Anpassung der Grundsätze Rudolf Bindig [SPD]: Zwei Billionen Schul brauchen, das ist eine schlichte Konsequenz aus der den!) Internationalisierung, aus der internationalen Ver- Das bildete erst die Grundlage für den längsten flechtung, die nicht nur die Wirtschaft, die Umwelt Aufschwung in der Geschichte der Bundesrepublik oder die Friedenspolitik, sondern selbstverständlich Deutschland. — auch die Bekämpfung des Verbrechens und damit die (Beifall bei der CDU/CSU) Sicherung des inneren Friedens umfassen muß. Herr Kollege Bindig, das kann doch überhaupt nicht Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch bestritten werden. Vielleicht darf ich hier zwei Zahlen einmal sagen: Wir halten Ihr bisheriges Konzept zur nennen: Sicherung des inneren Friedens für falsch. Sie selber (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ haben das auch dadurch, daß Sie ankündigt haben, DIE GRÜNEN]: Ein echter Historiker!) Sie müßten Änderungen vornehmen, eingestanden. Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen Hand belief Wir werden darauf drängen, daß die Bewahrung des sich 1981 auf 76 Milliarden DM und machte damit inneren Friedens durch die Veränderung der Wege 4,9 % des Bruttosozialproduktes aus. sowohl im Bereich der Gesellschaftspolitik als auch im Bereich der kriminalpolitischen Prävention wie auch (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ bei der Repression gewährleistet wird. Ich glaube, wir DIE GRÜNEN]: Und 1991?) können dadurch unserem Land, den Bürgerinnen und Acht Jahre später, 1989, unter der Kanzlerschaft Bürgern und ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat Helmut Kohls, betrug das Finanzierungsdefizit der einen guten Dienst erweisen. öffentlichen Hand 26,7 Milliarden DM, ein Anteil von 144 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Hans-Peter Repnik lediglich noch 1,2 % am Bruttosozialprodukt. Dies, giert werden, so fallen sie jetzt besser aus als progno- meine Damen und Herren, hat uns doch erst in die stiziert. Lage versetzt, die großen Herausforderungen, die durch die Wiedervereinigung und die weltweite (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Rezession an uns gestellt wurden, zu meistern. DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Christ kind!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So ein Käse! —Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer Diese Mehreinnahmen fließen — der Bundesfinanz- Zwischenfrage) minister hat es heute bereits gesagt — voll in die Senkung der Nettokreditaufnahme. Damit wird das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte und Investoren in den Standort Deutschland erhöht. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Meine Damen und Herren, die steuerlichen Rah- gestatten Sie eine Zwischenfrage? menbedingungen für Investitionen wurden in Deutschland mit dem Standortsicherungsgesetz ent- scheidend verbessert. Unsere fortgesetzte Politik der Deregulierung und Privatisierung hat weitere Frei- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Ich würde gern räume für mehr wirtschaftliche Dynamik geschaffen. hier im Zusammenhang vortragen, Herr Präsident. Der Aufschwung ist inzwischen doch für jedermann Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 Bundeskanzler sichtbar. wurde, lag die bei 52 %. Seiner Regierung Staatsquote (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf der Abg. ist es im Laufe der 80er Jahre gelungen, diese Zahl auf Ingrid Matthäus-Maier [SPD]) rund 46 % zu senken. — Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ es doch besser, als es Ihr Zwischenruf belegt. — Wer es DIE GRÜNEN]: Jubelt!) immer noch nicht glaubt, werfe einen Blick in das in Entscheidend in diesem Zusammenhang ist: Im Zuge der vergangenen Woche vorgelegte Jahresgutachten dieses Aufschwungs ist es gelungen, innerhalb von des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen zehn Jahren gut drei Millionen neue, zusätzliche Entwicklung. Dort heißt es — ich will nur wenige Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. Passagen zitieren — u. a. gleich zu Beginn: (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Die wirtschaftliche Aktivität in Deutschl and hat [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sich im Jahre 1994 in unerwartet starkem Maße Das haben wir heute schon zigmal gehört! — belebt. Gegenruf von der CDU/CSU: Das kann man gar nicht oft genug hören!) „Unerwartet" möglicherweise für Sie. Ich kann nur sagen: Der Bundeskanzler hat zu Beginn des Jahres Meine Damen und Herren, weltweite Rezession und - exakt das prognostiziert. deutsche Wiedervereinigung stellten die deutsche Politik und die Gesellschaft als Ganzes dann jedoch in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der vergangenen Legislaturperiode vor große Heraus- DIE GRÜNEN]: Lang lebe der Bundes forderungen. Wir sind sie beherzt angegangen, und kanzler!) die gegen viel Kritik und Widerstand von seiten der — Ja, wir haben nun einmal einen guten Bundes- SPD durchgesetzte Wirtschafts- und Finanzpolitik kanzler, und darum muß er auch gelobt werden, Herr dieser Bundesregierung war und ist erfolgreich. Der Kollege Fischer. — konsequente Spar - und Konsolidierungskurs schafft Vertrauen auf seiten der Investoren und trägt (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Früchte. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ hat zuviel Weihrauch inhaliert!) DIE GRÜNEN]: Aha!) Ursache dafür sind nach Ansicht der Sachverstän- Nach der heute, Herr Kollege Fischer, vorgestellten digen — und auch hier lohnt sich ein Blick in das Steuerschätzung ist der Haushalt 1994 voll abgesi- Gutachten, verehrte Kollegen von der SPD — eine chert, und für 1995 werden etwa 3,5 Milliarden DM Expansion der Auslandsnachfrage und eine Exp an Mehreinnahmen geschätzt. -sion der Binnennachfrage. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die SPD DIE GRÜNEN]: Es weihnachtet!) ständig, wie immer wieder geschehen, nach einer Stärkung der Konsumnachfrage verlangt, dann sei ihr Das ganze Horrorszenarium, das noch kurz vor den das Sachverständigengutachten auch in diesem Punkt Wahlen im September in der ersten Lesung des zur Lektüre empfohlen. Auf Seite 3 belegt das Gut- Bundeshaushalts entwickelt wurde, ist in sich zusam- achten, daß unsere angebotsorientierte Politik greift. mengebrochen, sechs Wochen nach den entsprechen- Die Expansion der Binnennachfrage beruht demnach den Wortbeiträgen der SPD. vor allem auf der Wohnungsbaunachfrage und zuneh- (Beifall bei der CDU/CSU) mend auf den Investitionsausgaben der Unterneh- men. Statt einer Alimentierung von Konsumenten Auch hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, schaffen wir damit neue Arbeitsplätze. ist doch die Trendwende deutlich spürbar. Mußten früher die Steuerschätzungen meist nach unten korri (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 145

Hans-Peter Repnik Meine Damen und Herren, die Gesamtrechnung es jetzt verspüren, erstirbt dieser Reformwille. Genau der Sachverständigen für Deutschland prognostiziert diesen Fehler dürfen wir in der Politik, darf die ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 3,5 % Wirtschaft und darf jeder einzelne Bürger in der im Jahr 1995. Auch hier sind wir auf dem richtigen derzeitigen Aufschwungphase nicht machen. Weg. Das Gutachten führt darüber hinaus aus: Wir sollten die Reformbereitschaft dort, wo sie beim Entscheidend ist, daß die Entwicklung stetig nach Bürger vorhanden ist, nutzen. Wir müssen sie nur oben führt. abholen. Ich bin sicher, das wird uns gelingen. Auch hier pflichte ich den Gutachtern bei. Unsere (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Wirtschaftspo litik ist kein Jahrmarkt von Novitäten. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist solide und führt belegbar zum Ziel. Dank Helmut Kohl!) Meine Damen und Herren, so klar, wie die Erfolge Infolge des Aufbaus Ost sowie der weltweiten der vergangenen Jahre sichtbar sind, so eindeutig Rezession ist die Staatsquote auf ein auf Dauer nicht sind aber auch die Herausforderungen dieser Legisla- vertretbares Maß angestiegen. Deshalb ist es zwin- turperiode. Ein wesentliches Ziel lautet: Abbau der gend erforderlich, den Staatsanteil auf das Niveau von Sockelarbeitslosigkeit. Wir alle wissen: Es gibt hier 1989 zu senken. Auch hier sage ich, meine verehrten kein Patentrezept; es gibt hier nicht den Königs- Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Was weg. uns in den 80er Jahren gelungen ist, wird uns auch in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Mitte der 90er Jahre gelingen. Wir sind entschlos- DIE GRÜNEN]: Aber es gibt Helmut Kohl! sen, auch das umzusetzen. Seien Sie doch nicht so ohne Vertrauen! Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gibt Helmut Kohl, das ist der Königsweg!) ordneten der F.D.P.) — Herr Kollege Fischer, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß in den ersten zehn Jahren der Kanzler- Die Koalition wird den Anstieg der Staatsausgaben schaft Helmut Kohls in Deutschland 3 Millionen deutlich unter der Zuwachsrate des Sozialproduktes Arbeitsplätze netto neu geschaffen wurden. Dies ist halten, die Defizite zurückführen sowie die Steuer- seine Bilanz. Genau an diese Erfolge der ersten zehn und Abgabenbelastung schrittweise senken. Jahre Kohl wollen wir auch in Zukunft anknüpfen. Wir Die CDU/CSU-Fraktion wird dafür Sorge tragen, haben es bewiesen, und wir werden es ein weiteres daß der von Theo Waigel eingeschlagene Weg der Mal beweisen. — Haushaltskonsolidierung konsequent fortgesetzt (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer wird. Auch die Tatsache, daß der Aufschwung voll im [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gange ist, darf keineswegs zu der irrigen Annahme Seien Sie doch nicht so kleinmütig!) führen, es sei nunmehr wieder an der Zeit, die Spendierhosen anzuziehen. Meine Damen und Herren, der Abbau wird nur durch ein ganzes Bündel von Einzelmaßnahmen gelingen, - (Beifall bei der CDU/CSU) wie es die CDU/CSU in der vergangenen Legislatur- Wir begleiten den Finanzminister und bestärken ihn periode bereits auf den Weg gebracht hat. Es zeigt auf seinem Weg der Solidität und der Konsolidie- Wirkung; das kann doch gar nicht bestritten wer- rung. den. Bei unserem Aktionsprogramm für mehr Wachstum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer und Beschäftigung haben wir die Mittelstandsförde- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rung in das Zentrum gestellt. Unter anderem wird das Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung selbstän- Das klingt aber wie eine Drohung!) diger Existenzen auch in den alten Bundesländern Wesentlich, meine sehr verehrten Damen und Her- wieder eingeführt. Gerade mittelständische Unter- ren von der SPD, ist, daß man von dem verhängnis- nehmen, die Märkte für neue Produkte erobern wol- vollen Gedanken abkommt, mit Steuern alle Politik- len, leiden oft unter besorgniserregender Eigenkapi- bereiche steuern zu wollen. Das Haushaltsmorato- talknappheit. Diese Unternehmen sind, wie wir wis- rium muß und wird bis auf weiteres Bestand haben. sen, am ehesten geeignet, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb wird ab 1. Januar 1995 die eigen- (Dr. [CDU/CSU]: Das ist kapitalschonende Ansparförderung im Rahmen des auch gut so!) Standortsicherungsgesetzes wirksam. Das ist ein wei- Vorrang in der kommenden Legislaturperiode terer wichtiger Schritt, andere werden ihm folgen. haben steuerpolitische Aufgaben. Vereinfachung des (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Steuerrechts: Auch hierzu hat der Finanzminister DIE GRÜNEN]: Jetzt hat der schon zehn heute vormittag schon entsprechende Ausführungen Minuten Helmut Kohl nicht mehr gelobt! Das gemacht. Sein Katalog ist in die Koalitionsverein- ist verdächtig!) barung eingeflossen. Neue Vorschläge treten hinzu. Wir werden diese Vorschläge gemeinsam umsetzen, Ich möchte auf eine Gefahr aufmerksam machen, und wir laden die SPD ein, sich ihrer Verantwortung die bereits schleichend vorhanden ist. Solange die im Bundesrat zu stellen und nicht in Obstruktion zu Situation schwierig ist, sind Reformvorhaben in aller verfallen, sondern gemeinsam mit uns an dieses große Regel für jedermann einsichtig, die Bereitschaft zur Reformwerk heranzugehen. Umsetzung von Reformen ist da. Sobald sich aber der Wind dreht und die Konjunktur wieder läuft, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU) 146 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Hans-Peter Repnik Sie können Ihre Bereitschaft dazu relativ schnell keine. Deshalb ist es wichtig, daß wir Chancengleich- beweisen. Die Neuregelung des steuerlichen Exi- heit einräumen. Deshalb ist es wichtig, daß wir die stenzminimums ist dringend geboten. Wir haben nicht Gewerbesteuer auch hier absenken oder abschaffen. viel Zeit. Sie muß bis Ende 1995 im Bundesgesetzblatt Das ist die große Herausforderung, vor der wir uns im stehen. Da Verwaltung, Steuerberatung und nicht Sinne des Mittelstandes gestellt sehen. zuletzt Steuerzahler Zeit haben müssen, um sich auf Meine Damen und Herren, das Bemühen um die die Änderungen vorzubereiten, sollten wir anstreben, Begrenzung der Kosten der Arbeit muß fortgesetzt das Gesetzgebungsverfahren bis zur Sommerpause werden. Hier ist in erster Linie nicht der Staat gefragt. abzuschließen. Auch hier möchte ich die SPD einla- Die Tarifparteien haben in den letzten Jahren eine den, im Bundesrat konstruktiv mitzuarbeiten. Denken äußerst vernünftige Lohn- und Gehaltspolitik betrie- wir an die davon Betroffenen. Wenn Sie beweisen ben. Wir möchten sie ermuntern, in dieser verantwor- wollen, wie ernst es Ihnen mit der sozialen Ausgestal- tungsbewußten Politik fortzufahren. tung unseres Steuersystems ist, dann bringen Sie sich in das große Reformwerk mit ein. Eines muß uns klar sein: Für einen stetigen realen Einkommenszuwachs ist auch in den kommenden Eine zweite große Herausforderung ist die Fortset- Jahren kein Spielraum vorhanden. Ich finde, wir zung der Reform der Unternehmensbesteuerung, sollten mit den Bürgern, mit den Arbeitnehmern auch einhergehend mit der Gemeindefinanzreform, in der in dieser Frage ehrlich umgehen und ihnen nichts die Gewerbesteuer — mit dem Ziel der Abschaf- vormachen. fung — gesenkt werden soll. In einer ersten Stufe soll zum 1. Januar 1996 die Gewerbekapitalsteuer abge- Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-geführte schafft und die Gewerbeertragsteuer mittelstands- Bundesregierung hat von Beginn an eine konse- freundlich gesenkt werden. Der Fraktionsvorsitzende quente Privatisierungspolitik betrieben. Seit Ende Wolfgang Schäuble hat hierzu beachtenswerte Vor- 1982 konnte die Anzahl der Kapitalbeteiligungen des schläge in die Diskussion eingebracht. Bundes und seiner Sondervermögen von 958 auf gegenwärtig unter 400 reduziert werden. Mit der Post- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich und Bahnreform sowie mit den Fortschritten bei der möchte eine Anmerkung zu dem machen, was Mini- Privatisierung der Lufthansa sind weitere wichtige sterpräsident Lafontaine zu diesem Thema heute Privatisierungsziele erreicht worden. Der Aktien- nachmittag gesagt hat. Mit gespieltem Populismus hat marktzugang der Telekom im Jahre 1996 wird ein er versucht, einen Gegensatz zwischen den Lohn- weiterer Meilenstein unserer Privatisierungspolitik nebenkosten und der Abschaffung der Gewerbe- sein. steuer zu begründen. Diesen Gegensatz vermag ich beim allerbesten Willen nicht zu erkennen. Bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Aufgaben ist aber nicht nur der Bund gefordert. (Beifall des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ Vor allem Länder, vor allem die Gemeinden verfügen CSU]) über ein enormes Privatisierungspotential. Auch hier Beides ist sinnvoll, und beides ist notwendig. Beides regen wir an, daß sie Beispiel nehmen an dem, was der müssen wir anpacken. Wenn nach seinen Angaben Bund in den vergangenen Jahren gemacht hat. auch vielleicht nur ein Drittel der Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU) Gewerbesteuer zahlt, so sind gerade dies Betriebe, denen wir Chancengleichheit einräumen müssen. Um die Privatisierung auch auf der Ebene der Länder und der Gemeinden voranzubringen, wollen (Zuruf des Abg. Rudolf Scharping [SPD]) wir durch das Haushaltsgrundsätzegesetz die in der — Verehrter Herr Kollege Scharping, als ein Mann, Bundeshaushaltsordnung bereits normierte Pflicht zur der über Jahre Verantwortung in einem Land getra- verstärkten Privatisierung verankert sehen. Wir wis- gen hat, das ein Grenzland zu Frankreich ist, müßten sen, daß die SPD-Mehrheit im Bundesrat dieser wie Sie ebensogut wie Ihr Kollege Lafontaine um die auch anderen notwendigen Regelungen ihre Zustim- Schwierigkeiten gerade im Grenzbereich wissen. Ich mung verweigert hat. spreche jetzt von diesem einen Drittel, das in aller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Regel zur Gewerbesteuer herangezogen wird. Herr Lafontaine hätte es doch eigentlich besser wissen Ich würde Sie bitten, Ihre Haltung noch einmal zu müssen. überdenken. Denn auch hier wurde einmal mehr deutlich: In alter Gewohnheit wird dort, wo Verant- Um es einmal mit der Erfahrung aus meinem wortung getragen wird, von der SPD eine Lösung eigenen Bundesland Baden-Württemberg aufzuzei- verhindert. Man kippt dann anschließend der Bundes- gen. Der mittelständische Unternehmer — export- regierung die Probleme, die sich aus der Verhinde- orientiert, Gewinn machend — in Offenburg verliert in rung ergeben, vor die Tür. Dieses Spiel werden wir aller Regel gegenüber dem französischen Kollegen nicht mitmachen. Wir nehmen Sie auch hier in die die Auseinandersetzung in Straßburg, weil der eben Verantwortung. gerade keine Gewerbesteuer bezahlt. Und wenn ich meinen eigenen Wahlkreis sehe: Der mittelständische (Beifall bei der CDU/CSU) Unternehmer in Konstanz, der mit der Gewerbesteuer Meine sehr verehrten Damen und Herren, die belastet wird, verliert in der Konkurrenz mit dem Belastung der Wirtschaft durch ausufernde Recht- Unternehmen in Winterthur in der Schweiz — Herr sprechung und Bestimmungen muß zurückgeführt Kollege Bindig, Sie können das doch nachvollzie- werden; insbesondere müssen bürokratische Hinder- hen —, weil der Konstanzer Unternehmer Gewerbe- nisse für Investitionen und Innovationen abgebaut steuer bezahlt, der Winterthurer Unternehmer eben werden. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 147

Hans-Peter Repnik Ich glaube, dieser kurze Abriß hat gezeigt: Wir Einzelhändler in den neuen Bundesländern. Ihnen werden den Herausforderungen dieser neuen Legis- war durch den Einigungsvertrag ein Abwehrrecht laturperiode nur dann begegnen können, wenn Haus- gegen Kündigungen von Mietverträgen bei Gewer- halts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aufeinander beräumen an die Hand gegeben. abgestimmt sind. Alles, was wir in der Finanz- und Kündigungen konnte widersprochen werden, wenn Steuerpolitik und in der Wirtschaftspolitik in den sie erhebliche Gefährdungen der wirtschaftlichen kommenden Monaten und Jahren entscheiden, muß Lebensgrundlage zur Folge hatten. Der Vermieter war sich weiterhin an der zentralen Aufgabe orientieren, sinnvollerweise bei Kündigungen im Zusammenhang den Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfä- mit Mieterhöhungen an die ortsübliche Miete bei hig zu halten. Die strikte Fortsetzung der Konsolidie- vergleichbaren Gewerberäumen gebunden. rungspolitik ist zwingende Voraussetzung für die Schaffung notwendiger Spielräume für Steuersen- Die Situation der Einzelhändler und der Gewerbe- kungen. treibenden hat sich bis heute nicht grundlegend gemildert. Eine allgemeine Kapitalschwäche kenn- Verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich stimme zeichnet die Situation, wobei das Verhältnis zwischen den Ausführungen, die Sie ganz zum Schluß gemacht Umsatz und Kosten bei den Gewerbemieten wesent- haben, zu. Innerer Friede braucht sozialen Frieden. lich ungünstiger als im Westen ist. Innerer Friede ist nur dann möglich, wenn wir auch sozialen Frieden haben. Aber deshalb ist doch gerade Die Politik der Bundesregierung, die durch den wichtig, wenn wir — — sogenannten Solidaritätszuschlag abermals die Kauf- kraft der Bevölkerung und damit die Umsätze der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Mittelständler mindert, wird diese Situation erneut Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist verschärfen. abgelaufen. (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Aber ihr habt doch zuge Hans - Peter Repnik (CDU/CSU): Noch eine halbe stimmt!) Minute, Herr Präsident, wenn es gestattet ist. Nur noch zwei Sätze. Gleichzeitig jedoch läuft dieses Abwehrrecht gegen existenzgefährdende Kündigungen am 31. Dezember (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dieses Jahres aus, und die Bundesregierung sieht DIE GRÜNEN]: Helmut Kohl danken!) tatenlos zu. Nur wenn wir im Wettbewerb um produktive Arbeitsplätze international auch in Zukunft mithalten, Hier werden Tausende von Änderungskündigun- lassen sich auch soziale Leistungen, lassen sich Fami- gen ins Haus stehen und gerade in den City-Lagen der lienpolitik, Ausbildung und Infrastruktur überhaupt ostdeutschen Städte zu Konkursen bei Einzelhändlern finanzieren. Nur ein wirtschaftlich starker Staat ist und Gewerbetreibenden führen. Hier zu handeln auch ein sozial starker Staat. Hierzu, an diesem sozial wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen. Zu und wirtschaftlich starken Staat mitzuwirken, möchte - diesem existentiellen Problem haben Sie jedoch ich auch die Opposition herzlich einladen. heute, wie in den letzten vier Wochen, geschwiegen, meine Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Zweitens. Wie soll es in dieser Legislaturperiode bei Abgeordnete . der Gesetzgebung im Zusammenhang mit den offe- nen Vermögensfragen weitergehen? Es kann doch Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr nicht ernsthaft die Meinung der Bundesregierung verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsverein- sein, daß dies nicht auch künftig ein Schwerpunkt der barung liegt auf dem Tisch, und wir haben heute Rechtspolitik für Ostdeutschland sein wird. Zu hören bereits mehrere Stunden lang der Bundesregierung war darüber bis heute nichts. Dabei ist der Handlungs- über ihre politischen Ziele in dieser Legislaturperiode druck äußerst groß. Die Rechtsprechung in Zivilsa- gelauscht. chen — übrigens auch beim Bundesgerichtshof — Wer dabei jedoch gehofft hatte, etwas Substantiel- führt in zunehmendem Maße zur Umgehung und les über Lösungsansätze zu dringenden Fragen in den Aushöhlung des Vermögensgesetzes. neuen Bundesländern zu erfahren, wurde wieder Seit 1990 haben wir in diesem Hause darüber einmal bitter enttäuscht. Ganze Problemfelder, die gestritten, wie beim Grundsatz Rückgabe vor Ent- den Bundestag in den letzten vier Jahren auf das schädigung die Interessen der lauteren Erwerber intensivste beschäftigt haben, z. B. auf rechtspoliti- gewahrt werden und sie vor Restitution geschützt schem Gebiet in Ostdeutschland, sind für die Koalition werden können. Dabei war immer unstrittig, daß offensichtlich völlig verschwunden. redlicher Erwerb von Eigentum durch den heutigen (Beifall bei der SPD) Nutzer den Restitutionsanspruch des Alteigentümers Dort, wo Zweckoptimismus und taktisches Kalkül abwehrt. Rede- und Handlungsblockaden verursachen, hat Nunmehr lassen Alteigentümer auf dem Zivil- Opposition dafür zu sorgen, daß der Blick wieder auf rechtsweg feststellen, ob der Eigentumserwerb in der die Realitäten gelenkt wird. Dazu in aller Kürze vier damaligen Zeit überhaupt rechtswirksam zustande Denkanstöße: gekommen ist. Wird dies durch die Gerichte verneint, Erstens. Da ist z. B. die Situation der mittelständi- war der Erwerb mit Mängeln behaftet und rechtlich schen Unternehmen, der Gewerbetreibenden und der unwirksam, so spielt die Redlichkeit des Erwerbers 148 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rolf Schwanitz überhaupt keine Rolle mehr. Die Schutzmechanismen bedurft, bis diese Gesetzgebung wenigstens in den des Vermögensgesetzes greifen nicht. Grundpfeilern hervorkam. Das kann vielleicht noch akzeptiert werden, soweit Während noch immer Tausende ehemaliger Häft- es sich um Rechtsgeschäfte zwischen Bürgern han- linge vergeblich auf die Bearbeitung ihrer Anträge bei delte. Denn auch der DDR-Bürger hatte sich zu der Berliner Stiftung warten, klagen nunmehr Opfer vergewissern, ob in seinen privaten Rechtsgeschäften gegen dieses zweifelsfrei unzureichende Regelungs- alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Trat jedoch werk in Karlsruhe. der Staat zwischen den Alteigentümer und den heu- Die Bundesjustizministerin meint jedoch statt des- tigen Nutzer, erwarb der DDR-Bürger das Haus aus sen gestern, sie sehe keine ernsthaften Schwierigkei- Volkseigentum, so war das Leben bunt und die ten oder Defizite bei den Leistungen für SED-Opfer. Rechtspraxis für den Käufer in den seltensten Fällen Der Bundeskanzler hat heute morgen ausgeführt, daß zu überschauen. die Opfer mit ihren Rechten nicht hinter den Rechten Solche Rechtsgeschäfte heute nach den Grundsät- der Täter zurückstehen dürfen. Wann gilt das endlich zen des Rechtsstaates auf Mängel zu untersuchen auch für die Opfer des SED-Regimes? stellt die frühere Situation auf den Kopf. Das DDR- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Recht muß im Lichte der damaligen politischen Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hältnisse bewertet werden. Dabei gehörte es zum Ich fasse zusammen: Keine Aussage über die aus- Kennzeichen des Systems, daß sich Partei und Staat laufenden Schutzrechte der Mittelständler im Osten, administrativ auch über geltendes Recht hinwegset- keine Aussage über Milderung der neuen Eskalation zen konnten. Wenn hierfür der Blick der Gerichte bei den offenen Vermögensfragen, keine Aussage verstellt bleibt, drohen die Nutzerrechte in Tausenden über den weiteren Schutz der Nutzerrechte im Osten von Fällen den Bach hinunterzugehen. Auch zu die- und ebenfalls keine Aussage über den Fortgang der sen drängenden existentiellen Fragen haben wir bis Rehabilitierungsgesetzgebung. Das läßt über die Pas- heute von der Bundesregierung nichts gehört. sivität und Ignoranz dieser Bundesregierung hinsicht- (Beifall bei der SPD) lich der Nöte und Ängste der Menschen in Ost- deutschland Böses erahnen. Die heutige Regierungs- Drittens. Wie soll es mit den Nutzerrechten im Zusammenhang mit dem Schuldrechtsanpassungsge- erklärung und die Debatte waren eine Enttäuschung setz weitergehen? Obwohl die Koalition kurz vor der für die Leute. Bundestagswahl endlich ihren Widerstand gegen eine (Beifall bei der SPD) gerechte Regelung im Zusammenhang mit den „Dat- schen-Nutzern" aufgegeben hatte, waren damit kei- neswegs alle Regelungsdefizite vom Tisch. Ganze Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort zu Gruppen von Nutzern bleiben bisher bei ihrem Kün- seiner ersten Rede in diesem Hause hat der Abgeord- digungsschutz schlechtergestellt. Ich erinnere in die- nete Graf Einsiedel. sem Zusammenhang z. B. an die Inhaber von Überlas- - sungsverträgen zu gewerblichen Zwecken oder zu Wohnzwecken, soweit die Nutzer nur geringfügig in Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Herr Präsident! das Gebäude investiert haben. Hier laufen Schutz- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Mit- rechte Ende nächsten Jahres in Tausenden von Fällen glieder der PDS-Fraktion aus. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ihr seid keine Was will die Bundesregierung hier und auch bei Fraktion! — Zuruf von der PDS: Abwar anderen Wohn-Mietverhältnissen unternehmen? Will ten!) sie zusehen, wie Tausende durch Eigenbedarfsklagen haben sehr unterschiedliche politische Biographien zwar ihre Datschen behalten, ihre Wohnungen aber und auch unterschiedliche Positionen räumen müssen? Glaubt die Bundesregierung ernst- haft, daß diese Menschen am ostdeutschen Woh- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ein Grüpp nungsmarkt, der immer noch durch einen beispiello- chen!) sen Wohnraummangel gekennzeichnet ist, erneut zu antimilitaristischen und pazifistischen Bestrebun- entsprechenden Wohnraum finden werden? Dann ist gen. ihr an dieser Stelle jeglicher Realitätssinn abzuspre- Ich selbst halte wie Bundeskanzler Kohl den provo- chen, meine Damen und Herren. kativen Satz „Soldaten sind Mörder" in dieser ver- (Beifall bei der SPD) kürzten, undifferenzierten Form für unerträglich, vor allem aber für der Sache der Friedensbewegung Viertens. Was will die Bundesregierung in dieser abträglich, Legislaturperiode zur Verbesserung der Rehabilitie- rungsgesetzgebung gegenüber den Opfern politi- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ scher Verfolgung aus der DDR-Zeit unternehmen? DIE GRÜNEN]: Tucholsky!) Der damalige Bundesjustizminister hat sein Amt, das weil er kontraproduktiv wirkt. Die Soldaten der Alli- später durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger wei- ierten, die unter millionenfachen Opfern den Nazis- tergeführt wurde, 1990 vor dem Hintergrund der mus niedergekämpft haben, waren natürlich keine Verpflichtung nach Art. 17 des Einigungsvertrages Mörder. Die meisten deutschen Soldaten, die von aufgenommen, unverzüglich eine Rehabilitierungs- einer verbrecherischen politischen, aber eben auch gesetzgebung in die Wege zu leiten. Es hat fast vier von einer verbrecherischen militärischen Führung in Jahre gedauert und vieler Eingriffe der Opposition den Krieg gejagt wurden, waren ebenfalls keine Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 149

Heinrich Graf von Einsiedel Mörder, jedenfalls die meisten nicht. Sie waren in Sie halten sich doch alle für so lupenreine Demo- vielfacher Weise Opfer. kraten in der Bundesrepublik, und Sie halten die Bundesrepublik für die beste aller Welten. Aber Der Zweite Weltkrieg hat uns wie alle Kriege dieses wollen Sie sich nicht vielleicht auch einmal daran Jahrhunderts gezeigt, wie leicht der Soldat zum Mör- erinnern, daß diese Bundesrepublik von sehr vielen der gemacht werden kann, wie leicht er zum Totschlä- dieser Leute aufgebaut worden ist, die damals, vor ger wird. Viele Millionen von den in diesen Kriegen 1945, auch sehr staatsnah waren? umgekommenen Zivilisten, Frauen und Kindern, sind der grausige Beweis für diese Tatsache. (Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND Nebenbei: Es ist meines Wissens Victor Hugo NIS 90/DIE GRÜNEN]) gewesen, der als erster in einem leidenschaftlichen Aufruf gegen das Kriegshandwerk den Satz „Soldaten Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege sind Mörder" niedergeschrieben hat. Auch darüber Graf Einsiedel, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre sollte man vielleicht einmal nachdenken. Redezeit ist abgelaufen. Ich wollte eigentlich zu der Klage des Bundeskanz- lers über „das Gerede von der Militarisierung deut- Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Den ehemaligen scher Außenpolitik" sprechen. Aber alles, was dazu zu SED-Mitgliedern aber wollen Sie das Recht abspre- sagen ist, haben wir bereits in unserem Frankfurter chen, sich heute am Prozeß der Wiedervereinigung Friedensmanifest vom 1. September 1994 gesagt. demokratisch zu beteiligen. Die PDS ist keine von Zur Rede des Herrn Kollegen Dregger möchte ich einer äußeren Macht gesteuerte Partei mehr, wie die SED es lange war. Sie bekennt sich zur Demokratie, jedoch einiges anmerken. Die PDS ist — auch wenn Sie es noch so oft wiederholen — keine kommunisti- sie bekennt sich zum Sozialismus. Sie ist in einem sche Partei. Prozeß des „Learning by doing". Warum wollen Sie ihr denn das absprechen? (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nein, im (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind naiv!) Gegenteil! Ganz im Gegenteil!) Bekämpfen Sie uns doch, wenn Sie so lupenreine Sie hat allen Prinzipien des Kommunismus, wie sie Demokraten sind, politisch und nicht mit Verleum- von Lenin postuliert worden sind, abgeschworen. dung und mit kleinlichen Geschäftsordnungstricks! (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Beifall bei der PDS — Jochen Feilcke [CDU/ CSU]: Sie werden mißbraucht!) Sie hat erst recht dem Stalinismus abgeschworen, (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das sind alles Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Meineide! — Detlef Kleinert [Hannover] Abgeordnete Detlef Kleinert. [F.D.P.]: Das ist eine Meineidveranstal (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ tung!) - DIE GRÜNEN]: Oh, welche Alternative! Die zu dessen Voraussetzung u. a. gehörte, daß fast die drogenpolitische Debatte ist doch zu gesamte Kommunistische Partei Rußlands und auch Ende!) Zehntausende russischer Kommunisten, die in der stalinistischen Sowjetunion irrtümlicherweise vor den Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! nazistischen Mördern Asyl gesucht hatten, vernichtet Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe worden sind. Kollegen! Herr Fischer, was haben Sie denn für ein neueres Demokratieverständnis? Hitler hat über 100 000 von 300 000 Kommunisten, Ich meine, das, was Graf von Einsiedel soeben also über ein Drittel, in Konzentrationslager und gesagt hat, kann man so nicht stehenlassen. Ich gehe Zuchthäuser gesteckt und 20 000 von ihnen ermorden davon aus, daß selbst die extremsten Mitglieder des lassen. Keine andere deutsche Partei hat so viele Hauses, die durch die Sitzordnung leider nicht richtig Opfer im Kampf gegen den Faschismus gebracht. zu bezeichnen sind, Anspruch darauf haben, Auch das darf doch vielleicht noch erwähnt werden. Auch die Sozialdemokraten haben nicht so viele Opfer (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gebracht, obwohl sie immerhin höchst tapfer und DIE GRÜNEN]: Die drogenpolitische De unter ungeheurem Druck bewaffneter SA in der batte war vorhin!) Kroll-Oper im Gegensatz zu den bürgerlichen Par- daß ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia- teien gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt lismus, mit der jüngeren Geschichte ernstgenommen haben. Dazu gehörte vielleicht mehr Mut und Zivil- wird. Wir können uns hier nicht neuerdings vorhalten courage, als im Schutz der Wehrmachtsuniformen und lassen, wie soeben geschehen, die Kommunisten hoher Dienstränge 1944 einen Militärputsch gegen seien diejenigen, die uns über den Nationalsozialis- Hitler zu wagen, gegen einen Hitler, der bereits mus belehren müßten. Das geht ein wenig zu weit. hoffnungslos geschlagen war. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Der Herr Kollege Dregger, ich, Hunderttausende CDU/CSU — Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ meiner Altersgenossen, die „Verführer" vom 20. Juli, DIE GRÜNEN]: Ermächtigungsgesetz!) fast die gesamte deutsche Führungselite, Richter, Im übrigen möchte ich die Gelegenheit dieser Arzte, Ingenieure, Lehrer, Offiziere, Generale, Uni- kurzen Worte nutzen, um Frau Leutheusser-Schnar- versitätslehrer haben einem einmalig verbrecheri- renberger, unserer Bundesjustizministerin, sehr herz- schen System, dem Dritten Reich, gedient. lich dafür zu danken, daß sie die wesentlichen Punkte 150 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Detlef Kleinert (Hannover) dessen, was wir mit Ihnen lieber als gegen Sie Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident durchzusetzen wünschen, Hirsch, ich bedauere das zutiefst. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN]: Sie waren schon besser!) GRÜNEN und der PDS) Aber im Hinblick darauf, daß die Aufnahmefähig- hier so dargestellt hat, daß Sie es eigentlich hätten keit verstehen können, ja, müssen. (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich komme am liebsten auf die Punkte zu sprechen, GRÜNEN und der PDS) die streitig sind. Ein streitiger Punkt ist ganz zweifels- frei gerade unter Liberalen in dieser Zeit die Frage: eines Teils der Mitglieder des Hauses offenbar nach- haltig eingeschränkt ist, Schutz gegen den Staat — das war 200 Jahre lang eine herausragende Aufgabe der Liberalen — oder Schutz (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE durch den Staat und dessen Ermöglichung? GRÜNEN und der PDS) An dieser Stelle ergeben sich sehr schwerwiegende bin ich durchaus der Meinung, daß wir eine Unterhal- Fragen, die uns alle in diesem Hause bewegen sollten. tung über die rechts- und innenpolitischen Fragen, die An dieser Stelle hier entschieden werden müssen, bei nächster Gele- genheit in einer etwas verständigeren Atmosphäre (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fortsetzen sollten. NEN]: Und hier und heute!) (Beifall bei der F.D.P. — Lachen und Beifall müssen wir wissen, ob das Abhören in Wohnungen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ eine notwendige Erleichterung für die von uns allen NEN und der PDS — Rainder Steenblock dringend benötigten Dienste der staatlichen Strafver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine nüch folgungsbehörden bedeutet terne Rede!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort zu oder ob Art. 13 des Grundgesetzes so entscheidend ist, seiner ebenfalls ersten Rede in diesem Hause hat der daß er uns daran hindert, die notwendigen Mittel zur Herr Kollege Zwerenz. Verfügung zu stellen. Die Sozialdemokratische Partei hat sich mit einer (PDS): Herr Präsident! Meine sehr ungewöhnlich knappen Mehrheit dafür entschieden, verehrten Damen und Herren! Ich muß gestehen: Ich ja zu sagen. Wir haben uns noch nicht entschieden. bin nüchtern. Aber ich habe ein anderes Leiden: Ich Das ist der interessante Punkt, der Sie dazu herausfor- habe nur fünf Minuten Redezeit und soll über Kultur dert, hier über die Liberalen herzuziehen und zu sprechen. Das paßt natürlich ausgezeichnet; denn sagen, sie seien entscheidungsunfähig. - Kultur ist das fünfte Rad am Wagen. Ich sage Ihnen etwas ganz anderes. Es ist nun Kultur ist, wie wir wissen, Ländersache. So haben wirklich eine zutiefst liberale Frage — eine Frage, die wir heute entweder nichts oder Nichtssagendes dar- die Freiheit des Individuums mehr betrifft als jede über gehört. Kultur ist: Berlin gibt 60 Millionen DM andere —, wie man sich entscheidet. vergeblich für Olympiawerbung aus, und um dieses Geld wieder reinzukriegen, bekommt das Schiller Die Sozialdemokratie hat sich deshalb so schwerge- Theater das Aus aufgedrückt. Damit werden 40 Mil- tan und ist deshalb mit einer so knappen Mehrheit aus lionen DM eingespart, und es bestehen nur noch dieser Entscheidung herausgegangen, weil die Frage 20 Millionen DM minus. so schwerwiegend ist. Deshalb werden wir uns auch in Ich muß ganz schnell auf die eigentliche Ursache aller Ruhe mit Ihrer Genehmigung kommen, und das ist das Urheberrecht. Ich bekomme (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE eine Unzahl von Briefen von Kollegen, von bildenden GRÜNEN und der PDS — Rainder Steen- Künstlern und von anderen. Ich soll hier verraten, daß block [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geneh- wir das schlechteste Urheberrecht haben. 50 Jahre migt!) nach dem Tod — nach EG-Recht 70 Jahre nach dem Tod — wird enteignet, und daraus werden Enteig- weiterhin so sorgfältig mit der Frage beschäftigen, wie nungsorgien. sie das verdient. Wenn jemand 50 Jahre nach seinem Tod seinen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sonstigen Besitz einbüßen würde, gäbe es wohl einen DIE GRÜNEN]: Allerdings!) Aufstand der Besitzbürger. Die geistigen Besitzbürger Mein Freund Rupert Scholz hat hier vorhin einige lassen sich offenbar alles gefallen. Dort gibt es keinen kleinere Punkte angesprochen. Wir haben grundsätz- Aufstand. Und das halte ich für falsch. lich, ganz grundsätzlich — — (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es gibt allerdings auch kuriose Geschichten. Ich will ganz kurz an den Fall Karl May erinnern. Sie wissen: Beim Fall Karl May ist es so: Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Kleinert, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum (Zuruf von der SPD: Ist das der, der „Winne Schluß kommen. tou" geschrieben hat?) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 151

Gerhard Zwerenz — Genau, „Der Schatz im Silbersee" und solche 20 Jahren dagegen anschreiben, ändert sich daran gar schönen Sachen. Er hat ein Testament hinterlassen. nichts. Sie haben einen Hitleridioten und Erzreaktio- Laut dieses Testamentes sollen Schriftsteller, die in när und Antisemiten nach wie vor zum Vorbild der Not sind, ein Stipendium bekommen. Nach dem Bundeswehr gemacht. Zweiten Weltkrieg ist lange zwischen Staatsstellen (Beifall bei der PDS sowie Abgeordneten der erst im Osten und den Erben und jetzt neuerdings den SPD) Staatsstellen im Westen und den Erben hin und her Nun kommen wir mit unseren Zitaten etwas in die verhandelt worden. Dieses Vermächtnis ist einfach Moderne. Ich muß ja jagen; denn in fünf Minuten kann verschwunden. Wenn man nachfragt, hört man: Ja, da man nicht richtig abrechnen. hat es einmal irgend etwas gegeben. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie sind ein Also, wenn Schriftsteller von erfolgreichen Vorgän- Komiker!) gern etwas bekommen sollen, dann kann das ganz leicht einfach abhanden kommen. Das spielt über- — Ach, Sie haben ja sowieso nichts zu sagen. Sie haupt keine Rolle. Wir haben offenbar keine Standes- haben vorhin gesprochen. Was soll denn das? Wenn vertretung, die sich dafür stark macht. wir beim Zitieren sind: Hierin hat sich Ihr verehrter Bundeskanzler ja nun sehr gütlich getan. Kultur ist bei uns vorwiegend Kürzung. Diese Kür- zung kennen insbesondere diejenigen, die aus den (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Unser aller neuen Ländern kommen. Dort grassiert diese Kür- Bundeskanzler!) zung. — Unser aller Bundeskanzler. Ich beuge mich Ihrem Sprachverständnis. Es hat ihm gefallen, nicht wahr. Es (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ hat ihm so großartig gefallen, den Genossen Kurt DIE GRÜNEN) Schumacher zu zitieren — — Was auch immer: Büchereien, Theater, Kulturhäuser, Schulen, Volkshochschulen, sie werden gekürzt, sie Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ihre werden geschrumpft. Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß Im Gegensatz dazu gibt es dann erstaunlich kommen. schnelle Veröffentlichungen. Ich spreche jetzt kurz (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Gregor Gysi nur von meinem Freund und Kollegen Stefan Heym, [PDS]: Sie haben noch einen Satz!) dem es passiert ist, daß vor vielen Jahren der Staats- sicherheitsdienst ein englisch geschriebenes Tage- buch weggenommen bzw. fotografiert hat. Die Stasi Gerhard Zwerenz (PDS): Ich möchte in diesem hat es dann ins Deutsche übersetzen lassen. Diese Hause Halbsätze stehenlassen. deutsche Fassung taucht jetzt über die Gauck (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Behörde wieder auf. Von dort geht sie zu den Medien. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ NEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sauber, Daraus wird zitiert. Man kann sich vorstellen, was da - zitiert wird; denn das ist eine Stasiübersetzung aus jawohl!) dem Englischen ins Deutsche. Es ist ein Recht, das bei uns jetzt offensichtlich ganz modern ist. Das läßt sich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die ohne weiteres machen. Die Uhren gehen bei uns so Abgeordnete . allmählich immer mehr rückwärts. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Uns bleibt hier Ich habe hier heute etwas gehört über neue Ideen nichts erspart!) und neue Visionen, über Europa usw. Es hat auch der Kollege Dregger wunderschöne Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen Sätze aus dem PDS - Grundsatzprogramm zitiert. Dar- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aus soll also abgelesen werden, was die PDS für eine (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Uns bleibt auch kommunistische Vereinigung ist. nichts erspart!) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Und ob!) — Ich weiß, daß Sie mich lieben, aber das macht — Ich habe nichts verstanden. Ich bin ein Antikom- nichts. Sie bekommen das jetzt alles ganz geballt zu munist, verehrter Kollege. Ich stehe dieser PDS nahe, hören. Das ist doch auch ganz nett. und ich vertrete ihre Interessen gegenüber Ihnen, der Ich möchte noch einmal auf Innenminister Kanther Sie keine Ahnung haben. eingehen, der heute davon gesprochen hat, daß er ein (Beifall bei der PDS) verträgliches Zusammenleben mit Ausländern ge- stalten möchte. Ich halte schon die Vokabel „verträg- Nun lassen Sie mich etwas aus Ihrem Grundsatz- liches Zusammenleben" für ziemlich zynisch. Denn in programm zitieren: der Koalitionsvereinbarung, so kann man lesen, heißt Jeder Frontsoldat weiß, daß sich die Juden der es: ganzen Welt zusammengeschlossen haben zur Die Koalition wird sich grundsätzlich weiterhin Vernichtung Deutschlands und Europas. von einer Politik der Integration der Bürgerinnen Soll ich noch mehr solche Zitate bringen? Meine und Bürger ausländischer Herkunft, die ihren Damen und Herren von der Rechten, sie stammen von rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Ihrem großen Vorbild, dem Generaloberst Dietl, nach Deutschland haben, leiten lassen. dem Sie heute noch in Füssen im Allgäu eine Kaserne Man muß schon ein sehr seltsames Verhältnis zur benennen. Obwohl meine Kollegen und ich seit Wahrheit haben, um diesen Satz zu glauben, insbe- 152 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ulla Jelpke sondere wenn wir bedenken, daß die Unionsfraktion sagte nämlich: „Taktisch ein bißchen geändert und in der vergangenen Legislaturperiode davon gespro- mit anderen Nuancen versehen — das nenne ich chen hat, es stehe eine Neujustierung der Grund- Kompromißbereitschaft". Ich wundere mich doch rechte an. Das bedeutete faktisch die Abschaffung des sehr, wie oppositionell die SPD heute auftritt, obwohl Asylrechts. Und das bedeutet faktisch, daß es für sie genau diesem Paket kurz vor den Wahlen zuge- Fremde heute kaum möglich ist, in dieses Land stimmt hat, weil sie im Wahlkampf keine Debatte zur hineinzukommen bzw. in diesem Land eine entspre- inneren Sicherheit haben wollte. chende Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Vom Bundeskanzler haben wir hier heute hören Bürgerkriegsflüchtlinge wurden sozusagen in das müssen, daß er seinen Kampf gegen die rechten und Asylverfahren gezwungen; zur Zeit werden sie wieder linken Extremisten führen wird. Ich möchte in diesem abgeschoben. Ich möchte daran erinnern, daß am Zusammenhang daran erinnern — Donnerstag auf der Innenministerkonferenz die Ent- scheidung ansteht, ob abge- Kurdinnen und Kurden Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, schoben werden können. Ich plädiere an diesem Ort Sie müssen zum Schluß kommen. dafür, daß ein Abschiebestopp fortgilt. Denn meines Erachtens hat sich in der Türkei, in Kurdistan über- haupt nichts geändert, das eine Abschiebung legiti- Ulla Jelpke (PDS): — das mache ich —, daß es mieren würde. Innenminister Kanther gewesen ist, der davon gespro- chen hat, daß wir — wortwörtlich — „eine Politik (Beifall bei Abgeordneten der PDS) machen müssen, die es den Republikanern wieder Immer noch stehen wir vor der Situation, daß möglich macht, CDU/CSU zu wählen". Das macht Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter kein meiner Meinung nach sehr, sehr deutlich, in welche Bleiberecht haben, daß sie in diesem Land von Richtung es weitergehen wird. Abschiebestopp zu Abschiebestopp leben, unter Danke. immer schlechteren Bedingungen. (Beifall bei der PDS) Bevor jetzt das öffentlich inszenierte Geschachere um das Staatsangehörigkeitsrecht weitergeht — wir Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der haben dazu heute schon einiges gehört —, möchte ich Abgeordnete Professor Heuer. daran erinnern, daß der Entwurf von Frau Schmalz- Jacobsen, der Ausländerbeauftragten des Bundes, in der vergangenen Legislaturperiode über den Bundes- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Verehrter Herr Präsi- rat hier eingebracht, am Ende nur noch von zwei dent! Meine Damen und Herren! Die Frau Justizmini- Gruppen unterstützt wurde, nämlich von BÜND- sterin hat vom liberalen Rechtsstaat gesprochen, als NIS 90/GRÜNE und der PDS. sie sich auf die Koalitionsvereinbarung bezog. Leider ist aber in der Koalitionsvereinbarung von einem Ich denke, das macht sehr deutlich, um welche liberalen Rechtsstaat nicht die Rede. In der Koalitions- Reform es hier geht. Auch meine Redezeit ist leider vereinbarung ist von einem „starken Rechtsstaat" die sehr kurz. Deshalb muß ich darauf verweisen, daß Rede. Der Herr Bundeskanzler hat gesagt: „Die Rück- andere hier bereits die Farce der Einbürgerung von führung des Staates auf seine originären Aufgaben, Kindern ausländischer Herkunft dargestellt haben. d. h. innere und äußere Sicherheit, stärkt den Staat." Reformiert wurden in der vergangenen Legislatur- Herr Scholz hat heute vom wehrhaften Rechtsstaat periode allerdings die Abschiebemechanismen und gesprochen. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von

- methoden. Die Befugnisse des BGS-Personals für Vokabeln, die im Grunde vertuschen sollen, daß es Verfolgungsmöglichkeiten von Ausländerinnen und nicht um den Rechtsstaat geht, sondern um den Ausländern wurden erweitert. Ich möchte hier nur die Polizeistaat. Tatsache zur Kenntnis geben, daß 1990 6 000 Men- (Beifall bei der PDS) schen abgeschoben wurden, im Jahre 1993 36 000. Die Beispiele von Herrn Scholz hoben ausschließlich Es gibt Tote in Abschiebeknästen. An den Grenzen hervor, wie notwendig die Polizei sei. gibt es Tote, und, wie die „taz" schreibt, bereits seit Mein Problem besteht darin, daß von dieser Seite 1992 fallen an der ostdeutschen Grenze auch Schüsse. Kriminalitätsbekämpfung noch immer nur als Frage Alles das, was hier in Sachen Ausländerinnen- und der Gewaltanwendung und als Frage der staatlichen Ausländerpolitik angekündigt wird, kann man nur als Macht, als Frage der Repression angesehen wird. Bedrohung verstehen, keineswegs als Integrations- Dabei sollte Einverständnis darüber bestehen, daß das maßnahme, die den Namen verdient. Hauptproblem der Bekämpfung der Kriminalität die Frage der Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen Ursa- „Starker Rechtsstaat" heißt das entsprechende chen ist. Davon findet sich in den Reden der rechten Kapitel in den Koalitionsvereinbarungen. Ich gehe Seite dieses Hauses kein Wort. davon aus, daß das Wort vom „starken Staat" den Grundrechtsfundamentalisten in der F.D.P. zu ver- (Beifall bei der PDS — Dr. Kurt Faltlhauser danken ist. Es macht deutlich, welche Kompromiß [CDU/CSU]: Die Linksradikalen müssen olitik hier anstehen wird. -p wieder ran!) Aber auch in Richtung SPD hat Herr Kanther im — Das hat doch mit Linksradikalen nichts zu tun. Zusammenhang mit dem Paket zur inneren Sicherheit Machen Sie einfach Rechtsstaat; das wäre schon viel. bzw. dem Verbrechensbekämpfungsgesetz sehr deut- Ich verlange von Ihnen doch keine Linksradikalität. lich gemacht, welchem Gesetz sie zugestimmt hat. Er (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 153

Dr. Uwe-Jens Heuer Meine Damen und Herren, in der Regierungserklä- Das ist teilweise schon geschehen, teilweise wird es rung des Bundeskanzlers wurde zu den spezifischen zeitversetzt geschehen. Teils geschieht dies durch Sorgen und Nöten der Ostdeutschen kein einziges Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen, teils Wort verloren. Der Bundeskanzler hat sich auf zwei wird es durch ökonomischen Druck geschehen. Dinge beschränkt: Er will der PDS die Wähler weg- Dieser Prozeß wird begleitet mit einer Diffamierung nehmen, und er will die alten Kader und Funktionäre der DDR. Dieser Prozeß wird damit begleitet, daß die — offenbar soweit sie nicht der CDU angehören — alten Totalitarismustheorien von der Enquete-Kom- bekämpfen. mission wieder aufgewärmt worden sind. (Zustimmung bei der PDS sowie bei Abge Wir haben heute große Probleme, den Rechtsstaat ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ im Osten glaubwürdig zu machen. Ich habe in diesem NEN) Hause schon mehrfach betont, daß ich den Rechtsstaat Im übrigen hat er nichts zu den spezifischen Sorgen für eine zivilisatorische Errungenschaft halte. Ich und Nöten der Ostdeutschen gesagt. meine, daß die DDR bis zum Schluß trotz erheblicher Fortschritte kein Rechtsstaat war. Aber Sie diskredi- Statt den Kalten Krieg, der nach dem Zerfall der tieren den Rechtsstaat durch Ihre Politik in Ost- Blöcke im internationalen Leben beendet worden ist, deutschland. Das müssen Sie erkennen, und diese auch in Deutschland zu beenden, statt die Opfer des Gefahr müssen Sie sehen. Kalten Krieges auf beiden Seiten zu rehabilitieren und befriedend zu wirken, hat die Regierung und die Die Benachteiligungen, die ich eben aufgeführt Mehrheit des 12. Deutschen Bundestages den Kalten habe, zusammen mit dem Überstülpen eines unge- Krieg in Deutschland wieder auf eine Höhe gebracht, heuer komplizierten Systems machen es außerordent- auf der er zumindest in den 80er Jahren nicht mehr lich schwer, den Ostdeutschen deutlich zu machen, war. daß der Rechtsstaat ein Fortschritt ist. Ich meine, daß wir durch tatsächliche Handlungen zusammenwirken Sie haben in einer Weise, die der deutschen Rechts- sollten. Das ist keine Frage der Belehrung. Das ist ordnung fremd ist und die rechtsstaatlich bedenklich keine Frage, daß man es den Leuten sagt. Auch in der ist, die Verjährung von Bagatellstraftaten, die teil- DDR ist den Leuten sehr viel gesagt worden, was sie weise Jahrzehnte zurückliegen, verhindert, nur weil nicht geglaubt haben. Vielmehr geht es darum, daß sie von Funktionsträgern der untergegangenen DDR Sie durch Taten beweisen, daß der Rechtsstaat ihr begangen wurden. Es wurden und werden Menschen Instrument sein kann, daß sie mit dem Rechtsstaat strafrechtlich verfolgt und beruflich ausgegrenzt leben können, daß er ihnen nützt. Wenn uns das nicht allein wegen Handlungen, die sie in Ausübung gelingt, wäre es ein Verlust für die deutsche Einheit hoheitlicher Befugnisse der DDR begangen haben. und auch eine Gefahr für unsere Entwicklung. Sie haben Hunderttausenden zustehende Renten- zahlungen allein wegen ihrer sogenannten Staats- Der Schriftsteller Christoph Hein hat in der Eröff- nähe zum Staat DDR verweigert. nungsrede der Frankfurter Buchmesse gesagt: „Wir - haben einen Sinn für das Dilemma entwickelt, den Die Regierungsmehrheit hat in der 12. Legislatur- scheinbar unlösbaren Widerspruch eines Rechtsstaa- periode verhindert, daß die Ostdeutschen an der tes, der kein Recht verschaffen kann." Er hat dieses gemeinsamen Formung einer Verfassung für das Problem aufgeworfen. vereinte Deutschland mitwirken. Dies ist nicht nur eine verpaßte Gelegenheit, etwas Gemeinsamkeit Meine Damen und Herren, die Mehrheitsverhält- Stiftendes zu schaffen. Es ist auch ein Verstoß gegen nisse in diesem Hause lassen hoffen, daß Rechtspolitik Buchstaben und Geist des Art. 146 des Grundgeset- im 13. Deutschen Bundestag ein Beitrag zur Beendi- zes. gung des Kalten Krieges auch in Deutschland leisten wird. Ich befürchte, nach Erfahrungen, die ich mit Die westlich dominierten Parteien des Bundestages Herrn Kittlaus und Herrn Schaefgen gemacht habe, haben im Jahre 1990 mit der Entscheidung für Rück- daß die Staatsanwaltschaft und die Polizei weiter gabe vor Entschädigung einen guten Schritt zur ermitteln werden, weiter verfolgen werden. Aussöhnung verhindert. Günter Gaus, der heute sei- nen 65. Geburtstag feiert, hat zutreffend festgestellt, Die Justiz ist nach meiner Ansicht zwiespältig. Es gibt eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen, die daß damit die Lösung der nationalen Frage der Positives erwarten lassen. Aber die Justiz alleine kann Eigentumsfrage geopfert wurde. diesen Prozeß der politischen Verfolgung nicht been- Im Sommer 1994 hat sich die Regierungsmehrheit den. Ich rufe Sie auf, im fünften Jahr der Vereinigung wiederum für die Enteignung der Ostdeutschen ent- politische Entscheidungen vorzubereiten, um dieser schieden; gut für die Wahlarithmetik — die Mehrheit politischen Verfolgung in Ostdeutschland ein Ende der Wähler lebt ja bekanntlich im Westen —, schlecht zu machen. für das Zusammenwachsen. (Beifall bei der PDS) Man hat die Ostdeutschen bei dieser Gelegenheit Die Behandlung von Stefan Heym durch die Mehr- über die große Bedeutung des Eigentums für die heit dieses Hauses — darüber ist heute schon gespro- Freiheit aufgeklärt — besonders Herr Kollege Klei- chen worden — bestärkt mich in der Annahme, daß es nert, der heute gesprochen hat, hat das in dankens- Ihnen gar nicht darum geht, was jemand in der werter Weise getan; er sagt, Eigentum braucht man für Vergangenheit gemacht hat. Ich habe einmal in Freiheit —, aber ihnen ist das in der DDR erworbene diesem Haus gesagt, wenn Havemann an der Spitze Eigentum oder der eigentumsähnliche Besitz in gro- der DDR gestanden hätte, hätten Sie ihn trotzdem ßem Umfang weggenommen worden. genauso bekämpft. Damals wurde mir hier widerspro- 154 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Uwe-Jens Heuer chen. Aber die Behandlung Stefan Heyms zeigt: Es Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. geht gar nicht um die Vergangenheit, es geht darum, (Beifall bei der PDS — Jochen Feilcke [CDU/ daß jemand bekämpft wird, der sich heute entschie- CSU]: Sie wissen doch gar nicht, wie Dissi den für ostdeutsche Interessen einsetzt und der nicht dent geschrieben wird!) bereit ist, Kübel von Dreck über die DDR auszugießen. Dann kann er früher gemacht haben, was er will. Er kann Dissident gewesen sein. Das zählt heute nicht mehr. Er wird heute, weil er sich mit der PDS verbin- det, von Ihnen angegriffen. Das halte ich für zutiefst Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Weitere Wort- unaufrichtig, meine Damen und Herren. meldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Sitzung. (Beifall bei der PDS) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Sie hätten Heym, wenn er im Jahre 1988 hierherge- destages auf morgen, Donnerstag, den 24. November kommen wäre, als Dissidenten in diesem Hause 1994, 9.00 Uhr ein. gefeiert. Jetzt halten Sie ihm alte Telefongespräche Die Sitzung ist geschlossen. aus den 60er Jahren vor. Ich halte das für schlimm und unverschämt von Ihrer Seite. (Ende der Sitzung: 20.44 Uhr)

- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 155*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Der Entwicklungspolitik kommt bei dieser Aufgabe eine Schlüsselrolle zu. Zusammenarbeit zum Wohle Liste der entschuldigten Abgeordneten der Menschen ist das wirksamste praktische Mittel, das uns in der Politik zur Verfügung steht, um den entschuldigt bis Frieden zu sichern, einen gerechten Ausgleich zwi- Abgeordnete(r) einschließlich schen den Völkern zu schaffen und die großen Risiken Altmann (Aurich), Gisela BÜNDNIS 23. 11. 94 für unsere Zukunft aufzufangen. 90/DIE Viele der Gefahren, die auch uns bedrohen, grün- GRÜNEN den letztlich auf Unterentwicklung: in ihrer Größen- Beucher, Friedhelm SPD 23. 11. 94 ordnung noch unüberschaubare Fluchtbewegungen, Julius die immer noch ungebrochene Zerstörung natürlicher Graf (Friesoythe), Günter SPD 23. 11. 94 Lebensgrundlagen, ein ungehemmtes Bevölkerungs- Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 23. 11. 94 wachstum sowie die Ausbreitung von Seuchen, aber Carl-Detlev auch der Drogenhandel und die Ausweitung des Hampel, Manfred Eugen SPD 23. 11. 94 internationalen Verbrechertums. Es ist in erster Linie die Entwicklungspolitik, die an den Ursachen ansetzt Hasenfratz, Klaus SPD 23. 11. 94 und sich so den Gefahren auch für unsere Zukunft Hilsberg, Stephan SPD 23. 11. 94 entgegenstemmt. Dr. Höll, Barbara PDS 23. 11. 94 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 23. 11. 94 Deshalb muß Entwicklungspolitik am Ende unseres Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 23. 11. 94 Jahrhunderts, in dem ideologische Trennlinien hof- fentlich immer mehr in den Hintergrund treten und Lotz, Erika SPD 23. 11. 94 das gemeinsame Schicksal der Menschheit zuneh- Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 23. 11. 94 mend ins Blickfeld rückt, als globale Strukturpolitik Erich verstanden werden. Globale Strukturpolitik geht weit Meckel, Markus SPD 23. 11. 94 über das überholte Verständnis von Entwicklungs- Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 23. 11. 94 hilfe, die versuchte, punktuelle Antworten auf punk- Neumann (Gotha), SPD 23. 11. 94 tuelle Probleme zu geben, hinaus. Sie verknüpft, wie Gerhard dies in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich fest- Nickels, Christa BÜNDNIS 23. 11. 94 gelegt ist, die Bekämpfung der Armut mit der wirt- 90/DIE schaftlichen Zusammenarbeit - vor allem auch mit GRÜNEN den Ländern des früheren Ostblocks - und der Not- Dr. Pfaff, Martin SPD 23. 11. 94 und Katastrophenhilfe. Diese umfassende Funktion der Entwicklungspolitik als Politik der Friedenserhal- Saibold, Hannelore BÜNDNIS 23. 11. 94 tung und Zukunftssicherung in der öffentlichen Dis- 90/DIE kussion und der Hierarchie der Regierungsaufgaben GRÜNEN zu verdeutlichen, bleibt auch in der kommenden Schumann, Ilse SPD 23. 11. 94 Legislaturperiode mein vordringliches Anliegen. Schwanhold, Ernst SPD 23. 11. 94 Vergin, Siegfried SPD 23. 11. 94 Unsere Beweggründe für diese Politik beruhen auf den Grundüberzeugungen der Humanität, sozialer Dr. Wieczorek, Norbert SPD 23. 11. 94 Verantwortung und christlicher Wertvorstellungen. Dabei handeln wir aber letztlich auch im eigenen Interesse. Denn Armut, Umweltzerstörung und Kon- Anlage 2 flikte in den Entwicklungsländern machen nicht an den Grenzen Halt, sondern gefährden auch bei uns die Zu Protokoll gegebene Rede Lebens- und Entwicklungschancen zukünftiger Ge- zu dem Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung nerationen. Eigene Interessen nehmen wir auch in des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache einem anderen Bereich wahr. Länder, denen der Zugang zum Kreditmarkt offensteht, bedürfen der

Carl- Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- Unterstützung überwiegend nur noch in Form von schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Das Beratung sowie bei der Verbesserung der politischen Programm der Bundesregierung für die 13. Legislatur- und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre periode steht unter dem Leitmotiv der Erneuerung Entwicklung. Ihr öffentliches Investitionsprogramm und Zukunftssicherung. Die Aufgabe, Deutschlands kann durch eigene Mittel oder Aufnahme von Kredi- Zukunft zu sichern, hat nicht nur eine innenpolitische ten am Kapitalmarkt finanziert werden. Mit solchen Dimension. Sie erstreckt sich in ihrer globalen Dimen- Partnern findet die wirtschaftliche Kooperation im sion auch auf die Rolle Deutschlands in der Welt. Wege eines gegenseitigen Gebens und Nehmens Deutschland braucht nicht nur Märkte für den Export statt. Sie ist das Beispiel dafür, daß sich entwicklungs- von Gütern und Dienstleistungen. Wir brauchen vor politische Ziele ohne weiteres mit der Wahrnehmung allem Frieden, Stabilität und Sicherheit als Grundvor- wirtschaftlicher Interessen vereinbaren lassen. Mit aussetzungen für eine menschengerechte Gestaltung dem in der letzten Legislaturperiode geschaffenen der Zukunft auf dieser Erde. Darauf hinzuarbeiten Instrument des „2. Fensters" tragen wir solchen sind wir gefordert. Gedanken Rechnung. 156* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Globale Strukturpolitik als übergeordnete Aufgabe Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen einer neu verstandenen Entwicklungspolitik setzt vor- Rahmenbedingungen gefragt. In Mittel- und Osteu- aus, daß wir im Bereich der Krisen- und Katastrophen- ropa sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion prävention stärkere Akzente setzen. Katastrophen sehen wir die Förderung administrativer, rechtlicher wie in Ruanda sind nicht durch Entwicklungsvorha- und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen im Vorder- ben herkömmlicher Art oder isolierte Anstrengungen grund. Im Mittelmeerraum und dem Nahen Osten einzelner Geber zu verhindern. Wirksame Krisenprä- muß die Eindämmung von Konflikt- und Fluchtursa- vention erfordert eine stärkere politische Zusammen- chen im Zentrum unserer Bemühungen stehen. Es arbeit mit dem Ziel, politische und wirtschaftliche geht darum, unsere Konzepte und Instrumente geziel- Konfliktpotentiale zu überwinden. Dies wiederum ter einzusetzen, um auf unterschiedliche Problemla- bedeutet verstärkte Konzertierung und Abstimmung gen und auf unterschiedliche Interessen angemessen zwischen bilateralen und multilateralen Entwick- zu reagieren. lungsorganisationen. Wir wollen unseren Einfluß in den multilateralen Organisationen wie den Vereinten Die Forderung nach mehr Kohärenz zwischen allen Nationen, den Entwicklungsbanken und auch in der auf die Entwicklungszusammenarbeit einwirkenden Europäischen Union stärken, um die großen, weltwei- Politiken ist nicht neu. Ich verspreche mir dafür jedoch ten Umgestaltungsaufgaben mit unserer bilateralen durch die Diskussion im Rat der europäischen Ent- Politik besser zu verzahnen und die Effizienz des wicklungsminister übermorgen einen neuen Anstoß. Mitteleinsatzes weiter zu verbessern. Wir haben dieses Thema während der deutschen Präsidentschaft vorangetrieben und werden nicht Die Weichen für eine Entwicklungspolitik, die in nachlassen, die Kommission und unsere Partner in der den Partnerländern mehr Wirkung erzielt und gleich- Europäischen Union zu Fortschritten bei diesem zeitig Deutschlands Interessen in einem veränderten Strukturproblem der Entwicklungspolitik zu drän- weltpolitischen Umfeld fördert, haben wir bereits in gen. der letzten Legislaturperiode gestellt. Unsere Zusam- menarbeit folgt klaren Kriterien. Menschenrechte, Wir werden den Stellenwert der Entwicklungspoli- Rechtssicherheit, Teilhabe am politischen Meinungs- tik nur heben können und ihre Funktion als Politik der bildungsprozeß und marktwirtschaftliche Ausrich- Zukunftssicherung nur bewußt machen, wenn wir sie tung beschreiben gleichzeitig neue Felder der Zusam- fester und breiter in unserer Gesellschaft verankern. menarbeit, auf denen wir zur Verbesserung der Rah- Ich appelliere daher an alle Nichtregierungsorganisa- menbedingungen für eine menschengerechte Ent- tionen, ihre beachtlichen Bemühungen auf diesem wicklung ansetzen. Die Hauptmerkmale von Unter- Gebiet fortzusetzen. Wir brauchen das Gespräch und entwicklung, nämlich Armut, Umweltzerstörung und die Zusammenarbeit mit allen in die Entwicklungs- mangelhafte Bildung, bleiben auch in Zukunft im politik eingebundenen gesellschaftlichen Gruppen. Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Hier gilt es, Lassen Sie uns an einer parteiübergreifenden Koali- Beständigkeit walten zu lassen. tion der Vernunft arbeiten, um unser gemeinsames Anliegen, für Frieden und menschliche Sicherheit in Das erweiterte Verständnis von Entwicklungspoli- der Welt einzutreten, noch wirksamer zu verfolgen. tik und die Fortentwicklung ihrer Konzeption werden Ich appelliere auch an die Medien, nicht nur dann sich in Zukunft in einer stärkeren regionalen Differen- über entwicklungspolitische Fragen zu berichten, zierung ausdrücken. Eine regionale Differenzierung wenn Negativ-Spektakuläres zu vermelden ist. Ent- ist geboten, weil es angesichts der unterschiedlichen wicklung geht uns alle an. Diese Botschaft muß sich in Entwicklungen in der Welt nicht mehr angebracht ist, der Öffentlichkeit festsetzen. Und schließlich bitte ich alle Partner gleichzubehandeln. Während in Schwarz- auch die Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus: afrika die Nothilfe und Konfliktprävention im Vorder- Helfen Sie mit, daß wir die gestiegene Verantwortung grund stehen, sind in den Schwellenländern Asiens Deutschlands in der Welt mit Leben erfüllen. Unter- und Lateinamerikas mehr wirtschaftliche Zusammen- stützen Sie unsere Bemühungen, das friedliche Mit- arbeit, Technologietransfer sowie Beratung bei der einander in der Welt zu fördern und auszubauen.