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Plenarprotokoll 16/25

Deutscher

Stenografischer Bericht

25. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Wolfgang Börnsen Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 1889 D (Bönstrup) und als ordent- liche Mitglieder in den Verwaltungsrat der Andreas Steppuhn (SPD) ...... 1890 C Filmförderungsanstalt und des Abgeordneten Johann-Henrich Krummacher und der frü- Namentliche Abstimmung ...... 1891 D heren Abgeordneten Gisela Hilbrecht als stell- vertretende Mitglieder in den Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt ...... 1875 B Ergebnis ...... 1894 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 1875 B

Absetzung der Tagesordnungspunkte 12, 19 c Tagesordnungspunkt 4: und 22 ...... 1876 D Erste Beratung des von den Abgeordneten Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 1876 D Dr. , Carl-Ludwig Thiele, Dr. , weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 3: Reform der direkten Steuern (Drucksache 16/679) ...... 1892 A Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und der SPD einge- Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 1892 B brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- rung ganzjähriger Beschäftigung (CDU/CSU) ...... 1896 B (Drucksachen 16/429, 16/971) ...... 1877 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 1898 B Klaus Brandner (SPD) ...... 1877 A Gabriele Frechen (SPD) ...... 1899 C Jörg Rohde (FDP) ...... 1878 D Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 1901 C Dr. (CDU/CSU) ...... 1880 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 1883 B DIE GRÜNEN) ...... 1902 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 1902 B DIE GRÜNEN) ...... 1884 D (CDU/CSU) ...... 1904 C , Parl. Staatssekretär BMAS . . . . 1885 D Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 1906 A Peter Rauen (CDU/CSU) ...... 1887 D Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 1907 B Dr. Uwe Küster (SPD) (zur Geschäftsordnung) ...... 1889 B (DIE LINKE) ...... 1909 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. , Donnerstag, den 16. März 2006

Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 1910 B neter und der Fraktion der FDP: Jugend- strafvollzug verfassungsfest gestalten Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 1911 D (Drucksache 16/851) ...... 1915 B Bernd Scheelen (SPD) ...... 1912 B d) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, (Köln), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Tagesordnungspunkt 24: GRÜNEN: Zwischenbilanz für Integra- tionskurse des Jahres 2005 vorlegen a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/940) ...... 1915 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Übereinkommen vom e) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, 8. Dezember 2004 über den Beitritt der Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Ab- Tschechischen Republik, der Republik geordneter und der Fraktion des BÜND- Estland, der Republik Zypern, der NISSES 90/DIE GRÜNEN: Mit der stra- Republik Lettland, der Republik Litauen, tegischen Partnerschaft zwischen der der Republik Ungarn, der Republik Europäischen Union und Lateiname- Malta, der Republik Polen, der Repu- rika Ernst machen und deutsches blik Slowenien und der Slowakischen Engagement ausbauen Republik zu dem Übereinkommen über (Drucksache 16/941) ...... 1915 C die Beseitigung der Doppelbesteuerung f) Antrag der Abgeordneten , im Falle von Gewinnberichtigungen , Patrick Meinhardt, weiterer zwischen verbundenen Unternehmen Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksache 16/914) ...... 1914 D Innovationspakt 2020 für Forschung b) Erste Beratung des von der Bundesregie- und Lehre in Deutschland – Koopera- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- tionen zwischen Bund und Ländern zes zu dem Abkommen vom 2. März weiter ermöglichen 2005 zwischen der Bundesrepublik (Drucksache 16/954) ...... 1915 C Deutschland und der Republik Jemen zur Vermeidung der Doppelbesteue- g) Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann, rung von Luftfahrtunternehmen auf Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, dem Gebiet der Steuern vom Einkom- weiterer Abgeordneter und der Fraktion men und vom Vermögen der LINKEN: Ein einheitliches Umwelt- recht schaffen – Kompetenzwirrwarr (Drucksache 16/915) ...... 1915 A vermeiden c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/927) ...... 1915 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung und Bereinigung des Lastenausgleichsrechts (Drucksachen 16/916, 16/955) ...... 1915 A Tagesordnungspunkt 25: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- Zusatztagesordnungspunkt 2: ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über die a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- strategische Umweltprüfung zum Über- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur einkommen über die Umweltverträg- Änderung des Schwarzarbeitsbekämp- lichkeitsprüfung im grenzüberschrei- fungsgesetzes und des Telekommunika- tenden Rahmen (Vertragsgesetz zum tionsgesetzes SEA-Protokoll) (Drucksache 16/521) ...... 1915 A (Drucksachen 16/341, 16/899) ...... 1916 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Zweite und dritte Beratung des von den rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zes zur Änderung der Vorschriften über eingebrachten Entwurfs eines Zweiten die Luftaufsicht und die Luftfahrtda- Gesetzes zur Änderung des Pflanzen- teien schutzgesetzes (Drucksache 16/958) ...... 1915 B (Drucksachen 16/645, 16/897) ...... 1916 B c) Antrag der Abgeordneten Jörg van , c) Beschlussempfehlung und Bericht des Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeord- gie zu der Verordnung der Bundesregie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 III

rung: Zweiundsiebzigste Verordnung (DIE LINKE) ...... 1925 B zur Änderung der Außenwirtschafts- verordnung Wolfgang Gunkel (SPD) ...... 1927 A (Drucksachen 16/361, 16/480 Nr. 2.1, (CDU/CSU) ...... 1928 B 16/746) ...... 1916 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Andreas Steppuhn (SPD) ...... 1929 C Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- (CDU/CSU) ...... 1930 C gie zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Einhundertzweiundfünfzigste Ver- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 1932 A ordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – (Drucksachen 16/362, 16/480 Nr. 2.2, 16/747) ...... 1916 D Tagesordnungspunkt 5: e) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Re- a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der aktorsicherheit zu der Verordnung der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Bundesregierung: Verordnung zur DIE GRÜNEN: Die Bedeutung von Umsetzung der Ratsentscheidung vom Wahrheits- und Versöhnungskommis- 19. Dezember 2002 zur Festlegung von sionen für eine friedliche Zukunft Kriterien und Verfahren für die An- (Drucksache 16/932) ...... 1933 A nahme von Abfällen auf Abfalldeponien (Drucksachen 16/573, 16/612 Nr. 2.1, b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck 16/921) ...... 1917 A (Köln), (), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der f) Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und GRÜNEN: Für eine baldige Zeichnung Reaktorsicherheit zu der Verordnung der und Ratifizierung des Zusatzprotokolls Bundesregierung: Erste Verordnung zur zur Anti-Folter-Konvention der Verein- Änderung der Zweiundzwanzigsten Ver- ten Nationen ordnung zur Durchführung des Bun- (Drucksache 16/360) ...... 1933 A des-Immissionsschutzgesetzes (Verord- nung über Immissionswerte für Schad- c) Antrag der Abgeordneten , stoffe in der Luft) Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner (Drucksachen 16/574, 16/612 Nr. 2.2, Hoyer, weiterer Abgeordneter und der 16/959) ...... 1917 A Fraktion der FDP: Für eine zügige Zeich- nung, Ratifizierung und Umsetzung des g) – j) Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Kon- vention der Vereinten Nationen Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- (Drucksache 16/455) ...... schusses: Sammelübersichten 21, 22, 23 1933 B und 24 zu Petitionen Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 1933 C (Drucksachen 16/828, 16/829, 16/830, 16/831) ...... 1917 B Florian Toncar (FDP) ...... 1934 D Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 1936 B (DIE LINKE) ...... 1937 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE GRÜNEN) ...... 1938 D der LINKEN: Tarifliche Auseinandersetzun- gen im öffentlichen Dienst ...... 1917 D Karin Kortmann, Parl. Staatssekretärin BMZ ...... 1939 D Dr. (DIE LINKE) ...... 1917 D (CDU/CSU) ...... 1941 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 1919 C (FDP) ...... 1921 A Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 1922 B Tagesordnungspunkt 6: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1923 A Unterrichtung durch die Bundesregierung: Straßenbaubericht 2005 Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) ...... 1924 A (Drucksache 16/335) ...... 1942 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Achim Großmann, Parl. Staatssekretär eines Zweiten Gesetzes zur Änderung BMVBS ...... 1942 C des Betriebsprämiendurchführungsge- setzes Patrick Döring (FDP) ...... 1943 C (Drucksachen 16/858, 16/912, 16/964) . . 1957 C (CDU/CSU) ...... 1944 B – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Dorothee Menzner (DIE LINKE) ...... 1946 A eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Dr. (BÜNDNIS 90/ Gesetzes zur Änderung des Betriebs- DIE GRÜNEN) ...... 1946 D prämiendurchführungsgesetzes (Drucksachen 16/644, 16/964) ...... 1957 C Jörg Vogelsänger (SPD) ...... 1947 C Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU) . . . . . 1957 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 1959 B (SPD) ...... Tagesordnungspunkt 7: 1960 A Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dr. (DIE LINKE) ...... 1961 A Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Frak- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ tion der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei- DIE GRÜNEN) ...... 1962 A nes Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 1963 A (Drucksache 16/856) ...... 1948 D in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Volker Beck Zusatztagesordnungspunkt 4: (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab- Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff geordneter und der Fraktion des BÜND- (Rems-Murr), , Dr. Karl NISSES 90/DIE GRÜNEN: Presse- und Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- Meinungsfreiheit in Kuba einfordern tion der FDP: Innere Sicherheit durch Rege- (Drucksache 16/934) ...... 1964 A lungen zum Arbeitskampfrecht gewährleis- ten b) Antrag der Abgeordneten , (Drucksache 16/953) ...... 1948 D Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (DIE LINKE) ...... 1949 A der FDP: Menschenrechte in Kuba ein- fordern und kubanische Zivilgesell- (CDU/CSU) ...... 1950 B schaft fördern (Drucksache 16/945) ...... 1964 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 1952 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 1953 C DIE GRÜNEN) ...... 1964 B Alexander Ulrich (DIE LINKE) ...... 1954 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 1965 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Dr. (DIE LINKE) ...... 1967 B DIE GRÜNEN) ...... 1955 D Marina Schuster (FDP) ...... 1967 D Ulrich Maurer (DIE LINKE) (zur Geschäftsordnung) ...... 1956 D Christoph Strässer (SPD) ...... 1968 D Hartmut Koschyk (CDU/CSU) Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 1969 D (zur Geschäftsordnung) ...... 1957 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1970 B Florian Toncar (FDP) ...... 1971 A Tagesordnungspunkt 8: Dr. (SPD) ...... 1971 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 1972 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 V

Tagesordnungspunkt 10: (CDU/CSU) ...... 1985 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Frank Schäffler (FDP) ...... 1987 B desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfall- Nina Hauer (SPD) ...... 1988 A rechtlichen Überwachung Dr. (DIE LINKE) ...... 1989 B (Drucksachen 16/400, 16/970) ...... 1973 B Dr. (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 1973 C DIE GRÜNEN) ...... 1990 A Horst Meierhofer (FDP) ...... 1974 D Michael Brand (CDU/CSU) ...... 1975 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 1977 A Tagesordnungspunkt 9: Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 1977 D , Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Journa- Tagesordnungspunkt 11: listen und der Pressefreiheit in Straf- Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser- und Strafprozessrecht Schnarrenberger, , Jens (Drucksache 16/576) ...... 1991 A Ackermann, weiterer Abgeordneter und der b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Fraktion der FDP: Unterhaltsrecht ohne Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg weiteres Zögern sozial und verantwor- van Essen, Mechthild Dyckmans, weiteren tungsbewusst den gesellschaftlichen Rah- Abgeordneten und der Fraktion der FDP menbedingungen anpassen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksache 16/891) ...... 1978 D zur Sicherung der Pressefreiheit Sibylle Laurischk (FDP) ...... 1979 A (Drucksache 16/956) ...... 1991 A (CDU/CSU) ...... 1980 A Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1991 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 1982 A Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) , Bundesministerin BMJ . . . . 1982 D (CDU/CSU) ...... 1992 A Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1983 D DIE GRÜNEN) ...... 1993 D (SPD) ...... 1984 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 1994 B Joachim Stünker (SPD) ...... 1995 B

Zusatztagesordnungspunkt 5: (DIE LINKE) ...... 1996 B Antrag der Abgeordneten Dr. , Dr. (SPD) ...... 1997 A Otto Bernhardt, , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer, Ingrid Arndt- Brauer, (), weiterer Tagesordnungspunkt 14: Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. Hermann Erste Beratung des von der Bundesregierung Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiterer eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abgeordneter und der Fraktion der FDP so- Änderung des Gesetzes über das Brannt- wie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, weinmonopol und von Verbrauchsteuerge- , Christine Scheel, weiterer setzen Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- (Drucksache 16/913) ...... 1998 A NISSES 90/DIE GRÜNEN: Besser regulie- ren, dynamisch konsolidieren – Leitlinien Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 1998 B für die künftige EU-Finanzmarktintegra- Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 1999 C tion (Drucksache 16/933) ...... 1985 B Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 2001 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 2002 C Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol und Tagesordnungspunkt 15: von Verbrauchsteuergesetzen (Tagesord- nungspunkt 14) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- DIE GRÜNEN) ...... 2005 D trag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein, Birgit Homburger, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabgaben rückgängig machen und Anlage 3 strukturelle Reformen in der Rentenversi- cherung einleiten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Drucksachen 16/396, 16/627) ...... 2003 C des Antrags: Vorverlegung des Fälligkeitster- mins für Sozialabgaben rückgängig machen und strukturelle Reformen in der Rentenversi- cherung einleiten (Tagesordnungspunkt 15) (CDU/CSU) ...... 2006 C Tagesordnungspunkt 16: (SPD) ...... 2007 C Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Her- born), Kai Boris Gehring, , Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 2009 A Rainder Steenblock und der Fraktion des Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 2010 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mehr Mobilität und Austausch durch ein inte- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ griertes EU-Bildungsrahmenprogramm DIE GRÜNEN) ...... 2010 C (Drucksache 16/837) ...... 2003 D

Anlage 4 Zusatztagesordnungspunkt 6: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Mehr Mobilität und Austausch Antrag der Abgeordneten Dr. , durch ein integriertes EU-Bildungsrahmen- Hellmut Königshaus, Dr. , wei- programm (Tagesordnungspunkt 16) terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Den Südsudan beim Wiederaufbau unter- (CDU/CSU) ...... 2011 B stützen und vor Aids bewahren Gesine Multhaupt (SPD) ...... 2012 C (Drucksache 16/586) ...... 2004 A Patrick Meinhardt (FDP) ...... 2014 A Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 2014 D Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 17: DIE GRÜNEN) ...... 2015 C Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Anlage 5 NEN: Kettenduldungen abschaffen (Drucksache 16/687) ...... 2004 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Den Südsudan beim Wiederauf- bau unterstützen und vor Aids bewahren (Zu- Nächste Sitzung ...... 2004 C satztagesordnungspunkt 6) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 2016 D Dr. (SPD) ...... 2018 B Anlage 1 Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 2018 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2005 A Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 2019 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 VII

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 2021 B DIE GRÜNEN) ...... 2020 B Rüdiger Veit (SPD) ...... 2022 B

Dr. (FDP) ...... 2023 A Anlage 6 (DIE LINKE) ...... 2023 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kettenduldungen abschaffen Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 17) DIE GRÜNEN) ...... 2024 B

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1875

(A) (C) Redetext

25. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : ZP 2 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schwarzarbeitsbe- Die Sitzung ist eröffnet. kämpfungsgesetzes und des Telekommunikationsgeset- zes Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns gute – Drucksache 16/521 – Beratungen. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen ei- Innenausschuss Rechtsausschuss nige Änderungen in der Besetzung des Verwaltungsrats Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der Filmförderungsanstalt vorgenommen werden. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der Kollege Ausschuss für Bildung, Forschung und sein Amt niedergelegt hat. Technikfolgenabschätzung (B) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten (D) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wie kommt Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften das denn?) über die Luftaufsicht und die Luftfahrtdateien – Drucksache 16/958 – – Immerhin ist er aus Anlass dieser bedeutenden Verän- Überweisungsvorschlag: derung persönlich erschienen, was ich mit Respekt regis- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) triere. – Als Nachfolger wird sein bisheriger Stellvertre- Innenausschuss ter, der Kollege Wolfgang Börnsen, vorgeschlagen. Rechtsausschuss Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Ausschuss für Tourismus Johann-Henrich Krummacher werden. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild Aufseiten der Fraktion der SPD ist vorgesehen, dass Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der die frühere Abgeordnete Gisela Hilbrecht dem Verwal- FDP tungsrat zukünftig als stellvertretendes Mitglied ange- Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten hört und an Stelle ihrer die Kollegin Monika Griefahn – Drucksache 16/851 – neues ordentliches Mitglied wird. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ordentliche Entschei- Innenausschuss dung!) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Sind Sie mit diesen Veränderungen einverstanden? – Winkler, Volker Beck (Köln), Britta Haßelmann, weiterer Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die genannten Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Damen und Herren gewählt. GRÜNEN Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jahres 2005 Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene vorlegen Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- – Drucksache 16/940 – führten Punkte zu erweitern: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- Ausschuss für Arbeit und Soziales SES 90/DIE GRÜNEN: Kein Zurückweichen vor Rechts- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend extremismus – Bundespolitische Konsequenzen vor dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Hintergrund aktueller Ereignisse in Sachsen-Anhalt und abschätzung (siehe 24. Sitzung) Haushaltsausschuss 1876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) e) Beratung des Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, (C) Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordne- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ter und der Fraktion der FDP Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der - Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor päischen Union und Lateinamerika Ernst machen und AIDS bewahren deutsches Engagement ausbauen – Drucksache 16/586 – – Drucksache 16/941 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Kampeter, Union , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carsten f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Schneider (), (Neuruppin), Bernhard Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und Brinkmann (Hildesheim), weiterer Abgeordneter und der der Fraktion der FDP Fraktion der SPD Innovationspakt 2020 für Forschung und Lehre in Unverzügliche Umsetzung des Programms „Impulse für Deutschland – Kooperationen zwischen Bund und Län- Wachstum und Beschäftigung“ sowie des Marktanreiz- dern weiter ermöglichen programms durch die Bundesregierung – Drucksache 16/954 – – Drucksache 16/931 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Finanzausschuss , Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Bildung, Forschung und Biogaseinspeisungsstrategie entwickeln und Biogasein- Technikfolgenabschätzung speisungsgesetz vorlegen Haushaltsausschuss – Drucksache 16/582 – g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Überweisungsvorschlag: Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordne- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) ter und der Fraktion der LINKEN Finanzausschuss Ein einheitliches Umweltrecht schaffen – Kompetenz- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) wirrwarr vermeiden Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – Drucksache 16/927 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (B) Überweisungsvorschlag: Federführung strittig (D) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss (f) ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Federführung strittig , Peter Hettlich und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN: Tarifliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes – Fern- linienbusverkehre ermöglichen ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff – Drucksache 16/842 – (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeitskampf- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie recht gewährleisten Ausschuss für Tourismus – Drucksache 16/953 – Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) weit erforderlich, abgewichen werden. Innenausschuss Rechtsausschuss Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungs- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie punkt 12 – hier handelt es sich um einen Antrag zum Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Übereinkommen über die biologische Vielfalt –, den Verbraucherschutz Tagesordnungspunkt 19 c – Gesetzentwurf des Bundes- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung rates zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und Umgehungen – sowie den Tagesordnungspunkt 22 – An- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, tidiskriminierung – abzusetzen. Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer, Die Tagesordnungspunkte 9 – Pressefreiheit – und 13 Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer – zwei Anträge zu Kuba – sollen getauscht werden. Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Schließlich soll der von den Fraktionen der CDU/ Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP so- wie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, CSU und der SPD eingebrachte Entwurf eines Föderalis- Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des musreform-Begleitgesetzes auf Drucksache 16/814 BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nachträglich gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Besser regulieren, dynamisch konsolidieren – Leitlinien Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die vorgese- für die künftige EU-Finanzmarktintegration hene Mitberatung des Haushaltsausschusses entfällt fol- – Drucksache 16/933 – gerichtig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1877

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Darf ich auch zu diesen vorgeschlagenen Veränderun- Für diese Beschäftigten schaffen wir die Möglichkeit (C) gen Ihr Einvernehmen feststellen? – Dieses Einverneh- des Saisonkurzarbeitergeldes. Wir verstetigen die Be- men besteht offenkundig. Dann ist so beschlossen. schäftigung, wir erhöhen die Planungssicherheit der Be- schäftigten sowie der Unternehmen und wir halten die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Qualifikation der Mitarbeiter aufrecht, die durch Ar- Zweite und dritte Beratung des von den Frak- beitslosigkeit sonst verloren gehen würde. Dies ist ein tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gewinn an persönlicher Sicherheit. Daran liegt uns al- Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganz- len. jähriger Beschäftigung Wir werden mit diesem Gesetz die bisherige, oftmals – Drucksache 16/429 – sehr komplizierte Winterbauförderung weiterentwi- ckeln und in ein System des Kurzarbeitergeldes integrie- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ren. Nach dem neuen Gesetz können die Beschäftigten ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) in der Baubranche zwischen dem 1. Dezember und dem 31. März im Betrieb beschäftigt bleiben. Sie bekommen – Drucksache 16/971 – dann Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent bzw. von Berichterstattung: 67 Prozent, wenn sie ein Kind haben. Das ist zwar weni- Abgeordneter Klaus Brandner ger Geld, dafür aber mehr Arbeitsplatzsicherheit. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wir unterstützen mit diesem Gesetz die Tarifvertrags- die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- parteien in ihren Anstrengungen, Kontinuität in der Be- nen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart. schäftigung zu halten und kontinuierliche Löhne zu zah- len. Planbare Einkommen sind uns wichtig. Deswegen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- haben wir uns für dieses Gesetz engagiert. nächst dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Frak- tion. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In den Koalitionsverhandlungen ist uns bewusst ge- worden, dass wir neue Regelungen in diesem Bereich Klaus Brandner (SPD): treffen müssen. Wir haben deshalb in der Koalitionsver- einbarung festgelegt, dass dieses Gesetz auf den Verein- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten barungen der Tarifvertragsparteien in der Bauwirtschaft Damen und Herren! Wir verabschieden heute das Gesetz aufgebaut werden soll. Ich bin froh, dass dieser Wille (B) zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Passender nach wie vor vorhanden ist und im Gesetz klar erkennbar (D) als zu dieser Jahreszeit könnten wir, meine ich, die De- ist. Die Tarifvertragsparteien haben mit ihrer Vereinba- batte über ein solches Gesetz nicht führen; denn wir ha- rung ein Beispiel für innovative und verantwortungsbe- ben seit Monaten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, wusste Tarif- und Betriebspolitik gegeben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Daran ist die Re- Wir haben bewusst darauf verzichtet, dass die Arbeit- gierung schuld!) nehmer und Arbeitnehmerinnen über den Umlagebeitrag was für die Beschäftigten der Bauwirtschaft traditio- hinaus zusätzliche Leistungen einbringen müssen. Damit nell heißt: arbeitslos und unsichere Zukunft bezüglich meine ich ganz konkret, dass wir auf eine zusätzliche möglicher Wiedereinstellung, wenn das Wetter wieder Einbringung von Stunden aus dem Arbeitszeitkonto Bautätigkeit ermöglicht. oder von zusätzlichen Urlaubstagen verzichtet haben. Die Vorausleistung von 30 Stunden für die Arbeitnehmer 285 000 Menschen aus der Baubranche sind in die- und 70 Stunden für die Arbeitgeber hatte im alten Sys- sem Winter arbeitslos, ein beträchtlicher Teil davon, weil tem die Funktion, die Arbeitnehmer- und die Arbeitge- der Betrieb im Winter keine Straßen bauen kann bzw. berseite an der Mitfinanzierung des Systems der Winter- Beton oder Mörtel wegen des Frostes nicht verarbeitet bauförderung zu beteiligen. Diese Beteiligung erfolgt im werden können. Die Beschäftigten, die saisonbedingt je- neuen System dadurch, dass die Finanzierung der Um- den Winter aufs Neue entlassen werden, leben ständig in lage anteilig erfolgt. Unsicherheit, ob sie im Frühjahr wieder eingestellt wer- den. Sie und ihre Familien machen sich Sorgen, wie es Wir haben uns aus gutem Grund für den Systemwech- weitergeht. sel im Umlagesystem entschieden. Ich sage ganz klar: Wer mehr Vorausleistungen von den Arbeitnehmern ver- Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Mit jedem weiteren langt, will damit nur eines, nämlich auch beim Saison- Jahr steigt das Risiko der Arbeitnehmer, die Anwart- kurzarbeitergeld die Verteilungsfrage neu stellen. Das ist schaft auf Arbeitslosengeld zu verlieren. Aus unserer völlig fehl am Platz. Das lehnen wir ab. Sicht ist dies ein unhaltbarer Zustand. Beschäftigte in der Baubranche, aber auch in anderen stark saisonabhän- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf gigen Branchen dürfen nicht schlechter gestellt werden, Brauksiepe [CDU/CSU]) nur weil für sie die Schlechtwetterperiode keine Arbeit zulässt. Was steckt hinter dem Umlagesystem? Ein zusätzli- cher Anreiz auf der Basis der Vereinbarung der Tarifver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tragsparteien im Bau wird geschaffen, indem eine 1878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Klaus Brandner (A) Umlage eingeführt wird, aus der ergänzende Leistungen für Arbeit. Wir erwarten einen positiven Effekt insbe- (C) finanziert werden. sondere für den Fall, dass es gelingt, diejenigen 70 000 Menschen, die in der Regel im Winter zusätzlich Die umlagefinanzierten ergänzenden Leistungen um- arbeitslos werden, mit diesem Gesetz zu erreichen. Dies fassen erstens die Erstattung der Sozialversicherungsbei- sollte uns Mut machen, dass andere Branchen von die- träge an die Arbeitgeber. Diese werden von den Kosten sem Gesetz lernen und möglichst bald eine Übertragbar- der Weiterbeschäftigung bei Arbeitsausfällen in den keit anstreben. Wintermonaten deutlich entlastet. Sie haben genau diese Kosten in der Vergangenheit genutzt, um Arbeitnehmer Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war vorgese- zu entlassen und der Sozialversicherung diese Kosten hen, weiteren Branchen die Möglichkeit für das Saison- aufzudrücken. kurzarbeitergeld zu eröffnen. Hieran haben wir grund- Daneben umfassen diese Leistungen zweitens das sätzlich festgehalten, allerdings mit etwas höheren Zuschusswintergeld für die Arbeitnehmer für jede aus Hürden. Aus meiner Sicht sind wir gut beraten, auch an- Arbeitszeitguthaben eingesetzte Arbeitsstunde zur Ver- deren Branchen, die ähnlich hohe Schwankungen in der meidung von Arbeitsausfällen. Wer eine Stunde aus sei- Beschäftigung haben, diese Option zu eröffnen. nem Arbeitszeitkonto im Winter einsetzt, erhält dafür Beispiele für Schwankungen gibt es im Ausbauge- 2,50 Euro extra. werbe, bei den Malern und Lackierern sowie in der Darüber hinaus umfasst die Umlage drittens das Landwirtschaft. Im Bereich des Lackierer- und Maler- Mehraufwandswintergeld als Ausgleich für witte- handwerks waren – um harte Zahlen zu nennen – im rungsbedingte Mehraufwendungen bei den Beschäftig- September 2005 7 500 Menschen und im Dezember ten zwischen Mitte Dezember und Ende Februar. Das 23 000 arbeitslos. Im Bereich der Land- und Forstwirt- heißt, wer in dieser Zeit tatsächlich arbeitet, bekommt schaft waren im September 2005 5 300 Menschen ar- 1 Euro als zusätzliche Unterstützung zu seinem Ver- beitslos. Im Dezember waren es 19 240. Das zeigt, dass dienst hinzugerechnet. es dort große Schwankungen und Unsicherheiten für die Beschäftigten nur wegen des schlechten Wetters gibt. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir fördern mit der Der Weg, über kurze Kündigungsfristen Kündigungen Umlage das Einbringen von Stunden aus dem Arbeits- durchzuführen, ist falsch. Wir unterstützen vielmehr den zeitkonto, fördern die Arbeit trotz schlechten Wetters Weg eines Saisonkurzarbeitergeldes und damit eine und erhöhen damit die Flexibilität in der Branche. Ich ganzjährige Beschäftigung. finde, dies ist ein wirklich gelungener Beitrag zu einer modernen Arbeitszeitpolitik. Dafür haben die Tarifver- Wir haben vereinbart, nach zwei Jahren eine kon- tragsparteien Lob und Anerkennung verdient. struktive Evaluation durchzuführen. Ich hätte mir gern (B) (D) etwas mehr Mut unsererseits gewünscht. Dennoch will (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ich die Tarifvertragsparteien in anderen Branchen mit der CDU/CSU und der LINKEN) hohen saisonalen Schwankungen aufrufen, nach spezifi- Hiervon unangetastet bleibt die Arbeitszeitflexibili- schen Lösungen in ihrem Bereich zu suchen, auf deren sierung mit dem Ziel eines kontinuierlichen Monats- Grundlage das Gesetz nach der Evaluation auch für sie lohns. Das Arbeitszeitkonto hat sich bewährt. gelten kann. Wir wollen, dass auch diese Branchen – wenn sie es wollen – ein Instrument an die Hand be- Mit dem Gesetz machen wir deutlich, dass wir am kommen, um Schwankungen in der Schlechtwetterzeit Koalitionsvertrag festhalten. Wir haben dort nicht nur auszugleichen. Dies muss ein Instrument sein, mit dem vereinbart, das Saisonkurzarbeitergeld einzuführen; wir Flexibilität und Sicherheit sinnvoll miteinander verbun- haben dort auch ausdrücklich die Sicherung der Tarif- den werden. autonomie und der Mitbestimmung begrüßt. Beides bleibt unangetastet. Versuche, durch die Hintertür hieran Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zu rütteln, haben wir verhindert. Wir geben den Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern ein klares Signal: Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kultur des Misstrauens muss beendet werden. Wir haben der CDU/CSU) keinen massenhaften Missbrauch in diesem Land. Wir wollen eine Kultur des Vertrauens. Das ist die Basis für Präsident Dr. Norbert Lammert: sinnvolle Veränderungen, zu denen wir stehen. Das Wort hat nun der Kollege Jörg Rohde für die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) FDP-Fraktion. Mit dem Gesetz wird die Bundesagentur für Arbeit entlastet. Wenn die Arbeitnehmer in den Betrieben blei- Jörg Rohde (FDP): ben, haben die Agenturen weniger Aufwand durch weni- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ger Arbeitslosmeldungen, durch weniger Vermittlungs- Kollegen! Für die Fraktion der FDP darf ich zunächst die bemühungen und – um es deutlich zu sagen – durch von Union und SPD eingebrachten Änderungsanträge zu weniger Arbeit bei den Leistungsanträgen. Positiv wird dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger sich auswirken, dass die Bundesagentur von den Rema- Beschäftigung ausdrücklich begrüßen. Die Beratungen nenzkosten, das heißt von den Sozialkosten, entlastet hinter den verschlossenen Türen der Koalition haben wird. Wir rechnen also mit gutem Grund auch deshalb zwei Wochen länger gedauert, als ursprünglich gedacht. mit einem positiven Finanzeffekt bei der Bundesagentur Aus unserer Sicht hat sich das Warten aber gelohnt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1879

Jörg Rohde (A) Das neue Saisonkurzarbeitergeld wird die bisherige (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schauen wir (C) Winterbauförderung ablösen, wobei die neue Leistung in mal!) dem nun geänderten Gesetz wieder auf die Baubranche bevor eventuell andere Branchen ebenfalls einbezogen beschränkt wird. Für die FDP-Fraktion begrüße ich es werden. ausdrücklich, dass die schwarz-rote Koalition in diesem wesentlichen Punkt auf eine von uns erhobene Forde- (Dirk Niebel [FDP]: Aber nicht zwangsweise!) rung eingegangen ist. Hier im Bundestag müssen wir nun gemeinsam darauf (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: achten, dass mit der neuen Förderung keine zusätzlichen Sonst hätten wir nicht zugestimmt!) Belastungen auf die Beitragszahler zur Arbeitslosenver- sicherung zukommen. Ich bin nicht so optimistisch wie Weitere Branchen werden nun nicht gegen deren erklär- Sie, Herr Brandner, der Sie ja gesagt haben, dass sogar ten Willen in die Neuregelung einbezogen. ein Überschuss herauskommt. Wir sehen das eher skep- (Andreas Steppuhn [SPD]: Das war auch nicht tisch. vorgesehen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn es plus/minus Dass zusätzlich eine mögliche Einbeziehung weiterer null ausgeht, dann ist das schon okay!) Branchen ab dem 1. November 2008 nur durch eine Ge- Aber richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saison- setzesänderung möglich ist und nicht mehr, wie ur- kurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die sprünglich geplant, durch eine Rechtsverordnung des Beitragszahler entlastet werden, weil sie keine Sozial- Bundesministers für Arbeit und Soziales, ist ebenfalls versicherungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ursprüngli- könnte es, je nach Umfang der Inanspruchnahme von chen Gesetzentwurf. Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld, (Beifall bei der FDP) auch zu Mehrbelastungen kommen. Ich bin mir übrigens sicher, dass bei dieser Änderung Ein wichtiger Baustein bei der Senkung der Belastung nicht nur die FDP, sondern auch etliche Branchenvertre- für die Bundesagentur für Arbeit ist die erhöhte Flexibi- ter hier in Berlin deutlich aufgeatmet haben. lisierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu 150 Stunden statt, wie bisher, 10 Prozent der vereinbar- Das neue Gesetz tritt exakt die Nachfolge des Vorläu- ten Jahresarbeitszeit. Ich bedauere natürlich, dass sich fergesetzes an, das die Winterbauförderung regelte und Union und SPD nicht meinem Vorschlag anschließen das Schlechtwettergeld ersetzt hat. Herr Dreibus – er ist konnten und größere Zeitkorridore geschaffen haben. Ich heute nicht da; er hat mich darauf angesprochen –, ich hätte den Arbeitnehmern gerne mehr Freiraum einge- (B) (D) habe tatsächlich in den alten Sitzungsprotokollen von räumt. Auch über die negativen Arbeitszeitkonten kön- damals geblättert: Das Schlechtwettergeld hatte gegen- nen wir vielleicht bei der nächsten Novellierung in zwei über einem Jahresarbeitsentgelt den Nachteil, dass es mit Jahren gemeinsam diskutieren. Ich denke, hier ist noch Nettolohnverlusten verbunden war. Das war nur einer Potenzial, mit dem wir Geld für die Bundesagentur für der Gründe, warum damals eine Neuregelung notwendig Arbeit herausholen können. war. (Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: (Andreas Steppuhn [SPD]: Wir haben es Das ist ja eine richtige Regelungswut oder abgeschafft!) was?) Die 1994 von Schwarz-Gelb initiierte Gesetzesände- Wir hätten uns ebenfalls eine klarere Formulierung in rung wurde damals, so wie das bei der heutigen Geset- Bezug auf die Einbringung der Guthaben gewünscht. zesänderung auch der Fall war, mit den Tarifpartnern in Diese Arbeitszeitguthaben werden jetzt in § 175 Abs. 5 der Baubranche abgesprochen und berücksichtigte die SGB III geregelt. Da wir aber wissen, dass die Einbrin- besondere saisonale Abhängigkeit der Baubranche. gung von 30 Stunden aus dem Arbeitszeitguthaben der- zeit tarifvertraglich in der Baubranche geregelt ist, las- Auch 1997 hat die von Union und FDP getragene sen wir diese Formulierung ausnahmsweise durchgehen. Bundesregierung die Weiterentwicklung des Gesetzes zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung im Bau- (Lachen bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: gewerbe vorangetrieben. Die FDP also hat bereits viele Überheblich!) Jahre die Gesetzgebung zu der Problematik der Saison- arbeitslosigkeit in der Baubranche in den Wintermona- Dies ist aber gleichzeitig ein großer Vertrauensvor- ten konstruktiv begleitet; das tun wir auch heute. schuss, der den Tarifpartnern gewährt wird: Sollten die Tarifpartner in der nächsten Tarifverhandlung beschlie- (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP], an ßen, dass diese Arbeitszeitguthaben nicht eingebracht die CDU/CSU gerichtet: Da könnten Sie auch werden müssen, stünde die Bundesagentur für Arbeit fi- mal klatschen!) nanziell im Regen. Das gilt es zu vermeiden. Da die Regelungen aber seit Jahrzehnten ausschließ- (Beifall bei der FDP) lich auf die Bauindustrie ausgerichtet sind, ist es auch Wir hoffen, dass sich die Tarifpartner an dieser Stelle ih- absolut richtig, nach der heutigen Neuregelung des Ge- rer Verantwortung bewusst sind. setzes zuerst zwei Jahre aktuelle Erfahrungen mit den neuen Regelungen zu sammeln, (Frank Spieth [DIE LINKE]: Was denn nun?) 1880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Jörg Rohde (A) Aus unserer Sicht sollten die Anreize zum Ansparen trotz eines leichten Bauchgrimmens bezüglich der Kos- (C) von größeren Arbeitszeitguthaben ausgebaut werden; tenneutralität des Gesetzes zuzustimmen. das wäre eine Aufgabe für die Tarifpartner. Als Nächstes sollte sich die Koalition aber – und hier (Beifall bei der FDP) besonders Sie, Herr Minister Müntefering – Leider ist der Union in einem Punkt eine Nachbesse- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings!) rung nicht gelungen: Am 27. Januar 2006 berichtete das den noch drängenderen Fragen zur Bekämpfung der „Handelsblatt“, dass auch der Kollege Meyer von der Massenarbeitslosigkeit zuwenden: der Flexibilisierung Union forderte, bei Inanspruchnahme von Arbeitslosen- des Tarifrechts, der Reform des Kündigungsschutzrech- geld nach dem Bezug von Saisonkurzarbeitergeld eine tes und der Schaffung von Anreizen für die Rückkehr Anrechnung vorzusehen. Hier befindet sich nun aus un- der geringfügig bzw. schwarz Beschäftigten in den ers- serer Sicht die Achillesferse des vorliegenden Gesetzent- ten Arbeitsmarkt. Das sind nur einige Beispiele, Herr wurfes. Minister. Frisch ans Werk! Wir werden Ihre Arbeit kon- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings!) struktiv begleiten. Die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes darf Vielen Dank. nicht dazu führen, dass beitragsfinanzierte Leistungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dann zeitlich kumuliert in Anspruch genommen werden der CDU/CSU) können. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Im Extremfall könnte ein Arbeitnehmer in der Baubran- Nächster Redner ist der Kollege Ralf Brauksiepe für che nun je nach Auslegung des Gesetzes im Spätsommer die CDU/CSU-Fraktion. und Herbst vier Monate arbeiten und danach vier Mo- nate Saisonkurzarbeitergeld beziehen und hätte dann Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): möglicherweise Anspruch auf Arbeitslosengeld I statt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! auf Arbeitslosengeld II. Hier muss die Bundesagentur Mit dem Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäfti- für Arbeit ihr besonderes Augenmerk darauf richten, ob gung wollen wir einen wesentlichen Beitrag zur Be- bei dieser Neuregelung nicht doch aus Versehen eine kämpfung der Winterarbeitslosigkeit nicht nur, aber Hintertür entstanden ist und Mitnahmeeffekte auftreten. gerade auch in der Baubranche leisten. Mit dem hier vor- gelegten Gesetzentwurf schaffen wir ein neues Instru- (B) (Beifall bei der FDP) ment, führen wir das Saisonkurzarbeitergeld ein und er- (D) Auch wir als FDP werden die Praxis kritisch begleiten setzen damit die bisherige Winterbauförderung. und gegebenenfalls vorzeitige Korrekturen des Gesetzes Es geht uns darum, mit diesem Gesetz die ganzjährige fordern. Beschäftigung dadurch zu fördern, dass die von Arbeits- Wir hoffen, dass sich die Einsparungen durch die Nut- losigkeit bedrohten Arbeitnehmer beschäftigt bleiben zung der flexiblen Arbeitszeitkonten und die vermiedene und die Beitragsleistung Saisonkurzarbeitergeld bezie- Bürokratie in den Arbeitsagenturen auf der einen Seite hen, und damit zu vermeiden, dass Arbeitnehmer und sowie eine mögliche verstärkte Inanspruchnahme des Arbeitnehmerinnen in witterungsabhängigen Branchen Gesetzes zum Saisonkurzarbeitergeld und mögliche Mit- in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und von der nahmeeffekte auf der anderen Seite insgesamt gegenei- Bundesagentur für Arbeit aufgrund der gesetzlichen Re- nander aufwiegen und das Gesetz somit kostenneutral gelungen, die es dafür schon gibt, aufwendig betreut für die Bundesagentur für Arbeit ausfällt. werden müssen, obwohl sich in vielen Fällen Arbeitge- ber und Arbeitnehmer einig sind, dass die Beschäftigung Deswegen begrüßen wir auch die im nachgebesserten nach dem Winter fortgesetzt werden soll. Gesetzentwurf verankerte Evaluation, sodass der Bun- destag über die Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt und Wir wollen das tun, um damit einen wesentlichen die finanziellen Auswirkungen für die Arbeitslosenversi- Beitrag zur Lösung eines Problems zu leisten, das uns cherung und den Bundeshaushalt genau informiert wird. seit vielen Jahren beschäftigt. Man darf auch keine Illu- Besonders für Gesetzentwürfe einer schwarz-roten Ko- sionen schüren: Auch in Zukunft wird die Winterarbeits- alition gilt natürlich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist bes- losigkeit höher sein als die Arbeitslosigkeit im ser! Sommer. Ich denke aber, wir haben die begründete Hoffnung, dass wir mit diesem Gesetz einen wesentli- (Beifall bei der FDP) chen Beitrag leisten, um Arbeitslosigkeit im Winter zu vermeiden. Wir sehen also den Ergebnissen der Wirkungsfor- schung zu diesem Gesetz mit Spannung entgegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nach Abwägung aller eingearbeiteter Änderungen Deswegen ist dies eine gute Nachricht für all die durch Union und SPD gegenüber den noch offenen Menschen, die ihre Arbeit unter schwierigen Bedingun- Wünschen unserer Fraktion haben wir uns aber dazu gen tun müssen. Nicht nur dieser Winter – darauf hat der durchgerungen, die Einführung des neuen Saisonkurz- Kollege Brandner zu Recht hingewiesen – war ein Bei- arbeitergeldes zu unterstützen und dem Gesetzentwurf spiel dafür. Es geht darum, etwas für die Menschen zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1881

Dr. Ralf Brauksiepe (A) tun, die unter schwierigen Umständen hart arbeiten, und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) auch etwas für die Arbeitgeber zu tun, die unter ordentli- neten der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Aber nur chen, abgesicherten und gesetzlich vorgesehenen Bedin- für die, die es wollen!) gungen zu ihren Leuten stehen und die mit ihren Mit- Es geht nicht darum, irgendetwas auf den Sankt-Nim- arbeiterinnen und Mitarbeitern auch durch schwierige merleins-Tag zu verschieben. Wir müssen vielmehr von Zeiten gehen und sie im Winter nicht auf die Allgemein- der gegenwärtigen Situation ausgehen. Wie sieht diese heit abschieben wollen. Situation aus? Dieses Gesetz wird seine Wirkung nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dann entfalten, wenn die Tarifparteien Regelungen tref- fen, die zu diesem Gesetz passen. Es geht nicht darum, All denen, die sich gesetzes- und tariftreu verhalten, dass irgendwer der Erfüllungsgehilfe des anderen ist. wollen wir hier ein Angebot machen. Weder ist der Gesetzgeber der Erfüllungsgehilfe der Ta- rifvertragsparteien noch umgekehrt. Die Regelungen Ich will deutlich sagen, dass es für ein solch schwieri- beider müssen sinnvoll ineinander greifen, damit dieses ges Problem, wie es sich uns hier stellt, sicherlich keine Instrument wirken kann. einfachen Lösungen gibt. Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir nur in der Bauwirt- Wie schwierig die Gefechtslage manchmal ist, er- schaft Rahmenbedingungen, zu denen dieses Gesetz pas- kennt man auch an manchen Beiträgen: Wenn der Kol- sen kann. Das ist nicht – das ist völlig klar – von heute lege Rohde hier schon Lenin zitiert, dann sieht man auf morgen in anderen Branchen zu schaffen. Andere daran, dass das Problem, mit dem wir uns hier beschäfti- Branchen werden zwei Winter lang die Gelegenheit ha- gen, kein Problem wie jedes andere ist. ben, sehr sorgfältig zu analysieren, wie dieses Instru- ment in der Bauwirtschaft funktioniert. Danach können (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der sie die Entscheidung treffen, ob sie es auch in ihrem Be- SPD und der LINKEN – Jörg Rohde [FDP]: reich wünschen. Wir hoffen, dass dieses Instrument ins- Gute Zitate sind immer brauchbar!) gesamt zu einer Vermeidung von Winterarbeitslosigkeit führt. Das gilt selbstverständlich immer dann, wenn die Wir sind dankbar dafür, dass Sie, Kollege Rohde – unter Branchen das wollen. Wir wollen keine Verabredung zu- Hinweis auf wen auch immer und unter Hoffnung auf lasten Dritter. Wir wollen auch nicht, dass politisch ent- was auch immer –, für die Liberalen die Unterstützung schieden wird, welche Branchen etwas Neues machen dieses Gesetzentwurfs signalisiert haben. sollen. Natürlich hat es – das will ich deutlich sagen – Ge- Wir sind der festen Überzeugung, dass die Tarifver- (B) spräche darüber gegeben, wie wir mit diesem Problem tragsparteien – sie sind am nächsten dran – ein entschei- (D) verfahren sollen. Wir machen Anhörungen nicht ein- dendes Wort dabei mitzureden haben, was in ihrem fach nur, weil uns irgendwelche Vorschriften dazu zwin- Bereich passieren soll. Aufgabe des Gesetzgebers ist es gen, sondern weil wir auf das, was dort gesagt wird, hö- gleichwohl, die Gemeinschaft der Beitragszahler vor ren wollen, weil wir das nacharbeiten und daraus Verträgen und Vereinbarungen zulasten Dritter zu schüt- Konsequenzen ziehen. Sie dürfen dem Minister nicht zen. Genau das tun wir mit diesem Instrument. vorwerfen, man hätte ihn dazu bringen müssen, Zwangs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beglückungen zu verhindern. Wir haben alle – schon in neten der SPD) der ersten Lesung des Gesetzentwurfs – gesagt: Wir wol- len keine Zwangsbeglückung anderer Branchen. Wir ha- Herr Kollege Rohde, Sie haben das Problem ange- ben in der Tat eine vernünftige Regelung gefunden, um sprochen, dass mit Leistungen der Bundesagentur für das zu verhindern. Arbeit andere Leistungen begründet werden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg (Jörg Rohde [FDP]: Das habt ihr auch so Rohde [FDP]: Wir begrüßen, was die Bau- gesehen!) branche macht!) Man muss in diesem Zusammenhang sagen, woher dies Bezüglich der Ausweitung auf andere Branchen eigentlich kommt. Wir machen jetzt zwar etwas Neues – das sage ich genauso klar – meinen wir, was wir sagen. für die Bauwirtschaft. Es ist aber nicht so, als hätte es Wir wollen in der Bauwirtschaft jetzt ein neues Instru- dort bisher keine Regelung zur Winterförderung gege- ment ausprobieren. Die Wirkung werden wir sehr genau ben. Das, was Sie hier kritisieren, gilt immer für das Zu- analysieren. Wenn sich dieses neue Instrument in der sammenspiel von Lohnersatzleistungen bzw. verschiede- ner arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Zurzeit wird die Bauwirtschaft bewährt, dann liegt es im Interesse der Winterbauförderung nicht auf das Arbeitslosengeld an- großen Koalition, dass dieses Instrument auch auf an- gerechnet. dere Branchen angewandt wird, weil wir die effektive Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit überall dort wol- Ich bitte darum, sich daran zu erinnern, was bezüglich len, wo sie ein Problem darstellt. Das ist unser Ziel, das der umlagefinanzierten Leistungen vereinbart wurde. wir auch realisieren werden. Wir werden dieses Problem Das Mehraufwandswintergeld wird gezahlt, wenn je- angehen. Wir werden keine Schnellschüsse machen, mand kurzarbeitet, nicht bei Kurzarbeit gleich null, son- sondern ein ordentliches und evaluiertes Instrument an- dern wenn jemand grundsätzlich Kurzarbeit macht, in wenden. dieser Zeit aber stundenweise arbeitet. Wollen Sie denn 1882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Ralf Brauksiepe (A) jemandem, der zehn oder 20 Stunden gearbeitet und da- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. (C) für auch den entsprechenden Zuschlag erhalten hat, am Kolb [FDP]: Gut, dass das einmal gesagt Ende sagen: „Wir behandeln dich so, als hättest du in wird!) dem betreffenden Monat nicht gearbeitet, und ziehen dir das Geld vom Arbeitslosengeld ab, das gezahlt wird, Deswegen werden wir diesen Regelungen zur Durchset- wenn keine Arbeit geleistet wird“? Das geht doch nicht. zung verhelfen, und zwar in dem Wissen, dass es Risi- Welchen bürokratischen Aufwand wollen Sie hier ei- ken gibt und dass niemand vorhersagen kann, wie sich gentlich betreiben? Fragen Sie doch einmal im Arbeitge- der Wegfall der Stunden, die vorher zu leisten waren, berlager nach, ob die einen solchen bürokratischen Auf- auswirken wird. Wir begrenzen jedoch die möglichen wand wollen. Man muss doch einen vernünftigen Risiken und werden die Kostenentwicklung im Auge ha- Mittelweg gehen und zusätzliche Bürokratie, wo sie ver- ben. meidbar ist, wirklich vermeiden. Das tun wir mit diesem Es geht hier um ein vernünftiges Miteinander von Gesetz. gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Wir alle ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- meinsam müssen ein großes Interesse daran haben, dass neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: die Anreize, die wir zur Aufrechterhaltung und zur Wei- Wir schauen uns die Evaluation an!) terentwicklung der Flexibilisierung in der Bauwirtschaft setzen, genutzt werden. Deshalb kann ich nur dahin ge- Natürlich wird die Frage, ob man in größerem Maße hend appellieren und alle bitten, mit dafür zu sorgen, als früher von einer Beitragsleistung in eine andere über- dass die Arbeitszeitguthaben, die es in den allermeisten geht, im Rahmen der Evaluation, die wir vornehmen Betrieben gibt, breit zur Anwendung kommen. Denn werden, eine Rolle spielen. Das ist vollkommen klar. dieses Gesetz basiert darauf, dass im Sommer über Ar- Wenn sich da Probleme ergeben, wird der Gesetzgeber beitszeitguthaben Überstunden angehäuft werden, die handeln. ohne Belastung der Allgemeinheit der Beitragszahler im Winter abgebaut werden können. Das ist im Interesse der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr schön!) Allgemeinheit, aber auch im Interesse der Arbeitgeber, Es hat eine Reihe von Gesprächen gegeben, die zu da sie dadurch das Auszahlen von Überstunden mit ent- den Änderungsanträgen geführt haben, die gestern im fe- sprechenden Zuschlägen im Sommer vermeiden. Der derführenden Ausschuss eine Mehrheit gefunden haben. Gesetzgeber hat alles in seiner Macht Stehende getan, Ich will mich in diesem Zusammenhang bei all denen, um zu einer vernünftigen Regelung zu kommen. die daran mitgewirkt haben, herzlich bedanken. Ich will Ich appelliere an alle Beteiligten in der Bauwirtschaft, mich auch noch einmal ausdrücklich an den Kollegen auch an die, bei denen die entsprechende Regelung noch (B) Klaus Brandner wenden, der gesagt hat, es seien alle fehlt, ihren Teil dazu beizutragen, dass es nicht zu Miss- (D) Versuche abgewehrt worden, an der Mitbestimmung zu brauch kommt. Der Gesetzgeber hat seinen Teil getan. rütteln. Ich möchte vor Legendenbildung warnen, lieber Jetzt sind die Tarif- und Betriebsparteien in der Bauwirt- Kollege Brandner; denn ich war bei ein paar Gesprächen schaft gefordert, das umzusetzen, damit wir zu einer gu- zu diesem Thema dabei, um nicht zu sagen: bei allen. ten gemeinsamen Regelung kommen. Dass in diesen Gesprächen die sozialdemokratische Seite Versuche, an der Mitbestimmung zu rütteln, hätte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zurückweisen müssen, daran kann ich mich mit Verlaub neten der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Sie hätten nicht erinnern. es auch ins Gesetz schreiben können!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja der Anfang Ich freue mich, dass sich bei der Verabschiedung die- von Zerrüttung, was wir hier erleben!) ses Gesetzes eine breite Zustimmung abzeichnet. Ich will deutlich sagen: Dies ist der gemeinsame Wille der Die Tarifvertragsparteien haben in der Zwischenzeit Fraktionen der großen Koalition und auch der Wille der eine Klarstellung vorgenommen, und zwar dahin ge- Fraktionsführungen. hend, dass der Arbeitgeber in der Schlechtwetterzeit über die Fortsetzung, Einstellung oder Wiederaufnahme In diesem Zusammenhang will ich eines klarstellen der Arbeit nach Beratung mit dem Betriebsrat letztlich – denn gelegentlich höre ich Bemerkungen, die Kanzle- nach seinem pflichtgemäßen Ermessen alleine entschei- rin solle sich mehr um die Innenpolitik kümmern –: det. Das ist die Vereinbarung, die die Tarifvertragspar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erzählen Sie teien getroffen haben. Wir sorgen mit diesem Gesetz da- jetzt aber nicht, wann Sie von ihr angerufen für, dass diese Vereinbarung, wie auch all die anderen worden sind, Herr Brauksiepe!) Vereinbarungen, die die Tarifvertragsparteien beschlos- sen haben, gelten. Ich gehe davon aus, dass niemand böswillig behauptet, sie habe dies in der Vergangenheit nicht getan. Den- Ich will es deutlich sagen: Mitbestimmung und so- noch kann ich jedem, den es betrifft, nur sagen: Wenn ziale Gerechtigkeit in schwieriger Zeit und unter neuen es um Arbeitszeitguthaben, Winterausfallgeld-Voraus- Bedingungen ist nichts, was man Christdemokraten und leistungen, Ersatzleistungen und vieles andere geht, Christlich-Sozialen mühsam abringen muss. Soziale Ge- können viele hier in diesem Hause von der Kanzlerin rechtigkeit und gerechte Teilhabe sind unser Herzensan- noch eine Menge lernen; liegen; das muss man uns nicht abringen. Dafür stehen wir als große Volkspartei. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1883

Dr. Ralf Brauksiepe (A) denn sie kennt sich damit aus und hat sich auch maßgeb- (Jörg Rohde [FDP]: Vor allem die Beitragszah- (C) lich darum gekümmert, dass diese Regelung zustande ler!) gekommen ist. Das Ergebnis dieses kurzsichtigen sozialen Einschnitts (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. war und ist ein erheblicher Anstieg der saisonalen Ar- Dr. Uwe Küster [SPD] – Dr. Heinrich L. Kolb beitslosigkeit in den Bauberufen und ähnlich witterungs- [FDP]: Wieso klatscht denn da jetzt auch je- abhängigen Branchen – alle Jahre wieder. Ausbaden mand bei der SPD?) müssen dies die Bauarbeiter in und , in Der Arbeitsminister sieht mich gerade an. Natürlich München und Schwerin. gilt das auch für ihn. Es wäre ja auch seltsam, wenn es Aber unter dem Strich wurden nicht nur sie, sondern nicht so wäre. wurde auch die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich be- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- lastet. In diesem langen, harten Winter wirkt sich das be- wie bei Abgeordneten der SPD) sonders negativ aus und es erschwert die Lage der ohne- hin bereits gebeutelten Beschäftigten der Bau- und Die Botschaft, die von diesem Gesetzentwurf aus- Baunebengewerke sowie der Unternehmen dieses Zwei- geht, lautet: Dieses Land hat eine gute Bundeskanzlerin. ges zusätzlich. Das Fehlen einer Schlechtwettergeldrege- Der Vizekanzler ist fast genauso gut; lung hat die Zahl der Arbeitslosen mit in die Höhe ge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – trieben. Viele Menschen stehen auf der Straße; sie Dirk Niebel [FDP]: Vor allem müssen beide erwarten zu Recht auch von der Politik eine Regelung. auch im Winter arbeiten!) Wir als Linksfraktion begrüßen, dass ein gelungenes, das ist ebenfalls eine wichtige Nachricht. Diese Bot- wenn sicherlich auch nicht ganz einfaches Gemein- schaft kommt in den Regelungen, auf die wir uns ver- schaftswerk zwischen der öffentlichen Hand, den zustän- ständigt haben, zum Ausdruck. digen Gewerkschaften sowie den beteiligten Unterneh- merverbänden zustande gekommen ist. Nach intensiven Beratungen ist ein guter Gesetzent- wurf zustande gekommen. Ich freue mich über die Zu- (Beifall bei der LINKEN) stimmung im federführenden Ausschuss und hoffe, dass wir sie auch im Parlament finden werden. Ich wünsche Das ist ein zufrieden stellendes Ergebnis, vor allem für all denjenigen, die von dem Inhalt dieses Gesetzes be- die Hauptbetroffenen: die Beschäftigten des Baugewer- troffen sind, dass es die Wirkungen entfaltet, die wir uns bes und ähnlicher witterungsabhängiger Branchen. Das gemeinsam von ihm versprechen. Ich wünsche also vor ist doch schon mal was, im Gegensatz zu anderen Pro- (B) allem all denjenigen, die in der Bauwirtschaft beschäf- jekten, mit denen hoch geschraubte Versprechen abgege- (D) tigt sind, für die nächsten Jahre viel Arbeit. ben wurden, die dann aber entweder im Sande verliefen oder die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in Ar- Vielen Dank. mut führten und ihnen ihre Bürgerrechte aberkannten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- So viel zum Stichwort Reformen. neten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Mensch, Ich danke denen, die diesen Gesetzentwurf vorberei- Ralf, du hast ja zum Schluss noch richtig Hu- tet haben. Dabei handelt es sich insbesondere um die mor entwickelt!) Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, den Zen- tralverband des Deutschen Baugewerbes und den Haupt- Präsident Dr. Norbert Lammert: verband der Deutschen Bauindustrie. Ich erteile nun das Wort der Abgeordneten Kornelia Möller, Fraktion Die Linke. (Jörg Rohde [FDP]: Hat denn die Koalition da- mit gar nichts zu tun?) (Beifall bei der LINKEN) Sie schufen im Juli vergangenen Jahres mit ihrer tarifli- chen Vereinbarung zur Weiterentwicklung der Förde- Kornelia Möller (DIE LINKE): rung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauindustrie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe die praktischen Voraussetzungen dafür, dass dieses Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder kommen Gesetz, wenn es dann beschlossen ist, erstmals im im Winter zu den Millionen Menschen ohne Arbeit noch Winter 2006/2007 wirksam werden kann. Hunderttausende hinzu und alle Jahre wieder bietet die Politik keine befriedigende Lösung dieses Problems an. Ganz wesentlich ist, dass mit dieser Regelung ein Das soll sich nun ändern. Weg beschritten wird, der sichert, dass sich beide Tarif- Ja, das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist längst partner aktiv an der Beschäftigungssicherung in ihrer überfällig und es ist nötig. Erinnern wir uns: Im Branche beteiligen. Jahre 1995 wurde das Schlechtwettergeld von der Re- Vom Gesetzgeber erwarten wir, nun unverzüglich zu gierung Kohl ersatzlos gestrichen. Eine gut funktionie- prüfen, welche weiteren Branchen in den Geltungsbe- rende Regelung fiel den Sparanstrengungen des damali- reich des vorliegenden Gesetzes einbezogen werden gen Finanzministers zum Opfer. Waigel können. befand, das Schlechtwettergeld sei zu teuer und belaste die Bundesanstalt für Arbeit über Gebühr. (Beifall bei der LINKEN) 1884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Kornelia Möller (A) Das sind bei 5 Millionen Arbeitslosen kleine Schritte, IG BAU sind von dieser Regelung allein im Bauhaupt- (C) aber immerhin weisen sie diesmal in die richtige Rich- gewerbe 400 000 Beschäftigte betroffen. tung. Trotz der hohen Zahl der betroffenen Menschen sah Die Anregungen des DGB, der eine Ausweitung auf es eine Weile so aus, als würden die Beschäftigten der weitere Branchen vorschlägt, zum Beispiel auf das Ho- Bauindustrie noch länger auf eine zufrieden stellende tel- und Gaststättengewerbe in den Saisongebieten, die Schlechtwetterregelung warten müssen. Denn während Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten, den der ersten Ausschussberatung zog Schwarz-Rot plötzlich Erwerbsgartenbau sowie den Kabel- und Freileitungs- die eingereichte Vorlage zurück. Anlass waren vermut- bau, unterstützen wir ausdrücklich. Umso mehr bedau- lich Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Regie- ern wir, dass die Regierungskoalition kurzfristig mit ei- rungslagers nem Änderungsantrag die Hürden für die dringend notwendige Einbeziehung weiterer Branchen sehr hoch (Zuruf von der LINKEN: Das war die Wirt- gelegt hat. Erst im Winter 2008/2009 soll es möglich schaftslobby!) sein – und dann ausschließlich auf Basis eines neuen Ge- – genau –, hervorgerufen durch den Widerstand der Bun- setzes und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, im Rah- desvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Im men einer Rechtsverordnung des BMA –, weitere Bran- Kern ging es dabei um den Vorwurf, die Beschäftigten chen einzubeziehen. der Bauindustrie könnten mit dem Saisonkurzarbeiter- Gestern erreichte mich eine Resolution – es ist nicht geld zu gut wegkommen. Ich empfehle den Verantwort- die einzige, aber ich führe sie exemplarisch an – von Be- lichen der BDA, sich nicht von einer neoliberalen Ideo- triebsräten und Beschäftigten der Ziegelindustrie, die um logie oder von Sozialneid leiten zu lassen, sondern sich ihre Arbeitsplätze fürchten, sollte das Gesetz sie aus- stattdessen der Realität zu öffnen. schließen. Sie schreiben ganz konkret: Das Gesetz zur (Beifall bei der LINKEN) Förderung ganzjähriger Beschäftigung könnte die Ret- tung für viele Familien sein, die sonst in das ALG II gin- Es ist also vor allem den weit fortgeschrittenen Tarif- gen. Auch sie weisen darauf hin, dass die Bundesagentur verhandlungen der Verbände der Baubranche und der für Arbeit durch die Begrenzung auf wenige Branchen IG BAU zu verdanken und damit dem gewerkschaftli- weit stärker finanziell belastet würde. Um auf Ihren Aus- chen Druck – das zu betonen, ist in dieser Zeit besonders druck zurückzukommen, Herr Brauksiepe: Eine wichtig –, dass der vorliegende Gesetzentwurf den Weg Zwangsbeglückung würden sie gerne annehmen. in die heutige Sitzung des Bundestages geschafft hat. (Beifall bei der LINKEN – Jörg Rohde [FDP]: Wir werden dem Gesetz zur Förderung ganzjähriger (B) Dazu gehören immer zwei Partner!) Beschäftigung zustimmen und wir werden uns dafür en- (D) gagieren, dass auch die Beschäftigten ähnlicher, durch Ich muss mich schon fragen: Reden Sie denn nicht saisonale Schwankungen gefährdeter Bereiche von die- mit den Menschen vor Ort, kriegen Sie so etwas nicht sen Regelungen profitieren können. mit, sprechen sie nicht mit den Leuten? Oder haben Sie keine Ahnung, haben Sie niemanden, der sich mit der Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Wir Materie auskennt? Denn es ist doch so, dass man zu- werden unseren Kampf gegen Hartz IV im Interesse al- nächst einmal nachdenken und nachfragen muss, ehe ler Menschen, die von Erwerbslosigkeit bedroht oder be- man ein Gesetz verabschiedet. troffen sind, weiter führen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die Beschäftigten der Ziegelindustrie sind nicht die Ceterum censeo: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Einzigen, die vergessen werden. Es trifft auch Beschäf- Hartz IV muss weg. tigte, die zwar saisonalen, aber keinen Witterungsein- flüssen ausgesetzt sind, zum Beispiel Künstler, vor al- Danke. lem Schauspieler und künstlerische Produktionskräfte, (Beifall bei der LINKEN) die zwischen ihren Engagements immer wieder arbeits- los sind. Auch hier müssen dringend Lösungen gefunden werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer, (Beifall bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen. Ich möchte daran erinnern, dass 2003 im Zuge von Hartz III die so genannte Anwartschaftszeitverord- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nung nach § 123 SGB III von Rot-Grün ersatzlos gestri- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben chen wurde. Alle Betroffenen, die nicht mehr als acht Ihnen von der großen Koalition bereits im Januar be- Beschäftigungsmonate pro Jahr erreichen, sind seitdem scheinigt, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf, der ein nicht mehr in der Lage, ihre Phase von witterungsbe- Saisonkurzarbeitergeld vorsieht, ein richtiges Ziel ver- dingter und/oder saisonaler Arbeitslosigkeit mit dem folgen. Wir unterstützen dieses Vorhaben ausdrücklich; Arbeitslosengeld I zu überbrücken, weil sie den dafür denn Sie greifen damit unserer Meinung nach ein Pro- nötigen Anspruch nicht mehr aufbauen können. Um ein- blem auf, das immer mehr Beschäftigte betrifft. Denn mal eine Zahl zu nennen: Nach Berechnungen der unsichere Arbeitsverhältnisse und diskontinuierliche Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1885

Brigitte Pothmer (A) Erwerbsverläufe nehmen einen immer größeren Raum in verbunden sein könnten. Ich frage Sie: Warum wollen (C) unserer Gesellschaft ein. Sie diese positiven Effekte so stark begrenzen? Das sind doch Argumente dafür, diese Maßnahme auch auf an- Damit komme ich auch schon zum eigentlichen Pro- dere Branchen auszuweiten. blem. Von solchen unsicheren Arbeitsverhältnissen sind sehr viele Menschen in sehr vielen verschiedenen Bran- Ganz offensichtlich trauen Sie Ihren eigenen Aussa- chen betroffen; sie sind kein Alleinstellungsmerkmal der gen nicht wirklich über den Weg. Wie sonst wäre dieser Baubranche. zweijährige Feldversuch, den Sie nur für die Baubranche vorsehen – das betone ich noch einmal ausdrücklich –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu verstehen? Vor 2008 dürfen sich andere Branchen Sie aber legen hier leider einen Gesetzentwurf vor, nicht bewegen; sie werden sonst erschossen. den man als Auftragsarbeit für die Bauwirtschaft, als (Jörg Rohde [FDP]: Man muss den Fehler ja eine Lex Baubranche bezeichnen kann. Die darin enthal- nicht gleich fünfmal machen!) tenen Regelungen sind explizit auf die Bauwirtschaft ausgerichtet. Es besteht nicht die Möglichkeit, die Rege- Das ist ein falscher Weg. lungen auf andere Branchen zu übertragen. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich halte Wirkungs- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ forschung ausdrücklich für richtig. Ich finde schon, dass DIE GRÜNEN) man Instrumente, die man einführt, nach einer gewissen Phase daraufhin überprüfen muss, ob sie tatsächlich die Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs beschränken sich Wirkung haben, die man sich erhofft hat. Wenn Sie die auf witterungsbedingten Arbeitsausfall in der Zeit von Wirkungsforschung aber so eng begrenzen, nämlich auf Dezember bis März und sind nur für Arbeitgeber mit die Bauwirtschaft, dann werden Sie natürlich keinerlei entsprechendem Tarifvertrag attraktiv. Das trifft auf an- Erkenntnisse darüber gewinnen, wie diese Regelung in dere Bereiche, wie im Übrigen auch im Gesetzentwurf anderen Branchen wirken wird. Es gibt dann nämlich zu lesen ist – auch Sie, Herr Brandner, haben das gerade keine Möglichkeit, zu sagen: Okay, wenn wir das und gesagt –, leider nicht zu. Beides stellt zielgerichtet auf das tun, dann hat das in der Gastronomiebranche diese die Baubranche ab. Das hat die Anhörung sehr deutlich und jene Wirkung. Sie werden nach zwei Jahren sagen gemacht. Mit ihrem Änderungsantrag hat die große Ko- können, wie sich das in der Bauwirtschaft auswirkt. Da- alition das quasi eingestanden. mit bleibt die Begrenzung aber weiterhin bestehen; denn Aber, Herr Brandner, Herr Brauksiepe, es gibt immer Erkenntnisse darüber, wie sich eine Übertragung be- mehr Bereiche, in denen solche Probleme, die schon werkstelligen lässt, werden Sie auf diese Weise nicht ge- (B) ganz richtig und ausführlich beschrieben wurden, auftre- winnen. (D) ten. In immer mehr Arbeitsfeldern wird projektbezogen Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Auf gearbeitet, zum Beispiel in der Film- und Medienindus- den Baustellen der Republik werden die Baggerfahrer trie, bei den Kulturschaffenden und immer mehr auch in und die Betonmischer eine Ehrenrunde für die große Ko- der Wissenschaft. alition drehen. Für alle anderen Branchen aber ist dieser Das Problem ist auch nicht auf die Winterarbeitslosig- Gesetzentwurf – und das trotz des Einsatzes der Kanzle- keit beschränkt; in diesem Punkt ist Ihre Annahme eben- rin – ein Meisterstück der Unentschlossenheit und Halb- falls falsch. Was ist zum Beispiel mit der Wintergastro- herzigkeit. nomie? Was ist mit bestimmten Zweigen der (Dirk Niebel [FDP]: Warum lehnen Sie dann Landwirtschaft? Denken Sie nur an die Jobs an den Ski- nicht ab und enthalten sich lieber?) liften oder in der Alm- und Gondelwirtschaft! Hier ist der Arbeitsanfall im Winter groß; die Angestellten Dafür können Sie nicht allen Ernstes eine Unterstützung bräuchten im Sommer ein Kurzarbeitergeld. All die Pro- von uns Grünen erwarten. Mehr als eine Enthaltung ist bleme, die hier beschrieben worden sind, treffen auch leider nicht drin. die Beschäftigten in diesen Bereichen. Aber denen rei- Ich danke Ihnen. chen Sie nicht die helfende Hand; denen zeigen Sie die kalte Schulter. Für Sie ist der Wetterfrosch nur von De- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zember bis März ein Risikopatient auf dem Arbeits- Dirk Niebel [FDP]: Das ist nicht unentschlos- markt. Das wird der Wirklichkeit aber leider nicht ge- sen? – Jörg Rohde [FDP]: Mehr Mut, Frau recht. Kollegin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich finde diese Regelung deshalb so überraschend, Für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentari- weil Sie in Ihrem Gesetzentwurf und in Ihrer Rede die sche Staatssekretär Gerd Andres das Wort. umfassend positiven Wirkungen beschrieben haben. Sie haben gesagt, dass durch das Kurzarbeitergeld circa Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- 25 Prozent der saisonbedingten Entlassungen vermie- nister für Arbeit und Soziales: den werden könnten. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Außerdem haben Sie gesagt, dass damit Einsparungen Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes bei der Bundesagentur für Arbeit, aber auch beim Bund zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung werden wir 1886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) die Winterarbeitslosigkeit im Baugewerbe effektiv und (Jörg Rohde [FDP]: Letzteres bleibt nur zu (C) nachhaltig bekämpfen. Dies haben sich CDU/CSU und hoffen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist SPD bereits im Koalitionsvertrag als wichtiges Projekt ein Perpetuum mobile!) vorgenommen. Nun setzen wir diesen Teil der Koali- Ich will ausdrücklich sagen, dass die Wirtschaft im tionsvereinbarung um. Damit ist klar, dass die Koalition Sektor Bau – dazu gehören für mich die Arbeitnehmer ihre Hausaufgaben erfüllt. Punkt für Punkt werden die und die Gewerkschaften genauso wie die Arbeitgeber – Dinge erledigt, die zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorbildliche Arbeit geleistet hat. Sie hat nämlich ent- notwendig sind. sprechende Tarifverträge abgeschlossen, die einen Me- Wenn man sich ausschließlich am Kalender orientie- chanismus ermöglichen, auf den ich noch eingehen ren würde, dann dürften wir uns alle miteinander freuen; möchte. denn in vier Tagen ist Frühlingsanfang. Ich gehe davon Zur Kurzarbeit muss man Folgendes wissen – das aus, dass Sie sich alle so wie ich auf wärmere Tempera- sage ich für diejenigen, die diese Diskussion verfolgen –: turen freuen und dem hoffnungsvoll entgegensehen. Die Das Instrument der Kurzarbeit gibt es auch bisher schon. meteorologische Realität sieht leider anders aus: Der Ein Unternehmen kann aus konjunkturellen Gründen für kalte Winter hat Deutschland nach wie vor fest im Griff, seine Beschäftigten Kurzarbeit anmelden, um deren Ent- was mit einem erheblichen Einfluss auf den Arbeits- lassung zu vermeiden. Ein anderer Grund können struk- markt verbunden ist. turelle Umsteuerungen sein, wenn also ein Betrieb umge- baut oder ein Standort geschlossen wird. Auch dann kann (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schuld daran ist Kurzarbeit gemacht werden. nur die SPD!) Wir erweitern nun dieses Instrument, indem wir die Durch die aktuelle Witterung wird uns noch einmal deut- Kurzarbeit auch bei saisonalen Schwankungen ermögli- lich vor Augen geführt, dass das heute zu beratende Ge- chen; das ist etwas Neues. Kurzarbeit bedeutet, dass der setz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung notwen- Arbeitgeber für die Beschäftigten, für die er Kurzarbeit dig und sinnvoll ist. Die Bundesregierung will damit die beantragt und die Kurzarbeit machen, die Sozialversi- Winterarbeitslosigkeit effektiv und nachhaltig bekämp- cherungsbeiträge in vollem Umfang zahlen muss. Das fen. hat natürlich zur Folge, dass sich viele Betriebe überle- gen, ob sie überhaupt Kurzarbeit anmelden. Das hätte Wie ist die Situation bisher? Allein für den Baube- nämlich zur Folge, dass die Arbeitnehmer nicht arbeiten, reich kann man feststellen, dass es Jahr für Jahr im Win- der Arbeitgeber aber die Sozialversicherungsbeiträge ter etwa 140 000 bis 150 000 Menschen gibt, die im No- Monat für Monat abführen muss. (B) vember entlassen werden und denen man sagt: Melde (D) dich arbeitslos. Im April, wenn die Saison losgeht, stelle Die Bauwirtschaft hat es nun durch tarifvertragliche ich dich wieder ein. – Die Folge ist, dass die Arbeitslo- Vereinbarungen ermöglicht, dass dem Arbeitgeber, der senversicherung alle Kosten für diese Arbeitslosen zu für seine Beschäftigten Kurzarbeit anmeldet, die dafür tragen hat – die Sozialversicherungsbeiträge, das Ar- anfallenden Sozialversicherungsbeiträge durch ein Um- beitslosengeld und alles, was damit zusammenhängt –, lagesystem erstattet werden. Das ist ein Instrument der sie der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt in Wahrheit Solidarität; denn alle Unternehmer, auch diejenigen, bei aber überhaupt nicht zur Verfügung stehen, weil sie sich denen es keine Kurzarbeit gibt, müssen in dieses System darauf verlassen, dass ihr ehemaliger Arbeitgeber sie einzahlen, damit denjenigen, die Kurzarbeit anbieten, wieder einstellt. Sie schlagen dieses Angebot nur aus, die anfallenden Sozialversicherungsbeiträge erstattet wenn sie eine bessere Beschäftigung finden. werden können. Nur so ist Kurzarbeit für Arbeitgeber at- traktiv. Diesen Zustand wollen wir ändern. Ziel ist, dass die Für die Arbeitnehmer gibt es Arbeitszeitkonten. Ich Betriebe ihre Beschäftigten nicht entlassen. Dafür wol- will hier noch einmal ausdrücklich sagen: Diese Arbeits- len wir ein neues Instrument anbieten. Damit wollen wir zeitkonten gibt es in der Bauwirtschaft schon länger. Bis- vor allem zwei Dinge erreichen: Wir wollen, dass die her war es so, dass der Arbeitnehmer, bevor er das Wet- Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitnehmerinnen und terausfallgeld in Anspruch nehmen konnte, 30 Stunden Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft stabilisiert werden, durch sein Kontingent abgelten musste. Von der 31. bis und wir wollen die tariflichen Ansätze zur Arbeitszeit- zur 100. Stunde musste der Arbeitgeber zahlen und ab flexibilisierung und die ganzjährige Beschäftigung durch der 101. Stunde sprang dann die Bundesagentur für Ar- gesetzliche Maßnahmen besser als bisher flankieren. beit ein. Dies wird jetzt durch das Umlagesystem in der Wir sind überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg Bauwirtschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ge- zahlt. Die Arbeitnehmer erhalten für jede Stunde, die sie sind; denn von der ganzjährig sicheren Beschäftigung im Winter bei schlechtem Wetter leisten, für die also profitieren alle. Der Bauarbeiter profitiert davon, weil Kurzarbeit nicht in Anspruch genommen wird, auf den ihm nicht gekündigt wird und er seine Arbeit behält. Der Stundenlohn einen Zuschlag von 2,50 Euro. Betrieb profitiert davon, weil er seine Beschäftigten nicht entlassen muss und so auch auf kurzfristige Auf- Die Bundesregierung und die Tarifvertragsparteien träge reagieren kann. Auch die Bundesagentur für Ar- sind sich darüber einig, dass die gefundene Lösung für beit, also die Arbeitslosenversicherung, profitiert davon, die Arbeitnehmer attraktiv ist und nicht dazu führen weil damit die Kosten sinken. wird, dass Kurzarbeit leichtsinnig angemeldet wird, son- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1887

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) dern dass die vorhandenen Arbeitszeitkonten der Arbeit- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na ja!) (C) nehmer im Winter eingesetzt werden, weil das auch für die betroffenen Arbeitnehmer eine attraktive Alternative Das soll auch beim neuen Saisonkurzarbeitergeld gelten. ist. Deswegen sollten wir, statt weitere bürokratische Hür- den aufzubauen, für ein unbürokratisches Verfahren sor- Die Bundesregierung wünscht sich – das hat sie auch gen. im Gesetzentwurf, der im Kabinett beschlossen wurde, festgelegt –, dass diese Möglichkeit auch auf andere (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ Branchen übertragen wird. Herr Dr. Brauksiepe hat das CSU]) in seiner Rede ausdrücklich auch für die Union erklärt. Ich komme nun zu meinem Anfangsgedanken zurück. Ich bin Herrn Dr. Brauksiepe, Klaus Brandner und den Noch ist es Winter, auch am Arbeitsmarkt. Aber – auch Koalitionsfraktionen außerordentlich dankbar. die Medien berichten darüber – der Frühling ist bereits Wenn sich das Instrument als wirkungsvoll erweist zu spüren. Er ist auch am Arbeitsmarkt zu spüren. Ich – es wird über zwei Winterabschnitte hinweg in seiner fordere Sie ausdrücklich auf: Helfen Sie mit, dass der Wirkung erprobt und evaluiert –, dann wollen wir die Gesetzentwurf – es gibt schließlich eine breite Zustim- Möglichkeit schaffen, dass es auch von anderen Bran- mung dazu – mit den Tarifvertragsparteien zügig in die chen genutzt werden kann. Praxis umgesetzt werden kann! Mein ausdrücklicher Dank gilt Frau Falk, Herrn Dr. Brauksiepe, Klaus (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Brandner und den Kolleginnen und Kollegen meiner CDU/CSU) Fraktion, – Deswegen stelle ich an meine Vorrednerin Frau Pothmer (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und wir? Krie- gewandt ausdrücklich fest: Es stimmt nicht, dass andere gen wir keinen Dank? Undankbar ist das!) erschossen werden, sobald sie sich bewegen. Was ist das übrigens für eine militärische Ausdrucksweise für eine Grüne? Ich muss schon sehr bitten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Staatssekretär, Sie können nicht alle namentlich (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Grünen sind so aufführen. militant!) Das stimmt nicht. Ich fordere vielmehr die anderen Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Branchen auf: Machen Sie Ihre Hausaufgaben und treten minister für Arbeit und Soziales: Sie in Verhandlungen ein! Die Maler und Lackierer ha- – dass sie mitgeholfen haben, dass wir diesen Gesetz- ben das getan. Für andere gilt das genauso. Denn es sind (B) entwurf heute beschließen können. (D) tarifliche Regelungen notwendig, damit man das Instru- ment nutzen kann. Darauf müssen sie vorbereitet sein. Herzlichen Dank. Ich bin durchaus hoffnungsvoll. Wir probieren das In- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten strument in zwei Winterperioden – nämlich im Winter der CDU/CSU) 2006/2007 und 2007/2008 – aus. Dann wird im Jahr 2008 für die Periode 2008/2009, also interessanterweise Präsident Dr. Norbert Lammert: vor der Bundestagswahl, vom Gesetzgeber – es liegt in Peter Rauen ist der nächste Redner für die CDU/ den Händen des Gesetzgebers, also der Mehrheit dieser CSU-Fraktion. Regierungskoalition – zu prüfen sein, ob es für andere Branchen geöffnet werden soll. Peter Rauen (CDU/CSU): Wenn wir Erfolg haben, dann werden wir das Instru- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ment für andere Branchen öffnen und dann müssen diese Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits bei Branchen ihre Vorarbeit geleistet haben. Deswegen for- der Einbringung des Gesetzentwurfs haben alle im dere ich alle, die Interesse haben, auf: Kommt in die Pu- Hause deutlich gemacht, dass es uns ein großes Anliegen schen und schafft entsprechende Umlagesysteme und ist, ganzjährige Beschäftigung in witterungsabhängigen Arbeitszeitkonten! Dann kann man dieses System wun- Branchen zu schaffen. Unser Arbeitsminister, Herr derbar nutzen und es wird allen nutzen, die von saisona- Müntefering, hat gesagt, dass das keine Zwangsveran- len Beschäftigungsschwankungen betroffen sind. staltung für die eine oder andere Branche sein soll, son- dern ein Angebot für die Tarifparteien auf beiden Seiten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich glaube, wir haben nach einer intensiven Beratung, Ich komme zu einem letzten Gedanken. Es ist wahr: wie sie im Parlament selten stattfindet, erreicht, dass mit Wir haben etwas Zeit verloren. Wir hätten das Vorhaben dem Gesetzentwurf diese Vorgabe unseres Arbeitsminis- früher umsetzen müssen. Dazu waren Verhandlungen ters auch erfüllt wird. notwendig. Ich habe die Hoffnung und bitte darum, dass Der Vorwurf, dass die Regelung nur für die Baubran- der Gesetzentwurf im Bundesrat zügig beraten und um- che gilt, geht meiner Meinung nach ins Leere, weil das gesetzt wird. Gesetz zurzeit nur für diese Branche angewandt werden Mein zweiter Wunsch ist, dass wir das Gesetz mög- kann; denn die anderen Tarifparteien haben noch keine lichst unbürokratisch umsetzen. Der Bundesregierung ist Regelungen getroffen, die die Anwendung dieses Geset- es ernst mit dem Thema Bürokratieabbau. zes ermöglichen. 1888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Peter Rauen (A) Wenn jetzt zum Beispiel die Land- und Forstwirt- allen bisherigen Regelungen zur Winterbauförderung (C) schaft, die Baustoffindustrie, das Maler- und Lackierer- Wirkung haben wird und dass die Zahl der durch Witte- handwerk und das Steinmetz- und Bildhauerhandwerk rung und Arbeitsausfall bedingten Entlassungen erheb- Überlegungen anstellen, wie sie mit dem Gesetz in ihren lich zurückgehen wird. Branchen ganzjährige Beschäftigung ermöglichen kön- nen, dann kann durch die Evaluierung – also nach zwei Es dürfen aber keine Fehlanreize entstehen, weil Winterperioden – festgestellt werden, ob das Gesetz die sonst das Gesetz ins Leere geht; das ist ein ganz wichti- gewünschte Wirkung erbracht hat, um es gegebenenfalls ger Punkt. In der Anhörung ist darauf hingewiesen wor- auf andere Branchen ausdehnen zu können. den, dass etwa 70 Prozent der Baufirmen Arbeitszeit- konten führen und dass davon wiederum die große Frau Pothmer, Sie haben gesagt, das Gesetz sollte Mehrheit in den letzten Jahren gar kein Winterausfall- auch für Branchen gelten, in denen im Winter Hauptsai- geld benötigt hat. Man hat bis zu 150 Stunden vorgear- son ist und im Sommer saisonbedingt Kurzarbeit erfor- beitet und ist damit – einschließlich Urlaub – über den derlich ist. Das lässt der Gesetzentwurf – mit ganz klei- Winter gekommen. Das heißt, diese Firmen müssen auch nen Änderungen – zu. Aber es ist wichtig, dass alle in Zukunft so handeln, weil mit dieser Flexibilisierung erkennen, dass dieses Gesetz seinen Zweck erfüllt. ein hohes Maß an Produktivität erreicht worden ist. Das ist ein entscheidender Punkt. Ich will deutlich machen, wie sich die nun geplanten Regelungen betreffend die Förderung ganzjähriger Be- Nach dem Gesetz zahlen Arbeitnehmer 0,8 Prozent schäftigung von den bislang im Baugewerbe geltenden und Arbeitgeber 1,2 Prozent in die Kasse ein. Wer ein- unterscheiden – Ähnliches gibt es, angefangen mit dem zahlt, der will irgendwann auch etwas herausbekommen. Schlechtwettergeld, seit Anfang der 80er-Jahre, wie es Die Firmen, die bereits ganzjährige Beschäftigung auf Herr Andres soeben geschildert hat –, damit das Gesetz freiwilliger Basis erreicht haben – das sind die meisten –, erfolgreich wird und damit sich die Bauarbeiter im Win- dürfen wir nicht bestrafen. Es ist daher äußerst wichtig, ter nicht mehr arbeitslos melden müssen. Zurzeit ist es dass den Bauarbeitern für jede ausgefallene Arbeits- so, dass jedes Jahr von Dezember bis März circa stunde, zu deren Ausgleich sie ihre Arbeitszeitkonten, 280 000 Bauarbeiter arbeitslos werden, davon etwa für die sie im Sommer vorgearbeitet haben, einsetzen, 140 000 witterungs- und auftragsbedingt. Nach den bis- um Winterarbeitslosigkeit zu vermeiden, 2,50 Euro lang geltenden Regelungen müssen die Arbeitnehmer steuer- und sozialversicherungsfrei gezahlt werden. Das selber 30 Stunden auf ein Arbeitszeitkonto einbringen, bedeutet, dass ein Bauarbeiter, der 150 Stunden vorgear- bevor sie Winterausfallgeld bekommen. Die Unterneh- beitet hat und sich diese Überstunden im Sommer nicht men haben in die Sozialkasse des Baugewerbes einge- auszahlen lässt, im Winter mit 375 Euro netto zusätzlich (B) zahlt, um die Kosten des Winterausfallgeldes und die belohnt wird. Dieser Bauarbeiter bekommt des Weiteren (D) Sozialversicherungsbeiträge von der 31. Stunde bis zur ein Mehraufwandswintergeld in Höhe von 1 Euro pro 100. Stunde erstattet zu bekommen. Ab der 101. Stunde geleistete Arbeitsstunde in der Zeit vom 15. Dezember hat eine Regelung gegriffen, wie wir sie nun in etwa vor- bis zum letzten Kalendertag des Monats Februar. Da- haben, nämlich dass der Unternehmer seinen Mitarbei- durch kann er noch einmal – bis maximal 450 Stunden, tern die Ausfallstunden in Höhe des Arbeitslosengeldes die man eigentlich nicht erreichen kann – zusätzlich bezahlt. Allerdings muss er bislang die Sozialversiche- circa 100 bis 250 Euro netto bekommen. Das ist für je- rungsbeiträge ab der 101. Stunde aus eigener Tasche manden, der ein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im zahlen. Das hat dazu geführt, dass sich viele Unterneh- Jahr hat und netto 21 000 Euro ausgezahlt bekommt, mer bereits im August bzw. September sorgenvoll ge- eine ganze Menge Geld. fragt haben, wie sie finanziell über den Winter kommen sollen. Ich gehe davon aus, dass die Unternehmer, die jetzt flexibilisiert haben, auch in Zukunft bereit sind, zu flexi- Für diese Unternehmer ändert sich generell etwas er- bilisieren, weil es diesen Anreiz gibt, und dass diejeni- heblich; denn es gilt demnächst, dass die Arbeitnehmer gen, die in die Kasse einbezahlen, ohne dass sie Kurzar- von Dezember bis März ab der ersten Ausfallstunde beitergeld in Anspruch nehmen, sich so wie bisher Saisonkurzarbeitergeld bekommen, und zwar nicht nur verhalten werden. Anders verhält es sich mit denen, die bei schlechtem Wetter, sondern auch bei einer vermin- das nicht über Arbeitszeitkonten organisieren konnten. derten Auftragslage, die in der Regel mit der schlechten So lässt zum Beispiel die Region, in der eine Firma be- Witterung im Winter einhergeht. Den Unternehmern heimatet ist, das nicht immer zu. Ich weiß, wovon ich werden alle Kosten im Zusammenhang mit den Sozial- rede. Mein Betrieb ist in der Eifel. Ob ich früher eine versicherungsbeiträgen durch die Sozialkasse des Bau- Baustelle in Bitburg oder an der Mosel hatte, machte gewerbes erstattet. Sie haben also kein individuelles Ri- beim Schlechtwettergeld einen Unterschied von zehn bis siko mehr zu tragen, wenn sie die Bauarbeiter im Winter 20 Tagen aus. Es gibt also regionale Unterschiede. weiterbeschäftigen. Ich glaube, dass dieses Gesetz im Endergebnis wirk- Diese Botschaft ist wichtig: Die Unternehmer können lich seinen Zweck erfüllen wird. Wir haben wesentliche zusammen mit ihren Belegschaften dem Winter sorgen- Veränderungen vorgenommen. Wir sollten stolz darauf frei entgegensehen; denn wenn es schlechtes Wetter gibt sein, dass wir das gemeinsam geschafft haben. bzw. die Arbeit ausgeht, dann können die Unternehmer ohne individuelles Risiko auf das Saisonkurzarbeitergeld (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zurückgreifen. Ich bin sicher, dass das im Gegensatz zu neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1889

Peter Rauen (A) Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir in den Gesetz- In den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass die Präzenz (C) entwurf geschrieben haben, dass derjenige, der ein Ar- im Plenum bei den Debatten am Donnerstagvormittag beitszeitkonto einbringt, um über den Winter zu kom- alles andere als den Kernzeitdebatten angemessen wa- men, erst dann Kurzarbeitergeld bekommt, wenn die ren. Um zukünftig mehr Präsenz zu erreichen, beantrage Stunden in der Schlechtwetterzeit eingebracht sind. Die ich namens meiner Fraktion, dass wir die Abstimmung Firmen, die keine Vereinbarungen getroffen haben, sind zu dem jetzt debattierten Gesetzentwurf in der dritten davon nicht berührt. Es liegt aber in der Natur des Unter- Lesung namentlich durchführen. Ich bitte meine Kolle- nehmers, dass er produktiv arbeiten will. Wenn er es ge- ginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen dafür schafft hat, zu flexibilisieren, dann wird er das auch bei- um Verständnis. Das bringt durchaus einige Unbequem- behalten. Wichtig ist, dass seine Mitarbeiter aufgrund lichkeiten mit sich, was nicht zu vermeiden ist. Sie ha- des neuen Gesetzes nicht die Dummen sind und über die ben aber, so glaube ich, durchaus Verständnis dafür, weil 2,50 Euro hinaus 1 Euro zusätzlich pro geleistete Stunde wir hier in der Vergangenheit in der Kernzeit vor fast im Winter bekommen. Das ist aus meiner Sicht für den leerem Saal debattiert haben. Das erklärt diesen Antrag. Erfolg des Gesetzes die entscheidende Regelung. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Ich sage ebenso wie Ralf Brauksiepe: Wenn das, was wir erhoffen, eintritt und wir in zwei Jahren feststellen, (Dr. [FDP]: Das ist ja pein- dass dieses neue Gesetz kostenneutral ist und es die lich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Zu- Lohnzusatzkosten nicht erhöht, dann werden wir als Par- ckerbrot entfällt, jetzt gibt es nur noch die Peit- lament überhaupt kein Problem damit haben, diese Re- sche!) gelung auf andere Branchen zu übertragen. Lassen Sie uns diese zwei Jahre Erfahrung sammeln! Wir tun alle Präsident Dr. Norbert Lammert: gut daran; denn nicht immer verhalten sich die Men- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu fällt manchem schen so, wie wir als Politiker das gerne hätten. manches ein. Das kann bei anderer Gelegenheit noch einmal ausgetragen werden. Ich will jetzt nur darauf auf- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das merksam machen, dass eine namentliche Abstimmung Leben!) nach § 52 unserer Geschäftsordnung stattfinden muss, Umgekehrt ist es übrigens genauso. Auch wir verhalten wenn eine Fraktion dies beantragt. Ich sage das, damit uns nicht immer so, wie die Menschen es gerne hätten. sich alle darauf einstellen können. Das liegt in der Natur der Sache. Nach zwei Jahren ha- Herr Kollege Küster, im Übrigen gehe ich davon aus, ben wir die Erfahrung. Dann, Frau Pothmer, geht der dass Sie die Schriftführer frühzeitiger als das Präsidium Vorwurf, das sei nur eine Sache für das Baugewerbe, ins (B) unterrichtet haben, damit sichergestellt ist, dass die na- (D) Leere. Dort geht es um rund 700 000 Mitarbeiter in mentliche Abstimmung mit einer hinreichend ordentli- Deutschland. Aber in allen saisonabhängigen Branchen chen Besetzung der entsprechenden Abstimmungsurnen sind 2,5 Millionen Menschen beschäftigt. Wenn wir da durchgeführt werden kann. eine ganzjährige Beschäftigung ermöglichen, dann ist das sinnvoll für alle. Ich finde, der Gesetzentwurf ist gut. (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ Wir sollten ihn mutig vertreten und die Botschaft sen- CSU]) den: Leute, ihr könnt mit eurer Belegschaft über den Nun hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP- Winter kommen. – Dann werden wir auch weniger Ent- Fraktion das Wort. lassungen im Winter haben. Schönen Dank. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss sagen – auch ich bin schon einige Zeit Abgeordne- neten der SPD) ter in diesem Parlament –: Herr Küster, ich habe wieder- holt erlebt, dass Mitglieder der Bundesregierung herbei- Präsident Dr. Norbert Lammert: zitiert werden; aber dass die Parlamentsabgeordneten Bevor der Kollege Kolb das Wort erhält, erteile ich herbeizitiert werden, ist wirklich ein Novum dem Kollegen Küster das Wort zur Geschäftsordnung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des Dr. Uwe Küster (SPD): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr und zeigt, wie die Verhältnisse in Ihren Reihen anschei- Präsident! Wir sind in einer Kernzeitdebatte und die Prä- nend zu bewerten sind. senz in dieser Kernzeitdebatte – diesen Vorwurf richte ich besonders an die eigene Fraktion – ist nicht überzeu- Zu dieser Debatte lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt gend. Wir haben uns vor mehreren Jahren darauf ver- zusammenfassend sagen, dass es so aussieht, als wenn ständigt, dass in der Kernzeit wichtige Debatten für die eine breite Mehrheit diesen Gesetzentwurf in der verän- Politik in Deutschland zu führen sind. derten – ich füge hinzu: in der verbesserten – Form ver- abschieden wird. Bei aller Begeisterung über sich selbst, (Zuruf von der FDP: Wer ist denn bei Ihnen die die große Koalition hier an den Tag gelegt hat: Ich Geschäftsführer?) finde, ein Grund zur Selbstzufriedenheit besteht nun 1890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) wahrlich nicht. Denn das, was wir heute verabschieden, den sehr genau beobachten, wie sich diese Regelung in (C) ist nur ein recht kleiner Schritt für die Betroffenen. Herr der Praxis auswirkt. Kollege Brandner, es werden bei weitem nicht alle in den Genuss dieser neuen Regelung kommen. Wenn am Vielen Dank. Ende 40 000 bis 50 000 Menschen von dieser neuen Re- (Beifall bei der FDP) gelung profitieren und wenn ihnen Arbeitslosigkeit er- spart bleibt, dann wäre das sicherlich als Erfolg anzuse- Präsident Dr. Norbert Lammert: hen. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Vor diesem Hintergrund finde ich es schon bemer- Kollege Andreas Steppuhn für die SPD-Fraktion. kenswert, Herr Brauksiepe, dass der Kollege Rauen sagte, es seien die intensivsten Verhandlungen gewesen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt heißt es fili- an die er sich erinnern kann. Wenn Sie sich bei einer ver- bustern, Herr Kollege!) gleichsweise kleinen Maßnahme schon so anstrengen müssen, dann darf man allerdings gespannt sein, wie es Andreas Steppuhn (SPD): bei den wirklich wichtigen Vorhaben dieser Legislatur- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- periode – beim Tarifvertragsgesetz, beim Kündigungs- ren! Ich habe Herrn Küster, als er die namentliche Ab- schutz und bei der Reform der sozialen Sicherungssys- stimmung beantragt hat, so verstanden, dass er die Be- teme – aussehen wird. deutung dieses Gesetzentwurfs, der heute Vormittag in der Kernzeit debattiert wird, zum Ausdruck bringen (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus möchte. So sollten wir diesen Antrag verstehen. Brandner [SPD]: Sie kennen doch die Koali- tionsvereinbarung, Herr Kolb!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben gesagt, es solle niemand gegen seinen Wil- Ich habe nichts dagegen, dass Herr Brauksiepe für len in diese Regelung einbezogen werden. Diese Forde- seine Fraktion hier hervorhebt, dass in der CDU manch- rung hat einen Hintergrund: Wir alle haben Schreiben mal die besseren Sozialdemokraten wären. Herr aus dem Bereich der Trockenbauer, der Baustoffindus- Brauksiepe, zur Klarheit gehört aber sicherlich, auch trie, des Hotel- und Gaststättengewerbes und des Einzel- deutlich zu machen, dass es die CDU/CSU-Fraktion am handels bekommen. Wir möchten also, dass nur diejeni- Anfang der Beratung des Gesetzentwurfs gewesen ist, gen, die das wirklich wollen, einbezogen werden. Das ist die die Frage der Mitbestimmung von Betriebsräten keine Schikane, sondern hat einen ganz konkreten Hin- beim Saisonkurzarbeitergeld sehr wohl thematisiert hat. tergrund. Die Messlatte für den Erfolg dieser Neurege- (B) (D) lung ist, dass sie mindestens kostenneutral ist. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Entscheidend für das Erreichen der Kostenneutrali- tät ist die Mitwirkung der Tarifparteien; denn Sie haben Von daher kann man schon sagen, dass die Mitbestim- darauf verzichtet, in diesem Gesetz festzulegen, dass Ar- mung in dieser Frage in den Ausschüssen eine Rolle ge- beitszeitguthaben aufgebaut werden müssen. Ab dem spielt hat. zweiten Winter nach In-Kraft-Treten dieser Regelung Ziel des Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Be- wird es sehr spannend sein, zu sehen, ob es tatsächlich schäftigung – dieses Zukunftsmodells – ist es, einen noch Arbeitszeitguthaben gibt. Wir befürchten, dass im wesentlichen Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeits- ersten Winter vorhandene Arbeitszeitguthaben einge- losigkeit und zur Verstetigung der Beschäftigungsver- bracht werden und dass die Bundesagentur im zweiten hältnisse im Baugewerbe zu leisten. Der vorliegende Ge- Winter sehr viel stärker belastet wird. Das wäre aus un- setzentwurf ist in einer so genannten Triparität zwischen serer Sicht in der Tat problematisch. Wir fordern also die dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und So- Mitwirkung der Tarifparteien. Das bedeutet im Ergebnis, ziales und den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes dass dieses Gesetz nur für diejenigen Branchen gelten erarbeitet worden und wird einen wichtigen Beitrag dazu sollte, die ihm zustimmen. leisten, dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden (Beifall bei der FDP) werden kann. Man sollte die Missbrauchsgefahren auch bei der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verkettung – beispielsweise Saisonkurzarbeitergeld im Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich Anschluss an eine viermonatige Tätigkeit und Erwerb bei ihrer Tarifpolitik im Ergebnis auf ein umlagefinan- der Ansprüche auf Arbeitslosengeld I – nicht ausblen- ziertes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeit- den. Wenn ich an Hartz IV denke, dann fällt mir ein, nehmer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren. dass wir in der jüngeren Vergangenheit wirklich haben erleben müssen, dass gut gemeinte Regelungen in der Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir Praxis zu sehr viel höheren Ausgaben geführt haben. davon ausgehen, dass die Winterarbeitslosigkeit in der Das muss hier vermieden werden. Bauwirtschaft bereits im kommenden Winter spürbar ge- senkt werden kann. Dies kann nur in unser aller Interesse Da wir die Evaluierungsklausel im Gesetzentwurf sein. unterbringen konnten und da er auf die Baubranche be- schränkt ist, können wir ihm zustimmen. Aber wir wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1891

Andreas Steppuhn (A) Die zukünftige Förderung wird in das System des sich für dieses Gesetz engagiert haben; das ist eine gute (C) Kurzarbeitergeldes integriert. Das bedeutet, das neue Sache. Saisonkurzarbeitergeld wird nunmehr auch bei einem saisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Wichtig ist Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. auch, zu betonen, dass durch den Fortbestand der Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schäftigungsverhältnisse die Arbeitsagenturen durch ent- der CDU/CSU) fallende Arbeitslosmeldungen und damit entfallende Be- arbeitung von Leistungsanträgen in erheblichem Maße entlastet werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Die Beratung im federführenden Ausschuss für Ar- beit und Soziales, aber auch die Anhörung haben dazu Wir kommen zur Abstimmung über den von den geführt, dass die CDU/CSU-SPD-Koalition gemeinsam Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten die Ihnen vorliegenden Änderungen eingebracht hat. Ein Gesetzentwurf zur Förderung ganzjähriger Beschäfti- nicht unwesentlicher Punkt ist hierbei die Ausweitung gung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt auf andere Branchen, die zunächst ausgeklammert in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/971, wurde. Vorerst wollen wir aber die Entwicklung nach den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- der Neuregelung im Baugewerbe, verbunden mit einem men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Evaluierungsprozess, abwarten. Das heißt aber nicht Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- – das ist schon deutlich gemacht worden –, dass wir an- chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der dere Branchen ausschließen wollen; nach wie vor wird Stimme? – Dann ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung von uns gewünscht, dass auch andere Branchen zukünf- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit der Zu- tig von einem derartigen Saisonkurzarbeitergeld profitie- stimmung aller übrigen Fraktionen in zweiter Beratung ren. angenommen. Ich denke hierbei insbesondere an die Branchen, die Wir kommen zur in ihrem Bereich das Problem der schlechten Auftrags- lage oder witterungsbedingter Ausfälle bislang durch dritten Beratung eine so genannte eintägige Kündigungsfrist, wie das zum und Schlussabstimmung. Hierzu ist namentliche Ab- Beispiel im Maler- und Lackiererhandwerk der Fall ist, stimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und regeln. Da löst man schon heute die Kostenfrage im Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und Prinzip zulasten der Bundesagentur für Arbeit, indem mir vielleicht einen Hinweis zu geben, wenn diese Be- dieses Risiko auf die BA verlagert wird. (B) setzung überall erfolgt ist. – Das scheint jetzt der Fall zu (D) Daher gilt hier das Motto „Aufgeschoben ist nicht sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. aufgehoben“, sondern im Gegenteil: Die Erfahrungen Ich bitte um Nachsicht, dass wir für die Abstimmung im Baugewerbe werden uns ermöglichen, dieses Modell ein bisschen mehr Zeit einräumen müssen. Denn auch zukünftig passgenau auf andere Branchen zu übertragen. diejenigen Abgeordneten, die jetzt im Foyer hektische Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens gab es Laufbewegungen vollführen, sollen noch rechtzeitig die auch Vorschläge für Inhalte, die im Tarifvertrag für das Urnen erreichen. Baugewerbe eindeutig geregelt sind – das möchte ich an Bevor ich die Abstimmung schließe, würde ich mich dieser Stelle betonen –, und zwar mit dem Ziel, Kosten- gerne wegen der für manche nicht absehbaren Abstim- belastungen zuungunsten der Beschäftigten zu verschie- mungslage bei den Parlamentarischen Geschäftsführern ben. Ebenso wurde vorgeschlagen, Vorausleistungen der vergewissern, ob irgendjemand Informationen darüber Arbeitnehmer im Rahmen der Arbeitszeitflexibilisie- hat, dass noch Kollegen unterwegs sind. rung, sprich: der Arbeitszeitkonten, gesetzlich zu veran- kern. Dazu sage ich an dieser Stelle deutlich: Die Vo- (Zurufe: Ja, es sind noch welche unterwegs!) rausleistungen der Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber sind bereits per Tarifvertrag im Rahmen eines Umlage- – Auch ich sehe dahinten noch jemanden laufen. verfahrens über die Sozialkassen des Baugewerbes gere- Ich frage noch einmal, ob noch Kolleginnen oder Kol- gelt, sodass sich das Gesetz nunmehr darauf beschränkt, legen im Saal sind, die ihre Stimmkarte nicht abgegeben zu beschreiben, wofür angesparte Stunden verwandt haben, bzw. ob noch jemand von Kollegen weiß, die sich werden müssen. Alles andere hätte auch einen Eingriff auf dem Wege befinden und denen wir die Chance geben in die Tarifautonomie bedeutet. sollten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. – Ich er- Die CDU/CSU-SPD-Koalition setzt mit der Verab- halte keine entsprechenden Hinweise. Dann schließe ich schiedung des heute vorliegenden Gesetzentwurfs ein hiermit die Abstimmung. deutliches Signal für eine Verstetigung der Beschäfti- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit gungsverhältnisse im Baugewerbe, auf das die Arbeit- der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- nehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft mung werden wir Ihnen wie immer später bekannt ge- lange gewartet haben. Gerade wir als sozialdemokrati- ben.1) sche Bundestagsfraktion erwarten, dass Winterarbeitslo- sigkeit ab sofort vermieden werden kann, wie es das er- klärte Ziel dieses Gesetzentwurfs ist. Ich danke allen, die 1) Ergebnis Seite 1894 C 1892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Für den nächsten Tagesordnungspunkt kann ich ver- Das sind wahrscheinlich die zwei Drittel, die Steuern (C) lässlich zusagen, dass er nicht mit einer namentlichen zahlen; das restliche Drittel wird davon nicht berührt Abstimmung beginnt. Also mögen bitte all diejenigen, sein. Das heißt, nahezu alle Steuerzahler in Deutschland die sich nun wieder in anderen Gremien zusammenfin- halten das Steuerrecht für ungerecht. Es geht für den den müssen, den Saal räumen, damit wir die für die an- Deutschen Bundestag, den Gesetzgeber, darum, durch schließende Debatte notwendige Konzentration haben. ein neues einfaches, gerechtes Steuerrecht ohne Ausnah- men das Vertrauen der Bürger in einen fairen Steuer- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wo ist denn staat zurückzugewinnen. der Finanzminister? Die Regierungsbank ist mächtig besetzt!) (Beifall bei der FDP) Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der De- Das ist das Ansinnen der FDP. Wir sind überzeugt da- batte teilnehmen wollen, bitten, sich auf den hinreichend von, dass man das mit solch einem ehrgeizigen Vorhaben vorhandenen Plätzen niederzulassen! besser leisten kann als Sie mit Ihren vielfältigen Steuer- erhöhungen: 3 Prozent Mehrwertsteuererhöhung, 3 Pro- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So, jetzt zitie- zent Versicherungsteuererhöhung, 3 Prozent Einkom- ren wir die Regierung!) mensteuererhöhung. Damit zerstören Sie das Vertrauen Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf: der Bürger weiter, dämmen die Nachfrage der Bürger ein und schaden der Konjunktur und der Beschäftigung. Erste Beratung des von den Abgeordneten (Beifall bei der FDP) Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Volker Wissing, weiteren Abgeordneten und Wir sind der Überzeugung, dass das deutsche Steuer- der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- recht, so wie es heute vorliegt, gar nicht mehr reformier- nes Gesetzes zur Reform der direkten Steuern bar ist. Man muss einen neuen Ansatz finden und sich dabei an die Vorgaben unserer freiheitlichen Verfassung – Drucksache 16/679 – halten. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Innenausschuss Sportausschuss Nur um Ihnen die Dimension der drastischen Ver- Rechtsausschuss einfachung aufzuzeigen, die wir durchführen wollen, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie möchte ich daran erinnern, dass der heutige einschlägige Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Gesetzestext in der beckschen Loseblattsammlung etwa Verbraucherschutz 475 Seiten umfasst. Unser Alternativentwurf konzen- (B) Verteidigungsausschuss (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend triert das ganze Steuerrecht auf 33 Seiten. Schon daran Ausschuss für Gesundheit wird deutlich, wie dramatisch diese Vereinfachung ist. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Wichtig ist aber, dass wir die Grenzen und den Rah- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO men einhalten, die unsere freiheitliche Verfassung vor- gibt und die das deutsche Steuerrecht schon lange hinter Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen für sich gelassen hat. Nach meiner Überzeugung ist das die Aussprache 90 Minuten vorgesehen werden. – Dazu deutsche Steuerrecht allein schon deshalb verfassungs- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. widrig, weil das, was im Namen des Souveräns, des Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- deutschen Volkes, erlassen worden ist, für die Angehöri- nächst dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms. gen des deutschen Volkes völlig unverständlich ist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Wie können wir von den Bürgern verlangen, ein Steuer- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): recht, das darüber hinaus auch noch strafsanktioniert ist, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die einzuhalten, wenn sie gar nicht in der Lage sind, das FDP legt Ihnen, dem Deutschen Bundestag, heute ein Steuerrecht insgesamt zu verstehen und richtig anzuwen- Konzept für ein völlig neu formuliertes Steuerrecht vor. den? Weder die Steuerberater noch die Steuerverwaltung Es ist das erste Gesamtkonzept zur Reform der direkten beherrschen das Steuerrecht. Man weiß nicht mehr, wie Steuern, also der Steuern auf Einkommen und Gewinn, man das Steuerrecht anwenden soll. Deswegen brauchen das bereits als Gesetzestext vorliegt und damit direkt in wir hier mehr Klarheit. die parlamentarischen Beratungen Eingang finden kann. Wir müssen uns daher an die Vorschriften des In der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemei- Grundgesetzes erinnern. Art. 20 Abs. 2, Demokratie- nen Zeitung“ konnten Sie in einer Analyse des Instituts prinzip: Die Bürger haben einen Anspruch darauf, die Allensbach lesen, dass zwei Drittel der Bürger in Gesetze zu verstehen, um sie vollziehen zu können. Deutschland der Meinung seien, das deutsche Steuer- Art. 3, Gleichheitsgrundsatz: Gleiches soll gleich behan- recht sei ungerecht. delt werden, Ungleiches ungleich; das wird heute viel- fach durch die zahlreichen Ausnahmen im Steuerrecht (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Recht haben sie!) verletzt. Art. 14, Eigentumsgarantie, schützt vor über- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1893

Dr. Hermann Otto Solms (A) mäßigem Steuerzugriff und vor einer Doppelbelastung Ergebnis dieser Steuerreform: Die Steuererklärung (C) durch Steuern. Art. 12, Berufsfreiheit, sichert den Wett- kann auf einer DIN-A4-Seite abgefasst werden. Wir ha- bewerb und die Freiheit des Gewerbes vor dem Zugriff ben das ausprobiert. Wenn Sie Ihre Einkünfte kennen, des Staates. Art. 6, Schutz der Ehe und Familie, stellt si- können Sie die Steuererklärung in einer halben Stunde cher, dass Ehe und Familie im Steuerrecht adäquat und ausfüllen. Man kann sie auch über das Internet an das Fi- leistungskonform berücksichtigt werden, was ebenfalls nanzamt schicken. Das ist ein absolut einfaches Verfah- heute nicht der Fall ist. Deswegen schlagen wir ein ren. Es gibt keine langen Formulare mehr. Das ist das, neues Steuerrecht vor, das sich strikt an diesen Rahmen was der Bürger erwartet. hält. (Beifall bei der FDP – Reinhard Schultz Bevor ich etwas zum Einkommensteuerrecht sage, sei [Everswinkel] [SPD]: Doppelter Bierdeckel, Folgendes am Rande bemerkt: Ich halte den Plan der sozusagen ein Herrengedeck-Bierdeckel!) großen Koalition, das Unternehmensteuerrecht zu refor- mieren, für richtig. Man sollte sich aber nicht nur auf das Zweiter Teil: Unternehmensteuerreform. Auch hier Unternehmensteuerrecht konzentrieren, sondern die Re- geht es darum, die Grundprinzipien einer wettbewerbs- form in Verbindung mit dem Einkommensteuerrecht se- konformen Unternehmensbesteuerung zu erreichen. Wir hen, damit ein harmonisches Ganzes daraus wird. müssen im internationalen Wettbewerb wieder wettbe- werbsfähig werden. Dafür müssen wir uns nicht an (Beifall bei der FDP) Irland oder Estland orientieren, aber sollten doch mit Österreich oder den skandinavischen Ländern mithalten Wir haben das neue Einkommensteuerrecht in ein- können. Das erreichen wir mit einer endgültigen Belas- facher deutscher Sprache formuliert. Schauen Sie in un- tung von 28 oder 29 Prozent. seren Gesetzentwurf hinein, dann werden Sie feststellen: Auch Sie können es verstehen. Das ist ja der Maßstab für Darüber hinaus haben wir bei der Unternehmensteu- die Bürger unseres Landes. erreform besonderen Wert auf die Neutralität des Steuer- rechts gelegt. Es muss rechtsformneutral, entscheidungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten neutral und finanzierungsneutral sein. Das ist wichtig für der CDU/CSU) die Organisation der Unternehmen, damit die wirtschaft- Wir wollen einen einfachen, niedrigen Tarif von 15, lichen Entscheidungen losgelöst vom Steuerrecht getrof- 25 und 35 Prozent. Das haben wir hier schon öfter disku- fen werden können. Das alles muss auf der Basis des ge- tiert. Der Stufentarif hat den Vorteil, dass jeder Bürger samteuropäischen Marktes geschehen. Das Steuerrecht seine Steuerbelastung ohne einen Computer und ohne muss europakonform sein. Wir dürfen uns nicht laufend (B) Tabellen selbst ausrechnen kann. Wir wollen die Eigen- vom Europäischen Gerichtshof jagen lassen. (D) initiative und Eigenvorsorge wieder möglich machen Zu einer rechtsformneutralen Besteuerung gehört al- und deswegen eine Steuerentlastung. Wenn die Men- lerdings zwingend die Abschaffung der Gewerbesteuer. schen wieder mehr Eigenvorsorge leisten sollen, müssen wir ihnen den wirtschaftlichen Freiraum dafür geben. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Deswegen müssen sie bei der Einkommensteuer entlas- Deswegen brauchen Sie eine für die Gemeinden verträg- tet werden. liche Ersatzfinanzierung. Wir haben ein Zweisäulenmo- (Beifall bei der FDP) dell vorgeschlagen: auf der einen Seite eine deutliche Er- höhung des Anteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer Die Kinder erhalten den gleichen Grundfreibetrag wie und auf der anderen Seite einen Zuschlag auf die Ein- die Erwachsenen und wir räumen einen großzügigen kommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe mit Freibetrag von 12 000 Euro pro Jahr für Kinderbetreu- eigenem Hebesatzrecht. Es gibt andere Vorschläge wie ungskosten durch sozialversicherungspflichtig Beschäf- beispielsweise von der Stiftung Marktwirtschaft. Man tigte im privaten Haushalt ein. Das ist großzügiger als kann auch diese Vorschläge miteinander kombinieren. das, was die Koalition jetzt erwägt. Jedenfalls wird es nicht ohne eine Abschaffung der Ge- werbesteuer gehen. Es gibt viele Möglichkeiten. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Für Kapitalerträge schlagen wir eine Ausnahme vor, der CDU/CSU) nämlich eine Abgeltungsteuer in Höhe von 25 Prozent, die an der Quelle erhoben wird. Dies alles muss mit einem europarechtsfähigen Kon- zernsteuerrecht und einem großzügigen Umwandlungs- (Beifall bei der FDP) steuerrecht kombiniert werden, damit das Steuerrecht wieder ein positiver Wettbewerbsfaktor im Kampf um Das ist das einfachste Verfahren. Eine Steuerverkürzung die Arbeitsplätze in Europa wird. ist nicht mehr möglich, weil der Bürger dazu gar keine Gelegenheit mehr hat. Auf Kontenabfragen und Kon- Eine abschließende Bemerkung: Machen Sie es sich trollmitteilungen auf europäischer Ebene kann vollstän- bitte nicht so leicht, dass Sie mit Ihrer Kritik nur beim dig verzichtet werden, weil bei diesem einfachen Verfah- Steuerausfall ansetzen! Natürlich ist mit unserem Vor- ren nur der Nettoertrag ausgeschüttet wird. Die Steuer schlag ein deutlicher Steuerausfall, das heißt, eine Steuer- wird vorher an der Quelle abgeführt. Das würde eine erleichterung für die Bürger verbunden. Wenn Ihnen dramatische Bürokratieentlastung bedeuten. das nicht passt, können Sie den Tarif ändern. Dadurch 1894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Hermann Otto Solms (A) können Sie das neutralisieren. Die Systematik des Steu- (Anhaltender Beifall bei der FDP) (C) errechts ist unser Kernanliegen: ein einfaches, in sich stimmiges, geschlossenes System, bei dem die Bürger Präsident Dr. Norbert Lammert: den Eindruck gewinnen, sie werden gerecht behandelt Es kommt nicht häufig vor, dass die Dauer des Bei- – ihr Nachbar kann nicht irgendwelche Ausnahmerege- falls beinahe die der Redezeit erreicht. lungen in Anspruch nehmen, die sie nicht in Anspruch nehmen können –, und das für die Unternehmen, insbe- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie des sondere für die mittelständigen Unternehmen, europa- Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) weit und global faire Wettbewerbschancen schafft. Ich möchte das Ergebnis der namentlichen Abstim- Wenn uns das gelingen würde, würde vom Steuer- mung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ recht jedenfalls kein Wettbewerbsnachteil für Deutsch- CSU und der SPD zur Förderung ganzjähriger Beschäfti- land mehr ausgehen. gung auf Drucksache 16/429 bekannt geben: Abgege- bene Stimmen 505. Mit Ja haben gestimmt 463, mit Nein Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. hat niemand gestimmt.

Endgültiges Ergebnis Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Friedbert Pflüger Abgegebene Stimmen: 505 Klaus-Peter Flosbach Manfred Kolbe davon Norbert Königshofen Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. ja: 463 (Hof) Hartmut Koschyk Daniela Raab enthalten: 42 Erich G. Fritz Thomas Kossendey Jochen-Konrad Fromme Hans Raidel Ja Dr. Michael Fuchs Dr. Martina Krogmann Peter Rauen Hans-Joachim Fuchtel Johann-Henrich CDU/CSU Dr. Jürgen Gehb Krummacher (Potsdam) Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers Dr. Ralf Göbel (Heidelberg) Franz Romer Josef Göppel Andreas G. Lämmel Johannes Röring Dorothee Bär Peter Götz Dr. Norbert Lammert Kurt J. Rossmanith (B) Thomas Bareiß Ute Granold Dr. Norbert Röttgen (D) Norbert Barthle Dr. Max Lehmer Dr. Christian Ruck Dr. Hermann Gröhe Paul Lehrieder (Weiden) Günter Baumann Michael Grosse-Brömer Peter Rzepka Ernst-Reinhard Beck Markus Grübel Dr. Klaus W. Lippold Anita Schäfer (Saalstadt) (Reutlingen) Dr. Michael Luther Hermann-Josef Scharf Monika Grütters Stephan Mayer (Altötting) Dr. Dr. Karl-Theodor Frhr. zu Wolfgang Meckelburg Karl Richard Schiewerling Otto Bernhardt Guttenberg Dr. Michael Meister Norbert Schindler Renate Blank Holger Haibach Dr. Georg Schirmbeck Uda Carmen Freia Heller () Christian Schmidt (Fürth) Dr. Maria Böhmer Andreas Schmidt (Mülheim) Jochen Borchert Jürgen Herrmann Hans Michelbach (Berlin) Wolfgang Börnsen Philipp Mißfelder Dr. (Bönstrup) Dr. Eva Möllring Dr. Ole Schröder Robert Hochbaum Bernhard Schulte-Drüggelte Michael Brand Klaus Hofbauer Dr. Gerd Müller Wilhelm Josef Sebastian Franz-Josef Holzenkamp Hildegard Müller Kurt Segner Dr. Ralf Brauksiepe Anette Hübinger Carsten Müller Thomas Silberhorn Monika Brüning Hubert Hüppe (Braunschweig) Susanne Jaffke Stefan Müller (Erlangen) Gitta Connemann Dr. Bernward Müller (Gera) Dr. Hans-Heinrich Jordan Bernd Neumann (Bremen) Christian Freiherr von Stetten Dr. (Konstanz) Dr. Georg Nüßlein Andreas Storm Thomas Dörflinger Bartholomäus Kalb Franz Obermeier Max Straubinger Marie-Luise Dött Hans-Werner Kammer Eduard Oswald (Heilbronn) (Lübeck) Steffen Kampeter Michael Stübgen Rita Pawelski Dr. Hans Georg Faust Bernhard Kaster Dr. Peter Paziorek Dr. Hans-Peter Uhl Ulrich Petzold Ingrid Fischbach Jürgen Klimke Dr. Volkmar Uwe Vogel Hartwig Fischer (Göttingen) Julia Klöckner Sibylle Pfeiffer Andrea Astrid Voßhoff Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1895

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Gerhard Wächter Dr. Wilhelm Priesmeier (Münster) (C) Gabriele Groneberg Uwe Barth Achim Großmann Maik Reichel Marcus Weinberg Wolfgang Grotthaus Gerold Reichenbach Peter Weiß (Emmendingen) Wolfgang Gunkel Dr. Patrick Döring Gerald Weiß (Groß-Gerau) Hans-Joachim Hacker Christel Riemann- Mechthild Dyckmans Karl-Georg Wellmann Hanewinckel Jörg van Essen Anette Widmann-Mauz Klaus Hagemann Sönke Rix Ulrike Flach Klaus-Peter Willsch Alfred Hartenbach Dr. Willy Wimmer (Neuss) Michael Hartmann Karin Roth (Esslingen) (Bayreuth) Elisabeth Winkelmeier- (Wackernheim) Michael Roth (Heringen) Dr. Becker Nina Hauer Hans-Michael Goldmann Rolf Hempelmann Anton Schaaf Miriam Gruß Dagmar Wöhrl Dr. Barbara Hendricks Axel Schäfer () Joachim Günther (Plauen) Wolfgang Zöller Petra Heß Bernd Scheelen Dr. Christel Happach-Kasan Willi Zylajew Gabriele Hiller-Ohm Heinz-Peter Haustein (Essen) (Aachen) Birgit Homburger SPD Gerd Höfer Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Frank Schmidt Dr. Heinrich L. Kolb Gregor Amann (Wismar) Heinz Schmitt (Landau) Hellmut Königshaus Gerd Andres Frank Hofmann (Volkach) (Erfurt) Gudrun Kopp Eike Hovermann Jürgen Koppelin Ingrid Arndt-Brauer Klaas Hübner Heinz Lanfermann Ernst Bahr (Neuruppin) Lothar Ibrügger Reinhard Schultz Harald Leibrecht Brunhilde Irber (Everswinkel) Ina Lenke Dr. Hans-Peter Bartels Johannes Jung (Karlsruhe) (Spandau) Michael Link (Heilbronn) Horst Meierhofer Ulrich Kasparick Dr. Angelica Schwall-Düren Patrick Meinhardt Burkhardt Müller-Sönksen Hans-Ulrich Klose Rita Schwarzelühr-Sutter Dirk Niebel Dr. Astrid Klug Wolfgang Spanier Hans-Joachim Otto Dr. Bärbel Kofler Dr. Margrit Spielmann () Jörg-Otto Spiller Detlef Parr Karin Kortmann Dr. Ditmar Staffelt Cornelia Pieper Rolf Kramer Andreas Steppuhn Jörg Rohde Gerd Bollmann Anette Kramme (B) Rolf Stöckel Frank Schäffler (D) Klaus Brandner Ernst Kranz Christoph Strässer Marina Schuster Nicolette Kressl Dr. Peter Struck Dr. Hermann Otto Solms (Hildesheim) Volker Kröning Joachim Stünker Dr. Rainer Stinner Marco Bülow Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Rainer Tabillion Carl-Ludwig Thiele Angelika Krüger-Leißner Jörg Tauss Florian Toncar Jürgen Kucharczyk Jella Teuchner Christoph Waitz Dr. Michael Bürsch Helga Kühn-Mengel Dr. Guido Westerwelle Ute Kumpf Jörn Thießen Dr. Claudia Winterstein Marion Caspers-Merk Dr. Uwe Küster Hans-Jürgen Uhl Dr. Volker Wissing Dr. Peter Danckert Christine Lambrecht Simone Violka Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Herta Däubler-Gmelin Christian Lange (Backnang) Jörg Vogelsänger Dr. Dr. Marlies Volkmer Dr. Carl-Christian Dressel Helga Lopez Hedi Wegener DIE LINKE Elvira Drobinski-Weiß Gabriele Lösekrug-Möller Andreas Weigel Dirk Manzewski Petra Weis Hüseyin-Kenan Aydin Detlef Dzembritzki Lothar Mark Gunter Weißgerber Dr. Siegmund Ehrmann (Wiesloch) Eva Bulling-Schröter Lydia Westrich Dr. Petra Ernstberger Petra Merkel (Berlin) Andrea Wicklein Karin Evers-Meyer Dr. Engelbert Wistuba Sevim Dagdelen Dr. Wolfgang Wodarg Annette Faße Marko Mühlstein Dr. Diether Dehm Waltraud Wolff Elke Ferner Detlef Müller (Chemnitz) Dr. (Wolmirstedt) Rainer Fornahl Michael Müller (Düsseldorf) Klaus Ernst Heidi Wright Gabriele Frechen Gesine Multhaupt Diana Golze Franz Müntefering Dr. Gregor Gysi Manfred Zöllmer Peter Friedrich Dr. Rolf Mützenich Heike Hänsel Brigitte Zypries Lutz Heilmann Iris Gleicke Hans-Kurt Hill FDP Günter Gloser Holger Ortel Inge Höger-Neuling Angelika Graf (Rosenheim) Heinz Paula Jens Ackermann Dr. Barbara Höll Dieter Grasedieck Joachim Poß Dr. Karl Addicks Dr. Lukrezia Jochimsen Monika Griefahn Christoph Pries Dr. Hakki Keskin 1896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Dr. Renate Künast (C) Monika Knoche Frank Spieth Markus Kurth Dr. Axel Troost Grietje Bettin Undine Kurth (Quedlinburg) Katrin Kunert Alexander Ulrich Oskar Lafontaine Jörn Wunderlich Ekin Deligöz Anna Lührmann Michael Leutert Sabine Zimmermann Dr. Thea Dückert Ulla Lötzer Dr. Ursula Eid Jerzy Montag Dr. Gesine Lötzsch Fraktionsloser Hans-Josef Fell Ulrich Maurer Abgeordneter Brigitte Pothmer Kornelia Möller Gert Winkelmeier Katrin Göring-Eckardt Krista Sager Kersten Naumann Elisabeth Scharfenberg Wolfgang Nešković Britta Haßelmann Christine Scheel Enthaltung Dr. Winfried Hermann Irmingard Schewe-Gerigk Petra Pau Peter Hettlich Dr. Gerhard Schick BÜNDNIS 90/ Priska Hinz (Herborn) Rainder Steenblock Elke Reinke DIE GRÜNEN Ulrike Höfken Paul Schäfer (Köln) Kerstin Andreae Dr. Anton Hofreiter Silke Stokar von Neuforn Volker Schneider Marieluise Beck (Bremen) Bärbel Höhn Dr. Harald Terpe (Saarbrücken) Volker Beck (Köln) Thilo Hoppe Josef Philip Winkler Dr. Ilja Seifert Cornelia Behm Ute Koczy Margareta Wolf (Frankfurt)

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Dann war es ja (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mittelgroße!) wichtig, dass wir namentlich abgestimmt ha- ben!) – Herr Kollege Westerwelle, von mir aus: eine mittel- große – Enthalten haben sich 42 Kolleginnen und Kollegen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wenn Sie das brau- chen!) (Zuruf von der FDP: Rechnung an Herrn Küster!) einen ausformulierten Gesetzentwurf vorlegt. Ganz neu ist er nicht. Wir haben schon darüber diskutiert. Ich finde (B) Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist das aber prima. (D) der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch im nächsten Teil kann ich noch konstruktiv Otto Bernhardt (CDU/CSU): bleiben; denn Ihr Gesetzentwurf enthält manche Punkte, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und die unsere Zustimmung finden. Auch wir halten es für Herren! Herr Kollege Solms, ich stimme Ihnen zu: Das richtig, die Steuersätze zu reduzieren und die Ausnah- deutsche Steuerrecht ist zu kompliziert. Es ist undurch- men zu beseitigen, um so die Bemessungsgrundlage zu schaubar. Selbst die Fachleute haben damit ihre Pro- erweitern. Allerdings – das wissen Sie – hat die große bleme. Koalition, was die Abschaffung von Ausnahmetatbe- ständen und den Subventionsabbau angeht, durch vier (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Gesetze schon ziemliche Brocken bewegt. Durch diese Ich stimme auch darin zu, dass das gegenwärtige Steuer- Gesetze – drei haben wir im Dezember verabschiedet, recht nicht weiter verändert werden sollte. Wir brauchen eines werden wir morgen verabschieden – haben wir uns grundlegende Reformen. Auch darin stimmen wir über- finanziellen Spielraum geschaffen: zum einen um die ein. Staatsfinanzen zu sanieren und zum anderen um Be- schäftigung und Wachstum fördern zu können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber das Steuerrecht haben Sie damit Wir alle – auch Sie – müssen nur akzeptieren, dass nicht vereinfacht!) alle Regierungen ihren Beitrag geleistet haben, bis es zu diesem komplizierten Steuergesetz gekommen ist. Sie Was Ihre These zur Gewerbesteuer angeht, so will ich waren in unterschiedlichen Koalitionen mit von der Par- sagen: Ich halte es nicht für gut, von ihrer Abschaffung tie. zu sprechen; das erweckt bei den Kommunen einen fal- schen Eindruck. Aber es ist richtig, dass die Gewerbe- (Bernd Scheelen [SPD]: Den größten Beitrag steuer nicht mehr ins System passt, und es ist auch rich- hat die FDP geleistet!) tig, dass eine grundlegende Unternehmensteuerreform Auch wir haben unseren Beitrag geleistet. nur möglich ist, wenn wir den Kommunen einen Ersatz für die Gewerbesteuer geben. Ich will noch etwas Positives sagen: Ich finde es gut und bewundernswert, dass eine kleine Fraktion (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1897

Otto Bernhardt (A) Wir bemühen uns – das ist ganz wichtig; so steht es auch 25 Prozent sind im internationalen Wettbewerb sicher (C) im Koalitionsvertrag –, dies im engen Einvernehmen mit hervorragend. Aber wir werden uns 25 Prozent nicht den Kommunen zu machen. leisten können. Jetzt schauen Sie sich einmal die Praxis an: Ihr Vorschlag würde dazu führen – Sie wissen, wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gut Steuerberater Umgehungswege finden –, dass für neten der SPD) den selbstständigen Rechtsanwalt, der 250 000 Euro pro Aber, Herr Kollege Solms, es gibt zwei kritische Jahr verdient, ein Steuersatz von 25 Prozent gilt, wäh- Punkte – mindestens zwei; ich will mich auf zwei kon- rend sein angestellter Mitarbeiter, der 200 000 Euro ver- zentrieren –, die jeder für sich ausreichen würde, um den dient, deutlich mehr Steuern zahlt. Dies ist nicht prakti- Gesetzentwurf abzulehnen; auch wenn dies noch nicht zierbar. Thema der ersten Lesung ist. Sie haben in nur zwei Sät- (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- zen von Geld gesprochen. Das hätte ich auch, wenn ich Eckardt) einen solchen Gesetzentwurf vorlegen würde. Es gibt keine umfassenden Berechnungen dazu, was Ihr Gesetz Ich vermute, dass das Verfassungsgericht hier eingrei- kosten würde. Der Hinweis „Dann ändert doch die Steu- fen würde. Sie können sicher sein, dass eine solche Be- ersätze!“ ist zu kurz gefasst. Ich gehe davon aus, dass Ihr steuerung schrecklich oft zu Unternehmensgewinnen Gesetzentwurf eher Steuerausfälle in der Größenord- führen würde, die mit maximal 25 Prozent besteuert nung von 30 Milliarden Euro als von 25 Milliarden Euro werden, und nur ganz selten Gewinne über die Einkom- zur Folge hätte. mensteuer höher besteuert würden. Diese von Ihnen vor- geschlagene Lösung ist nicht sachgerecht. Ich befinde (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mich mit meiner Kritik in der guten Gesellschaft fast al- NEN]: Im ersten Jahr auf alle Fälle!) ler Fachleute. Wir hatten gerade gestern ein Gespräch Wenn wir heute eine positive Tendenz zu Ihrem Ge- mit den Vertretern des Sachverständigenrats und der setzentwurf zeigen würden – ich sage das jetzt etwas Stiftung Marktwirtschaft. Beide Seiten haben deutlich polemisch –, dann würde die EU sofort zuschlagen. gesagt: Dieser Ansatz der FDP ist nicht realistisch und Denn wenn dieses Gesetz am 1. Januar 2007 in Kraft tre- nicht vernünftig. Das sollte man der deutschen Öffent- ten würde, hätten wir keine Chance, die EU-Kriterien zu lichkeit in aller Deutlichkeit sagen. erfüllen und dem Grundgesetz gerecht zu werden. Schon (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aus diesen Gründen ist es nicht vertretbar, diesem Ge- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE setzentwurf zuzustimmen. GRÜNEN) Ich sage sehr deutlich: Wir als große Koalition kämp- Nun stimme ich Ihnen wieder einmal zu, Herr Kol- (B) (D) fen um das Vertrauen der Bevölkerung. Wir sind dabei lege Solms: Sie sagen, im Grundsatz müsse man nicht schon ein erhebliches Stück weitergekommen. Dieser nur, wie wir das im Koalitionsvertrag geschrieben ha- Gesetzentwurf und das, was morgen in den Zeitungen ben, die Unternehmensbesteuerung grundlegend verän- stehen wird, werden dazu führen, dass wieder viele dern, sondern im gleichen Atemzug auch die Einkom- Hoffnungen entstehen. Niemand kann diese Hoffnungen mensteuer. erfüllen; denn niemand kann sie bezahlen. Dies ist ein entscheidender Punkt. Aber ich sage: Wir als große Koalition wollen um Vertrauen werben. Dabei sind wir bereits ein Stück vo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rangekommen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag neten der SPD und der Abg. Christine Scheel nur das versprochen, was wir uns für die nächsten vier [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jahre auch zutrauen. Wir wollen uns nicht übernehmen. Herr Kollege Solms, mein zweiter Kritikpunkt betrifft (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Dann trauen das System als solches. Auch wir wollen, dass in Zu- Sie sich ja gar nichts zu!) kunft – so steht es im Koalitionsvertrag – Unterneh- – Herr Kollege, wenn wir uns die Unternehmensbesteu- mensgewinne einheitlich besteuert werden, egal ob sie erung und die Einkommensbesteuerung ansehen, dann bei Kapitalgesellschaften oder Personengesellschaften werden Sie mir Recht geben, wenn ich sage: Der Re- entstehen. Schon die dazu vorgelegten Modelle der Stif- formbedarf ist bei der Unternehmensbesteuerung deut- tung Marktwirtschaft und des Sachverständigenrates zei- lich dringender; das hat mit dem internationalen Wettbe- gen, wie schwierig es ist, dieses Problem zu lösen. werb zu tun. Ich sage vorweg und begründe es gleich in ein paar (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Sätzen: Ihr Vorschlag ist keine vertretbare Lösung. Sie wollen im Einkommensteuerrecht drei Stufen – 15, Nicht umsonst müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass 25 und 35 Prozent – schaffen. Das ist prima, aber nicht auch unter steuerlichen Gesichtspunkten laufend Ar- bezahlbar. Jetzt haben Sie erkannt, dass 35 Prozent für beitsplätze ins Ausland verlagert und immer mehr Unternehmergewinne im internationalen Vergleich na- Gewinne nicht in Deutschland versteuert werden. Ich er- türlich zu hoch sind. Wir liegen, wie Sie wissen, heute innere daran, dass dieses Thema schon im Rahmen des bei 39 Prozent und müssen uns in Richtung von Jobgipfels im März vergangenen Jahres isoliert unter 30 Prozent bewegen. Deshalb sagen Sie: In den Firmen dem Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit soll das anders sein. Dort soll die dritte Stufe nicht grei- angegangen werden sollte. Damals wollte man die Kör- fen und 25 Prozent sollen das Maximum sein. perschaftsteuer von 25 Prozent auf 19 Prozent senken. 1898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Otto Bernhardt (A) Aufgrund der vorgezogenen Neuwahl konnte dieses Vor- wurde. Dabei handelt es sich um eines der Modelle, die (C) haben nicht mehr umgesetzt werden. Umso dringender sich gegenwärtig auf dem Markt befinden. Alle Modelle ist jetzt der Handlungsbedarf in diesem Bereich. haben eines gemeinsam: Durch sie werden Großunter- nehmen und gut verdienende, vermögende Bürger ent- An den beiden Modellen, die nun vorgelegt worden lastet. sind, wird deutlich: Dies ist eine komplizierte Materie. Wir wollen nicht denselben Fehler machen, den wir be- Herr Solms und Herr Westerwelle, die FDP zeichnet reits in den letzten Jahren zum Teil gemeinsam begangen sich dadurch aus – das muss man Ihnen zugute halten –, haben, indem wir zunächst einen Schnellschuss vorge- dass sie relativ offen ist. Sie sagen: Ja, wir wollen auf legt und dann ein erstes und später ein zweites Verände- Einnahmen in Höhe von 17 bis 19 Milliarden Euro ver- rungsgesetz auf den Weg gebracht haben. zichten. Nebenbei bemerkt füge ich hinzu: Ihr Gesetz- Wir haben, was unser Vorgehen beim Thema Unter- entwurf enthält kein Finanztableau; bei dem von mir ge- nehmensbesteuerung betrifft, einen klaren Zeitplan: nannten Betrag handelt es sich also nur um eine grobe Noch vor der diesjährigen Sommerpause werden Regie- Schätzung, die locker nach oben überboten werden kann. rung und Koalition die Eckpunkte miteinander abstim- Auf Seite 22 Ihres Gesetzentwurfes kann man nachle- men. Wir erwarten, dass im vierten Quartal dieses Jahres sen, wie sich der Rahmen für ein neues Steuerrecht aus ein Referentenentwurf vorgelegt wird, mit dem sich Ihrer Sicht darstellt: dann alle Interessierten ausführlich auseinander setzen können. In knapp einem Jahr – ich vermute: im Februar Fünftens: Eine moderne und wachstumsorientierte kommenden Jahres – werden wir hier im Bundestag die Steuerpolitik ist zwingend mit einer soliden und erste Lesung des von uns vorgelegten Gesetzentwurfes nachhaltig auf Stabilität ausgerichteten Haushalts- durchführen. Dann haben wir Zeit, mit den Experten zu politik zu verbinden. Dabei muss gelten: Die Aus- sprechen. Dazu werden wir umfangreiche Anhörungs- gaben richten sich nach den Einnahmen – nicht um- verfahren durchführen. Unser Ziel ist, dieses Gesetz un- gekehrt. mittelbar vor der Sommerpause des Parlaments im kom- menden Jahr zu verabschieden, damit sich sowohl die Das ist Klartext: Erst wollen Sie auf 17 bis Wirtschaft als auch – das möchte ich betonen – die Fi- 19 Milliarden Euro verzichten und dann wird es wieder nanzverwaltungen ein halbes Jahr lang auf dieses neue heißen, wir müssen sparen: an den Sozialleistungen, bei Gesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft treten wird, vor- der Rente. Das ist locker-flockig die Fortsetzung des ne- bereiten können. oliberalen Kurses, den wir in den letzten Jahren erleben mussten, und befindet sich voll in Übereinstimmung mit Ich komme noch einmal auf das Stichwort Vertrauen dem, was die Regierungskoalition uns anbietet: Wie im (B) zu sprechen. Wir wollen keine Schnellschüsse, sondern Jahreswirtschaftsbericht nachzulesen ist, erwarten Sie (D) eine solide Gesetzesarbeit. für dieses Jahr eine Stagnation der Einkommen und Ren- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja! So ist es ten, der Zuwächse von etwa 7,5 Prozent für Selbststän- richtig!) dige und Bezieher von Vermögenseinkünften entgegen- stehen. Das ist die Realität, in der wir leben. Diese Vielleicht gelingt es uns ja, gemeinsam Gesetze zu ma- neoliberale Politik werden wir nicht mitmachen. chen, die viele Jahre lang Bestand haben. Denn Sie ha- ben völlig Recht: Zwei Drittel der Bevölkerung empfin- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Hermann Otto den unser jetziges Steuerrecht insbesondere deshalb als Solms [FDP]: Das ist keine Überraschung!) ungerecht, weil es so schwer zu verstehen ist. Ich denke, die Koalition ist auf dem richtigen Weg. Wir werden zu- – Es ist keine Überraschung, aber es ist gut, dass wir die nächst eine neue, solide Unternehmensteuerreform vor- Möglichkeit haben, es Ihnen von diesem Pult aus zu sa- legen und uns zu einem späteren Zeitpunkt auch dem gen, und Sie werden es sich weiter anhören müssen. Thema Einkommensteuer widmen. Aber ich sage sehr (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Wir hören es deutlich: Es ist besser, kleine und mittelfristige Schritte ja an!) anzukündigen und durchzuführen, als große Schritte an- zukündigen, die niemand verwirklichen kann. Im Gesetzentwurf der FDP heißt es, Sie wollen einen Danke schön. Stufentarif mit Steuersätzen von 15, 25 und 35 Pro- zent. Das bedeutete eine weitere Senkung des Spitzen- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) steuersatzes, eine Fortsetzung der Politik der letzten Jahre von Rot-Grün. Dieser Spitzensteuersatz soll ferner Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bereits bei einem Einkommen von 40 000 Euro einset- Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die zen. Schon die Bezieher mittlerer Einkommen müssten Linke. also zur Finanzierung des Gemeinwesens anteilig so viel beitragen wie die Millionäre, die sich aus der Finanzie- (Beifall bei der LINKEN) rung desselben damit ein Stück weiter zurückziehen könnten. Der vorgesehene Wegfall der Steuerfreiheit der Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Feiertags- und Nachtzuschläge würde insbesondere Ar- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem geringen Heute geht es um den Entwurf eines Gesetzes zur Re- Einkommen treffen. Die Entfernungspauschale soll ge- form der direkten Steuern, der von der FDP vorgelegt strichen werden, die Werbungskostenpauschale auch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1899

Dr. Barbara Höll (A) Bezieher niedriger Einkommen würden dadurch massiv Sie von der FDP wollen die Verlustverrechnung für in- (C) schlechter gestellt. ternationale Konzerne sogar noch ausweiten, indem Sie die Organschaft abschaffen und die Gruppenbesteuerung Ich sagte es schon: Sie sind ganz offen. Es gibt den ausweiten wollen. Das hieße ein Fortschreiten der neoli- berühmten Solms-Rechner, an dem jeder nachprüfen beralen Politik, wenn Ihr Gesetzentwurf umgesetzt kann, was die Vorschläge für ihn konkret heißen. Bei ei- würde. nem Einkommen von 25 000 Euro – Einzelveranlagung, sprich kein Kind, kein Soli-Zuschlag; ausschließlich die Das ist mit uns nicht zu machen. Unser Konzept ist Werbungskosten angesetzt – ergäbe sich gegenüber der ein anderes. Wir sagen: Sozial gerechte Steuerpolitik ist heutigen Steuerbelastung von knapp 4 000 Euro eine notwendig. Ein solches Konzept ist auch auf dem Markt. von nur noch 2 500 Euro, somit eine Entlastung von ge- Damit werden Sie sich in Zukunft noch stärker auseinan- rundet 1 300 Euro; das wären 5 Prozent. Bei einem Ein- der setzen können und müssen. kommen von 150 000 Euro sieht die Entlastung schon Ich danke Ihnen. besser aus: 14 400 Euro; das wären ganze 9 Prozent. (Beifall bei der LINKEN) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN], an die FDP gewandt: Sie macht auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: noch Werbung für euren Rechner!) Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen, SPD- Das sind die Zahlen, das ist die Politik der FDP: Sie wol- Fraktion. len fortfahren, niedrige Einkommen prozentual höher zu belasten. Das wird zu einer weiteren Schwächung der Gabriele Frechen (SPD): Binnennachfrage und des Gemeinwesens führen – eine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Politik, die wir nicht mitmachen. Liebe Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der FDP. Diesen kennen wir noch aus dem vergangenen (Beifall bei der LINKEN) Jahr. Er war schon Gegenstand der Beratungen. Ich sage hier nochmals: Haben Sie endlich den Mut, (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Er ist etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu tun, gegen geändert!) Kinderarmut, gegen die soziale Auslese, die heute von Geburt an geschieht. Das wird auch von außen bestätigt: – Teilweise. Mit dem Teil zur Einkommensteuer haben Alle internationalen Bildungsuntersuchungen zeigen, sich, bis auf wenige Ausnahmen, schon die Sachverstän- dass in fast keinem anderen Land in Europa so wie in digen beschäftigt. Deutschland die soziale Herkunft über die Zukunftsaus- (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Die Unter- (B) (D) sichten der Kinder entscheidet – und dann wundern Sie nehmensteuer ist dazugekommen!) sich, dass die Leute keine Kinder bekommen! Ja, warum denn wohl?! Der Gesetzentwurf wurde aber zurückgenommen, weil der Teil zur Unternehmensteuer fehlte. Um ihn ist der Stärkung des Gemeinwesens, das heißt für uns insbe- Entwurf nun ergänzt worden. sondere, dass Gesundheit und Bildung nicht weiter zu ei- Ich finde, es verdient Respekt, dass Sie uns einen aus- ner Ware werden dürfen. Über die Besteuerung kann die formulierten Gesetzentwurf vorgelegt haben. Der Urhe- Politik dagegenhalten: Wir brauchen eine Reform der ber hat sich viel Mühe gemacht. Einkommensteuer zur Stärkung der Menschen mit klei- neren und mittleren Einkommen. Menschen mit großen (Beifall bei der FDP) Einkommen und großen Vermögen müssen zur Finanzie- Ich glaube, ich sehe den Urheber direkt an. Er sitzt in der rung des Gemeinwesens stärker herangezogen werden. ersten Reihe. Das sind doch Sie, Herr Solms. Ein ausfor- Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie sich für eine Streichung mulierter Gesetzentwurf zwingt Sie – auch das ehrt Sie –, der Vermögensteuer aussprechen, fordern wir die Wie- Farbe zu bekennen; denn wenn ein Gesetzentwurf aus- dererhebung einer reformierten Vermögensteuer. Da- formuliert vorliegt, kann man sich näher mit den Details durch könnten wir 15 Milliarden Euro zusätzlich einneh- befassen. men. Die Auseinandersetzung mit diesem Gesetzentwurf (Beifall bei der LINKEN – Christine Scheel muss unter der Prämisse stehen: Was bringt ein solches [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Gesetz und was kostet es? Sie sprechen davon, dass da- Sie doch selber nicht!) durch Investitionstätigkeiten angeregt und Arbeitsplätze – Doch, das glauben wir und es ist nachgerechnet; da- neu geschaffen werden sollen. Aber ist das wirklich so? rüber können wir uns einmal unterhalten. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben in den letzten sieben Jahren die Steuern so Reine Theorie! Theorie und Praxis!) deutlich gesenkt wie nie zuvor. Auch wir fordern eine Unternehmensteuerreform. (Beifall bei der SPD) Aber für diese muss ebenfalls gelten: Besteuerung nach Wir haben historisch niedrige Steuersätze. der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – und nicht, wie bei Ihnen, dass es letztendlich davon abhängt, wie viele (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Ökosteuer Möglichkeiten jemand hat, ganz legal Steuern zu sparen. haben Sie doch raufgesetzt!) 1900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Gabriele Frechen (A) Ist das durch Investitionen belohnt worden? Ich glaube, – Wenn Sie sich zu Wort melden, dann kann ich Sie ver- (C) hier sind ganz erhebliche Zweifel zulässig. Man kann stehen und Ihnen antworten. Wenn Sie allerdings keine natürlich sagen, dass die Senkungen nicht ausreichen. Antwort wollen, dann sprechen Sie bitte etwas leiser. Aber wann reichen sie aus? Wenn wir in Europa bei ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nem Steuersatz von 0 Prozent angekommen sind? Ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bin überzeugt, dass davon weder Europa noch die einzel- nen Staaten etwas hätten, sondern nur die Aktionäre. Die Menschen wollen aber auch im Einzelnen gerecht behandelt werden; das halte ich für einen sehr vertretba- Wir dürfen, wenn wir die Steuersätze senken wollen, ren Anspruch. Wir alle wissen: Durch Pauschalierungen nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Das werden Lebenssachverhalte Einzelner ausgegrenzt und heißt, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sie führen zum Verlust von Gerechtigkeit. Deshalb soll- muss möglichst auf europäischer Ebene vorgenommen ten wir uns immer fragen: Wie viel Vereinfachung kön- werden, damit die Steuersätze wirklich vergleichbar nen wir mit unserem Anspruch an Gerechtigkeit vertre- sind. 25 Prozent von X sind nicht unbedingt mehr als ten? Ich sage „sollten“; denn im Gesetzentwurf der FDP 10 Prozent von Y. Aber gut, bei Rechnungen mit Unbe- kommt das Wort „Steuergerechtigkeit“ nicht gerade oft kannten sollte sich der Staat besser heraushalten. vor. In den fünf Kriterien, die dort als Rahmen vorgege- ben werden, heißt es nur einmal: „Einfachheit hat Vor- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir streiten in unre- rang vor Einzelgerechtigkeit in jedem Detail“. gelmäßigen Abständen über das Defizitkriterium des Wachstums- und Stabilitätspakts von 3 Prozent. Sie tra- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) gen dieses Kriterium oftmals wie eine Monstranz vor sich her. Wie passt da eine Belastung der öffentlichen Das merkt man, und zwar nicht nur im Detail. Haushalte von 20 Milliarden Euro – ich bin noch recht Der Bund Deutscher Finanzrichterinnen und Finanz- vorsichtig – in die Diskussion? Die Finanzminister der richter schreibt dazu in seiner Stellungnahme: Länder haben übereinstimmend diesen Teil des Geset- zes, der in der Anhörung behandelt wurde, als nicht fi- Dem an sich zu unterstreichenden Postulat des vor- nanzierbar bezeichnet. Dabei sind wir noch davon aus- liegenden Gesetzentwurfs, dem Gebot der Einfach- gegangen, dass der Höchststeuersatz bei 35 Prozent heit Vorrang gegenüber dem Streben nach Einzel- liegt. Diesen wollen Sie für unternehmerische Tätigkeit fallgerechtigkeit einzuräumen, kann daher in dieser nun auch noch auf 25 Prozent senken. Das ist doch dann Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. gar nicht mehr finanzierbar. Wir stimmen darin überein, dass es im Steuerrecht keine Einzelfallgerechtigkeit geben kann, aber der Vereinfa- (B) Ich bin davon überzeugt, dass wir alle hier der Mei- chung auf Gedeih und Verderb alles unterzuordnen, (D) nung sind, dass das Steuerrecht vereinfacht werden bringt die soziale Balance doch ganz erheblich in Schief- muss, dass wir also Ausnahmetatbestände streichen, Ge- lage. setzeslücken und Steuerschlupflöcher schließen müssen. Ich finde, die große Koalition ist hier auf einem guten (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Weg; Im Gutachten des DIW steht dazu: (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto Beim Konzept der FDP konzentrieren sich die Ent- Bernhardt [CDU/CSU]) lastungen auf den mittleren und oberen Bereich. Herr Bernhardt hat das schon gesagt. Mündlich wurde in der Anhörung dann ergänzt: Die Ein- kommensungleichheit nimmt beim FDP-Konzept deut- Ich möchte nicht an das erinnern, was wir alles schon lich zu. hätten tun können, wenn alle mitgespielt hätten; denn Nachkarten bringt nichts. Ich erinnere an die Plenarsit- Nochmals zur Verdeutlichung: Arbeitnehmer, Rentner zung vom 15. Dezember letzten Jahres, in der wir – zum und Empfänger von Lohnersatzleistungen hätten nach Teil mit den Stimmen des ganzen Hauses – die Eigen- dem Willen der FDP einen Spitzensteuersatz von heimzulage abgeschafft, Steuerschlupflöcher geschlos- 35 Prozent, während Einkünfte aus unternehmerischer sen und einige nicht unerhebliche Ausnahmeregelungen Tätigkeit einem Spitzensteuersatz von nur noch gestrichen haben. Diesen Weg werden wir konsequent 25 Prozent unterlägen. fortsetzen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Opposition, sind natürlich herzlich eingeladen, uns bei Unsinn!) der Reform der Einkommensteuer und der Unterneh- mensteuer zu begleiten. – Das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Vielleicht sollten Sie ihn einmal lesen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich nä- Die Menschen sind, auch weil sie von allen Seiten her auf das Thema Vereinfachung eingehen. Selbstver- eingetrichtert bekommen, unser Steuerrecht sei sehr ständlich ist es eine Vereinfachung, wenn man ganze kompliziert, davon überzeugt, dass es kompliziert ist. Vorschriften streicht oder weglässt, wenn man das Ge- setz neu fasst. Bei der Streichung der Steuerfreiheit von (Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen oder der [FDP]) Übungsleiterpauschale handelt es sich aber nicht um Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1901

Gabriele Frechen (A) eine Vereinfachung auf Kosten der Einzelfallgerechtig- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber nicht so (C) keit. Diese Ausnahmen brauchen Sie, damit der Spitzen- repräsentativ!) steuersatz abgesenkt werden kann. – Das sollten wir aber sein. (Beifall bei der SPD) Ein weiterer Punkt der angeblichen Vereinfachungen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ist die Einführung eines einkommensabhängigen Wer- Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des bungskostenabzugs. Für die Kolleginnen und Kollegen Kollegen Solms zulassen? von der FDP scheint es aus Vereinfachungsgründen ge- rechtfertigt, dass ein Arbeitnehmer mit einem Einkom- Gabriele Frechen (SPD): men von 250 000 Euro per se – also ohne Nachweis – Ja, natürlich. mit 5 000 Euro entlastet werden muss, ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 40 000 Euro aber nur mit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 800 Euro. Das Motto „Wer mehr hat, bekommt auch mehr“ führt den Gedanken der Vereinfachung ad ab- Bitte schön. surdum. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): (Beifall bei der SPD) Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, Manchmal frage ich mich wirklich, wo die Kolleginnen dass die Abgeordneten keinen Anspruch auf die steuerli- und Kollegen, die einen solchen Gesetzentwurf einbrin- che Geltendmachung der doppelten Haushaltsführung gen, leben. haben, weil sie eine Kostenpauschale bekommen? Die doppelte Haushaltsführung, der Heimarbeitsplatz, die Fahrten zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte – Gabriele Frechen (SPD): all das sind nach Meinung der FDP Kosten der allgemei- Da ich ein höflicher Mensch bin, nehme ich natürlich nen und privaten Lebensführung. Glauben Sie wirklich, alles zur Kenntnis, was Sie sagen, Herr Dr. Solms. Sie dass die Fahrtkosten eines Chemikers privat veranlasst haben selbstverständlich Recht: Die doppelte Haushalts- sind, wenn ein Labor von A nach B verlegt wird? Glau- führung wird bei uns Abgeordneten mit der Kostenpau- ben Sie, dass man jederzeit die Kinder aus der Schule schale extra abgegolten. Wenn wir zum nordrhein-west- nehmen und in eine andere Schule schicken und das fälischen Modell übergehen sollten, was mitunter in der Haus verkaufen könnte und dass die Ehefrau ihren Job Diskussion ist, dann wird für uns die doppelte Haus- aufgeben könnte, wenn ein Unternehmen von Y nach Z haltsführung wie für jeden Arbeitnehmer selbstverständ- (B) zieht und seinen Sitz verlagert? lich unter die Werbungskosten fallen. Gestern gab es (D) dazu im WDR in der Sendung „Hart, aber fair“ mit Frau (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Kollegin Nina Hauer und Herrn Siegfried Kauder eine Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Diskussion. Ist Ihre Frage damit beantwortet? – Gut. Das alles halten Sie für machbar und zumutbar für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitnehmer. Man fragt sich schon: Wem dienen die Steuersenkun- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt wird es gen? Wer trägt die Belastungen? Professor Dr. Hickel sachfremd! Das stimmt doch gar nicht!) schreibt in seiner Stellungnahme: – Herr Westerwelle, viele von uns, die hier sitzen – ich Wird dieser auf Arbeitseinkommen konzentrierte glaube, es sind sogar die meisten –, haben eine doppelte Abbau von Steuervorteilen mit der Senkung des Haushaltsführung. Wenn Sie von der FDP das aufgrund Einkommensteuertarifs verglichen, dann ist die so- Ihres persönlichen Lebenswunsches als Dinge der per- zial ungerechte Verschiebung der Steuerlast nicht sönlichen Lebensführung ansehen, dann ist das eine Sa- mehr zu übersehen. che. Für die meisten von uns ist die doppelte Haushalts- führung aber sicherlich beruflich begründet. Zum Schluss möchte ich noch einmal aus Ihrem Ge- setzentwurf zitieren: (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Es ist nicht die Aufgabe des Steuerrechts, erst Ein- kommen übermäßig „wegzusteuern“ und dann den Zu diesem Bereich ist in Ihrem Gesetzentwurf zu le- nach Abzug der Verwaltungskosten verbleibenden sen: Betrag wieder an die Gruppen zu verteilen... Der weit gehende Verzicht auf Steuerbefreiungen Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist und subventionsähnliche Tatbestände ermöglicht Sinn und Ziel des Steuerrechts. Was Sie lapidar als „Ver- hohe Freibeträge und eine radikale allgemeine Ta- waltungskosten“ ansehen, sind die vielfältigen Aufgaben rifsenkung ... des Staates: soziale Sicherung, Bildung und Infrastruk- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Es geht um die tur. All diese Aufgaben werden zu 75 Prozent aus Steu- Abgeordneten!) ermitteln finanziert, insbesondere die soziale Sicherung. Der Staat hat die Aufgabe, einen Ausgleich an Chancen, – Auch wir sind Teil der Bevölkerung, Herr Verteilungsgerechtigkeit und Teilhabe zu gewährleisten. Dr. Westerwelle, aber vielleicht in Ihren Augen nicht. Er ist für die Steuergelder verantwortlich. Damit muss er 1902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Gabriele Frechen (A) verantwortlich umgehen und nach dem Prinzip der Leis- erachten, damit sie mehr finanziellen Freiraum für Ei- (C) tungsfähigkeit besteuern. genvorsorge und eigene Initiativen gewinnen können? Aber für diejenigen, die der Meinung sind, man sollte Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht so verfahren und keine Steuerentlastung herbeifüh- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. ren, sollte die Möglichkeit bestehen, den Tarif anders zu gestalten. Dies ist ein Thema für sich, aber die Struktur- reform als solche ist der Kern, weil sich erst aus der Gabriele Frechen (SPD): Struktur eines einfachen Steuerrechts das Vertrauen der Er hat mit dem Einsatz der Steuergelder sowohl dem Bürger in einen fairen Steuerstaat zurückgewinnen lässt. Gemeinwohl als auch jedem Einzelnen zu dienen. Das hat etwas mit Gerechtigkeit und Solidarität zu tun. Man kann es auch „Sozialstaat“ nennen. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, Herr Dr. Solms, Sie bestätigen meine Auffas- sung, dass Sie langsam dahin kommen, zugeben zu müs- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sen, dass Ihr Gesetzentwurf nicht finanzierbar ist und Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss. dass die öffentlichen Haushalte die Steuerausfälle nicht verkraften. Deswegen gehen Sie jetzt einen Schritt zu- Gabriele Frechen (SPD): rück und schlagen vor, sich zuerst auf die Struktur zu Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Ich freue mich konzentrieren und erst dann die Steuersätze in den Blick auf die Ausschussberatungen. zu nehmen. Die Konsequenz wäre, dass die von Ihnen vorgeschlagene Senkung der Steuersätze nicht haltbar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wäre. Das ist die Wahrheit und das muss man den Bürge- der CDU/CSU) rinnen und Bürgern auch sagen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist unintel- Christine Scheel. lektuell!) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Bitte etwas Viele Ziele, die Sie in Ihrem Steuermodell formuliert Neues!) haben, teilen wir. Wir teilen die Auffassung, dass das Steuerrecht zu kompliziert ist und vereinfacht werden muss. Wir teilen auch die Auffassung, dass in die Steuer- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorlagen eine verständlichere Sprache Eingang finden (B) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- muss, damit die Bürger und Bürgerinnen verstehen, was (D) gen! Ich fand es interessant, Herr Dr. Solms, dass Sie in den Formularen gefordert wird. heute zum ersten Mal im Zusammenhang mit Ihren Steu- ervorschlägen gesagt haben, es gehe Ihnen nicht unbe- (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das ist ja al- dingt um die Senkung der Steuersätze, sondern es gehe les neu! Donnerwetter!) Ihnen um die Struktur. Das heißt, dass das, was Sie in den letzten Jahren mit Ihrem Dreistufentarif und den Wir teilen auch die Auffassung, dass wir ein internatio- Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent politisch im nal wettbewerbsfähiges Steuerrecht brauchen. Land verkündet haben, überhaupt keinen Bestand mehr So weit, so gut. Aber um auf Ihren Einwand zurück- hätte, wenn man sich die Struktur anschaut und die zukommen: Bei der Fraktion der FDP passen Anspruch Finanzierung, die damit verbunden ist, in den Vorder- und Wirklichkeit nicht zusammen, grund stellen würde. Ihr Modell bricht also zusammen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist es!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weil Ihr Steuerrecht bei genauerer Betrachtung in den Frau Scheel, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kolle- einzelnen Facetten nicht unbedingt einfacher wird. Es gen Solms zu? wird vielmehr in verschiedenen Punkten komplizierter und schafft ein Eldorado für Steuergestalter. Wir alle be- mühen uns doch, Steuerschlupflöcher zu schließen. Wir Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): alle in diesem Haus bemühen uns doch in den Fraktionen Gerne. mehr oder weniger intensiv darum, dass die von teuren und guten Beratern eröffneten Steuergestaltungsmög- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lichkeiten im Sinne der Allgemeinheit der Steuerzahler, Bitte schön. die das zu finanzieren hätten, nicht mehr so stark genutzt werden können. Wir wollen die Steuerschlupflöcher schließen, aber Sie schaffen mit der von Ihnen beabsich- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): tigen Struktur neue Schlupflöcher. Das halte ich für ein Frau Scheel, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, Riesenproblem; denn wir sind in der Diskussion schon dass ich in meiner Rede ausgeführt habe, dass wir an un- viel weiter. serem Stufenmodell selbstverständlich festhalten und wir eine Steuerentlastung für die Bürger für notwendig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1903

Christine Scheel (A) Vorhin wurde festgestellt, dass Ihr Modell mit einem Es bleibt Ihr Geheimnis, wie Sie die Finanz- und (C) Einnahmeausfall in Höhe von 17 Milliarden bis Haushaltspolitik gestalten wollen. Insgesamt ist Ihre Po- 19 Milliarden Euro verbunden wäre. Ich sage klipp und litik jedenfalls inkonsistent. Aber ab und zu gibt es bei klar: Das geht nicht. Eine machbare Steuerreform – eine Ihnen einen Lichtblick. Sie, meine Damen und Herren Einkommen- und Unternehmensteuerreform – in von der FDP-Fraktion, haben die Vorlage zur Familien- Deutschland muss ohne Einnahmeausfälle für die öffent- politik, die Sie in der letzten Sitzungswoche eingebracht lichen Haushalte auskommen. Sie nehmen mit Ihren haben, konsequenterweise zurückgezogen, weil Ihre Vorstellungen – das finde ich an der FDP so absurd – Haushälter festgestellt haben, dass die vorgeschlagenen keinerlei Rücksicht auf die finanziellen Handlungsspiel- Maßnahmen nicht finanzierbar sind. räume des Staates. Sie tragen nichts zur Konsolidierung des Haushaltes bei. Sie haben, wenn es um die Stabilisie- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wie geht es ei- rung des Steueraufkommens ging, immer wieder die Ab- gentlich Herrn Loske?) schaffung der Eigenheimzulage und der Steuersparfonds Herr Westerwelle, Sie haben einerseits der Regierung abgelehnt, weil Sie das als Steuererhöhung interpretiert vorgeschlagen, auf die geplante Mehrwertsteuererhö- haben. Davon sind Sie jetzt etwas abgerückt – darüber hung zu verzichten – dem kann ich nur zustimmen; aus bin ich froh –, aber es schwebt immer noch im Raum. konjunkturellen Gründen haben Sie Recht –, und ande- rerseits den Gewerkschaften nahe gelegt, auf Lohnerhö- Auf der anderen Seite geben Sie aber das Geld des hungen zu verzichten. Ich kann Ihnen von der FDP- Staates mit vollen Händen aus. Sie haben einen Antrag Fraktion nur raten: Schließen Sie sich dem Pakt der Ver- zum Unterhaltsrechtes im Bundestag eingebracht – er nunft, wie Sie ihn nennen, an! Ziehen Sie Ihren Gesetz- wird heute Nachmittag beraten –, der voller nicht ausge- entwurf zurück! Überarbeiten Sie ihn und schauen Sie reifter und ausfinanzierter Versprechen ist. 200 Euro sich die realen finanziellen Rahmenbedingungen für Kindergeld – das klingt klasse. Wenn man den Bürgerin- Bund, Länder und Kommunen an! Dann können wir nen und Bürgern, die Kinder haben, 200 Euro Kinder- weiter diskutieren. geld zusagt, dann wird sicherlich jeder sagen: Super, darüber freue ich mich. Aber das kostet den Staat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9 Milliarden Euro und Sie sagen nicht, woher Sie das Geld nehmen wollen. Nicht nur wir sind der Auffassung, dass Ihre Vor- schläge nicht finanzierbar sind. Sie regieren in fünf Bun- Ich frage mich, wie das alles zusammenpasst: Sie for- desländern mit. dern Steuer- und Abgabensenkungen und Mehrausgaben (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: In wie vielen für Bildung, Forschung, Verteidigung und Familien, Ländern regieren Sie denn mit?) (B) (D) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mehr Wachstum, Davon stehen nun in drei Ländern, Sachsen-Anhalt, mehr Arbeitsplätze, mehr Steuerzahler!) Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, Wahlen an. In aber die Maastrichtkriterien sollen eingehalten werden. all diesen Ländern werben Sie für Ihr Modell und sagen: Im Bundestag steht aber keine Gelddruckmaschine. Das Der Steuervorschlag der FDP ist Superklasse. Manna fällt auch nicht vom Himmel. (Beifall bei der FDP) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das Manna Aber nennen Sie mir einen einzigen Ministerpräsidenten schon!) aus den drei Bundesländern, in denen Sie mitregieren, der bereit wäre, Ihren Gesetzentwurf in den Bundesrat Dieser Lebensrealität sollten Sie sich endlich stellen. einzubringen und zu sagen: Hier, Jungs und Mädels, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das sagen un- sowie bei Abgeordneten der SPD) sere Ministerpräsidenten nicht!) Bei Ihnen werden in einzelnen Bereichen Konzepte mit lege ich euch einen Gesetzentwurf vor; den wollen wir. – einem gewissen Tunnelblick – ohne Rücksicht auf die Keiner der Ministerpräsidenten ist tatsächlich der Mei- finanziellen Folgen – erarbeitet. nung, dass Ihr Gesetzentwurf Superklasse ist, weil alle Herr Kollege Koppelin, der für die FDP dem Haus- wissen, dass das nicht finanzierbar ist, dass es sich um haltsausschuss des Deutschen Bundestages angehört, be- eine Luftnummer handelt. treibt immer ein bisschen Konsolidierungsrethorik, mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der er auch seine Forderung nach Einhaltung des Wachs- tums- und Stabilitätspakts garniert. Das passt aber nicht Wer Haushaltsverantwortung trägt, muss das sehen. zusammen. Sie müssen sich langsam entscheiden, ob Sie Wer weiß, wie ein Haushalt funktioniert und welche in der Bundesrepublik Deutschland eine verantwor- Wirkungen bestimmte Maßnahmen haben, und sich im tungsvolle Oppositionspolitik mit gesamtstaatlicher Ver- Steuerrecht auskennt, der weiß auch, dass Steueraus- antwortung machen wollen oder nicht.Bislang sieht es fälle in den Anfangsjahren noch viel höher sind als in aber so aus, dass Sie das nicht machen wollen. den folgenden Jahren. Bezogen auf Ihren Vorschlag, be- deutet das: Die Tarifänderung wirkt zwar sofort. Aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage greift erst Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir machen das später. Wenn man Ihren Vorschlag umsetzte, dann hätte konstruktiv!) man Steuerausfälle nicht, wie von Ihnen behauptet, in 1904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Christine Scheel (A) Höhe von 17 bis 19 Milliarden Euro pro Jahr, sondern in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Höhe von rund 32 Milliarden Euro im ersten Jahr. Ich Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ möchte sehen, wie dann die Verhandlungen in Brüssel CSU-Fraktion. liefen. Sie riskieren, dass Deutschland an die EU Straf- geldzahlungen in Höhe von 10 Milliarden Euro leisten (Beifall bei der CDU/CSU) muss. Dieses Risiko gingen Sie ein. 10 Milliarden Euro just for fun! Das geht nicht; das ist unverantwortlich. Hans Michelbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) legen! Niemand hier sollte bezweifeln, dass wir eine Re- Wer sagt, dass die Gesamtsteuerbelastung in Deutsch- form der Einkommensteuer und der Unternehmensbe- land viel zu hoch sei, hat Recht, was die Strukturen in steuerung benötigen, um wieder mehr Wachstum und einzelnen Bereichen anbelangt. Aber die Steuerquote in Beschäftigung zu erzielen. Deutschland liegt – das sollten Sie bitte einmal zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kenntnis nehmen – bei knapp über 20 Prozent. Das ist neten der SPD – Beifall bei der FDP – Carl- fast der niedrigste Wert in Europa. Nur die Slowakei Ludwig Thiele [FDP]: Richtig! Auch Frau liegt mit 18,4 Prozent noch etwas darunter. Wir müssen Scheel nicht!) sicherlich die Struktur vereinfachen. Der ausformulierte Gesetzentwurf der FDP nötigt mir (Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE Respekt ab. Er bedarf sicher einer vertiefenden und um- LINKE]) fassenden Diskussion. Er ist eine gute Grundlage. Da- Aber wir dürfen nicht auf breiter Ebene Steuerentlastun- rüber darf man nicht einfach locker hinweggehen. Er ist gen vornehmen, weil das, wie gesagt, nicht verantwort- eine Grundlage für die weiteren Schritte in der Steuerpo- bar wäre. litik. Der Gesetzentwurf der FDP wirft aber zum heuti- gen Zeitpunkt – das müssen Sie, geschätzter Herr Kol- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Lafontaine lege Dr. Solms, zugeben – zahlreiche Fragen und klatscht! Das ist schon ein Vorteil! Wenigstens Zweifel auf. Insbesondere ist es mehr als fraglich, ob das einer!) angegebene Haushaltsvolumen von 17 bis 19 Milliar- Konzentrieren wir uns daruf, dass Deutschland im in- den Euro einer näheren Überprüfung standhält. Nach ternationalen Vergleich konkurrenzfähig bleibt. Die hohe ersten Berechnungen unsererseits belaufen sich die Kos- Abgabenbelastung bei den Löhnen muss im Fokus ste- ten auf über 21 Milliarden Euro. Das ist bei einem struk- hen. Lassen Sie uns auf das Wesentliche schauen! Die turellen Defizit des Bundeshaushaltes von heute (B) Grünen haben eine Vorlage für ein steuerfinanziertes 60 Milliarden Euro eine große Zahl. Es wird ein steini- (D) Progressivmodell in den Bundestag eingebracht, durch ger Weg, bis diesem Gesetzentwurf zugestimmt werden das kleine Einkommen von Sozialabgaben entlastet wer- kann. den. Das ist für den Arbeitsmarkt, die Bezieher kleiner Wir sollten uns angesichts der angespannten Haus- Einkommen und die Arbeitgeber gut. Gehen Sie diesen haltslage weder eine Verfassungswidrigkeit der Haus- Weg mit, anstatt mit irgendwelchen Luftnummern zu halte noch eine des Steuerrechts auf Dauer leisten. Wir agieren! müssen jetzt schrittweise mit Vernunft vorgehen. Meine Noch zu Ihrem Vorschlag, die Gewerbesteuer abzu- Damen und Herren von der FDP, auch für Sie gilt: Schal- schaffen. Man kann darüber reden, wie man die Kom- meienklänge sind von kurzer Dauer, wenn das Instru- munalfinanzen für die Zukunft regeln will. Das aber, ment gepfändet wird. Das ist die Situation. was ich bei allen, die die Gewerbesteuer abschaffen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und durch etwas anderes ersetzen wollen, anprangere, ist, der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ein dass die Bürger und die Bürgerinnen nicht die Informa- schönes !) tion bekommen, was das denn bedeutet. Diese kaufen die Katze im Sack. Die Einfachsteuer ist in Wirklichkeit Die Einhaltung der Verfassung und des europäischen ein hoch kompliziertes Zuschlagsmodell und die Bürger Stabilitätspaktes ab 2007 muss zunächst oberste Priorität erfahren nicht, wie hoch sie in letzter Konsequenz belas- genießen. Ohne dass wir konsolidiert haben, werden wir tet werden, wenn sie Einkommensteuer plus kommunale keine Wachstumsziele erreichen und werden wir keine Zuschlagsteuern bezahlen. Die einzelnen Bürger und Kraft für die Steuerpolitik haben. Bürgerinnen erfahren nicht, wie hoch die Steuersätze für sie wirklich sind. Das enthalten Sie den Bürgern vor. – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Präsidentin, ich bin sofort mit meiner Rede am Das ist die Grundlage. Wir müssen Schritt für Schritt Ende. vorgehen. Ein Wolkenkuckucksheim nützt unseren Steu- Die Rhetorik klingt gut, aber Sie ignorieren die Zu- erzahlern nichts; denn die Schulden von heute sind die sammenhänge. Auch eine Oppositionspartei muss ihrer Steuern von morgen. Das würde letzten Endes auch nicht gesamtstaatlichen Verantwortung nachkommen, aber da der Generationengerechtigkeit und der Planungssi- ist bei Ihnen Fehlanzeige. cherheit unserer Unternehmen entsprechen. Danke schön. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Deshalb wird die Mehrwertsteuer er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) höht! Super klasse Idee!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1905

Hans Michelbach (A) Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtig- men liegt im EU-Durchschnitt bei 24,8 Prozent und in (C) keit ist die Gemeinschaftsaufgabe dieses Deutschen Deutschland bei 39 Prozent. Diese Differenz ist natür- Bundestages. Deshalb steht die große Koalition für Rea- lich nicht tragbar. Wir brauchen einen wettbewerbsfähi- lität und Praktikabilität in der Steuerpolitik. Wir haben gen Standort. Wir müssen etwas tun; sonst wandern un- im Koalitionsvertrag nur das festgelegt, was wir in die- sere Betriebe in die mittel- und osteuropäischen Länder ser Legislaturperiode einhalten können. Der Bau von ab. Deswegen hat für uns nach der Haushaltskonsolidie- steuerpolitischen Luftschlössern, meine Damen und rung eine Reform der Unternehmensbesteuerung zum Herren, kostet Sie zwar nichts, aber die zerstörten Er- Zwecke der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf wartungen sind teuer. Nur Glaubwürdigkeit schafft das dem europäischen Markt oberste Priorität. Das ist unser notwendige Vertrauen für Wachstum und Beschäftigung. Ziel; das ist unser Weg. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der SPD) Die Ausgangslage ist ein wichtiger Punkt. Wir müs- 83 Prozent der Bürger sind heute zuversichtlich, dass es sen unser Gesamtkonzept weiterentwickeln. Dieses zu einem Wirtschaftsaufschwung kommt. Die verbes- Gesamtkonzept muss für den Bürger verständlich, aus- serte Stimmung ist auf diese Glaubwürdigkeit, auf diese gewogen und akzeptabel sein. Es muss die Wettbewerbs- neue Vertrauensbasis, zurückzuführen. In der Steuerpoli- fähigkeit deutscher Unternehmen deutlich verbessern, es tik müssen wir dies nutzen, um einzelne Maßnahmen muss die kommunale Autonomie stärken und es darf umzusetzen. Bund und Ländern allenfalls in der Startphase eine maß- Alles zu seiner Zeit: Wir werden in dieser Woche das volle Anschubfinanzierung abverlangen. Schließlich Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und muss es für alle Beteiligten nachvollziehbar und bere- Beschäftigung in zweiter und dritter Lesung verabschie- chenbar sein. den. Das ist von wesentlicher Bedeutung für den begin- Es lohnt sich, für diese Aufgabenstellung in den nenden Aufschwung, für mehr Wachstum und für neue nächsten Wochen und Monaten zu arbeiten. Im Koaliti- Jobs. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist der erste onsvertrag mit der SPD hat die CDU/CSU eine grundle- machbare Schritt. Vernünftige Steuerpolitik bedeutet, gende Reform der Unternehmensbesteuerung zum Schritte zu vollziehen, die wirklich nutzen und auch fi- 1. Januar 2008 fest vereinbart. nanzierbar sind. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und NEN]: Angekündigt!) der SPD) Die Modellvorschläge, der Vorschlag der Stiftung (B) Die Regelung zur Förderung der privaten Haushalte Marktwirtschaft und jener des Sachverständigenrates, (D) als Arbeitgeber, die gezielte Belebung der Investitionstä- liegen jetzt vor. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit können tigkeit, insbesondere der kleinen und mittleren Unter- diese Vorschläge zu einem gemeinsamen Ergebnis füh- nehmen, das ist der richtige Ansatz. Hinzu kommen: Er- ren. Ich erinnere an den Vorschlag der FDP, an andere haltungs- und Modernisierungsmaßnahmen bei privat Vorschläge und an unsere Vorschläge: Es besteht ein genutzten Häusern und Wohnungen, die Förderung klei- breiter Konsens darüber, dass die Verbesserung der ner und mittlerer Unternehmen durch eine Änderung der Wettbewerbsfähigkeit durch eine Reform der Unterneh- Umsatzbesteuerung – die Umsatzgrenze wird in den al- mensbesteuerung oberste Priorität haben muss. Wenn ten Bundesländern von 125 000 Euro auf 250 000 Euro wir diesen Gesetzentwurf in diesem Jahr zustande brin- angehoben –; die Abschreibungsbedingungen für be- gen, dann haben die Unternehmen Planungssicherheit. wegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens werden Das In-Kraft-Treten dieses Gesetzes zum 1. Januar 2008 durch eine bis zum 31. Dezember 2007 befristete Anhe- wäre ein wichtiges Zukunftssignal. Qualität ist immer bung der degressiven Abschreibung auf 30 Prozent ver- besser als Schnelligkeit. Das ist der Weg, den wir jetzt bessert. Das sind zählbare Hilfen für den Mittelstand: Er beschreiten müssen. kann möglichst schnell mehr investieren, weil er über mehr Liquidität verfügt. Wir vollziehen einen wichtigen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schritt, um mehr Investitionen durch unseren Mittel- Wir müssen die vorliegenden Vorschläge und Mo- stand zu ermöglichen. delle mit Blick auf das Ziel einer international wettbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und werbsfähigen Steuerpolitik in den nächsten Wochen und der SPD) Monaten unvoreingenommen prüfen. Dieser steuerlichen Förderung von Wachstum und Ich kann Ihnen versichern: Bei der Reform der Unter- Beschäftigung müssen natürlich größere Schritte in der nehmensbesteuerung werden uns insbesondere die fol- Steuerpolitik folgen. Da sind wir beieinander. genden Zielsetzungen leiten: die weitgehende Rechts- form- und Finanzierungsneutralität, die Einschränkung (Beifall des Abg. Jochen-Konrad Fromme von unsauberen Gestaltungsmöglichkeiten, die Verbes- [CDU/CSU] sowie des Abg. Dr. Hermann serung der Planungssicherheit für Unternehmen und die Otto Solms [FDP]) öffentlichen Haushalte, die nachhaltige Sicherung der Es wird neue Anläufe zur Steuervereinfachung und deutschen Steuerbasis sowie natürlich als Hauptziel die zur Förderung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit geben. Tatsache ist: Die Steuerbelastung der Unterneh- und Europatauglichkeit des Unternehmensteuerrechts. 1906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Hans Michelbach (A) Wir werden diese Reform Schritt für Schritt an- nen das deutlich vor Augen zu führen – planen eine (C) packen, solide finanziert, mit einem vernünftigen Weg in Mehrwertsteuererhöhung und wollen die Bürger mit die Zukunft. Unsere Steuerzahler, Wirtschaft und Bür- 20 Milliarden Euro zusätzlich belasten. ger, brauchen standortfreundlichere und steuersystema- (Beifall bei der FDP) tisch bessere Bedingungen. Damit werden wir mehr Wachstum und Beschäftigung erreichen. Diesen Weg Das ist das krasse Gegenteil von dem, was Deutschland sollten wir gemeinsam beschreiten. Dafür sollte es in braucht. Das ist das krasse Gegenteil von dem, was die diesem Haus einen breiten Konsens geben. Lassen Sie FDP will. Das ist das krasse Gegenteil von dem, was wir uns deswegen gemeinsam in der großen Koalition, aber Ihnen in einem konkreten Entwurf heute vorgelegt ha- auch mit allen anderen Fraktionen an diesem Weg ganz ben. vernünftig arbeiten. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Was Herzlichen Dank. Deutschland braucht, ist nicht die FDP! – Ge- genruf des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Doch!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Unser Konzept würde die Binnennachfrage stärken. Als Nächster spricht Dr. Volker Wissing für die FDP- Ihre Mehrwertsteuererhöhung, lieber Kollege, bremst Fraktion. sie. Unser Konzept würde die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Ihre Stillstandspolitik belastet (Beifall bei der FDP) die Wirtschaft und bedroht Arbeitsplätze. Die FDP hat Farbe bekannt. Wir haben ein durchdachtes Konzept Dr. Volker Wissing (FDP): vorgelegt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Lassen Sie mich zunächst ein paar Sätze zu Frau Kolle- großen Koalition, wo bleiben denn Ihre Vorschläge? Von gin Scheel sagen. Von den Grünen bin ich ganz schön der SPD – Sie haben so kräftig dazwischengerufen – ist überrascht. Sie von den Grünen passen ganz gut zur gro- sowieso nicht mehr viel zu erwarten. ßen Koalition; Sie trippeln da ganz wunderbar mit. (Zuruf des Abg. Bernd Scheelen [SPD]) (Beifall bei der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! – Herr Scheelen, Sie haben Ihr finanzpolitisches Profil Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer zu spät nach dem letzten Bundestagswahlkampf im Grunde ge- kommt, den straft das Leben! – Reinhard nommen über Bord geworfen. Wenn man eine Mehr- (B) Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das ist ein na- wertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte kategorisch (D) turwissenschaftliches Phänomen: Masse zieht ablehnt und dann eine Erhöhung um 3 Punkte mitmacht, an!) spricht das für sich; dazu braucht man nicht mehr viel zu sagen. Diese Debatte hat eines deutlich gemacht: Wir haben Konzepte; Sie haben sie nicht. Wir kämpfen für die Ent- (Beifall bei der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: lastung der Bürgerinnen und Bürger; Sie sorgen für die Bei Ihrem Konzept müsste man noch zwei Belastung. Punkte drauflegen!) (Beifall bei der FDP) Sie von der CDU/CSU, Herr Michelbach – Herr Bernhardt ist auch noch da –, sagen, alles, was die FDP Wir wollen ein einfaches und gerechtes Steuersystem vorschlage, gehe nicht, sei falsch und völlig abwegig. mit niedrigen Sätzen, das die Menschen wieder verste- hen; Sie wollen den finanzpolitischen Stillstand. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!) (Beifall bei der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Ich möchte Ihnen einmal vorhalten, dass Sie auf Ihrem Quatsch, Herr Wissing!) Parteitag ganz ähnliche Tarife beschlossen haben. Ihre kleinmütigen Einwände machen deutlich, woran (Beifall bei der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! – es Ihnen fehlt: Ihnen fehlt es an Mut. Ihnen fehlt es an der Kraft, Reformen durchzusetzen. Ihnen fehlt es an Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das haben wir Konzepten. Ihnen fehlt es an dem Willen, für die Bürge- so nicht gesagt!) rinnen und Bürger unseres Landes das zu erreichen, was Herr Merz ist nicht mehr im Raum. Mit Herrn Kirchhof sie dringend brauchen, nämlich steuerliche Entlastung. wollen Sie nichts mehr zu tun haben. Was zurückbleibt, ist eine finanzpolitische Wüste bei der CDU/CSU. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Nicht überneh- men, Herr Kollege! Das ist ein bisschen viel! – (Beifall bei der FDP – Christine Scheel Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das na!) stimmt! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In der Wüste gibt es auch Oasen, Herr Kollege!) Wir wollen für die Bürgerinnen und Bürger eine Ent- lastung um 20 Milliarden Euro erreichen und haben dazu Da war eine Bierdeckelsteuer-Kanzlerkandidatin. Da einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt. Sie – um Ih- war eine Kopfpauschalen-Kanzlerkandidatin. Daraus ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1907

Dr. Volker Wissing (A) eine Trippeltippelkanzlerin geworden. Schneller, als Sie Hause – sicher in hohem Maße gewöhnungsbedürftig. (C) das gemacht haben, hat kaum eine Partei in diesem Land Diejenigen, die über lange Zeit sozusagen in der Opposi- ihre politischen Inhalte über Bord geworfen. Von dem, tion Koalitionen gebildet haben und mit anderen gewisse mit dem Sie bei der Bundestagswahl angetreten sind, ist Berührungspunkte hatten, insbesondere im Schnittfeld wirklich nicht mehr viel übrig geblieben. „Neoliberalala“, wundern sich natürlich, dass der an- dere, der sozusagen untreu geworden ist, seine Adhä- (Beifall bei der FDP – Gabriele Frechen sionsflächen nun bei der SPD sucht und dass die beiden [SPD]: Hat die Rede auch einen sachlichen Volksparteien andere Schnittmengen finden als CDU/ Teil? – Reinhard Schultz [Everswinkel] CSU und FDP, ebenso als SPD und Grüne. So ist das [SPD]: Der Solms hat doch ganz nett angefan- halt. gen! Warum machen Sie jetzt solch einen Käse?) Möglicherweise gibt es in der Politik manchmal meh- Sie kritisieren unser Konzept, Frau Frechen, aber Sie rere vertretbare richtige Antworten zur Lösung eines übersehen dabei: Wir haben wenigstens eines; Sie nicht. Problems. Die große Koalition geht, weil sie gemeinsam handeln muss, einen gemeinsamen Weg, der sowohl die (Gabriele Frechen [SPD]: Aber ein schlech- Frage der Konsolidierung der Staatsfinanzen als auch die tes!) Frage des Wachstums und die Frage eines modernen, wettbewerbsfähigen Steuerrechts für Unternehmen unter Sie können sich gern an uns abarbeiten, aber Sie werden einen Hut bringen wird. Das ist ein anderer Ansatz, als die Verantwortung nicht los. Eine Regierung, die es andere ihn haben. nicht schafft, eigene Reformkonzepte auf den Tisch zu legen, kann die Probleme dieses Landes nicht lösen. Sie Einige von uns waren gestern Abend Zeugen einer sollten regieren, nicht opponieren. merkwürdigen Veranstaltung des Bundesverbands mit- (Beifall bei der FDP) telständischer Wirtschaft, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten uns ge- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- freut, wenn wir heute einen Regierungsentwurf hätten NEN]: Die war wirklich merkwürdig; das mitberaten können. Dann hätten wir wenigstens einen stimmt!) Wettbewerb der Ideen. Aber so steht die FDP alleine da bei der Herr Solms viel Beifall bekommen hat, was ich mit einem Gesetzentwurf. Es liegt klar auf der Hand, verstehen kann; denn was er gesagt hat, passte hervor- dass Deutschland ein Problem hat: Deutschland hat eine ragend zusammen: am besten Nullsteuerstaat und Opposition mit Konzepten und eine konzeptionslose Re- 100 Prozent Subventionen; das ist das, was bei einer be- gierung. (B) stimmten Klientel immer Begeisterungsstürme weckt. (D) (Anhaltender Beifall bei der FDP – Abg. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hat er aber Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD] begibt nicht gefordert!) sich zum Rednerpult) Ich will aber bei dieser Gelegenheit folgenden Ein- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: druck beschreiben; ich finde, auch das muss einmal ge- Das war schon fast der Auftrittsbeifall. sagt werden. Ich rede als Mittelstandsbeauftragter mei- ner Fraktion sehr viel mit Verbänden. Die meisten sind (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Na, na, na, sachliche Ratgeber und das ist auch hilfreich. Aber wenn Frau Kollegin!) so ein Zirkusdirektor wie der Mario Ohoven den stell- vertretenden Bundeskanzler, den Herrn Solms und den Der Kollege Reinhard Schultz spricht für die SPD- stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU Fraktion. als Punchingball benutzt, nach ihnen redet und sie dann zur Minna macht, nur um selber zu glänzen, dann ist das Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): keine Gesprächsgrundlage mehr. Mit dieser Verbands- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und spitze werde ich kein Gespräch mehr führen. Da gibt es Kollegen! Ich nehme den Beifall für mich nicht in An- viele andere, sachliche Ratgeber, die uns in mittelstands- spruch. – Herr Solms hatte eigentlich ganz nett angefan- politischen Fragen weiterhelfen werden. gen und damit eine Debatte eingeleitet, die für die Kern- zeit verhältnismäßig sachlich war. Aber was der Herr (Beifall bei der SPD – Christine Scheel Wissing dann nachgeschoben hat, hat diesen Stil ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast ja sprengt. Insofern eröffnen sich neue Freiräume für nach- gestern mit ihm geredet! – Zuruf von der FDP) folgende Redner. – Das ist ein halbseidener Zirkusdirektor. Ich setze mich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der auch nicht zu ihm an den Tisch, weil man Angst haben CDU/CSU – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das muss, auf ein Pressebild zu kommen, auf dem Hand- wollten Sie doch sowieso!) schellen zu sehen sind. – Nein, eigentlich neige ich nicht dazu. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Es ist ja so, dass neue Mehrheiten, neue Koalitionen sich neue Adhäsionsflächen suchen. Das ist für einige Das hat mit Seriosität überhaupt nichts zu tun. Das darf – für die FDP, aber auch für andere in diesem Hohen man doch wohl einmal sagen. Ich verstecke mich auch 1908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) nicht hinter meinem Mandat, sondern sage meine Mei- Man muss sich schon deswegen aus politisch-didakti- (C) nung sehr offen. schen Gründen mit Ihrem Gesetzentwurf auseinander setzen, weil Sie ein Lehrbeispiel dafür sind, dass Ein- Zurück zu dem Gesetzentwurf. Herr Solms, Sie ha- fachheit manchmal mit Schlichtheit gleichzusetzen ist, ben, finde ich, einen strukturellen Fehler gemacht: Sie in keinem Falle ist sie aber, siehe Steuerrecht, mit Ge- haben den 25-Prozent-Ansatz bei den Unternehmen- rechtigkeit gleichzusetzen. steuern auf die privaten Einkommen übertragen. Es gibt aber keine Schnittstelle, wo Sie private Einkommen Ich glaube auch, dass die Wettbewerbsfähigkeit beim nach Leistungsfähigkeit besteuern und den thesaurierten Unternehmensteuerrecht nicht allein durch den Steuer- Gewinn der Unternehmen unter Wettbewerbsgesichts- satz bestimmt wird. In Gesprächen mit der Stiftung punkten niedriger besteuern, sondern Sie setzen das auf Marktwirtschaft und mit dem Sachverständigenrat haben einer bestimmten Ebene gleich. Das begründet im We- wir eine Menge gelernt. Bis zum Sommer wird es noch sentlichen den riesigen Steuerausfall. Das passt nicht zu- eine Reihe zusätzlicher Modelle geben. Aus diesen Mo- sammen. Wer thesaurierte Gewinne der Unternehmen dellen, die gegeneinander konkurrieren, können wir ler- niedrig besteuern will, der muss erst recht die Besteue- nen. Trotzdem gilt, dass sich ein Unternehmen, das am rung nach Leistungsfähigkeit bei den Privaten beachten. Standort Deutschland investieren will, mehr anschauen Ansonsten führt er alle in den Staatsbankrott. Unabhän- wird als nur einen plakativen Steuersatz. Es wird sich gig davon möchte ich erwähnen, dass Sie in Ihrem Fi- auch die übrigen Rahmenbedingungen – beispielsweise nanztableau, das nur aus einer Zeile besteht, viele Steuerrecht, Infrastruktur, Qualität der Mitarbeiter, An- Punkte, die in Ihrem Gesetzentwurf vorhanden sind, zahl der Streiktage – anschauen. überhaupt nicht benennen. Steuerrecht ist ein Standortfaktor unter mehreren. Der Das Kindergeld wurde schon angesprochen. Entspre- Steuersatz wiederum ist nur ein Teil davon. Ich bin Un- chende Änderungen werden im Gesetzentwurf und in ternehmer und weiß einen niedrigen Steuersatz zu schät- der Begründung behandelt. Diese Änderungen würden zen. Ich schätze aber auch beispielsweise vernünftige zu einem zusätzlichen Betrag in Höhe von Abschreibungsbedingungen und die Möglichkeit von 9 Milliarden Euro führen. Ich weiß auch nicht, was die Drohverlustrückstellungen. Das heißt, Bemessungs- Vererbbarkeit von Ansprüchen aus der Riesterrente grundlage und Steuersatz gehören zusammen. Das – ein interessanter Gedanke – kosten würde. Aber um- Schicksal eines Unternehmens ist manchmal genauso sonst ist dies bestimmt nicht zu haben. wechselvoll wie das einer Privatperson. Daher muss man alle möglichen Situationen, die sich für ein Unterneh- All das sind Bestandteile, die die Wüste, die Sie ge- men ergeben können, im Hinterkopf haben, wenn man rade beschrieben haben, nicht gerade beleben. 46 Jahre (B) eine Unternehmensteuerreform will, wie man das auch (D) Ihrer Regierungsverantwortung bedeuten auch 46 Jahre bei Privaten im Hinblick auf die Besteuerung ihrer Ein- der Verwüstung des deutschen Steuerrechts. Da darf man künfte tut. sich überhaupt nichts vormachen. Wir alle wissen, dass Steuerrecht zu einem großen Teil Richterrecht ist. Zu Dieser Gesetzentwurf wird die Debatte bereichern. Er versuchen, im Rahmen einer Vereinfachungsorgie die wird die Stoßrichtung aber nicht verändern. Ich warne kritischen Punkte erst einzusammeln, um dann von dringend davor, als könnten Sie nach dem Hase-und- Finanzrichtern sozusagen wieder zurückgepfiffen zu Igel-Prinzip einfach nur große Vereinfachungsfahnen werden, ist nicht ehrlich und nicht seriös. schwenken und den Eindruck erwecken, die Koalition würde ihre Unternehmensteuerreform nicht über die (Beifall bei der SPD) Rampe bringen. Deswegen würde Ihr Gesetz, würde es jemals im Ge- setzblatt stehen, durch Tausende Seiten von Verordnun- Nach den Gesprächen in unseren Reihen – die Takt- gen unterfüttert werden müssen. Das kennen wir seit zahl der Begegnungen nimmt ja Gott sei Dank zu – bin Kirchhof. ich sehr sicher, dass wir diese Reform hinbekommen werden, weil wir den Willen dazu haben. Aber wir wol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) len auch eine Unternehmensteuerreform haben, die län- ger gültig ist als eine Wahlperiode und die nicht durch Kirchhof, der große Vereinfacher, hatte erklärt: Nur drei veränderte Mehrheitsverhältnisse in dreieinhalb Jahren Seiten Gesetz und der Rest wird in Verordnungen gere- wieder infrage gestellt werden kann. Die große Koalition gelt. Diese Regelungen liegen aber außerhalb des Parla- hat die Chance, etwas zustande zu bringen, das von län- ments und tragen nicht zur Transparenz für den Steuer- gerer Dauer ist. Das ist die Planungssicherheit, die die bürger bei. Das finde ich nicht in Ordnung. Unternehmen brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl- Vielen Dank. Ludwig Thiele [FDP]: Stimmt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn wir ein gerechtes Steuerrecht wollen, dann müssen der CDU/CSU) die entsprechenden Eckpunkte, in denen die Lebens- wirklichkeiten berücksichtigt werden, im Gesetz stehen. Das gilt für die Privaten genauso wie für die Unterneh- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: men. Für die Linksfraktion spricht Oskar Lafontaine. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1909

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian lung der Vermögen und Einkommen keine ordentliche (C) Dressel [SPD]: Der gescheiterte Finanzminis- Vermögensbesteuerung einführen, wie es sie in ande- ter!) ren modernen Industriestaaten gibt. Für die Fraktion Die Linke möchte ich für diejenigen, die heute Zeit haben, Oskar Lafontaine (DIE LINKE): uns zuzuhören, einen einfachen Hinweis geben: Das Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und reine Geldvermögen der Deutschen beträgt 4 000 Mil- Herren! Der Abgeordnete Solms hat für die Freien De- liarden Euro. Die Hälfte davon, 2 000 Milliarden Euro, mokraten in aller Klarheit die Position dieser Partei dar- gehören den oberen Zehntausend bzw. 1 Prozent der Be- gelegt. Er hat das Steuergesetz mit dem Freiheitsprinzip völkerung. Würde man also nur diese Hälfte mit 5 Pro- in der Verfassung begründet. Darauf will ich eingehen. zent besteuern, gäbe es in den öffentlichen Kassen Mehreinnahmen von 100 Milliarden Euro. Dies zeigt, Es ist richtig, wenn Sie ein einfaches und gerechtes dass die ganzen sozialen Kürzungen der letzten Jahre Steuersystem verlangen. Wer wollte dem widerspre- und die ganze Reformpolitik völlig überflüssig und chen? Es ist ebenfalls richtig, wenn Sie sagen, die Men- – wenn man es hart formuliert – ein einziger Schwindel schen müssen das Steuerrecht verstehen, damit sie ihre waren. Steuererklärung abgeben können. (Beifall bei der LINKEN) Unser Widerspruch zu Ihrem Gesetzentwurf kristalli- siert sich an Art. 14 des Grundgesetzes, den Sie eben- Nun weiß ich, dass sich niemand von der Mehrheit falls bemüht haben, den Sie aber interessanterweise sehr dieses Hauses an diese einfache Gesetzgebung wagen verkürzt zitiert haben. Worauf Sie immer wieder verwei- möchte. Der Verweis auf andere mit uns konkurrierende sen, ist die Eigentumsgarantie. Ich lese Ihnen einmal den Staaten wirft aber die Frage auf, warum eine ordentliche ersten Absatz vor: Vermögensbesteuerung in Schweden, Großbritannien und den Vereinigten Staaten möglich ist Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleis- tet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bestimmt. NEN]: Die Vereinigten Staaten haben keine Vermögensteuer!) Was Sie aber in Ihren Reden immer vergessen, sind die weiteren Absätze dieses wichtigen Artikels des und warum sie hier in Deutschland nicht möglich sein Grundgesetzes. Deshalb möchte ich Ihnen einen Auszug soll. Solange diese extreme Schieflage nicht beseitigt ist, daraus vorlesen: gibt es kein gerechtes Steuersystem in Deutschland. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Ein weiterer Punkt. Wir möchten nicht nur, dass die Eine Enteignung ist … zum Wohle der Allgemein- Verfassung wieder ernst genommen wird. Wir möchten heit zulässig. auch, dass die Einkommens- und Lohnentwicklung in (Beifall bei der LINKEN) Deutschland der lebendigen Arbeit folgt und nicht dem toten Kapital. Zum Verständnis: Damit ist nicht die Enteignung älterer Arbeitnehmer über die Sozialgesetzgebung gemeint. Die (Beifall bei der LINKEN) Väter des Grundgesetzes Ich wiederhole diesen Satz: Die Einkommens- und Lohn- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entwicklung in Deutschland soll der lebendigen Arbeit NEN]: Es gab auch Mütter!) folgen und nicht dem toten Kapital. Das krasse Gegen- teil geschieht seit vielen Jahren. Ich wiederhole die Aus- haben vielmehr etwas ganz anderes gemeint. Weil Sie sage aus dem Jahreswirtschaftsbericht: Für leistungslose Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes übersehen, ist Ihr Einkommensbezieher, wenn man so will, ergibt sich ein Steuervorschlag völlig falsch und inakzeptabel. Denn er Zuwachs von 7,25 Prozent, während die große Mehrheit greift die derzeitige Entwicklung unserer Gesellschaft des arbeitenden Volkes in diesem Jahr überhaupt keinen überhaupt nicht auf und spiegelt sie nicht wider. Zuwachs ihrer Löhne bzw. Renten erwarten kann. Im Jahreswirtschaftsbericht steht die schlichte Fest- Auf diese Art und Weise kann es einfach nicht weiter- stellung der Bundesregierung – ich wiederhole sie an gehen. Dem Ganzen wird mit einer solchen Vereinfa- dieser Stelle –: Die Löhne wachsen nicht, die Renten chung, wie Sie sie hier vielleicht gut gemeint vortragen, wachsen nicht, die sozialen Leistungen gehen zurück, die Krone aufgesetzt, wenn die Zuschläge für die Nacht- nur die Einkommen aus Vermögen und selbstständiger und Schichtarbeit besteuert werden sollen und die Pend- Tätigkeit wachsen um 7,25 Prozent. Wie man bei dieser lerpauschale abgeschafft werden soll. Gleichzeitig sagt Situation einen Gesetzentwurf einbringen kann, mit dem man aber: Werdet flexibler, werdet beweglicher auf dem die Tendenz einer solchen Entwicklung verschärft Arbeitsmarkt. Das alles passt nicht mehr zusammen. Aus würde, ist niemandem verständlich. Daher wird er von diesem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab. der großen Mehrheit der Bevölkerung strikt abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Im Grunde genommen geht es in der entwickelten Es wird keine gerechte Steuergesetzgebung in Volkswirtschaft – wie ein Ökonom, an dem sich heute Deutschland geben, wenn wir bei der jetzigen Entwick- viele die Schuhe abputzen, die bei weitem nicht an ihn 1910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Oskar Lafontaine (A) heranreichen, nämlich John Maynard Keynes, schon vor sen. Schließlich ist auch die Steuergerechtigkeit auf der (C) vielen Jahren geschrieben hat – darum, dass es in einem Strecke geblieben, weil nur diejenigen die Möglichkei- solchen Entwicklungsstadium, in dem wir uns heute be- ten zur Steuerminderung nutzen können, die eine teure finden, darauf ankommt, die Ersparnisse wieder in In- Steuerberatung bezahlen können. vestitionen umzulenken. Das ist das Kernerfordernis ei- Wir streben daher neben der für das Jahr 2008 geplan- ner Volkswirtschaft, wie wir sie heute vorfinden. Gegen ten strukturellen Reform der Unternehmensbesteuerung das Kernerfordernis, Ersparnisse in Investitionen umzu- eine Neuformulierung auch des deutschen Einkommen- lenken, verstoßen Sie massiv mit Ihren Vorschlägen. steuerrechts an. Letztere hat das Ziel, die Einkommen- Es geht darum, durch eine moderne Gesetzgebung in steuer einfacher, verständlicher, effizienter und damit Deutschland wieder eine ordentliche öffentliche Inves- auch gerechter zu gestalten. Hierzu halten wir allerdings titionsquote zu erreichen wie in unseren europäischen am linear-progressiven Steuertarif fest. Wir wollen die Nachbarstaaten. Wir werden in Deutschland niemals bei Zahl der Ausnahmetatbestände reduzieren sowie durch Wachstum und Beschäftigung zulegen, wenn wir nicht Typisierungen und Pauschalierungen das Besteuerungs- zumindest eine ähnlich hohe öffentliche Investitions- verfahren modernisieren und Bürokratie abbauen. Die quote haben wie die europäischen Nachbarstaaten. Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit bleibt allerdings für uns eine wichtige, auch verfassungs- (Beifall bei der LINKEN) rechtlich gebotene Leitlinie steuerpolitischen Handelns. Ein weiterer Punkt. Solange wir die Ersparnisse nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig in Bildungsinvestitionen und in Investitionen in die Thiele [FDP]: Für uns auch!) Forschung umlenken, werden wir unsere Volkswirtschaft nicht modernisieren können. Unsere Volkswirtschaft Schließlich müssen die Steueränderungen auch sozial wird nicht durch immer neue Steuersenkungsrunden ausgewogen realisiert werden. wachsen und modernisiert. Das wurde in den letzten Jah- Angesichts des internationalen Steuerwettbewerbs hat ren erfolglos versucht. Wir sollten uns ein Beispiel an für uns allerdings die Reform der Unternehmensbe- Volkswirtschaften nehmen, die wachsen. Das sind etwa steuerung Priorität. Das neue Unternehmensteuerrecht die skandinavischen Länder. Ein solches Gesetz, wie Sie soll die Steuerbasis in Deutschland nachhaltig sichern, In- es hier vorlegen, hätte in diesen Volkswirtschaften nicht vestitionsanreize setzen, das Wirtschaftswachstum bele- die geringste Chance. ben und Arbeitsplätze schaffen. Dabei streben auch wir, (Beifall bei der LINKEN) wie die FDP, Rechtsform- und Finanzierungsneutralität an. Wir sind allerdings realistisch genug, zu erkennen, dass angesichts des bestehenden Konsolidierungsdrucks (B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) in allen öffentlichen Haushalten Nettoentlastungen nur Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter insoweit zu realisieren sein werden, als die ausgelösten Rzepka. Wachstumsimpulse zusätzliche Steuereinnahmen bewir- (Beifall bei der CDU/CSU) ken. Die Notwendigkeit einer Reform der direkten Steu- Peter Rzepka (CDU/CSU): ern, die die FDP-Fraktion mit ihrem vorliegenden Ge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und setzentwurf auf den Weg bringen will, ist also unbestrit- Herren! Wir hatten ja gerade das Vergnügen, den größten ten. Finanzpolitiker aller Zeiten hier im Plenum des Deut- schen Bundestages zu hören. Lassen Sie mich zu einigen Details des vorliegenden Gesetzentwurfs sprechen. Sie von der FDP-Fraktion (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der schlagen vor, dass Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ zur gesetzlichen Rentenversicherung sofort und in voller CSU]) Höhe steuerlich abzugsfähig sein sollen. Arbeitnehmer, Sie eröffnen wieder das Gruselkabinett, Herr Kollege deren Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungs- Lafontaine, wenn Sie in einer steuerpolitischen Debatte grenze in der gesetzlichen Rentenversicherung liegt, sol- mit Stichworten wie Enteignung und Vermögensteuer ar- len weitere Beträge – und zwar bis zum Höchstbeitrag in beiten. Sie treiben mit dieser Argumentation Kapital und der gesetzlichen Rentenversicherung – in eine private ka- Investitionen aus Deutschland heraus und anschließend pitalgedeckte Altersvorsorge mit steuerlicher Wirkung beklagen Sie sich über Arbeitslosigkeit und die Notwen- investieren können. Außerdem sollen auch Selbststän- digkeit, die Not leidenden Sozialsysteme zu reparieren. dige Altersvorsorgebeiträge bis zu den Höchstbeiträgen in der gesetzlichen Rentenversicherung geltend machen (Beifall bei der CDU/CSU) können. Und Sie versprechen noch mehr: Sonstige Auf- wendungen zur Alters- und Risikovorsorge sollen über Wir diskutieren heute über den Gesetzentwurf der die gesetzlichen Höchstbeiträge hinaus bis zur Höhe von FDP-Fraktion. Ich denke, wir müssen bei dieser Gele- 2 500 Euro zusätzlich abziehbar sein. genheit einige Bemerkungen zum Ausgangspunkt ma- chen, und zwar über die andauernden Bemühungen des Demgegenüber sollen die Renten aus diesen steuer- Steuergesetzgebers, Einzelfallgerechtigkeit herzustel- frei gestellten Beiträgen erst zum Zeitpunkt des Zuflus- len. Das hat das deutsche Steuerrecht letztlich wider- ses versteuert werden. Diese Vorschläge verwirklichen sprüchlich, unübersichtlich und ineffizient werden las- zwar konsequent die Zielsetzung der nachgelagerten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1911

Peter Rzepka (A) Besteuerung von Alterseinkünften. Da aber die steuer- Begründung Ihres Entwurfs aufgenommenen Formulie- (C) freien Einzahlungen in die Rentenversicherung und die rung – ich zitiere – dann steuerpflichtigen Auszahlungen viele Jahre ausei- nander fallen können, ergeben sich für die Zwischenzeit Zur Ermittlung eines eventuellen Gewinns wird als Steuerausfälle in Milliardenhöhe, die kein Finanzminis- Stichtag der Tag des Inkrafttretens des neuen Ein- ter in dieser Republik vertreten kann. kommensteuergesetzes eingeführt (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. würden Sie zwar das Problem der Rückwirkung inflatio- Ortwin Runde [SPD]) närer Scheingewinne entschärfen, aber erhebliche Be- wertungsprobleme neu schaffen. Alle Wirtschaftsgüter, Allein die steuerliche Abziehbarkeit der Pflichtbei- die einer wirtschaftlichen Betätigung dienen, müssen träge zur gesetzlichen Rentenversicherung würde in den zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes bewer- ersten Jahren zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von tet werden. Wer weiß, dass Bewertungsfragen die am über 20 Milliarden Euro führen. schwierigsten zu bewältigenden Aufgaben im Steuer- recht sind, wird erhebliche Bedenken gegen diesen Ge- (Ortwin Runde [SPD]: Hört! Hört!) setzesvorschlag haben müssen. Wir alle kennen diese Berechnungen. Die über die Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu der Gewin- Pflichtbeiträge hinausgehende Absetzbarkeit von Auf- nermittlung im Unternehmensbereich machen. Für alle wendungen für die Altersvorsorge würde weitere Steuer- bilanzierenden Unternehmen soll nach Ihren Vorschlä- ausfälle in Milliardenhöhe zur Folge haben. gen der Gewinn als steuerliche Bemessungsgrundlage Nach Ihrem Modell sollen Kapitalerträge, die nicht maßgebend sein, der von dem Unternehmen auf der Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften sind, mit ei- Grundlage des Handelsrechts ermittelt wird. Dabei sol- ner Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden. len auch die International Accounting Standards an- Dieser Abgeltungsteuersatz soll dem Höchststeuersatz wendbar sein. Die steuerliche Bemessungsgrundlage für unternehmerische Einkünfte bei Personenunterneh- würde dann von Rechnungslegungsvorschriften be- men und Kapitalgesellschaften von ebenfalls 25 Prozent stimmt, die dem Einfluss des deutschen Steuergesetzge- entsprechen. Die Probleme, die sich bei der Besteuerung bers entzogen sind. Ich denke, dass wir das im Deut- nach der Leistungsfähigkeit ergeben, sowie die verfas- schen Bundestag nicht beschließen werden. sungsrechtlichen Bedenken sind bereits angesprochen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) worden.

Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) (D) werden die Diskussion in der Öffentlichkeit darüber be- Der Kollege Solms möchte eine Zwischenfrage stel- stehen müssen, dass dann der Seniorpartner einer An- len. Lassen Sie das zu? – Bitte schön, Herr Solms. walts- oder Steuerberatersozietät sein hohes Einkommen mit 25 Prozent versteuern muss, während der angestellte junge Anwalt oder Steuerberater sein Gehalt mit bis zu Dr. Hermann Otto Solms (FDP): 35 Prozent versteuern muss. Es handelt sich damit bei Herr Kollege Rzepka, würden Sie bitte zur Kenntnis der dualen Einkommensteuer in Ihrem Konzept um ei- nehmen, dass wir uns vor dem Hintergrund dessen, dass nen Systembruch. in Europa verhandelt wird, die Rechnungslegungsvor- schriften in Europa zu vereinheitlichen, keine neuen Wie Sie wissen, haben auch wir trotz der verfassungs- Vorschriften dafür ausgedacht haben. Wir haben gesagt, rechtlichen Problematik vorgesehen, diese Frage vor wir bleiben beim geltenden Recht und warten ab, was dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbsdrucks auf europäischer Ebene vereinbart wird. Wenn wir zu zu prüfen. Wir wissen, dass viele andere Staaten Unter- einheitlichen europäischen Bilanzierungsvorschriften nehmensgewinne und Kapitalerträge niedriger versteu- kommen, dann werden diese selbstverständlich über- ern. nommen. Bis dahin neue Vorschriften zu erarbeiten, ist (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) eigentlich müßig. Deswegen müssen wir uns über dieses Thema Gedanken (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- machen. NEN]: Handelsrechtliche!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Peter Rzepka (CDU/CSU): Wir nehmen Ihre Vorschläge deshalb auf und werden in Herr Kollege Solms, ich stimme Ihnen völlig zu, dass den Beratungen die vorgezeichnete Frage eines Über- wir alles versuchen sollten, um in Europa zu einheitli- gangs zu einem dualen Steuersystem, zu einer dualen chen Bemessungsgrundlagen zu kommen. Ich denke Einkommensteuer noch im Detail prüfen. aber, wir brauchen auch weiterhin eine Trennung von handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Vorschriften, Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgese- die unterschiedlichen Zwecken dienen. hene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräuße- rung von Wirtschaftsgütern, die einer wirtschaftlichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Betätigung gedient haben, eingehen, zum Beispiel auch Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vermietete Immobilien und Wertpapiere. Mit der in der NEN]: Das geht sonst gar nicht!) 1912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Peter Rzepka (A) Insofern werden wir uns über die steuerlichen Bemes- Er hat allerdings den Eindruck erweckt, als wenn es nur (C) sungsgrundlagen noch detailliert Gedanken machen eines Beschlusses dieses Hohen Hauses bedürfe, um müssen. So einfach, wie Sie es sich in Ihrem Gesetzent- eine solche einzuführen. Das ist unredlich. Das zeichnet wurf gemacht haben, wird es sicher nicht gehen. den Populisten aus. Abschließend sage ich – das ist hier in der Diskussion (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schon angesprochen worden –: Die Vorschläge der FDP reißen große Löcher in die Kassen der Finanzminister, Er hätte darauf hinweisen müssen, dass es sich bei der die durch etwaige Einnahmeerhöhungen aufgrund der Vermögensteuer um eine Ländersteuer handelt. Das grundsätzlichen Anreizwirkung von Steuersenkungen heißt, das Aufkommen einer Vermögensteuer steht den nicht annähernd aufgehoben werden können. Die Steuer- Ländern – es sind bekanntermaßen 16 – zu. Dort herr- ausfälle gehen nach meiner Einschätzung weit über die schen andere Mehrheiten. Man muss sich Niederlagen von Ihnen genannten Beträge von 17 bis 19 Milliarden nicht selbst organisieren. Man muss Realitäten, auch bei Euro hinaus. Ich gehe von weit über 30 Milliarden Euro den Mehrheitsverhältnissen, zur Kenntnis nehmen. aus. Ich habe auf die Auswirkungen der von Ihnen vor- Zwischen dem Herbst 1998 und dem Frühjahr 1999 geschlagenen Besteuerung der Alterseinkünfte hinge- hat es einen Zeitkorridor gegeben, in dem Sie das als wiesen. Bundesfinanzminister hätten machen können. In dieser Fazit: Der Entwurf ist notwendig, weil er die Verein- Zeit waren die Mehrheitsverhältnisse passend. Das ha- fachung unseres Steuerrechts und die Reform der Unter- ben Sie aber nicht hingekriegt. Deswegen sollten Sie mit nehmensbesteuerung auf die Tagesordnung dieses solchen Argumenten relativ vorsichtig sein. Hauses setzt. Auch wir wollen ein einfacheres Einkom- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Der ge- mensteuerrecht, eine international wettbewerbsfähige scheiterte Minister!) Unternehmensbesteuerung und eine Senkung der deut- lich zu hohen Staatsquote. Wir wollen aber auch einen Wir sprechen im Moment über einen Gesetzentwurf Staat, der über die Einnahmen verfügt, die erforderlich der FDP-Fraktion. Der Titel des Gesetzentwurfs lautet: sind, um die Daseinsvorsorge für unsere Bürgerinnen „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steu- und Bürger sozial ausgewogen zu gestalten. ern“. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Einkom- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mensteuer!) Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege. Vor zwei Jahren haben Sie unter dem Titel „Entwurf ei- nes Gesetz zur Einführung einer neuen Einkommen- (B) Peter Rzepka (CDU/CSU): steuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer“ ein Vor- (D) Ich komme zum Ende. läufermodell in den Bundestag eingebracht. Damals Ihre steuerpolitischen Konzepte mit dem Ziel der waren Sie zumindest im Titel noch ehrlich. Insofern ha- Einführung einer Flat Tax bewirken Einnahmeausfälle ben Sie hinzugelernt. Die Wörter „Abschaffung der Ge- auf der Seite von Bund, Ländern und Kommunen, die werbesteuer“ stehen nicht mehr im Titel, aber im Text. die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand auf allen Am Inhalt hat sich also nicht viel geändert. Insofern sage Ebenen beeinträchtigen. ich: Alter Wein in neuen Schläuchen; denn auch mit die- sem neuen Vorschlag wollen Sie die Gewerbesteuer ab- Ich danke Ihnen. schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unter dem Stichwort „Lösung“ fordern Sie ein neten der FDP – Zurufe von der FDP: „neues, einfaches und verständliches Einkommensteuer- Kirchhof!) gesetz“. Zum Thema Verständlichkeit lese ich einen Passus aus Ihrem Entwurf vor, damit die Menschen fest- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: stellen können, ob das alles tatsächlich so verständlich Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die ist, wie Sie glauben. § 34 lautet: SPD-Fraktion. Bei unbeschränkt Steuerpflichtigen, die mit auslän- dischen Einkünften in dem Staat, aus dem die Ein- Bernd Scheelen (SPD): künfte stammen, zu einer der deutschen Einkom- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mensteuer entsprechenden Steuer herangezogen Herren! Der Kollege Lafontaine hat gerade – wie er es werden, ist die festgesetzte und gezahlte und kei- gerne macht – ein flammendes Plädoyer für die Einfüh- nem Ermäßigungsanspruch mehr unterliegende rung einer Vermögensteuer gehalten. ausländische Steuer auf die deutsche Einkommen- steuer anzurechnen, die auf die Einkünfte aus die- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So flammend sem Staat entfällt. war das ja nun nicht!) Die auf diese ausländischen Einkünfte entfallende Dafür gibt es in der Bürgerschaft viel Sympathie. Auch deutsche Einkommensteuer ist in der Weise zu er- in diesem Haus gibt es für eine Vermögensteuer sicher- mitteln, dass die sich bei der Veranlagung des zu lich viel Sympathie. versteuernden Einkommens – einschließlich der (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: 5 Prozent!) ausländischen Einkünfte – nach den §§ 30 und 31 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1913

Bernd Scheelen (A) ergebende deutsche Einkommensteuer im Verhält- wurfs gestrichen haben. Sie begründen die von Ihnen (C) nis dieser ausländischen Einkünfte zur Summe der vorgeschlagene Abschaffung der Gewerbesteuer damit, Einkünfte aufgeteilt wird. Bei der Ermittlung der dass die Gewerbesteuer in Deutschland international ge- ausländischen Einkünfte sind die ausländischen sehen einmalig sei, dass es sie nirgendwo anders gebe, Einkünfte nicht zu berücksichtigen, die in dem dass sie eine Zusatzbelastung der deutschen Wirtschaft Staat, aus dem sie stammen, nach dessen Recht sei und den Export belaste, den Import aber nicht. Ein- nicht besteuert werden. mal abgesehen davon, dass wir Exportweltmeister sind, kann es so ganz dramatisch mit der Gewerbesteuer nicht Ich hoffe, Sie alle haben das verstanden. sein. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Es stimmt aber auch nicht, dass es in anderen Ländern SPD – Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: keine vergleichbaren Steuern gibt. Die heißen teilweise Das wurde für den Steuerberater eingebaut! – sogar Gewerbesteuer. Zuruf von der FDP: Jawohl!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las- NEN]: Österreich zum Beispiel!) sen. Ich glaube, hinsichtlich der Verständlichkeit sollten Sie noch etwas nacharbeiten. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: In Luxemburg Neben der Forderung nach einem einfachen und ver- heißt sie Gewerbesteuer. In Österreich gibt es eine Ge- ständlichen Steuerrecht fordern Sie unter dem Punkt werbesteuer, die sich an der Lohnsumme orientiert. „Lösung“, dass der normale Steuerzahler seine Steuerer- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- klärung demnächst auf einem DIN-A4-Blatt ausfüllen NEN]: Lohnsummensteuer!) kann; dazu soll er nicht mehr als eine Stunde brauchen. Die haben wir in Deutschland bereits vor 30 Jahren ab- (Zuruf von der FDP: Frau Höll hat es ge- geschafft. schafft!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So lange ist Einmal unabhängig von der Frage, wieso man eigentlich das noch nicht her!) für das Ausfüllen einer einzigen DIN-A4-Seite eine Stunde benötigt – – Doch, das war 1971. – In Frankreich gibt es die taxe professionelle; das ist eine Wertschöpfungsteuer. In Ja- (Heiterkeit bei der SPD) pan gibt es die Enterprise Tax, in den USA die Franchise das haben Sie so formuliert –, darf ich Sie darauf hin- Tax und in Kanada gibt es – hören Sie einmal gut zu – (B) weisen, dass es sinnvoll wäre, sich einmal die Internet- die Gewerbekapitalsteuer. Die haben wir, glaube ich, (D) seite www.bundesfinanzministerium.de anzuschauen. 1998 oder 1999 abgeschafft. Sie werden feststellen, dass es so ein Formular schon (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: 1998!) gibt. Es ist ein auf beiden Seiten bedrucktes Blatt. Das ist die vereinfachte Steuererklärung für den normalen Die Lohnsummensteuer haben wir, wie ich bereits sagte, Arbeitnehmer. Das Finanzministerium geht davon aus, vor 30 Jahren abgeschafft. Wenn Sie sich die Namen die- dass das Ausfüllen dieser Steuererklärung etwa ser Länder ansehen, dann stellen Sie fest, dass das viele 15 Minuten dauert. Das heißt, das, was Sie vorschlagen, sind – gerade die USA, Kanada und Japan –, die mit uns ist eine deutliche Verschlechterung gegenüber geltendem auf den Weltmärkten im Export konkurrieren. So drama- Recht. Schon deswegen können wir das nicht mitma- tisch ist die Situation offensichtlich nicht. Dieses Argu- chen. ment würde ich an Ihrer Stelle in Zukunft nicht mehr verwenden. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Das eigentliche Problem im internationalen Vergleich Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Sie haben ist – dazu haben Sie eine Menge beigetragen –, dass Sie Ihre Einkommensteuererklärung lange nicht zu unseren, wie ich finde, relativ moderaten Unterneh- mehr ausgefüllt! 16 Seiten!) mensteuersätzen – mit einer Körperschaftsteuer von 25 Prozent sind wir international durchaus konkurrenz- – Oh doch! fähig – immer die Gewerbesteuer mit 13 Prozent dazu- Es ist einfach ein Märchen, dass die Masse der Ar- rechnen. beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Hause stunden- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das muss man lang über ihrer Steuererklärung brüte. ja!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Der Steuerbera- – Das ist ja auch in Ordnung. Es wäre aber noch mehr in ter!) Ordnung, wenn man bei den anderen Ländern die kom- Das ist nicht der Fall. Mit dieser vereinfachten Form munalen Steuern dazurechnen und dann den Vergleich wird die Mehrzahl der Fälle erfasst. Insofern ist in den machen würde. Das machen Sie nicht. Das ist unredlich letzten Jahren schon eine Menge mit Blick auf Vereinfa- und unverantwortlich. Damit schädigen Sie den Standort chung geschehen. Deutschland. Jetzt komme ich zum Punkt Abschaffung der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gewerbesteuer, den Sie aus dem Titel des Gesetzent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 1914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Bernd Scheelen (A) Die Abschaffung der Gewerbesteuer – das muss man Die Frage, wie man optisch niedrigere Steuersätze er- (C) einmal in Zahlen ausdrücken – betrifft ein Aufkommens- reichen kann, haben wir Ihnen vor drei Jahren beantwor- volumen für die Gemeinden von netto etwa tet. Damals hat die zuständige Kommission das Modell 25 Milliarden Euro. Die Zahlen für 2005 liegen vor. Die vorgeschlagen, die Bemessungsgrundlage für die Ge- Gewerbesteuer beträgt brutto etwa 31 Milliarden Euro. werbesteuer zu verbreitern und die Steuersätze um 6 Milliarden Euro gehen an Bund und Länder in Form 40 Prozent zu senken; darüber könnte man erneut nach- von Umlagen. Es verbleiben etwa 25 Milliarden Euro. denken. Auf diese Weise sind optisch deutlich niedrigere Die wollen Sie den Gemeinden erst einmal wegnehmen. Steuersätze zu erzielen. Sie geben ja selbst zu, dass Dann sagen Sie: Natürlich brauchen sie einen Ersatz. Deutschland, was die Steuerbelastung angeht, im inter- Das ist logisch; das kann man den Kommunen nicht er- nationalen Vergleich gar nicht schlecht dasteht. Das Pro- satzlos wegnehmen. Aber die Frage ist: Wie sieht der Er- blem sind die optisch hohen Steuersätze. Dieses Problem satz, den Sie vorschlagen, aus? Sie wollen ein Zwei- lässt sich allerdings auch anders lösen, als Sie es in Ih- Säulen-Modell: Zuschlagsrechte auf Einkommensteuer rem Gesetzentwurf vorschlagen. und auf Körperschaftsteuer sowie Eigenbeteiligung an Wenn es um die Abschaffung der Gewerbesteuer der Umsatzsteuer. geht, bin ich ganz an der Seite meines Finanzministers, Bei der Einkommensteuer gibt es ein Problem; denn der im Januar dieses Jahres im Finanzausschuss gesagt von den Einnahmen aus dieser Steuer erhalten die Ge- hat: Wir sind offen für alle Modelle, die die Gewerbe- meinden bereits einen Anteil von 15 Prozent. Das ent- steuer ersetzen können; allerdings müssen sie mindes- spricht zurzeit einem Betrag von 22 Milliarden Euro. tens genauso gut wie die Gewerbesteuer sein. Er fügte Nach Ihrem Konzept wäre es schon außergewöhnlich hinzu, dass ihm derzeit kein Modell bekannt sei, das schwierig, diese Einnahmen der Gemeinden in Höhe von diese Voraussetzung erfülle: weder das der Stiftung 22 Milliarden Euro überhaupt zu erhalten; denn Sie wol- Marktwirtschaft noch das des Sachverständigenrates len die Einkommensteuersätze senken. Dennoch gehe noch der Gesetzentwurf der FDP. Aber es ist ja noch ich davon aus, dass das eventuell gelingen könnte, wenn nicht aller Tage Abend. Vielleicht arbeiten Sie noch an nämlich die Kommunen sehr hohe Zuschläge erheben Ihrem Modell und verbessern es. Dann können wir wie- würden. Aber selbst dann bliebe bei Abschaffung der der darüber reden. Gewerbesteuer immer noch ein Loch von 25 Milliarden Euro. Herzlichen Dank. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Ja, genau!) der CDU/CSU) (B) Es bleibt also nur noch die Umsatzsteuer übrig. Den (D) Anteil, der den Gemeinden aus den Einnahmen aus dieser Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Steuer zufließt, wollen Sie um 9,8 Prozent erhöhen. Das Damit schließe ich die Aussprache. würde 14 Milliarden Euro einbringen. Es bliebe also im- mer noch eine Differenz von 11 Milliarden Euro übrig, Zwischen den Fraktionen ist die Überweisung des die Sie mithilfe der Körperschaftsteuer ausgleichen müss- Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/679 an die Aus- ten. Sie müssen mir einmal erklären, wie das gehen soll. schüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufge- führt sind. Abweichend von der Tagesordnung soll die Ihren Vorstellungen zufolge sollen sich die Zuschläge Vorlage an den Haushaltsausschuss ausschließlich ge- für die Gemeinden in einer Größenordnung von 2 bis mäß § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen wer- 4 Prozentpunkten bewegen. Damit die Belastung aus den. – Dazu gibt es offensichtlich keine anderweitigen dieser Steuer in Deutschland nicht, wie es mittlerweile Vorschläge und Sie sind einverstanden. der Fall ist, bei 38 Prozent, sondern unter 30 Prozent liegt, wollen Sie einen Körperschaftsteuersatz von Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c sowie 25 Prozent einführen, ergänzt durch Zuschläge für die die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: Kommunen in Höhe von 2 bis 4 Prozentpunkten. Dann würde die Belastung aus dieser Steuer 27 bis 29 Prozent 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- betragen. Das führt allerdings gerade einmal zu Einnah- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem men von 2 bis 4 Milliarden Euro, sodass nach wie vor Übereinkommen vom 8. Dezember 2004 über ein Loch von 7 und 9 Milliarden Euro vorhanden wäre. den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Sie sagen nicht, wie Sie dieses Loch schließen wol- Republik Lettland, der Republik Litauen, der len; das können Sie auch gar nicht. Republik Ungarn, der Republik Malta, der Berücksichtigt man, dass Sie die Steuersätze insge- Republik Polen, der Republik Slowenien und samt senken wollen, ist diese Rechnung – ein Minus von der Slowakischen Republik zu dem Überein- 7 bis 9 Milliarden Euro – sogar sehr konservativ und zu kommen über die Beseitigung der Doppelbe- Ihren Gunsten ausgelegt. Vermutlich müssten die Kom- steuerung im Falle von Gewinnberichtigungen munen nach Ihrem Gesetzentwurf sogar auf 15 bis zwischen verbundenen Unternehmen 20 Milliarden Euro verzichten. Ich sage Ihnen ganz deut- lich: Das machen wir nicht mit. – Drucksache 16/914 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Finanzausschuss (f) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1915

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN kommen vom 2. März 2005 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jah- Jemen zur Vermeidung der Doppelbesteue- res 2005 vorlegen rung von Luftfahrtunternehmen auf dem Ge- – Drucksache 16/940 – biet der Steuern vom Einkommen und vom Überweisungsvorschlag: Vermögen Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales – Drucksache 16/915 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Finanzausschuss (f) Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Ab- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- SES 90/DIE GRÜNEN rung und Bereinigung des Lastenausgleichs- rechts Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika – Drucksachen 16/916, 16/955 – Ernst machen und deutsches Engagement aus- Überweisungsvorschlag: bauen Finanzausschuss – Drucksache 16/941 – ZP 2 a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes und des Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Telekommunikationsgesetzes Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 16/521 – f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Überweisungsvorschlag: Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Finanzausschuss (f) Abgeordneter und der Fraktion der FDP Innenausschuss (B) Rechtsausschuss Innovationspakt 2020 für Forschung und (D) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Lehre in Deutschland – Kooperationen zwi- Ausschuss für Arbeit und Soziales schen Bund und Ländern weiter ermöglichen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/954 – Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie rung der Vorschriften über die Luftaufsicht Ausschuss für Bildung, Forschung und und die Luftfahrtdateien Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss – Drucksache 16/958 – g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Überweisungsvorschlag: Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Innenausschuss KEN Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus Ein einheitliches Umweltrecht schaffen – c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Kompetenzwirrwarr vermeiden Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, – Drucksache 16/927 – Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und Überweisungsvorschlag: der Fraktion der FDP Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuss Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Drucksache 16/851 – ten Verfahren ohne Debatte. Überweisungsvorschlag: Ich komme zunächst zu den Tagesordnungs- Rechtsausschuss (f) punkten 24 a bis 24 c sowie zu den Zusatzpunkten 2 a Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bis 2 f. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann sind Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Britta die Überweisungen so beschlossen. 1916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Zusatzpunkt 2 g. Die Vorlage auf Drucksache 16/927 Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung (C) soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten des Pflanzenschutzgesetzes Ausschüsse überwiesen werden, jedoch ist die Federfüh- rung strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD – Drucksache 16/645 – wünschen die Federführung des Rechtsausschusses, die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Fraktion Die Linke wünscht die Federführung des Aus- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- cherschutz (10. Ausschuss) heit. – Drucksache 16/897 – Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, die Federführung Berichterstattung: dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Abgeordnete Dr. Peter Jahr cherheit zu übertragen. Wer stimmt für diesen Überwei- Gustav Herzog sungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dr. Christel Happach-Kasan Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stim- Dr. Kirsten Tackmann men der großen Koalition gegen die Stimmen der Frak- Cornelia Behm tionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der lung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzu- Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, die Fe- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so derführung dem Rechtsausschuss zu übertragen. Wer zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegen- dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist mit den Stimmen in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- der großen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen nen angenommen. Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der FDP-Fraktion beschlossen, die Federfüh- Dritte Beratung rung dem Rechtsausschuss zu übertragen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j auf. stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf bei den zu denen hier keine Aussprache vorgesehen ist. gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom- men. Tagesordnungspunkt 25 a: (B) Tagesordnungspunkt 25 c: (D) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Mai richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- 2003 über die strategische Umweltprüfung nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der zum Übereinkommen über die Umweltver- Bundesregierung träglichkeitsprüfung im grenzüberschreiten- Zweiundsiebzigste Verordnung zur Änderung den Rahmen (Vertragsgesetz zum SEA-Proto- der Außenwirtschaftsverordnung koll) – Drucksachen 16/361, 16/480 Nr. 2.1, 16/746 – – Drucksache 16/341 – Berichterstattung: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (16. Ausschuss) Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- nung auf Drucksache 16/361 nicht zu verlangen. Wer – Drucksache 16/899 – stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Berichterstattung: Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Horst Meierhofer Tagesordnungspunkt 25 d: Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der sicherheit empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Bundesregierung Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Einhundertzweiundfünfzigste Verordnung zur haltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig Änderung der Einfuhrliste angenommen. – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – Tagesordnungspunkt 25 b: – Drucksachen 16/362, 16/480 Nr. 2.2, 16/747 – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Berichterstattung: nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Abgeordnete Gudrun Kopp Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1917

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (C) nung auf Drucksache 16/362 nicht zu verlangen. Wer gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- ganzen Hauses angenommen. men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 25 h: Tagesordnungspunkt 25 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Sammelübersicht 22 zu Petitionen und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der – Drucksache 16/829 – Verordnung der Bundesregierung Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Verordnung zur Umsetzung der Ratsentschei- gen? – Die Sammelübersicht 22 ist bei Enthaltung der dung vom 19. Dezember 2002 zur Festlegung Fraktion der Linken angenommen. von Kriterien und Verfahren für die Annahme von Abfällen auf Abfalldeponien Tagesordnungspunkt 25 i: – Drucksachen 16/573, 16/612 Nr. 2.1, 16/921 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Sammelübersicht 23 zu Petitionen Gerd Bollmann Michael Kauch – Drucksache 16/830 – Eva Bulling-Schröter Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Sylvia Kotting-Uhl gen? – Damit ist die Sammelübersicht mit den Stimmen Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf des ganzen Hauses angenommen. Drucksache 16/573 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Tagesordnungspunkt 25 j: Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 25 f: Sammelübersicht 24 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 16/831 – (B) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz (D) und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Verordnung der Bundesregierung gen? – Damit ist die Sammelübersicht bei Gegenstim- men aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Erste Verordnung zur Änderung der Zwei- der Linken angenommen. undzwanzigsten Verordnung zur Durchfüh- rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: (Verordnung über Immissionswerte für Aktuelle Stunde Schadstoffe in der Luft) auf Verlangen der Fraktion der LINKEN – Drucksachen 16/574, 16/612 Nr. 2.2, 16/959 – Tarifliche Auseinandersetzungen im öffentli- Berichterstattung: chen Dienst Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Gregor Gysi. Michael Kauch Lutz Heilmann (Beifall bei der LINKEN) Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Drucksache 16/574 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wir erleben im öffentlichen Dienst gegenwärtig relativ gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der harte und schon lang andauernde Auseinandersetzungen. Fraktion der Linken angenommen. Die Gewerkschaften haben wegen der Haltung der Kom- munen, aber vor allem wegen der Haltung einiger Län- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- der zum Streik aufgerufen. Die Länder sind davon ent- titionsausschusses. weder gar nicht oder sehr stark betroffen, je nach Grad Tagesordnungspunkt 25 g: der Auseinandersetzung. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Was verlangen die Arbeitgeber, die sich, wenn ich das ausschusses (2. Ausschuss) richtig mitbekommen habe – ich denke an die verschie- denen Positionen der Landesminister –, inzwischen nicht Sammelübersicht 21 zu Petitionen mehr einig sind? Sie fordern eine Verlängerung der Ar- – Drucksache 16/828 – beitszeit im öffentlichen Dienst ohne jede zusätzliche 1918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Gregor Gysi (A) Lohnleistung. Im Kern ist das nichts anderes als eine Zu sagen, wir bräuchten weniger Beschäftigte, aber dann (C) Stundenlohnsenkung. Das ist nicht hinnehmbar. den Staat für alles verantwortlich zu machen, geht nicht auf. Das ist die falsche Logik, und es ist auch die falsche (Beifall bei der LINKEN – Jochen-Konrad Philosophie. Fromme [CDU/CSU]: Populist!) (Beifall bei der LINKEN) Dagegen wehren sich die Gewerkschaften. Ich freue mich, dass sie das mit deutlich mehr Selbstbewusstsein Die nächste Frage, die sich stellt, lautet, ob wir in als früher tun. Deutschland andere Arbeitszeiten haben als in anderen Ländern. Mit seiner Arbeitszeit im öffentlichen Dienst (Zustimmung bei der LINKEN) liegt Deutschland im Vergleich zu den Arbeitszeiten der Es gibt Gerüchte – sie sind häufig in den Zeitungen zu anderen öffentlichen Dienste in Europa über dem EU- lesen –, denen man Glauben schenkt; das möchte ich Durchschnitt, und zwar mit einer halben Stunde pro Wo- auch mir zubilligen. So konnte ich mehrfach lesen, dass che. Das ist interessant. Im Vergleich zu Ländern wie wir im Vergleich mit anderen Ländern einen der größten Italien oder Frankreich haben wir deutlich längere Ar- öffentlichen Dienste hätten. Wenn man das ständig liest, beitszeiten. Die These, dass wir im Vergleich zu anderen glaubt man das irgendwann auch. Ländern eine kürzere Arbeitszeit hätten, ist falsch. Ich glaube nicht, dass die anderen Länder auch in diesem (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Der Punkt falsche Wege gehen. in der DDR war größer! – Heiterkeit bei der CDU/CSU – Weiterer Zuruf von der CDU/ (Beifall bei der LINKEN) CSU: Tolles Modell!) Wenn man das alles zusammennimmt, dann ist doch – Sie finden das komisch. Sie arbeiten aber auch nicht klar, dass eine Gewerkschaft nicht Ja zu einer unbezahl- im öffentlichen Dienst. Sie bekommen Ihr Geld jeden ten Verlängerung der Arbeitszeit sagen kann, sondern ei- Monat und keiner verlangt von Ihnen eine Verlängerung nen anderen Weg gehen muss. der Arbeitszeit. Das ist der Unterschied. (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- (Beifall bei der LINKEN – Clemens Binninger mendingen] [CDU/CSU]: Sind Sie der Ver- [CDU/CSU]: Vorsicht! – Jochen-Konrad handlungsführer? – Weiterer Zuruf von der Fromme [CDU/CSU]: Können Sie den Unter- CDU/CSU: Der neue Schlichter!) schied zu sich selber erklären?) Sie muss deutlich machen: Wenn man mehr Beschäfti- Wir haben Statistiken über den Anteil der Beschäftig- gung will, dann muss man mehr Leute einstellen. Damit (B) ten im öffentlichen Dienst an der Gesamtheit der Be- würde man, auch im öffentlichen Dienst, ein Problem (D) schäftigten. Je nach Statistik – die Statistiken unterschei- der Arbeitslosigkeit lösen. den sich etwas – beträgt ihr Anteil zwischen 12 und (Beifall bei der LINKEN) 16 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten in den öffentli- chen Diensten in Großbritannien und in den USA ist hö- Ich habe eben gesagt, wie hoch die Anteile der Beschäf- her, in den skandinavischen Ländern ist ihr Anteil sogar tigten in den öffentlichen Diensten in Großbritannien, doppelt so hoch wie in Deutschland. den USA und in Skandinavien sind. Wäre der Anteil in Deutschland genauso hoch, dann hätten wir deutlich we- Nun werden Sie wieder die These aufstellen, dass niger Arbeitslose. Sie sind dazu nicht bereit und stellen man in diesen Ländern nichts davon verstehe, nur in nicht mehr Leute ein. Darüber hinaus aber noch zu for- Deutschland verstehe man etwas davon. dern, die Beschäftigten müssten kostenlos länger arbei- (Zuruf von der CDU/CSU: Außer Ihnen!) ten, das ist wirklich der Gipfel. Ich glaube, diese These ist falsch. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie hätten das gestalten können! Aber weggelau- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie sind fen sind Sie vor der Verantwortung!) die Ausnahme!) Sie müssten wenigstens eine Bezahlung anbieten. Davon Das will ich Ihnen an einem Beispiel deutlich machen. ist bisher aber keine Rede. Es wird immer gesagt, wir bräuchten weniger Staat, dort gebe es viel zu viele Beschäftigte. Das ist auch in den (Beifall bei der LINKEN) Boulevardzeitungen zu finden, die ich mit Interesse lese. Ich habe gesagt, die Gewerkschaften wehren sich. Sie Wenn dann aber zum Beispiel in Bad Reichenhall ein tun das mit einem größeren Selbstbewusstsein, sie haben Dach zusammenbricht, schreiben die gleichen Zeitun- Nerven und halten das auch länger durch. Die Länder gen, dass wahrscheinlich der Bürgermeister dafür ver- halten das auch länger durch. antwortlich ist. Man muss sich entscheiden: Wollen wir Verantwortlichkeit des Staates? Dann muss er aber auch (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Als Senator Beschäftigte haben. Wenn wir Sicherheit wollen – ich hatten Sie keine Nerven!) denke nur an die Feuerwehr –, dann brauchen wir Be- schäftigte, und wenn wir Kontrollen wollen, auch. Es gibt immer wieder ein paar Punkte, über die man sich verständigen muss. Hier muss man auch zu einer Ausei- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Können die nandersetzung bereit sein. Ich sage ganz klar: Notdienste nicht 40 Stunden arbeiten?) dürfen nie eingestellt werden. Man darf sie nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1919

Dr. Gregor Gysi (A) bestreiken. Allerdings sage ich auch: Der Arbeitgeber nen Sie sich hier mal äußern! Es ist ja furcht- (C) darf dann aber auch keine Methoden anwenden, mit de- bar! – Zuruf von der LINKEN: Frau Präsiden- nen er den Streik unterläuft, zum Beispiel, indem er tin, ist das keinen Ordnungsruf wert? – Privatfirmen anstellt, um bestimmte Probleme zu lösen. Gegenruf von der CDU/CSU: Sie haben es ge- rate nötig! – Ernst Burgbacher [FDP]: Kasper- (Beifall bei der LINKEN) letheater! Schämt ihr euch eigentlich nicht? Beide müssen also einen bestimmten Grad an Fairness Diese Proleten! – Dirk Niebel [FDP]: Wir soll- an den Tag legen, damit man es klären kann. ten eine Fraktionssitzung machen! – Gegenruf des Abg. Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Das ist Nun sind wir hier nicht die Tarifparteien; das weiß die doppelte Moral der Herrschaften der CDU/ ich. Andere werden die Auseinandersetzung führen; das CSU! Haben Sie notiert, was der Herr gesagt ist auch richtig. Sie sollen es tun. Es ist aber nicht so ab- hat?) surd, wie Sie denken, dass wir uns damit beschäftigen, wenn es um unsere Angestellten geht. Wir haben eine Jetzt hat der Abgeordnete Peter Weiß, CDU/CSU- Menge damit zu tun und wir sollten einen Beitrag dazu Fraktion, das Wort. leisten, dass es schnell zu einer Lösung kommt und dass nicht der eine Minister das eine und der andere Minister (Beifall bei der CDU/CSU) das andere erzählt, sodass für die Bürgerinnen und Bür- ger dabei nur herauskommt, dass die Dienstleistungen, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): auf die sie dringend warten, nicht erledigt werden. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Dirk Niebel [FDP]: Ist der Bund hier eigent- gen! Ich glaube, man muss allen Bürgerinnen und Bür- lich zuständig?) gern, die jetzt zuschauen, sagen: Hier hat soeben ein Politiker gesprochen, der Mitglied einer Landesregie- Die Gewerkschaften haben in diesen Punkten Recht, rung war, und Ihre Angebote sind indiskutabel. Es tut mir Leid. (Dirk Niebel [FDP]: Die aus der Tarifgemein- (Beifall bei der LINKEN) schaft der Länder ausgetreten ist!) die für den öffentlichen Dienst Verantwortung trägt, der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sich in Berlin aus dem Staub gemacht hat und der vor der Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Peter Weiß. Verantwortung geflohen ist. Dann kann man keine sol- (Beifall bei der CDU/CSU – Abgeordnete der che Rede halten. Fraktion DIE LINKE erheben sich und ziehen (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (D) sich Streikwesten mit dem Aufdruck „Solidari- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tät – ver.di – Streik“ über – Jochen-Konrad SES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Maurer [DIE Fromme [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! – Zu- LINKE]: Warum gibt es denn in Berlin keine ruf von der FDP: Kasperletheater! – Weitere Müllberge, Herr Kollege?) Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) – Ich bitte Sie, sich wieder hinzusetzen und diese De- Hier hat gerade jemand von allem Möglichen geredet, monstration nicht im Deutschen Bundestag durchzufüh- aber nicht von den Bürgerinnen und Bürgern unseres ren. Landes. (Zurufe von der CDU/CSU: Sonst gehen wir! – Wir (Beifall bei der CDU/CSU) sind hier doch nicht in einem Happening!) Die konkreten Auswirkungen von sechs Wochen Streik Demonstrationen kann man draußen abhalten. im öffentlichen Dienst sehen doch so aus, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel Sorgen darüber (Dirk Niebel [FDP]: Kasperletheater! Meinen machen, wann endlich der Müll vor der Haustür weg- Sie, Sie sehen jetzt besser aus als vorher? – kommt. Die Realität sieht doch so aus, dass manche El- Clemens Binninger [CDU/CSU]: Entweder tern ihren Jahresurlaub einsetzen, um die Kinder zu die setzen sich oder wir gehen!) Hause zu betreuen, weil die Kindertagesstätte geschlos- Ich bitte Sie noch einmal herzlich, die Westen auszuzie- sen ist. Deswegen erfüllen die praktischen Auswirkun- hen. Hier im Deutschen Bundestag führen wir die Ausei- gen dieses Streiks die Bürgerinnen und Bürger zu Recht nandersetzung mit dem gesprochenen Wort und nicht mit großer Sorge. mit Transparenten oder Westen. Das wissen Sie auch. (Dirk Niebel [FDP]: In den Müllsäcken sahen Deswegen bitte ich Sie herzlich, die Westen auszuziehen sie hübscher aus!) oder den Raum zu verlassen und vielleicht vor der Tür zu demonstrieren. Gemäß dem Politbarometer des ZDF fordern mittler- weile 61 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ein Landes das Ende der Ausstände bzw. des Streiks im öf- Teil der Abgeordneten der Fraktion DIE fentlichen Dienst. LINKE verlässt den Plenarsaal – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Lafontaine, das ist die (Zuruf von der SPD: Dann muss es ein gutes Schweinebande, die hinter dir sitzt! Dazu kön- Angebot geben!) 1920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Von diesen Bürgerinnen und Bürgern hat Herr Gysi nicht (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (C) gesprochen. Er kennt sie offensichtlich nicht. hat schon einmal in einem Teil Deutschlands zeigen kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen, zu welch großartigen Erfolgen dies führt. neten der FDP – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Dann haben Sie nicht zugehört, als er (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) geredet hat!) Der wirtschaftspolitische Sachverstand eines Herrn Gysi In unserer Verfassung, dem Grundgesetz, spielt die und seiner Genossen einschließlich der Überbürokrati- Tarifautonomie zu Recht eine große Rolle. Für den Tarif- sierung und der Riesenverwaltung streit und für den Abschluss von Tarifverträgen tragen (Zuruf von der LINKEN: Ist doch lächerlich!) die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, Verantwortung. In den konkreten Diskussionen, die der- haben doch die alte DDR in den Ruin und in den Bank- zeit geführt werden, sind es die Länder und die Kommu- rott getrieben. nen als öffentliche Arbeitgeber und die Gewerkschaften, mit denen sie verhandeln. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist es!) Alle Erfahrungen lehren: Wenn sich in die Tarifver- handlungen zwischen den verantwortlichen Arbeitge- Diese Art von Sachverstand hinsichtlich des öffentlichen bern und Arbeitnehmern diejenigen einmischen, die gar Dienstes, wie ihn ein Herr Gysi und seine Genossinnen nicht zuständig sind – wir als Bund haben unseren eige- und Genossen vertreten, brauchen wir in Deutschland nen Tarifvertrag und sind für das Thema überhaupt nicht wahrhaft nicht, wenn wir den öffentlichen Dienst der zuständig –, wird es in der Regel nicht besser, sondern Zukunft gestalten wollen. schlechter. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – der LINKEN – Oskar Lafontaine [DIE Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie haben LINKE]: Und euer Sachverstand führt zu doch gerade die Arbeitszeit verlängert! Wissen 5 Millionen Arbeitslosen!) Sie das nicht?) Wenn eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema über- Deswegen gilt: Auch wenn man in der Opposition sitzt haupt Sinn macht – ich frage mich noch immer, ob der und vor allen Dingen in Talkshows gerne viel schwätzt, Bundestag über eine Sache diskutieren soll, für die er keine Verantwortung trägt –, dann den, an die Tarifpart- (Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Na, na, na!) ner, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zu appellieren, die (B) (D) so ist es doch manchmal besser, in einer Sache, für die Tarifautonomie ernst zu nehmen, Einigungswillen zu man nicht zuständig ist und für die man keine Verant- zeigen und möglichst bald zu einem positiven Ergebnis wortung trägt, den Mund zu halten. zu kommen, mit dem der öffentliche Dienst in Deutsch- land in Zukunft eine Chance hat, seine Leistungsfähig- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der keit unter Beweis zu stellen, und mit dem auch die öf- LINKEN: Mein Gott!) fentlichen Arbeitgeber finanziell nicht überfordert werden, sondern ihrer Verantwortung gerecht werden Der Linken in diesem Parlament kommt es mit der können. Aktuellen Stunde nur darauf an, aus dem Streik und der derzeitigen Tarifauseinandersetzung parteipolitisches Vielen Dank. Kapital zu schlagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Widerspruch bei der LINKEN) Dr. [SPD]) Um eine Lösung in der Sache geht es der Linken nicht. Wir alle – die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bür- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ger – haben ein Interesse daran, dass der Tarifkonflikt Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige haben in der möglichst bald zu einem Ende kommt und dass ein Ab- Auseinandersetzung von vorhin das Wort „Schweine- schluss zwischen öffentlichen Arbeitgebern und Ge- bande“ gehört. Wir werden mit dem Stenografischen werkschaften erfolgt. Nur eine Seite in diesem Parla- Dienst prüfen, ob dem so gewesen ist. ment hat daran kein Interesse: die Linke. Sie ist die Einzige, die diesen Streik aus parteipolitischen Gründen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE verlängern will. GRÜNEN]: Ich habe das auch gehört!) (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Wenn dem so gewesen ist, dann wird natürlich festge- der LINKEN) stellt, dass das ein unparlamentarischer Ausdruck ist. Der Kollege Gysi mit seinem wirtschaftspolitischen (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sachverstand, den er gerade eben bewiesen hat – Das sollte ein Zitat von Lafontaine sein!) (Zuruf von der CDU/CSU: Welcher Sachver- Da ich dies selber nicht gehört habe, können wir das nur stand?) mithilfe des Stenografischen Dienstes prüfen. – dieser angebliche Sachverstand –, Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Dirk Niebel. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1921

(A) Dirk Niebel (FDP): Hier geht es um ein Rückzugsgefecht in einer Auseinan- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dersetzung des vergangenen Jahrhunderts, weil ein durch- Herren! Nachdem sich die Linke bundesweit wie die geknallter grüner Gewerkschaftsfunktionär versucht, Kesselflicker streitet, war das, was wir gerade eben im (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundestag erlebt haben, wahrscheinlich ein gruppendy- NEN – Zuruf von der SPD: Na, na, na!) namisches Experiment. Ein uncharmanter Kollege meinte, Sie hätten mit den Müllsäcken besser ausgese- die Verbändemacht zu stärken und den Bedeutungsver- hen. lust der Gewerkschaften aufzuhalten. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- LINKEN) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Gewerkschaftsfunktionär der Grünen hat es als Aufsichtsrat bei der als Einziger geschafft, Nichtsdestotrotz bin ich nach sechs Wochen Streik in sich mit Verdi selbst zu bestreiken. Das versteht beim Baden-Württemberg quasi ein Experte für Müllsäcke. besten Willen kein Bürger mehr in diesem Land. Wenn Ihr Gesamtkunstwerk realistisch hätte sein sollen, dann hätten Sie auch einige von diesen kleinen possierli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen Tierchen mit den langen nackten Schwänzen mit- der CDU/CSU) bringen sollen, damit diese über Ihre Müllsäcke hätten Wenn aber, wie am vorletzten Wochenende in Bayern laufen können; denn das ist die Situation in Deutschland, und Baden-Württemberg, wetterbedingt 2 100 Verkehrs- nicht das Kasperletheater, das Sie hier im Parlament ver- unfälle mit 220 Verletzten und acht Todesfällen passie- anstalten. ren, dann endet jedes Streikrecht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Die einen lie- der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. ben Geldsäcke, die anderen Müllsäcke!) Andrea Nahles [SPD]) Der Redner der PDS gehörte einer Landesregierung Die Bürgerinnen und Bürger sind verzweifelt. Sie führen an, die sich mit einem sehr „soliden“ Haushalt aus der einen Streik gegen die Menschen in diesem Land. Der Tarifgemeinschaft der Länder verabschiedet hat. Deswe- „Tagesspiegel“ schreibt heute über die Situation von be- gen ist sein Vortrag hier besonders glaubwürdig gewe- rufstätigen Eltern – ich zitiere eine Dame, die über ihre sen. Situation berichtet –: „Im Prinzip geht der ganze Jahresurlaub drauf“, (B) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: (D) Sehr richtig!) rechnet die arbeitende Mutter vor, weil die regulä- ren 21 Schließtage der Tageseinrichtung hinzukä- Tatsächlich geht es aber darum, dass wir im letzten Mo- men. „Unverschämtheit“, findet das Petra Hummel. nat 5 047 668 registrierte Arbeitslose hatten. Sie hinge- gen reden über einen Streik, bei dem es um 18 Minuten Recht hat sie! Mehrarbeit geht, (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) (Widerspruch bei der LINKEN) Sie machen einen Arbeitskampf zulasten der Bürgerin- nen und Bürger. Sie tun so, als wollten Sie sich für die und zwar in einem Arbeitsmarktsegment, in dem die Ar- Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzen. Stattdes- beitsplätze nicht nur als sicher gelten können, sondern sen nehmen Sie aber den Menschen die Möglichkeit, sicher sind. Kinder und Beruf miteinander zu vereinbaren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Widerspruch bei der LINKEN) der CDU/CSU) Sie sind die wahren Unsozialen! Sie sind die Klassen- Ich könnte für diesen Streik vielleicht noch ein gewis- kämpfer in diesem Land. Sie vernichten Existenzen. ses Verständnis aufbringen, wenn es die erste Auseinan- dersetzung um Mehrarbeit in Deutschland wäre. Es ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- aber eine Auseinandersetzung aus dem vergangenen derspruch bei der LINKEN) Jahrhundert, ein Rückzugsgefecht. In ganz Deutschland Zufälligerweise wird in zehn Tagen in drei Bundes- arbeiten die Beamten weitaus länger als 38,5 Stunden. ländern gewählt. Die Bürgerinnen und Bürger in Sach- sen-Anhalt erinnern sich sehr genau, wie es damals unter (Widerspruch bei der LINKEN) der von Ihnen tolerierten SPD-Regierung war. Die Mi- In Ostdeutschland – übrigens auch in den Ländern, in nisterpräsidenten der Wahlkampf führenden Länder, denen Sie mitregieren, meine sehr verehrten Damen und Herr Beck und Herr Oettinger, rollen in mannhaftem Herren Kollegen von der Linken – arbeiten Angestellte Mutbeweis die Fahne langsam ein. Das erinnert ein we- und Arbeiter länger als 38,5 Stunden. nig an Selbstmord aus Angst vor dem Tod. So werden Sie keine absolute Mehrheit bekommen, Herr Oettinger. Alle, die neu eingestellt oder befördert werden, arbei- Hier ist keine Hasenfüßigkeit, sondern Standhaftigkeit ten länger als 38,5 Stunden. gefordert. (Widerspruch bei der LINKEN) (Widerspruch bei der LINKEN) 1922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dirk Niebel (A) Deswegen werden wir – wie die Menschen in der ost- Die Garantie der Koalitionsfreiheit schließt auch das In- (C) deutschen Metall- und Elektroindustrie, die sich nicht strument der Tarifautonomie ein. Das setzt allerdings vo- von der IG Metall haben vergewaltigen lassen und er- raus, dass diejenigen, die in diesem Sektor eigenverant- folgreich gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche wortlich agieren, sehr verantwortungsbewusst mit gekämpft haben – standhaft bleiben. diesem Instrument umgehen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ist die FDP Wenn ich mir die aktuelle Tariftopographie genau an- nicht in Rheinland-Pfalz in der Landesregie- schaue, dann stelle ich fest, dass der jetzige Tarifkonflikt rung?) auf der Länderebene deutlich hervortritt. Mir bleibt da- her nicht erspart, den Verhandlungsführer der Tarifge- Wir unterstützen die Bürgerinnen und Bürger darin, meinschaft deutscher Länder ins Auge zu fassen. Die Art dass durchgesetzt wird, dass man in diesem Land öffent- und Weise, wie Herr Möllring liche Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dass all diejenigen, die den (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Guter Streik vorangetrieben haben, ihren Mitgliedern einen Mann!) Bärendienst erweisen. Denn spätestens bei den nächsten mit diesem Konflikt umgeht, zeigt, dass er die Rolle, die Haushaltsberatungen in den Kommunen ein Verhandlungsführer unter Partnern hat, nicht ange- (Zuruf von der LINKEN: Dann haben die nommen hat. Kommunen noch weniger Geld!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN) wird jeder einzelne Bürgermeister und jeder einzelne Die Rolle beinhaltet, dass man den Beteiligten die Landrat darüber nachdenken müssen, wo die Dienstleis- Chance gibt, sich in ihren Positionen anzunähern. Das ist tungen funktioniert haben, und feststellen, dass die bei seiner Art und Weise der Verhandlungsführung noch Durchführung in privater Trägerschaft teilweise besser nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Ich habe gelesen, und günstiger funktioniert hat als in öffentlicher Hand dass Herr Möllring Judoka ist. auf Kosten des Steuerzahlers. Sie erweisen Ihren Mit- gliedern und auch der Bevölkerung einen Bärendienst. (Zuruf von der CDU/CSU: Karate!) In dieser Sportart gibt es spezielle Regeln und der Stär- Vielen herzlichen Dank. kere gewinnt. Das ist allerdings nicht die Rolle, die ei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nem Verhandlungsführer in einem Tarifkonflikt des öf- der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Set- fentlichen Dienstes gemäß ist. zen, fünf!) (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: GRÜNEN) Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kolle- Ich glaube, dass hier ganz gewaltig nachgearbeitet wer- gen Sigmund Ehrmann. den muss. Die Verhandlungsstrategie der Tarifgemeinschaft Siegmund Ehrmann (SPD): deutscher Länder ist für mich nichts anderes als die Wie- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe derholung einer grundlegenden politischen Auseinander- Kolleginnen und Kollegen! Das war das volle Programm setzung, die wir im Bundestagswahlkampf hatten. Große „Niebel live“. Wenn man etwas mehr Ruhe in die Dis- Koalition hin, große Koalition her, der Konflikt besteht kussion bringen würde, dann würde man möglicher- zwischen dem aus sozialdemokratischer Sicht hohen Gut weise den wahren Kern des Konfliktes erkennen, Herr der Tarifautonomie und des Flächentarifvertrags auf der Gysi. Es ist zwar interessant, sich über die volkswirt- einen Seite und dem Instrument „Betriebliche Bünd- schaftlichen Auswirkungen auseinander zu setzen, aber nisse“ auf der anderen Seite. Wir bekennen uns in der dass es bei der speziellen Art der Auseinandersetzung Koalitionsvereinbarung eindeutig zur Tarifautonomie der Tarifgemeinschaft deutscher Länder mit der anderen und zum Flächentarifvertrag. Daran werden wir uns als Seite möglicherweise um etwas ganz anderes als um den öffentlicher Arbeitgeber auf Bundesebene halten. konkreten Verhandlungsgegenstand geht, Es stellt sich die Frage nach den Beweggründen der (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) Bundesländer. Für mich ist eindeutig erkennbar, dass der sollte meines Erachtens deutlicher herausgearbeitet wer- Flächentarifvertrag zerschlagen werden soll. Die Tarif- den. Ich möchte mich jedenfalls nicht – hier schließe ich gemeinschaft deutscher Länder, ein wichtiger Akteur, mich Herrn Peter Weiß ausdrücklich an – in fremde Ge- droht dabei zu zerbrechen. Das ist auch im Hinblick auf schäfte einmischen. Gleichwohl sollte uns dieses Thema einen anderen Leitgedanken sehr problematisch. Es geht nicht entgleiten. Herr Weiß, Sie haben auf ein wichtiges um öffentliche Dienstleistungen, die für Menschen er- Element unserer Verfassung hingewiesen, nämlich die bracht werden. Dabei bestimmen die Tarif- und die Ar- Tarifautonomie. beitsbedingungen die Standards der öffentlichen Aufga- benerfüllung. Daher appelliere ich eindringlich an die (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Tarifvertragspartner, an den Verhandlungstisch zurück- Von Verfassung versteht Herr Gysi nix! – Bei- zukehren, zur Vernunft zu kommen, sich anzunähern und fall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schließlich zu einigen, damit dieser Tarifkonflikt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1923

Siegmund Ehrmann (A) möglichst bald beendet wird und damit weiterhin die das dazu führt, dass über einen so langen Zeitraum die (C) Qualität bei der Erledigung der öffentlichen Aufgaben Kindergärten geschlossen sind und es zur Benachteili- verantwortungsbewusst sichergestellt werden kann. gung von Müttern und Vätern kommt, die auf die Kin- derbetreuung angewiesen sind. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Möllring (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten übernimmt wenigstens Verantwortung für der CDU/CSU – Beifall bei der LINKEN und nachfolgende Generationen!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Möllring hat klar und deutlich gesagt, dass er kei- nen Tarifvertrag und keine Einigung will. Tarifautono- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mie setzt aber Vernunft voraus. Ich erteile das Wort der Kollegin Silke Stokar, Bünd- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nis 90/Die Grünen. Ich möchte aber auch einige Fragen an die Linkspar- (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Dieser grüne tei stellen, da noch ein Redner von ihr sprechen wird. Ich Revolutionär von den Gewerkschaften! Es ist lasse Ihnen Ihre Unglaubwürdigkeit nicht so einfach ja unglaublich!) durchgehen. Erste Frage: Wie lange arbeiten denn die Beamten in Berlin, wo Sie an der Regierung beteiligt Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE sind? GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe befürchtet, dass wir uns mit der heutigen, von der Links- Zweite Bemerkung: Seit die PDS Koalitionspartner in fraktion beantragten Aktuellen Stunde keinen Gefallen Berlin ist, sind 14 000 Stellen im öffentlichen Dienst in tun. Berlin abgebaut worden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Hört! Hört!) neten der SPD) Im Grünflächenamt wurden 1 000 Stellen durch 1-Euro- Das Stichwort „Tarifautonomie“ ist bereits genannt wor- Jobs ersetzt. Berlin war das erste Land, das den Flächen- den. Tarifautonomie bedeutet laut Verfassung, dass sich tarifvertrag verlassen hat und aus der Tarifgemeinschaft die Politik zurückhält, dass die Tarifpartner ohne Einmi- der Länder ausgeschert ist. Sie haben sich darauf einge- schung von Staat und Politik ihre Auseinandersetzungen (B) lassen – ich kann das angesichts der Finanzlage von Ber- (D) regeln. Tarifautonomie bedeutet aber auch – das sage ich lin nachvollziehen –, Personalkosten in Höhe von an die Adresse von Herrn Niebel von der FDP –, dass 1,75 Milliarden Euro bis 2006 einzusparen. wir in Deutschland ein Grundrecht auf Streik haben. Es gibt ja zwei FDPen: zum einen die Bürgerrechts-FDP (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto und zum anderen Herrn Niebel, der hier eine gewerk- Solms) schaftsfeindliche Rede gehalten hat. Mir geht es nicht darum, diese Maßnahmen im Einzel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen zu kritisieren. Mir geht es darum, dass die PDS und und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die WASG im Bundestag so tun, als wären sie die Rä- LINKEN) cher der Enterbten. Zu Recht sagt die WASG in Berlin in Richtung PDS, dass diese, wenn sie in Regierungsver- Ich denke, es steht dem Parlament nicht zu, in einer sol- antwortung ist, eine neoliberale Politik macht. Etwas chen Auseinandersetzung den Vorsitzenden einer Ge- mehr Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit, Genossen, wäre werkschaft so anzugreifen und zu diskreditieren. schon angebracht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Niebel [FDP]: Das sagen Sie nur, weil es ein ten der SPD) Grüner ist!) Dann können wir uns gemeinsam sachlich mit diesen Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst leisten einen Themen auseinander setzen. unverzichtbaren Beitrag zu Stabilität und Lebensqualität Ich danke Ihnen. in unserem Land. Das merken wir alle, wenn die Dienst- leistungen vorübergehend nicht zur Verfügung stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich komme aus Niedersachsen und kenne Herrn sowie des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] Möllring, den die Länder zu ihrem Verhandlungsführer [CDU/CSU]) gemacht haben, sehr gut und kann nur sagen: Es ist nicht der berechtigte Streik der Gewerkschaften, sondern das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Machogehabe des Herrn Möllring, Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Werner Kammer von der CDU/CSU. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Unver- schämt! Das ist ein kompetenter Minister!) (Beifall bei der CDU/CSU) 1924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): mit diesem Votum ist der niedersächsische Finanzminis- (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ter Hartmut Möllring konsequent in die Verhandlungen Meine Damen und Herren! Dass diese Aktuelle Stunde gegangen. Deshalb darf ihm seine Verhandlungsführung gerade auf Antrag der Fraktion Die Linke stattfindet, hier heute nicht vorgeworfen werden. wundert mich sehr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Lachen bei der LINKEN – Zuruf des Abg. 40 Stunden Dienst in der Woche ergeben 18 zusätzli- Oskar Lafontaine [DIE LINKE]) che Minuten Arbeit pro Tag und nicht 14 Minuten, wie – Lassen Sie mich doch ausreden. – Denn deren ideolo- von Verdi vorgeschlagen. Auch die Staffelung der Mehr- gische Vorgänger haben in ihrem System das Instrument arbeit nach Verdienstgruppen löst das finanzielle Pro- Streik nicht gekannt. blem der Länder nicht. Daher werden auch die in den Kommunen getroffenen Abschlüsse mit dieser Regelung (Lachen bei der LINKEN – Beifall bei der CDU/ auf Dauer nicht haltbar sein. Auch das sei hier ange- CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) merkt. Umso mehr erstaunt mich die Wende, die Sie heute voll- Tatsache ist, dass die öffentlichen Haushalte entlastet zogen haben. Mit Ihrem Theater ging es Ihnen nicht da- werden müssen. Daran haben alle Länder ein Interesse, rum, den Menschen in Deutschland und den Streikenden auch jene, die damit drohen, aus der Tarifgemeinschaft zu helfen, sondern um billige Stimmungsmache in die- auszutreten. Die bevorstehenden Landtagswahlen än- sem Parlament. dern daran ebenfalls nichts. Vielmehr sind jetzt Weitsicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie und Vernunft das Gebot der Stunde. Dies bedeutet kon- bei Abgeordneten der FDP – Dirk Niebel kret, dass Tarifabschlüsse nicht von politischen Stim- [FDP]: Kriegen die Streikgeld für diese Ak- mungen abhängig gemacht werden dürfen – wie hier auf tion?) der linken Seite –, sondern von der Realität abhängig ge- macht werden müssen. Zum Thema: Der seit sechs Wochen andauernde Streik im öffentlichen Dienst richtet sich nicht direkt ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen Unternehmen; er schadet aber der Wirtschaft und Die Realität zeigt, dass es Unterschiede gibt zwischen wird auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger, die den Angestellten des öffentlichen Dienstes und den Ar- für die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst auf- beitern und Angestellten in der Wirtschaft, die oft mehr kommen müssen, ausgetragen. als 40 Stunden in der Woche arbeiten müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein sehr (B) Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sollen die (D) interessantes Zitat Ihrer Kollegin Pau. Auf der Internet- zum Nulltarif arbeiten oder was?) seite der Gewerkschaft Verdi ist zu lesen: Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich die Gewerkschaft Ich finde es richtig, dass die Beschäftigten im öf- Verdi der 18-minütigen täglichen Mehrarbeit verweigert, fentlichen Dienst sich gegen längere Arbeitszeiten (Widerspruch bei der LINKEN – Beifall des wehren Abg. Dirk Niebel [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die in der freien Wirtschaft längst Realität ist. – Durch – lassen Sie mich doch erst ausreden! –, Zwischenrufe werden Ihre Argumente nicht besser. weil es nicht um 18 Minuten pro Tag geht, sondern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) darum, ob die Differenz zwischen Arm und Reich Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Die Mehrheit der noch größer wird. Es geht also um nicht mehr und Bevölkerung lehnt diesen Streik ab und will die 40-Stun- nicht weniger als um gesellschaftliche Gerechtig- den-Woche im öffentlichen Dienst, die im Übrigen bei keit. großen Teilen der Gewerkschaften selbst schon prakti- (Beifall bei der LINKEN – Jochen-Konrad ziert wird. Auch das müssen wir bei dieser Gelegenheit Fromme [CDU/CSU]: Aha! – Zurufe von der zur Kenntnis nehmen. LINKEN: Verdi! Verdi! Verdi!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn Kollegin Pau wirklich gesellschaftliche Ge- Verdi erzeugt mit der realitätsfernen Haltung eine ne- rechtigkeit will, dann müsste es doch in ihrem Interesse gative Stimmung in der Bevölkerung gegen den öffentli- sein, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes chen Dienst, obwohl die Beschäftigten dort zweifellos die gleiche Arbeitszeit haben wie die Beamten und die gute Arbeit leisten. Verdi leistet auch dem Vorschub, meisten Arbeitnehmer in den Betrieben der freien Wirt- dass wir in Zukunft verstärkt über Privatisierungen wer- schaft. Das wäre gerecht. den nachdenken müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ Ich fordere die Mitglieder der Tarifgemeinschaft zur CSU]) Geschlossenheit auf. Hartmut Möllring hat einen klaren Die 40-Stunden-Woche ist von der Tarifgemeinschaft Auftrag. Der Auftrag heißt: 40-Stunden-Woche für die der Länder mit großer Mehrheit beschlossen worden und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1925

Hans-Werner Kammer (A) (Dr. Rainer Wend [SPD]: Ist das eine Kampf- dass er sein Amt verlassen hat, nachdem er es angetreten (C) veranstaltung heute, oder was?) hatte. Hinter diesem Auftrag steht die Unionsfraktion ge- (Lachen des Abg. Peter Weiß (Emmendingen) schlossen. Wer jetzt aus der Reihe der Länder ausschert, (CDU/CSU) gefährdet den Erfolg und die Handlungsfähigkeit der Ta- Der Ministerpräsident aus Bayern ist einer, der das schon rifgemeinschaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass es vorher schafft. Das ist eine große Leistung. den Tarifparteien gelingen wird, diesen Konflikt ohne Schlichtung im Interesse aller kurzfristig zu lösen. Es (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie geht nämlich nicht um 18 Minuten Mehrarbeit; es geht des Abg. Dirk Niebel [FDP]) vielmehr darum, dass auch die Angestellten im öffentli- Zweitens. Ich würde gern mit Ihnen über das reden, chen Dienst einen Beitrag zur Konsolidierung der öffent- was denn in diesem Streik eigentlich los ist und welche lichen Haushalte leisten. Rolle der öffentliche Dienst hat. Ich habe das bisher so Gesellschaftliche Gerechtigkeit heißt auch, mit dem verstanden, dass wir uns auch ein wenig darum küm- Geld der Steuerzahler sorgfältig umzugehen. Dazu ge- mern, dass in diesem Bereich, im öffentlichen Sektor, hört besonders, sich auf verantwortbare Tarifabschlüsse vorbildliche soziale Standards gelten und dass dort die zu einigen. Dinge auch einigermaßen in Ordnung sind. Jetzt stelle ich fest: In dieser Auseinandersetzung geht es darum, (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann dass sich gerade der öffentliche Dienst, voran die Län- [CDU/CSU]) der, zum Vorreiter bei der Umsetzung der Beschlusslage Deshalb steht die Union fest an der Seite von Hartmut des Bundesverbandes der Deutschen Industrie macht. Möllring. Das alles, auch die Verlängerung der Arbeitszeit, können Sie in dessen Programmen nachlesen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wenn wir schreiten Seit’ an Wenn inzwischen die öffentliche Hand und vor allem die Seit’!) Länder die Tür für weitere Arbeitszeitverlängerungen aufstoßen, dann stößt die Industrie nach – das ist doch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: klar – und will dasselbe, was Sie den Beschäftigten im Herr Kollege Kammer, ich gratuliere Ihnen im Na- öffentlichen Dienst zumuten. men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut- (Beifall bei der LINKEN) (B) schen Bundestag. (D) Da sagt man immer, es gehe um 18 Minuten; (Beifall) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe jetzt die unangenehme Aufgabe, zwei Kolle- NEN]: Das hat doch die PDS in Berlin alles gen zu rügen. Der Kollege Reinhard Grindel hat dazwi- gemacht! Als die Arbeitszeit verlängert wurde, schengerufen: „Lafontaine, das ist die Schweinebande, da war Gysi noch Senator!) die hinter dir sitzt!“ und der Kollege Ernst Burgbacher hat folgenden Zwischenruf gemacht: „Schämt ihr euch weil jeder 18 Minuten länger arbeiten könne, sei das eigentlich nicht? Diese Proleten!“ Diese Ausdruckswei- kein Thema. Natürlich kann man 18 Minuten länger ar- sen entsprechen nicht dem parlamentarischen Sprachge- beiten. Wir können auch eine Stunde länger arbeiten. brauch. Ich rüge das. Wir können auch wieder 42 Stunden arbeiten, so wie das in Bayern im öffentlichen Dienst der Fall ist. Der nächste Redner ist der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Wir können in Krankenhäusern auch wieder Beißkeile Aber nicht wieder ein Ganzkörperkondom einführen, statt Anästhesie zu betreiben. überziehen! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Das war jetzt nicht „Tokio-Hotel“! – Weitere Zurufe) Sie würden auch dazu sagen, das sei ein Fortschritt, Herr Niebel. Das ist das Problem, das wir hierzulande haben. Es ist aber ein Rückschritt. Klaus Ernst (DIE LINKE): Wollt ihr eure Unflätigkeiten vor oder nach meiner (Dirk Niebel [FDP]: Wieder Ganzkörperkon- Rede austauschen? Ihr könnt es auch gleich machen. dome?) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. – Ja, ja, ich habe mir gedacht, dass Sie das ärgert. Aber Kolb [FDP]: Währenddessen!) manchmal muss man die Wahrheit sagen. Sie tun immer so, als wäre das, was Sie hier im Parlament vertreten, ein Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und großer Fortschritt. Was Sie hier vertreten, Herr Niebel, Herren! Ich möchte als Erstes auf Sie eingehen, Herr ist der Weg zurück, Weiß. Ich habe mit Freude zur Kenntnis nehmen können, dass Sie den Rücktritt von Herrn Gysi bedauern. Schön! (Dirk Niebel [FDP]: Nein, den Weg zurück ha- Sie hätten allerdings auch zur Kenntnis nehmen müssen, ben Sie beschritten!) 1926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Klaus Ernst (A) über die Industrialisierung zurück bis ins Mittelalter. Da Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss; (C) gehört ihr eigentlich hin. das wird Sie sehr freuen. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Viel gebracht ha- ben Sie ja bisher nicht, Herr Ernst!) Weil wir gerade dabei sind, möchte ich etwas zu Ih- rem Antrag zum Streikrecht sagen, Herr Niebel. Man Ich möchte in dieser Frage auch die SPD nicht ganz aus darf nicht mehr streiken, wenn es schneit, weil die Stra- der Verantwortung nehmen. Ihr habt jetzt auf den ßen dann nicht geräumt werden. Man darf nicht mehr Möllring eingeschlagen. Da habt ihr Recht; denn er will streiken, weil dann der Müllberg liegen bleibt und da- eigentlich gar keinen Tarifvertrag mehr. Freiheit heißt rüber die Ratten laufen. für ihn, Freiheit von Tarifverträgen; er will keinen Tarif- abschluss mehr. Das ist der eigentliche Punkt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gewährleistung von Notdiensten!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Woher wollen Sie denn das wissen?) Ich sage Ihnen: Wenn es nach Ihnen geht, darf man in diesem Land nur noch streiken, wenn die Sonne scheint. Aber dass ihr jetzt so besonders freundlich zu den Ge- Was ist das für ein Streikrecht? werkschaften seid, insbesondere indem ihr Möllring kri- tisiert und damit eine Nähe zu den Gewerkschaften her- (Dirk Niebel [FDP]: Man darf sterben, weil stellt, kann ich euch nicht mehr so ganz glauben. Verdi streikt!) (Dirk Niebel [FDP]: Ach nee! – Jochen- – Ach, mein Gott! Da werden die Beschäftigten im öf- Konrad Fromme [CDU/CSU]: Ausgerechnet fentlichen Dienst als Mörder bezeichnet. Ist Ihnen ei- der sagt das!) gentlich klar, dass es bei dieser Auseinandersetzung Ich habe den Eindruck, dass der eine oder andere auch auch noch andere gibt, unter anderem Ministerpräsiden- von euch den Dolch im Gewande hat. ten und Minister der Länder, die gut verdienen und den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dauernd an die Der kommunale Arbeitgeberverband in Baden- Geldbörse gehen? Das halte ich für eine Sauerei hierzu- Württemberg wird durch den Bürgermeister von Pforz- lande. heim vertreten, der in der SPD organisiert ist, (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: (Dirk Niebel [FDP]: Nein, das ist der von Mann- Dann geben Sie doch von Ihren Diäten gleich heim! – Weitere Zurufe von der SPD) mal was ab!) aber selber die ganzen Schweinereien mitmacht. Tut (B) (D) Natürlich wird immer sehr gern darauf verwiesen, doch nicht so, als wärt ihr nicht selber für die Arbeits- dass aus Gründen der Konkurrenz mit anderen Ländern zeitverlängerung im öffentlichen Dienst! Das ist doch länger gearbeitet werden muss. Dazu hat der Herr Gysi das eigentliche Problem: Die Sozialdemokraten machen schon einiges gesagt. Es ist so, dass wir in Deutschland bei der Arbeitszeitverlängerung mit. den öffentlichen Dienst inzwischen zum Vorreiter beim (Beifall bei der LINKEN) Abbau von sozialen Leistungen machen. Das kann aber nicht Aufgabe von staatlichen Instanzen sein, auch nicht Das müsst ihr ändern. Dann wird die Situation in diesem von Länderregierungen. Land wieder einigermaßen vernünftig. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wenn in Italien und in anderen Ländern Europas kürzer Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Ernst. gearbeitet wird, dann ist es nicht notwendig, aus irgend- welchen internationalen Gründen bei uns länger zu ar- Klaus Ernst (DIE LINKE): beiten. Ja, komme ich gleich. Ich sage Ihnen, um was es wirklich geht. Sie erklären, 18 Minuten, das sei gar nicht so lange. Vielleicht ist Ih- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen Folgendes aufgefallen: Wenn eine um 18 Minuten Nein, sofort. verlängerte Arbeitszeit gelten würde, würde das unmit- telbar zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Klaus Ernst (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- Wir können zwar noch nicht – – mendingen] [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist reine DDR-Mathematik! – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt doch gar Herr Kollege Ernst, Ihre Redezeit ist längst vorbei. Es nicht!) ist jetzt Schluss! Sie machen sich darüber lustig, dass 250 000 Arbeits- plätze im öffentlichen Dienst verteidigt werden. Die Klaus Ernst (DIE LINKE): würden Sie offensichtlich gern abbauen. Ich halte das für Gut. – Dann bedanke ich mich für die Aufmerksam- einen Skandal. keit. Wir können noch nicht verhindern, was Sie da trei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1927

Klaus Ernst (A) ben; aber wir können es wenigstens ordentlich sagen und für die Beamten erstmalig möglich war, durch die Öff- (C) das tun wir auch. nungsklauseln für die Länder entsprechende Verände- rungen beim Weihnachtsgeld und beim Urlaubsgeld (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LIN- vorzunehmen. Das war der Ausgangspunkt. Diese Mög- KEN: Bravo! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: lichkeit ist übrigens von den Ländern reichlich genutzt Er will 18 Minuten mehr Redezeit!) worden. Die Weihnachtsgelder sind radikal zusammen- gestrichen worden, teilweise auf Taschengeldhöhe. Das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Urlaubsgeld ist ganz weggefallen. Gleichzeitig wurde Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Gunkel von die Arbeitszeit von 40 auf 41 Stunden, in Bayern sogar der SPD-Fraktion. auf 42 Stunden, angehoben. Das bedeutet eine Verkür- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: zung des Einkommens bei gleichzeitiger Verlängerung Aber der kriegt nicht 18 Minuten mehr Rede- der Arbeitszeit, was per Gesetz für die Beamten be- zeit!) schlossen worden ist. Man kann das auch ein Diktat nen- nen. Wolfgang Gunkel (SPD): (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem NEN]: In Berlin wurde das zuerst gemacht!) hier die Wellen hochgeschlagen und Demonstrationen – Das räume ich gerne ein. Ich bin darüber nicht begeis- im Parlament abgehalten worden sind, tert, Herr Wieland; aber ich nehme das einfach mal zur (Dirk Niebel [FDP]: Rechtswidrige!) Kenntnis. will ich versuchen, das Thema nun sachlich anzugehen (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und die Sache durch die Betrachtung des historischen NEN]: Da war Herr Gysi sogar noch Senator!) Ablaufs auf einen Punkt zu bringen. Tatsache bleibt aber, dass man damit etwas sehr Popu- Zunächst einmal, Herr Niebel, ist die Argumentation läres – auf die Beamten kann man ja einschlagen – mit den 18 Minuten wirklich lächerlich. Das hat sich in durchgesetzt hat, was vorher nicht möglich war; es ist verschiedenen Ländern gezeigt. Da Sie aber von der Si- erst durch die Öffnungsklauseln möglich geworden. cherheit der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst gespro- chen haben, möchte ich einmal darauf verweisen, dass in Nun müssen wir wissen, dass die Gewerkschaft Verdi, den letzten zehn Jahren 1,5 Millionen Arbeitsplätze im die die öffentlich Beschäftigten vertritt, das erkannt hat öffentlichen Dienst abgebaut worden sind. und sich von den Nebelkerzen nicht hat beeindrucken lassen. Sie hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass die (B) (Dirk Niebel [FDP]: Wie viel sind denn entlas- Tarifgemeinschaft der deutschen Länder 2003 die Tarif- (D) sen worden?) verträge für Weihnachts- und Urlaubsgeld und 2004 die Davon sind insbesondere diejenigen betroffen, die be- Tarifverträge für die Arbeitszeitvereinbarungen gekün- fristete Beschäftigungsverhältnisse haben, digt hat. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Nach fast zwei Jahren Verhandlungen mit dem Bund und den kommunalen Arbeitgeberverbänden hatte man also vor allem an Hochschulen und Unikliniken. den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, TVöD, zu- (Dirk Niebel [FDP]: Es geht um Personalab- stande gebracht, mit dem der frühere Bundes-Angestell- bau, nicht um Stellenabbau! Personal können tentarifvertrag abgelöst wurde. Man ist also zu einer Sie nicht abbauen im öffentlichen Dienst!) modernen und zukunftsweisenden Vereinbarung gekom- men. Bund und Kommunen haben sich im Wesentlichen – Richtig. – Auch betriebsbedingte Kündigungen sind daran gehalten. Ich denke, damit können alle leben. durchgeführt worden, die natürlich mit Sozialplänen un- terlegt waren. Aber festzustellen bleibt, dass 1,5 Millio- Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass nen Arbeitsplätze weniger zur Verfügung stehen als vor drei Länder aus den Reihen der kommunalen Arbeitge- zehn Jahren. Hier von sicheren Arbeitsplätzen zu spre- berverbände ausgeschert sind, nämlich Hamburg, Nie- chen, dürfte wohl der Vergangenheit angehören. dersachsen und Baden-Württemberg. Wenn man einmal in die Zeitungslandschaft schaut, dann kann man aller- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie dings feststellen, dass auch hier Dinge in Bewegung ge- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE raten sind. GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Dann erhöhen Sie die Steuern noch weiter!) Es ist ja nicht so, dass Verdi keine konkreten Vor- schläge gemacht hätte. – Nein, machen wir nicht. Ich sage Ihnen gleich, was wir machen. (Beifall bei der LINKEN) Angesichts des historischen Ablaufes muss man – da- Die Gewerkschaft hat zum einen vorgeschlagen, die Ar- rum muss ich auch unseren Koalitionspartner bitten – ein beitszeit – nach Einkommensgruppen gestaffelt – auf klein wenig Verständnis für die Gewerkschaften aufbrin- 40 Stunden anzuheben. Zum anderen hat sie vorgeschla- gen. Denn sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass es gen, das Weihnachtsgeld, wiederum nach Einkommens- – das war besonders im Jahre 2003 der absolute Hit – gruppen gestaffelt, von 90 auf 40 Prozent zu senken. Es mit dem Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz sind also durchaus Vorschläge gemacht worden. Diese 1928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Wolfgang Gunkel (A) gefallen einigen natürlich nicht. Deswegen war der Vor- den, weil diese Gewerkschaft auch viele anders den- (C) sitzende der Tarifkommission der Länder der Meinung, kende und vernünftige Mitglieder hat. sie ablehnen zu müssen. Er ist von seiner Haltung bisher nicht abgerückt. (Widerspruch des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Man muss einmal hinterfragen, ob es nicht möglich ist, die gemachten Vorschläge zu modifizieren. In Ham- Insofern haben Sie heute Mittag mit dieser Aktion nie- burg werden das Alter des Beschäftigten, die Anzahl sei- mandem einen Dienst erwiesen. ner Kinder und seine Einkommensgruppe berücksichtigt. (Beifall bei der CDU/CSU) In Niedersachsen wurden eine Wochenarbeitszeit von 39 Stunden und zwei zusätzliche Arbeitstage vereinbart. Wenn diese Debatte für etwas gut sein soll, dann muss Diese Lösungen kann man durchaus akzeptieren. Ich man auf ein paar Eckpunkte hinweisen, entlang derer wir frage mich wirklich, ob man unbedingt an den 40 Stun- diese Diskussion führen. Es geht um den öffentlichen den festhalten und sie zum Dogma erheben muss, wenn Dienst. In diesem Zusammenhang wird aber immer un- andere Lösungen auf der Hand liegen. terschlagen – auch von Verdi und den Linken –, dass von den 6 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ein Großteil Beamte sind, die schon jetzt länger als 40 Stunden arbeiten. Auch die Angestellten in den neuen Wenn da nichts in Bewegung kommt, was kann man Bundesländern arbeiten 40 Stunden. Alle neu eingestell- dann sonst noch bewegen? ten Arbeitnehmer – egal ob im Bund, in den Ländern (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des oder in den Kommunen – arbeiten 40 Stunden oder je BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nach Arbeitsvertrag vielleicht sogar etwas länger. Da die Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst schon Ich möchte darauf hinweisen, dass der Innenminister mindestens 40 Stunden arbeitet, sollte man also nicht so von Schleswig-Holstein, Herr Stegner, mit seiner Be- tun, als ob jetzt der Sozialstaat zusammenbrechen merkung sicherlich Recht hatte, dass der Verdacht auf- würde, wenn die Arbeitszeit Ihrer Klientel von 38,5 auf taucht, man wolle keine Einigung. 40 Stunden heraufgesetzt wird. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. GRÜNEN]: Dann ersetzen Sie Möllring doch Dirk Niebel [FDP]) durch Stegner!) Das klingt an dieser Stelle unglaubwürdig. Mein Vorschlag ist – da berufe ich mich auf diejeni- gen, die die Beachtung der Tarifautonomie reklamiert (Zurufe von der LINKEN) (B) haben –: Wenn es nicht alsbald zu einer Lösung kommt, (D) Wenn wir die Diskussion ernsthaft führen wollen, dann sollte man einen Schlichter bestellen und den Tarif- müssen wir auch eine Bemerkung zu der finanziellen Si- konflikt auf diese Weise lösen. tuation der Arbeitgeber machen. Wir sollten nicht nur Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. die Zahlen aus der Statistik vergleichen, Herr Kollege Gysi, sondern wir sollten auch erwähnen, dass der Perso- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nalkostenanteil der Länder 42 Prozent, inklusive der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Pensionen fast 50 Prozent, beträgt. Der Anteil liegt bei den Kommunen nicht ganz so hoch. Aber die Kommu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen, die durch eine Fülle von Aufgaben belastet werden, Das Wort hat jetzt der Kollege Clemens Binninger müssen ebenfalls viel Geld für das Personal ausgeben. von der CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Da muss man (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine andere Steuerpolitik machen! – Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Clemens Binninger (CDU/CSU): Vor diesem Hintergrund muss man Arbeitgeber verste- Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- hen, die sagen: Wir müssen die Arbeitszeit an unsere gen! Wir führen heute Nachmittag eine Debatte, die ei- Möglichkeiten anpassen. – Das hat aber nichts damit zu gentlich nicht in den Deutschen Bundestag gehört. tun, dass es im Arbeitskampf bzw. in den Tarifverhand- (Widerspruch bei der LINKEN) lungen berechtigte Forderungen gibt. Die Tarifautonomie ist aus guten Gründen eine Angele- (Zurufe von der LINKEN) genheit der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Wir soll- Wogegen ich mich aber wehre, ist, wenn in der Öf- ten uns da heraushalten. fentlichkeit der Eindruck entsteht – ich glaube, da tut (Beifall bei der CDU/CSU) sich niemand einen Gefallen –: Das einzige Gut, das es zu verteidigen gilt und das alles überlagert, ist die An die Adresse der Linken möchte ich sagen: Öffent- 38,5-Stunden-Woche. Das wäre der größte Fehler. Ge- lichkeitswirksame Auftritte wie vorhin, als sich die nau dieser Eindruck entsteht im Moment. Die Menschen Hälfte der anwesenden Fraktionsmitglieder in Verdi- in diesem Land haben den Eindruck: Es geht nur um die Plastiktüten gehüllt hat, mögen Ihnen zwar gefallen. Erhöhung der Arbeitszeit um 18 Minuten am Tag. Sie Aber ich glaube, Verdi hat daran keinen Gefallen gefun- fühlen sich zu Recht nicht ernst genommen, wenn Verdi Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1929

Clemens Binninger (A) ernsthaft sagt: 18 Minuten pro Tag sind uns zu viel; aber eher geholfen als mit einer Schaufensterdebatte heute (C) vier Minuten mehr am Tag wären akzeptabel. – Das ist Nachmittag. doch keine seriöse Tarifpolitik. Deshalb glaube ich, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Verdi – aber sicher auch die Arbeitgeber – gut beraten LINKEN: Tosender Beifall von rechts!) wäre, die Diskussion im Interesse des gesamten öffentli- chen Dienstes anders und offensiver zu führen und zu sa- gen: Wenn denn die Notwendigkeit besteht – daran be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: steht für mich persönlich kein Zweifel –, dann Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Steppuhn von akzeptieren wir eine solche Arbeitszeiterhöhung. der SPD-Fraktion. Herr Kollege Gysi, Sie haben zu mir gesagt, ich sei (Beifall bei der SPD) nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt. Das ist richtig. Ich bin Mitglied des Deutschen Bundestages. Aber ich Andreas Steppuhn (SPD): war 23 Jahre lang als Polizeibeamter im öffentlichen Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dienst beschäftigt. Ich habe sieben Jahre lang im Herr Niebel, Sie haben in Ihrer Rede wieder einmal das Schichtdienst gearbeitet. Sie können mir abnehmen, dass bestätigt, was wir von Ihnen und der FDP schon wissen, ich die Strukturen, die Bedürfnisse und viele weitere nämlich dass Sie nicht allzu viel von Gewerkschaften Punkte, die zu Recht kritisiert werden, kenne. und Tarifverträgen halten. Sie haben deutlich gemacht – das ist mir jetzt klar geworden –: Die FDP in diesem Aber in einem Punkt müssen wir den Mut zur Wahr- Land ist eine arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche heit haben – das sehen viele meiner ehemaligen Kolle- Partei. ginnen und Kollegen genauso –: Die 40-Stunden-Woche ist kein sozialer Einschnitt, sondern eine Chance für alle (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Beteiligten, Bewährtes zu erhalten und zu sichern. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Quatsch! Fragen Sie mal die Arbeitgeber, die neten der FDP) leiden unter diesem Streik!) Deshalb wäre es besser gewesen, zu sagen: Wir stellen Herr Niebel die 40-Stunden-Woche nicht außerhalb jeglicher Diskus- sion. Wir haben eine ganze Reihe berechtigter Forderun- (Dirk Niebel [FDP]: Mit einem Ausdruck des gen und machen nicht von vornherein den Fehler, zu sa- Bedauerns möchte ich das zurücknehmen!) gen: Egal was ihr wollt, über die 40-Stunden-Woche ist – lassen Sie mich einmal ausreden –, ich bin froh da- (B) mit uns nicht zu reden. rüber, dass die FDP nicht in die Regierungsverantwor- (D) Zunächst wurde argumentiert, es gehe um die Verhin- tung gekommen ist; denn die Menschen in diesem Land derung eines Stellenabbaus. Jetzt geht es um die Frage haben eine andere Politik verdient. der Belastung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Zurufe von der LINKEN) LINKEN) Die Mehrheit der Menschen in diesem Land lehnt daher Meine Damen und Herren, der Arbeitskampf im öf- – die Stimmung hat sich gedreht – diesen Streik ab und fentlichen Dienst läuft nunmehr in der sechsten Woche. hat kein Verständnis dafür, dass man über eine Erhöhung Viele haben bereits in der vergangenen Woche geglaubt, der Arbeitszeit um 18 Minuten pro Tag diskutiert; denn dass es möglich sein würde, zu einem Kompromiss zu sie arbeitet bereits 40 Stunden pro Woche. Dieser Streik kommen, der sowohl den Interessen der im öffentlichen ist diesen Menschen nicht zu vermitteln. Dienst beschäftigten Menschen als auch den der öffentli- chen Arbeitgeber gerecht wird. In der Tarifauseinander- (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) setzung ist aber auch deutlich geworden, dass die Ge- Am Ende dieser Debatte sollten wir an die Verhand- werkschaft Verdi offenbar stärker den Kompromiss lungspartner, an die Arbeitgeber wie an die Arbeitneh- gesucht hat, als dies die Verhandlungsführung der öffent- mer, das Signal senden: Alle Menschen in diesem Land lichen Arbeitgeber der Länder, an der Spitze der Finanz- haben ein Interesse daran, dass dieser Streik bald been- minister des Landes Niedersachsen, Hartmut Möllring, det wird. Die Beschäftigten haben ein Interesse daran, getan hat. dass ihre Rechte gewahrt werden. Die Arbeitgeber haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Beifall ein Interesse daran, dass man ihre finanziellen Möglich- bei der LINKEN) keiten zumindest ernst nimmt und in die Verhandlungen mit einbezieht. Von daher ist eine öffentliche Debatte über den richti- gen Kurs und auch die Zielsetzung der Verhandlungsfüh- Wir sollten am Ende nicht den Fehler machen, sagen rung durch die öffentlichen Arbeitgeber zu Recht ent- zu müssen: All das ist nur deswegen gescheitert, weil brannt. Tarifverträge, insbesondere in der Folge von man nicht bereit war, sich von der ominösen Zahl der Arbeitskämpfen, stellen, da sie sich in freien Verhand- 40- bzw. 38,5-Stunden-Woche wegzubewegen. Dieser lungen ergeben, Kompromisse dar, die die Tarifvertrags- Fehler darf nicht passieren. Deshalb sollten wir solche parteien eingehen. Warum bis zum heutigen Tage noch Debatten hier nicht weiterführen, sondern mehr Ver- kein Tarifergebnis erzielt worden ist, gilt es auch in die- trauen in die Tarifpartner haben. Damit wäre der Sache ser öffentlichen Debatte zu hinterfragen. Diese kritische 1930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Andreas Steppuhn (A) Frage muss sich auch Herr Möllring gefallen lassen, zu- wegen Sie sich, damit der soziale Frieden im öffentli- (C) mal hochrangige Ministerpräsidenten seine Verhand- chen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland wieder- lungsführung – aus meiner Sicht zu Recht – infrage ge- hergestellt wird! stellt haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜND- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie NIS 90/DIE GRÜNEN]) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das In diesen Zusammenhang gehört auch mein Eindruck, ist Tarifautonomie nach dem Verständnis der dass sich Herr Möllring gar nicht mehr bemüht, einen ta- SPD!) rifpolitischen Kompromiss zu suchen, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Unterstellung!) Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU-Fraktion. sondern darauf spekuliert, dass die Tariflandschaft im öffentlichen Dienst weiter auseinander bricht. Man be- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. kommt den Eindruck, dass es gegebenenfalls Ziel ist, die Kolb [FDP]: Die wird jetzt böse kämpfen! – Flächentarifverträge im öffentlichen Dienst gänzlich zur Dirk Niebel [FDP]: Hat jemand eine „Bild“- Disposition zu stellen. Was die Verhandlungsführung der Zeitung?) Arbeitgeberseite tut, kann nicht im öffentlichen Interesse sein, schon gar nicht im Interesse der Menschen im Gitta Connemann (CDU/CSU): Land. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir pfle- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. gen heute wieder einmal ein Ritual, nämlich das der Ak- Andrea Nahles [SPD]) tuellen Stunde auf Verlangen der Linken. Ich bin eine Verfechterin von Minderheitenrechten und das Verlan- Die hoch motivierten – das muss man auch einmal sa- gen nach Durchführung einer Aktuellen Stunde ist ein gen – und engagierten Menschen, die Beschäftigten im solches. Dieser Schutz sollte aber nicht missbraucht wer- öffentlichen Dienst, die tagtäglich vorbildlich ihre Ar- den. Genau diesen Eindruck aber erwecken Sie, meine beit in Krankenhäusern, Kindergärten und anderswo ver- Damen und Herren von der Linken, richten, haben es verdient, dass ihre Arbeitsbedingungen eine vernünftige und angemessene Regelung erfahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) (B) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (D) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE nicht weil Ihre Schlagzahl sich mit Heranrücken der GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Richtig! Aber Landtagswahlen hektisch erhöhen würde. Dies ließe sich es sind doch auch Ihre Länder, oder?) ja noch mit einer klassischen Konditionierung im Sinne von Pawlow erklären: Was seinem Hund das Futter, ist Die SPD-Bundestagsfraktion ruft die Tarifvertragspar- Ihnen die Aktuelle Stunde. Vielmehr beweisen Sie heute teien im öffentlichen Dienst dazu auf, schnellstmöglich mit der Wahl des Themas, dass dieses parlamentarische an den Verhandlungstisch zurückzukehren und vor allen Instrument für Sie nicht mehr ist als ein Mittel zum Dingen ergebnisorientiert zu verhandeln. Zweck, nämlich Unruhe zu stiften (Dirk Niebel [FDP]: Sie sind hier nicht bei (Widerspruch bei der LINKEN) Herrn Wiesehügel!) und hier im wahrsten Sinne des Wortes eine Klamotte Ich wundere mich sehr, dass der Vorschlag, in der jet- aufzuführen, zigen Situation einen Schlichter einzubeziehen, von eini- gen als zu früh und nicht gewollt bezeichnet wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der eine Klamotte, mit der Sie dieses Haus verhöhnen, mit LINKEN – Clemens Binninger [CDU/CSU]: der Sie die Zuschauer im Saal und auch an den Bild- Das entscheiden doch die Tarifpartner! – Dirk schirmen verhöhnen, mit der Sie die Streikenden und mit Niebel [FDP]: Das müssten Sie doch wissen!) der Sie die Bürger verhöhnen. Nach fast sechs Wochen Streik sollte es doch das Nor- (Beifall bei der CDU/CSU) malste von der Welt sein, einen Schlichter zu bestellen, Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, ob der gegebenenfalls das schaffen kann, was die Tarifver- wir in der nächsten Woche auch eine Aktuelle Stunde zu tragsparteien bislang nicht vermocht haben, dem Thema der angekündigten Nullrunde des DGB er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten warten dürfen, ob Sie sich dann auch entsprechend Müll- der LINKEN) säcke überziehen werden. nämlich einen Kompromiss zu erarbeiten, der Grundlage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für ein zu erzielendes Tarifergebnis sein kann. Ich appel- neten der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Dann liere von daher sowohl an Verdi, aber ganz besonders würden wir die Redezeit auf 18 Minuten erhö- eindringlich auch an die öffentlichen Arbeitgeber: Be- hen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1931

Gitta Connemann (A) Wenn sich ein Thema nicht für eine Debatte im Deut- Ist es fair, die Menschen in diesem Land wegen (C) schen Bundestag eignet, dann ist es der Tarifstreit im öf- 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag zu bestreiken? fentlichen Dienst der Länder und Kommunen, nicht nur, (Zuruf von der LINKEN: Das hat etwas mit weil der Bund nicht betroffen ist, sondern auch, weil hier Arbeitsplätzen zu tun!) ein Recht berührt wird, das wir vor jeder staatlichen Ein- flussnahme schützen sollten, nämlich die Tarifautono- Ist es fair, den Ländern in ihrer tiefsten Finanzkrise den mie. längsten Streik im öffentlichen Dienst aufzuzwingen? Ist es fair, die Bürger finanziell noch stärker zu belasten? (Beifall bei der CDU/CSU) (Dirk Niebel [FDP]: Viele gute Fragen!) Selbst wenn manchen von Ihnen die Erkenntnis schwer fällt: Auch bei der Auseinandersetzung zwischen Arbeit- Die Personalkosten in meinem Heimatland Niedersach- gebern und Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gilt sen belaufen sich mittlerweile auf fast 50 Prozent des ge- diese Tarifautonomie. samten Haushaltsvolumens. Ist es fair, dass viele dieser Bürger, die diesen Streik durch ihre Steuergelder finan- (Beifall bei der CDU/CSU) zieren, in der Privatwirtschaft länger als jene 40 Stunden Wem es in der Politik mit der Wahrung dieses Grund- in der Woche arbeiten, die den Streikenden nach wie vor rechtes ernst ist, der muss sich zurückhalten, wie übri- unzumutbar erscheinen, und das trotz sicherer Arbeits- gens unsere Bundesregierung. Die Bundeskanzlerin hat plätze? erklären lassen, dass sie sich zum Tarifstreit nicht äußern Ist es fair, zukünftige Generationen mit noch mehr wird, da die Tarifautonomie ein hohes Gut sei. Kosten zu belasten? (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Weiß [Em- (Widerspruch bei der LINKEN) mendingen] [CDU/CSU]: Eine kluge Kanzle- rin!) Die Staatsverschuldung in Bund und Ländern ist auf Re- kordhöhe angewachsen. Dies hat übrigens auch mit Ver- Ich bin unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel für die- sprechen vor Wahlen zu tun. Allein das Land Nieder- sen klaren Kurs dankbar. Sie zeigt, dass das Bekenntnis sachsen zahlt 7 Millionen Euro Zinsen pro Tag, ohne zur Verfassung für sie mehr ist als hohle Worte. Tilgung. Ich frage Sie: Was ließe sich mit diesem Geld Leider ist nicht jeder so zurückhaltend. Was war in machen? den letzten Tagen alles zu lesen: von ungebetenen Rat- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Andere Steu- schlägen an die Tarifvertragsparteien bis hin zu Forde- erpolitik! Zum Beispiel eine Vermögensbe- rungen nach Einschaltung von Schlichtern – ein viel- steuerung!) (B) stimmiger Chor, der nur noch überboten wurde von (D) wirklich niveaulosen Beiträgen in dieser Debatte, die ich Ist es fair, die öffentlichen Angestellten besser zu be- nur mit dem Begriff „Zumutung“ benennen kann. handeln als die Beamten derselben Länder? Ist es fair, wenn einige Länder jetzt die Verhandlungslinie verlas- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Es zwingt sen und den Verhandlungsführer angreifen, der auftrags- Sie niemand, hier zu sein!) gemäß einen gemeinsamen Beschluss umsetzt? Ich empfehle allen, die glauben, sich zu Wort melden zu (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der müssen, einmal die Entscheidung des Bundesverfas- LINKEN) sungsgerichts vom 2. März 1993 zu lesen – ich zitiere –: Schließlich waren sich die Länder einig: Wir brauchen Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautono- mehr Arbeitszeit ohne Lohnausgleich und die Kürzung mie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Ar- von Sonderzuwendungen. beitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessen gegen- seitig in eigener Verantwortung austragen können. Ist es fair, die Sicherheit von Menschen als Druckmit- Diese Freiheit findet ihren Grund in der histori- tel einzusetzen? Darf es zum Ausfall von Operationssä- schen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergeb- len kommen? Die überwiegende Zahl der Menschen in nisse erzielt werden, die den Interessen der wider- diesem Lande sagt: Nein, das ist nicht fair. Laut einer streitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen halten 61 Pro- werden, als bei einer staatlichen Schlichtung. zent der Deutschen den Streik für falsch. Selbst die Be- schäftigten des öffentlichen Dienstes lehnen diesen in- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zwischen mehrheitlich ab. neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Anders gesagt: Die Tarifhoheit ist kein Tummelfeld der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Sogar die Ge- für die Politik. Sie eignet sich insbesondere nicht für par- werkschaftsmitglieder!) teipolitische Instrumentalisierung, Als Bürgerin habe ich eine private Meinung zu all (Beifall bei Abgeordneten der FDP) diesen Fragen. Als Mitglied dieses Hauses und damit als auch wenn die Versuchung groß ist; denn es stellen sich Teil dieses Staates werde ich sie hier jedoch nicht äu- viele Fragen, zu denen sich alle von uns gerne äußern ßern; denn ich achte die Tarifautonomie. würden: (Dirk Niebel [FDP]: Das hätte mich jetzt (Widerspruch bei der LINKEN) schon interessiert!) 1932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Gitta Connemann (A) Ich fordere Sie auf, dies auch zu tun; denn Wahlkampf- Warum kommt man aber nicht von der Stelle? Man (C) getöse hat im Tarifstreit nichts zu suchen. Lassen Sie uns kommt nicht von der Stelle, weil offenkundig nicht auf darauf vertrauen, dass die Tarifvertragsparteien über Augenhöhe verhandelt wird. Zu all den Lobgesängen, kurz oder lang einen Interessenausgleich finden werden, die wir auf den niedersächsischen Finanzminister gehört der für alle tragbar sein wird. Ich glaube, dass diese Par- haben, muss ich sagen: Er wäre gut beraten gewesen, teien klüger sind, als wir es ihnen zutrauen. wenn er sich einmal, zum Beispiel von unserer Kanzle- rin, darin hätte unterrichten lassen, wie man Verhandlun- Vielen Dank. gen so führt, dass man zu Ergebnissen kommt, und wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man sie auf Augenhöhe führt. Möglich ist das. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich denke, an der Stelle kann der Herr Minister noch et- Als nächste Rednerin hat die Kollegin Gabriele was lernen. Das würde dem gesamten öffentlichen Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion das Wort. Dienst gut tun. (Beifall bei der SPD) Worum geht es? Wir alle wünschen uns, dass es mög- lichst bald ein Ergebnis gibt. Ich glaube, ich spreche hier Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): für viele leistungsstarke und hoch motivierte Beschäf- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- tigte im öffentlichen Dienst. tieren in dieser Aktuellen Stunde über ein importiertes Thema; diesen Import hat uns die Fraktion der Linken (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Nein, das beschert. kann ich mir nicht vorstellen!) Man muss einmal deutlich machen, worum es geht. Allerdings wünschen sie sich eine Auseinandersetzung, Nicht alle haben so feinsinnig argumentiert wie meine aus der sich die Politik heraushält. Dass das geht, zeigt Vorrednerin, die meinte, uns glauben machen zu können, im Übrigen Niedersachsen – wir stellen nicht nur sie habe ihre Meinung zu diesem Thema nicht geäußert. Schwierigkeiten heraus, sondern zeigen auch Lösungen Frau Connemann, da müssen Sie ein bisschen früher auf- auf –, wo sich die kommunalen Arbeitgeber gestern ver- stehen. Ich glaube, durch Ihre subtilen Fragestellungen ständigt haben. Schon sagt Herr Möllring: Das hat aber haben wir alle begriffen, wo Sie stehen. keinen Pilotcharakter. – Das mag in der Sache richtig sein. (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist eine Frage (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (B) der Rhetorik!) – Herr Niebel, ich hatte ein bisschen Sorge um Ihren ho- (D) hen Blutdruck. Das hat sich aber, glaube ich, wieder ge- Wir haben in dieser Aktuellen Stunde von Herrn Gysi legt. einen Grundkurs in Populismus bekommen. Ich glaube allerdings, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von der Linksfraktion, mit Ihrer Modenschau der Sache, die Verdi zu Recht vertritt, keinen Gefallen getan haben. Sie haben heute bewiesen, dass Sie nicht nur in der Sa- che unbelehrbar sind, sondern dass Sie auch keinerlei (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Wi- Bereitschaft zeigen, ein Argument wahrzunehmen. Des- derspruch bei Abgeordneten der LINKEN) halb lohnt es sich gar nicht, darauf weiter einzugehen. Reden wir aber nicht mehr über diesen Bärendienst, (Dirk Niebel [FDP]: Sperrt die Kinder aus den den Sie einem berechtigten Anliegen erwiesen haben! Kindergärten aus! Das liebt das Volk!) Reden wir darüber, worum es bei diesem Streit eigent- lich geht! Viele haben behauptet, es ginge um diese we- Ich halte in der Minute, die mir noch zur Verfügung nigen Minuten. Ich habe schon erwartet, die zusätzliche steht, Folgendes fest: Wenn Arbeitnehmer im öffentli- Arbeitszeit in Sekunden vorgerechnet zu bekommen. Ich chen Dienst streiken, haben sie das Recht dazu und einen glaube, darum geht es nur zum Teil. guten Grund. Wer Sorge hat, dass in dieser Republik an vielen Stellen daran gearbeitet wird, Tarifverbünde zu Hier geht es – das wurde zutreffend dargestellt – um knacken und Flächentarifverträge infrage zu stellen, zwei andere Dinge. Es geht um die Frage, wie viel Wo- nimmt die Verhältnisse richtig wahr. Wer meint, der chenarbeitszeit zumutbar ist. Im Gegensatz zu vielen in Zeitpunkt für eine Schlichtung sei gekommen – das er- diesem Haus habe ich im Einzelhandel mit einer Wo- laube ich mir anzufügen –, der hat ganz sicher ein zutref- chenarbeitszeit von 42 Wochenstunden angefangen. Ich fendes Timing. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu kann mich gut an die Kampagne der Gewerkschaften Recht einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst; wir „Samstags gehört Vati uns“ erinnern; einige mögen sie alle profitieren tagtäglich davon. Dazu gehört, dass die noch in Erinnerung haben. Die Frage der Arbeitszeit war Beschäftigten ein gewisses Maß an Sicherheit, ordentli- immer eine, über die Gewerkschaften zu Recht gestritten che Bezahlung und eine angemessene Arbeitszeit haben, haben. Ich denke, dass sie das in dieser Tarifauseinan- damit sie alles gut erledigen können. dersetzung tun, ist ihr gutes Recht. Ich wünsche beiden Tarifvertragsparteien gute Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten handlungen im Endspurt. Dabei müssen sich beide Sei- der LINKEN) ten bewegen. Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1933

Gabriele Lösekrug-Möller (A) sie das können. Sollte Herr Möllring noch Fragebedarf Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): (C) haben, steht ihm die Kanzlerin sicherlich zur Verfügung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute wichtige Anträge, die zeigen, wie unver- Vielen Dank. zichtbar menschenrechtliche Fragen für nahezu alle Be- (Beifall bei der SPD – Gitta Connemann reiche der deutschen Politik geworden sind. Heute geht [CDU/CSU]: Tolle Kanzlerin!) es um den Bereich der auswärtigen Politik, aber auch um den Bereich der Rechtspolitik und des Strafvollzuges. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schwerpunkt ist die Bedeutung von Wahrheits- und Die Aktuelle Stunde ist beendet. Versöhnungskommissionen für eine friedliche Zukunft. Das ist ein Antrag, den CDU/CSU, SPD, FDP und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam eingebracht haben. Ich finde das gut – lassen Sie mich das ausdrücklich sa- a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ gen –, weil es zeigt, dass wir in sehr vielen menschen- CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- rechtlichen Fragen einen breiten Konsens haben. SES 90/DIE GRÜNEN Außerdem stehen Anträge der Oppositionsfraktionen Die Bedeutung von Wahrheits- und Versöh- zur Diskussion, die eine zügige Zeichnung, Ratifizierung nungskommissionen für eine friedliche Zu- und Umsetzung des Fakultativprotokolls vom 18. De- kunft zember 2002 zur UN-Konvention gegen Folter und an- – Drucksache 16/932 – dere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Be- handlung vom 10. Dezember 1984 fordern. Lassen Sie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker mich ausdrücklich sagen: Wir teilen diese Forderung Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), und unterstützen den im Fakultativprotokoll vorgesehe- Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der nen Kontrollmechanismus zum Strafvollzug auf der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ebene der Vereinten Nationen. Für eine baldige Zeichnung und Ratifizierung Wir haben uns wie die Antragsteller über die Brem- des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konven- serhaltung einiger Landesjustizverwaltungen geärgert, tion der Vereinten Nationen die mit dafür verantwortlich waren – die Zuständigkeit ist hier sehr klar –, dass das Zeichnungsverfahren noch – Drucksache 16/360 – nicht eingeleitet werden konnte. Deshalb ist es beson- Überweisungsvorschlag: ders gut, dass heute – merke: heute – die Freigabe von- (B) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) seiten der Vertragskommission der Länder erfolgt ist und (D) Auswärtiger Ausschuss der Zeichnungsprozess eingeleitet werden kann. Wir Innenausschuss werden uns sicherlich noch über die Art der Umsetzung, Rechtsausschuss die als Kompromiss möglich geworden ist, unterhalten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung müssen. Ich will aber feststellen, dass es gut ist, dass die Zeichnung eingeleitet werden kann. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) der FDP Jetzt aber zu unserem gemeinsamen Antrag zur Be- Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und deutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissio- Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Anti-Fol- nen. Mit ihm soll die Diskussion darüber eingeleitet wer- ter-Konvention der Vereinten Nationen den – wir werden sie sehr vertieft führen müssen –, was die deutsche Politik tun kann, um Staaten und Gesell- – Drucksache 16/455 – schaften, sei es am Ende einer Diktatur, eines Krieges, eines Bürgerkrieges oder anderer Konflikte mit schwers- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) ten Menschenrechtsverletzungen, noch mehr zu helfen, Auswärtiger Ausschuss sich zu stabilisieren und einen neuen Anfang zu machen. Innenausschuss Diese Diskussion ist außerordentlich wichtig. Wir wis- Rechtsausschuss sen, dass sie viele Staaten und Gesellschaften in ganz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und verschiedenen Regionen unserer Welt betrifft. Unser An- Entwicklung trag zählt einige Länder auf, aber keineswegs alle. Die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aufzählung reicht von Südafrika über Guatemala bis hin Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es zu Osttimor. Die Diskussion ist auch deshalb wichtig, Widerspruch dazu? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das weil sie in die klare Schwerpunktsetzung der Vereinten so beschlossen. Nationen, das Peace-Building, eingebettet ist, also in die Stabilisierung von Gesellschaften und Staaten sowie Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- von Menschenrechten. Beides gehört, wie wir wissen, nerin der Kollegin Herta Däubler-Gmelin von der SPD- untrennbar zusammen. Fraktion das Wort. (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- (Beifall bei der SPD) loch] [SPD]) 1934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Lassen Sie mich nur zwei Punkte nennen: Im Dezem- einen friedlichen Neubeginn votierten. Sie trugen dazu (C) ber 2005 ist es im Zuge der UN-Reform möglich gewor- bei, dass eine Wahrheits- und Versöhnungskommission den, die Einsetzung einer Peace-Building-Commission eingerichtet wurde, die fünf wichtige Aufträge hatte: zu beschließen. Jetzt muss dies umgesetzt werden. Wir Erstens sollte sie in einem regelhaften Verfahren, das danken der Bundesregierung, dass sie sich hierfür aktiv allerdings kein Strafverfahren sein sollte, die Wahrheit einsetzt. Gestern ist es gelungen, den immerhin beachtli- feststellen. chen Kompromiss zur Verbesserung der Arbeit der Men- schenrechtskommission durch die Einrichtung eines effi- Zweitens – das war ganz wichtig – sollte sie den Op- zienteren Menschenrechtsrates zu beschließen. fern und ihren Angehörigen ein Forum bieten, in dem sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten berichten konnten, was ihnen angetan worden war. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Drittens sollte sie die Verantwortlichkeit der Täter GRÜNEN) feststellen. Das ermutigt trotz aller Schwierigkeiten; das will ich Viertens sollte sie die Öffentlichkeit einbeziehen. gerne hinzufügen. Fünftens sollte sie die mögliche Entschädigung von An beiden ermutigenden Schritten – lassen Sie mich Opfern einleiten das wiederholen; ich tue das mit großem Dank – hat die Arbeit der Bundesregierung einen erheblichen Anteil. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Das ermutigt uns und bestärkt uns auch darin, unsere und eine begrenzte Amnestie für Täter in Erwägung zie- Forderung zu stellen, die wir im Zuge der Beratungen hen. über unseren Antrag mit Sicherheit noch deutlich präzi- sieren können und müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Es ist erstaunlich – das konnten wir auch in anderen Die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, um Ländern feststellen –, was diesen Kommissionen damals die es heute geht, sind auch Schritte der Ermutigung, je- gelungen ist. Aber wir wissen ganz genau, was solche denfalls einige von ihnen. Wie die Erfahrung zeigt, kön- Kommissionen nicht leisten können. Sie können kein Er- nen die unterschiedlichsten Kommissionen in den ver- satz für ein Strafverfahren sein und sie dürfen kein Mit- schiedensten Ländern ein wichtiges Instrument sein, um tel sein, mit dem die Herrschenden den früher Unter- nach schrecklichen Zeiten der Unterdrückung der Bevöl- drückten sagen: Jetzt versöhnt euch mal schön. kerung, bestimmter Bevölkerungsgruppen oder von (B) Minderheiten, nach Verbrechen, Menschenrechtsverlet- Der Bundestag hat abgesehen von seinen Feststellun- (D) zungen und schrecklichem Unrecht anderer Art einen gen zum Wert von Wahrheits- und Versöhnungskommis- neuen Anfang zu machen und durch die Feststellung der sionen eine ganze Reihe von Empfehlungen abgegeben, Wahrheit, die Ermittlung des Sachverhalts, die Siche- die auch an die Bundesregierung gerichtet waren. Ich rung der Überwindung von Straflosigkeit und damit denke, es ist jetzt unsere Aufgabe, diese Empfehlungen auch die Sicherung von Recht eine Grundlage für eine noch stärker zu präzisieren und sie vielleicht zu ergän- friedliche Zukunft zu schaffen. zen. Gleichzeitig müssen wir – die Regierung, der Bun- destag und unsere starke Zivilgesellschaft – alle Mög- Wir können das an den Ergebnissen der unterschiedli- lichkeiten nutzen, um zu helfen, wenn unsere Hilfe chen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen able- nachgefragt wird. sen. An ihnen können wir aber auch feststellen, was eine solche Kommission ist, was man für ihre Arbeit braucht Herzlichen Dank. und was sie nicht leisten kann. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP In Südafrika zum Beispiel hat das grässliche, die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Menschenrechte verletzende, grausame Apartheidre- gime die schwarze Bevölkerung unterdrückt und gede- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mütigt, sie ihrer Rechte beraubt, ermordet und sie der Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der völligen Willkür ausgeliefert. Das ist, auch rückwirkend FDP-Fraktion. betrachtet, eine Schande. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Florian Toncar (FDP): DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- CDU/CSU und der FDP) ren! Menschenrechtspolitik ist gekennzeichnet durch die wechselseitige Abhängigkeit des engagierten Eintretens Typisch für die Situation Ende der 80er-Jahre war, für Menschenrechte im Ausland und im Rahmen von in- dass die Machthaber des Apartheidregimes einerseits ternationalen Organisationen einerseits und der strikten noch stark waren, andererseits aber intern, in ökonomi- Beachtung und Förderung der grundlegenden Rechte un- scher Hinsicht und auf internationaler Ebene immer stär- serer Bürgerinnen und Bürger in Deutschland anderer- ker unter Druck gerieten. Gleichzeitig gab es aufseiten seits. der schwarzen Bevölkerung unglaublich eindrucksvolle Persönlichkeiten wie Präsident Mandela oder Bischof (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Tutu, die gegen Rache, Vergeltung und Gewalt und für Abg. Jörg Tauss [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1935

Florian Toncar (A) Wenn wir nur eine dieser beiden Seiten vernachlässigen, Es ist aber auch an der Zeit, in Erinnerung zu rufen, (C) wird dadurch automatisch die andere Seite geschwächt. dass über zehn Jahre nach dem Friedensabschluss von Wenn also Regierungsvertreter bei Auslandsreisen im Dayton Kriegsverbrecher wie Radovan Karadžić und Hinblick auf lukrative Aufträge für unsere Unterneh- Ratko Mladić noch immer auf freiem Fuß sind. Diese men, gegen die niemand etwas hat, ins große Horn bla- Entwicklung ist höchst unbefriedigend und kann nicht sen, sich in Menschenrechtsfragen aber eher beiläufig in Bestand haben. den eigenen Bart nuscheln, dann erweckt das den Ein- druck, Menschenrechte seien Verhandlungsmasse. Das (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei können sie für uns nicht sein, meine Damen und Herren! Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert Gerade für das Unrecht, das im Bürgerkrieg im ehema- Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) ligen Jugoslawien angerichtet wurde, wo es vielfältige Wenn wir umgekehrt selbst nicht höchsten menschen- Täter gibt und wo die Verbrechen auf vielerlei Seiten be- rechtlichen Standards genügen, wird man uns zu Recht gangen worden sind, wo es nicht einfach ist, in Gut und Inkonsequenz und Doppelmoral vorwerfen, wenn wir Böse einzuteilen, ist die Einsetzung einer Wahrheits- die Menschenrechte anderswo einfordern. Wir müssen kommission vielleicht ein geeignetes Instrument, um zur uns also immer bewusst machen, wie sehr der Einsatz Aufarbeitung beizutragen. für Menschenrechte im Ausland und der Einsatz für Wie im Antrag zu Recht betont wird, kann es nicht Menschenrechte im Inland voneinander abhängen. Die- darum gehen, eine solche Kommission einem Land von ser Gedanke verbindet die beiden Themen, die wir heute außen überzustülpen. Jedes Land muss selbst einen Weg behandeln. finden, mit seiner Vergangenheit fertig zu werden. Wir In dem vorliegenden interfraktionellen Antrag geht es sollten im Rahmen der heutigen Debatte nicht vergessen, um die Aufarbeitung von Unrecht nach Überwindung ei- dass auch wir Deutschen vor der Aufgabe standen und ner Diktatur oder eines Bürgerkrieges durch Wahrheits- weiterhin stehen, Unrechtsvergangenheit aufzuarbeiten. kommissionen. Das ist angemessen, insbesondere vor Ich glaube, auch ohne dass wir eine Wahrheitskommis- dem Hintergrund, dass dieses Instrument seit den 90er- sion hatten, können wir mit unseren Erfahrungen den ei- Jahren beträchtlich an Bedeutung gewonnen hat. Meist nen oder anderen Beitrag dazu leisten, solche Aufgaben geht es in den betroffenen Ländern darum, den Opfern in anderen Ländern zu vereinfachen. und deren Angehörigen Genugtuung, oft genug aber auch nur die traurige Gewissheit über das Schicksal ei- Nach dem Krieg hat in Deutschland lange Zeit das nes vermissten oder verlorenen Familienangehörigen zu Klima geherrscht, die NS-Vergangenheit nicht ange- (B) verschaffen. Voraussetzung für einen neuen Anfang ist messen aufgearbeitet zu haben. Mittlerweile sind wir (D) es oft, Klarheit darüber zu schaffen, was vorgefallen ist, glücklicherweise weit fortgeschritten; es gibt dazu eine Unrecht als solches zu benennen und – im Idealfall, auch Menge an Bemühungen. wenn es in der Praxis oft nur schwer möglich sein wird – Wir haben auch Instrumente, um das Unrecht, das Wiedergutmachung geschehenen Unrechts anzustoßen. während der SED-Diktatur in der DDR begangen wor- In dem Antrag heißt es zu Recht, dass Wahrheitskom- den ist, aufzuarbeiten. Wir brauchen diese Instrumente missionen die Strafverfolgung der Täter – auch und weiterhin. Wir brauchen die Birthler-Behörde und wir gerade der Täter am Schreibtisch – nicht ersetzen kön- brauchen geeignete Gedenkstätten, beispielsweise das nen. Amnestie für gravierende Menschenrechtsverlet- Gefängnis Hohenschönhausen. Doch in diesem Bereich zungen kann und darf es auch durch Wahrheitskommis- ist noch nicht alles getan; auch das soll heute in Erinne- sionen nicht geben. rung gerufen werden. Es gibt die Zentrale Erfassungs- stelle in Salzgitter, deren Material bis heute nicht aufge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten arbeitet ist. Da schlummert noch einiges in den der SPD) Archiven, was insbesondere für die Betroffenen wertvoll Die Verfolgung der Täter ist zunächst Sache der nationa- wäre; ich glaube, dass sie ein Recht auf Aufarbeitung ha- len Gerichte. Die UN-Tribunale für Ruanda und für das ben. Das ist eine Aufgabe, die uns Deutschen verbleibt, frühere Jugoslawien sowie der Internationale Strafge- um mit unserer eigenen Vergangenheit fertig zu werden. richtshof stellen aber unschätzbar wertvolle Fortschritte dar, insbesondere wenn nationale Gerichte diese Aufar- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert beitung nicht leisten können, nicht leisten wollen oder Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) nicht leisten sollen. Es liegen auch zwei Anträge zum Zusatzprotokoll zur (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Anti-Folter-Konvention vor. Darin geht es um die Ein- GRÜNEN]: Nicht können! Wie in Ruanda!) richtungen, in die Menschen zwangsweise eingewiesen werden: Gefängnisse, aber auch Arrestanstalten – auch – Ja. bei der Bundeswehr – oder psychiatrische Kliniken. Für Es ist bedauerlich, dass der Prozess gegen Slobodan solche Einrichtungen sollen Personen bestellt werden, Milošević nicht zu Ende geführt werden kann. Um jegli- die als unabhängige Beobachter notfalls auch unange- cher Legendenbildung vorzubeugen, ist es nötig, dass kündigt Besichtigungen vornehmen und nachsehen, ob sein Tod gründlich untersucht und hierüber transparent in diesen Anstalten menschenwürdige Zustände herr- aufgeklärt wird. schen. 1936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Florian Toncar (A) Uns Liberalen geht es mit unserem Antrag darum, gebenen Umständen zu erreichen war. Weitere Verhand- (C) nochmals ein Zeichen zu setzen, um möglichst zügig die lungen hätten wahrscheinlich nicht zu einem größeren Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Erfolg geführt. Anti-Folter-Konvention zu erreichen. Dass wir uns in Haben wir das Ziel erreicht, ein effektives, ein glaub- Deutschland so schwer damit tun, die Voraussetzungen würdiges Gremium zu schaffen? Schauen wir uns zu- für die Umsetzung des Protokolls zu schaffen, empfinde nächst die Kriterien in der Resolution an, die uns jetzt ich persönlich als ausgesprochen peinlich. Das sollte so vorliegt. Mitglieder werden durch einfache Mehrheit in nicht weitergehen. der Generalversammlung gewählt. Es ist möglich, Mit- (Beifall bei der FDP) glieder durch eine Zweidrittelmehrheit wieder abzuwäh- len. Die Instrumente, über die die Kommission früher Ich mache keinen Hehl daraus, dass der sich abzeich- verfügte, sind dem Menschenrechtsrat erhalten geblie- nende Kompromiss eine große Enttäuschung ist. Wie ben. Das war während der Verhandlungen nicht immer man glauben kann, mit vier ehrenamtlichen Kräften, ei- sichergestellt. Es gibt zumindest ein informelles Über- nem Bediensteten des höheren Dienstes und zwei Büro- einkommen darüber, dass Länder, gegen die der UN- kräften das gesamte Bundesgebiet adäquat abdecken zu Sicherheitsrat eine Resolution ausgesprochen hat, nicht können, ist mir schleierhaft. Die Schweiz etwa setzt das Mitglieder des Rates sein können. Es wurde auch da- Protokoll wesentlich konsequenter um und hat die nöti- rüber eine Verständigung herbeigeführt – das war für die gen Personalressourcen bereitgestellt. Dass der Bund- Europäer besonders wichtig –, dass es mehr Sitzungs- Länder-Kompromiss so weit dahinter zurückbleibt, ist perioden gibt. Das ist wichtig, um intensiv und zeitnah enttäuschend. Dieser Kompromiss zur Umsetzung des Menschenrechtsverletzungen verfolgen zu können. Protokolls ist nicht mehr als ein Feigenblatt. Das Ergebnis ist sicherlich weniger als ursprünglich (Beifall bei der FDP) gewollt, aber mehr als befürchtet. Deshalb hat es zum Die Alternative allerdings wäre, die Ratifizierung Schluss eine breite Unterstützung gegeben. 170 Länder platzen zu lassen. Das halte ich bei aller Kritik dann haben der Resolution zugestimmt. An dieser Stelle doch für falsch. Wenn sich nach der Ratifizierung zeigen möchte ich der Bundesregierung und der Europäischen sollte, dass die Bundesrepublik das nur unzureichend Union für ihre klare Haltung, aber auch für ihr diploma- umsetzt, hat man eine sehr viel günstigere Position, um tisches Geschick danken. Denn das war keine einfache weitere Verbesserungen und eine Aufstockung der Mittel Arbeit. zu fordern. Sorgen wir also dafür, dass sich Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie völkerrechtlich möglichst bald bindet. Dann können wir bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Nachforderungen stellen, wenn uns die Umsetzung nicht (B) GRÜNEN) (D) ausreicht. Das halte ich taktisch für wesentlich sinnvol- ler. Die Nichtregierungsorganisationen haben sich damit einverstanden erklärt. Die USA, die nicht zugestimmt Danke schön. haben, haben zugesagt, die Zusammenarbeit zu pflegen, (Beifall bei der FDP) die entsprechenden finanziellen Mittel bereitzustellen und einen eigenen Sitz in diesem Gremium anzustreben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mit ihrer Haltung zu der Frage, ob der Konsens nun Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von gut ist oder nicht, stehen die USA übrigens nicht alleine der CDU/CSU-Fraktion. da. Ich würde gerne mit Erlaubnis des Präsidenten aus (Beifall bei der CDU/CSU) der Genfer „Le Temps“ vom letzten Freitag einen Kom- mentar vorlesen, überschrieben mit „Konsenssuche ist Gift für die Menschenrechte“. Der Kommentator schreibt: Holger Haibach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Bei der Suche nach einem Konsens und angesichts ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben kein eines feindlichen amerikanischen Stimmverhaltens Interesse daran, die Liegestühle auf dem Sonnendeck der haben … Verhandlungen die Debatte getötet … Titanic einfach nur zurechtzurücken. – Diese Worte Weiter heißt es: stammen von Kevin Moley, dem US-Botschafter bei der Menschenrechtskommission in Genf, und signalisieren Die USA unter der Administration Bush mögen die Haltung der USA zum Kompromiss hinsichtlich des nicht eben die Richtigen sein, um sich als Verteidi- Menschenrechtsrats, der jetzt gefunden wurde. Was da- ger der Freiheiten aufzuspielen, ihre frontale Geg- hintersteht, ist, glaube ich, relativ klar: Wenn es eine Re- nerschaft hat dennoch etwas Gutes. Sie erinnert uns form geben soll, dann eine richtige Reform, bei der das daran, dass die europäische und helvetische Kon- Ziel sein muss, ein effektives und glaubwürdiges Gre- zeption der Menschenrechte keine universelle ist. mium zur Durchsetzung der Menschenrechte zu schaf- Sie erinnern uns daran, dass Freiheiten erkämpft fen. werden müssen. Wir haben eine Lösung. Es gibt einen Kompromiss. Man muss dieser Interpretation nicht zustimmen. Bedeutet das, dass wir in Jubel ausbrechen sollen, nach Aber sie zeigt ganz deutlich, dass es nicht um die Frage dem Motto: Wir sind Menschenrechtsrat? Nein. Aber ich der Glaubwürdigkeit der Kriterien geht, sondern dass es glaube, der Kompromiss ist das Beste, was unter den ge- darum gehen muss, dass die Menschenrechtskommission Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1937

Holger Haibach (A) bzw. der Menschenrechtsrat, wie er jetzt heißt, glaub- stehen. Ich hoffe, dass Sie dort genauso stark mit dabei (C) würdig arbeitet. Das ist das Entscheidende. Daran wird sind, das Ganze voranzubringen und zu implementieren, sich der Erfolg dieses Gremiums messen lassen müssen. wie Sie hier im Bundestag auftreten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Florian Toncar [FDP]) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die entscheidenden Fragen werden sein: Können wir es schaffen, die Kluft zwischen Nord und Süd zu schlie- Ich will das nur zwischendurch sagen: Wir sind uns in ßen? Können wir es schaffen, dass die Menschen in den der Intention einig, aber ich möchte das trotzdem noch anderen Teilen der Welt sehen, dass der Westen keine kurz politisch bewerten. doppelten Standards anlegt, wie das hier gerade ange- Zweitens. Die Grünen machen langwierige Ausfüh- klungen ist? – Vor wenigen Stunden bin ich aus Amman rungen darüber – von ihnen ist der andere Antrag zu die- zurückgekommen. Dort habe ich wie überall auf der sem Thema –, welche Länder das blockiert haben. Es ist Welt viele Menschen getroffen, die wirklich begeistert natürlich reiner Zufall, dass in einem dieser Länder bald waren und im Bereich der Menschenrechte zusammen- Landtagswahlen stattfinden. Es ist auch reiner Zufall, arbeiten wollen. Dafür ist Glaubwürdigkeit sehr wich- dass über die Rolle der unionsgeführten Länder gespro- tig. Ich glaube, auch hier hat die neue Bundesregierung chen wird, aber leider nicht darüber, dass das unionsge- durch die Äußerungen von Frau Merkel in den USA und führte Land Hessen einen großen Beitrag dazu geleistet in Russland und durch die Äußerungen von Herrn hat, dass wir jetzt diesen Durchbruch erzielt haben. Steinmeier in China einen guten Start hingelegt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Insofern glaube ich, dass das hier durchaus auch einmal GRÜNEN) erwähnt werden darf. Meine Damen und Herren, Glaubwürdigkeit entsteht Wie auch immer: Jedenfalls in der Zielsetzung sind natürlich auch und ganz besonders durch eigenes Han- wir uns einig. Ich hoffe, dass der gefundene Kompro- deln. Wir haben hier noch eine Lücke; das ist richtig und miss möglichst schnell in die Tat umgesetzt werden wird durch zwei Anträge dokumentiert. Es geht um das kann; denn wenn dies geschieht, wäre das ein gutes Zei- schon öfter erwähnte Zusatzprotokoll zur Anti-Folter- chen für unsere Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit Konvention und um die Schaffung von Präventiv- und nach innen und nach außen. Es war auch ein gutes Zei- Kontrollmechanismen zur Verhinderung von Folter in chen für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit nach außen, wie sich Deutschland bei der Reform der Men- (B) staatlichen Stellen. Es ist wahr, dass es einige Zeit ge- (D) dauert hat. Es ist aber auch richtig – das ist schon schenrechtsgremien der UN verhalten hat. Arbeiten wir angeklungen –, dass es jetzt einen Kompromiss gibt. Wir gemeinsam daran, dass beides zum Erfolg werden kann. sind auf einem Weg. In Wiesbaden wird es eine zentrale Herzlichen Dank. Stelle geben. Der Bund hat sich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen. Natürlich sagen manche, dass das zu (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wenig ist. Ich stimme aber dem Kollegen Toncar zu, der gesagt hat: Wenn die Ratifizierung erst einmal vollzo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen ist, dann ist es einfacher, an der Stelle noch Verbes- Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Leutert von serungen herbeizuführen. der Fraktion Die Linke. Ich glaube auch, dass es ein ganz wichtiges Zeichen (Beifall bei der LINKEN) ist, wenn sich Deutschland an vorderer Stelle an der Ra- tifikation beteiligt. Michael Leutert (DIE LINKE): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wahrheits- und Versöhnungskommissionen dienen be- kanntlich dem Zweck, einer Gesellschaft, in der 20 Staaten sind notwendig, um das Abkommen durch schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattge- die Ratifikation in Kraft treten zu lassen. Es wäre ein fa- funden haben, einen zivilisierten Neuanfang zu ermögli- tales Zeichen, wenn Deutschland nicht unter den ersten chen. Es geht darum, sich mit der eigenen Vergangenheit 20 Unterzeichnern wäre. auseinander zu setzen und den Frieden nicht aufs Neue (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zu gefährden. Opfer sollen so die Möglichkeit erhalten, GRÜNEN]: So ist es!) über ihnen angetanes Unrecht sprechen zu können und die Täter zu benennen; Täter sollen dagegen die Mög- Die beiden Anträge verdienen einen näheren Blick. lichkeit haben, ihre Opfer um Vergebung zu bitten. Es Auf sie will ich in der verbleibenden Zeit noch eingehen: geht also um Wahrheit und Aussöhnung. Jedoch darf dies nicht – ich glaube, darin sind wir uns einig – die ju- Erstens. Die FDP bringt einen fast wortgleichen An- ristische Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsver- trag aus der letzten Wahlperiode wieder ein; das scheint letzungen ersetzen. eine neue Methode zu sein. Vielleicht denken Sie einmal daran, dass Sie in einem der Länder, die sich bis jetzt ein In diesem Zusammenhang möchte ich einige Kritik- bisschen geziert haben, in der Regierungsverantwortung punkte anführen: 1938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Michael Leutert (A) Erstens. Ich glaube, hier auf breite Zustimmung zu Meine Fraktion wird diesem Antrag trotz aller Kritik (C) stoßen, wenn ich sage: Am besten wäre es, wir bräuchten zustimmen, da wir im Kern mit der Zielrichtung des An- gar keine Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. liegens übereinstimmen. Dies wäre dann der Fall, wenn die Konflikte schon im Vorfeld verhindert werden könnten. Weiterhin liegen zwei Anträge zur Zeichnung und Ra- tifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Kon- (Beifall bei der LINKEN) vention vor. Es ist klar, dass auch die Linke dieses An- liegen unterstützt und für eine zügige Bearbeitung In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings die eintritt. Immerhin befinden wir uns schon im vierten Frage stellen, warum in dem Antrag der präventiven Jahr, seit das Protokoll zur Unterzeichnung vorliegt. Wir Seite kein Raum eingeräumt wurde. Wir alle wissen, wissen, dass das Problem eher auf Länderebene liegt. In- dass unter anderem mangelnde Bildung sowie Armut sofern ist die Bundesregierung nicht der eigentliche und soziale Ungleichheit primäre Gründe für Kriege und Adressat. Aber wenigstens können wir so unsere morali- Bürgerkriege sind. Zur Beseitigung dieser Ursachen be- sche Unterstützung für die Bundesregierung in dieser darf es finanzieller Mittel, die die meisten betroffenen Frage deutlich machen. Wenn wir schon einmal die Ge- Länder selbst nicht aufbringen können. Es wäre also legenheit haben, die Bundesregierung moralisch zu un- mehr als angebracht, wenn Deutschland seine auf inter- terstützen, dann wollen wir das gerne tun, nationaler Ebene zugesagten Mittel für Entwicklungs- hilfe endlich auf die versprochene Höhe anhöbe. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) (Beifall bei der LINKEN) zumal es genau in diesem Punkt anders als bei dem an- Zweitens. Es ist generell nachzufragen, inwieweit deren Antrag um ein präventives Mittel zur Vermeidung Entwicklungshilfe mit militärischer Invasion im Zusam- von Menschenrechtsverletzungen geht. menhang steht. Diese Gelder sollen eben hauptsächlich präventiv wirken und nicht erst dann eingesetzt werden, Danke. wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. An (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- diesem Punkt möchte ich an Afghanistan erinnern. neten der SPD) Drittens. Es sollte kritisch hinterfragt werden, mit welchen Regimes wir derzeit in Beziehung stehen. Sind Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: es Länder, in denen eventuell in naher Zukunft ebenfalls Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck vom Wahrheitskommissionen notwendig werden? Bündnis 90/Die Grünen. (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich darf in diesem Zusammenhang an Usbekistan erin- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- nern. Dort starben während eines Massakers von regie- tieren heute über mehrere Anträge, unter anderem über rungsnahen Truppen und der Polizei letztes Jahr bis zu den interfraktionellen Antrag zur Bedeutung von Wahr- 800 Menschen. Wir unterhalten aber in Usbekistan aus heits- und Versöhnungskommissionen. Dazu hat die strategischen Gründen einen Militärflugplatz und ge- Ausschussvorsitzende schon die richtigen Worte gefun- währen Finanzhilfen in Millionenhöhe. Auch das gehört den und deutlich gemacht, welche Bedeutung sie haben. zur Wahrheit. Ich bin froh, dass wir als Parlamentarier bei einer solch (Beifall bei der LINKEN) wichtigen menschenrechtspolitischen Initiative inter- fraktionell an einem Strang ziehen. Viertens und letztens möchte ich Folgendes in den Raum stellen: Wir hätten diese Punkte gerne während Herr Kollege Leutert, selbstverständlich muss man der Erarbeitung dieses interfraktionellen Antrags mit Ih- über Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe diskutie- nen gemeinsam diskutiert. Aber es scheint derzeit Mode ren. Aber man sollte nicht alles in einen Antrag packen. zu werden, dass solche fraktionsübergreifenden Initiati- Dieser Antrag setzt sich mit einem spezifischen Instru- ven ohne uns stattfinden. Warum? Legen Sie auf unsere ment auseinander. Dabei geht es um die Menschen- Meinung keinen Wert oder ist das noch die Routine aus rechtspolitik, die Aufarbeitung von Vergangenheit und der alten Legislaturperiode? Mich würde es freuen, die Konfliktlösung nach dem Auftreten entsprechender wenn Sie sich daran gewöhnten, dass im Bundestag seit Probleme. Selbstverständlich muss die Prävention eine kurzem eine neue Fraktion Platz genommen hat. Rolle spielen. Das werden wir im Zusammenhang mit der Haushaltsdebatte, die wir gestern im Ausschuss be- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Nur Sie gonnen haben, hier nachholen und dafür sorgen, dass sind neu!) sich die Bundesregierung an das Ziel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungshilfe – Natürlich bin ich neu, aber auch die Fraktion ist neu. hält, was sie öffentlich und international zugesagt hat. (Christian Carstensen [SPD]: Nein, das ist die Die aktuellen Informationen deuten leider nicht in diese alte PDS!) Richtung. Daran sollten Sie sich gewöhnen. Lassen Sie mich auf den gestrigen Tag zu sprechen kommen; denn ich halte es für bedeutend, dass gestern (Beifall bei der LINKEN) – am 15. März 2006 – die UN-Vollversammlung gegen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1939

Volker Beck (Köln) (A) den Willen der USA und drei weiterer Staaten die Ein- der Länder entzündete sich daran, dass wir einen natio- (C) richtung eines Menschenrechtsrates beschlossen hat. nalen Mechanismus implementieren müssen, um bei al- Dieses neue Gremium soll die viel kritisierte Menschen- len Menschen, denen die Freiheit entzogen wurde, eine rechtskommission ablösen. Kofi Annan hat vor einem unabhängige Kontrolle durch ein eigenes Gremium ein- Jahr einen Vorschlag zur Neustrukturierung der Arbeit zuführen, das überprüft, ob die Menschenrechtsstan- der Menschenrechtspolitik in diesem Bereich vorgelegt. dards der Anti-Folter-Konvention eingehalten werden. Es ist dem Präsidenten der UN-Vollversammlung, Herrn Ich finde, nach dem Fall Daschner, der Diskussion Jan Eliasson, dafür zu danken, dass er ein Konzept für über Gefangene in anderen Ländern und der Verneh- einen neuen Menschenrechtsrat vorgestellt hat, das zwar mung durch deutsche Beamte können wir nicht sagen: nicht alle Wünsche erfüllt, aber einen erheblichen Schritt Wir sind ein Land, das über alle Zweifel erhaben ist; wir nach vorne bedeutet und einen Fortschritt in der Arbeit brauchen eine solche Kontrolle nicht. Ich glaube, wir des Gremiums ermöglicht hat. können als Signatarstaat des Zusatzprotokolls andere Führende Menschenrechtsorganisationen weltweit Länder mit größerem Nachdruck auffordern, dieses Pro- wie Amnesty International und Human Rights Watch ha- tokoll zu unterzeichnen und ihre Menschenrechtspraxis ben ganz realpolitisch festgestellt, dass das ein Schritt überprüfbar zu machen. Wir sollten auch dafür sorgen, nach vorne ist, der unterstützt werden muss. Insofern bin dass es ein Gremium wird, das seinen Aufgaben auch ich froh über den gestern gefassten Beschluss. nachkommen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Konzept der USA war nicht überzeugender; Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege. denn bei der Idee, dass die ständigen Mitglieder des UN- Sicherheitsrats einen geborenen Sitz erhalten – das heißt, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bei denen schauen wir nicht hin, wie sie es mit den Men- Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir uns hin- schenrechten halten; sichtlich der Signatur des Protokolls nicht mit Ruhm be- kleckert. Bis zum heutigen Tag haben bereits 54 Staaten (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ das Protokoll unterzeichnet bzw. paraphiert, 16 Staaten DIE GRÜNEN]: China! Russland!) haben es ratifiziert. Wir hinken also schon ziemlich hin- sie, auch Russland und China, sind von vornherein Mit- terher und sollten uns sputen. glied in diesem Gremium, während wir bei anderen, (B) Es freut mich, dass die FDP ihren Antrag vorgelegt (D) kleineren Staaten in Zukunft noch strenger sind –, müs- hat. Hätte sie ihn in den Ländern, in denen sie mitregiert sen wir aufpassen, dass es nicht so aussieht, als ob wir – nämlich Sachsen-Anhalt und Niedersachsen –, gleich die Menschenrechtspolitik des Westens dadurch diskre- durchgesetzt, dann wären wir schon weiter. Aber Sie ditieren, dass wir sie kulturalistisch gegen andere Staa- wissen – frei nach Lukas –: Im Himmel ist mehr Freude ten einsetzen. Wir müssen vielmehr immer genau darauf über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der achten, dass wir bei Freund und Feind das gleiche Maß Buße nicht bedürfen. anlegen und dort Kritik üben, wo Kritik angebracht ist. Wir dürfen nicht so tun, als dürften wir bei manchen Vielen Dank. Ländern aus politischen oder pragmatischen Gründen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bewusst wegschauen. Das gilt für Russland, China, die USA wie auch für Länder wie Kuba, auf das wir heute Nachmittag noch zurückkommen werden. Ich bin froh, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass wir uns darüber einig sind, dass die Bundesregie- Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- rung richtig gehandelt hat, sich konstruktiv auf den Pro- rin Karin Kortmann. zess einzulassen und ihn zu unterstützen. Karin Kortmann, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- Heute steht noch ein weiterer Antrag unserer Fraktion desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und auf der Tagesordnung. Wir haben Anfang Januar als Entwicklung: erste Fraktion einen Antrag zur Unterzeichnung eines Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Fakultativprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention Kollegen! So bibelfest und theologisch gut wie Herr vorgelegt. Ich finde es wichtig, dass Deutschland das Beck kann ich das nicht formulieren. Protokoll endlich unterzeichnet. Die alte Bundesregie- rung hat es in der Vergangenheit vergeblich versucht, (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Du kannst weil der Widerstand der Länder Sachsen-Anhalt, Sach- das gut!) sen und Niedersachsen dem entgegensteht. Ich bin froh, – Ich kann das sicherlich gut, aber ich will das jetzt nicht dass die heutige Debatte über unseren Antrag zu der tun. Feststellung geführt hat – sicherlich im Zusammenhang mit der Diskussion der letzten Wochen und Monate über Ich will die besondere Bedeutung von Wahrheits- und Folter in anderen Staaten und die Beteiligung deutscher Versöhnungskommissionen hervorheben. Das ist nicht Beamter an Vernehmungen von womöglich gefolterten irgendein Instrument, das wir unter „ferner liefen“ unter- Gefangenen –, dass das nicht mehr haltbar ist. Die Kritik stützen und wertschätzen. Vielmehr handelt es sich um 1940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Parl. Staatssekretärin Karin Kortmann (A) ein wichtiges Instrument, um für Frieden und Gerech- in ihrem umfangreichen Empfehlungskatalog die Priori- (C) tigkeit auf dieser Welt Sorge zu tragen. tät auf die Würdigung und die Entschädigung von Op- fern, die Reformierung des Justizsystems, die Bildung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einer multikulturellen Nation und die Ausschöpfung der Kriege und Konflikte haben zumeist eine doppelte Last prozessualen Möglichkeiten des Amnestiegesetzes, das zur Folge. Unmittelbar bedeuten sie Gewalt, Zerstörung ausdrücklich die Straftatbestände Folter, Genozid und und Rückschritte in der Entwicklung. Aber auf lange Verschwindenlassen von der Amnestie ausnahm. Am Sicht wirken Konflikte nach. Wenn versäumt wird, be- Beispiel Guatemalas zeigt sich, dass die größte Heraus- gangenes Unrecht aufzuarbeiten und Verletzungen aus forderung von Wahrheits- und Versöhnungskommissio- der Vergangenheit zu bewältigen, dann steht die Zukunft nen darin liegt, die Empfehlungen in eine aktive Regie- eines Landes auf tönernen Füßen und es bleiben wie in rungspolitik umzusetzen sowie im Bewusstsein von den erwähnten Fällen nicht nur Narben zurück. Gesellschaften und in Machtstrukturen zu verankern. Letztes Wochenende hat die neu gewählte chilenische Insgesamt lassen sich nach sieben Jahren erste An- Präsidentin ihr Amt angetreten. Sie wurde vor einiger sätze einer Umsetzung feststellen. Wir stellen aber auch Zeit in einem Zeitungsinterview gefragt, was für sie die fest, dass in Guatemala entschiedene Mehrheiten und Pinochet-Vergangenheit bedeutet. Sie hat darauf geant- Überzeugungen sowohl in der Exekutive als auch in der wortet: Nur gesäuberte Wunden können ausheilen. Sonst Legislative für eine energische Vergangenheitspolitik werden sie sich immer entzünden und Eiter bilden. – Die und eine nationale Aussöhnung bislang noch nicht vor- Wahrheit muss also an den Tag kommen. Um wie viel handen sind. Daran hat sich auch durch die Regierungs- mehr gilt das für Gesellschaften, die aus einem Konflikt politik von Herrn Berger nichts geändert. erst noch herauswachsen und die sich in einer politi- Mit guten und erprobten Instrumenten können die in- schen Übergangsphase befinden. Gerade dann, wenn ternationale und die deutsche Entwicklungspolitik zur staatliche Strukturen fragil sind, ist allein eine juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen beitra- Aufarbeitung vor Strafgerichten wenig realistisch. Men- gen. Ich erinnere im Zusammenhang mit Guatemala da- schenrechtsverletzungen müssen sicherlich gerichtlich ran, dass die GTZ die dortige Regierung unterstützt und geahndet werden; daran führt kein Weg vorbei. bei der Umsetzung des Friedensabkommens und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Empfehlung der Wahrheitskommission tätig ist. Wir ha- DIE GRÜNEN) ben ein Programm mit dem Titel „Programm zur Unter- stützung des Friedensprozesses“ aufgelegt. Viele Berei- Aber gerade die Wahrheits- und Versöhnungskommis- che, die dort angesprochen und aufgearbeitet worden sionen tragen zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung (B) sind, können wir heute in der Regierungspolitik von (D) des begangenen Unrechts bei. Sie können und dürfen al- Óscar Berger feststellen. Das zeigt, wie wichtig es ist, lerdings eine strafrechtliche Verfolgung der Täter nicht dass wir deutsche Entwicklungsinstitutionen haben, Herr ersetzen, wenn es sich um schwere Menschenrechtsver- Leutert, die nicht militärisch tätig sind, sondern auf zi- letzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vile Krisenprävention setzen und die in ausreichendem handelt. Darüber sind wir uns alle in diesem Haus einig. Maße finanzielle Mittel zur Entwicklung zur Verfügung Lassen Sie mich von Guatemala berichten, einem stellen, um diesem Auftrag wirkungsvoll Rechnung tra- Land, das vor beinahe zehn Jahren einen Bürgerkrieg be- gen zu können. enden konnte, der über drei Jahrzehnte währte und (Beifall bei der SPD) unvorstellbares Leid vor allem für die indigene Bevölke- rung brachte. 1997, ein halbes Jahr nach dem Friedens- Weil Sie, Herr Leutert, neu in diesem Parlament sind, schluss, wurde die Kommission zur historischen Aufklä- darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir vor sieben Jahren rung eingesetzt. Die internationale Staatengemeinschaft, damit begonnen haben, die Einrichtung des zivilen Frie- aber vor allem auch die deutsche Bundesregierung haben densdienstes zu fördern und zu unterstützen. Bisher diesen Prozess von Anfang an nicht nur personell, son- waren mehr als 200 dieser Friedensfachkräfte weltweit dern auch finanziell und ideell unterstützt. Es ist gut, tätig. Wenn Sie sich einmal anschauen, was sie in Guate- wenn wir an dieser Stelle an den Kommissionsvorsitz er- mala an wirkungsvoller und wichtiger Arbeit leisten, in- innern und Professor Tomuschat, den deutschen Völker- dem sie zu Versöhnungsprozessen in den dörflichen Ge- rechtsexperten, der ihn innehatte und im Auftrag der meinschaften beitragen und bei solch wichtigen Arbeiten UNO tätig war, für seine wichtige Arbeit danken. wie Exhumierungen den Auftrag übernehmen, den ei- gentlich die dortige Regierung hätte, dann erkennen Sie, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie wichtig das ist, was wir im Rahmen der deutschen der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Entwicklungszusammenarbeit dort tun und mit 75 Mil- GRÜNEN) lionen Euro weiterhin fördern werden. In dem 1999 veröffentlichten Bericht „Erinnerungen (Beifall bei der SPD) an das Schweigen“ werden schwere Menschenrechtsver- letzungen mit genozidalen Zügen gegenüber der indige- Der innere Frieden einer Gesellschaft kommt nicht nen Bevölkerung festgestellt. Folter und Verschwinden- von selbst. Er ist die Frucht eines schwierigen und si- lassen waren vielerorts bekannt geworden. Für die cherlich auch schmerzlichen Prozesses, an dem Zivilge- Mehrzahl der Fälle wurde das guatemaltekische Militär sellschaft, Parlament und auch Regierungen teilhaben. verantwortlich gemacht. Die Wahrheitskommission legte Wir wissen, dass rückwärtsgewandtes Agieren, Amnes- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1941

Parl. Staatssekretärin Karin Kortmann (A) tien oder finanzielle Entschädigungen allein nicht zu ei- Gestatten Sie mir dazu eine Nebenbemerkung. Ein (C) nem nachhaltigen Frieden führen. Deswegen ist es wich- aktuelles Beispiel für die Begrenztheit einer nur gericht- tig, dass wir in den bilateralen Regierungsverhandlungen lichen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen mit unseren Partnerländern darauf drängen, die Empfeh- ist die Diskussion nach dem Tod von Slobodan lungen von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen Milošević vor wenigen Tagen. Die Reaktionen darauf zu berücksichtigen. Wir unterstützen sie im Gegenzug zeigen nämlich, wie wichtig es ist, dass auch jenseits von beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und Insti- strafrechtlichen Konsequenzen Fakten und Wahrheit tutionen, beim Schutz und bei der Wahrung von Men- über begangenes Unrecht ermittelt und festgestellt wer- schenrechten und vor allem bei der Umsetzung dessen, den können. was wir unter Good Governance verstehen. Wir wollen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der sie ermutigen, die Vergangenheit aufzuarbeiten, zum SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wohle und für die Zukunft ihrer Gesellschaften und NEN) nicht zuletzt auch zum Gedenken an die vielen Opfer, für die wir diese Arbeit machen. Die größte Sorge von Angehörigen der Opfer ist jetzt, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien nie ans Ta- geslicht kommen könnten. Genau das ist aber für die Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wältigung auch des persönlich Erlebten von größter Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn Bedeutung; denn die Überlebenden müssen damit wei- von der CDU/CSU-Fraktion. terleben. Es gehört zu den äußerst erfreulichen Entwicklungen Thomas Silberhorn (CDU/CSU): der Menschenrechtspolitik, dass Wahrheits- und Versöh- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nungskommissionen erfolgreicher sein können als Ge- Herren! Ich möchte unsere heutige Debatte zur Men- richte. Ich persönlich finde es besonders erfreulich, dass schenrechtspolitik mit einigen grundlegenden Anmer- dieses Instrument von den betroffenen Staaten selbst ent- kungen zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöh- wickelt worden ist, dass es gewissermaßen von unten ge- nungskommissionen beschließen. Diese Kommissionen wachsen ist und damit ein besonders hohes Akzeptanz- sind insbesondere in Lateinamerika, aber auch in vielen potenzial hat. Staaten Afrikas zu einem sehr wichtigen Instrument der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverlet- der SPD) zungen geworden, wobei im Vordergrund die breit ange- (B) legte Untersuchung und Dokumentation von geschehe- Wenn diese Kommissionen ein entsprechendes Man- (D) nem Unrecht durch die Einbeziehung von Opfern und dat erhalten und auch die Unterstützung der jeweiligen Tätern gleichermaßen steht. Erfolgreich sind diese Kom- Regierung genießen, dann können sie eine wesentlich missionen dann, wenn ihre Erkenntnisse und Empfeh- breiter angelegte Untersuchung und Aufklärung von ge- lungen Konsequenzen zeitigen, Eingang in die Regie- schehenem Unrecht erreichen, als das in einem formali- rungspolitik finden und aktiv genutzt werden, um das sierten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren möglich friedliche Zusammenleben in diesen Gesellschaften, die ist. Damit haben diese Kommissionen die Gelegenheit, Opfer und Täter zugleich kennen, zu fördern. eine Grundlage zu schaffen für einen gerechten Aus- gleich zwischen Tätern und Opfern, für eine dauerhafte Der Weg der internationalen Gemeinschaft war zu- Befriedung und Versöhnung und damit auch für die Ver- nächst ein anderer. Sie hat sich nach dem Zweiten Welt- hütung künftiger Konflikte. Opfer und Täter müssen krieg die Bestrafung von Kriegsverbrechen, Völkermord nach solchen Auseinandersetzungen mit schwersten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Aufgabe Menschenrechtsverletzungen nämlich nicht selten weiter gemacht und damit entscheidend zur Durchsetzung des miteinander leben. Völkerrechts – von den Internationalen Militärgerichts- Die Erfahrungen zeigen allerdings auch, dass Wahr- höfen von Nürnberg und Tokio bis hin zum Internationa- heitskommissionen kein Allheilmittel sind. Insbesondere len Strafgerichtshof in Den Haag – beigetragen. Die reicht es nicht aus, wenn erfolgreiche Untersuchungs- Aufklärung des Sachverhalts ist dabei allerdings immer und Aufklärungsarbeiten ohne nennenswerte Konse- Gegenstand rechtsstaatlicher Verfahren vor Gerichten quenzen bleiben oder gar als Anlass für großzügige Am- gewesen. Wir müssen heute einräumen, dass diese Ver- nestien herhalten müssen. Wer individuelle Schuld für rechtlichung bei der Verfolgung von Menschenrechts- Menschenrechtsverletzungen auf sich geladen hat, muss verletzungen – so wichtig und richtig sie gewesen ist und auch künftig strafrechtlich zur Verantwortung gezogen bis heute ist – an Grenzen stößt. Das hat damit zu tun, werden. Insoweit sind Wahrheits- und Versöhnungskom- dass die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen missionen kein Ersatz, aber wohl eine sinnvolle Ergän- heute immer häufiger nicht in zwischenstaatlichen, son- zung zur Strafverfolgung. dern in innerstaatlichen Konflikten zu suchen sind und dass die Behörden und die Justiz von Staaten, die nach Die Aufklärung und Aufarbeitung schwerster Men- internen Auseinandersetzungen oft noch instabil sind, schenrechtsverletzungen geht uns als Deutsche in beson- nicht immer in der Lage sind, die Strafverfolgung zufrie- derem Maße an, nicht nur weil es in unserem Interesse den stellend zu bewältigen, nämlich so, dass damit an Sicherheit und Frieden liegt, sondern weil wir auch Rechtsfrieden hergestellt werden kann. eine historische Verantwortung tragen: Wir haben 1942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Thomas Silberhorn (A) nach dem Zweiten Weltkrieg selbst lernen müssen, was Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (C) die Aufarbeitung unserer Vergangenheit und was Ver- Ausschuss für Tourismus söhnungsarbeit bedeuten. Das fand in Deutschland zwar Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nicht in einer Wahrheitskommission statt, sondern vor Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei- allem vor Gerichten. Aber wäre nicht bei vielen Men- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. schen – auch bei den Opfern – der Wille zu Neuanfang und Versöhnung vorhanden gewesen und wäre nicht die (Unruhe) Mehrheit unserer Gesellschaft überzeugt gewesen, dass – Bevor ich das Wort erteile, bitte ich diejenigen, die an das ganze Ausmaß der unvorstellbaren Verbrechen des der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu Naziregimes ans Tageslicht gebracht werden muss, dann verlassen. würde uns heute schlicht die Grundlage fehlen, auf der wir unsere Vergangenheit als eine Verantwortung begrei- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das fen, die uns dauerhaft verpflichtet. Wort der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann. Wir sehen im Übrigen an bis heute existierenden Kommissionen, etwa dem Deutsch-Tschechischen Ge- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul sprächsforum, dass wir bis heute in anderer Form durch- Lehrieder [CDU/CSU]) aus Einrichtungen haben, die einen Dialog zu diesen Themen fortsetzen. Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir können dankbar sein für die Unterstützung, die wir von Dritten bei der Aufarbeitung unserer eigenen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Vergangenheit erhalten haben. Ich meine, das verpflich- Kollegen! Der Bundesminister für Verkehr, Bau und tet uns auch heute, unsere Erfahrungen weiterzugeben Stadtentwicklung berichtet dem Deutschen Bundestag und diejenigen zu unterstützen, die selbst nun ihre jün- jährlich über den Fortgang des Bundesfernstraßenbaus. gere Vergangenheit aufarbeiten wollen und zu einer trag- So sieht es das Fernstraßenausbaugesetz vor. Der vorlie- fähigen Aussöhnung finden müssen. gende Bericht 2005 gibt Auskunft über die Straßenbau- leistungen, die aktuellen Entwicklungen sowie wichtige Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Entwick- Neuerungen bei den rechtlichen, finanziellen und admi- lungszusammenarbeit die Chance, die Regierungen, die nistrativen Rahmenbedingungen für den Fernstraßenbau sich dieser Aufgabe stellen, zu unterstützen und auch die im Jahr 2004; teilweise gibt der Bericht auch über das beteiligten Akteure einzubinden. Wir wollen mit unse- erste Halbjahr 2005 Auskunft. rem Antrag die Bundesregierung ermutigen, diese Arbeit Im Juli 2003 hat das Bundeskabinett den Bundesver- (B) fortzuführen und sich ihrer Verantwortung zu stellen. (D) kehrswegeplan beschlossen, der Grundlage dafür war, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dass der Deutsche Bundestag das Fünfte Fernstraßen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausbauänderungsgesetz mit dem Bedarfsplan für die neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Bundesfernstraßen beschließen konnte. Dieses ist am GRÜNEN) 16. Oktober 2004 in Kraft getreten. Der Bedarfsplan wiederum ist die gesetzliche Grundlage für die erfolgrei- che Fortsetzung eines leistungsgerechten Ausbaus des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundesfernstraßennetzes. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]) Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/932 mit Da die Straße auch in Zukunft die Hauptlast des Ver- dem Titel „Die Bedeutung von Wahrheits- und Versöh- kehrs tragen wird, werden Lücken im Straßennetz ge- nungskommissionen für eine friedliche Zukunft“. Wer schlossen. Die vorhandene Infrastruktur soll erhalten stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal- und Verknüpfungspunkte mit den anderen Verkehrsträ- tungen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen. gern sollen optimiert werden. Dauerhaft soll Mobilität am Wirtschaftsstandort Deutschland gesichert werden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/360 und 16/455 an die in der Tages- Der Bedarfsplan umfasst unter Einschluss einer Pla- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind nungsreserve in Höhe von etwa 12 Milliarden Euro ein Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Gesamtinvestitionsvolumen von 80 Milliarden Euro, da- die Überweisungen so beschlossen. von 51,5 Milliarden Euro für Projekte des vordringli- chen Bedarfs sowie 28,8 Milliarden Euro für Projekte Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: des weiteren Bedarfs. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gierung der CDU/CSU) Straßenbaubericht 2005 Eine wesentliche Grundlage für die Straßenplanung – Drucksache 16/335 – ist die Verkehrsentwicklung auf den Bundesfernstra- Überweisungsvorschlag: ßen. So ist es immer wieder interessant, zurückzuverfol- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) gen, wie sich diese Entwicklung in Zahlen darstellen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1943

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) lässt. Zunächst ist festzuhalten, dass zum Ende des Be- Patrick Döring (FDP): (C) richtsjahres im gesamten Bundesgebiet 54,5 Millionen Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kollegin- Kfz zugelassen waren. Das sind rund 0,4 Millionen Kfz nen und Kollegen! Wenn man den Straßenbaubericht für mehr als 2003. Die durchschnittlichen täglichen Ver- ein Jahr bekommt, das von einer Bundestagswahl über- kehrsstärken – das ist das, was auf den Straßen los ist, schattet war um es einmal flapsig zu sagen – erhöhten sich im Bun- (Petra Weis [SPD]: „Überschattet“?) desgebiet auf den Bundesautobahnen im Jahr 2004 ge- genüber dem Vorjahr um 1 Prozent, auf den außerörtli- – aus Ihrer Sicht war es doch so, oder? –, chen Bundesstraßen nur um 0,1 Prozent. Der Anteil des (Beifall bei der FDP – Lachen bei der CDU/ Schwerlastverkehrs auf den Bundesautobahnen lag bei CSU und der SPD) 15,3 Prozent und auf den Bundesstraßen außerorts bei 8,3 Prozent. denkt man: Schauen wir mal hinein und haken die ver- fehlte Politik von Rot-Grün ab, die dort dokumentiert Die seit langem beobachtete Konzentration des Stra- wird. ßenverkehrs auf den Autobahnen hat sich weiter fort- (Jörg Tauss [SPD]: Hahaha!) gesetzt. Die Gesamtfahrleistung im Straßennetz der Bundesrepublik Deutschland betrug im Jahr 2004 rund Dann liest man sich die Studie von Progtrans, die dort 697 Milliarden Kfz-Kilometer. Das sind 2,1 Prozent zitiert wird, durch und dabei fällt einem die Aussage ins mehr als im Vorjahr. Auge: Die stärkste erwartete Dynamik aller Landver- kehre hat der Straßengüterverkehr. – Man denkt sich: Es gibt aus den Jahren 2004/05 aber noch Interessan- Eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung wird sicher teres zu berichten. Das ist, finde ich, spannender als angemessen darauf reagieren. diese Zahlen, die wichtig und miteinander vergleichbar sind. Auch das können Sie im Bericht nachlesen. Bei- Wenn man aber den vorgelegten Finanzrahmen für die Jahre 2006 ff. sieht, stellt man fest, dass auch eine spielsweise haben wir die Verkehrsinfrastrukturfinan- CDU/CSU-geführte Bundesregierung nicht auf diese zierungsgesellschaft gegründet, die Teile der Mautein- Prognose reagiert. nahmen in Zukunft verbauen soll. Außerdem haben wir 2004 mit den Ausschreibungsvorbereitungen für die (Beifall bei der FDP) A-Modelle als PPP-Projekte, also den Bau des fünften In Wahrheit ist nämlich das, was in Genshagen verkün- und sechsten Streifens auf Autobahnen unter Zuhilfe- det wurde, nur eine wunderbare PR-Show; die Zahlen in nahme von privaten Investoren, begonnen. Inzwischen diesem Bericht und im Haushaltsplan sprechen eine an- (B) sind wir einen deutlichen Schritt weiter. Sie wissen, vier dere Sprache. (D) von fünf Projekten sind bereits ausgeschrieben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) In Wahrheit investiert die CDU/CSU-geführte Bundesre- Wir haben Ortsumgehungen fertig gestellt, die Besei- gierung in diesem Jahr 600 Millionen Euro weniger in tigung von Bahnübergängen vorangetrieben, 123 Kilo- Straßenbauinvestitionen. Das wissen Sie natürlich alle. meter Bundesautobahnstrecken neu gebaut und 72 Kilo- Deshalb verkünden Sie die Abweichung von der rot-grü- meter Autobahn auf sechs und mehr Fahrstreifen nen Planung als Erfolg, vernachlässigen dabei aber, dass erweitert sowie rund 152 Kilometer Bundesstraßen mehr Investitionen nötig sind. zweistreifig und 47 Kilometer vierstreifig neu oder aus- Der sehr geschätzte Kollege Fischer hat bei der De- gebaut. Rund 400 Kilometer Radwege an Bundesstraßen batte über den Straßenbaubericht 2004 gesagt, es sei ein sind im Jahr 2004 fertig geworden. Im Rahmen des Um- Jammer, dass für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung weltschutzes wurden für Lärmvorsorge und Lärmsanie- im Jahr 2005 500 Millionen Euro weniger zur Verfügung rung im Jahre 2004 rund 184 Millionen Euro investiert. stünden als in den Jahren 2003 und 2004. Da kann ich nur sagen: Er hat Recht. Aber mit seiner Mitwirkung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sind es noch 100 Millionen Euro weniger geworden als in den Jahren unter Rot-Grün. Der Bericht kann sich also sehen lassen. Insgesamt sind fast 5,8 Milliarden Euro investiert worden; im (Beifall bei der FDP) Jahr 2005 waren es fast 6 Milliarden Euro. Das ist eine Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, beachtliche Leistung. letztendlich spielte in der Debatte vor einem Jahr und auch in der jetzigen Debatte das Thema Lkw-Maut eine Vielen Dank. große Rolle. Sie alle wissen, dass wir dem Güterver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kehrsgewerbe 2,2 Milliarden Euro Maut abnehmen. Das ist hier breit getragen worden, unter anderem weil in § 11 Mautgesetz steht, dass diese Mittel voll und ganz Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Verkehrsinfrastruktur zufließen sollen, Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: FDP-Fraktion. Zusätzlich!) (Beifall bei der FDP) und zwar zusätzlich. Das war das Vermittlungsergebnis. 1944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Patrick Döring (A) Die Wahrheit ist, wie diese Zahlen beweisen, eine an- batte in diesem Hause, in der man Zustimmung be- (C) dere. Damit begeht diese CDU/CSU-geführte Bundes- kommt, wenn man davon spricht, dass Investitionen regierung entgegen der Forderung vor der Bundestags- geplant unter die Räder gekommen oder in den Sand ge- wahl weiter den Mautbetrug, den wir unter Rot-Grün setzt worden sind. gemeinsam angeprangert haben. Ich kann für die FDP- Fraktion nur sagen: Wir bedauern sehr, dass Sie sich da (Heiterkeit bei der CDU/CSU) nicht durchgesetzt haben, liebe Kolleginnen und Kolle- Unbestritten spielt die Mobilität von Menschen und gen von der Union. Gütern mit ihren unterschiedlichen Facetten eine zen- (Beifall bei der FDP) trale Rolle im Leben jedes Einzelnen und bildet eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren unserer Wirt- Man muss sich einmal folgende Zahlen vor Augen schaft. Eine Einschränkung von Mobilität beeinträchtigt führen. Insgesamt werden dem Straßenverkehr Belastun- nicht nur unsere Lebensqualität, sondern gefährdet auch gen in Höhe von 53 Milliarden Euro aufgebürdet – Kfz- die Möglichkeiten unserer wirtschaftlichen Entwicklung Steuer, Mineralölsteuer, LKW-Maut –, obwohl hier und Arbeitsplätze. schließlich in diesem Jahr nur 4,3 Milliarden Euro an In- vestitionen fließen. Der tägliche Stau in Deutschland ist eine nicht hin- nehmbare Geld- und Zeitvernichtungsmaschinerie. Stu- (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) dien zeigen auf, dass durch Stau jährlich 13 Millionen – Herr Tauss, über die Alkoholsteuer möchte ich mit Ih- Stunden Zeitverlust entstehen und 33 Millionen Liter nen um diese Uhrzeit nicht debattieren. – Kraftstoff zusätzlich verbraucht werden. Nachhaltige Mobilität zu schaffen und zu erhalten ist also eine kom- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) plexe Herausforderung. Daran muss sich jeder Straßen- baubericht messen lassen. So erreicht man in diesem Land sicher keine Akzeptanz für Nutzerfinanzierungen. Für die Straßenplanung ist die Verkehrsentwicklung wesentlich. Kfz-Bestand und der Transitverkehr sind Der Herr Staatssekretär hat eben auf PPP-Modelle wichtige Faktoren. Der Staatssekretär hat schon ausge- hingewiesen und zu Recht gesagt, es müsse in diesem führt, dass zum Ende des Berichtszeitraums rund Bereich Verbesserungen geben. Aber es wird keine Ak- 54,5 Millionen Kfz in Deutschland zugelassen waren. zeptanz für Nutzerfinanzierungen geben, wenn auf der einen Seite den Menschen Geld abgenommen wird, Der Verkehr auf den Autobahnen hat weiter zuge- aber auf der anderen Seite die Versprechungen, was mit nommen. Die Verkehrsstärke auf den Bundesstraßen sta- diesen Einnahmen gemacht werden soll, nicht eingehal- gniert. Dies wird schon seit längerem beobachtet. Des- (B) ten werden. Das ist die Realität. halb ist der Ausbau von Autobahnen wichtig und (D) dringend geboten. Aber auch der Bau von Ortsumgehun- (Beifall bei der FDP) gen ist im Interesse und zum Schutz unserer Bürgerinnen Darum unterstützen wir diejenigen, die sich in der ak- und Bürger notwendig. tuellen Diskussion für die Erstattung der Maut oder für andere Möglichkeiten, das LKW-Gewerbe zu entlasten, Für den Bau von Ortsumgehungen wurden im Be- einsetzen. Wir unterstützen die Bundesregierung bei je- richtsjahr rund 712 Millionen Euro ausgegeben. Insge- der sinnvollen Investition in die Verkehrsinfrastruktur. samt beliefen sich die Istausgaben für Verkehrsinvesti- Aber wir gehen nicht den Weg mit, den Sie im Moment tionen auf insgesamt 4,9 Milliarden Euro. gehen. Es ist schon bemerkenswert, dass diese schwarz- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) rote Bundesregierung am Ende weniger in die Verkehrs- infrastruktur Straße investiert, als es Rot-Grün je ge- Das ist leider immer noch zu wenig – auch wenn es ein macht hat. So können Sie mit unserer Unterstützung stolzer Betrag ist –, um Instandhaltungsmaßnahmen so- nicht rechnen. wie Neu- und Ausbau im gewünschten, aber auch im In- teresse unserer Mobilität notwendigen Umfang durchzu- Vielen Dank. führen; denn die Straße ist mit rund 90 Prozent der (Beifall bei der FDP) Verkehrsleistungen im Personenverkehr und mit rund 70 Prozent der Verkehrsleistung im Güterverkehr der Verkehrsträger Nummer eins in Deutschland und auch in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Europa. Herr Kollege Döring, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Wenn die Straße schwächelt, schwächelt aber auch Bundestag. der Verbund mit anderen Verkehrsträgern. Denn die Straße ist der einzige flächendeckende Verkehrsträger, (Beifall) der von Haus zu Haus die notwendige intermodale Ver- Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der netzung wirklich gewährleistet. Auch der ÖPNV ist auf CDU/CSU-Fraktion. den Verkehrsträger Straße angewiesen, da mehr als die Hälfte der ÖPNV-Leistungen im Straßenraum erbracht werden. Renate Blank (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Dis- Dass Mobilität außerordentlich notwendig ist, zeigen kussion des Straßenbauberichts ist wohl die einzige De- die Prognosen. Im Zeitraum bis 2015 wächst die Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1945

Renate Blank (A) kehrsleistung im Personenverkehr und im Güterverkehr. Zum Thema Sicherheit gehören natürlich auch die (C) Die Straße bleibt dabei unangefochten der wichtigste Radwege. Im Berichtszeitraum sind an Bundesstraßen Verkehrsträger im Personen- und im Güterverkehr. Das Radwege in einer Größenordnung von 400 Kilometern bedeutet: Bis 2015 wird es beim Verkehrswachstum fertig gestellt worden. Im Zeitraum von 1991 bis 2004 keine Trendwende geben. Das ist auch gut so. Denn Ver- wurden damit Radwege in einer Größenordnung von im- kehrswachstum bedeutet Wirtschaftswachstum. Eine merhin rund 5 100 Kilometern errichtet. Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Verkehrs- leistung – der Traum der Grünen – ist nicht machbar. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Denn wirklich ernsthafte wissenschaftliche Untersu- Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) chungen haben ergeben, dass dies nicht möglich ist, al- lerhöchstens zu 1 Prozent. Kurz vor der Fußball-WM kann man auch anhand des Straßenbauberichts feststellen: Sind die Leistungen Spätestens seit der EU-Osterweiterung liegt kein der Klinsmann-Truppe auf dem Rasen momentan auch Land so sehr im Mittelpunkt der europäischen Verkehrs- durchwachsen, unsere Infrastruktur im Einzugsbereich ströme wie Deutschland. Die Automobilbranche stellt der WM-Stadien ist weltmeisterlich. Auch wenn die jeden siebten Arbeitsplatz in unserem Land. Umso nach- sportlichen Leistungen unserer Kicker möglicherweise teiliger wirken sich die seit Jahren zunehmenden Defi- rasch vergessen sein werden, die Bürgerinnen und Bür- zite der deutschen Straßeninfrastruktur auf die Verwirk- ger haben einen klaren, dauerhaften Nutzen von den In- lichung der Wachstums- und Beschäftigungsziele aus. vestitionen. Ich bin auch sicher: Die Besucher aus aller Welt werden getreu dem WM-Motto „zu Gast bei Freun- Ziel jeder Bundesregierung war und ist die zügige den“ sein und nicht im Stau stehen. Das wird mit dem Realisierung der sieben Straßenverkehrsprojekte Verkehrsleitkonzept zur Fußballweltmeisterschaft gelin- „Deutsche Einheit“. Nach derzeitigen Dispositionen gen, das gemäß Verabredung mit den Ländern und Kom- soll das VDE-Straßennetz – mit Ausnahme der A 44 – munen einheitlich und „ohne Bruch in der Wegwei- noch in diesem Jahrzehnt vollständig fertig gestellt wer- sungskette“ bis hin zum Stadion umgesetzt werden wird. den. In diese sieben Projekte wurden bis Ende 2004 rund 12 Milliarden Euro investiert. Das sind rund 75 Prozent Alle Infrastrukturentscheidungen sollten zügig getrof- der aktuellen Investitionskosten von etwa 16 Milliarden fen werden. Planungs- und Investitionssicherheit für den Euro. Hinzu kommen die Finanzmittel aus dem Europäi- Verkehrsträger Straße ist eine wichtige Voraussetzung schen Fonds für regionale Entwicklung. Auch dafür für Klarheit und Verlässlichkeit in der Politik. Wir brau- wurde aus deutschen Mitteln noch einmal ein ansehnli- chen deshalb eine deutliche Beschleunigung von Pla- cher Betrag von rund 900 Millionen Euro bereitgestellt. nungszeiten und Planungsverfahren. Aus unserer Sicht (B) In die Anbindung der neuen Länder wurde also sehr viel lassen sich Planungsprozesse ohne Qualitätsverlust be- (D) investiert. Zu Klagen besteht deshalb keinerlei Anlass. schleunigen. Wir sind ja mitten in den Beratungen zu ei- nem Infrastrukturbeschleunigungsgesetz. Nun zum Thema Ingenieurbauwerke. Rund 15 Prozent der Brücken sind in einem kritischen Bau- Nun zum Geld. Eine verlässliche Verstetigung der Fi- werkszustand. Hier ist eine Instandsetzung umgehend nanzierung ist für die Planungssicherheit von großer erforderlich. Aber in Panik zu verfallen, ist falsch. Denn Bedeutung. So haben die vielen Programme der letzten die Länder erheben Daten über den Bestand und den Er- Jahre aufgezeigt, dass in Wahrheit keine längerfristige haltungszustand. Für die Zustandsbeurteilung werden Finanzierungssicherheit besteht. Wir müssen deshalb zu- Programmsysteme nach DIN 1076 genutzt, die extra für rück zu Klarheit, Transparenz und Berechenbarkeit im die Bauwerksprüfung entwickelt wurden. Diese Bau- Planungs- und Finanzierungsbereich. werksprüfung gilt für Brücken, Tunnel, Verkehrszei- chenbrücken, Lärmschutzwände und Stützbauwerke und Wegen der knappen Haushaltslage – auch wenn der wird alle drei Jahre als einfache Prüfung und alle sechs Verkehrsbereich in den nächsten Jahren rund 4 Milliar- Jahre als Hauptprüfung durchgeführt. Diese Prüfungen den Euro zusätzlich erhalten soll – bleiben noch viele müssen vorgenommen werden. Denn Brücken und Tun- wünschenswerte Projekte auf der Strecke. Deshalb müs- nel sind hinsichtlich der Investitions- und Folgekosten sen wir PPP-Projekte vorantreiben. Dazu gehört dann die teuersten Anlagenteile der Straßen, die insbesondere natürlich auch, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzie- durch den stetig anwachsenden Schwerverkehr extremen rungsgesellschaft von einem Inkassobüro der LKW- Belastungen ausgesetzt sind. Maut zu einer Gesellschaft umgewandelt wird, die ver- kehrsträgerübergreifend tätig ist, Kredite aufnehmen und Das Thema Tunnelsicherheit hat nicht erst mit den PPP-Ansätze in der Verkehrswegefinanzierung weiter- verheerenden Brandunfällen bei allen Verantwortlichen entwickeln kann. eine besonders hohe Priorität. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielleicht ein kleiner humorvoller Hinweis. In Nürn- berg reden wir derzeit über die Umbenennung unseres Es sind hier Regelgrundsätze geschaffen worden, die Fußballstadions, des Franken-Stadions. Es hat sich eine weit über die bestehende EU-Richtlinie hinausgehen. Firma finanziell beteiligt und das Stadion hat jetzt den Dies ist auch richtig. Aufgrund der hohen Verkehrsbelas- Namen „Easy-Credit-Stadion“. Vielleicht könnten wir tungen auf unseren Straßen ist dies gerechtfertigt und auch Autobahnabschnitte nach irgendwelchen Sponso- vertretbar, damit für die Tunnelbenutzer eine optimale ren nennen; so bekämen wir vielleicht etwas mehr Geld Sicherheit gewährleistet ist. in die Kassen. 1946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Renate Blank (A) Zur Umsetzung des langfristig angelegten Bedarfs- Bei einer steigenden Verarmung der Bevölkerung, (C) plans muss in den nächsten Wochen ein neuer Fünfjah- steigenden Spritpreisen und bei dem Anwachsen der Be- resplan aufgestellt werden. Dieser Fünfjahresplan sollte völkerungskreise, die sich inzwischen sehr genau überle- in Absprache mit den Ländern, aber auch mit dem Parla- gen, ob sie sich Autofahrten, die nicht unbedingt nötig ment rasch zustande kommen; denn er ist die Grundlage sind, auch leisten können, sind andere Schlussfolgerun- für die Schwerpunkte der Investitionen. gen zu ziehen. Statt Autobahnknoten im Umfeld von Fußballarenen zu optimieren, hätten wir gemeinsam das Wir können uns keinen Stillstand leisten; denn die Geld viel besser in Busse und Bahnen stecken sollen, heutigen Wirtschaftsstrukturen werden von Arbeitstei- um diese zu optimieren. lung und Globalisierung beherrscht. Ohne Mobilität ist das nicht zu schaffen und deswegen brauchen wir weiter (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Straßenausbau und Straßenneubau. Das sind 15 Prozent des Verkehrs!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das wäre ein Zukunftsprogramm gewesen, und zwar ein Zukunftsprogramm für weniger CO2, weniger Energie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verbrauch, weniger Lärmbelästigung und für mehr so- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner ziale Gerechtigkeit. von der Fraktion die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Stattdessen werfen Sie Geld aus dem Fenster für ein überzogenes Straßenbauprogramm, das, wie eben ange- Dorothee Menzner (DIE LINKE): deutet, als unterfinanziert bezeichnet wird. Wir nennen es Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! eher überprojektiert; denn das Geld wird immer als knapp Herr Staatssekretär, Sie haben eben schon die Zahlen bezeichnet. Das, was der Bund an Fernstraßen neu baut, über die Neubauten genannt, die im Jahr 2004 hinzuge- entspricht 1 588 Baulosen für 50,7 Milliarden Euro. Das kommen sind. Was Sie verschwiegen haben, ist aller- ist aber nur das, was als „vordringlicher Bedarf“ bezeich- dings – dies macht der Bericht ebenfalls deutlich –, dass net wird. Manche bezeichnen es auch als Märchenbuch. wir über weniger Bundesstraßenkilometer als zuvor ver- Wir meinen, es ist wichtiger, in die Erhaltung der fügen, weil nämlich meist eher nicht so gut instand ge- Straßen zu investieren, statt in weitere Neubauten. haltene Bundesstraßen an Kommunen und Länder über- schrieben wurden. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Insgesamt sind in dem Berichtszeitraum etwa (B) 330 Kilometer Fernstraßen fertig gestellt worden, zu ei- Es ist wichtiger, das Geld zu konzentrieren und die vor- (D) nem Preis pro Kilometer von etwa 5 Millionen Euro, handenen Strukturen zu erhalten. Dem Bericht kann man woraus sich insgesamt die stolze Summe von 1,6 Mil- auch entnehmen, dass das schwer fällt und dass hier viel liarden Euro ergibt. Aber – Frau Kollegin Blank hat das zu tun ist. eben angesprochen – sage und schreibe 3,7 Milliarden Euro sind laut diesem Bericht in den letzten Jahren in (Vorsitz: Vizepräsident Wolfgang Thierse) solche Autobahnen und Fernstraßen geflossen, die im Die Linke sagt klipp und klar: Angesichts der vielen Einzugsbereich von Fußballarenen liegen. Schwarz auf schadhaften Straßen und Brücken ist es viel wichtiger weiß in einem Extrakapitel wird ausgeführt: 56 Neubau- und vorrangiger, in vorhandene Verkehrswege zu inves- und Erweiterungsmaßnahmen standen im Zusammen- tieren und diese instand zu halten. Das halten wir für hang mit der Fußballweltmeisterschaft. Der Bericht nachhaltig, und zwar sowohl für ökonomisch und ökolo- benennt auch, was zu tun war, damit die Fußballfans, zu- gisch als auch für sozial nachhaltig. mindest solche, die mit dem Auto anreisen, nicht umher- irren: Willkommenstafeln an Grenzübergängen, Fern- Danke. zielwegweisung; sogar an farbliche Fantrennung wurde (Beifall bei der LINKEN) gedacht. Alles chic, alles neu, alles perfekt. Aber was passiert jetzt, sollte die Nationalmannschaft vielleicht in der Vorrunde ausscheiden? Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Anton Hofreiter, Frak- (Patrick Döring [FDP]: Dann werden wir aber tion des Bündnisses 90/Die Grünen. die Bahnhöfe nicht abreißen!) Nicht auszudenken! Deutsche Fußballfans sitzen als Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Couch-Potatoes zu Hause vor dem Fernseher und die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Gäste dürften von diesen Hinweisschildern eher wenig Kollegen! Sehr geehrte Herren Staatssekretäre! Alle Gebrauch machen, weil sie in der großen Mehrzahl mit Jahre wieder wird der Straßenbaubericht veröffentlicht. der Eisenbahn oder dem Flugzeug anreisen werden. Ist Alle Jahre wieder steht im Bericht, dass mehr für die Un- dies wirklich ein Szenario, für das es sich lohnt, Milliar- terhaltung der bereits bestehenden Infrastruktur ausgege- den von Euro in Beton zu rühren? Wir meinen, in Bezug ben werden muss, und alle Jahre wieder passiert das auf die Zukunftsinvestitionen stellen sich andere Fragen. nicht. (Beifall bei der LINKEN) Im Straßenbaubericht 2000 heißt es wörtlich: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1947

Dr. Anton Hofreiter (A) Ein wesentliches Ziel der künftigen Erhaltungspla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) nung ist es, den Bauwerksanteil mit Zustandsnoten Patrick Döring [FDP]: Nicht kurzfristig, aber zwischen 3,0 bis 3,4 weiter zu senken und Zu- mittelfristig!) standsnoten über 3,5 völlig zu vermeiden. Wir Grünen fordern deshalb, die Aussage des Be- Diesen Satz finden Sie fast wörtlich in vielen Berichten, richts, dass mehr Geld in den Unterhalt zu stecken sei, so auch im aktuellen. endlich ernst zu nehmen und in reale Zahlen umzuset- zen, intelligente Konzepte zur Regionalförderung zu ent- (Patrick Döring [FDP]: Richtig!) wickeln, statt zu glauben, mit vierspurigen Autobahnen in dünn besiedelten Regionen etwas erreichen zu kön- Was hat sich in der Wirklichkeit getan? nen, mehr Geld für eine sinnvolle Gestaltung des ÖPNV (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Be- auszugeben oder mehr Geld in Bildung und Forschung troffenheit hat sich vergrößert!) zu investieren – Geld kann man auch umwidmen –; denn es ist immer noch sinnvoller, in Köpfe statt in Beton zu Der Anteil der Bauwerke, bei denen kurzfristig bis sofort investieren. eine Instandsetzung nötig ist, ist von rund 30 Prozent auf 45 Prozent gestiegen. Das Deutsche Institut für Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaftsforschung hat berechnet, dass allein für den Un- terhalt der jetzt bestehenden Infrastruktur 75 bis 85 Pro- Vizepräsident Wolfgang Thierse: zent aller bis 2020 zur Verfügung stehenden Mittel benö- Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Vogelsänger, SPD- tigt werden. Nicht mitgerechnet ist, dass die Infrastruk- Fraktion. tur wächst. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Mittel (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mehr werden.

Es stellt sich daher die Frage: Woher wollen Sie das Jörg Vogelsänger (SPD): Geld nehmen, sehr geehrter Vertreter von der FDP, der Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie sich bereit erklärt haben, jede Infrastrukturmaß- Beim Ausbau der Infrastruktur wurde in Deutschland nahme der Bundesregierung zu unterstützen? Wir Grü- vieles erreicht. Das sollte hier nicht schlechtgeredet wer- nen unterstützen nur sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen. den; denn sehr viele waren daran beteiligt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der SPD) Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Frage Das betrifft die schwarz-gelbe Regierung genauso wie ist: Wer definiert „sinnvoll“?) (B) die rot-grüne Regierung. Ich bin sogar ein Stück weit (D) Sehr geehrte Damen und Herren von der großen Koali- stolz darauf, dass unter Rot-Grün ein bisschen mehr er- tion, woher wollen Sie denn das Geld nehmen? Wir Grü- reicht wurde. Vielleicht ist das ein Ansporn für uns, noch nen kämpfen seit Jahren dafür, den Anteil der Mittel für etwas besser zu werden. den Unterhalt im Haushalt zu erhöhen. (Beifall bei der SPD) Das Bundesfernstraßennetz hat ein geschätztes Brutto- Wir brauchen uns nicht zu streiten: Seit 1992 lagen anlagevermögen von rund 175 Milliarden Euro. Man die Ausgaben für die Bundesfernstraßen immer über muss sich darüber im Klaren sein, dass dies die Schät- 5 Milliarden Euro. Mein Dank dafür richtet sich nicht zung des Ministeriums ist. Wahrscheinlich ist es höher. nur an die Regierung, sondern an alle Parlamentarier; Es wird geringer geschätzt, um die Mittel für den Unter- denn wir sind der Souverän, wir haben das beschlossen – halt geringer anzusetzen. Was gedenkt das Ministerium und das ist auch richtig so. zum Unterhalt dieser wertvollen Infrastruktur ernsthaft zu tun? Wollen wir es so machen wie bei den Schienen (Beifall bei der SPD) und Straßen in Zukunft stilllegen, weil wir mit dem Un- Obwohl vieles erreicht wurde, stehen wir gemeinsam terhalt nicht mehr hinterherkommen? vor großen Herausforderungen. Der noch nicht zu Ende Was treibt das Ministerium stattdessen? Es plant vor gegangene Winter hat uns deutlich gemacht, wie sehr allem Neubaustrecken, die wenig bis keinen verkehrli- wir alle auf eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur chen oder volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Warum angewiesen sind. Das Wetter lässt sich nur sehr bedingt haben sie diesen Nutzen nicht? Weil sie leider in Gebie- beeinflussen. Bei Investitionsentscheidungen stehen wir ten geplant und gebaut werden, die dünn besiedelt sind alle in der Pflicht. Herr Döring, dieser Pflicht kommt die oder die Abwanderungsregionen sind. neue Bundesregierung nach. Die 4,3 Milliarden Euro für das zusätzliche Programm sind gut angelegt. Mit dem Natürlich kann man sagen: Das ist Wirtschaftsförde- Geld werden in der Bauphase Arbeitsplätze geschaffen rung, das ist Regionalförderung. Das lässt sich immer und die Standortbedingungen verbessert. behaupten. Nur leider entspricht es nicht der Wahrheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie können in strukturschwachen Regionen und in unse- der CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: Das rem vorhandenen dichten Infrastrukturnetz mit zusätzli- hat keiner bestritten! Es ist nur nicht aktuell!) chen Straßen keine Arbeitsplätze schaffen. Das müsste Ihnen nach den vielen Beispielen in der Praxis langsam Das Thema Standortbedingungen ist ganz aktuell. klar geworden sein. Heute haben wir das Urteil des Bundesverwaltungsge- 1948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Jörg Vogelsänger (A) richts erhalten. Die Koalition hat Weitsicht bewiesen; Ein Thema, das hier nicht zu kurz kommen sollte, ist (C) denn die Verkehrsanbindung an den Flughafen BBI wird der Ausbau des Radwegenetzes. Frau Kollegin Blank vom Bund unterstützt. Das werden wir Parlamentarier hat die Zahlen schon genannt. natürlich einfordern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich bin der festen Überzeugung, dass die 5 100 Kilome- der CDU/CSU) ter neu gebauter Radwege an Bundesfernstraßen Leben Eine strategisch wichtige Entscheidung waren und gerettet haben. Ich möchte mich bei der Berichterstatte- rin meiner Fraktion, Heidi Wright, und den Berichter- sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Es gibt stattern aller anderen Fraktionen dafür bedanken. immer wieder Stimmen, die besagen, dass diese Projekte ausschließlich den neuen Ländern zugute kommen. Das Im Übrigen sollten wir die Mittel für den Radwe- ist grundsätzlich falsch. Herr Döring, hier seien die A 2 gebau weiterhin vor die Klammer ziehen. Denn nach Niedersachsen und die A 9 nach Bayern genannt. 100 Millionen Euro verbaut man schneller an einer Au- Ich denke, auch Bayern und Niedersachsen profitieren tobahn als an Radwegen. Deshalb sollten wir hier ein be- außerordentlich von den Verkehrsprojekten „Deutsche sonderes Zeichen setzen und uns weiterhin für den Rad- Einheit“. wegebau einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Blank [CDU/CSU]: Das haben wir damals der CDU/CSU) auch so gemacht!) Sie sehen, die Verkehrspolitik bleibt vielseitig und in- teressant. Jeder Wahlkreis – das wird sicherlich auch – Richtig. beim Fünfjahresplan so sein – ist davon unmittelbar be- Wir haben die wirklich spannende Aufgabe, gemein- troffen. Ich wünsche uns eine spannende Diskussion sam mit den Ländern den Fünfjahresplan für Bundes- zum Haushalt und faire Diskussionen zum Fünfjahres- fernstraßen zu erstellen. Die Leute aus dem Osten ken- plan und zu den vielen weiteren Themen der Verkehrs- nen Fünfjahrespläne noch. Wir sollten uns allerdings politik. Der Bericht der Bundesregierung ist dafür eine kein Beispiel an ihnen nehmen. Das Soll wurde immer gute Grundlage. übererfüllt und die Volkswirtschaft ist trotzdem kaputt- Vielen Dank. gegangen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der CDU/CSU) CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Döring (B) (D) [FDP]) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Der Fünfjahresplan wird ein Schwerpunkt unserer Ar- beit sein. Dabei wird es nicht nur Jubel geben; denn Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf nicht jedes gewünschte Projekt kann bis 2010 realisiert Drucksache 16/335 an die in der Tagesordnung aufge- werden. Deshalb brauchen wir eine umfassende Diskus- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sion mit den Ländern, aber auch im parlamentarischen verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Bereich. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir das Überweisung so beschlossen. Ganze gemeinsam mit den Ländern umsetzen; denn sie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatz- sind für die Planung zuständig. Daran sieht man, dass es punkt 4 auf: nur in Gemeinsamkeit geht. 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Da nicht alles umsetzbar ist, sollten wir weitere Fi- Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Frak- nanzierungsmöglichkeiten prüfen. Ich denke, von einem tion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines EFRE-Bundesprogramm in der neuen Förderperiode Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches So- 2007 bis 2013 profitieren Bund und Länder gemeinsam. zialgesetzbuch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksache 16/856 – der CDU/CSU – Horst Friedrich [Bayreuth] Überweisungsvorschlag: [FDP]: Und wer zahlt?) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Zudem gilt es, weitere Möglichkeiten – von der priva- ten Vorfinanzierung bis hin zu Betreibermodellen für ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid den Fernstraßenbau – zu erschließen. Die Maut – sie hat Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Karl hier schon eine Rolle gespielt – ist außerordentlich er- Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion folgreich. Der eine oder andere hat daran gar nicht mehr der FDP geglaubt. Der Schritt weg von einer Steuerfinanzierung Innere Sicherheit durch Regelungen zum Ar- hin zu einer Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruk- beitskampfrecht gewährleisten tur ist richtig. – Drucksache 16/953 – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Überweisungsvorschlag: FDP – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Hört! Hört! Deutet sich da etwas an?) Innenausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1949

Vizepräsident Wolfgang Thierse (A) Rechtsausschuss Man ist wie so oft vor den Wünschen der Arbeitgeber- (C) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und der Wirtschaftsverbände eingeknickt, obwohl – wir Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erinnern uns – 202 SPD-Abgeordnete und vier SPD-ge- Ausschuss für Gesundheit führte Länder vor das Verfassungsgericht zogen. Für die Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung SPD-Fraktion steht heute einmal mehr die Glaubwürdig- keit ihrer Politik auf dem Spiel. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die (Beifall bei der LINKEN) Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich Ohne ein wirksames Streikrecht kann die Tarifauto- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nomie auf Dauer nicht funktionieren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Fragt sich nur, Kollegen Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke. wie!) (Beifall bei der LINKEN) Die Chancengleichheit in Arbeitskämpfen muss wieder hergestellt werden. Wir brauchen die Wiedereinführung Alexander Ulrich (DIE LINKE): des alten § 116 Arbeitsförderungsgesetz in das Sozialge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und setzbuch. Kollegen! Mit dem heutigen Antrag der Linken kommt (Beifall bei der LINKEN) ein weiterer Grund hinzu, warum es gut ist, dass es die Fraktion Die Linke in diesem Hause gibt. Durch die Möglichkeit der kalten Aussperrung ist die Chancengleichheit in Tarifauseinandersetzungen nicht (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei mehr gegeben. Insoweit stützen wir unseren Antrag auch der CDU/CSU und der FDP) auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 1995. Das Gericht hatte ausdrücklich festgestellt, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerk- dass die Verwehrung von Kurzarbeitergeld die Hand- schaften haben durch uns wieder eine Stimme im Bun- lungsfähigkeit der Gewerkschaften einschränkt. Eine destag. Das ist ein großer Fortschritt für dieses Haus. verfassungswidrige Störung der Funktionsfähigkeit der (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der Tarifautonomie wurde noch nicht festgestellt. Sollte FDP) diese aber eintreten, wäre der Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zur Wahrung der Tarifauto- Insbesondere die SPD hat in ihrer Regierungszeit seit nomie zu treffen. 1998 trotz entsprechender Wahlaussagen und Partei- (B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sagt ihr (D) beschlüsse die Chance verpasst, den Antistreikparagra- jetzt!) fen abzuschaffen. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass die SPD in Wahlkampfzeiten die Arbeitnehmer entdeckt Jeden Tag können wir in der Zeitung lesen, dass Un- und dann in ihrer Regierungsverantwortung das Gegen- ternehmen trotz Rekordgewinnen Massenentlassungen teil ihrer Wahlversprechen macht. ankündigen und dass trotz der guten Ertragssituation die Einkommen in vielen Branchen dieser Entwicklung hin- (Zuruf von der LINKEN: Pfui!) terherhinken, und zwar zum Leidwesen der Binnenwirt- Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist es wichtig, schaft und der Sozialversicherung. Angesichts dieser dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich in Ge- Tatsache muss der Gesetzgeber in diesem Jahr handeln. werkschaften organisieren und für ihre Rechte streiken (Beifall bei der LINKEN) können. Dies stärkt den Sozialstaat und die Demokratie. Niemand muss Angst davor haben, dass unsere Ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – setzgebung zu einem ständigen Arbeitskampf führen Manfred Grund [CDU/CSU]: Jeder Streik wird. Internationale Vergleiche zeigen – das wird auch stärkt den Sozialstaat!) derzeit am Beispiel Verdi deutlich –, dass die deutschen Gewerkschaften den Streik immer als letztes Mittel ein- Mit dem § 146 SGB III ist die gleiche Augenhöhe zwi- gesetzt haben. Das ist gut und war auch schon vor Ein- schen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Ar- führung des Antistreikparagrafen so. beitgebern nicht mehr gewährleistet. (Patrick Döring [FDP]: Na ja!) (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt gar nicht!) Nun zum Antrag der FDP. Die Regierung Kohl war es, die 1986 trotz massiver Wi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein guter derstände der Gewerkschaften diese gesetzliche Ände- Antrag!) rung bewirkt hat mit dem Ziel, die Gewerkschaften zu Wer wie Sie Gewerkschaften als „Plage für dieses Land“ schwächen. Die Regierung Schröder hat diesen Paragra- bezeichnet, muss ein gestörtes Verhältnis zur Demokra- fen trotz mehrfacher Ankündigungen in der ersten Amts- tie haben. zeit nicht verändert. (Beifall bei der LINKEN – Detlef Parr [FDP]: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In der zweiten Reden Sie mal mit denen in Baden-Württem- waren sie zu müde!) berg!) 1950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Alexander Ulrich (A) In diesem Kontext werten wir auch Ihren populistischen – Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, hören Sie (C) Antrag. Wer die Angst der Menschen vor der Vogel- mir doch einmal zu. grippe gegen die Gewerkschaften instrumentalisieren Sie versuchen, Probleme von heute mit Mitteln aus will, der will einen anderen Staat: ein Land ohne Ge- dem Jahre 1969 zu lösen. Sie stellen die Gewerkschaften werkschaften und Arbeitnehmerrechte. Nicht mit uns! in Ihrem Gesetzentwurf als bemitleidenswerte Opfer des (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. § 146 SGB III bzw. des früheren § 116 AFG dar. Kolb [FDP]: Wenn Sie einen Müllberg mit (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Ja, genau das Ratten darauf vor der Haustür hätten, würden sind sie auch!) Sie das vielleicht auch anders sehen, Herr Kol- lege!) Dabei ignorieren Sie aber völlig, dass es nie darum ging, das Gleichgewicht zwischen Arbeitgeberverbänden und Dass Sie einen solchen Zustand wollen, dazu passt auch Gewerkschaften im Arbeitskampf zu verändern. die Aussage Ihres Wirtschaftsministers in Rheinland- Pfalz, der tatsächlich beabsichtigt, mit disziplinarischen (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Maßnahmen gegen die Streikenden im öffentlichen Durch die 1986 beschlossene Neuregelung des früheren Dienst vorzugehen. § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes sollte die neutrale (Patrick Döring [FDP]: Ja, richtig so! – Rolle des Staates und der damaligen Bundesanstalt für Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl! Da hat Arbeit gesichert werden – nicht mehr und nicht weniger. Brüderle Recht!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Nein, das ist nicht die gleiche Augenhöhe. Wie sollen Welches Verständnis Sie von der neutralen Rolle des sich die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Staates haben, konnten wir heute Morgen sehr leidvoll mer denn sonst gegen die Angriffe auf den öffentlichen durch das von der Linkspartei dargebotene Trauerspiel Dienst wehren? vernehmen, Demnächst kommt es möglicherweise auch in der (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Oh ja! Was für Metall- und Elektroindustrie zu einem Streik. Wir wol- ein Drama!) len in diesem Land starke Gewerkschaften und umfang- reiche Arbeitnehmerrechte. als Sie sich plötzlich gelbe Säcke übergestülpt haben. Ich dachte, es geht um das Thema Recycling: dass die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) SED in die PDS und diese dann wiederum in die Links- Deshalb fordere ich Sie auf: Unterstützen Sie unseren partei recycelt wird (B) (D) Gesetzentwurf! Die SPD müsste das eigentlich folgenlos (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei tun können. der LINKEN) Vielen Dank. bzw. dass alte Gewerkschaftler in die WASG recycelt (Beifall bei der LINKEN – Volker Schneider werden und diese ebenfalls in die Linkspartei recycelt [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ja, genau! Das wird. müssten sie! Wenn sie denn da wären, Aber es ging Ihnen nicht um Recycling. Das war die Alexander!) Demonstration einer politischen Meinung. Daher sollten Sie sich einmal die Mühe machen, in dem Schubfach un- Vizepräsident Wolfgang Thierse: ter Ihrem Tisch nachzuschauen. Dort finden Sie ein Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/ graues Büchlein: die Geschäftsordnung des Deutschen CSU-Fraktion. Bundestages. In § 4 Abs. 2 von Anhang 1, der Hausord- nung des Deutschen Bundestages, heißt es: „Es ist nicht (Beifall bei der CDU/CSU) gestattet, Spruchbänder oder Transparente zu entfalten.“ Es wäre wirklich an der Zeit – das ist längst überfällig –, Paul Lehrieder (CDU/CSU): dass sich auch die Linkspartei an die Würde dieses Ho- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten hen Hauses hält, statt es nicht nur durch verbale Entglei- Damen und Herren! Die Linkspartei hat es sich nicht sungen, sondern auch durch derartige Trauerspiele he- nehmen lassen, ihre Anbiederung an die Gewerkschaften rabzuwürdigen. heute bei gleich zwei Gelegenheiten zu zelebrieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zurufe von der LINKEN: Was soll denn das neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- jetzt heißen? – Ja, ja!) SES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wann kommen Sie denn end- Die eine Gelegenheit, die Aktuelle Stunde, haben wir ge- lich wieder zum Thema?) rade hinter uns. Mit dem zweiten Streich soll das Rad der Gesetzgebung nun ohne Not und fast auf den Tag ge- – Darauf komme ich noch zu sprechen. nau um 20 Jahre zurückgedreht werden. Niemand, weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber, (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: „Solidarität“ ist können einseitige Vorteile für sich in Anspruch nehmen für Sie ein Fremdwort! – Weitere Zurufe von und ihre Durchsetzung anschließend vom Staat finanzie- der LINKEN) ren lassen. Zu dieser Neutralität ist der Staat verpflich- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1951

Paul Lehrieder (A) tet; sonst wäre die Tarifautonomie bedroht. Kolleginnen ken: Die Arbeitslosenversicherung kann, wie jede (C) und Kollegen von der Linkspartei, der Teil von Ihnen, Schadensversicherung, das entsprechende Arbeitskampf- der aus dem Westen stammt, müsste das eigentlich verin- risiko schon deshalb nicht tragen, weil ihre Mittel bei ei- nerlicht haben. Von denjenigen von Ihnen, die aus der nem Schwerpunktstreik innerhalb weniger Monate er- ehemaligen DDR stammen, sollte es nicht zu viel ver- schöpft wären. Der Schwarze Peter der Beitragserhöhung langt sein, den Ballast der ehemaligen Staatspartei, der bliebe dann am Parlament hängen. Ich kann mir gut vor- Reglementierungen der Wirtschaft und der FDGB-Nos- stellen, wer in einem solchen Fall sofort auf die Barrika- talgie endlich über Bord zu werfen. den gehen würde: meine – in Anführungszeichen – Freunde von der Linkspartei. (Widerspruch bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wer schreit, hat Unrecht!) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ihr Freund möchte ich nicht sein, nicht einmal in Anfüh- Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang Grund- rungszeichen!) sätzliches klarstellen: Im Allgemeinen erhalten Arbeit- nehmer bei arbeitskampfbedingtem Arbeitsausfall Leis- Eine allgemeine Subventionierung von Arbeitskämp- tungen von der Bundesagentur für Arbeit. Außerhalb fen und ihren Folgen würde die Gewerkschaften quasi zu des Fachbereichs, in dem gestreikt wird – das wird in Ih- Staatsapparaten machen. Das kann niemand wollen, der rem Gesetzentwurf mit keinem Wort erwähnt –, wird Ar- es mit freien Gewerkschaften ernst meint. Der Staat würde zum Mitbestimmer: Denn wer für die Folgen ein- beitslosen- oder Kurzarbeiterunterstützung immer ge- treten müsste, würde auch über die Ursachen mitreden zahlt, im Kampfgebiet dagegen nicht. Die Arbeitnehmer, wollen. die außerhalb des räumlichen Bereichs, aber im gleichen fachlichen Tarifbereich beschäftigt sind, erhalten im all- Die Garantie von Neutralität und Tarifautonomie ist gemeinen Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld, wenn in- nicht der einzige Vorteil, den § 146 Abs. 3 SGB III den folge eines Arbeitskampfes Arbeitslosigkeit oder Kurz- Arbeitnehmern bietet: So muss der Arbeitgeber nach- arbeit eintritt. weisen – auch das verschweigen Sie in Ihrem Gesetzent- wurf –, dass der Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskamp- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie wissen fes ist. Zu diesem Nachweis ist eine Stellungnahme der nicht, was Sie sagen! – Bodo Ramelow [DIE Betriebsvertretung erforderlich. Arbeitgeber können ei- LINKE]: Sie haben das nicht verstanden!) nen Streik in einem anderen Tarifgebiet daher nicht zum – Ich komme gleich zur kalten Aussperrung; warten Sie Vorwand dafür nehmen, dass sie die Arbeit einstellen es doch bitte ab. lassen. Die Regelung von 1986 wurde getroffen, um bei- den Seiten die Umgehung der Neutralität zu versperren. Keine Leistungen erhält, wer am Arbeitskampf betei- Die Tarifautonomie braucht darüber hinaus die Neu- (B) ligt ist, also die Streikenden. Das gilt ferner für diejeni- (D) tralität der Bundesagentur, damit die Beschäftigten sich gen, welche die gleichen Forderungen erheben und vom nicht in der Lage wiederfinden, dass ihre Arbeitskämpfe Ergebnis des Arbeitskampfes profitieren, aber nicht fortdauernd von Gerichtsverfahren begleitet werden. selbst streiken. Diese Intention sollten Sie mittlerweile Sonst wären sie in der Gefahr, dass Leistungen unter Vor- kennen! Wenn im mittelbar betroffenen Gebiet dieselben behalt ausgezahlt werden – mit dem Risiko einer Rück- Ziele verfolgt werden, dann ruhen nach der Neutralitäts- zahlung. Genau dieses Risiko wird mit § 146 SGB III ordnung die Ansprüche. Es kann nicht sein und es kann eingedämmt. auch niemand verlangen, dass eine Gewerkschaft mit zwei Gruppen ein gleiches Ziel verfolgt: mit einer Im Gesetzentwurf der Linkspartei heißt es weiter: Gruppe, die sie streiken lässt, und mit einer anderen, die § 146 SGB III verhindert … die Chancengleichheit sie sich von der Bundesagentur bezahlen lässt. Wir wol- der Tarifvertragspartner und behindert so die Ge- len und dürfen Stellvertreterstreiks nicht finanzieren! werkschaften, an einer sinnvollen Organisation des (Beifall bei der CDU/CSU) Arbeitslebens mitzuwirken. Die Gewährung von Kurzarbeitergeld an so genannte Dabei wird das Druckpotenzial der Gewerkschaften völ- kalt Ausgesperrte – ich komme zu Ihrem Begriff; mo- lig unterschlagen. Ein Rückfall in die Regelung von derieren Sie sich doch ein bisschen! – verstößt grund- 1969 trägt den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen sätzlich gegen die Neutralität der Bundesagentur, deren Veränderungen der heutigen Zeit in keiner Weise Rech- Mittel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam nung. Sie geben auch keine Antwort auf die Frage, wie aufgebracht werden müssen. Die Solidarität der mittel- der Arbeitskampf unter den aktuellen Bedingungen am bar betroffenen Arbeitnehmer mit den aktiv Streikenden Leben erhalten werden kann, ohne dass er zum Vernich- tungskampf wird. würde gestärkt, der Arbeitskampf dadurch einseitig be- einflusst. Würden wir den Tarifpartnern ermöglichen, je- Die Frage, ob Ihnen Arbeitnehmerinteressen und Ta- des Arbeitskampfrisiko auf die Bundesagentur abzula- rifautonomie wirklich am Herzen liegen, beantworten den, dann würden sie auch bestimmen, wann wir die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf und Ihrem Verhalten in der Beiträge erhöhen müssen. heutigen Aktuellen Stunde also mit einem klaren und deutlichen Nein – es geht Ihnen einzig und allein um Die Linke behauptet in ihrem Gesetzentwurf, die neue Bündnispartner im Gewerkschaftslager. Streikkassen wären innerhalb weniger Tagen leer, wenn die Gewerkschaften an kalt ausgesperrte Mitglieder zah- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Haben wir len müssten. Dabei sollte sie auch das Folgende beden- schon!) 1952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Paul Lehrieder (A) – Das habe ich schon gemerkt. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus fachlicher Sicht besteht derzeit keine Notwendig- Diese Debatte hatte ihren Vorlauf in der heutigen Aktu- keit, die Regelungen zur Neutralitätspflicht der Bun- ellen Stunde, in der es teilweise sehr hitzig zugegangen desagentur für Arbeit im Arbeitskampf zu ändern. Das ist. In der Einführung des Kollegen Ulrich ist angeklun- Bundesverfassungsgericht hat 1995 gefordert, dass der gen, die FDP stehe nicht auf dem Boden des Grundge- Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautono- setzes. Für die FDP-Fraktion möchte ich sehr deutlich mie trifft, wenn sich zeigen sollte, dass in der Folge sagen: Die FDP bekennt sich zur Tarifautonomie, die dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarif- wesentlicher Bestandteil unseres Grundgesetzes ist. Na- vertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes Aus- türlich gehört das Recht auf Streik zwingend zur Tarif- handeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht autonomie. Das steht für die FDP-Bundestagsfraktion mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht aus- außer Frage. Das will ich hier sehr deutlich sagen. geglichen werden können. Hierfür gibt es zurzeit aber keinerlei Hinweise. (Beifall bei der FDP) Auf Kosten der Sicherheit darf nach unserer Auffas- Die immer wiederkehrende Diskussion um den so ge- sung aber nicht gestreikt werden. nannten Streikparagrafen hat zwischenzeitlich Züge ei- ner ideologischen Debatte angenommen, während die (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986 LINKE]: Ja wann denn überhaupt?) zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaften von der – Hören Sie mir zu. – Die Streiks im öffentlichen Dienst gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt wird. Die Ar- in den vergangenen Wochen haben zum Teil zu unver- beitgeber der in erster Linie betroffenen Metall- und hältnismäßigen Beeinträchtigungen der Sicherheit ge- Elektroindustrie beklagen regelmäßig, dass die Tarif- führt. Die vorsätzlich nicht geräumten Straßen beispiels- ergebnisse tendenziell stärker zu ihren Lasten gehen. weise stellten ein hohes Sicherheitsrisiko dar. Die Konkret ist der Vorschlag der Fraktion Die Linke zur Lö- meisten, die mit ihrem Fahrzeug unterwegs waren, konn- sung ungeeignet. ten es sich nicht aussuchen, zu fahren oder nicht. Sie mussten mit ihrem Wagen unterwegs sein. Die Frage, wann Leistungen der Bundesagentur für Arbeit an mittelbar betroffene Arbeitnehmer die Pflicht (Zuruf von der FDP: Feuerwehr und Rettungs- zur Neutralität im Arbeitskampf verletzen, ist durch den dienste zum Beispiel!) Gesetzgeber festgelegt worden. Der Gesetzentwurf der In solchen Situationen dürfen Menschenleben nicht ge- Fraktion Die Linke macht deutlich, dass sie die Ent- fährdet werden, um tarifpolitische Forderungen durchzu- (B) scheidung in dieser Frage im Gesetz offen lassen und (D) setzen. wieder an die Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit delegieren will. Dies dürfte rechtlich nicht mehr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten möglich sein, weil es um grundrechtsrelevante Entschei- der CDU/CSU) dungen geht, die in den Kernbereich der betroffenen Das ist unverantwortlich und aus unserer Sicht nicht hin- Grundrechte aus Art. 9 Grundgesetz – hierunter fällt nehmbar. die Tarifautonomie – und aus Art. 14 Grundgesetz – zum Grundrecht auf Eigentum zählt der Anspruch auf Ar- Deswegen legen wir hier heute einen Antrag vor, mit beitslosengeld – fallen. dem wir deutlich machen wollen, dass eine Notfallver- sorgung und die innere Sicherheit jederzeit, also auch im Zudem dürfte es illusorisch sein, zu erwarten, dass Streikfall, sichergestellt sein müssen. Herr Kollege sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen der Ulrich, Sie würden das sicher auch etwas differenzierter Selbstverwaltung in der Praxis auf eine neue Neutrali- betrachten, wenn Sie in Baden-Württemberg wohnten tätsanordnung einigen. Der Vorschlag der Fraktion Die und sich vor Ihrer Haustür nach sechs Wochen Müll- Linke läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass die öffentli- berge türmen würden, auf denen Ratten munter herum- che Bank in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für turnen. Damit sind erhebliche Seuchengefahren verbun- Arbeit den Ersatzgesetzgeber spielt und den Inhalt der den. Es ist für die Menschen nicht nachvollziehbar, dass Neutralitätsanordnung durch Zustimmung zur Auffas- es in einem solchen Fall nicht möglich sein kann, im In- sung der einen oder anderen Seite bestimmen müsste. teresse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entspre- Eine Rechtsänderung ist in diesem Umfang insofern chende Maßnahmen zu ergreifen. überhaupt nicht angezeigt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Danke schön. der CDU/CSU – Widerspruch bei der LIN- KEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Weil wir wollen, dass in einem solchen Fall etwas ge- schehen kann, wollen wir eine gesetzliche Ermächti- Vizepräsident Wolfgang Thierse: gungsgrundlage zum Ausschluss einzelner Streikmaß- Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP- nahmen bei einer konkreten erheblichen Gefahr für Fraktion. verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit. (Beifall bei der FDP) Das ist der Tenor des Antrags, den die FDP hier einge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1953

Dr. Heinrich L. Kolb (A) bracht hat, um für solche Fälle Vorsorge zu treffen. Wir vielmehr neben anderem eine Senkung der Lohnneben- (C) meinen, dass eine zusammenhängende Kodierung des kosten dringend erforderlich. Arbeitskampfrechts verfassungsrechtlich geboten ist. Die zuständigen Stellen müssen bei Arbeitskämpfen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Maßnahmen ergreifen können, um die Notfallversor- der CDU/CSU) gung, den Katastrophenschutz und die Einsatzfähigkeit Deswegen gibt es für uns keinen überzeugenden der Rettungsdienste und der Polizei sicherstellen zu kön- Grund, dem Gesetzentwurf der Linkspartei zuzustim- nen und erheblichen Gefahren, zum Beispiel bei Beein- men. Wir werden diesen Entwurf ablehnen und ich trächtigungen im Straßenverkehr, effektiv und schnell hoffe, dass die Mehrheit des Hauses dies ebenso sehen begegnen zu können. Vor diesem Hintergrund hoffe ich wird. auf Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Den Gesetzentwurf der Linkspartei sollte dieses Hohe Haus allerdings ablehnen, weil er in die völlig falsche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Richtung geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der der CDU/CSU) Linken, ich muss Ihnen sagen: Wenn die Linkspartei schon mit Riesenschritten zurück in die Vergangenheit Vizepräsident Wolfgang Thierse: möchte, dann muss man an dieser Stelle auch erwähnen, Ich erteile Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion, dass bis 1969 mittelbar vom Arbeitskampf Betroffene das Wort. grundsätzlich kein Arbeitslosengeld erhielten. Gestreikt wurde damals trotzdem. Das von Ihnen angeführte Ar- gument der Chancengleichheit der Tarifparteien zieht Anette Kramme (SPD): nach unserer Auffassung nicht. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, an Vielmehr ist es so, dass die Gewährung von Arbeits- sich müsste Ihnen unsere Antwort auf den Gesetzent- losengeld auch an mittelbar Betroffene, also an kalt Aus- wurf bekannt sein. Ihre Vorgängerfraktion PDS brachte gesperrte, zur Stärkung der Solidarität und damit unter denselben Antrag wortidentisch bereits in der 14. Legis- Umständen auch erst zu einer Beeinflussung des Ar- laturperiode ein. beitskampfes führen kann und wird. Dann wäre aller- dings die Frage der Neutralität der Bundesagentur für (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wirklich? Arbeit gestellt. Nach unserer festen Überzeugung muss Das gibt es ja nicht! Faul und einfallslos sind sie sich zwingend neutral verhalten. Im Übrigen sei da- sie auch noch!) (B) rauf hingewiesen, dass in der derzeitigen Regelung auch Damals hat die SPD diesen Gesetzentwurf abgelehnt und (D) eine Härtefallklausel vorgesehen ist. ich kann es gleich vorwegnehmen: Er wird auch aktuell Mit dem Gesetzentwurf aus dem Jahre 1986 wurde keine Zustimmung erfahren. Ihre vorgeschlagene Neure- gerade das Ziel verfolgt, die Neutralität der Bundesan- gelung stellt keine Lösung dar, sondern ist, wie so oft bei stalt zu sichern. Die Vorschriften des damals noch gel- Ihnen, blanker Populismus. tenden Arbeitsförderungsgesetzes zu der Frage, ob und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ gegebenenfalls wann Leistungsansprüche gegen die ehe- CSU – Zurufe von der LINKEN: Oh!) malige Bundesanstalt für Arbeit derjenigen Arbeitneh- mer ruhen, die mittelbar vom Arbeitskampf außerhalb Einer rechtlichen Überprüfung hält Ihr Vorschlag eines Arbeitskampfbezirkes betroffen sind, wurden da- nämlich nicht stand. Die Rückkehr zum ursprünglichen mals konkretisiert. Das Streikrecht an sich wurde aber § 116 AFG funktioniert nicht. Sie wollen, dass die Bun- nicht geändert. Außer Ihnen hat das in diesem Hause in desagentur für Arbeit wieder die Entscheidung über die den letzten Jahren auch niemand infrage gestellt. Neutralität von Lohnersatzleistungen treffen soll. Es handelt sich hierbei aber um eine grundrechtsrelevante (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Entscheidung nach Art. 9 und Art. 14 des Grundgeset- der CDU/CSU) zes. Diese darf der Verwaltung vom Gesetzgeber nicht überlassen werden. Ich glaube, hier muss auch gesehen werden, dass ge- rade die Gewerkschaften Fernwirkungen in Drittbetrie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben, also bei mittelbar Betroffenen, durchaus als Mittel der CDU/CSU) des Arbeitskampfes einsetzen. Die von der Linken ge- wünschte Gesetzesänderung würde dazu führen, dass die In der Praxis dürfte es überdies illusorisch sein, zu er- beitragsfinanzierte Bundesagentur für Arbeit zahlen warten, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der muss, um die Streikkassen der Gewerkschaften zu scho- Selbstverwaltung auf eine neue Neutralitätsanordnung nen. Ich sage Ihnen: Bei allem Verständnis für das Prin- einigen. Deshalb dürfte Ihr Vorschlag keine tatsächliche zip der Kostenminimierung kann dies nicht die Aufgabe Hilfestellung für die Gewerkschaften bedeuten. der Bundesagentur für Arbeit sein. Eine weitergehende (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Inanspruchnahme der Bundesagentur für Arbeit, als wir sie derzeit haben, würde im Übrigen auch zu Beitragser- Was bedeutet § 146 SGB III in der aktuellen Fassung höhungen führen. Das ist das Gegenteil von dem, was für die Arbeitnehmer, die infolge eines Streiks kurzar- wir brauchen. Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist beiten oder arbeitslos werden? 1954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Anette Kramme (A) Erste Konstellation. Alle Arbeitnehmer außerhalb der der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. (C) umkämpften Tarifbranche erhalten von der BA alle Leis- Diese Position teilen wir auch heute. tungen ohne Einschränkung. Um zu verdeutlichen, was das heißt, will ich ein Beispiel bilden: Es gibt einen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Streik in der Metallindustrie. Dieser löst einen Arbeits- der CDU/CSU) ausfall bei einem zuliefernden Textilbetrieb aus. Die 1986 änderte die Regierung Kohl den § 116 AFG. Kurzarbeiter im betroffenen Textilunternehmen erhalten Viele von Ihnen werden sich noch an den heftigen Wi- Leistungen, da sie zu einer anderen Tarifbranche gehö- derstand der Gewerkschaften und der SPD, die Massen- ren. demonstrationen und die Unterschriftenlisten erinnern. Zweite Konstellation: Alle Arbeitnehmer der um- Gegen die Aushöhlung des Streikrechtes sind die Ge- kämpften Tarifbranche innerhalb der umkämpften Tarif- werkschaften vor das Bundesverfassungsgericht gezo- gebiete erhalten keine Leistungen der BA, unabhängig gen. Die angefochtene Rechtsnorm hat ein Stirnrunzeln davon, ob sie selbst streiken oder vom Arbeitskampf nur des höchsten deutschen Gerichtes bewirkt und wurde mit mittelbar betroffen sind. Auch hier will ich ein Beispiel dem Etikett „Gerade noch verfassungsgemäß“ versehen. nennen. Das Bundesverfassungsgericht hat gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautono- In der Metallindustrie Tarifbezirk Nordbaden findet mie treffen muss, wenn sich zeigen sollte, dass in der ein Streik statt. Bestreikt wird ein mittelständisches Un- Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der ternehmen in Nordbaden, das beispielsweise Kolben für Tarifvertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes Kraftfahrzeuge herstellt. Infolge des Streiks kann bei Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Daimler-Chrysler in Stuttgart, ebenfalls in Nordbaden, nicht mehr zulassen. nicht produziert werden. Die betroffenen Kurzarbeiter erhalten keine Leistungen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist kein Freibrief dafür, alles so zu lassen, wie es ist. Es impli- Dritte Konstellation: Arbeitnehmer der umkämpften ziert den Auftrag an den Gesetzgeber, sehr genau zu Tarifbranche außerhalb der umkämpften Tarifgebiete er- überprüfen, ob das Kräftegleichgewicht der Tarifver- halten dann keine Leistungen der BA, wenn der Arbeits- tragsparteien noch gewahrt ist. Wenn die Streikfähigkeit kampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mit- der Gewerkschaften infolge des Streikparagrafen nicht geführt wird. Konkret bedeutet das Folgendes: Infolge mehr gegeben ist, muss der Gesetzgeber eingreifen. Wir des Arbeitskampfes, beispielsweise in der Metallindus- werden deshalb jederzeit genau überprüfen, ob eine Be- trie Nordbaden, kommt es in Metallbetrieben in Südba- einträchtigung der Gewerkschaften durch § 146 SGB III den zu Arbeitsausfällen. Die mittelbar betroffenen Kurz- stattfindet. Wir stehen für die Tarifautonomie und wollen (B) arbeiter in Südbaden erhalten keine Leistungen, wenn die Gewerkschaften als starke Verhandlungspartner. Die (D) der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedin- aktuelle Schwäche der Gewerkschaften steht aber in kei- gungen mitgeführt wird. nem ersichtlichen Zusammenhang zur Regelung des § 146 SGB III. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Wir haben in diesem Hause schon oft über das Für Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des und Wider von Streiks debattiert. Wenn man Außenste- Kollegen Ulrich? hende nach ihrer Meinung fragt, dann heißt es immer wieder: Streik ist schlecht; denn Streik verhindert Pro- Anette Kramme (SPD): duktion, kostet Geld, schadet oft Unbeteiligten und schä- Aber selbstverständlich. digt die Volkswirtschaft. Das mag richtig sein. Richtig ist aber auch, dass Streik das allerletzte Mittel von Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist, um ihren be- Alexander Ulrich (DIE LINKE): rechtigten Forderungen Ausdruck zu verleihen. Frau Kollegin, Sie haben vorhin etwas über den An- trag der damaligen PDS-Fraktion im Bundestag gesagt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und darauf hingewiesen, dass die SPD diesen Antrag Tarifvertragsverhandlungen führen die Gewerkschaf- auch heute ablehnen wird. Ihr damaliger Arbeitsminister ten dann wirkungsvoll, wenn sie mit einem Streik dro- , vorher Zweiter Vorsitzender der IG Me- hen können. Deshalb ist das Streikrecht im Grundgesetz tall, hatte angekündigt, dass dieses Gesetz in der verankert. Im übrigen Europa und in allen anderen zivili- 15. Legislaturperiode auf den Weg gebracht wird. sierten Ländern dieser Welt ist die Rechtslage nicht an- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hat damals ders. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein rechtli- viel angekündigt!) cher Sonderfall, auch wenn viele das so sehen wollen. Ein Streikrecht zu haben, macht nur Sinn, wenn auch die Ist Ihnen das bekannt oder sagen Sie, dass Sie damit Fähigkeit zum Streik besteht. Vor diesem Hintergrund nichts mehr zu tun haben wollen? sind Ihre Äußerungen, meine Damen und Herren von der FDP, unerträglich. Anette Kramme (SPD): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na!) Das kann ich Ihnen ganz einfach beantworten: Walter Riester hat damals zugesagt, eine Überprüfung dieser Die Besteuerung von Streikgeldern zu fordern, ist Regelung vorzunehmen. Dies entspricht vollumfänglich schlicht eine Unverschämtheit. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1955

Anette Kramme (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – (Beifall bei der SPD) (C) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Frau Kollegin, Im Hinblick auf das Arbeitskampfrecht ist Deutsch- zügeln Sie sich!) land die „weiße Krähe“ unter den europäischen Ländern. Diese Forderung zielt einzig und allein darauf ab, der Man muss intensiv suchen, um in Europa ein Land zu Arbeitnehmerseite und den Gewerkschaften einen Stock finden, in dem das Streikrecht so stark einschränkenden zwischen die Beine zu werfen und sie zu schwächen. Die Regelungen unterworfen ist und zugleich die Aussper- FDP ist es auch, die die Gewerkschaften als Plage be- rung zugelassen ist oder zumindest praktiziert wird. zeichnet. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wo ha- Meine Damen und Herren von der FDP, Sie benutzen ben Sie nach den Regeln gesucht? – Gegenruf regelmäßig schwierige tarifpolitische Auseinanderset- des Abg. Klaus Brandner [SPD]: Aber das ist zungen dazu, die Tarifautonomie infrage zu stellen und die Wahrheit!) den politischen Einfluss der Gewerkschaften in dieser Ich fände es nur angemessen, wenn führende Ver- Republik auf null zurückzufahren. In diese Richtung bandsvertreter der Arbeitgeberseite einmal auf diesen zielt auch Ihr vorliegender Antrag, der so überflüssig Vorteil des Wirtschaftsstandorts Deutschland hinweisen wie ein Kropf ist. würden. Stattdessen kommt es immer wieder zu uner- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus träglichen Äußerungen. Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – (Beifall bei der SPD) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gucken Sie sich mal die Ratten auf den Müllbergen an!) Der frühere BDI-Präsident Rogowski verkündete öffent- lich, dass er aus den Tarifverträgen und dem Betriebs- Die Rechtslage ist eindeutig. In lebenswichtigen Be- verfassungsgesetz am liebsten ein Lagerfeuer machen reichen sind die Gewerkschaften verpflichtet, einen Not- würde. Die Mitbestimmung sieht er als einen Irrtum der dienst einzurichten, um Schäden von der Allgemeinheit Geschichte an. und besonders schützenswerten Dritten abzuwenden. (Klaus Brandner [SPD]: Widerwärtig! – Klaus (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie war das auf Uwe Benneter [SPD]: Das sind die Zündler!) den Autobahnen, als nicht geräumt wurde? – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die Poli- Der Streik im öffentlichen Dienst ist jetzt in der zei musste den Winterdienst sicherstellen!) sechsten Woche. Es ist an der Zeit, die verfahrene Situa- tion aufzulösen. Auf kommunaler Ebene deuten sich Lö- Geschieht das nicht, dann haftet die Gewerkschaft. Wird sungen an. Die Länder sollten dem Beispiel der Kommu- kein Notdienst eingerichtet und ergeben sich daraus kon- (B) nen folgen und einen Schlichter einsetzen. Daran ist (D) krete Gefährdungen für die Allgemeinheit, so steht ein weiß Gott nichts Ehrenrühriges. Deshalb fordere ich Sie Einschreiten der Polizei in jedem Fall in deren Ermes- auf, Herr Möllring: Lenken Sie ein und stellen Sie sich sen. dem Schlichter! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben das Vielen Dank. sehr konkret erlebt! Da brauchen wir uns nichts vorzugaukeln!) (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das ist aber jetzt ein Eingriff in die Tarifautono- – Sie, meine Damen und Herren von der FDP, gaukeln mie!) den Bürgern und Bürgerinnen nur vor, dass die Streiks im öffentlichen Dienst eine Gefahr für Leib und Leben – Nein. darstellen. Das ist schlichtweg falsch. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion Arbeitgeber und Verdi haben bekanntlich Notdienstver- des Bündnisses 90/Die Grünen. einbarungen abgeschlossen. Dadurch ist die Gesund- heitsversorgung der Patienten und Patientinnen gesi- chert. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nicht überall!) alle rechtlichen Aspekte, die gegen eine erneute Ände- Bei winterlichen Straßenverhältnissen rücken auch die rung des § 146 SGB III sprechen, lang und sehr ausführ- Autobahnmeistereien aus. lich behandelt worden sind, will ich mich kurz Ihrer politischen Argumentation zuwenden, verehrte Kolle- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn sie die ginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke. Sie Streumittel haben! – Hartfrid Wolff [Rems- unterstellen, dass durch diese Regelung das Streikrecht Murr] [FDP]: Wenn sie auch streiken, nicht!) seit 1986 praktisch in seinen Grundfesten erschüttert worden ist und dass keine Streiks mehr stattgefunden ha- Die Tarifautonomie hat einen großen Beitrag dazu ge- ben. Wenn dem so gewesen wäre, dann müssten wir die leistet, den sozialen Frieden in unserem Land dauerhaft Regelung in der Tat noch einmal ändern. herzustellen und soziale Konflikte auf eine geregelte Art und Weise auszutragen. Davon profitieren auch die Un- Aber ein Blick auf die Streikwirklichkeit und die ternehmen. Kampffähigkeit der Gewerkschaften seit 1986 zeigt 1956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Markus Kurth (A) doch, dass die Veränderungen damals nicht zu dem ge- aber ich bin wirklich der Letzte, der den Gewerkschaften (C) führt haben, was Sie hier an die Wand malen. feindlich gesonnen ist oder das Streikrecht einschränken will. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ CSU und der FDP – Lachen bei der LINKEN) DIE GRÜNEN) – Sie lachen, aber Sie können es nicht bestreiten. Es ist Sehr wohl bin ich für eine nüchterne und ausgewogene klar, dass die Gewerkschaften durchsetzungsstark sind Betrachtung. und mobilisieren können. Das zeigen schon die großen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Streiks in der Metallindustrie in den Jahren 1994 und wie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) 1995 und auch der Bochumer Streik bei Opel im Jahr 2004. – Herr Kolb, da Sie mir applaudieren, möchte ich auf den Antrag Ihrer Fraktion eingehen. (Zuruf von der LINKEN: Das war kein (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schade, dass Streik!) Ihre Redezeit zu Ende ist! Wir haben Ihnen Sie behaupten in Ihrem Antrag überdies: gerne zugehört!) Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie die Vogelgrippe Die absehbaren Fernwirkungen eines Arbeitskamp- in Verbindung mit Müllbergen bringen, eine Gefahr für fes in einem Unternehmen, dessen Produktion eng die innere Sicherheit konstruieren und auf diese Weise mit Zulieferfirmen verflochten ist, können einen die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie an- Arbeitskampf von vornherein aussichtslos machen. greifen. Das ist ein Bubenstück, das zumindest an Popu- Ich sehe es so – gerade angesichts der Ereignisse bei lismus und Kurzfristigkeit dem Gesetzentwurf von der AEG in Nürnberg –, dass die Verflechtung mit der Zulie- Linken in keiner Weise nachsteht. Sie können den Ge- ferindustrie einen Arbeitskampf überaus wirksam macht werkschaften doch nicht unterstellen, die innere Sicher- und dass die Gewerkschaften insbesondere im Metall- heit mutwillig zu gefährden. Das ist mitnichten der Fall. und Elektrobereich nach wie vor eine relativ starke He- Es gibt schließlich Notdienste. belwirkung entfalten können. Das funktioniert auch. Die (Zuruf von der FDP: Nicht überall!) Verflechtung in der Metallindustrie stärkt sogar den Flä- chentarifvertrag. Ich möchte gerne den Hauptge- Ich plädiere für Ausgewogenheit sowohl auf der ei- schäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, nen als auch auf der anderen Seite. (B) (D) Werner Busch, zitieren – das habe ich schon einmal ge- Vielen Dank. tan, um der FDP zu zeigen, dass die Arbeitgeber den Flächentarif durchaus schätzen –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In einem weit verzweigten Netz von Lieferbezie- hungen, wie es die deutsche Industrie darstellt, ist Vizepräsident Wolfgang Thierse: die ökonomische Friedenssicherung besonders Ich schließe die Aussprache. wertvoll. Ein Mehrfaches an Kapitalbindung und Zinskosten wäre nämlich fällig, wenn beispiels- Die Fraktion Die Linke hat fristgerecht beantragt, ge- weise die Automobilhersteller zu einer Lagerhal- mäß § 80 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung unmittelbar tung gezwungen würden, die das Risiko eines zwei- in die zweite Beratung einzutreten. Zu diesem Ge- wöchigen Arbeitskampfes ihrer Zulieferer schäftsordnungsantrag erteile ich das Wort dem Kolle- ausschalten sollte. gen Ulrich Maurer. Das zeigt, wie wichtig ökonomische Friedenssicherung ist und in welchem Maße der Flächentarifvertrag dazu Ulrich Maurer (DIE LINKE): beiträgt. Das zeigt aber auch, welche ökonomischen Ri- Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen siken es zur Folge hätte, wenn wir die Regelungen von und Kollegen! Wir haben in den Vorgesprächen der Par- vor 1986 wieder einführten. lamentarischen Geschäftsführer gehört, dass Sie eine ausführliche Beratung unseres Gesetzentwurfs in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschüssen wünschen. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie nicht?) Durch gesteigerte Lagerhaltungskosten erhöhten sich Wir möchten Ihnen stattdessen eine sofortige Abstim- dann die Kosten auf der Unternehmensseite. Das heißt, mung vorschlagen, weil die Frage nach der kalten Aus- wir müssen in der politischen und der ökonomischen Ar- sperrung – es geht darum, dass sich die Tarifpartner auf gumentation die Dinge gegeneinander abwägen. Nicht gleicher Augenhöhe begegnen – bereits im Vorfeld der alle kennen mich aus der letzten Legislaturperiode, unmittelbar bevorstehenden massiven Tarifauseinander- setzung in der Metallindustrie eine große Rolle spielen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir kennen Sie! – wird. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aus dem Fernsehen kennt er Sie!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1957

Ulrich Maurer (A) Im Übrigen habe ich der heutigen Debatte entnom- Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämien- (C) men, dass sich die SPD-Fraktion dem Standpunkt der durchführungsgesetzes CDU/CSU-Fraktion bereits vollständig angeschlossen hat. Zudem habe ich den diversen SPD-Parteitagsbe- – Drucksachen 16/858, 16/912 – schlüssen – diese lauten allerdings anders – entnommen, – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- dass die Vorbereitung in dieser Frage bereits 20 Jahre nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten andauert. Deswegen steht, glaube ich, einer sofortigen Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung Abstimmung nichts im Weg. des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes (Beifall bei der LINKEN) – Drucksache 16/644 –

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/ schutz (10. Ausschuss) CSU-Fraktion, das Wort. – Drucksache 16/964 – Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Berichterstattung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abgeordnete Marlene Mortler Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, Gustav Herzog die gerade beendete Debatte hat gezeigt, dass Sie mit Ih- Dr. Christel Happach-Kasan rem Gesetzentwurf in diesem Haus inhaltlich völlig iso- Dr. Kirsten Tackmann liert sind. Nun wollen Sie die Geschäftsordnung bemü- Cornelia Behm hen und nach einem entsprechenden Beschluss mit Zweidrittelmehrheit sofort in die zweite Beratung eintre- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für ten. Das zeigt, dass es Ihnen nicht um die ernsthafte Be- diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich ratung Ihres Antrags geht, sondern dass Sie den Bundes- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. tag für Ihr Polittheater missbrauchen wollen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Hans-Heinrich Jordan, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Das weise ich namens der Fraktionen der CDU/CSU, der Dr. Uwe Küster [SPD]) SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen ent- (B) (D) schieden zurück. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ende Novem- ber 2005 hat sich der EU-Agrarrat auf eine Festlegung Vizepräsident Wolfgang Thierse: zur Reform des EU-Zuckermarktes geeinigt. Diese Ei- nigung steht in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Panelspruches der Welthandelsorganisation. Die Zucker- Antrag der Fraktion Die Linke, unmittelbar in die zweite marktreform berücksichtigt insbesondere die EBA-Ini- Beratung einzutreten? – Wer stimmt dagegen? – tiative zur Förderung der Interessen der ärmsten Ent- (Zuruf von der LINKEN: Volksfront!) wicklungsländer. Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von Für die Bundesrepublik Deutschland ist der vorlie- CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ge- gende Kompromiss des Agrarrates ein erheblicher Ein- gen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Da- schnitt in den traditionellen Zuckerrübenanbau und in mit hat der Antrag die erforderliche Mehrheit nicht er- die deutsche Zuckerproduktion. In Deutschland sind reicht. über 46 000 Rübenbauern, 6 500 Arbeitnehmer in der Zuckerindustrie sowie rund 20 000 Beschäftigte in den Wir kommen damit zur Überweisung. Es wird vorge- vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Die Zu- schlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/856 an ckerproduktion in Deutschland hat einen Umfang von die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu circa 4 Millionen Tonnen. Zu keinem Zeitpunkt in den überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der zurückliegenden Jahren wurde so tief wie jetzt durch die Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der An- bevorstehende neue Marktordnung in das Produktions- trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/953 soll geschehen und in die Einkommenssituation der Zucker- ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- rübenbauern eingegriffen. schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung (Beifall bei der CDU/CSU) so beschlossen. Das beherzte Eingreifen der neuen Bundesregierung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: konnte noch größere wirtschaftliche Folgen für die deut- sche Zuckerproduktion verhindern. – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten (Beifall bei der CDU/CSU) 1958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Hans-Heinrich Jordan (A) Die Zuckerproduktion aus Zuckerrüben hat in nen. Ziel dieses Vorschlages ist, Härtefälle und Fälle in (C) Deutschland eine lange, eine zweihundertjährige Tradi- besonderer Situation zu vermeiden. tion. Mit den Arbeiten von Andreas Sigismund Marggraf um das Jahr 1750 und seinem Schüler Franz Als Referenz für den einzelbetrieblichen Ausgleich Carl Achard um 1800 stellen wir die ersten Pioniere der sollen die vertraglich vereinbarten Liefermengen für das Zuckergewinnung. Hier in Berlin-Kaulsdorf wurden kommende Wirtschaftsjahr 2006/07 herangezogen wer- erste Zucht- und Anbauversuche mit ertragreicheren Rü- den. Das vermindert den Verwaltungsaufwand erheblich bensorten gemacht. In Kunern, Niederschlesien, ent- und damit natürlich auch Bürokratie. Der teilweise in die stand die erste Zuckerfabrik. In der Region Halberstadt, Diskussion gebrachte differenzierte Ausgleich nach Sachsen-Anhalt, wurde die erste weiße Zuckerrübe ge- A- und B-Rübenquote bringt keine Vorteile; denn ab die- züchtet, die quasi die Stammmutter der heutigen Zucker- sem Wirtschaftsjahr gibt es im Rahmen des gemeinsa- rübe bildet. men Marktes für Zucker keine Unterscheidung zwischen A- und B-Quote mehr. Deshalb halte ich es für richtig, Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich auch in eine einheitliche Liefermenge entsprechend der Verein- Deutschland die Zuckerproduktion aus der Zuckerrübe barung mit der Zuckerfabrik oder mit Vermarktern als entscheidend durch. Die Bördeböden Sachsen-Anhalts Grundlage für den Zuckerausgleich zu wählen. wurden Spitzenstandorte für den Zuckerrübenanbau. Der Zuckerrübenanbau mit den notwendigen Massentrans- Die Zuckermarktordnung bietet bis 2014/2015 gute porten führte Ende des 19. Jahrhunderts zur erheblichen Voraussetzungen zur weiteren Entwicklung. Damit wird Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in vielen Ge- den Wirtschaftsbeteiligten und der EU-Zuckerwirtschaft bieten Deutschlands. Somit wurde die Zuckerrübe nicht eine langfristige Planungsgrundlage gegeben. Entschei- nur zur sicheren Einkommensquelle für die Landwirt- dend ist, dass schon auf die Zuckerpreissenkung ab schaft, sondern sie war auch Motor für das allgemeine dem Jahr 2006/2007 in vier Jahresscheiben bis 2010 re- Erschließen und Stärken des ländlichen Raumes. agiert wird, sodass sich aus der Zuckerpreissenkung von 36 Prozent eine Rübenpreissenkung von 39 Prozent er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gibt. In der Altmark, in meinem Wahlkreis, führte bei- Für die Rübenbauern wird die Preissenkung durch die spielsweise der Ausbau des Eisenbahnnetzes um 1900 entkoppelte Direktzahlung teilweise ausgeglichen. Die- dazu, dass kein Ort weiter als 10 Kilometer von der ser Ausgleich umfasst für das Jahr 2008/20009 zum Bei- nächsten Eisenbahnstation entfernt lag. Mit Stolz konn- spiel 64,2 Prozent. ten die altmärkischen Bauern auf die größte Zuckerfa- brik Europas jener Zeit verweisen. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist ein großer (B) Erfolg!) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär: – Genau. – Die Betriebsprämienregelung beinhaltet, dass Das waren noch Zeiten!) die ab dem Jahr 2010 unterschiedlichen Zahlungsansprü- che für die Rübenbauern im Rahmen des so genannten – Ja, aber es ist so. Gleitflugs bis 2013 zu regional einheitlichen Zahlungs- ansprüchen angepasst werden. Diese Entscheidung Ich hoffe, wir stimmen überein, dass der kurze histori- scheint vor dem Hintergrund der übrigen Betriebstypen sche Rückblick bei diesen historischen Veränderungen auch sachgerecht. zum Thema gehört. Die Zuckerrübenproduktion hatte also eine über ökonomische Aspekte hinausgehende (Beifall bei der CDU/CSU) sozial-kulturelle Bedeutung. Im Komplex der Gesamtmaßnahmen zur Neuordnung Wir haben den politischen Auftrag, Voraussetzungen der Zuckerrübenmarktordnung darf dennoch nicht ver- zu schaffen, dass die Zuckerproduktion in Deutschland gessen werden, dass schmerzvolle Einkommenseinbu- an geeigneten Standorten fortgeführt werden kann. Die ßen in traditionellen bäuerlichen Zuckerrübenproduk- Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat dazu im tionsbetrieben künftig zu verzeichnen sind und dass Agrarrat und in Hongkong entscheidende Voraussetzun- Produktionsumstellungen in vielen aufgebenden Be- gen durchsetzen können. Die Ergebnisse liegen uns mit trieben mit neuen Einkommensmöglichkeiten gesucht diesem Gesetzentwurf vor. werden müssen. Entscheidend für die Situation in den Zuckerrübenproduktionsbetrieben ist, dass für den Zu- Wir können die Zuckerproduktion in die Betriebsprä- ckerrübenanbau mittelfristig die Voraussetzung für eine mienregelung integrieren. Dies bedeutet auch den Ein- planbare Entwicklung geschaffen wird und die Branche bau der Zuckerproduktion in das deutsche Entkopp- zukunftsorientiert dasteht. lungsmodell. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) der SPD) Die Zuckerrübenproduktion darf unter keinen Umstän- Die Gesetzesvorlagen der Bundesregierung und der den aus Deutschland verschwinden. Fraktionen der CDU/CSU und SPD verfolgen das Ziel, die Ausgleichszahlungen an die Zuckererzeuger zu Ich möchte abschließend feststellen, dass mit dem 100 Prozent betriebsindividuell zu binden. Es gibt keine vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Be- Umverteilung des Prämienvolumens zwischen den Regio- triebsprämiendurchführungsgesetzes und mit den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1959

Dr. Hans-Heinrich Jordan (A) Beschlüssen des EU-Agrarrats sicherlich nicht alle Er- Es ist niemandem auch nur andeutungsweise klar zu (C) wartungen erfüllt werden können. Dessen ungeachtet ist machen, warum bei uns die Zuckerverwender viel mehr äußerst positiv zu werten, dass zum 30. April 2006 eine Geld für Zucker zahlen müssen als andere und wir uns Gesetzesanpassung für Deutschland vorliegen kann und gleichzeitig darüber beklagen, dass die Zuckerproduzen- die Preissenkungen geringer sind bzw. der Preisaus- ten Marktanteile verlieren und Arbeitsplätze verloren gleich höher ist, als noch Mitte 2005 angekündigt wor- gehen. Man muss die Dinge schon ein bisschen im Zu- den ist. sammenhang sehen. Deswegen stimmen wir dieser Än- derung zu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ihre Ausführungen, Herr Dr. Jordan, finde ich sehr liebenswert – ich schätze Sie auch wirklich sehr –, aber Wir haben es mit einem insgesamt sachgerechten Ge- sie sind mit dem Blick zurück nicht zukunftsfähig. Wir setzentwurf zu tun. müssen uns darauf einstellen, dass wir mit allen Agrar- Aus den genannten Gründen möchte ich dem Deut- produkten – wir haben gute Agrarprodukte – im interna- schen Bundestag empfehlen, dem vorliegenden Gesetz- tionalen Wettbewerb bestehen können. Wir können uns entwurf zuzustimmen. nicht auf den nationalen Markt zurückziehen, weil dieser nationale Markt nicht so ergiebig ist. Im Wechselspiel Danke schön. zwischen nationalem Markt und internationalem Markt können wir auch nicht so gegensätzliche Ansprüche stel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len. Wir wollen mit unseren Produkten nach Indonesien, neten der SPD) nach China, nach Indien und nach Brasilien und gleich- zeitig sagen wir: Ihr „bösen“ Brasilianer dürft mit eurem Vizepräsident Wolfgang Thierse: Rohrzucker nicht auf unseren Markt. Dieses Spielchen Herr Kollege Jordan, dies war Ihre erste Rede im ist ausgespielt. Dafür steht die WTO. Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle Die WTO will im Grunde genommen, dass die Pro- guten Wünsche für Ihre weitere politische Arbeit. duktion dort stattfindet, wo die Rahmenbedingungen am (Beifall) besten sind. Wir werden davon profitieren, wenn wir uns innovativ aufstellen. Das müssen wir in allen Bereichen Ich erteile nun das Wort Kollegen Hans-Michael tun, so auch im Agrarbereich. Das können wir mit den Goldmann, FDP-Fraktion. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesen Bran- (Beifall bei der FDP) chen auch prima hinbekommen. (B) (Beifall bei der FDP – Dr. Hans-Heinrich (D) Hans-Michael Goldmann (FDP): Jordan [CDU/CSU]: Das werden auch unsere Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Zuckerrübenbauern können!) Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion wird der Ände- – Das werden auch unsere Zuckerrübenbauern können, rung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes gern weil das zum Tragen kommt, was schon damals in einem zustimmen, weil sie im Grunde genommen das Ergebnis FDP-Antrag stand, nämlich ein 60-prozentiger Aus- einer politischen Überlegung ist, die wir schon vor Jah- gleich für Einbußen. Ich gebe zu, dass ich damals bei ren auf den Weg gebracht haben. 2011/2012 war; jetzt haben wir eine Regelung bis 2015. (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Es wird sehr spannend werden. Sie können ganz sicher Peter Bleser [CDU/CSU]: Bescheidenheit ist sein, dass wir da an der Seite unserer Landwirte sind, eine Tugend!) dass wir diese Regelung auch über 2008 hinaus befür- worten, wenn wieder darüber nachgedacht wird, wie Sehr geschätzter Kollege Dr. Jordan und Peter Bleser, viele europäische Mittel der Landwirtschaft, dem ländli- Sie beide wissen das auch genau. Nur, die politische chen Raum zur Verfügung gestellt werden. Großwetterlage hat sich ein bisschen geändert. Heute ju- belt Rot-Schwarz über etwas, was damals von Blau-Gelb Aber wir stehen noch vor einer ganz anderen dramati- auf den Weg gebracht worden ist. Ich musste mich sei- schen Herausforderung, und zwar in Bezug auf die Situa- nerzeit im wahrsten Sinne des Wortes schützen, damit tion bei der Milch. Lassen Sie uns innerhalb der Agrar- mir dafür nicht Rübenschnitzel um die Ohren flogen. Ich politik auch hier gemeinsam den Weg zu mehr Markt kann mich noch sehr gut an eine Veranstaltung hier im und mehr Wettbewerb gehen. Es hat sich gezeigt, dass Maritim-Hotel erinnern, auf der ich gesagt habe – das ist eine Quotenregelung bei der Milch keine Lösung im vielleicht auch einmal für die jüngeren Zuhörer auf der Hinblick auf mehr Markt ist. Wir haben bei der Milch Tribüne interessant –: Der europäische Zuckerpreis, den eine Überproduktion – 118 oder 120 Prozent –, die dazu der Verbraucher zahlt, ist dreimal so hoch wie der Welt- führt, dass der Liter Milch heute viel billiger ist als marktpreis. 1 Liter Wasser. Ich denke, unter diesem ganz simplen Gesichtspunkt müssen wir uns auf den Weg machen, (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das ist Fakt!) auch in diesem Bereich Veränderungen herbeizuführen. – Das ist Fakt, auch wenn sich das in letzter Zeit ein bis- Lassen Sie mich einen letzten Gedanken aufgreifen. schen angepasst hat, weil der Weltmarktpreis etwas ge- Sie werden vielleicht nicht nachvollziehen können, wa- stiegen ist. rum ich immer wieder auf die Eins-zu-eins-Umsetzung 1960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Hans-Michael Goldmann (A) zurückkomme. Ich will nicht verstehen, dass wir uns führungsgesetz oder überhaupt der reformierten Zucker- (C) über Bürokratie auf europäischer Ebene beschweren und marktordnung verbirgt. Das ist ein äußerst schwieriges dann nicht eine europäische Vorgabe ganz simpel eins zu Unterfangen. eins in nationales Recht umsetzen. Das ist unsere Ziel- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist ein setzung: Was Europa vorgibt, setzen wir eins zu eins na- Top-up!) tional um. Wenn wir mehr machen wollen, dann soll man uns doch lassen. Selbstverständlich kann ein Land- Ich habe es trotzdem versucht und gesagt, das ist im wirt, der die Bedingungen für seine Tiere, für seine Pro- Grunde genommen der große Weg, den wir mit den duktion im Wettbewerb etwas anders sieht als andere Agrarbeschlüssen von 2003 eingeschlagen haben, näm- Europäer, beispielsweise der Spanier oder der Grieche, lich weg von der Produktförderung, von den Milchseen mehr machen. Aber wir sollten grundsätzlich an der und den Zuckerbergen, hin zu mehr unternehmerischer Eins-zu-eins-Umsetzung festhalten. Freiheit, indem wir die Landwirte direkt unterstützen. Dass dieser Weg richtig ist, zeigt sich an dem aktuellen Wenn wir das machen und uns damit am Weltmarkt Beschluss der Europäischen Union, eine Zuckerquoten- orientieren, werden wir unsere Landwirtschaft zukunfts- kürzung um 2,5 Millionen Tonnen vorzunehmen. fähig aufstellen, und zwar ohne große staatliche Zuwen- dungen. Damit werden wir den wohl entscheidendsten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist zu Beitrag zum Bürokratieabbau leisten, der die Landwirt- wenig!) schaft in besonderer Weise belastet. In diesem Sinne Die Zuckermarktordnung gibt in der neuen Fassung stimmen wir der heute zu beschließenden gesetzlichen Planungssicherheit. Über einen auch von uns geforder- Vorlage sehr gerne zu. ten Restrukturierungsfonds ermöglicht sie es, auf die Herzlichen Dank. Veränderungen einzugehen. Aber ich glaube, hier ist durchaus zu sagen: Das wird eine sehr große Herausfor- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ derung für die Landwirte, für die Zuckerrübenbetriebe CSU: Immerhin!) sein, auch wenn die Diskussion in der Europäischen Union dazu geführt hat, dass die Direktbeihilfe von Vizepräsident Wolfgang Thierse: 60 auf 64 Prozent erhöht worden ist. Eine Studie der Ich erteile das Wort Kollegen Gustav Herzog, SPD- FAL hat gezeigt, dass die Einkommensverluste wesent- Fraktion. lich geringer sein werden, als die ersten Vorschläge der Kommission uns haben befürchten lassen. Gustav Herzog (SPD): Aus der Studie ergibt sich weiterhin, dass der Zucker- (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es rübenanbau in Deutschland bleiben wird, dass es wohl (D) kommt ja nicht allzu häufig vor, dass ich dem Kollegen zu keinen weiteren Quotenverlusten kommen wird und Goldmann zustimme; aber in dem Fall muss ich sagen, dass die deutsche Zuckerrübenwirtschaft wettbewerbsfä- dass das durchaus die Richtung der FDP war. Aber nach hig ist. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Bran- Ihrer Formulierung, Herr Kollege Goldmann, warte ich che in den letzten Jahren die Herausforderungen ange- auf eine Aussage von Ihnen, dass auf Antrag der FDP nommen und darauf reagiert hat und dass entsprechende die Zuckerrübe erst erfunden worden ist. Veränderungen vorgenommen wurden. (Heiterkeit im ganzen Hause) Vor den konkreten Entscheidungen – es ist sozusagen Machen Sie sich nicht zum Vater aller Dinge, die wir ge- kurz vor zwölf –, die für die Anbauplanung wichtig sind, meinsam auf den Weg bringen! schaffen wir mit diesem Gesetz Planungssicherheit für die Landwirte. Ich denke, wir haben einen guten Kom- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem promiss gefunden, auch wenn ich als Rheinland-Pfälzer, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Jordan, natürlich gerne gesehen hätte, wenn wir auf die A- und B-Quotenproblematik einge- Eine zweite kurze Bemerkung, und zwar zu der Eins- gangen wären. Aber im Bundesrat gab es ein Votum ge- zu-eins-Umsetzung. Wissen Sie, Herr Kollege Goldmann, gen die Forderung aus Rheinland-Pfalz. Ich denke trotz- das würde auch ein Stück Gleichschritt bedeuten. Aber dem, dass diese Forderung gerechtfertigt gewesen ist ich bin der Auffassung, dass die deutsche Politik und die und ihre Erfüllung dem deutschen Zuckerrübenanbau deutschen Landwirte immer einen Schritt voraus sein geholfen hätte. sollten. Von daher lassen Sie uns immer gemeinsam über- legen: Was macht die EU gut und was können wir besser Insgesamt gesehen haben wir eine Integration bezüg- machen? Eine einfache Eins-zu-eins-Umsetzung wird lich des Ausgleichs geschafft. Unsere Ablehnung bezieht auch der versammelten Intelligenz dieses Hauses nicht sich auf den Zeitrahmen. Entsprechende Regelungen gerecht. hätten einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand be- deutet, Herr Kollege Goldmann. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Können Sie das mal Herrn Seehofer sa- (Zuruf von der CDU/CSU: In der Tat!) gen?) Ich denke, es ist der richtige Weg, dass es die gleichen Ich weiß nicht, wer von Ihnen in den letzten Tagen Regeln für alle landwirtschaftlichen Produkte gibt. Dass einmal versucht hat, jemandem außerhalb der Branche der Ausgleich zu 100 Prozent erfolgt und erst im Jahre zu erklären, was sich hinter dem Betriebsprämiendurch- 2010 in die Flächenprämie eingeht, bedeutet für die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1961

Gustav Herzog (A) Landwirte durchaus Planungssicherheit. Sie wissen jetzt, mit anderen Mitteln. Denn wir kaufen uns aus den staat- (C) worauf sie sich einzustellen haben. Ob wir 2008 nach lichen Preisgarantien quasi teilweise heraus und zahlen der Neubewertung reagieren müssen, wird sich zeigen. sie bis zum Jahr 2014 stattdessen als Betriebsprämie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das vor- Da die Anbauverpflichtung durch die Entkoppelung liegende Gesetz ist ein gutes Gesetz. Die gute Nachricht der Betriebsprämien entfällt, kann man wenigstens hof- für die Branche ist, dass die Rübenbauer Planungssicher- fen, dass der eine oder andere den Rübenanbau doch heit haben. – wie politisch gewollt – aufgibt. Bei den Zuckerrüben- standorten gibt es ja Anbaualternativen. Aber ob das Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. wirklich so kommt, ist fraglich, weil die Kompensation (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei allen für dieses Jahr abgeschlossenen Zuckerrüben- bei Abgeordneten der FDP) verträgen erfolgt und der zusätzlich realisierbare Preis vermutlich immer noch attraktiv genug ist. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Eines steht aber auch für uns Linke fest: Wir wollen, Ich erteile das Wort Kollegin Kirsten Tackmann, dass die Rübe bleibt. Fraktion Die Linke. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, (Beifall bei der LINKEN) der SPD und der FDP) Denn die Verarmung an Kulturpflanzen ist ohnehin ein Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Problem. Auch ein weniger intensiver Anbau würde den Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Zuckerberg abbauen. In der Bioenergieerzeugung be- Kollegen! Liebe Gäste! Nach dem Diskurs über die Bett- kommt die Rübe vielleicht eine ganz neue Perspektive. gewohnheiten von Schweinen in der vergangenen Wo- che sprechen wir heute über den Zuckerberg. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesrepublik hat laut dem jüngsten Agrarbe- Die Profiteure der Neuordnung des EU-Zucker- richt beim Zucker einen Selbstversorgungsgrad von markts sind vermutlich nur die großen Zuckerverarbei- 141 Prozent erreicht, und das bei Rübenzucker, der auf ter. Von ihnen erwarten wir, dass sie diesen Vorteil zum dem Weltmarkt überhaupt nicht konkurrenzfähig ist. Das Erhalt der 250 000 Arbeitsplätze in der Branche nutzen. gelingt nur, weil der Zuckermarkt einer der am stärksten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl!) regulierten Märkte überhaupt ist. Es ist schon gesagt worden, dass in der EU der kos- Für die Verbraucherinnen und Verbraucher fordern wir (B) tendeckende A-Quotenpreis dreimal höher ist als auf eine Weitergabe dieses Vorteils über eine Lebensmittel- (D) dem Weltmarkt. Dafür liegt der Preis für den C-Quoten- preissenkung. Denn sie finanzieren diese Reform mit ih- exportzucker bei einem Zehntel des A-Quotenpreises, ren Steuern. damit er international überhaupt konkurrenzfähig ist. Sicher, auch der Zuckermarkt ist ein Spannungsfeld Damit gefährden die reichen EU-Länder die regionalen höchst unterschiedlicher Interessen. Gerade deshalb Märkte in den Entwicklungsländern. Andererseits wird brauchen wir eine zukunftsfähige politische Strategie. – auch das hat Herr Goldmann schon gesagt – billiger Regionale Märkte müssen geschützt und der internatio- Rohrzucker aus Lateinamerika vom EU-Markt fern ge- nale Handel mit kostendeckenden Preisen sowie sozialen halten. Dieser Markt ist nicht einmal wirtschaftlich sinn- und ökologischen Produktionsstandards fair gestaltet voll, von Aspekten wie sozial, ökologisch oder fair ein- werden. mal ganz abgesehen. Es muss sich also etwas ändern. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Quoten können dann durchaus ein sinnvolles politisches Die spannende Frage ist: Wer sind die Gewinner und Instrument auch auf der Ebene der WTO sein. wer sind die Verlierer? Für meine Fraktion ist klar, dass die Folgen der verfehlten Agrarstrukturpolitik nicht auf Vor allem aber muss sich die Grundphilosophie der den Schultern der 43 000 einheimischen Zuckerrübenan- Förderung der Landwirtschaft von einem Nachteilsaus- baubetriebe abgeladen werden dürfen. Nur deshalb stim- gleich hin zu einer Bezahlung gesellschaftlich gewollter men wir dem vorliegenden Gesetz zu, mit dem ein Teil- Leistungen ändern. Wir brauchen politische Rahmenbe- ausgleich für die Verluste der einheimischen Erzeuger dingungen für eine flächendeckende, die natürlichen infolge der Garantiepreissenkung geregelt wird. Ressourcen schonende und die Kulturlandschaft pfle- gende Landwirtschaft, in der auch die Zuckerrübe ihren (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Platz hat. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Mit diesem Plädoyer danke ich für die Aufmerksam- Diese Zustimmung ändert aber nichts an unserer deut- keit. lichen und grundsätzlichen Kritik am Umgang mit dem Problem. Die Regelungen setzen an der falschen Stelle (Beifall bei der LINKEN) an; sie sind halbherzig und zementieren altbekannte Un- gerechtigkeiten wie zum Beispiel die Benachteiligung Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ostdeutschlands bei der Quotenverteilung. Im Wesentli- Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Höfken, Fraktion chen ist das Gesetz die Fortsetzung einer falschen Politik des Bündnisses 90/Die Grünen. 1962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man muss klar hinzufügen: Die 13 AKP-Länder sind (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die Leidtragenden. Sie werden in ihren Konversions- Kollegen! Die Reform der Zuckermarktordnung schlägt maßnahmen nicht ausreichend unterstützt. Ich persön- sich jetzt also in dem Zweiten Gesetz zur Änderung des lich stehe sehr kritisch der Frage gegenüber, ob das, was Betriebsprämiendurchführungsgesetzes nieder. Das ist man mit der Zuckermarktreform bewirken will, in Län- wahrscheinlich der Weg in die unternehmerische Frei- dern wie Brasilien wirklich der Armutsbekämpfung heit und die Entbürokratisierung. Eine Eins-zu-eins-Um- dient. Denn Liberalisierungsschritte, bei denen gleich- setzung der EU-Vorgabe erfolgt damit wieder nicht. Wir zeitig die notwendigen Rahmenbedingungen fehlen unterstützen dieses Gesetz nur insofern, – das sagen auch die entwicklungspolitischen Gruppen; das ist nach den bisherigen Entwicklungen auch sehr (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr habt deutlich geworden –, tragen weder zur Bekämpfung der dagegen gestimmt!) Armut noch zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung als wir gesagt haben: Wir wollen mithelfen, den zeitli- bei. Man muss schon sehen: Auch der Umwelt wird eine chen Ablauf zu beschleunigen. solche Konzentration auf die Zuckererzeugung in Schwellenländern möglicherweise überhaupt nicht gut (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber?) tun. Ansonsten ist klar: Eine Veränderung der bestehenden Ganz klar ist auch: Die Ausgleichszahlungen in Zuckermarktordnung war dringend erforderlich. Wir ha- Höhe von etwa 6 Milliarden Euro werden fast aus- ben uns immer hinter die Ziele der Doharunde gestellt schließlich aus der Tasche der Verbraucher geleistet. und ganz klar für einen fairen Welthandel eingesetzt. Was die Zukunftsperspektiven, die Sie mit den Mit- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber im teln, die aufgebracht werden, für die ländlichen Regio- Ausschuss habt ihr dagegen gestimmt!) nen in Deutschland schaffen wollen, angeht, muss man ganz klar sagen – diesen Beitrag werde ich Ihnen nicht Man muss prüfen, was jetzt vorliegt: Dient es diesen ersparen –: Was Sie mit der einen Hand geben, reißen Zielen? An diesem Punkt – so muss man sagen – sind Sie mit dem „Arsch“ wieder ein. Lobhudeleien reichlich überflüssig. Frau Künast wäre bei dem gleichen Verhandlungsergebnis vermutlich von (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und der denjenigen, die jetzt in Jubelchöre ausbrechen, geteert FDP: Oh! Pfui!) und gefedert worden. – Ja. Mit der Streichung von Mitteln bei der Verordnung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- „Ländlicher Raum“ haben Sie eine unglaubliche Rasur SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christel von Geldern für die Diversifizierung und Konversion (B) Happach-Kasan [FDP]: Das haben wir nie ge- vorgenommen. (D) macht! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gleichzeitig soll eine Perspektive in der Äthanol- Wollt ihr mehr?) erzeugung liegen. Mit der Besteuerung der Biokraft- Man muss sich also fragen: Werden Millionen an EU- stoffe, die Sie gleichzeitig vornehmen, machen Sie diese Mitteln, Millionen an Steuergeldern für die Ziele einge- Perspektive für die Zuckerrübenerzeugung wieder zu- setzt, die wir unterstützen wollen? Ich muss dazu sagen: nichte. Sogar Betriebe wie Opel oder Ford beschweren Das Verhandlungsergebnis geht ganz klar zum einen an sich, dass Sie die gefällten Entscheidungen für Investi- tionen in erfolgreiche Kraftfahrzeuge, nämlich in die den entwicklungspolitischen Zielen und zum anderen an neuen Entwicklungen in diesem Bereich, völlig konter- der Unterstützung der ländlichen Räume, der kleinen karieren. Das heißt, Sie betreiben eine Politik, bei der und mittleren bäuerlichen Betriebe vorbei. Denn die Pro- Sie einerseits sagen, Sie möchten neue Perspektiven fiteure werden neben den Zuckerverarbeitern vor allem schaffen, die Sie jedoch andererseits durch eine völlig die Großbetriebe der Zuckerindustrie zulasten der klei- kontraproduktive Politik im Bereich der Besteuerung nen und mittleren Betriebe sein, die mittelfristig keine und im Bereich der Finanzen wieder zunichte machen. Perspektive mehr haben. Das kann nicht sinnvoll sein. Deshalb lehnen wir dieses (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Gesetz ab. doch nicht, was du da sagst! Ulrike, das sind Danke. alte Forderungen von Frau Künast!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stattdessen hätte man – das haben wir im Europäi- schen Parlament gefordert – eine radikale Mengen- begrenzung beschließen können. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollegin Höfken, ich unterstelle, dass Sie jenes Wort (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das war nie ohne Zweifel als ein Zitat unseres größten Klassikers eure Vorstellung! Das ist ja abenteuerlich!) verwendet haben. Dann wäre dieser hohe Preisausgleich – durch die Be- (Heiterkeit im ganzen Hause) schränkung auf den EU-Selbstverbrauch inklusive der Insofern geht es unbeanstandet durch. Menge, die von den AKP-Staaten und den Geberländern kommt – nicht notwendig gewesen. Einen Teil dieses Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Aufwandes hätte man sich dann gespart. Priesmeier, SPD-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1963

(A) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): entieren, diese Einkommensalternativen zu nutzen und (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe damit den Erhalt ihres Betriebes zu sichern. Kolleginnen und Kollegen! Uli Höfken, du bist vermut- lich nicht so mutig, zumindest das, was die Kritik an An dem erforderlichen Strukturwandel führt das na- dem Gesetz angeht, auf einer Versammlung von Zucker- türlich nicht vorbei. Das sehen wir in unserer Region in rübenbauern in Rheinland-Pfalz vorzutragen. Es gehört ganz besonderer Weise. Die Betriebe mit einer Größe ein bisschen mehr dazu, als hier nur banale Kritik zu von mehr als 100 Hektar wachsen, die kleineren Be- üben. Es geht doch wirklich um die Substanz. Zumindest triebe werden langsam aufgegeben. Dieser Entwicklung nach Kenntnisnahme und ausreichendem Studium dieses kann man sich unter marktwirtschaftlichen und ökono- Gesetzes kann man sagen, dass wir in der Substanz ein mischen Gesichtspunkten nicht entgegenstellen. Man vernünftiges Gesetzeswerk auf den Weg gebracht haben. sollte aber die Betriebe, die aufgeben wollen oder müs- Es passt in den Rahmen dessen, was wir mit der Umge- sen, begleiten. staltung der Gemeinsamen Agrarpolitik, mit der Entkop- Vor dem Hintergrund dieses Gesetzes gibt es die pelung begonnen haben. Es hat genau die gleiche Ziel- Möglichkeit, dies durchaus kompatibel zu gestalten, in- richtung. Ich glaube, wer sich von diesen Grundsätzen dem die auf den jeweiligen Betrieb bezogene Prämienre- verabschieden möchte, der täuscht sich im Hinblick auf gelung zunächst einmal bis 2010 aufrechterhalten bleibt die Möglichkeiten, die wir haben. und danach dann die flächenbezogenen Prämien sukzes- Bei aller Kritik an den Folgewirkungen der Zucker- sive abgeschmolzen werden. Jede andere Lösung wäre marktordnung kann man zumindest eines sagen: Der undenkbar gewesen. Alle diesbezüglichen Vorschläge bisherige Zustand hätte nicht aufrechterhalten werden sind im Bundesrat abgelehnt worden. Auch die Bayern können. Spätestens 2009 wäre der Zuckermarkt zusam- haben dem Gesetzentwurf zwar nur mit Widerwillen, mengebrochen. Das erkennt man im Augenblick an den aber letztendlich doch zugestimmt. auflaufenden Interventionsmengen, die sich in einer Größenordnung von zirka 1,5 Millionen Tonnen bewe- Ich glaube, dass wir als Konsequenz in Deutschland gen. Das hätte in der Fortschreibung spätestens 2009 in eine Zuckermarktwirtschaft zumindest für den Zeitraum einer Situation geendet, die für den gesamten Markt bis 2015 und darüber hinaus behalten werden. Der tech- nicht mehr tragbar gewesen wäre. nologische Fortschritt und der Fortschritt in der Ent- wicklung gerade im Bereich der Züchtung lassen hoffen. (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann Wir sind nicht mehr allzu weit weg von der 15-Tonnen- [FDP]) Rübe. Hier gilt es, diese Wettbewerbs- und Standortvor- teile zu nutzen, auch mit Blick auf die Konkurrenz zum Aus diesem Grund war es zwingend geboten, zu han- Zucker aus Zuckerrohr. Aber eines ist klar: Eine voll- (B) deln. Das ist von allen Beteiligten anerkannt worden. (D) ständige Liberalisierung kann es nicht geben, weil die Es hat eine von allen Betroffenen formulierte gemein- Rübe mit dem Rohrzucker dauerhaft nicht konkurrenzfä- same Position gegeben. Es gab eine große Abstim- hig ist, selbst wenn der Weltmarktpreis im Augenblick mungsrunde, in die sowohl der Deutsche Bauernverband wieder auf 350 Dollar pro Tonne gestiegen ist. Das ist als auch die beteiligte Zuckerwirtschaft und die politi- eine kurzfristige Entwicklung. Der Markt ist sehr volatil sche Ebene vor den Verhandlungen in Brüssel eingebun- und bewegt sich einmal rauf und einmal runter. den waren. Im Wesentlichen wurde das, was dort als Verhandlungslinie vereinbart worden ist, in Brüssel um- Aus dem Grunde fordere ich, dass wir bei der Ausge- gesetzt. Das ist für uns ein großer Erfolg; denn es ist das staltung der Modalitäten im Rahmen der WTO Zucker zum Tragen gekommen, was in besonderer Weise unsere zum sensiblen Produkt machen und die spezielle Schutz- Strukturen, die durchaus wettbewerbsfähig sind, si- klausel auch für uns nutzen. chert, das heißt, wir können in Deutschland auch künftig Danke schön. noch Zuckerrüben anbauen und wir werden eine hervor- ragend aufgestellte Zuckerwirtschaft behalten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh!) CDU/CSU) Das sage ich als jemand, der aus einer Region kommt, Vizepräsident Wolfgang Thierse: die an diesem Kompromiss schwer zu knabbern hat, als Ich schließe die Aussprache. jemand, der aus Südniedersachsen kommt und weiß, wie Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- hoch die Wertschöpfung beim Zucker in der gesamten desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Region ist. Sie beträgt nämlich fast 55 Millionen Euro. rung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes. Das Ich weiß auch, was es bedeutet, wenn die Betriebserträge sind die Drucksachen 16/858 und 16/912. Der Ausschuss in der Fortschreibung bis 2013 um bis zu 40 Prozent sin- für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ken werden. empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf In dieser Situation sollte man die Hände jedoch nicht Drucksache 16/964, den Gesetzentwurf anzunehmen. in den Schoß legen. Die Optionen sind vielmehr aufge- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen zeigt. Dazu gehören vor allen Dingen Investitionen in wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Biomasse. Die Betriebe, die bislang überwiegend vom Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Zucker gelebt haben, sind durchaus bereit, sich umzuori- Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP 1964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Vizepräsident Wolfgang Thierse (A) und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von bilateral und auf europäischer Ebene dazu beizutragen, (C) Bündnis 90/Die Grünen angenommen. dass alle politischen Gefangenen in Kuba unverzüglich freigelassen werden, Dritte Beratung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- gemeinsam mit den EU-Partnern gegenüber der kubani- wurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in der schen Regierung die Aufhebung des Reiseverbots für die zweiten Lesung angenommen. „Damen in Weiß“ und Oswaldo Payá Sardiñas zu for- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- dern und dafür einzutreten, dass die im Jahr 2005 ver- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- schärften Repressionen gegen die Opposition von der cherschutz zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der kubanischen Regierung zurückgenommen werden. CDU/CSU und SPD zur Änderung des Betriebsprämien- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durchführungsgesetzes, Drucksache 16/964. Der Aus- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) schuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfeh- lung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/644 für Damit haben wir die Forderung des Europäischen erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- Parlamentes, die mit Stimmen aus allen hier im Haus empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- vertretenen Parteien beschlossen wurde, aufgegriffen. schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Wir machen kein Copyright geltend, sondern sagen: Das Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenom- verdient die Unterstützung des Deutschen Bundestages. men. Ich bin ein bisschen traurig, dass unser Angebot, den Antrag gemeinsam einzubringen, bislang nicht aufge- Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 13 a und griffen wurde. In dieser Woche waren wir fast so weit, 13 b auf: mit CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen Text zu be- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker schließen. Wir haben das auch der Linksfraktion angebo- Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, ten. – Wir sind ja nicht so. Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordne- (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE NEN) GRÜNEN Leider wurde unser Angebot von keiner Seite aufgegrif- Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba einfor- fen. Ich meine, wir sollten jetzt im Ausschuss gemein- (B) dern sam dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag in dieser (D) – Drucksache 16/934 – wichtigen Menschenrechtsdebatte zu einer gemeinsamen Position findet. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Die Menschenrechtssituation in Kuba ist weiterhin Auswärtiger Ausschuss besorgniserregend. Insbesondere Presse- und Meinungs- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina freiheit werden massiv eingeschränkt. Nach wie vor Schuster, Florian Toncar, Burkhardt Müller- sitzen Dutzende Menschenrechtsverteidiger und ge- Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion waltlose Dissidenten unter menschenunwürdigen Bedin- der FDP gungen in Haft. Die Zahl der politischen Gefangenen wird derzeit auf über 300 geschätzt. Viele der Inhaftier- Menschenrechte in Kuba einfordern und die ten sind nach Berichten schwer krank und erhalten kei- kubanische Zivilgesellschaft fördern nen oder nur mangelhaften Zugang zu einer Gesund- – Drucksache 16/945 – heitsversorgung. Darüber hinaus mehren sich die Überweisungsvorschlag: Berichte über Misshandlungen dieser Häftlinge. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Das Europäische Parlament hat den kubanischen Ausschuss für Kultur und Medien „Damen in Weiß“ im Dezember 2005 den Sacharow- Preis für Menschenrechte verliehen. Die „Damen in Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Weiß“ sind Familienangehörige der im Jahr 2003 verhaf- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre teten und verurteilten Regimekritiker, die seitdem coura- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. giert für die Freilassung ihrer Angehörigen sowie für das Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Recht auf freie Meinungsäußerung in Kuba demonstrie- Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das ren. Die kubanische Regierung verweigert dieser Gruppe Wort. trotz vieler Bemühungen die Ausreise, um den Preis ent- gegenzunehmen. Auch Oswaldo Payá Sardiñas, Sacharow-Preisträger des Europäischen Parlamentes von Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 2002, wird immer noch die Freiheit zur Aus- und Wie- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be- dereinreise nach Kuba verweigert. schäftigen uns heute auf Grundlage eines Antrages unse- rer Fraktion mit der Menschenrechtssituation in Kuba. In Das sind skandalöse Zustände, die ein klares Wort des diesem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, Deutschen Bundestages erfordern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1965

Volker Beck (Köln) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wer bei Menschenrechten seinen Freunden einen Rabatt (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gibt, ist ein schlechter Freund. SPD und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Im Zusammenhang mit der kubanischen Politik muss bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) man sich aber selbstverständlich überlegen – das tun wir in unserem Antrag –, mit welchen Maßnahmen, mit wel- Vizepräsident Wolfgang Thierse: chem Regime man Maßnahmen gegenüber der kubani- Kollege Beck, Sie müssen bitte zum Ende kommen. schen Regierung durchsetzen kann. In unserem Antrag verweisen wir darauf, dass wir die Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Blockadepolitik der amerikanischen Regierung – so, wie Die Menschenrechtspolitik unseres Landes ist nur sie gegenwärtig angelegt ist – nicht für hilfreich halten. dann glaubwürdig, wenn wir nirgendwo wegschauen, Vorsichtig ausgedrückt, muss man sagen, sie hat eine überall hinschauen und an der Seite der Menschenrechts- positive Veränderung für die kubanische Bevölkerung verteidiger in allen Ländern stehen, die tapfer für Demo- eher behindert. Vielmehr diente und dient das US-Em- kratie und Rechtsstaatlichkeit streiten. bargo mit seiner Verschärfung im Jahr 2004 systemsta- bilisierend, weil es der kubanischen Führung einen Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wand für seine Politik liefert. Leid tragend ist die SPD und der FDP) Bevölkerung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Wolfgang Thierse: sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU- FDP) Fraktion. Dies zu sehen und zu kritisieren, bedeutet aber nicht, (Zuruf von der LINKEN: Ein Kämpfer gegen dass man zu den Menschenrechtsverletzungen schwei- die Todesstrafe in den USA!) gen und im Engagement nachlassen darf, auch wenn man hier im Haus über die Instrumente, mit denen das Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ziel erreicht werden kann, vielleicht durchaus streitet. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir aber kritisiert werden, weil wir die Men- Zunächst möchte ich – was den üblichen Usancen im schenrechtspolitik eines Landes hier im Deutschen Bun- Parlament nicht ganz entspricht – den beiden Oppositi- destag zur Sprache bringen, finde ich eine Ungeheuer- onsfraktionen, die Anträge zu Kuba eingebracht haben, (B) lichkeit. Der Parlamentarische Geschäftsführer der dafür herzlich danken, (D) Linksfraktion sagt, auf Kuba gelte die Todesstrafe und (Zurufe von der LINKEN: Oh!) die Behandlung von Homosexuellen sei auch inakzepta- bel, aber das Gleiche gelte für etliche amerikanische weil ich es gut finde, dass das Thema Kuba auf die Ta- Bundesstaaten. gesordnung des Deutschen Bundestages kommt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der FDP) Es sei doch seltsam, wie unterschiedlich Menschen- rechte wahrgenommen würden, je nachdem, ob der je- Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger machen, weil es weilige Staatschef mit den USA befreundet sei oder relativ günstig ist, auf Kuba Urlaub und bekommen dort nicht. ein Scheinbild vorgeführt. Die bittere Wahrheit für die Bürgerinnen und Bürger in Kuba ist: In Kuba lebt und (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu- überlebt immer noch eines der letzten stalinistischen ruf von der LINKEN: Was ist daran falsch?) Regime in der Welt. Ich finde, es ist ein Skandal, dass Sie hier klatschen. (Lachen bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die Menschenrechtsverletzungen auf Kuba verschlim- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) mern sich weiter. Verhaftungen von Dissidenten gehören Denn die rot-grüne Koalition hat in der letzten Wahlperi- nach wie vor zum gängigen Instrumentarium des kubani- ode Anträge zu den USA verabschiedet: Im Folterantrag, schen Regimes unter Fidel Castro. Fidel Castro wird im der vom Bundestag beschlossen wurde, werden die Zu- Alter nicht weiser oder gnädiger; stände in Guantanamo kritisiert. Wir haben eigens einen (Zuruf von der LINKEN: Er wird immer Antrag zum Umgang der Amerikaner mit der Todes- schlauer!) strafe eingebracht. vielmehr nimmt die Repression zu. Wir schauen bei Freund und Feind, bei Gegnern und bei engen Verbündeten gleichermaßen auf die Einhal- In den vergangenen Monaten sind die Haftbedingun- tung der Menschenrechte. gen für die in kubanischen Gefängnissen einsitzenden Dissidenten nochmals drastisch verschärft worden. An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehörige von Dissidenten werden ebenso wie deren Um- und bei der SPD) feld zunehmend von regierungstreuen Gruppen unter 1966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Druck gesetzt. Inhaftierte Dissidenten, deren Angehö- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (C) rige im In- und Ausland auf die Verstöße der kubani- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen Regierung gegen die Menschenrechte aufmerksam machen, werden erpresst. Falls sich die Angehörigen Es ist für die internationale Menschenrechtspolitik weiterhin für ihre Freilassung einsetzen, drohen Konse- nicht nur gefährlich, sondern sogar katastrophal, dass quenzen. Dies ist auch mit Blick auf die medizinische sich auch politische Gruppierungen zu Wort melden, die Versorgung der Inhaftierten höchst alarmierend, die in offensichtlich nicht wissen, dass der Kalte Krieg zu vielen Fällen durch die Familie getragen werden muss. Ende ist. Deswegen glaube ich, dass es unsere Aufgabe Die Meinungs- und die Pressefreiheit, die Versamm- als Deutscher Bundestag ist, für die Unteilbarkeit der lungs- und die Reisefreiheit werden unterdrückt. Menschenrechte überall auf der Welt, auch und gerade in Kuba, einzutreten. Deswegen ist es gut, dass das Europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit dazu klar Stellung Worum es geht, ist, dass der Wahrung der Menschen- genommen hat und für Europa dafür eingetreten ist, dass rechte, der Demokratie, der Freiheit und dem Rechts- wir gemeinsam auf die Einhaltung der Menschenrechte staat, nicht aber der Unterstützung antidemokratischer Wert legen. Ich finde es gut, wenn wir als Deutscher Regime unter dem Deckmantel der sozialistischen Ver- Bundestag uns dieser Resolution des Europäischen brüderung zum Durchbruch verholfen werden muss. Parlaments möglichst geschlossen anschließen. Auch als Bundestag stehen wir in der Verantwortung, für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Einhaltung der Menschenrechte und für die Stär- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- kung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivil- SES 90/DIE GRÜNEN) gesellschaft einzutreten. Befremdlich stimmen muss allerdings, dass im Deut- (Zuruf von der LINKEN: Wie ist das denn, schen Bundestag nun eine politische Gruppierung sitzt, wenn es um Abschiebungen geht?) (Lachen bei der LINKEN – Zuruf von der Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, die auf Demo- LINKEN: Che Guevara!) kratie, Rechtstaatlichkeit und Stärkung der Zivilgesell- die ihre eigenen Europaabgeordneten, die der richtigen schaft ausgerichteten Kräfte in Kuba zu stärken und ih- und guten Entschließung des Europäischen Parlaments nen nicht in den Rücken zu fallen. zu Kuba zugestimmt haben, nicht nur im Regen stehen Das so genannte Varela-Projekt, in dessen Rahmen lässt, sondern auch politisch ausgrenzt. Das ist der ei- Unterschriften für die Abhaltung eines durch die gel- gentliche Skandal in der deutschen Politik, was Kuba an- (B) tende kubanische Verfassung vorgesehenen Referen- (D) belangt. dums gesammelt werden, um unter anderem die Rede- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Pressefreiheit durchzusetzen, ist eine bedeutsame zi- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- vilgesellschaftliche Initiative, die auf die friedliche Ge- SES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der währleistung der Grund- und Menschenrechte abzielt. LINKEN) Bisher konnten in Kuba im Rahmen des Varela-Projekts etwa 30 000 Unterschriften gesammelt werden, womit Wenn die PDS in ihrem Parteivorstandsbeschluss die in der Verfassung vorgesehene Mindestzahl von (Zuruf von der LINKEN: Linkspartei!) 10 000 Unterschriften bereits weit überschritten ist. von notwendiger Solidarität mit dem sozialistischen Aber Herrn Castro interessieren diese Unterschriften Kuba spricht und ihre eigenen Europaabgeordneten nicht und ihn interessiert erst recht seine eigene Verfas- maßregelt, weil sie der menschenrechtsorientierten Ent- sung nicht. Das ist leider eine Tatsache. Das Castro-Re- schließung des Europaparlaments zugestimmt haben, gime weigert sich, diese Unterschriftensammlung anzu- dann zeigt sich eines: Hier sitzt keine neue Linke, hier erkennen und ein entsprechendes Referendum in die sitzen die alten stalinistischen Betonköpfe im Parlament. Wege zu leiten. Im Gegenteil: Einem der Initiatoren des Varela-Projekts, Oswaldo Payá, wird es sogar verwei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gert, Kuba für Auslandsreisen zu verlassen. neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch und La- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Europäi- chen bei der LINKEN) sche Union hat im vergangenen Jahr, indem sie die so Die internationale Menschenrechtspolitik hat in genannten politischen Maßnahmen gegenüber Kuba ge- den vielen Jahrzehnten des so genannten Kalten Krieges lockert hat, den Versuch gestartet, in einen kritischen darunter gelitten, dass die einen auf dem rechten und die Dialog mit Kuba einzutreten. Heute, ein Jahr später, anderen auf dem linken Auge blind waren. Menschen- müssen wir feststellen, dass auch dieses Entgegenkom- rechtsverletzungen derjenigen, die mit den USA bzw. men der Europäischen Union auf der kubanischen Seite dem Westen verbündet waren, wurden etwas milder be- leider keine Antwort gefunden hat. Castro bleibt der Be- urteilt als Menschenrechtsverletzungen auf der anderen tonkopf, der er ist. Er bewegt sich in keine Richtung. Seite. Gott sei Dank – das ist ein großer Fortschritt – ist Deswegen muss auf dem bevorstehenden Lateinameri- der Kalte Krieg zu Ende. Endlich wird allen klar, dass kagipfel der Europäischen Union in Wien ein scho- die Menschenrechte unteilbar sind. nungsloses und offenes Resümee gezogen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1967

Peter Weiß (Emmendingen) (A) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: „Scho- des Stalinismus gerückt; wahrscheinlich würden Sie es (C) nungslos“ auch mit dem Imperialismus der mit Che Guevara auch tun. Meine Frage an Sie: Wissen USA!) Sie, dass der Stalinismus mit Millionen Toten, mit dem Gulag verbunden ist? Ist dies nicht eine Verharmlosung Dazu gehört, dass wir uns auf eine, wie ich glaube, des Stalinismus und eine Verhöhnung der Opfer? gute Zukunftsstrategie einstellen müssen. Es ist offen- kundig: Das aktuelle kubanische Regime unter Fidel (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Castro ist weder reformwillig noch reformfähig. Den- NEN]: Wie ist das, wenn man Biermann be- noch gibt es in Kuba, vor allen Dingen in den dortigen spitzelt hat? – Zuruf von der CDU/CSU: Ste- Nichtregierungsorganisationen, viele Menschen, die be- hen bleiben! – Zuruf von der FDP: Die Hände reit sind, den demokratischen Wandel ihres Landes aus den Taschen nehmen! – Josef Philip selbst in die Hand zu nehmen. Durch unsere Außenpoli- Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der tik, unsere Entwicklungszusammenarbeit und unsere Vergleich mit der DDR wäre besser gewesen!) Menschenrechtspolitik sollten wir diejenigen stärken und unterstützen, die den demokratischen Wechsel und Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): die Veränderung in Kuba selbst in die Hand nehmen Herr Kollege Dehm, die Verfolgung und Inhaftierung wollen. Ihnen sollten wir unsere Solidarität beweisen: politischer Dissidenten in Kuba und die Behandlung der nicht nur durch Resolutionen des Bundestages, sondern Angehörigen dieser Dissidenten durch das kubanische auch durch das konkrete Handeln in der deutschen Au- Regime ist genau das, was Stalin und andere Machthaber ßenpolitik und in der Entwicklungszusammenarbeit. ähnlicher Couleur uns vorexerziert haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Zuruf von der LINKEN: Das ist ja unglaub- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich!) Bedauerlich ist, dass die Mitgliedstaaten der Europäi- Nun muss ich noch etwas zur Behandlung von Mit- schen Union in den vergangenen Monaten, was ihre Be- gliedern der eigenen Partei oder Fraktion sagen; das ist ziehungen zu Kuba und vor allem ihren Umgang mit den etwas, das jede unserer Fraktionen betreffen kann. In al- Dissidenten angeht, eine zum Teil sehr unterschiedliche len Fraktionen des Deutschen Bundestages gibt es zu Praxis gewählt haben. Jetzt können wir im Bundestag so verschiedenen Fragen unterschiedliche Meinungen. viele Resolutionen beschließen, wie wir wollen, wir wis- Dass aber Abgeordnete einer Partei, die auch im Deut- sen: Handlungsfähig sind wir und ernst genommen wer- schen Bundestag vertreten ist, die im Europäischen Par- den wir international vor allem dann, wenn Europa mit lament zu Recht zu dem stehen, was Europa ausmacht einer Stimme spricht. – das Bekenntnis zur Würde des Menschen und zu den (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Menschenrechten –, dafür gemaßregelt werden, wie sie neten der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/ gemaßregelt worden sind, das erinnert mich mehr an DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Stalin als an Demokratie. FDP) (Widerspruch bei der LINKEN) Deswegen habe ich an die Bundesregierung die herzli- Vielen Dank. che Bitte, alles zu unternehmen, damit wir in der Euro- päischen Union wieder zu einer einheitlichen, klaren, an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Menschenrechten orientierten Kubapolitik finden neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- und diese gemeinsam vertreten. Im Interesse der Men- SES 90/DIE GRÜNEN) schen in Kuba hoffe ich, dass wir damit Erfolg haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsident Wolfgang Thierse: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich erteile das Wort Kollegin Marina Schuster, FDP- Fraktion. Vizepräsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP) Kollege Weiß, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern? Der Kollege Dehm möchte Ihnen eine Zwischenfrage Marina Schuster (FDP): stellen. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen und Kollegen! Das Europäische Parlament hat An- NEN]: Herr Dehm ist Menschenrechtsexper- fang Februar die nach wie vor verheerende Menschen- te! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Stasispit- rechtslage in Kuba kritisiert. Es hat die Mitgliedsländer zel!) und die EU-Institutionen aufgefordert, von Havanna un- missverständlich eine Verbesserung der Situation einzu- fordern. Das war eine wichtige Resolution unserer euro- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): päischen Kollegen, der sich die FDP-Bundestagsfraktion Ja. uneingeschränkt anschließt. (Beifall bei der FDP) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Herr Kollege, Sie haben Fidel Castro als Stalinisten Die Entschließung des Europäischen Parlaments hat bezeichnet und auch die Fraktion der Linken in die Nähe einige Medienaufmerksamkeit erlangt: Denn ausnahms- 1968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Marina Schuster (A) weise sind einzelne Mitglieder der deutschen Linken terstützt würden, sondern die Zivilgesellschaft (C) quasi über ihren eigenen Schatten gesprungen und haben unterstützt werden könnte. sich erlaubt, an ihrer Ikone Fidel Castro zu kratzen. Er- schreckenderweise sind offensichtlich noch nicht alle In dieselbe Richtung zielt unsere Forderung, die Aus- Vertreter der Linken so weit, Wahrheiten beim Namen zu tauschmöglichkeiten im Schul- und Bildungsbereich nennen. noch weiter zu intensivieren. Wie ist denn die Lage in Kuba? Die meisten der muti- Wir glauben, dass das Internet eine wichtige Basis gen Dissidenten des Varela-Projektes sitzen jetzt schon zur Stärkung der Informations- und Meinungsfreiheit in drei Jahre unter katastrophalen Bedingungen in kubani- Kuba bieten könnte. Wir wollen gemeinsam nach Mög- schen Gefängnissen. Die Angehörigen dieser Inhaftier- lichkeiten suchen, dieses Medium für die Kubaner bes- ten, die so genannten Damen in Weiß, werden in ihrem ser zugänglich zu machen. Einsatz für ihre Angehörigen und für die Menschen- Wir meinen, dass die Europäische Union zu einer kri- rechte unterdrückt; mein Vorredner hat es zur Sprache tischen Kubapolitik kommen muss, bei deren Formulie- gebracht. Immer wieder werden Dissidenten willkürlich rung sich auch die deutsche Bundesregierung stärker und zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Presse- und Mei- aktiver einbringen muss. Wir sind gerne bereit, nach nungsfreiheit wird vom Castro-Regime genauso unter- Überweisung der Anträge an die Ausschüsse an einem drückt wie die Versammlungsfreiheit. Die freie Nutzung interfraktionellen Entschließungsantrag mitzuarbeiten; des Internets wird den Kubanern verwehrt, weil das Re- denn das wäre ein wichtiges, ein überparteiliches Signal gime befürchtet, dass die Opposition sonst weiteren an das Regime in Havanna. Zulauf erhalten würde. Von einem sozialistischen Mus- terland – in Anführungszeichen – ist Kuba trotz Verbes- Vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder serungen bei der Alphabetisierung oder bei der Gesund- und einige Kollegen der Linken im Deutschen Bundes- heitsversorgung meilenweit entfernt. tag sind bereit, sich mit der Realität in Kuba kritisch aus- einander zu setzen, (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) (Zurufe von der LINKEN) Umso bedenklicher ist es, dass sich einige der linkspo- so, wie das die drei linken Einzelkämpfer im Europapar- pulistischen Führer, die kürzlich in Lateinamerika ge- lament schon getan haben. Denn ich meine: Das Eintre- wählt wurden, ausgerechnet Havanna zum Vorbild zu ten für die Freiheits- und Menschenrechte verdient und nehmen scheinen. erfordert die breite Unterstützung in diesem Hohen Haus und kein Wegschauen zugunsten eines fälschlicherweise Das zeigt: Wir dürfen Kuba, wo Menschenrechtsver- (B) romantisierten Bildes von Kuba als „Sozialismus unter (D) letzungen begangen werden, nicht weiter im doppelten Palmen“. Wortsinn links liegen lassen. Wir dürfen uns nicht mit der Haltung zufrieden geben, das Problem werde sich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aufgrund des hohen Alters des kubanischen Revolutions- der CDU/CSU) führers irgendwann von ganz alleine lösen. Das kann nicht die Antwort auf die Verletzung von Freiheitsrech- Vizepräsident Wolfgang Thierse: ten sein. Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Strässer, (Beifall bei der FDP) SPD-Fraktion.

Deshalb ist die heutige Debatte im Deutschen Bun- Christoph Strässer (SPD): destag so wichtig. Wir dürfen hierzu nicht schweigen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Die FDP legt Ihnen aus diesem Grund einen eigenen An- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt, wie trag vor. Wir begrüßen zwar ausdrücklich den Antrag der schon gesagt worden ist, zu der heutigen Debatte keinen Grünen, in dem sie sich den Forderungen des Europapar- eigenen Antrag der Koalitionsfraktionen. Wir in der laments anschließen, meinen aber, mit unserem Antrag SPD-Fraktion sind der Auffassung, dass der richtige Ter- über die Forderungen der Grünen hinauszugehen und min, intensiv über diese Problematik zu diskutieren, im konkretere Vorschläge zu machen. Mai oder Juni sein wird, wenn es in Wien zum EU-Gip- Ich nenne Ihnen einige Punkte unseres Antrags: fel zu Lateinamerika und der Karibik – er ist schon genannt worden – kommen wird. Dann werden wir uns Die Auslandsvertretungen der EU-Staaten in Havanna mit dem Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen müssen weiterhin ganz gezielt den Kontakt zu den Op- in Kuba sehr vehement in diese Diskussion einmischen positionellen und Dissidenten pflegen, auch wenn das und werden sie begleiten. Sie können davon ausgehen, dem Castro-Regime nicht passt. dass wir uns in dieser Diskussion neben den anderen Europäische und deutsche Entwicklungshilfe für Themen, um die es gehen wird, zu den Menschenrechts- staatliche Stellen in Kuba lehnen wir ab. Aber diese verletzungen in Kuba äußern werden. Frage stellt sich, zumindest vorerst, nicht, weil Castro (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten selbst den Europäern die Entwicklungszusammenarbeit der CDU/CSU) verweigert. Wir halten die Eröffnung eines Goethe-In- stituts für die wesentlich sinnvollere und wirkungsvol- Es besteht Anlass, dann über dieses Thema zu spre- lere Maßnahme, weil so nicht staatliche Strukturen un- chen. In der aktuellen Diskussion über die Entschließung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1969

Christoph Strässer (A) des EU-Parlaments ist über den Anlass zum Teil schon rechtspreis bekommen haben, den sie nicht annehmen (C) gesprochen worden. Ich will das nicht alles wiederholen. dürfen. Dazu schweigen wir nicht. Ich möchte aber Folgendes deutlich machen: Wenn es (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem um Menschenrechte geht, höre ich von der linken Seite BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den einen oder anderen Zwischenruf, wie zum Beispiel das Stichwort „Folterverbot“. Ich finde, das ist eine klare Aussage: Sie können die Blockadepolitik der USA doch nicht dafür verantwort- (Zuruf von der LINKEN: Jawohl!) lich machen, dass in Kuba Menschen im Knast sitzen, Ich darf daran erinnern, dass wir in der Diskussion zum weil sie ihre Meinung sagen wollen. Das geht doch wohl Folterverbot vor circa einem Jahr in diesem Hause ge- nicht. Das ist doch eine völlige Verkennung der allge- gen populistischen Widerstand und gegen populistische meinen Rechte, die wir uns lange erstritten haben. Medienschelte klargestellt haben, dass das Folterverbot (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem in diesem unserem Land absolute Geltung hat, während BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender durchs Land gereist ist und gesagt hat, man müsse in bestimmten Situationen Weil wir das ja unter menschenrechtlichen Aspekten über Relativierungen nachdenken. Sie sollten erst vor Ih- diskutieren, möchte ich an dieser Stelle auch noch ein- rer eigenen Haustür kehren, bevor Sie die Unantastbar- mal daran erinnern, dass das, was dort eingeklagt wird, keit der Menschenrechte ansprechen. Das will ich Ihnen nichts Neues ist und auch nichts mit Imperialismus zu ganz deutlich sagen. tun hat. Das ist das Einklagen der Allgemeinen Erklä- rung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, in der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem steht, dass jeder Mensch in der Lage sein muss und das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Recht hat, sein Land zu verlassen und wieder dorthin zu- geordneten der FDP) rückzukehren, wann er es will. Es geht weiter: Ich bin mir sehr sicher, dass wir die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Diskussion über die Geltung der Menschenrechte in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kuba auch in eine politische Diskussion mit einbetten müssen. Auch kubanische Oppositionelle, die im Land Das ist in der Geschichte nicht immer praktiziert wor- geblieben sind, sind wie ich der Auffassung, dass das den, aber jetzt sollten wir es damit wirklich einmal ernst Helms-Burton-Gesetz und die Blockade der USA eben meinen. Unter diesem Aspekt glaube ich, dass es gut und nicht dazu beitragen, Kuba die Gelegenheit zu geben, an richtig ist, die Menschenrechtslage in Kuba – eingebettet bestimmten Stellen Fortschritte zu machen. Ich finde, in die politische Diskussion – zu thematisieren und darü- (B) das sollte man auch politisch deutlich benennen, und das ber zu reden. (D) tue ich an dieser Stelle. Ganz zum Schluss sei auch mir ein wenig Polemik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestattet. Ich habe einer Presseerklärung Ihrer Partei ent- DIE GRÜNEN) nommen – es war der letzte Satz –: Die PDS.Linkspartei steht fest an der Seite des kubanischen Volkes. Auch das will ich klar sagen: Damit ist aber nicht ver- bunden, über das, was im Lande vorgeht und von dem (Beifall bei der LINKEN) wir durch internationale Menschenrechtsorganisationen Wer solche Freunde wie Sie hat, der braucht keine Sorge wissen, zu schweigen. Dazu werden und dürfen wir nicht zu haben, dass er keine Gegner mehr hat. Solche schweigen. Freunde brauchen wir nicht. Wir werden im Deutschen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Bundestag dafür sorgen, dass das kubanische Volk aus BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland die Unterstützung für die Umsetzung seiner wirtschaftlichen, sozialen und Menschenrechte erhält, Deshalb zitiere ich aus einem, wie ich hoffe, auch aus Ih- die es braucht. rer Sicht unverfänglichen Bericht, nämlich dem Jahres- bericht 2005 von Amnesty International: Danke schön. Das US-Embargo und damit verbundene Sanktio- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP nen wirken sich nach wie vor nachteilig auf die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wirtschaftlichen Rechte der Bürger aus. Ich zitiere noch einmal und wiederhole: Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegen Michael Leutert, Fraktion Die … wirken sich nach wie vor nachteilig auf die wirt- Linke, das Wort. schaftlichen Rechte der Bürger aus. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Das ist so. Wer das (Beifall bei der LINKEN) aber zum Anlass nimmt, über die Verletzung der bürger- lichen und der Freiheitsrechte auf dieser Insel zu schwei- Michael Leutert (DIE LINKE): gen und die Verantwortlichen falsch zu benennen, der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- betrügt die Menschen in Kuba, die im Knast sitzen, die nächst: Ich freue mich sehr, dass die Linke im Bundestag ausreisen und nichts anderes wollen, als ihre Meinung zu Platz genommen hat und ich die Möglichkeit habe, hier sagen, und die in Europa zu Recht einen Menschen- einen alternativen Standpunkt darzulegen. 1970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Michael Leutert (A) Lassen Sie mich, damit keine Missverständnisse auf- Punkt eins: Die erste Forderung bei Menschenrechten (C) kommen, gleich am Anfang sagen: Auch die Linke weiß ist, dass sie überall gleich gelten sollen. Punkt zwei: sehr wohl, dass es in Kuba zu Verletzungen von Men- Menschenrechtsverletzungen sollen überall da, wo sie schenrechten kommt. stattfinden, gleichermaßen gerügt werden. In Bezug auf Saudi-Arabien oder die Volksrepublik China stelle ich (Zuruf von der FDP: Aha!) einen völlig anderen Umgang als bei Kuba fest. Im Unterschied zu Ihnen haben wir mit den Kubanerin- (Beifall bei der LINKEN) nen und Kubanern aber sehr oft darüber gesprochen. Das Problem bei dieser Debatte ist doch, dass es Ihnen – das Dort wird über ökonomische Beziehungen und über Ge- haben Ihre Debattenbeiträge gezeigt – überhaupt nicht spräche versucht, schrittweise eine Verbesserung der um die Menschenrechte und die Menschen in Kuba geht. Menschenrechte zu erreichen, was ich begrüße. Aber Sie haben lediglich das Abstimmungsverhalten im Euro- warum gehen Sie diesen Weg bei Kuba nicht? Das ist päischen Parlament und die Debatte in unserer Partei meine Frage. dazu beobachtet. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!) Es gibt zum Beispiel einen Dialog über die Menschen- Jetzt glauben Sie, unsere Fraktion mit solchen Anträgen rechte mit China. hier vorführen zu können. Kuba ist auch mit den ehemals sozialistischen Staaten (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE in Osteuropa nicht vergleichbar. GRÜNEN]: Mit Ihren Zurufen haben Sie sich selbst vorgeführt!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aha!) – Herr Beck, es gab Zeiten, als Ihre Partei die Menschen- In Kuba hat es eine Revolution gegen den absolut kor- rechte ernst genommen hat. Ich denke aber, dass diese rupten Diktator Batista gegeben. Zeiten, seit Sie ernsthaft meinten, die Menschenrechte (Christoph Strässer [SPD]: Das ist richtig!) im Kosovo mit Bomben auf Belgrad verteidigen zu müs- sen, vorbei sind. Das haben die USA bis heute nicht verkraftet. In Ha- vanna gibt es keine offizielle Botschaft der USA. Aber (Beifall bei der LINKEN) es gab sehr wohl immer eine Botschaft der USA wäh- Sie haben unter dem Deckmantel der Menschenrechte rend des Pinochet-Regimes in Chile und unter dem Fa- einen Krieg mit angezettelt, der Tausende von unschul- schisten Franco in Spanien. (B) digen Opfern gefordert hat. Das ist ein rein instrumentel- (D) (Christoph Strässer [SPD]: Nur, die sind doch les Verhältnis zu Menschenrechten. Ein solches Verhält- weg!) nis lehnen wir ab – das ist bezeichnend –; denn das ist unerträglich. Dort gab es offensichtlich nie Probleme. (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- (Beifall bei der LINKEN) mendingen] [CDU/CSU]: Was im Kosovo los war, haben Sie nicht gemerkt, oder?) Von Anfang an haben die USA ein Embargo über Kuba verhängt. Firmen werden Sanktionen angedroht, wenn sie Wirtschaftsbeziehungen zu Kuba unterhalten. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Bekannt ist ebenso, dass die USA nicht bloß bereit dazu Kollege Leutert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des waren, sondern die Invasion in der Schweinebucht tat- Kollegen Beck? sächlich durchgeführt haben. Bekannt dürfte auch Ihnen sein, dass der demokratisch gewählte Präsident von Michael Leutert (DIE LINKE): Chile, Salvador Allende, in einem reaktionären Militär- Na klar. putsch gestürzt wurde, der von den USA und ihrem Ge- heimdienst CIA unterstützt wurde. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) Finden Sie, dass der Besuch von Herrn Gysi bei Herrn Milošević die angemessene Antwort auf die Menschen- Ich möchte, dass zur Kenntnis genommen wird, dass rechtssituation im ehemaligen Jugoslawien war? sich die Politik unter genau diesen Umständen in Kuba entwickelt hat. Diese Politik in Kuba hat verschiedene (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Seiten und ist differenziert zu bewerten. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Michael Leutert (DIE LINKE): Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ja, Herr Beck, weil wir auf Dialog setzen, um die Kollegen Toncar von der FDP-Fraktion? Menschenrechtssituation zu verbessern. Hören Sie ein- fach weiter zu. Dazu komme ich noch. Michael Leutert (DIE LINKE): (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn das nicht von meiner Redezeit abgeht, ja. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1971

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Nein, das geht es nicht. NEN]: Er ist am Ende!) Wir haben von Anfang an die Todesstrafe nicht nur in Florian Toncar (FDP): Kuba kritisiert, sondern auch in den USA, in China und Die Frage ist kurz. Wie ist die Haltung der Linkspar- anderen Ländern. tei zu den beiden vorgelegten Anträgen? (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der LINKEN: Sie können doch we- nigstens die Rede abwarten!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überschritten. Michael Leutert (DIE LINKE): Hören Sie zu, ich komme gleich darauf zu sprechen. Michael Leutert (DIE LINKE): Wir aber führen diesen Dialog gemeinsam mit den Ich komme jetzt zu der Differenzierung. In Kuba gibt Kubanerinnen und Kubanern. es im Bildungs- und Gesundheitswesen Standards, wie man sie in keinem anderen südamerikanischen Land fin- Ich muss jetzt leider meine Rede beenden. Ich hätte det. Kuba hat Standards erreicht, die sich mit europäi- für Sie noch einige Argumente parat. Aber Sie können schen Standards messen lassen können. Ich darf auch an meine Rede gerne ausgehändigt bekommen. Folgendes erinnern: In der Allgemeinen Erklärung der Danke. Menschenrechte wird in Art. 22 die soziale Sicherheit garantiert. Das sollte man auch in Deutschland immer (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) wieder erwähnen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion der Kollege Ferner wird in Art. 26 das Recht auf Bildung festge- Sascha Raabe. schrieben. (Beifall bei der SPD) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Deswegen soll man seine Meinung Dr. Sascha Raabe (SPD): nicht sagen dürfen! Sie reden das Land schön, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herr Kollege, und zwar in unerträglicher Art Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man und Weise!) (B) Sie so reden hört, dann glaubt man fast, die ganze Welt (D) – Es geht um etwas anderes. Von solchen Leistungen zwingt den armen Fidel Castro, Menschen einzusperren und Zusammenhängen ist in Ihren Anträgen niemals die und die Meinungsfreiheit zu missachten. Das ist doch lä- Rede gewesen. Solange so etwas nicht differenziert be- cherlich. Das können Sie keinem ernsthaft begreiflich trachtet wird, kann meine Fraktion einem solchen An- machen. trag niemals zustimmen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein In Kuba sagt man: „Jeder Kopf ist eine Welt“, doch Quark!) was nutzt es einem Menschen, die Welt im Kopf zu ha- ben, wenn er sich weder frei äußern noch reisen kann? Auch wir sind nicht einseitig. Wir sagen sehr wohl, Eine Gesellschaft kann sich nur entwickeln, wenn sie dass Kuba bei der Einschätzung seiner Sicherheitslage frei ist – sowohl gedanklich als auch physisch. Entwick- einige falsche Schlussfolgerungen gezogen hat. lungszusammenarbeit kann entscheidend dazu beitra- gen, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten in einer Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gesellschaft implementiert werden. Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Sie geht Formal ist Kuba ein Partnerland der deutschen Ent- zu Ende. wicklungszusammenarbeit; doch 2003 hat die kubani- sche Regierung diese staatliche Entwicklungszusam- Michael Leutert (DIE LINKE): menarbeit einseitig aufgekündigt. Das zeigt, dass diese Ich bin gleich fertig. Ich habe sie so oft unterbrochen. Regierung ein falsches Verständnis von Entwicklungs- Daher bitte ich jetzt um Nachsicht. partnerschaften besitzt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Denn bei der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Das wird nicht angerechnet. Gestatten Sie noch eine geht es um Menschen und nicht um das politische Kal- Zwischenfrage des Kollegen Trittin, die Sie dann aller- kül einer Regierung. Wir lassen uns nicht davon beein- dings beantworten müssen? drucken, sondern setzen unsere Entwicklungszusam- menarbeit über Nichtregierungsorganisationen wie die Michael Leutert (DIE LINKE): kirchlichen Hilfswerke und politischen Stiftungen fort. Ich komme zum Ende. Wir wollen auch weiterhin Wandel durch Entwicklung 1972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Sascha Raabe (A) und Zusammenarbeit erreichen und wir werden die ku- Dr. Sascha Raabe (SPD): (C) banische Bevölkerung nicht ausgrenzen, sondern stär- Ja. ken. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bitte sehr.

Gleichwohl ist unsere Position zu den Menschen- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): rechtsverletzungen durch die kubanische Regierung Herr Kollege, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass glasklar. Wir erkennen durchaus an, dass für lateinameri- ich die Zigarren aus Kuba immer Gerhard Schröder und kanische Verhältnisse die Sozial-, Gesundheits- und Bil- nicht Oskar Lafontaine mitgebracht habe, der nach mei- dungspolitik in Kuba nicht schlecht ist. ner Kenntnis gar nicht raucht? (Zurufe von der LINKEN: Ach!) (Beifall bei der LINKEN) Wir kritisieren auch die US-Blockadepolitik, die in ge- Was die Erklärung des Parteivorstandes der Linkspar- wisser Weise das System stabilisiert und der Bevölke- tei angeht, haben wir zwar unseren Kollegen im Europa- rung schadet. Wir haben in diesem Hause schon genug parlament gesagt, dass wir anders abgestimmt hätten; Beschlüsse zu den Menschenrechtsverletzungen in wir haben aber ihr Recht, so abzustimmen, wie sie abge- Guantanamo Bay gefasst. stimmt haben, stets unterstrichen und nur darauf hinge- wiesen, dass Folgendes unsere Zustimmung nicht gefun- Aber – jetzt müssen Sie genau zuhören – dass die den hätte: eine einseitige Schuldzuweisung an Kuba, die Zahl der politischen Gefangenen im Jahr 2005 auf über Normalisierung der Beziehungen zur Europäischen 333 gestiegen ist, ist nicht hinnehmbar. Das verurteilen Union vereitelt zu haben, und die Aufforderung an den wir. Deshalb stehen wir ohne Abstriche zu der Resolu- Rat, Maßnahmen zu ergreifen. Wir stellen keine Blanko- tion des Europäischen Parlaments und wir unterstützen schecks aus. Ich finde, eine solche Kritik ist in einer Par- die Parlamentarier, die sich dafür ausgesprochen haben. tei angemessen. Ich frage Sie, ob Sie den Text der Ent- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der scheidung des Parteivorstands überhaupt gelesen haben. FDP) (Beifall bei der LINKEN) Wir verurteilen auch das Vorgehen des Parteivorstan- des der Linkspartei. Dr. Sascha Raabe (SPD): Ja, ich habe den Text gelesen, auch wenn es ein grö- (B) (Lachen bei der LINKEN) ßeres Vergnügen gibt, als so einen unmöglichen Text zu (D) Durch Ihre Haltung beweisen Sie, dass Ihre Führungs- lesen. kräfte die Rede- und Meinungsfreiheit nicht ernst mei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nen, sondern Ihren eigenen Kollegen einen Maulkorb er- teilen wollen. Durch ihre unkritische Unterstützung der Darin steht, dass die Linkspartei der Auffassung ist, dass kubanischen Regierung entlarvt sich Ihre Linkspartei. Es das kubanische Modell bis heute positiv auf Lateiname- ist eben keine Linkspartei, sondern es ist die PDS/ML, rika ausstrahle. die alte SED mit Oskar Lafontaine an der Spitze, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP ruf von der SPD: Oh nein!) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer einen solchen Unsinn erzählt, dass nämlich Unter- drückung, Repression und Missachtung der Meinungs- einem Oskar Lafontaine, der unser demokratisch ge- freiheit auf ganz Lateinamerika ausstrahlen sollen, der wähltes Parlament als „Schweinebande“ und „Plapper- ist noch dem alten Denken verhaftet, dem sich die Mehr- fritzen“ diffamiert, während er mit Castros Genossen un- heit Ihrer Mitglieder verpflichtet gefühlt hat. Der geniert Rotwein trinkt und mit Castro Zigarren qualmt. wünscht sich die DDR zurück und ist vielleicht in Kuba (Lachen bei der LINKEN) besser aufgehoben als hier. Es gab schon einmal einen rechten Populisten – näm- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der lich Roland Schill –, der aus Hamburg nach Kuba aus- FDP) wandern wollte. Dort könnte er sich gut mit Ihrem Oskar Ich möchte in meiner Rede ein weiteres kubanisches Lafontaine treffen. Rechts- und Linkspopulisten gehören Sprichwort zitieren: Ein Licht, das von innen her leuch- vielleicht dorthin, aber nicht in den Deutschen Bundes- tet, kann niemand löschen. – Wir, der Deutsche Bundes- tag. tag, fordern Herrn Castro auf, die Millionen Lichter zu (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der sehen, die in den Herzen der Kubaner auf der ganzen FDP) Welt leuchten. Es ist nicht das Staatsmodell, das strahlt. Es ist eine Verhöhnung der unterdrückten kubanischen Menschen, wenn Sie von der Linkspartei sagen, dass das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: kubanische Modell bis heute positiv auf Lateinamerika Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ausstrahle. Sie von der Linksfraktion sollten höchstens Kollegen Gehrcke von der Fraktion Die Linke? vor Schamesröte strahlen. Wer auf dem linken Auge so Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1973

Dr. Sascha Raabe (A) blind ist wie Sie, der sollte in Zukunft Worte wie „Soli- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) darität“ und „Gerechtigkeit“ nicht mehr in den Mund ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- nehmen. Vom Freiheitsbegriff haben Sie sowieso keine heit (16. Ausschuss) Ahnung. – Drucksache 16/970 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berichterstattung: der CDU/CSU und der FDP) Abgeordnete Michael Brand Wir Sozialdemokraten werden den Dialog mit der Gerd Bollmann kubanischen Bevölkerung fortsetzen. Wir wollen des Horst Meierhofer Weiteren Wandel und Entwicklung auf Kuba durch Zu- Lutz Heilmann sammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen er- Sylvia Kotting-Uhl möglichen. Wir werden uns aber weiterhin ganz klar zu Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den dortigen Menschenrechtsverletzungen äußern. Es Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre stünde Ihnen gut an, meine Damen und Herren von der dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Linksfraktion, wenn Sie sich daran beteiligten, anstatt in alte Zeiten zurückzufallen und uns, das demokratisch ge- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem wählte Parlament, durch Ihren Fraktionsvorsitzenden be- Kollegen Gerd Bollmann von der SPD-Fraktion. schimpfen zu lassen, während Sie sich gemeinsam mit den demokratisch nicht legitimierten Machthabern Ku- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bas irgendwo an den Strand in die Sonne legen. CDU/CSU)

Vielen Dank. Gerd Bollmann (SPD): (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FDP) Erfolgreiche Abfallpolitik muss einfach und effizient sein. Abfallpolitik heißt für uns Sozialdemokraten in ers- ter Linie Abfallvermeidung. Entstehender Abfall muss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nach Möglichkeit sinnvoll recycelt, das heißt stofflich Ich schließe die Aussprache. oder rohstofflich wieder verwendet werden. Ganz beson- ders wichtig ist jedoch, dass Entstehung, Zwischenlage- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf rung, Transport und die Verwertung bzw. die Beseiti- den Drucksachen 16/934 und 16/945 zu überweisen, und gung von Abfällen Mensch und Umwelt nicht (B) zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuss für gefährden. Zur Erreichung dieser Ziele gibt es zahlreiche (D) Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und zur Mitbera- Gesetze, Verordnungen und auch entsprechende Über- tung an den Auswärtigen Ausschuss sowie den wachungsvorschriften. Diese Vorschriften sind jedoch Ausschuss für Kultur und Medien. Sind Sie damit ein- teilweise zu bürokratisch und behindern eine wirksame verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- Überwachung im Abfallrecht mehr, als dass sie zur Er- sungen so beschlossen. reichung unserer Ziele beitragen. Die Praxis hat gezeigt, Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, dass einzelne Bestimmungen in der abfallrechtlichen will ich auf den Debattenverlauf in der gestrigen Aktuel- Überwachung nur eine Papierflut auslösen, ohne dass len Stunde Bezug nehmen. In diesem Debattenverlauf es zu einem erkennbaren Nutzen für den Umweltschutz hat die Kollegin gegenüber dem Kollegen kommt. Es ist daher notwendig und sinnvoll, die abfall- Dirk Niebel die Bemerkung „Herr Kollege, sind Sie be- rechtliche Überwachung zu vereinfachen. scheuert?“ geäußert. Weder meine Schriftführer noch ich Der heute vorgelegte Gesetzentwurf leistet dies und haben dies akustisch zur Kenntnis nehmen können; es stellt vor allen Dingen sicher, dass eine Gefährdung von war hier oben nicht zu hören. Ich habe deshalb gestern Mensch und Umwelt nicht stattfindet. Mit dem Gesetz nicht darauf reagiert. Nun ist diese Bemerkung aus dem zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung Protokoll ersichtlich. Ich möchte deshalb darauf hinwei- reagieren wir auf Forderungen von Umweltverbänden, sen, dass ich die Bemerkung „Herr Kollege, sind Sie be- Verwaltung und Unternehmen. Mit der Vereinfachung scheuert?“ als unserem parlamentarischen Sprachge- des Vollzugs helfen wir den Umweltbehörden bei der brauch nicht angemessen erachte, und erteile deshalb Kontrolle. Wir senken den Vollzugsaufwand und entlas- eine Rüge. ten Unternehmen. Einfach ausgedrückt: Wir bauen Bü- rokratie ab, verringern Personalkosten und sparen Zeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wichtigste aber ist: Die Vereinfachung sorgt für eine der CDU/CSU) effizientere Überwachung und damit für eine Stärkung Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf: des Umweltschutzes. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Der vorliegende Gesetzentwurf ist damit ein Teil des gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes von der Koalition geplanten Bürokratieabbaus. Er ist zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Über- ein gutes Beispiel dafür, wie Bürokratieabbau funktio- wachung nieren muss. Bürokratieabbau heißt unserer Ansicht nach Abbau unnötiger Vorschriften und effizienter Voll- – Drucksache 16/400 – zug. Keinesfalls darf Bürokratieabbau zu der Senkung 1974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Gerd Bollmann (A) von Umweltstandards, Sozialstandards und Verbraucher- rung der Abfallwirtschaft leisteten. Beispielsweise hat (C) rechten führen. die Pflicht zur Führung betrieblicher Abfallkonzepte und -bilanzen keine positiven Auswirkungen gehabt. Zu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie künftig entfällt daher diese Pflicht. der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Dieses Gesetz ist im intensiven Dialog mit den Bun- desländern und der Wirtschaft entstanden. Noch in den Wir müssen verhindern, dass unter dem Deckmantel des letzten Wochen wurden auf Initiative Bayerns Ände- Bürokratieabbaus Arbeitnehmerrechte sowie Beteili- rungswünsche der Bundesländer eingearbeitet. Es wurde gungsrechte von Bürgern und Verbänden abgebaut wer- zum Beispiel eine Bußgeldbewehrung für Verstöße ge- den. Insbesondere im Umweltbereich darf Bürokratieab- gen das elektronische Nachweisverfahren aufgenom- bau nicht zu einem geringeren Schutz von Mensch, men. Dies wird von der SPD-Fraktion ausdrücklich be- Natur und Umwelt führen. Wir müssen die Mitsprache-, grüßt. Dabei wird jedoch auch sichergestellt, dass die Beteiligungs- und Einspruchsrechte von Bürgern und Bußgeldbewehrung nur gewichtige Verstöße betrifft. Verbänden erhalten. Andererseits gibt es im Umwelt- Diese Änderung ist, wie die weiteren Verbesserungen, schutz vielfältige Beispiele für sinnlose Bürokratie wie mit den beteiligten Ministerien und Ländern abgespro- Mehrfachprüfungen, doppelte Zuständigkeiten, überflüs- chen. sige Formulare, veraltete Verfahren und vieles mehr. Hier gilt es zu vereinfachen. Unser Ziel muss es sein, Die intensiven Gespräche und Beratungen sichern den Aufwand zu verringern und damit gleichzeitig einen diesem Gesetz eine breite Akzeptanz. Der vorgelegte effizienteren Umweltschutz zu erreichen. Diesen Weg Entwurf ist ein gutes Beispiel für die Verbesserung von wollen wir weitergehen. Die Voraussetzung erfüllt der Effizienz und Umweltschutz durch Bürokratieabbau. Entwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Über- Wir halten ihn für sinnvoll und notwendig und bitten um wachung. Ihre Unterstützung. Im Kern geht es bei dem heute vorgelegten Gesetzent- Vielen Dank. wurf darum, das deutsche Abfallrecht mit dem EU- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Recht zu harmonisieren und moderne Kommunika- tionstechniken in der abfallrechtlichen Überwachung einzuführen. Mit der Anpassung an das europäische Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gemeinschaftsrecht erleichtern wir die Tätigkeit grenz- Das Wort hat nun der Kollege Horst Meierhofer für überschreitender Unternehmen. Dies ist in Zeiten zuneh- die FDP-Fraktion. mender Globalisierung für die Wirtschaft von großer (Beifall bei der FDP) (B) Bedeutung. Darüber hinaus wird die reibungslose Um- (D) setzung künftiger Änderungen verbessert. Gleichzeitig Horst Meierhofer (FDP): wird sowohl im abfallrechtlichen Nachweisverfahren als Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! auch in den Einzelverordnungen über die Verwertung Mit diesem Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfall- und Beseitigung bestimmter Abfälle die elektronische rechtlichen Überwachung soll einerseits das deutsche Form eingeführt. Damit werden die heutigen techni- Recht an die europäischen Vorgaben sowohl in technolo- schen Möglichkeiten genutzt, um die Nachweisführun- gischer als auch in struktureller Hinsicht angepasst wer- gen zu vereinfachen. den. Zugleich sollen durch den hier vorliegenden Ent- Nach dem derzeit gültigen Recht werden den zustän- wurf die Unternehmen der Wirtschaft und auch die digen Überwachungsbehörden rund 125 000 Entsor- Vollzugsbehörden von nicht notwendigen bürokrati- gungsnachweise und 2,5 Millionen Begleitscheine pro schen und arbeitsaufwendigen Pflichten entlastet wer- Jahr zur Prüfung vorgelegt. Mit der Umstellung auf elek- den. tronische Nachweisverfahren verringern wir diesen un- Die FDP begrüßt ausdrücklich das Ziel dieses Gesetz- glaublichen Papierwust und helfen allen Beteiligten. Die entwurfs. Durch ihn verbessert sich die Effizienz der ab- Nutzung moderner Kommunikationswege entlastet Be- fallrechtlichen Überwachung. Bürokratie wird abgebaut hörden und Unternehmen und vereinfacht den Datenaus- und zugleich wird der abfallrechtliche Überwachungsap- tausch. Vor allem aber ermöglicht das neue Verfahren parat dereguliert. Das Beste ist: Das alles geschieht ohne eine schnellere und effizientere Überwachung. Wir pas- jegliche Qualitätseinbußen. sen das Verfahren den in vielen Unternehmen und öf- fentlichen Dienststellen bereits üblichen elektronischen (Beifall bei der FDP) Kommunikationsformen an. Uns ist bewusst, dass die Um ein kleines bisschen Wasser in den Wein zu gie- Umstellung für einige Beteiligte anfangs auch Probleme ßen: Der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen bereiten wird. Darum sind beim Vollzug Übergangsfris- war bereits Mitte Januar dieses Jahres bekannt, dass es ten und Abweichmöglichkeiten eingeräumt worden. zu Doppelungen in diesem Gesetz und im Bürokratie- Letztendlich werden aber alle Beteiligten bei entspre- abbaugesetz kommt. Aber erst in dieser Woche – ich chender Bereitschaft von dem neuen System profitieren. glaube, es war vorgestern – wurden Änderungs- und Weiterhin werden in einzelnen Überwachungsberei- Streichungsanträge an uns weitergegeben. Wäre man chen wichtige Vereinfachungen vorgenommen. Diese boshaft, könnte man sagen: Das ist eine Schlamperei. Vereinfachungen betreffen insbesondere Vorschriften, Aber gutmütig, wie wir nun einmal sind, sagen wir: Bes- die in der Vergangenheit keinen Beitrag zur Verbesse- ser spät als nie. Jetzt haben wir ja ein gutes Resultat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1975

Horst Meierhofer (A) (Beifall bei der FDP) ben der Abfallwirtschaftskonzept- und -bilanzverord- (C) nung in ihrer praktischen Umsetzung für die Unterneh- Eine europaweit einheitlich geregelte Überwachung men zu starr und zu unflexibel waren und aus diesem erleichtert natürlich den Vollzug, insbesondere bei Grund leider nicht gefruchtet haben. Deswegen ist es grenzüberschreitenden Abfalltransporten in andere Mit- vollkommen richtig, sowohl die Pflicht zur Aufstellung gliedstaaten der Europäischen Union. Wir als Liberale von Konzepten und Bilanzen als auch die entsprechende wollen, dass die abfallrechtlichen Vorgaben in allen Mit- Verordnung zu streichen. gliedstaaten der Europäischen Union ein einheitlich ho- hes Niveau erreichen. Deshalb fordern wir die Bundes- Wir als FDP werden dem Gesetzentwurf zustimmen, regierung auf, sich in allen Gesprächen auf europäischer weil wir für Entbürokratisierung und Deregulierung ein- Ebene auch weiterhin dafür einzusetzen, dass dieser treten, in allen Bereichen und gerade in diesem. Wir for- hohe Standard überall in Europa erreicht wird und dass dern die Bundesregierung zugleich auf, von den in das die Überwachungsbestimmungen zudem überall unbüro- Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz neu aufgenom- kratisch ausgestaltet werden. menen Rechtsverordnungsermächtigungen mit Augen- maß Gebrauch zu machen, damit dieser wichtige und Sie alle wissen, dass die bisherige abfallrechtliche richtige Schritt, den wir hier heute tun, in vollem Um- Überwachung einen enormen bürokratischen Aufwand fang Wirkung zeigt. darstellte – Herr Bollmann hat mehrfach darauf hingewiesen –, nicht nur für die Überwachungsbehör- Herzlichen Dank. den, sondern auch und vor allem – das ist wahrscheinlich das Entscheidende – für die betroffenen Unternehmen. (Beifall bei der FDP)

Mit der Einführung eines bundesweiten EDV-Ver- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bunds zwischen Wirtschaft und Überwachungsbehörden Das Wort hat nun der Kollege Michael Brand, CDU/ durch ein elektronisches Nachweisverfahren – so wird CSU-Fraktion. es genannt – soll die abfallrechtliche Überwachung er- heblich erleichtert werden. Auch wir glauben, dass dies (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) geschieht. Gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen ist es ein großer Vorteil. Deshalb begrüßen Michael Brand (CDU/CSU): wir es außerordentlich. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die bisherige abfallrechtliche Überwachung ei- Wir als CDU/CSU begrüßen natürlich sehr, dass der nen immensen bürokratischen Aufwand bedeutete, sieht Bund und die Länder mit der Einführung der elektroni- man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass für die – wie schen Nachweisführung für gefährliche Abfälle allen (B) (D) es bisher hieß – „besonders überwachungsbedürftigen Beteiligten die Tür öffnen zu effizienter, moderner und Abfälle“ – zukünftig nur „gefährliche Abfälle“ genannt – kostengünstiger Handhabung ihrer jeweiligen Pflichten. bislang bundesweit jährlich etwa 60 000 Entsorgungs- Diese Pflichten, die sich aus der notwendigen Überwa- nachweise, 20 000 Sammelentsorgungsnachweise und chung von gefährlichen Abfällen ergeben, bestehen zum 1,5 Millionen bis 2 Millionen Abfallbegleitscheine Schutz der Umwelt und sie sollten den Informationsaus- – Herr Bollmann hat sie bereits angesprochen – ausge- tausch zwischen den Beteiligten im kompletten Verlauf stellt und natürlich auch kontrolliert werden mussten. der so genannten Entsorgungskette ebenso effizient und Solche Papierberge soll es künftig nicht mehr geben. lückenlos ermöglichen wie die Überwachung durch die Das ist ein Fortschritt, den die FDP-Fraktion natürlich Vollzugsbehörden der Länder. Wir stimmen als CDU/ sehr begrüßt. CSU diesem Weg, im Übrigen nicht nur im Umweltbe- reich, ausdrücklich zu und wir verfolgen dabei die vor (Beifall bei der FDP) allem für die mittelständische Wirtschaft so wichtigen Man muss bedenken – auch da haben mich die Aus- Ziele: Effizienz und weniger Bürokratie. führungen von Herrn Kollegen Bollmann sehr positiv (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gestimmt –, dass die kleinen Unternehmen nicht überfor- Marco Bülow [SPD]) dert werden dürfen. Es ist nämlich nicht so, dass auch die kleinen Abfallentsorger bereits jetzt über sämtliche Dies ist der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit Möglichkeiten hinsichtlich Hardware und Software ver- den Ländern und unter tatkräftiger Mithilfe des Parla- fügen, um diese Systeme sofort umzustellen. Deswegen ments auch zum größten Teil gelungen. Eine Beratung braucht man zum einen die genannten Fristen und zum im Parlament wäre aber keine Beratung, wenn wir als anderen sollte der Aufwand bei den Hardwareanforde- Vertreter des Souveräns unsere Aufgabe nicht ernst neh- rungen so gering wie möglich gehalten werden und soll- men würden, der Exekutive auch noch ein paar gute Rat- ten auch die Softwareprogramme so ausgestaltet werden, schläge oder, anders gesagt, ein paar gut gemeinte Vor- dass sie einfach und ohne großen Aufwand genutzt wer- gaben zu machen. Über einige wenige Vorgaben für die den können. weitere Handhabung der Nachweispflichten möchte ich hier deshalb kurz sprechen. Eines der Ziele der Abfallwirtschaftskonzepte bzw. der Abfallbilanzen war es, den Betrieben, die große Vor einigen Wochen habe ich hier im Deutschen Bun- Mengen an Abfällen produzieren, Planungsinstrumente destag für die Union vorgetragen, dass wir eine Einigung zu reichen, damit sie ihr Abfallaufkommen verringern zwischen der Bundesregierung und den Ländern im können. Es hat sich aber leider gezeigt, dass die Vorga- laufenden Verfahren empfehlen. Mittlerweile hat es 1976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Michael Brand (A) zwischen den beteiligten Ministerien auf Bundes- und geldandrohungen gekoppelt werden soll und eben nicht (C) Länderebene insbesondere einen Austausch darüber ge- die weniger scharfe Möglichkeit eines Zwangsgeldes ge- geben, ob und, wenn ja, in welcher Höhe es Bußgelder wählt wurde, dann muss umso mehr auf sorgfältig for- für diejenigen geben müsse, die sich zukünftig gegebe- mulierte und unmissverständliche Ausführungsbestim- nenfalls nicht oder nicht wie gefordert an diesem zu- mungen Wert gelegt werden. Nachdem uns dies auch künftigen elektronischen Verfahren beteiligen. Nun gibt vom BMU signalisiert worden ist, fiel uns als CDU/CSU es zwischen den Beteiligten durchaus unterschiedliche wie dem Ausschuss insgesamt die Zustimmung zu dem Ansichten darüber, wie weit der Staat gehen soll, um die grundsätzlich sehr sinnvollen vorliegenden Gesetz noch so genannten Nachweispflichtigen dazu zu veranlassen, einmal leichter. ihren Pflichten nachzukommen. Die Länder redeten von Wir gehen bei diesem wie bei anderen Gesetzesvorha- Beginn an davon, dass ein Bußgeld erforderlich ist. Der ben als CDU/CSU davon aus, dass der Bundesumwelt- Bund dagegen hielt dies für nicht erforderlich. minister und das ihm unterstehende Ministerium den ge- Die Länder haben nun mit dem Bund einen Kompro- gebenen Respekt vor dem Parlament auch dadurch miss gefunden, der sozusagen ein „Bußgeld light“ vor- umsetzen, dass die Abgeordneten nicht mit Fristen für sieht, zum Teil aber den Anwendungsbereich für das kurzfristige Änderungen konfrontiert werden, die eine ernsthafte Prüfung schwer bis unmöglich machen. Nach- Bußgeld ausweitet. Wir als CDU/CSU sehen dies mit ei- dem wir auch in dieser Hinsicht klare Signale aus dem ner gewissen Sorge. Wir regen insbesondere an, im wei- BMU erhalten haben, freuen wir uns auf die weitere Ar- teren Verfahren, vor allem bei der Nachweisverordnung beit an diesem Umweltbereich ebenso wie bei anderen – Herr Meierhofer hat das angesprochen –, klare Gren- zwischen BMU und Parlament besprochenen Themen. zen einzuziehen, um eine Überbürokratisierung und Ver- unsicherung der verantwortlich arbeitenden Mittel- In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch die ständler zu verhindern. Wenn diese Mittelständler Verpackungsverordnung genannt werden, die von der gefährliche Abfälle ordnungsgemäß und verantwortlich Leitung des BMU im Ausschuss schon länger zur Bera- behandeln und mit ihnen sorgsam umgehen, dann dürfen tung angekündigt wurde. Sie hat vor allem deshalb Be- sie nicht mit der Bußgeldkeule erschlagen werden. deutung, weil aktuell das Thema „Gelbe Tonne“ bzw. „Grüner Punkt“ auf allen Ebenen, von Umweltminister- Ich will es einmal deutlich formulieren: Vor allem konferenz über die LAGA bis hin zu Kommunen und na- kann es nicht sein, dass in der Phase der Einführung der türlich im Handel, Industrie und Entsorgungswirtschaft, elektronischen Nachweisführung die Behörden qualifi- massiv diskutiert wird und es einen echten Handlungsbe- zierte Betriebe deshalb „unter Beschuss“ nehmen kön- darf gibt. nen, wenn zwar die Hauptsache ordentlich erledigt Man kann es in den Publikationen, in den Fachbeiträ- (B) wurde, aber der dazugehörende „Papierkram“ nicht erle- (D) digt wurde oder – ich muss es präziser sagen – der „elek- gen lesen: Wenn die bevorstehende Einführung der „trit- tronische Kram“ nicht oder noch nicht perfekt funktio- tinschen Pfandregelung“ – schade, dass Herr Trittin niert. Es darf im Übrigen auch nicht so sein, dass der heute nicht hier ist; beim letzten Mal hat er ja ordentlich kleine und mittelständische Betrieb durch eine Praxis der getobt, aber heute hat er sich etwas weggeduckt – dazu führt, dass sozusagen als Nebenwirkung die erfolgreiche Umweltministerien benachteiligt wird, die auf zu viel haushaltsnahe Sammlung von Verpackungen zusammen- elektronische Wege setzt und damit die Kleinen gegen- bricht, dann werden wir alle hier im Hohen Haus poli- über den Großen mit ihren Spezialisten benachteiligt. tisch zur Verantwortung gezogen durch den Vorwurf, wir Das ist das, was der Kollege Bollmann eben ausgeführt hätten uns um dieses Thema nicht ausreichend geküm- hat. So habe ich gestern auch die Ausführungen vom mert. In die laufende Debatte um die Kommunalisie- Kollegen Meierhofer im Ausschuss verstanden und es rung, einen nochmaligen Verkauf des DSD und die reale hat tatsächlich Hinweise auf eine solche Praxis aus ver- Gefahr, dass letztlich die Finanzierung der kommunalen gangener Zeit, zum Beispiel in Grün-geführten Umwelt- Entsorgungsstrukturen bedroht sein könnte, muss sich ministerien, gegeben, die nicht im Einzelnen geprüft, der Bund aktiv einschalten. wohl aber für die kommende Praxis beachtet werden müssen. Insofern unterliegen natürlich auch die Länder Nachdem der Bundesumweltminister mit gutem als Ebene des praktischen Vollzugs unserer Beschlüsse Grund die letzte Beratung des hier vorliegenden Gesetz- einer Beobachtung durch den Verordnungsgeber Bun- entwurfes für Ausführungen zu einem aktuellen Thema destag. genutzt hat, muss auch ein Vertreter aus dem Umwelt- ausschuss die Verantwortung wahrnehmen, auf dieses Ich bitte auch vor diesem Hintergrund den Bun- drängende und Millionen von Menschen betreffende desumweltminister und ehemaligen Ministerpräsidenten Thema deutlich hinzuweisen, was ich hiermit bereits ge- Gabriel, den ausdrücklichen Hinweis der CDU/CSU im tan habe. Deutschen Bundestag auf einen fairen Umgang mit den Recyclingunternehmen in den in den nächsten Tagen an- Für den uns vorliegenden Gesetzentwurf zur elektro- stehenden Beratungen im Bundesumweltministerium nischen Nachweisführung bei gefährlichen Abfällen kann ich jedenfalls die Zustimmung der CDU/CSU er- ebenso wie in der anstehenden Sitzung des Umweltaus- klären und die anderen Fraktionen ebenfalls zur Zustim- schusses des Bundesrates – er tagt in der nächsten Wo- mung einladen. che, am 23. März – zu berücksichtigen. Vielen Dank. Wenn das elektronische Verfahren vor allem auf Druck der Länder schon vor der Einführung mit Buß- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1977

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ich empfehle Ihnen, in Ihrer regionalen Zeitung nachzu- (C) Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter, lesen, was zu diesem Thema geschrieben wird. Fraktion Die Linke. Der Umfang der deutschen Exporte von gefährlichen (Beifall bei der LINKEN) und deshalb notifizierungsbedürftigen Abfällen nach Tsche- chien und Polen ist förmlich explodiert. Die Masse der Abfälle, die zur Verwertung nach Tschechien bzw. nach Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Polen transportiert wurden, stieg von 19 Tonnen bzw. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 233 Tonnen im Jahr 2004 auf 31 000 bzw. 34 000 Tonnen Herr Minister! Im Ausschuss haben die Grünen gestern im letzten Jahr. Das ist eine Zunahme um das 250fache. vertreten, dass sie, was den Bürokratieabbau beträfe, Diese Tatsache kann man nicht wegdiskutieren. zwischen FDP und Linken säßen. Erstere würden stän- dig undifferenziert den Abbau aller Regularien fordern Nun sind aber nur gefährliche Abfälle zur Verwertung und Letztere, also wir, ein Mehr an Kontrolle, so auch notifizierungspflichtig, ungefährliche jedoch nicht. Sie bei der abfallrechtlichen Überwachung. können frei gehandelt werden. Man kann wohl mit eini- gem Realismus davon ausgehen, dass über diesen Weg Ich möchte hier noch einmal einiges richtig stellen. zig Tausende Tonnen Müll nach Osteuropa wandern, Die Linke hat ausdrücklich die Vereinfachung der abfall- ohne dass irgendeine Kontrolle möglich wäre. Man rechtlichen Überwachung begrüßt. Wir sind dafür, dass müsste schon reichlich naiv sein, um zu glauben, die die elektronischen Begleitscheine eingeführt werden und Mehrheit davon werde tatsächlich verwertet. Nicht um- die überholte Zettelwirtschaft endlich aufhört. sonst klagen tschechische Bürgermeister über die rasante Zunahme illegaler Abfalldeponien, auf denen Müll aus (Beifall bei der LINKEN) Deutschland abgekippt wurde. Gerade hat mir mein Kol- Wir haben uns lediglich erlaubt, zu kritisieren, dass be- lege Lutz Heilmann erzählt, dass gestern bei einem Tref- reits im letzten Sommer die Pflicht zur Erstellung be- fen mit einer Delegation tschechischer Studentinnen und trieblicher Abfallbilanzen und Abfallwirtschaftspläne Studenten genau diese Problematik angesprochen weggefallen ist. Wir halten diese Instrumente nämlich wurde; sie ist also weitgehend bekannt. für sinnvoll. Schließlich dienten sie der betriebsinternen Wir denken, eine solche Praxis müssen Ökologinnen Planung genauso wie den Überwachungsbehörden. und Ökologen, egal welcher Partei, kritisieren dürfen, Gleichzeitig möchte ich erneut darauf hinweisen, dass ohne als Bürokraten, wie wir bezeichnet wurden, abge- neben dem wunderschönen Gesetzeswerk eine nicht stempelt zu werden. Es ist unsere Sorge, dass es hier mehr ganz so wunderbare Praxis existiert, in der die ille- Fehlentwicklungen gibt. Wir fordern Sie auf, dem entge- (B) gale Abfallentsorgung momentan neue Blüten treibt. genzuwirken. (D) Wenn Tausende Tonnen deutschen Mülls in Tschechien (Beifall bei der LINKEN) landen, dann hat das offensichtlich auch mit Problemen beim Vollzug der abfallrechtlichen Überwachung zu Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tun. Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt (Beifall bei der LINKEN) hat nun die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. Die Sache ist doch die: Einige Firmen verlagern ihre Scheinverwertung in Deutschland, die sie bis zur Schlie- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ßung der Deponien im Juni 2005 betreiben konnten, nun ins Ausland. Nach Prognosen verschiedener Institutio- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen müssten jährlich bundesweit etwa 4 bis 5 Millionen Verehrter Herr Minister! Sie werden mir zugestehen, Tonnen behandlungsbedürftiger Abfälle, die bis letztes dass ich mich dem Vorwurf hinsichtlich des Dosenpfan- Frühjahr hierzulande entgegen gesetzlichen Vorschrif- des – das ist ja eine unendliche Lieblingsgeschichte –, ten auf Billigdeponien landeten, nunmehr Vorbehand- das aber nicht auf den vormaligen Minister Trittin, son- lungsanlagen zugeführt werden. Das kostet Geld; das ist dern auf die vorvormalige Ministerin Merkel zurück- klar. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass skrupel- geht, jetzt nicht anschließe. lose Unternehmen Vollzugsdefizite ausnutzen, um den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Müll im Ausland loszuwerden. Osteuropa bietet sich da momentan besonders an – das wissen wir alle –, weil Ich möchte mich vielmehr mit dem vorliegenden Gesetz- hier EU-konforme Verwaltungen noch im Aufbau sind. entwurf befassen. In diesem Zusammenhang wurde im Ausschuss darauf Der vorliegende Gesetzentwurf wurde im Umwelt- hingewiesen, dass dieses Vorgehen kriminell sei und ausschuss diskutiert und sinnvoll ergänzt. Wir Grünen nicht eine Folge von Gesetzeslücken. stimmen ihm auch in der zweiten Lesung zu. Ich will aber zu den Argumenten in dieser Debatte Stellung neh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Punkt ha- men. ben Sie formal Recht. Wenn aber der Vollzug faktisch nicht möglich ist, dann scheint doch etwas an der Geset- Eines der Lieblingsschlagwörter in der politischen zeslage nicht zu stimmen. Oder? Vielleicht sollten wir Auseinandersetzung ist der Bürokratieabbau. Da gibt uns einmal vor Augen führen, was momentan an den Ost- es in der Tat diejenigen, die beim Stichwort Bürokratie- grenzen der Bundesrepublik passiert. Herr Meierhofer, abbau glänzende Augen kriegen und sofort Positives 1978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Sylvia Kotting-Uhl (A) wittern. Es gibt aber auch die anderen, die eher große hohe Standards überall in Europa. Dafür muss sich (C) Ohren kriegen und grundsätzlich Negatives wittern. Die Deutschland in der Tradition von Rot-Grün weiter ein- Wahrheit liegt wie meistens ungefähr in der Mitte. setzen. (Lachen der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN LINKE]) sowie bei Abgeordneten der SPD) Bürokratie ist im Allgemeinen das Ergebnis von Be- Ansonsten ist zu tun, was bei Kriminalität immer zu mühungen, Verhältnisse gerechter zu machen und tun ist: Die Verursacher sind zu ermitteln. Die Abfälle Schutz für Menschen und Medien zu organisieren, die sind auf deren Kosten zurückzubringen und einer sach- diesen Schutz brauchen, ihn im freien Spiel der Kräfte gerechten Entsorgung zuzuführen. Das auf den Weg zu aber nicht bekommen. Aber zum einen verselbstständigt bringen, fordern wir hiermit die Bundesregierung auf. sich Bürokratie manchmal und erschlägt das ursprüngli- che Ziel geradezu, zum anderen erreicht sie das Ziel Zum Schluss bleibt die Hoffnung, dass uns der Fokus manchmal einfach nicht. auf die Regulierung in der Abfalldebatte nicht den Blick auf das verstellt, was in der heutigen Lage eigentlich zu Wie man Bürokratie sinnvoll abbaut, zeigt die vorlie- tun ist. 370 Millionen Tonnen Abfälle pro Jahr, die nur gende Vereinfachung abfallrechtlicher Überwachung. zum Teil verwertet werden, sind aus Umwelt- und Res- Was Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der sourcensicht einfach zu viel. Was heute Abfall genannt Union und von der SPD, jetzt aber im Zuge der Födera- wird, besteht zum größten Teil aus Wertstoffen. In Zeiten lismusreform vorhaben – diesen Punkt will ich beto- sich anbahnender Ressourcenknappheiten und -konflikte nen –, ist das Gegenteil von Vereinfachung, nämlich die – längst nicht mehr nur bei der Energie – ist es die erste absolute Verkomplizierung des Umweltrechts und damit Aufgabe, zu echten Stoffkreisläufen zu kommen. Die auch des Abfallrechts. Aufgabe dieser Stunde, die Vereinfachung der abfall- rechtlichen Überwachung auf den Weg zu bringen, war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dagegen zugegebenermaßen vermutlich relativ einfach. Womöglich wird die heutige Gesetzesvorlage als die Ich danke Ihnen. letzte Vereinfachung des Abfallrechts in die Historie ein- gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken haben den Verzicht auf die früheren Regelungen mit den illega- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) len Transporten von Abfall ins Ausland in Zusammen- (D) hang gebracht. Die illegalen Mülltransporte nehmen Ich schließe die Aussprache. leider zu; als tatkräftige Antwort wurde solcher Müll in Tschechien der deutschen Botschaft vor die Haustür ge- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- kippt. Diese Transporte erfüllen nicht nur die Abgeord- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur neten der Linken mit Sorge. Von tschechischer Seite Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung auf wird uns vorgeworfen – auch Frau Bulling-Schröter hat Drucksache 16/400. Der Ausschuss für Umwelt, Natur- dies angesprochen –, unsere Pflicht zur Vorbehandlung schutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Be- vor der Deponierung – dies kann natürlich auch eine schlussempfehlung auf Drucksache 16/970, den Gesetz- Kostensteigerung bedeuten – mache den illegalen Export entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte sehr attraktiv. diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um ein Handzeichen. – Wer ist Also, was sollen wir tun? Sollen wir zu den aufwendi- dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzent- geren, früheren betrieblichen Abfallbilanzen zurückkeh- wurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion ren, wie es die Kolleginnen und Kollegen von der Lin- Die Linke mit der Zustimmung aller übrigen Fraktionen ken bei der ersten Lesung vorgeschlagen haben, oder angenommen. unsere Standards absenken, wie es die Tschechen von uns fordern? Wir empfehlen weder das eine noch das an- Dritte Beratung dere. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Mit der Vereinfachung der abfallrechtlichen Vor- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schriften haben diese Vorgänge nichts zu tun. Der Ge- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der setzentwurf zielt nicht auf eine Abschaffung, sondern Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie in der auf die Vereinfachung der Überwachung. Nach der zweiten Lesung angenommen. neuen Verordnung gilt auch für die Entsorger nicht ge- fährlicher Abfälle Registerpflicht. Das bedeutet im Ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gleich zu den bisherigen Nachweisbüchern eine Hebung Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: und keine Senkung des Nachweisniveaus. Der Gesetz- entwurf zielt auf eine EU-weite Vereinheitlichung. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Diese ist im Kampf gegen grenzüberschreitende Krimi- Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle Laurischk, nalität ein nicht zu unterschätzendes Mittel. Ein noch Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der wirkmächtigeres Mittel wären allerdings gleichmäßig Fraktion der FDP Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1979

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial Angesichts des Referentenentwurfs befürchten wir, (C) und verantwortungsbewusst den gesellschaftli- dass zu viel Wert auf die Einzelfallgerechtigkeit gelegt chen Rahmenbedingungen anpassen wird, sodass lange Verfahren und die Notwendigkeit ent- sprechender richterlicher Rechtsfortbildungen die Folge – Drucksache 16/891 – sind. Gerade in diesem Bereich ist es oft gerechter, also Überweisungsvorschlag: dem Rechtsfrieden dienlicher, in einem zügigen Verfah- Rechtsausschuss (f) ren aufgrund pauschalierter Vorschriften eine Entschei- Finanzausschuss dung zu treffen; denn das Leben der Betroffenen geht Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weiter. Sachverhaltsermittlungen über viele Monate hin- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die weg und Abwägungen, gegebenenfalls über mehrere In- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe stanzen, bedeuten Mehrkosten für die Länder, ohne dass und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be- sie dem Bürger dienen. Auch würden freiwillige, kom- schlossen. petent moderierte Vereinbarungen Verfahren verkürzen und die Akzeptanz von Unterhaltszahlungen erhöhen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Im Übrigen würde eine straffe Pauschalierung die Unter- Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion. haltszahlungen auch transparenter und vorhersehbarer machen. Sibylle Laurischk (FDP): Ein besonderes Augenmerk muss auf der Annäherung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Un- des Unterhalts für nicht eheliche Mütter an den Unterhalt terhaltsrecht ist für viele Kinder, Frauen und Männer von für geschiedene Mütter liegen, die minderjährige Kinder zentraler Bedeutung für ihre Existenz und ihre Lebens- betreuen. Hier besteht nach meiner Meinung eine nicht planung. Es ist durch eine ausufernde Rechtsprechung nachvollziehbare Benachteiligung, die wir auf jeden Fall und unabgestimmte Tatbestände des Steuer- und Sozial- aufheben sollten. rechts sehr unübersichtlich geworden. Im internationalen Vergleich dauern Scheidungsverfahren in Deutschland Entscheidend für das Gelingen einer Unterhaltsre- überproportional lange, was durch die Kompliziertheit form, die die Eigenverantwortung stärkt, sind aber flan- materiellen Rechts bedingt ist. kierende Maßnahmen. Für den eigenen Lebensunterhalt Dies belastet nicht nur die Justizhaushalte der Länder, kann nur die- bzw. derjenige sorgen, die bzw. der auch sondern insbesondere auch die Menschen, über deren die Zeit und die Möglichkeit dazu hat. Wenn Kinderbe- Zukunft entschieden wird. Gewandelte gesellschaftliche treuungsmöglichkeiten und familienverträgliche Arbeits- Vorstellungen über das Zusammenleben von Männern plätze fehlen, ist es mit einer gesteigerten Erwerbsoblie- (B) und Frauen, wechselnde Familienkonstellationen und genheit nicht weit her. Hier ist ein flexibilisierter (D) Patchworkfamilien werden von dem derzeitigen Unter- Arbeitsmarkt in einer entlasteten Wirtschaftsordnung haltsrecht nur ungenügend erfasst. vonnöten. Der Bundestag hat bereits im Jahr 2000 – Sie hören Ein ungelöstes Problem wird bleiben, dass in den richtig! – den Reformbedarf erkannt und die Bundes- meisten Fällen nur der Mangel verteilt wird und in den regierung aufgefordert, „zügig und mit allem Nachdruck seltensten Fällen von einem auskömmlichen Unterhalt das geltende Unterhaltsrecht insbesondere hinsichtlich gesprochen werden kann. Hier dürfte auch einer der der Abstimmung seiner Inhalte mit sozial- und steuer- Gründe liegen, warum sich immer weniger Deutsche für rechtlichen Parallelregelungen … gründlich zu überprü- eine Familiengründung und für Kinder entscheiden. fen und Vorschläge zu seiner Neuregelung einzubrin- gen“. Ein abgestimmter Gesetzentwurf liegt bis heute, Kinder sind unterhaltstechnisch betrachtet eine Belas- sechs Jahre nach Erkennen des Reformbedarfs, immer tung, die eher akzeptiert wird, wenn nicht noch erhebli- noch nicht vor. Die FDP-Fraktion hat im Mai 2004 eine che Leistungen für das betreuende Elternteil zu erbrin- Große Anfrage zum Unterhaltsrecht gestellt. Die Beant- gen sind. Hier will ich darauf hinweisen, dass wir eine wortung wurde ständig verzögert. Kurz vor der Neuwahl Reform des Unterhaltsvorschussrechts fordern, und im vergangenen Jahr haben wir auch noch einen Reform- zwar dahin gehend, dass die Bezugsdauer zwar auf antrag gestellt. 36 Monate begrenzt werden sollte, der Bezug jedoch erst mit dem Erreichen der Volljährigkeit enden sollte. Die Die FDP-Fraktion lässt nicht locker. Benachteiligung von Kindern über zwölf Jahren gegen- über jüngeren Kindern, die derzeit Gesetz ist, ist eigent- (Beifall bei der FDP) lich nicht nachvollziehbar. Wir fordern auch in dieser Legislaturperiode eine Unter- (Beifall bei der FDP) haltsrechtsreform ein, und zwar mit folgenden Schwer- punkten: Der Kindesunterhalt muss einen unbedingten Wir brauchen eine Reform des Unterhaltsrechts, die Vorrang sowohl bei der Unterhaltsberechnung im Man- Kindern den Vorrang gewährt, weil sie nicht für sich gelfall als auch bei der Stärkung der Zahlungsmoral selbst sorgen können. Wir brauchen eine Reform des gegenüber Kindern haben. Der nacheheliche Unterhalts- Unterhaltsrechts, um die Eigenverantwortung der Men- anspruch von Ehegatten soll begrenzt und die Eigenver- schen zu fördern. Wir brauchen auch deshalb eine Re- antwortung nach einer gescheiterten Ehe gestärkt wer- form des Unterhaltsrechts, weil in diesem sensiblen Feld den. endlich Rechtssicherheit geschaffen werden muss. 1980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Sibylle Laurischk (A) Frau Justizministerin, Sie sind gefordert. Ich denke, was in der Vergangenheit war, sondern möglichst schnell (C) es wäre wichtig, sich jetzt nicht mit der „Scheidung ein gutes Gesetz für den Bürger auf den Weg bringen. light“ zu befassen, sondern endlich einmal mit dem Un- terhaltsrecht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) In der Praxis wurde von den Anwälten, den Bürgern und Richtern sowie zuletzt auch vom Bundesverfas- sungsgericht oft ein Handeln des Gesetzgebers eingefor- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dert. Die Rechtsprechung hat uns in der Zwischenzeit Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Ute eingeholt. Es gab eine Reihe von wegweisenden Urtei- Granold das Wort. len, die in die Richtung der jetzigen Reform gingen.

Ute Granold (CDU/CSU): Frau Laurischk, Sie haben das Unterhaltsvorschuss- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gesetz angesprochen, das im Wege der jetzigen Reform Frau Ministerin! Wir befassen uns heute mit der Reform natürlich mit angepasst wird, allerdings in einem separa- des Unterhaltsrechts. Insofern ist das Thema sehr erfreu- ten Regelungswerk. Es wurde also nicht vergessen. Wir lich. Die FDP rennt allerdings offene Türen ein, weil die haben auch die Alleinerziehenden und die Zweitehen Reform bereits im Gange ist. nicht vergessen. Wir wissen, dass in Deutschland viele Ehen geschieden werden, dass wir einen Wandel in der (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Gesellschaft haben, dass es viele Patchworkfamilien gibt Das Thema ist richtig, der Zeitpunkt allerdings ist und dass wir den vielen Kindern, die von Sozialleistun- falsch. Der heute vorliegende FDP-Antrag wurde mit gen leben, helfen müssen. Das ist Konsens in diesem geringfügigen Abweichungen bereits im Juni 2005 in Hause und auch in der Gesellschaft. diesem Hause debattiert. Die Behandlung wurde dann Dieser Tage haben wir wieder die Zahlen gehört: Es aufgrund der Bundestagswahl zurückgestellt. Frau gibt einen alarmierenden Rückgang der Geburtenzahl. Laurischk, Sie und auch die FDP wissen sehr wohl, dass Wir haben die geringste Geburtenzahl seit Ende des in der Zwischenzeit daran gearbeitet wurde. Es gibt ei- Zweiten Weltkrieges; dem müssen wir dringend entge- nen Referentenentwurf, der bereits im Rahmen einer An- genwirken. Die Ursache dafür liegt nicht in den finan- hörung an die Fachverbände geschickt wurde. Die Stel- ziellen Leistungen. 100 Milliarden Euro pro Jahr sind lungnahmen wurden geprüft und in die Formulierung bei weitem nicht unangemessen. Umfragen belegen viel- eines Gesetzentwurfes eingearbeitet. Dieser wird im mehr, dass die Frauenerwerbsquote stetig steigt. Das nächsten Monat dem Kabinett vorgestellt werden, sodass gilt auch für die Erwerbsquote der Mütter. Frauen sind wir noch vor der Sommerpause über den Gesetzentwurf (B) gebildeter als früher. Sie sind mehr im Beruf und wollen (D) diskutieren können. auch im Beruf bleiben. In Deutschland haben wir vergli- (Sibylle Laurischk [FDP]: Wir sind gespannt, chen mit unseren europäischen Nachbarländern ein et- Frau Granold!) was verstaubtes Bild von berufstätigen Frauen. Hier gibt es noch ein Stück weit eine Stigmatisierung. Das müssen – Frau Laurischk, Sie wissen, dass wir all das, was die wir ändern. Auch eine berufstätige Mutter ist eine gute FDP in ihrem Antrag fordert, bereits in das Eckpunkte- Mutter. papier, das im Jahr 2004 vorgelegt wurde, aufgenommen hatten und dieses zu einem Reformpaket fortentwickelt Was in Deutschland fehlt, ist sicherlich eine bessere haben, welches das Prädikat „sehr gut“ verdient. Es fin- Betreuungslandschaft. Hier besteht noch großer Nach- det auch die Zustimmung der Union. holbedarf. Die Abdeckungsquote beträgt in Deutschland 40 Prozent; in Frankreich liegt sie bei 99 Prozent. Hieran (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss noch gearbeitet werden. neten der SPD) Neben dem Unterhaltsrecht muss auch das Schei- Wir wollen in der heutigen Debatte nicht wiederho- dungsrecht dringend reformiert werden; Sie haben das len, was wir im Juni letzten Jahres debattiert haben – das bereits angesprochen. Die Menschen brauchen eine ge- kann man im Protokoll nachlesen –, sondern wir wollen wisse Sicherheit, dass sie im Falle einer Trennung, ins- sie nutzen, um darüber zu informieren, was in Kürze hier besondere wenn Kinder da sind, finanziell abgesichert beraten werden wird und dann hoffentlich im nächsten sind. Jahr in der Praxis Anwendung findet. Ich selbst habe da- mals als Oppositionspolitikerin Handlungsbedarf ange- Das Unterhaltsrecht muss transparent, klar und ge- mahnt und angekündigt, dass wir dies von der neuen recht sein. Dann wird es auch von den Bürgern ange- Bundesregierung einfordern würden. Wir haben Wort nommen und in der Praxis zeitnah umgesetzt werden. gehalten. Wir haben mittlerweile eine neue Bundesregie- Dieses Werk ist nun da. Ich möchte einige zentrale rung und wir haben eine Reform des Unterhaltsrechts in Punkte aufgreifen, die die Ministerin sicherlich noch im die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Diese ist Detail ausführen wird. – wie gesagt – jetzt da. Das Wichtigste ist die Privilegierung der Kinder im 1998 haben wir die Reform des Kindschaftsrechts auf Unterhaltsrecht. Kinder haben absolute Priorität; sie ste- den Weg gebracht. Zügig folgend hätte auch die Unter- hen bei den Rangverhältnissen auf Rang eins. Zuerst haltsrechtsreform kommen müssen. Es hat zwar länger werden die Ansprüche der Kinder auf Unterhalt befrie- gedauert, aber nun ist sie da. Wir wollen nicht beklagen, digt. Wenn dann noch Geld zur Verfügung steht, werden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1981

Ute Granold (A) nachrangig die anderen Ansprüche befriedigt. Das ist schränkt werden kann und dass er auch ausgeschlossen (C) auch Konsens in der Bevölkerung. werden kann. In das Gesetz wurde neu aufgenommen, dass der Unterhaltsanspruch abgesenkt oder gänzlich (Beifall bei der CDU/CSU) versagt werden kann, wenn jemand eine gefestigte Part- Auf Rang zwei stehen alle Elternteile, die Betreu- nerschaft eingeht. Das ist übrigens – gemäß Rechtspre- ungsleistungen erbringen. Ob das die verheirateten, die chung – auch heute schon der Fall. Auch hier haben wir getrennt lebenden, die allein erziehenden oder die nicht ein Stück weit Klarheit geschaffen. ehelichen Eltern sind, ist vollkommen egal. Alle betreu- Der Unterhaltsanspruch der nicht ehelichen Mut- enden Eltern befinden sich im zweiten Rang. Danach ter, der derzeit auf einen Zeitraum bis zum dritten Le- kommen die Ehegatten, die keine Betreuungsleistung er- bensjahr des Kindes beschränkt ist und nur bei grober bringen, und danach die volljährigen Kinder, wobei die Unbilligkeit fortgeführt werden kann, muss nun – das volljährigen Kinder, die sich noch in der Ausbildung be- wurde in den Entwurf des neuen Gesetzes aufgenom- finden, den minderjährigen Kindern gleichgestellt sind. men – bei Unbilligkeit fortgesetzt werden. Hierzu war- Insofern gibt es keine Benachteiligung der studierenden ten wir noch auf eine Entscheidung des BGH bzw. des oder kranken volljährigen Kinder, weil ihr Status – der Bundesverfassungsgerichts. Die Entscheidung scheint in bisherigen Gesetzeslage entsprechend – erhalten bleibt. die Richtung zu gehen – das vermuten wir –, dass der Unterhaltsanspruch bei Unbilligkeit fortbestehen kann. Eine zweite ganz wesentliche Neuerung ist die Fest- Das bedarf aber der Einzelfallprüfung. setzung des Mindestkindesunterhalts. Als Mindest- kindesunterhalt wurde der doppelte Freibetrag des säch- Bei der Betreuung durch einen Elternteil müssen wir lichen Existenzminimums des Kindes angesetzt. Infolge natürlich berücksichtigen – das war uns ganz wichtig –, der Anhörung, die ich vorhin erwähnt habe, wurde er dass der Unterhaltsanspruch nicht versagt werden kann, noch einmal erhöht, und zwar in der ersten Altersstufe wenn eine Betreuungsmöglichkeit nicht gegeben ist. Wir auf 87 Prozent, in der zweiten auf 100 Prozent und in der wissen, dass auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf be- dritten auf 117 Prozent. steht. Auch dieser Konstellation wurde Rechnung getra- gen. Außerdem soll die Anrechnung des Kindergeldes auf den Unterhaltsbedarf vereinfacht werden – die bishe- Für die jetzt vorliegenden Titel haben wir eine Über- rigen Vorschriften waren sehr verwirrend und kaum zu gangsregelung geschaffen. Sie werden geändert, wenn verstehen –: Wenn eine Betreuungsleistung erbracht das neue Gesetz kommt: für den Kindesunterhalt klar ge- wird, wird auf das Einkommen beider Elternteile jeweils regelt, für den Ehegattenunterhalt bei einer wesentlichen die Hälfte des Kindergeldes angerechnet. Ansonsten Änderung und wenn es für den Berechtigten zumutbar ist, dass abgeändert wird. (B) wird das Kindergeld auf den Bedarf des Volljährigen an- (D) gerechnet. Die im Gesetzentwurf festgelegte Regelung Weil meine Redezeit vorbei ist, möchte ich es dabei ist sehr transparent und klar. Sie ist akzeptabel und ent- belassen. Wir werden uns nicht nur mit dem Unterhalt spricht insbesondere den Forderungen unseres höchsten befassen, sondern auch mit der Strukturreform des Ver- Gerichtes. sorgungsausgleichs. Wir werden das Scheidungsrecht Wir haben ein Stück weit eine Harmonisierung des novellieren. Frau Ministerin, darüber müssen wir noch Steuerrechts und des Sozialrechts vorgenommen. Die einmal reden, weil das ein bisschen zu schnell ging. Wir müssen uns noch ein bisschen besser abstimmen und Kinderfreibeträge ändern sich durch das neue Gesetz darüber intensiv beraten. nicht. Auch das Realsplitting ist ein Stück weit gesichert. Der Unterhaltsschuldner kann 13 805 Euro absetzen, (Sibylle Laurischk [FDP]: Hoffentlich, Frau wenn Unterhalt für einen Ehegatten geleistet wird. Auch Granold! Wir setzen auf Sie!) insofern wurde keine Änderung vorgenommen. Eine komplette Anpassung ist nicht möglich, weil wir das Ab- Auf europäischer Ebene ist über das Grünbuch zum standsgebot im Hinblick auf die Ehe einhalten müssen. Unterhaltsrecht und eine Verordnung, die dem Rat vor- liegt, zu reden. Die deutsche Präsidentschaft wird im Was die weitere Harmonisierung angeht, die auch vom nächsten Jahr dafür sorgen, dass hierzu auf europäischer Bundesverfassungsgericht gefordert wurde, so muss dies Ebene eine Harmonisierung und Angleichung erfolgt, in den nächsten Schritten erfolgen. Wir wollen die jet- weil es auch viele binationale Ehen gibt. zige Reform nicht überfrachten. Wir wollen zunächst das Wichtigste auf den Weg bringen. Das ist mit diesem Ge- Wir haben viel zu tun. Wir haben viel gemacht. Wir setzentwurf gewährleistet. machen im Sinne unserer Bürger weiter. Ich denke, zu- sammen mit der FDP – wenn Sie bei uns im Boot sind – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kriegen wir das gut hin. neten der SPD) Vielen Dank. Eine weitere Neuerung ist die Eigenverantwortung für den Lebensunterhalt nach der Scheidung. Hier ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine ganz wichtige Neuerung vorgesehen, die übrigens – das muss ich hier sagen – Akzeptanz in der Bevölke- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rung findet: Jeder sorgt für sein Einkommen selbst. Nur Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Jörn wenn das nicht der Fall ist, ist in engen Grenzen Unter- Wunderlich, Fraktion Die Linke. halt zu leisten. – Im Gesetz wird aber klar geregelt, dass der Unterhalt der Höhe nach und auch zeitlich be- (Beifall bei der LINKEN) 1982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Kinderbetreuungsinfrastruktur ziehen sich besonders (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und viele Mütter – gegenwärtig herrscht noch das Ernährer- Kollegen! Ich bin fernab, das Leben mit Kindern grau in modell vor – stark aus dem Erwerbsleben zurück. Die grau zu schildern. Diese Realität wird jedoch im Zwölf- Lösung kann aber nicht, wie im FDP-Antrag nahe gelegt ten Kinder- und Jugendbericht beschrieben. Anstatt Rah- wird, ihr Schutz im nachehelichen Unterhaltsrecht sein. menbedingungen für eine grundlegende Veränderung der Wir fordern mit Nachdruck den konsequenten Ausbau Situation zu schaffen, sorgt die Politik durch die Ver- einer elternbeitragsfreien, flächendeckenden Kinderbe- schärfung der Sozialgesetze schamlos dafür, dass sich treuung, um lückenlose Erwerbsbiografien beider El- die Armut von Kindern und Jugendlichen verschärft. An ternteile zu gewährleisten. Im Antrag taucht diese Forde- dieser Stelle frage ich: Haben Sie wirklich den politi- rung nicht auf, aber sie wurde in den Redebeiträgen der schen Willen, an der Situation grundlegend etwas zu än- Kolleginnen Laurischk und Granold dankenswerter- dern, oder wollen Sie diese Situation manifestieren? weise angesprochen. Nun zum Unterhaltsrecht bzw. zum vorliegenden An- Begrüßenswert – das müssen wir sagen – ist, dass trag: Der Antrag hat aus meiner Sicht eine interessante dem Kindesunterhalt der absolute Vorrang eingeräumt parlamentarische Entwicklung genommen. Meiner werden soll, also auch im Mangelfall. Dass die bisheri- Überzeugung nach springt hier die FDP-Fraktion auf ei- gen Regelungen des Unterhaltsvorschussgesetzes nen Zug auf, der schon lange abgefahren und im Grunde nicht ausreichen, war bisher fraktionsübergreifend und sogar schon angekommen ist. Rechtspolitisch wird über bei den damit befassten Juristen wohl unstreitig. Dass das Ganze seit 2000 diskutiert – das ist schon angespro- die Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben werden soll, ist chen worden –, siehe die Beschlussempfehlungen des eine vernünftige Erwägung. Die Beschränkung der Be- Rechtsausschusses und des Familienausschusses aus den zugsdauer von 72 auf 36 Monate ist allerdings der fal- Jahren 2000 und 2002. Den Referentenentwurf kennen sche Weg. Denn auch nach dem Sinn des UVG als Hilfe wir. Ich habe ihn in meiner Eigenschaft als Familienrich- in einer vorübergehenden Situation, in der kein Unter- ter bekommen. Den werden wir hier im Plenum noch be- halt erhalten werden kann, muss doch die gegenwärtige sprechen. gesellschaftliche Situation berücksichtigt werden. Zwar sind die Armutsphasen – das wird im Antrag richtig fest- Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie nicht bereit sind, gestellt – kurz und in der Regel nicht länger als drei sich um Veränderungen zu bemühen. Aber die Frage ist: Jahre, aber sie wiederholen sich. Das verschweigt der Wie weit reichend und umfänglich im Interesse aller Be- Antrag, ist aber im Zwölften Kinder- und Jugendbericht troffenen sind die Veränderungen? Das ist die Messlatte nachzulesen. für mich und für meine Fraktion. Letztlich sind Kinder und Jugendliche die Leidtragen- (D) (B) (Beifall bei der LINKEN) den, wenn die Eltern aufgrund einer verfehlten Arbeits- marktpolitik und der damit einhergehenden Arbeitslosig- Werden wir einmal konkret. Aufgrund der Kürze mei- keit keinen Unterhalt zahlen können. Hier soll sich der ner Redezeit – ich habe nur vier Minuten – kann ich Staat wieder aus der Verantwortung ziehen können? Ge- nicht alle Punkte ansprechen, sondern nur einige wenige. ben Sie sich einen Ruck und fordern Sie endlich eine Das Existenzminimum – ich beziehe mich jetzt nur auf Grundsicherung für Kinder, damit Kinder in Deutsch- den Antrag der FDP – in Höhe von 7 700 Euro ist zu ge- land wirklich wieder willkommen sind. ring. Derzeit müsste zumindest ein Existenzminimum in Höhe von 8 500 Euro für Erwachsene festgesetzt wer- Danke schön. den. Die Forderung nach einer Erhöhung des Kinder- geldes auf 200 Euro ist ein anerkennenswerter Schritt. (Beifall bei der LINKEN) Aber Eltern mit hohen Einkommen würden wieder privi- legiert. Durch die Beibehaltung der Günstigerprüfung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: erhielten Eltern, die einen Spitzensteuersatz zahlen, rund Für die Bundesregierung hat nun das Wort die Bun- 70 Euro im Monat mehr steuerliche Entlastung. desministerin der Justiz Brigitte Zypries. Zur Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten: Im Antrag ist vorgesehen, Kinderbetreuungskosten in Höhe Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: von 12 000 Euro absetzen zu können. Das privilegierte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Menschen mit hohen Einkommen, die die entsprechende Herren Kollegen! Es gibt eben doch einen entscheiden- steuerliche Entlastung für sich in Anspruch nehmen kön- den Unterschied zwischen Gesetzentwürfen, die die nen. Die dürfte immens sein. Hier sollte wirklich – ich Fraktionen im Deutschen Bundestag vorlegen, und de- habe es schon im Ausschuss angesprochen – einmal da- nen, die die Regierung vorlegt. Wenn wir Gesetzent- rüber nachgedacht werden, ob es nicht doch sinnvoller würfe vorlegen, dann sind sie in aller Regel gut durch- wäre, die Hälfte der Kinderbetreuungskosten unmittel- dacht. Sie können natürlich noch Fehler enthalten; das bar von der Steuerschuld abzuziehen mit einer Kap- will ich nicht bestreiten. Über sie wurde diskutiert: mit pungsgrenze von 2 100 Euro. Denn so erhielten alle El- allen Bundesländern, den Verbänden, den Sachverständi- tern – ich betone: alle Eltern – die Hälfte der gen und den betroffenen Kreisen. Sie wurden also schon entsprechenden Kinderbetreuungskosten zurück. von der Fachöffentlichkeit begutachtet, was eine gewisse Zeit gedauert hat. Deswegen bitte ich um Nachsicht, Ein Wort zum nachehelichen Unterhalt – auch das dass der Regierungsentwurf erst am 5. April und nicht wurde schon angesprochen –: Wegen der schlechten schon eher vom Kabinett verabschiedet wird, was natür- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1983

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) lich auch daran liegt, dass es zu vorgezogenen Neuwah- neben den Kinder betreuenden Eltern aber nicht die Ehe- (C) len kam. gatten in noch bestehender Ehe aufnehmen. Während Sie Ehegatten in noch bestehender Ehe aufnehmen wol- Ich fände es fair, wenn auch die FDP, die den vorlie- len, meinen wir, dass sich dieser Vorschlag nicht ausrei- genden Antrag gestellt hat, zur Kenntnis nehmen würde, chend und konsequent genug am Kindeswohl orientiert. dass sie es relativ leicht hat, weil sie erstens all diese Diskussionen nicht führen muss, und weil sie zweitens Folgendes Beispiel: Ein Mann zahlt seiner geschiede- noch nicht einmal die Antwort der Bundesregierung auf nen Frau, die die beiden kleinen Kinder erzieht, Unter- ihre erste Große Anfrage berücksichtigt. halt und heiratet seine erwerbslose Freundin. Nach Ihren Vorstellungen könnte der Unterhaltsanspruch seiner (Beifall bei der SPD) Exehefrau gekürzt werden. Nach unserem Entwurf aller- Auch auf Ihre erste Große Anfrage, die Sie fast wort- dings geht die Kinder betreuende Mutter vor. Denn wir gleich schon einmal gestellt haben, meinen, dass derjenige, der Kinder betreut, auch derje- nige sein sollte, der als Erster berechtigt ist, an dem oh- (Joachim Stünker [SPD]: Genau! Abgeschrie- nehin nur wenigen vorhandenen Geld zu partizipieren. ben!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben Sie eine Antwort bekommen. Seitdem haben wir der CDU/CSU – Frank Hofmann [Volkach] eine Menge getan. Aber Sie haben die Antwort der Bun- [SPD]: Das ist ja auch vernünftig!) desregierung erstens nicht rezipiert und in Ihre erneute Anfrage zweitens nicht einbezogen, was wir darüber hi- Deshalb meine ich, dass unser Entwurf besser ist. Ich naus unternommen haben. lade Sie herzlich ein, mit uns über diese konkreten Vor- schläge zu diskutieren. Denn es ist nicht so – Frau Granold hat dankenswer- terweise schon darauf hingewiesen –, dass wir nur das Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es keinen großen Unterhaltsrecht novellieren, sondern wir tun noch mehr. Sinn macht, Anfragen, die man schon einmal gestellt Dass wir beispielsweise eine FGG-Reform durchführen hat, einfach aufzubereiten und sie noch einmal zu stel- und ein großes Familiengericht schaffen, scheint an Ih- len. Wenn Sie das tun, können Sie zwar Diskussionen nen vorbeigegangen zu sein. Zumindest kann ich das Ih- provozieren. Aber wie Sie wissen, rennen Sie damit bei rer Anfrage nicht entnehmen. diesem Thema offene Türen ein. Denn die Eckpunkte unseres Entwurfs liegen schon seit Ende 2004 vor. Sie (Beifall bei der SPD – Dr. Carl-Christian sind im letzten Jahr in sämtlichen Fachkreisen breit dis- Dressel [SPD]: Guten Morgen, FDP!) kutiert worden. Ich denke, dass unser Entwurf ein guter Ebenfalls kann ich Ihrer Anfrage nicht entnehmen, Entwurf ist. Ich bin froh, dass wir seine kleinen Schwä- (B) (D) dass wir all das, was mit den Themen Trennung und gro- chen – zum Beispiel bei der steuerlichen Abzugsfähig- ßes Familiengericht zu tun hat – also die Rezeption des keit – im Rahmen der Koalitionsverhandlungen bereini- Cochemer Modells, die Sie unter Ziffer 7 Ihres Antrags gen konnten. Ich bin sicher, dass die Änderung des fordern –, im Rahmen unserer FGG-Reform umsetzen. Unterhaltsrechts, die das Kabinett am 5. April verab- Es ist ja nicht so, dass wir all das nicht merken. schieden wird, uns und insbesondere die Kinder in Deutschland voranbringen wird. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das sind ja schließ- lich auch ganz andere Abteilungen!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben diesen Bereich lediglich in einem anderen Gesetz geregelt, weil wir ihn zusammenhängend dort re- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: geln wollen, wo er hingehört. Als nächste Rednerin hat nun die Kollegin Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Nun zu Ihren einzelnen Forderungen. Ich denke, dass Sie es sich mit Ihrer pauschalierten Forderung nach einer Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vereinfachung und einer Harmonisierung von Steuer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Sozialrecht in dieser Form ein bisschen einfach ma- Vor einem Dreivierteljahr haben wir hier über einen ganz chen. Wir haben das geprüft und haben gemeinsam mit ähnlichen Antrag debattiert. Damals waren wir alle uns den Experten die Entscheidung getroffen, dass eine voll- darüber einig, dass wir das Kindeswohl in den Mittel- ständige Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit punkt stellen und daran alle Regelungen und Gesetze dem Sozialrecht weder juristisch möglich noch prak- ausrichten müssen. Das ist auch deshalb notwendig, weil tisch sinnvoll ist. Hier geben uns alle Unterhaltsrechts- sich in unserer Gesellschaft eines kontinuierlich verän- experten Recht. dert: Das sind die Familienverhältnisse. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Man kann zu Recht die Frage stellen, ob die bestehen- Hinsichtlich Ihrer Forderung nach der Einführung ei- den Gesetze und Regelungen des Familienrechts diesen ner unterschiedlichen Rangfolge müssen wir uns noch in Veränderungen noch gerecht werden. Vor diesem Hinter- der Sache auseinander setzen; denn im Zusammenhang grund hat es eine gewisse Berechtigung, über eine Neu- mit der Rangfolge geht es in der Tat um die Frage, wen gestaltung des Unterhaltsrechts zu sprechen. Das bishe- wir privilegieren. Frau Granold hat ausgeführt, dass die rige Unterhaltsrecht geht davon aus, dass allen Koalition im ersten Rang die Kinder privilegieren wird. Familienmitgliedern Unterhaltsansprüche gesichert wer- Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir in den zweiten Rang den. In den meisten heutigen Unterhaltsprozessen geht 1984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Ekin Deligöz (A) es aber um den Mangelfall. In der Realität wird die Un- Ich glaube sogar, dass Sie selber gar nicht dahinterste- (C) terhaltszahlung in vielen Fällen nur unregelmäßig oder hen. Wenn Sie dahinterstehen würden, hätten Sie näm- gar nicht getätigt. Die Leidtragenden davon sind die lich Ihren Antrag letzte Woche nicht wieder zurückgezo- Kinder: Sie erfahren, während sie aufwachsen, finan- gen. Sie wollten ihn aber nicht zur Diskussion gestellt zielle Zwänge. Deshalb ist es richtig, die Kinder bei der haben lassen und hoffen, dass das keiner merkt. Wir Rangfolge der Unterhaltsberechtigten in den Vorder- merken das aber! Stehen Sie also hinter dem, was Sie grund zu stellen, dann gehen sie nicht leer aus. fordern! Dann können wir ernsthaft darüber reden. Für uns Grüne sind die Prioritäten klar: Das Kindeswohl hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vorrang, auch in der Familiengesetzgebung. Diese Änderung hat auch das Ziel, dass die Väter das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gefühl bekommen, hauptsächlich für ihre Kinder zu sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zahlen, und sich dadurch ihre Zahlungsmoral verbessert. Für eine völlig falsche Weichenstellung – das habe Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): ich schon in meiner letzten Rede gesagt und ich will es Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort hier wiederholen – halte ich den Vorschlag der FDP, den die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion. Unterhaltsvorschuss von sechs auf drei Jahre zu be- grenzen. Auch wenn das Alter der Kinder, bis zu dem Christine Lambrecht (SPD): das gilt, gleichzeitig auf 18 heraufgesetzt wird, bedeutet Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich dies eine dramatische Verschlechterung, insbesondere freue mich über die Einbringung Ihres Antrages zu die- dort, wo man es gar nicht rechtfertigen kann: bei Müt- sem Thema – damit setze ich mich von der Meinung ei- tern mit kleinen Kindern. Denn leider sind wir noch niger Vorrednerinnen und Vorredner ab –, weil wir uns nicht so weit, dass die Betreuung für unter Dreijährige so schon vor der Einbringung ins Kabinett am 5. April flächendeckend ausgebaut wäre, dass wir Ganztagskin- mit diesem wichtigen Thema beschäftigen können. dergärten für kleine Kinder hätten, was es den Müttern ermöglichen würde, zu arbeiten. Wir sind noch nicht so In einigen Punkten gibt es natürlich unterschiedliche weit, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Auffassungen. Dazu komme ich gleich noch. Ausführ- diesem Land gewährleistet wäre. lich werden wir in den parlamentarischen Beratungen darüber sprechen. Zumindest ist aber erkennbar – das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an einem Tag wie heute viel wert –, dass wir von der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Grundausrichtung her in die gleiche, in die richtige Richtung gehen. Das ist positiv zu vermerken und macht (B) Weil wir das nicht sind, darf eine solche Regelung nicht (D) zulasten von Müttern mit Kleinstkindern gemacht wer- mir Mut für die anstehenden Beratungen. den. Für diese macht es nämlich durchaus einen Unter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schied, ob sie drei Jahre oder sechs Jahre lang Unter- haltsvorschuss beziehen können. Damit ist es jetzt aber auch gut. Ich möchte nun auf einige Unterschiede eingehen, was Sie von mir, wie ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) glaube, auch erwarten, und zwar zu Recht. Frau Der Vorschlag der FDP entpuppt sich als Umvertei- Laurischk, ich will einen Satz aufgreifen, den Sie zu Be- lung zulasten der Schwächsten. Sie wollen die steuerli- ginn Ihrer Rede gewählt haben, nämlich dass Ihnen bei che Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten auf dem, was die Bundesregierung auf den Weg bringen 12 000 Euro im Jahr und nebenbei das Kindergeld auf möchte, zu viel Einzelfallgerechtigkeit gegeben sei. 200 Euro monatlich anheben – ein 9-Milliarden-Euro- Das hat mich sehr verwundert. Wir sprechen über Fami- Programm –, um das Problem der Unterhaltszahlungen lienrecht und somit über Kinder, Ehegatten und Famili- zu lösen. Da würde ich sagen: Thema verfehlt! So kann enverhältnisse insgesamt. Wenn es einen Bereich gibt, in man dieses Problem nicht lösen. Sie werden das Problem dem man auf den Einzelfall, auf die Umstände des Ein- säumiger Elternteile nicht durch eine Erhöhung des Kin- zelnen achten muss, dann doch im Familienrecht. dergeldes lösen. Da müssen Sie schon das Gesetz selbst (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ändern. Letzte Woche haben Sie hier noch den Ausbau der Infrastruktur gefordert, heute fordern Sie hier ein Es besteht wirklich kein Anlass, unter dem Stichwort 9-Milliarden-Euro-Programm zur Steigerung der Trans- Bürokratieabbau pauschale Beträge, starre Ansätze und ferleistungen. Sie tun so, als ob man all das gleichzeitig feste Fristen vorzugeben. Lassen Sie uns doch lieber Re- finanzieren könnte und als ob es überhaupt keiner politi- geln finden, die dem Einzelfall gerecht werden. schen Anstrengungen bedürfte, das durchzusetzen. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Kollegin Deligöz hat schon auf einen Punkt hin- Das ist Augenwischerei; da machen Sie den Menschen gewiesen. Die Regelung, den Unterhaltsvorschuss nur etwas vor! noch 36 Monate zu zahlen, wie Sie das vorschlagen, ist sehr starr und nimmt keine Rücksicht auf die jeweiligen (Sibylle Laurischk [FDP]: Wir haben eine Lebensumstände. Es gibt sicherlich Gegenden in Steuerdiskussion gehabt; nehmen Sie das bitte Deutschland, in denen eine gute Kinderbetreuung ge- zur Kenntnis!) währleistet ist und die Mutter oder der Vater nach Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1985

Christine Lambrecht (A) 36 Monaten wieder arbeiten gehen kann. Es gibt in Bay- berg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) ern oder Baden-Württemberg der SPD, der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Passau!) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Passau wirft der Kollege Benneter sachkundig ein – sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, aber sicherlich auch Gegenden, in denen es schwierig Kerstin Andreae, Christine Scheel, weiterer Ab- sein wird, für Kinder entsprechende Betreuungsmöglich- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- keiten zu finden, die es erlauben, nach 36 Monaten auf SES 90/DIE GRÜNEN den Unterhaltsvorschuss zu verzichten. Diese Einzelfälle Besser regulieren, dynamisch konsolidieren – sollten wir uns vornehmen und nicht mit dem großen Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktin- Besen kommen und alle gleich behandeln. Das ist, wie tegration ich denke, unangebracht. – Drucksache 16/933 – (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe Das Ziel ist klar: Die Kinder haben in Zukunft Vor- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. rang, egal ob sie aus einer ehelichen oder einer nicht- ehelichen Beziehung stammen. In dieser Frage sind alle Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem mittlerweile in der Realität angekommen. Kollegen Georg Fahrenschon für die CDU/CSU-Frak- tion. Darüber hinaus haben die Eltern Vorrang, die ihre Kinder betreuen lassen bzw. betreuen lassen müssen. Denn von ihnen wird mehr Eigenverantwortung erwar- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): tet. Das ist der richtige Schritt in die richtige Richtung. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen Man darf sich nicht mehr darauf zurückziehen, zu sagen: und Kollegen! Ich glaube, die Debatte am heutigen einmal verheiratet, immer versorgt. Ich will niemandem Abend ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens unterstellen, dass er so denkt, aber eigentlich kennen setzen die Fraktionen auch im neuen Deutschen Bundes- alle, die hier sitzen – das sind fast ausschließlich Famili- tag in der 16. Legislaturperiode die überfraktionelle Ar- enrechtler –, solche Fälle, in denen so gedacht wird. Ei- beit in Fragen des Finanzmarktes fort. Deshalb möchte genverantwortung ist erforderlich. Es muss aber auch ich mich am Anfang bei allen Berichterstattern und auch Rücksicht darauf genommen werden, dass solche Mög- beim BMF herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. lichkeiten nicht immer gegeben sind. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) Eine weitere starre Grenze in Ihrem Antrag ist, dass Zweitens beschreiben wir mit diesem Beschluss die Sie eine „längere Ehe“ ab 15 Jahren Dauer definieren. Grundlage einer nicht zu unterschätzenden Trendwende Ohne die jeweiligen Lebensumstände zu kennen und auf der deutschen Politik im Zusammenhang mit der euro- sie einzugehen, ist mir das zu statisch. päischen Rahmengesetzgebung. Ein zentrales, überge- Die Tücke liegt im Detail. Wir sollten uns in den par- ordnetes Ziel der CDU/CSU ist es – darauf haben wir lamentarischen Beratungen die Zeit nehmen, genau da- bereits in den vergangenen Legislaturperioden hingewie- rauf einzugehen. Das Kabinett wird einen Gesetzentwurf sen –, frühzeitig auf die Bedingungen eines immer inten- einbringen. Wir werden ihn beraten. Ich bin mir sicher, siver werdenden gemeinsamen europäischen Binnen- wir werden daraus etwas Gutes im Interesse der Betrof- marktes zu reagieren. fenen machen. Im Interesse des Standortes Deutschland ist es wich- Vielen Dank. tig, dass wir gemeinsam mit den betroffenen Marktteil- nehmern, unseren Experten, den Vertretern der Regie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung und dem nationalen Parlament vorab eine deutsche der CDU/CSU) Position finden, diese gemeinsame Position dann auf eu- ropäischer Ebene einbringen und sie so weit wie möglich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: durchsetzen. In diesem Sinne markiert der Beschluss Ich schließe die Aussprache. von heute Abend eine grundsätzliche Wende im Ver- ständnis der Europapolitik unseres nationalen Parla- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ments weit über die Rahmenbedingungen des europäi- Drucksache 16/891 an die in der Tagesordnung aufge- schen Finanzmarktes hinaus. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so Unser Ziel ist es, vorab klar zu definieren, was wir als beschlossen. Deutschland im europäischen Markt wollen. Diese Inte- ressen wollen wir in die europäische Gesetzgebung ein- Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: fließen lassen, um dadurch die Chancen des gemeinsa- Beratung des Antrags der Abgeordneten men Marktes besser nutzen zu können. Wir wollen nicht Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard so weitermachen wie bisher, nämlich verschiedenen Ge- Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion setzen, umgesetzten Richtlinien und den verschiedenen der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer, Initiativen hinterherzuweinen und uns im Nachhinein Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding (Heidel- über die EU-Entscheidungen und die Rahmen zu bekla- 1986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Georg Fahrenschon (A) gen, vielmehr wollen wir sie vorher positiv beeinflussen, mäßigkeit gestaltet werden und dass drittens bei jedem (C) um unsere Größe im europäischen Markt optimal durch- neuen Projekt in Zukunft vorab eine umfangreiche Kos- setzen und einsetzen zu können. ten-Nutzen-Analyse vorgenommen wird, um eine wei- tere Überregulierung und Bürokratie zu vermeiden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Im deutschen Finanzsektor, im Bereich von Banken und Versicherungen, sind in etwa 1,26 Millionen Men- Der heutige Beschluss ist auf diesem Weg das richtige schen beschäftigt. Im Vergleich dazu sind in der Auto- Signal. mobilindustrie, über die so oft gesprochen wird, nur – in Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht die EU-Kom- Anführungsstrichen – knapp 1 Million Menschen be- mission in der Gestaltung europäischer Strukturen für schäftigt. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wird klar, die Finanzmarktaufsicht. Gemeinsam mit der Kom- wie wichtig die gesetzlichen Rahmenbedingungen für mission ist die Mehrheit des Deutschen Bundestages der Banken und Versicherungen im Gemeinsamen Markt Auffassung, dass eine effiziente Zusammenarbeit der na- sind. Aus unserer Sicht ist es für den Finanzplatz tionalen Aufsichten mit dem Ziel einer einheitlichen Fi- Deutschland daher von enormer Bedeutung – das ist in nanzmarktregulierung von zentraler Bedeutung ist. Bis- dem zur Beschlussfassung anstehenden Antrag des heu- her gibt es in den europäischen Mitgliedstaaten etwa 70 tigen Abends als einer der zentralen Punkte wiederzufin- einzelne Aufsichtsinstitutionen mit den unterschiedlichs- den –, dass dem Maßnahmenbündel des Aktionsplans ten Vorschriften und Verfahren. Finanzdienstleistungen aus dem Jahre 1999 keine weite- ren finanzpolitischen Gesetzgebungspakete mehr beige- Unser Ansatz im Sinne unseres Interesses lautet des- stellt werden. halb, dass die Aufsicht über national tätige Unternehmen bei den nationalen Aufsichtsbehörden innerhalb eines Wir haben in den letzten sechs Jahren bereits 42 Ein- europäischen Systems der Aufsichtsbehörden verbleiben zelmaßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen Bin- muss. Grenzüberschreitende Unternehmen mit entspre- nenmarktes für die Finanzdienstleistungen verabschie- chender Relevanz sollen hingegen von einem europäi- det. Die wichtigsten Dinge sind auf den Weg gebracht: schen Aufsichtssystem kontrolliert werden, allerdings die Eigenkapitalrichtlinie Basel II, die Prospektrichtli- nicht in Form einer neuen zentralistischen europäischen nie, die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, die Transpa- Aufsichtsbehörde. Dagegen sprechen wir uns in dem renzrichtlinie, die Verbraucherkreditrichtlinie und sehr heutigen Antrag und dem damit verbundenen Beschluss vieles mehr. Alleine durch europäische Regulierung ent- aus. Entscheidend sind vielmehr das Bestreben und die steht aber noch lange kein integrierter Binnenmarkt für Gewähr, einheitliche Regeln auch einheitlich auszulegen Finanzdienstleistungen. Vielmehr muss es jetzt die Auf- und anzuwenden. Diese Linie gibt Deutschland vor. (B) gabe der Europäischen Kommission sein – das ist die ge- (D) meinsame Meinung des Hauses –, darauf zu achten, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. die Maßnahmen des alten Finanzdienstleistungspakets Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]) auch in allen Mitgliedstaaten konsequent, fristgerecht und zügig umgesetzt werden. Nur diese gemeinsame Viel wichtiger ist nach unserer Auffassung allerdings konsequente, fristgerechte und zügige Umsetzung ist für neben der Fragestellung, die europäischen Aufsichts- die Wirkung eines gemeinsamen europäischen Binnen- strukturen zu regeln, die Begleitung des europäischen marktes entscheidend. Regelwerks durch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament. Wir brauchen für die Regelfest- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- setzung eine legitimierte und demokratische Kontrolle. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE In diesem Zusammenhang möchte ich in dieser De- GRÜNEN) batte auf eine Besonderheit hinweisen, das so genannte Weder den Anlegerinnen und Anlegern noch den Fi- Lamfalussy-Verfahren. Wir haben es hier mit einem nanzdienstleistern und Emittenten sowie den anderen verhängnisvollen Regelkreis zu tun, indem sich erstens Marktteilnehmern ist mit einer neuen Welle europäischer die Aufseher im Verfahren selber die Regeln geben, die Finanzmarktgesetzgebung geholfen. Wir sind sogar der sie dann zweitens auf sich selbst anwenden und durch- Meinung, dass das in der jetzigen Zeit kontraproduktiv setzen. Es ist offensichtlich: In diesem Verfahren fehlt wäre. jegliche demokratische Kontrolle und manchmal – das muss man feststellen – an der einen oder anderen Stelle (Beifall bei der CDU/CSU) auch die fachliche Kontrolle. Die Kommission operiert jetzt mit dem Begriff Better (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Regulation – auf Deutsch: bessere Rechtssetzung – und Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Deutsche Bundestag wird die Kommission beim NEN]) Wort nehmen. Es ist unsere Absicht, der Kommission sehr genau auf die Finger zu sehen, ob diesen Worten Das demokratisch legitimierte Parlament, das Europäi- dann auch Taten folgen. Vor diesem Hintergrund ist es sche Parlament, gibt im Lamfalussy-Verfahren nur den von zentraler Bedeutung, dass erstens neue Dossiers nur Rahmen für die Gesetzgebung vor. Um die Details küm- vorsichtig und allein auf Basis einer umfassenden Fol- mern sich eigens dafür eingesetzte Expertengruppen fern genabschätzung angegangen werden, dass zweitens jeglicher demokratischer Legitimation. Mit anderen Eingriffe in funktionierende Markstrukturen nur mit an- Worten: Erstmalig in der Geschichte der Europäischen gemessener Begründung und dem Gebot der Verhältnis- Union entscheiden nicht die demokratisch eingesetzten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1987

Georg Fahrenschon (A) Gremien über die vollständigen Rechtstexte, sondern eine materiell einheitliche Aufsicht brauchen. Zumindest (C) Fachkommissionen hinter verschlossenen Türen. für die Marktteilnehmer, die grenzüberschreitend tätig sind, ist dies notwendig. Am Ende meines Beitrags zu dieser Debatte muss ich schon deutlich machen, dass der Ansatz, Experten hinter (Beifall bei der FDP) verschlossenen Türen arbeiten zu lassen, um so Bürokra- tie zu vermeiden, auf breiter Front gescheitert ist. Ohne Ein wesentlicher Schwerpunkt des Weißbuchs ist die die Möglichkeit, durch demokratisch legitimierte Parla- Integration der Retail-Märkte. Wenn wir die Bevölke- mente – national wie europäisch – an der einen oder an- rung in diesem Prozess mitnehmen wollen, dann ist ge- deren Stelle Kompromisse oder Vereinfachungen durch- rade der Privatkundenmarkt besonders geeignet, eine hö- zuführen, werden wir den hochkomplexen Bereich des here Akzeptanz für Europa zu schaffen. Es ist wichtig, europäischen Marktes und des europäischen Finanz- nicht ständig ein neues Nutztier durchs Dorf zu treiben. marktes nicht auf einen guten Weg bringen. Das aber ist (Florian Pronold [SPD]: Meistens ist das eine unser zentrales Interesse. Sau!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Stimmt. – Vielmehr sollte man sich auf die notwendige Diesem Ziel kommen wir mit dem heutigen Be- Regulierung beschränken. Dabei muss es möglich sein, schluss ein Stück näher. Wir können uns dann in Zukunft künftig grenzüberschreitend ein Bankkonto zu führen noch stärker einmischen. oder einen Hypothekenkredit aufzunehmen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir müssen aber in Deutschland auch selbst unsere Hausaufgaben machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) GRÜNEN) Wenn wir so gerne von gleichen Wettbewerbsbedingun- gen – den so genannten Level Playing Fields – sprechen, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dann müssen wir auch bei uns mehr Wettbewerb zulas- Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege sen. Wachstum entsteht durch Wettbewerb, nicht durch Frank Schäffler. Abschottung. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frank Schäffler (FDP): (B) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen Deshalb gehört zu einem funktionierenden Markt auch, (D) und Kollegen! Wenn wir heute über das Weißbuch zur dass ein ausländischer Investor die Bankgesellschaft Finanzdienstleistungspolitik sprechen, dann ist dies Berlin kaufen und – unabhängig von seiner Eigentümer- nicht nur für den Finanzmarkt, sondern auch für die struktur – den Namen „Sparkasse“ weiterführen darf. Wirtschaft insgesamt eine wichtige Diskussion. Deshalb Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die EU ihr Ver- ist es gut, dass wir uns fraktionsübergreifend auf einen tragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wieder gemeinsamen Antrag geeinigt haben. aufgreifen will. Dabei will ich deutlich machen, dass die FDP-Frak- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das steht aber tion ein großes Interesse an einem funktionierenden Fi- nicht im Antrag!) nanzbinnenmarkt in Europa hat. Wettbewerb, Kapital- und Niederlassungsfreiheit sind (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo keine Einbahnstraße, sondern schaffen Wachstum und Dautzenberg [CDU/CSU]) damit Arbeitsplätze. Das ist gerade in Berlin sehr wich- Wenn wir über Europa sprechen, dann fällt immer wie- tig. der das Stichwort „Bürokratie“. Eine Regulierung be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist aber deutet zwangsläufig einen erhöhten Abstimmungsbedarf eine Überinterpretation unseres gemeinsamen und daher auch mehr Bürokratie. Die niederländische Antrags!) Regierung hat die Bürokratiekosten in Europa im Jahr 2002 auf über 340 Milliarden Euro geschätzt. Die Nie- – Deshalb mache ich auch die Unterschiede deutlich, die derlande selbst wollen ihre Bürokratiekosten zwischen in diesen Fragen zwischen uns bestehen. 2003 und 2007 um 25 Prozent senken. Ich meine auch, dass wir bei der Umsetzung von Könnte das Vorhaben auf die gesamte EU ausgeweitet Basel II gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen werden, dann wäre nach Schätzung der niederländischen müssen. So geht es nicht an, dass wir bei Haftungsver- Regierung das reale Bruttoinlandsprodukt in der EU um bünden von Sparkassen und Landesbank weichere Haf- 1,7 Prozent zu steigern. Daher kommt der Initiative der tungskriterien – zum Beispiel bei Intergruppenforderun- EU-Kommission unter dem Stichwort „Better Regula- gen – als bei konsolidierten Instituten zulassen. Hier tion“ auch bei der Finanzmarktintegration eine hohe Be- findet indirekt eine Wettbewerbsverzerrung statt, die wir deutung zu. Dabei sind wir skeptisch, ob wirklich eine nicht akzeptieren können. Man kann nicht auf der einen europäische Finanzaufsicht institutionalisiert werden Seite eine gleiche und fristgerechte Richtlinienumset- muss. Wir sind eher der Auffassung, dass wir in Europa zung fordern und im selben Atemzug den Wettbewerb 1988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Frank Schäffler (A) beschränken. Daher müssen wir auch vor unserer eige- britannien, das auf dem Finanzmarkt in unmittelbarer (C) nen Haustür kehren. Konkurrenz zu uns steht, sondern auch andere Länder. Es ist deshalb an der Zeit, dass Deutschland seine Wir unterstützen den Weg zu besserer Regulierung starren Bankensysteme überdenkt und die Energie, die und weniger Bürokratie. Wir wollen, dass alles, was die Teilnehmer in die jeweiligen Abwehrschlachten in- wir auf den Weg bringen, darauf untersucht wird, welche vestieren, für eine Fortentwicklung des Finanzmarktes in Kosten-Nutzen-Effekte es für den Markt, aber auch für Deutschland und Europa genutzt wird. die Kundinnen und Kunden hat, und dass wir in die Lage versetzt werden, zu überprüfen, welche Auswirkungen Vielen Dank. das Beschlossene über die Jahre hat; denn gerade bei ei- (Beifall bei der FDP) nem so empfindlichen Markt wie dem Finanzmarkt ist es notwendig, nachzujustieren, nicht nur um Ungerechtig- keiten und Fehlentwicklungen zu stoppen, sondern auch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: um Chancen zu ergreifen. Sonst sind andere schneller als Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nina Hauer, wir. SPD-Fraktion. Wir teilen die Auffassung der Kommission, dass für (Beifall bei der SPD) eine gemeinsame Umsetzung der Finanzmarktregulie- rung eine bessere Zusammenarbeit der nationalen Auf- Nina Hauer (SPD): sichten vonnöten ist. Mit den diversen Aufsichtsbehör- den, die momentan in Europa bestehen, ist eine Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- einheitliche Umsetzung – gerade angesichts der ver- gen! Der europäische Binnenmarkt für Finanzdienstleis- schiedenen Kulturen der Verwaltungen – nicht zu leis- tungen ist in den letzten Jahren erfolgreich zusammenge- ten. Wir wollen außerdem den Finanzmarkt unter eine führt worden. Über 40 Regulierungsmaßnahmen wurden demokratisch legitimierte Aufsicht stellen. Wir als im Rahmen des Aktionsplans beschlossen. Die Umset- Parlamentarier wollen darüber berichten; denn wir sind zung dieser Maßnahmen ist nicht nur für die Unterneh- Teil unserer deutschen Finanzdienstleistungsaufsicht. men, sondern auch – das sollte man ruhig einmal erwäh- Aber wir wollen auch, dass das Europäische Parlament nen – für die Aufsichtsbehörden und für uns mehr Möglichkeiten hat, zu überprüfen und zu entschei- Abgeordnete des Deutschen Bundestages eine große He- den, was im Rahmen der Aufsicht unternommen wird, rausforderung. damit wir gegebenenfalls eingreifen und Fehlentwick- Mit ihrem im Dezember 2005 vorgelegten neuesten lungen verhindern können. (B) Weißbuch gibt die Europäische Kommission die Ziel- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) stellung für die Gestaltung der Finanzdienstleistungspo- litik bis 2010 vor. Wir unterstützen den im Weißbuch Die zukünftige Aufsichtsstruktur stellen wir uns so skizzierten Weg, gerade weil man sich auf die Privat- vor: Für das, was auf nationaler Ebene geschieht, sollten kundenmärkte konzentriert. Diese spielen für die Al- die jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden zuständig tersvorsorge, aber auch die Kapitalbildung der Unterneh- sein; denn sie haben bislang die besseren Ressourcen. men eine große Rolle. Wir wissen, dass wir eine große Das bleibt auf absehbare Zeit auch so. Wichtig ist aber, Verantwortung für unsere Privatkunden haben. Außer- dass grenzüberschreitend tätige Unternehmen im Rah- dem haben wir den größten Markt innerhalb der Europäi- men eines europäischen Finanzaufsichtssystems beauf- schen Union. Wir wollen daher dafür sorgen, dass bei sichtigt werden. Dabei ist es uns weniger wichtig, eine den Regelungen, die die Bürgerinnen und Bürger als neue zentrale Behörde zu errichten. Das kann vielleicht Kunden betreffen, nicht ausschließlich der Weg der Ma- irgendwann einmal sinnvoll sein. Wichtig ist für uns ximalharmonisierung gegangen wird, sondern Mindest- aber jetzt, dass die verschiedenen nationalen Aufsichten standards vereinbart werden, damit es Spielraum gibt, besser zusammenarbeiten, keine Synergien verlieren, In- um auf nationale Besonderheiten einzugehen. Gerade im formationen austauschen sowie die Regeln einheitlich Hinblick auf die Situation der gesetzlichen Rentenversi- interpretieren und anwenden, damit Wettbewerbsverzer- cherung in Deutschland tun wir gut daran, uns diesen rungen verhindert werden. Spielraum zu erhalten. Wir wollen, dass die grenzüberschreitenden Aktivitä- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ten nicht zu unnötigen Kosten führen. Sonst hätte die Fi- CDU/CSU) nanzmarktintegration, überhaupt der europäische Bin- nenmarkt, keinen Sinn. Wir werden im Rahmen der Wir unterstützen, wie gesagt, den im Weißbuch skiz- Verbesserung des europäischen Zahlungsverkehrs auch zierten Weg. Wir wollen aber nicht, dass aus diesem We- darüber reden, was das eigentlich für die Bürgerinnen geplan ein Irrgarten wird. Unter der Überschrift „dyna- und Bürger am Schalter bedeutet: Wie gestalten sich mische Konsolidierung“ sagen wir, was wir wollen, Geldgeschäfte in Europa, insbesondere Überweisungen, nämlich nicht nur eine konsequente, sondern auch eine werden sie günstiger und sicherer? gleichzeitige Umsetzung aller Richtlinien in nationale Gesetze. Wir können es uns nicht erlauben, dass die Wir begrüßen, dass im Rahmen des Lamfalussy-Ver- deutschen Marktteilnehmer aufgrund unterschiedlicher fahrens bei der Zusammenarbeit der Aufsichten schon Geschwindigkeiten bei der Umsetzung von Richtlinien gute Ergebnisse erzielt worden sind. Natürlich werden in Europa benachteiligt sind. Das betrifft nicht nur Groß- wir ein wachsames Auge darauf haben, damit sich das, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1989

Nina Hauer (A) was da gemacht wird, nicht der politischen Kontrolle Dabei ist davon auszugehen, dass die günstigsten (C) entzieht. Mit dem uns jetzt vorliegenden Plan – den wir grenzüberschreitenden Angebote oft aufgrund fehlenden begleiten wollen, aber den wir dann stoppen werden, Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in den Verbrau- wenn wir den Eindruck haben, dass eine neue Welle von cherschutz nicht genutzt werden. Zur Stärkung der Pri- umzusetzenden Gesetzen auf uns zukommt – werden wir vatkunden ist es aber vor allen Dingen notwendig, neben dafür sorgen, dass unser Part im europäischen Finanz- Transparenz und Vergleichbarkeit der Finanzprodukte markt klar strukturiert ist, dass er transparent ist für alle, einen umfassenden Verbraucherschutz zu erreichen. Wir die daran teilnehmen, und dass er wirtschaftlich erfolg- brauchen auf EU-Ebene ein höheres Verbraucherschutz- reich ist. niveau für Finanzdienstleistungsprodukte. Wir setzen auf den Finanzmarkt. Er ist unabdingbar (Beifall bei der LINKEN) für mehr Wachstum. Unternehmen – insbesondere junge Der Antrag spricht sich aus unserer Sicht zu Recht ge- Unternehmen – brauchen ihn, um an Kapital zu kom- gen eine Maximalharmonisierung aus und fordert statt- men. Eben wurde Basel II angesprochen. Ich glaube, dessen die Koppelung von Mindeststandards und Re- dass es jetzt noch zu früh ist, darüber zu reden, welche spektierung nationaler Besonderheiten. In dem Punkt ist Rolle die einzelnen Institute einnehmen sollen. Ich will auch aus unserer Sicht Überregulierung völlig fehl am aber schon darauf hinweisen, dass Basel II auch eine Platze. In vielen Punkten hätte ich mir allerdings konkre- Chance bietet. Gerade kleinere und mittelständische Un- tere Orientierungen im Einzelnen gewünscht. ternehmen bei uns klagen darüber, wie schwierig es ist, an Kapital zu kommen. Basel II eröffnet dem Mittel- Europäisches Finanzaufsichtssystem – das ist wichtig stand einen neuen Weg, mehr Geld zur Verfügung ge- und unterstützenswert. Dennoch müssen wir aus meiner stellt zu bekommen. Oft wird der Eindruck erweckt, Sicht weit über den Antrag hinausgehen. Ich sehe ganz Basel II führe dazu, dass kleine Handwerksbetriebe erheblichen Regulierungsbedarf in den nationalen und keine Kredite mehr bekämen. Das Gegenteil dieser Hor- transnationalen Finanzsystemen. rorvision soll der Fall sein. Wir werden allerdings darauf Nur ein paar Stichworte zu den Punkten, die aus mei- achten, dass die nationale Struktur unseres Finanzmarkts ner Sicht eine besondere Brisanz haben. Ich zitiere noch berücksichtigt wird, insbesondere – das kann man offen einmal den Chef der Commerzbank, Klaus-Peter Müller, sagen – die Kreditabhängigkeit der mittelständischen zum Thema Hedge-Fonds: Er geht davon aus, dass man Unternehmen. Wir werden unsere Interessen bei der von vielen Fonds außer Telefonnummer und Adresse Umsetzung der Richtlinie nicht aus den Augen verlieren. überhaupt nichts wisse. Auch der BaFin-Präsident Sanio Dieser Punkt ist auch von öffentlichem Interesse. Wir spricht bezüglich der Hedge-Fonds von großen schwar- zen Löchern der internationalen Finanzwelt, von denen (B) Abgeordnete bekommen dazu nicht nur Zuschriften, (D) sondern haben auch in den Wahlkreisen viel damit zu keiner genau wisse, was dort laufe. tun. Ich glaube, dass wir an diesem Beispiel deutlich ma- Was passiert eigentlich auf diesem Sektor? Was ge- chen können, was wir meinen, wenn wir eine bessere denkt die Bundesregierung hier zu tun? Ich las in der Regulierung verlangen, eine Konsolidierung der Ge- „“ vom 10. März dieses Jahres, die Bun- setze, die wir auf den Weg gebracht haben, fordern und desregierung beabsichtige, die Meldepflicht für alle In- eine Weiterentwicklung des europäischen Finanzmarktes vestmentfonds zu lockern, und zwar als Reaktion darauf, und unserer Rolle als Marktteilnehmer aus deutscher dass die Hedge-Fonds-Branche hierzulande nicht richtig Sicht wollen. in die Gänge komme. Da stellt sich natürlich schon die Frage, ob wir nicht doch ganz andere, neue Regulie- Vielen Dank. rungsbedarfe in diesem Bereich haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nur zur Illustration ein zweites Stichwort. Ich zitiere wieder Herrn Sanio: Er spricht von den Ratingagentu- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ren als der „größten unkontrollierten Macht der interna- Nun hat das Wort der Kollege Dr. Axel Troost, Frak- tionalen Finanzmärkte“. Auch hier müssen wir gemein- tion Die Linke. sam überlegen, wie wir damit umgehen. (Beifall bei der LINKEN) Zusammengefasst: Diese Initiative geht aus unserer Ansicht in die richtige Richtung. Wir werden sie daher unterstützen. Wir sehen aber auf dem Gebiet der Regu- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): lierung der europäischen Finanzmärkte ganz andere, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sehr viel brisantere Aufgaben und Fragestellungen, mit Kollegen! Der vorliegende Antrag weist zu Recht darauf denen wir uns beschäftigen müssen. Angesichts der ex- hin, dass bisher vor allem Unternehmen von der europäi- plodierenden Renditeansprüche der Vermögensbesitzer schen Finanzmarktintegration profitiert haben und dass haben wir es heute mit neuen Formen des Finanzmarkt- hier nun neue Prioritäten gesetzt werden müssen. Die kapitalismus zu tun, was ganz neue Formen der Regulie- Stoßrichtung der EU-Kommission, das künftige Haupt- rung erfordert. Aus unserer Sicht kommt hier ein Riesen- augenmerk auch auf eine verstärkte Integration der Pri- schwall von Problemen auf uns zu. Diese sollten wir in vatkundenmärkte zu richten, ist zu unterstützen. Auch der künftigen Arbeit im Finanzausschuss wie auch im die Bürgerinnen und Bürger müssen in den Genuss der Plenum diskutieren. für sie vorteilhaftesten Finanzdienstleistungen kommen, die europaweit angeboten werden. Danke schön. 1990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Axel Troost (A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Komitologieverfahren – aus, sondern auch in anderen (C) neten der SPD) Bereichen. Dort ist man von parlamentarischer Kontrolle ebenfalls sehr weit entfernt. Wir als Parlamentarier soll- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ten unsere Aufgabe, diese europäischen Gesetzgebungs- Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gerhard Schick, prozesse zu begleiten, noch ernster nehmen. Wenn ich Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. mir das Programm der nächsten Jahre anschaue, dann komme ich zu dem Schluss, dass das ein hoher Anspruch ist, den wir hier für uns formulieren, nämlich die Recht- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setzung parlamentarisch, im Finanzausschuss und hier NEN): im Plenum, zu begleiten und zu kontrollieren und nicht Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die nur das sozusagen zu übernehmen, was von der europäi- Grünen unterstützen ausdrücklich das in dem gemein- schen Ebene kommt. Ich hoffe, dass wir es schaffen, die- sam eingebrachten Antrag formulierte Ziel, einen Bin- sem Anspruch auch wirklich gerecht zu werden. Es wäre nenmarkt für Finanzdienstleistungen zu schaffen, das ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie in heißt, die bisher eingeleiteten Schritte fortzuführen. Europa. Nachdem ich die bisherige Debatte verfolgt habe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN komme ich zu dem Ergebnis: Wir unterschätzen, was der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Begriff „dynamische Konsolidierung“ meint. Die Kon- der SPD) solidierung ist ziemlich dynamisch. Hinter den wenigen Legislativmaßnahmen steht doch allerhand. Allein das Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Projekt Solvency II ist ein Mammutprojekt, das für die auch schon erwähnt worden ist. Es geht jetzt in einem deutsche Versicherungswirtschaft enorme Konsequen- zweiten Schritt darum, auch den Verbraucher stärker in zen haben wird. Daher ist es richtig, zu sagen: Wir zie- den Blick zu nehmen. Wir haben Europa häufig als bür- hen die Konsequenzen aus einer teilweise etwas überla- gerfern bezeichnet. Das ist auch an verschiedenen Stel- denen Liste von Legislativmaßnahmen der letzten Jahre len sichtbar. Eine Stelle, wo das sichtbar ist, ist die fol- und schauen stärker auf die Umsetzung. Wir vertreten gende: Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ist hier zu Recht die Auffassung: Das Vorhaben muss in der bisher stärker für Firmenkunden als für Verbraucher Europäischen Union gleichmäßig und konsequent umge- Realität geworden. Es ist deswegen richtig, dass wir dem setzt werden. Kapitel Privatkunden besondere Aufmerksamkeit ge- schenkt haben. Wir Grünen werden besonders darauf Wir sollten dabei aber nicht unterschätzen, was in den achten, dass der Verbraucherschutz bei diesen Sachen nächsten Jahren noch auf uns zukommt, um den gemein- nicht zu kurz kommt. (B) samen Finanzdienstleistungsmarkt wirklich zu voll- (D) enden. Beim Stichwort „Better Regulation“ ist für uns beson- ders wichtig, dass wir auch die Chancen nutzen, die in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einer Harmonisierung liegen, zum Beispiel für weniger Spätestens dann, wenn es um die Zahlungsverkehrsricht- Bürokratie. Es ist einfach so, dass es für viele Unterneh- linie und die Verbraucherkreditrichtlinie geht, wird es men und Verbraucher eine deutliche Entlastung von Bü- mit der Gemeinsamkeit an der einen oder anderen Stelle rokratie bedeutet, wenn wir gemeinsame Regelungen wohl ein Ende haben. Trotzdem ist es richtig, dass wir schaffen, gerade im Grenzbereich. Ich möchte also da- die Ziellinie jetzt erst einmal gemeinsam in den Blick rum bitten, dass wir unter diesem Stichwort „Better Re- nehmen. gulation“ nicht Ziele aufgeben, sondern versuchen, diese – nämlich eine bessere Finanzierung für Unternehmen, Ich möchte noch einige Anmerkungen aus grüner Per- aber auch eine stabile Finanzmarktentwicklung, die das spektive machen. Sie zeigen vielleicht, wo aus unserer Verbrauchervertrauen mit in den Blick nimmt – auch Sicht Schwerpunkte sind. durch eine gute europäische Rechtsetzung zu erreichen. Zunächst möchte ich an das anknüpfen, was Herr Vielen Dank. Kollege Fahrenschon bereits gesagt hat – bei ihm möchte ich mich für die Koordination noch einmal recht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herzlich bedanken –: Hinter diesem Antrag steht ein an- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und deres Verständnis von Europapolitik; wir wollen die Eu- der SPD) ropapolitik stärker antizipativ begleiten. Sie haben das Lamfalussy-Verfahren kritisiert. Ich stimme Ihnen da Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ausdrücklich zu. Die Tatsache, dass Rechtsetzung ohne Ich schließe die Aussprache. demokratische Kontrolle in Parlamenten stattfindet, ist – das gilt insbesondere für das Lamfalussy-Verfahren – Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der ein wichtiger Bestandteil dessen, was wir klagend als Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des das Demokratiedefizit bezeichnen. Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/933 mit dem Titel „Besser regulieren, dynamisch konsolidieren – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration“. DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Wer stimmt für diesen Antrag? – Gibt es Gegenstim- Dieses Demokratiedefizit drückt sich natürlich nicht men? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist nur in dem Lamfalussy-Verfahren – es ist ein Teil der der Antrag einstimmig angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1991

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: Deswegen ist es wichtig, dass man sich dieses Phäno- (C) mens annimmt. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wir haben es mit der Offenbarung staatlicher Ge- Wieland, weiteren Abgeordneten und der Frak- heimnisse zu tun. Das ist eine Straftat. Gleichzeitig ist tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- die Offenlegung Aufgabe einer kritischen und freien brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz Presse. Wenn die Beamten, die solche Dienstgeheim- von Journalisten und der Pressefreiheit in nisse offenbaren, auch Straftäter sind, sind sie doch Straf- und Strafprozessrecht gleichzeitig die grundrechtlich geschützten Informanten der freien Presse. Daraus hat der Deutsche Bundestag – Drucksache 16/576 – schon 1979 den Schluss gezogen, den damaligen § 353 c Überweisungsvorschlag: StGB zu ändern, indem er festgelegt hat: Strafbar Rechtsausschuss (f) machen sich nicht die Journalisten, die Geheimnisse ver- Innenausschuss öffentlichen, sondern nur Beamte, die ihre Dienstver- Ausschuss für Kultur und Medien pflichtung zur Geheimhaltung verletzen. Aber diese b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Trennung – Freiheit der Presse auf der einen Seite und Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, Schutz von Dienstgeheimnissen auf der anderen Seite – Mechthild Dyckmans, weiteren Abgeordneten ist in der Folgezeit nicht gelungen. Die neuesten Fälle und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- zeigen das auch ganz illuster; denn über das Konstrukt wurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Presse- der Beihilfe und der Anstiftung werden immer wieder, freiheit bis zum heutigen Tage, Journalisten verfolgt und Haus- durchsuchungen durchgeführt. – Drucksache 16/956 – Überweisungsvorschlag: Das soll und muss sich ändern. Deswegen haben wir Rechtsausschuss (f) unseren Gesetzentwurf vorgelegt, der im Wesentlichen Innenausschuss in sechs Punkten Abhilfe schaffen soll: Ausschuss für Kultur und Medien Es gibt zwei Wege, um Journalisten in diesen Fällen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zu schützen: den prozessualen, den wir nicht für den Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe richtigen halten, und den materiellen, den wir für richtig dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. halten. Wir sagen: Beihilfe und Anstiftung zum Geheim- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem nisverrat sollen in Zukunft für Journalisten und Mitar- Kollegen Jerzy Montag von der Fraktion des Bündnis- beiter der Presse nicht mehr strafbar sein. (B) ses 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Wir wollen die Justizkontrolle insofern verbessern, Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): als wir den Gerichten auferlegen, bei Ermittlungen ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen Journalisten das Grundrecht der Presse, das Grund- Gestern hat die Staatsanwaltschaft Potsdam Anklage ge- recht der Meinungsäußerungsfreiheit immer im Blick zu gen zwei Journalisten wegen Beihilfe zum Geheimnis- haben. verrat erhoben. Über diesen Fall hat der Deutsche Bun- destag schon diskutiert; auch der Innenausschuss war Wir wollen die Zufallsfunde beschränken, soweit das damit befasst. Dieser Fall ist nicht singulär. Allein in Zeugnisverweigerungsrecht das ermöglicht. diesem Jahr gab es Ermittlungen der Strafverfolgungsbe- Wir wollen die Telefonverbindungsdaten von Journa- hörden gegen Journalisten der „Wolfsburger Allgemei- listen schützen. nen“ und der „Dresdner Morgenpost“. In den zurücklie- genden Jahren gab es Ermittlungsverfahren gegen die Wir wollen ihre Wohnungen schützen, die bisher Zeitschrift „Max“ in Hamburg, den „Stern“, das ZDF nicht so geschützt sind wie die Redaktionsräume. und Radio Bremen; ich nenne nur einige wenige Fälle. Die Vielzahl der Fälle ergibt sich aus dem Bericht des Last, not least wollen wir das Strafrecht entrümpeln, Deutschen Journalisten-Verbandes, der für einen Zeit- indem wir § 353 d Nr. 3 StGB streichen. raum bis 2001 einige Dutzend einschlägige Fälle doku- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mentiert hat. Alles in allem ein Vorschlag, den wir gemacht haben, Die Pressefreiheit in unserem Land ist nicht erst in nachdem die große Koalition zwar einiges angekündigt, Gefahr, wenn die Polizei flächendeckend gegen alle aber bisher nichts vorgelegt hat. Jetzt hat die FDP mit ei- Journalisten und gegen alle Presseorgane ermittelt. Die nem Vorschlag nachgelegt, der sich in einigen Punkten Pressefreiheit ist bei uns bei jedem einzelnen Fall in Ge- von unserem unterscheidet. Wir werden in der weiteren fahr. Wir müssen Vorsicht walten lassen und bei jedem parlamentarischen Beratung darauf achten, wer den bes- Fall solcher Ermittlungen aufpassen, worum es geht und seren Vorschlag gemacht hat. Ich würde mich aber auch warum die Polizei, die Ermittlungsbehörden gegen Jour- freuen, wenn die Koalition endlich in die Puschen käme nalisten ermitteln. und uns einen Vorschlag vorlegen würde. Angekündigt haben Sie das bereits; aber Sie haben bisher nichts ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN macht. sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Peter Danckert [SPD]: Nicht übertreiben!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: es im so genannten „Spiegel“-Urteil des Bundesverfas- (C) Das Wort hat nun der Kollege Siegfried Kauder für sungsgerichts vom 5. August 1966 niedergelegt findet. die CDU/CSU-Fraktion. Dort heißt es: Die Presse genießt im Strafverfahren keine Privile- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ gien … Namentlich steht im freiheitlich-demokrati- CSU): schen Staat der Pressefreiheit die Mitverantwortung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Presse für die Staatssicherheit gegenüber. Nicht bei allen, aber bei den meisten Dingen schadet blinder Eifer nur. Es geht hier um ein sehr wichtiges und (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele schwieriges Thema: die Abgrenzung der Ermittlungs- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möglichkeiten in Bezug auf Straftäter und Straftaten ge- Geheimnisverrat erschüttert die Grundfeste des inne- genüber der Pressefreiheit. ren und äußeren Bestandes des Staates. Bündnis 90/Die Grünen und die FDP haben mit be- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- merkenswert großer Schnittmenge zwei unterschiedliche NEN]: Wir sind doch nicht beim Staatsschutz- Gesetzentwürfe vorgelegt. Bündnis 90/Die Grünen nennt recht! Das ist doch Unsinn, Herr Kollege!) den Entwurf „Gesetz zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht“. Die Deswegen ist Geheimnisverrat zu Recht strafbar. FDP ist da schon neutraler und spricht von einem Gesetz (Beifall bei der CDU/CSU) zur Sicherung der Pressefreiheit. Aber, meine Damen und Herren, wenn man den Gesetzentwurf von Bünd- Geheimnisverrat muss nicht nur für einen Amtsträger, nis 90/Die Grünen genau ansieht, merkt man sehr sondern auch für denjenigen strafbar sein, der Beihilfe schnell die Intention. leistet oder den Amtsträger anstiftet. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Das soll man auch! – Silke Stokar von Geheimnisverrat ist zwar ein Sonderdelikt, aber es ent- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das spricht den allgemeinen Regeln des Strafrechtes, dass ist der Sinn!) nicht nur der, der die Straftat als Haupttäter begeht, son- dern auch der, der dazu anstiftet oder Beihilfe leistet, be- In einem laufenden Ermittlungsverfahren leistet man straft werden muss, auch wenn er die Amtseigenschaft zwei Journalisten, gegen die gestern Anklage erhoben nicht erfüllt. Da wird der Grundsatz der strengen Akzes- worden ist, entweder bewusst oder bedingt vorsätzlich sorietät in § 28 des Strafgesetzbuches – Juristen wissen Schützenhilfe. (B) das – aus gutem Grund durchbrochen. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – In der Problemstellung des Gesetzentwurfes heißt es Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gute Juristen bei Bündnis 90/Die Grünen – lassen Sie mich zitieren –: wissen das!) Bei der Anordnung von Durchsuchungs- und Be- Ich hoffe, die Kolleginnen und Kollegen von Bünd- schlagnahmemaßnahmen gegen Medienangehörige nis 90/Die Grünen merken selbst, wenn sie ihren Gesetz- fehlt in einer auffälligen Häufung die notwendige entwurf noch einmal sorgfältig überarbeiten, was für ein Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter Berücksich- Unsinn da produziert wurde. tigung der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Grundgesetzes (GG). SES 90/DIE GRÜNEN) Systematisch werden bei solchen Gelegenheiten Sie kommen zu dem Ergebnis, die Beihilfe solle für „Zufallsfunde“ in erheblichem Ausmaß beschlag- einen Journalisten nicht strafbar sein, und zwar deshalb, nahmt … weil erst die Veröffentlichung eine Beihilfehandlung (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darstellt. Es ist übrigens auch juristischer Standard, dass NEN]: So ist es!) die Möglichkeit der Teilnahme eben nicht mit der Voll- endung, sondern erst mit der Beendigung des Deliktes Das ist nichts anderes als eine Kritik an den Ermittlungs- endet; auch das weiß jeder Jurist. Man kann allenfalls behörden. über die Frage diskutieren, ob Beihilfe nicht strafbar sein (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- soll. Warum wollen Sie eigentlich das Rechtsinstitut der NEN]: Insoweit schon!) Anstiftung auch noch kippen? Ihr Argument, dass die Abgrenzung zwischen Beihilfe und Anstiftung schwierig Eine solche Kritik mag einem einzelnen Abgeordneten sei, ist doch wohl nicht der Lösungsansatz für dieses zustehen, aber nicht diesem Hohen Haus in seiner Funk- Problem. Nein, so wird es sicherlich nicht gehen. tion als Gesetzgebungsorgan. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Bündnis 90/Die Grünen bleibt auch eine Begründung Wenn Kritik geäußert wird, dann muss sie sachlich für ihre Richterschelte schuldig. Man wirft den Richtern sein. Wer Geheimnisverrat begeht, soll und muss bestraft und der Staatsanwaltschaft vor, diese würden das Recht werden. Man kann es nicht besser ausdrücken, als man aushebeln, aber nicht um gegen den Teilnehmer einer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1993

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Straftat zu ermitteln, sondern um über den Umweg einer (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Beschlagnahme an den Informanten heranzukommen. NEN]: Nichts!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Strafvorschrift bewirkt, dass während eines lau- NEN]: So war das, lieber Herr Kollege! – fenden Ermittlungsverfahrens, das nicht öffentlich ist, Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Aktenteile nicht in der Presse veröffentlicht und nicht GRÜNEN]: Das ist die Realität!) publiziert werden dürfen. Ich finde, das ist eine Unverschämtheit gegenüber den (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ermittlungsbehörden, die nichts anderes tun, als das NEN]: Im Wortlaut!) Recht in Deutschland zu wahren. Originalakten dürfen nicht publiziert werden. Das ist gut (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- so. Denn Ermittlungsverfahren sind nicht öffentlich, Eckardt) sondern noch geheim. Wenn Sie § 353 d Nr. 3 streichen, hat das zur Folge, dass ein Nebenkläger, der aufgrund Um diese Meinung stützen zu können, beruft sich des Mandatsverhältnisses vom Anwalt Aktenkopien ver- Bündnis 90/Die Grünen auf eine Untersuchung des langen kann, die Anklageschrift, bevor sie in der Haupt- Deutschen Journalisten-Verbandes. Diese Untersuchung verhandlung verlesen worden ist, im Internet veröffentli- ist doch sicherlich nicht objektiv; denn sie ist von den chen darf. Betroffenen selbst durchgeführt worden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Viel (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Spaß!) NEN]: Und?) Überlegen Sie, ob Sie so etwas wollen! Der Haftbefehl Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Fälle in wel- eines verhafteten Tatverdächtigen, der nicht verurteilt chem Zeitraum untersucht wurden. Es wurden 164 Fälle ist, erscheint im Internet. Das können Sie allen Ernstes von 1987 bis zum Jahr 2000 untersucht. Wurden Fälle nicht gewollt haben. selektiert oder wurden alle Fälle untersucht? (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: NEN]: Es werden wahrscheinlich noch mehr Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage gewesen sein!) des Kollegen Hans-Christian Ströbele zu? Ich habe die Vermutung, dass man genau die Fälle he- rausgegriffen hat, bei denen die Beihilfe- bzw. Anstif- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ (B) tungshandlung nicht zu einer Verurteilung geführt hat. CSU): (D) Aber es soll hin und wieder vorkommen, dass es nicht zu Selbstverständlich. einer Verurteilung kommt, wenn Ermittlungsbehörden eine Hausdurchsuchung vornehmen. Ich habe in meiner Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: letzten Rede im Deutschen Bundestag gesagt, dass wir Bitte schön, Herr Ströbele. es nicht immer mit Straftätern, sondern auch mit Tatver- dächtigen zu tun haben. Aber auch da darf es keine Pri- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt kommt vilegien für die Presse geben, sofern sich diese nicht un- Niveau in die Debatte!) mittelbar aus Art. 5 des Grundgesetzes ergeben. Sie wissen doch genau, dass sich die Grenzen des Art. 5 aus Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE den allgemeinen Gesetzen ergeben. GRÜNEN): (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege Kauder, geben Sie mir Recht darin, dass Eben! Deswegen ändern wir das!) § 353 d, den Sie gerade angeführt haben, lediglich die wörtliche Veröffentlichung verbietet? Das heißt, im Falle Sie sehen, dieser Gesetzentwurf ist schon im Grund- der von Ihnen genannten Anklageschrift könnten Sie die ansatz parteiisch, mit heißer Nadel gestrickt und nicht gesamte Anklageschrift mit all dem, was darin steht, in- durchdacht. Dabei wollen wir nicht mitmachen. haltlich wiedergeben. Sie dürfen nur nicht wörtlich zitie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ren. Geben Sie mir Recht, dass zahlreiche Rechtsge- neten der SPD) lehrte diese Vorschrift schon aus diesem Grunde immer wieder kritisiert und die Abschaffung gefordert haben? Das ist die Philosophie von Bündnis 90/Die Grünen: Wenn wir schon reformieren, dann gehen wir mit dem Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Rasenmäher über das Strafgesetzbuch hinweg und strei- CSU): chen auch gleich den § 353 d Nr. 3. Ich brauche Ihnen nicht Recht zu geben, weil ich dies (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- so vorgetragen habe. Es ergibt sich schlicht und ergrei- NEN]: Ein einziger Paragraf! Das ist doch fend aus dem Gesetz, dass nur die wortgetreue Weiter- kein Rasen!) gabe von Aktenteilen strafbar ist. – Herr Montag, hören Sie einfach einmal zu! – Ich will Aber, Kollege Ströbele, auch Sie kennen die Welt und Ihnen sagen, was Sie bewirken, wenn Sie den § 353 d Prozessgeschichten. Ein Dokument zu veröffentlichen Nr. 3 streichen. hat einen höheren Aussagewert, als wenn ich den Inhalt 1994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) aus meiner Sicht wiedergebe. Deswegen ist diese Straf- dem Eifer erstellt. Wir haben uns damit vielmehr sehr (C) vorschrift zu Recht so gefasst worden. viel Zeit gelassen, weil wir natürlich auch die Meinung der Vertreter der Länder eingeholt haben sowie Justizmi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – nister der Länder und Mitarbeiter in den entsprechenden Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wegen der hö- Strafrechtsabteilungen befragt haben. Sie stehen nun heren Authentizität! Das ist doch klar!) nicht in dem Verdacht, einem mitzuteilen: Hier kann Ich hätte von Ihnen eigentlich eine andere Kritik er- man einmal eine Strafbestimmung überarbeiten oder wartet, nämlich die, dass der Anwendungsbereich rela- vielleicht aus einer Strafbestimmung eine Nummer strei- tiv gering ist und Straftaten in diesem Bereich relativ chen. Unser Gesetzentwurf ist in den Ländern, die wir wenig verfolgbar sind. Dazu kann ich nur sagen: Das ist befragt haben, auf keinerlei Bedenken gestoßen. der präventive Charakter dieses Gesetzes. Deswegen hält sich die Presse daran. Ich könnte Ihnen auch entge- Herr Kauder, Sie haben hier sehr differenziert, aber genhalten, dass wir erst in der letzten Legislaturperiode auch sehr engagiert Stellung bezogen. Ich möchte zu § 201 a des Strafgesetzbuches, den Schutz des höchst- § 353 d Nr. 3 klar sagen: Es hat auf dessen Grundlage, persönlichen Lebensbereiches, eingeführt haben, dessen wie Sie richtig bemerkt haben, kaum Verurteilungen ge- Anwendungsbereich nicht wesentlich breiter ist als der geben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit des § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches. dieser Bestimmung befasst. Es hat schon im Jahre 1986 ausgeführt, dass der Wirkungskreis dieser Bestimmung (Dirk Manzewski [SPD]: Der hat sich offen- extrem klein und ihre Auswirkung sehr gering sei. sichtlich bewährt!) Wir sind nach langer Überlegung zu der Überzeugung Meine Damen und Herren, ich möchte nicht alles gekommen, dass es wirklich nicht zu begründen ist, wa- schlecht machen. Einige gute Ansatzpunkte hat diese rum die Veröffentlichung eines konkreten Zitats, zum Diskussion sicher. Ich wende mich da insbesondere an Beispiel aus einer Anklageschrift, unter Strafe gestellt die FDP. Wir werden die Fragen des Zufallfundes über- und dieses Verhalten kriminalisiert wird, die sinngemäße denken müssen Wiedergabe aber, die möglicherweise mit einer verfäl- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schenden Darstellung des Sachverhalts einhergeht, kei- nerlei strafrechtlicher Verantwortung unterliegt und auch und wir werden die Frage des Sammelns von Telekom- nicht entsprechend erfasst werden kann. Deshalb halten munikationsdaten überdenken müssen. Aber das muss wir es nicht für richtig, die korrekt zitierende Bericht- man mit aller Sorgfalt tun. erstattung zu kriminalisieren. Festhalten kann man, dass § 97 der Strafprozessord- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (B) nung, also der Paragraf, der die Beschlagnahme zulässt, DIE GRÜNEN) (D) letztmals im Jahr 1975 inhaltlich geändert worden ist. Genau in diesem Jahr hat man eingeführt, dass dort, wo Herr Kauder, Kernpunkt ist die materielle Strafbar- ein Journalist sich der Teilnahme an einer Straftat schul- keit, an der sich alle anderen Vorschriften festmachen; dig gemacht hat, beschlagnahmt werden darf. Das funk- denn wenn wir ein gewisses Verhalten nicht unter Strafe tioniert seither durch die Auslegung der Gerichte ganz stellen, dann brauchen wir uns auch in der Strafprozess- ordentlich. ordnung nicht mehr damit auseinander zu setzen. Des- wegen haben wir sehr lange und sehr sorgfältig überlegt, Herr Kollege Montag, auch das werden Sie einräu- wie wir mit § 353 b StGB umgehen sollen. Wir sind zu men müssen: Das Sammeln von Post- und Telekommu- dem Ergebnis gekommen, dass wir das Anstiften ande- nikationsdaten wurde im Fall der zwei vor kurzem be- rer, eine Verletzung des Dienstgeheimnisses zu begehen, troffenen Journalisten in der Beschwerde gekippt. Das sehr wohl weiterhin unter Strafbarkeit stellen wollen. zeigt: Wenn man Beschwerdemöglichkeiten ausnützt, Das gehört nach unserer Meinung nicht zu dem, was un- kommt man zum Erfolg. Deswegen wird man prüfen ter den Schutz der Pressefreiheit von Journalisten fällt. müssen, ob die Rechtsprechung nicht schon auf dem richtigen Weg ist, ob dort schon genügend Schutz be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) steht und wir einer Gesetzesänderung gar nicht bedürfen, und zwar nicht um der Gesetze willen und auch nicht Wir haben uns den Sachverhalt, der immer wieder zu deswegen, um den Lobbyismus gewisser Bevölkerungs- Verfahren führt, die in der Vergangenheit so gut wie nie gruppen zu befriedigen. eine Verurteilung der Journalisten zur Folge hatten, auf- grund dessen es aber wegen einer möglichen Strafbarkeit Vielen Dank. in erheblichem Umfang zu Durchsuchungen, zu Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schlagnahmen und dann natürlich auch zu Zufallsfunden gekommen ist, genau angesehen. Deshalb sagen wir: Der Schutz von Dienstgeheimnissen reicht so weit, bis der- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: jenige, der zur Geheimhaltung verpflichtet ist, das Das Wort hat die Kollegin Sabine Leutheusser- Dienstgeheimnis verletzt und Unterlagen herausgegeben Schnarrenberger, FDP-Fraktion. hat. Wenn das passiert ist, dann ist dieser Tatbestand vollendet. Wenn anschließend ein Journalist mit diesem Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Material umgeht, dann handelt es sich nicht mehr um ein Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- strafbares Verhalten, das rechtfertigt, die Strafbestim- legen! Die FDP hat diesen Gesetzentwurf nicht in blin- mung in dieser Form, nämlich gemäß § 353 b StGB, auf- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1995

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) rechtzuerhalten. Deshalb haben wir ihn in unserem Ge- noch ein Stück weiter ausgedehnt worden. Wir haben bei (C) setzentwurf anders angelegt, als es Bündnis 90/ der Novellierung der Vorschriften zur Wohnraumüber- Die Grünen in ihrem Gesetzentwurf tun. Ich rede jetzt wachung Überwachungsverbote zugunsten von Journa- nicht über die Klugheit von Journalisten bei ihrer Be- listen eingeführt. Ich denke, da brauchen wir alle uns ge- richterstattung. – Ich denke, bei manchem ist es klug, da- genseitig nichts vorzumachen und nichts in Abrede zu von zu berichten; bei manchem ist man besser beraten, stellen. Es ist nicht so, dass der eine die Pressefreiheit es nicht in der Berichterstattung zu verwenden. – Ich mehr schützen möchte als der andere. hoffe, dass auf dieser Grundlage sehr wohl eine kon- struktive Beratung und vielleicht auch eine Mehrheits- Auf der anderen Seite ist uns allen auch klar, dass der findung im Ausschuss möglich sein werden. Schutz von Berufsgeheimnisträgern immer nur so weit reichen kann, wie sich diese in Ermittlungsverfahren und Unsere strafprozessualen Vorschläge sind zum Teil auch in Strafverfahren als nicht schuldig erweisen. Ich eine Konsequenz daraus, aber auch eine Konsequenz aus glaube, auch da sollten wir uns einig sein. Das eigentli- dem, was wir in der Praxis erleben. Wir wollen anders che Problem, um das es hier geht, finden wir im als Bündnis 90/Die Grünen auch eine Änderung in der 30. Abschnitt des Strafgesetzbuches bei den so genann- Strafprozessordnung. Wir wollen, dass ein dringender ten Straftaten im Amt. Das ist ein bisschen kompliziert; Tatverdacht, nicht nur ein einfacher Tatverdacht, vorlie- denn bei diesen Straftaten werden letzten Endes diejeni- gen muss, damit es zu Beschlagnahmen kommen kann. gen, die Presseerzeugnisse veröffentlichen – das sind Darüber können wir diskutieren. Ich denke aber, das nun einmal meistens Journalisten –, allein durch die Ver- dürfte nicht auf gravierende Bedenken stoßen. öffentlichung nach allgemeiner Teilnahmelehre zum Das, was mit § 100 h StPO passiert ist, nachdem man Teilnehmer, auf jeden Fall aber zum Gehilfen, da sie damit die Vorschrift aus dem FAG abgelöst hat, bedarf Beihilfe leisten können, bevor das Delikt beendet ist. noch, wie Sie, Herr Kauder, zu Recht gesagt haben, einer Das ist hier nun einmal das Problem. In dem Augen- Überprüfung und wohl auch einer Korrektur; denn die blick, in dem sie zum Teilnehmer werden, greifen die Journalisten sind dort einfach nicht erwähnt worden. Schutzvorschriften – Zeugnisverweigerungsrechte, Be- Warum soll man sie herausnehmen, wenn man andere schlagnahmeverbote usw. – nicht mehr. Dann ist das mit Zeugnisverweigerungsrecht und Berufsgeheimnis ganze Instrumentarium der Strafprozessordnung und der erfasst? Ich denke, gerade angesichts der Bedeutung der Ermittlungsmaßnahmen natürlich eröffnet. Das hat Pressefreiheit, die nicht nur ein Grundrecht neben vielen Durchsuchungen und Beschlagnahmen – mit Zufallsfun- anderen, sondern ein konstitutives Element unserer De- den und allem, was dazukommt – zum Ergebnis. Ich mokratie ist, sind wir gut beraten, uns diese Bestimmun- glaube, das finden wir alle – das habe ich aus der Dis- gen vorzunehmen. kussion heute hier ein bisschen herausgehört – im Ergeb- (B) nis nicht richtig. Ich zumindest kann für meine Fraktion (D) Ich habe den Eindruck, dass sich Vertreterinnen und sagen, dass wir angesichts des hohen Verfassungsrangs Vertreter der großen Koalition unserem Gesetzentwurf der Pressefreiheit der Meinung sind – ich verweise auf vielleicht stärker nähern können als manchen Bestim- die Fälle, die gerade durch die Medien gehen –, dass hier mungen von Bündnis 90/Die Grünen. Wenn dabei mehr ein Änderungsbedarf besteht. Pressefreiheit herauskäme, dann hätte sich dieses En- gagement wirklich gelohnt. Wir wissen auf der anderen Seite natürlich, dass jede Privilegierung von Journalisten im Rahmen staatsan- Vielen Dank. waltschaftlicher Ermittlungen einer ganz besonderen Le- (Beifall bei der FDP) gitimation und sorgfältiger Abwägung bedarf; dies sagt auch das Bundesverfassungsgericht. Wir wissen auch, dass ein genereller Vorrang der schutzwürdigen Interes- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sen von Journalisten gegenüber den Strafverfolgungsin- Das Wort hat Joachim Stünker, SPD-Fraktion. teressen des Staates nicht zu begründen ist; auch das ist (Beifall bei der SPD) vollkommen klar. Von daher wird die Diskussion für uns insgesamt ein bisschen schwierig werden; man muss schon genau hinschauen. Joachim Stünker (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Meinung – wie auch meine Fraktion –, Ich glaube, wir sind mittlerweile – wenn auch zu später dass hier Handlungsbedarf besteht; allerdings nicht in Stunde – bei diesem wichtigen Thema ganz gut in die dem Sinne, wie es in den beiden Gesetzentwürfen unter- Diskussion eingestiegen, die wir im Rechtsausschuss des schiedlicher Art, die das Problem lösen wollen, hier dar- Bundestages weiterführen werden. Ich denke, wir alle gestellt worden ist. hier sind uns darin einig, dass die Pressefreiheit für uns ein hohes Gut ist, dass sie konstitutiv für die Demokratie (Beifall bei der SPD) ist und die Demokratie mit Leben erfüllt. Ich bin explizit nicht der Meinung, dass man das Ganze Schon heute haben wir durch die Zeugnisverweige- im materiellen Strafrecht lösen kann. Wir können nicht rungsrechte und durch die Beschlagnahmeverbote einen für eine bestimmte Berufsgruppe Ausnahmen im materi- umfassenden Schutz der Pressefreiheit in der Strafpro- ellen Strafrecht vorsehen, nur weil es diese bestimmte zessordnung. Das müssen wir einmal feststellen. Dieser Berufsgruppe betrifft. Wir werden es rechtssystematisch Schutz ist von uns 2002 zum letzten Mal novelliert und und verfassungsrechtlich nicht begründen können, 1996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Joachim Stünker (A) sozusagen eine „Lex specialis“ im materiellen Recht zu Grundgesetz überall gilt und wie es zu schützen ist. Das (C) schaffen. Grundgesetz schützt die Pressefreiheit. Es schützt sie, weil die Pressefreiheit für eine lebendige Demokratie Wir werden das Ganze letztendlich nur über das Pro- unverzichtbar ist. Zu diesem Schutz gehört, dass Journa- zessrecht lösen können, und zwar indem wir uns einmal listen das Recht haben, ihre Quellen und Informanten zu die Tathandlungen, um die es hier geht, genau an- schützen. Sie gehen den Staat nichts an. Nun sagt ein schauen. Für den Teilnehmer, für den Journalisten, um Sprichwort, Ausnahmen bestätigen die Regel. Diese den es hier geht, ist mit der Veröffentlichung der Tatbe- Ausnahmen müssen aber gut begründet sein. stand der Teilnahme erfüllt, auch wenn der Haupttäter noch gar nicht bekannt sein sollte und ein Verfahren ge- Darauf zielt der Gesetzentwurf der Grünen. Deshalb gen unbekannt läuft. Deshalb ist in dem Augenblick, in unterstütze ich ihn politisch. Die vermeintlichen Aus- dem eine Teilnahme völlig klar ist, eine Beschlagnahme nahmen nehmen Überhand. Überhand nehmen auch die und Durchsuchung eigentlich nicht mehr erforderlich; Kollateralschäden; denn allzu gerne wird bei Razzien in denn für Ermittlungen im Zusammenhang mit seinem Redaktionsstuben alles mitgenommen, was mitnehmbar Delikt – das behaupte ich einmal – brauchen wir sie ist: CDs, Festplatten, Adressenlisten und Archive, also nicht mehr. Darum wird in der Tat – Herr Kollege alles, was im journalistischen Alltag so anfällt und viel- Kauder, das muss ich doch sagen – diese Schneise ge- leicht auch tiefer blicken lässt, als der Polizei aus dem nutzt, um die Suche nach dem eigentlichen Haupttäter konkreten Anlass heraus erlaubt ist. vornehmen zu können. Dabei kommt es zu den Dingen, In dem konkreten Fall geht es um eine besondere über die wir hier gesprochen haben. Ich meine, wir müs- Konstruktion. Der damalige Bundesinnenminister, Otto sen das Ganze im Wege des Strafprozessrechts lösen. Sie Schily, witterte Geheimnisverrat. Er vermutete in seinen wissen: Wir alle haben aufgrund der Rechtsprechung des Diensten ein Plappermaul. Er versuchte, sein Rätsel in Bundesverfassungsgerichts zur Strafprozessordnung und den Redaktionsstuben des Magazins „Cicero“ lösen zu zu weiteren Vorschriften die Aufgabe, eine Novellierung lassen. Genau das darf so nicht sein. Ein Leck im Dienst vorzunehmen. Wir haben hier schon im Dezember darü- ist kein Grund, die Pressefreiheit und damit das Grund- ber diskutiert. gesetz außer Kraft zu setzen. Herr Kollege Montag, wir sind durchaus tätig, aber es (Beifall bei der LINKEN) dauert ein bisschen. Man muss sehr sorgfältig vorgehen, weil das sehr schwierig und kompliziert ist. Man kann Nun streiten sich die Rechtsgelehrten, ob der Innen- das nicht einfach punktuell lösen. Ich denke, dass wir Ih- minister nicht doch Recht hat. Weil das strittig ist, muss nen noch in diesem Sommer einen Entwurf für eine No- das Recht präzisiert werden. Genau darauf zielt der Ge- vellierung vorlegen können – dann können wir uns über setzentwurf der FDP. Mit ihm sollen Bürger- und Frei- (B) (D) diese Fragen unterhalten –, damit wir in dem kleinen heitsrechte gestärkt werden. Auch dafür werbe ich aus- Teilbereich, den ich versucht habe herauszuarbeiten, den drücklich. Schutz von Journalisten sicherstellen können. In dieser Auseinandersetzung haben wir es übrigens Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. mit demselben Konflikt zu tun wie in der Debatte um den so genannten BND-Ausschuss. Wer Bürgerrechte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) verteidigt, steht im Verdacht, Sicherheitsinteressen zu verraten. Das ist genau das Deutschland, das ich – trotz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: aller Werbung – nicht bin und auch nicht will. Ich will Petra Pau spricht für die Fraktion Die Linke. weiterhin einen sozialen Bürgerrechtsstaat. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am kommenden Petra Pau (DIE LINKE): Samstag werden wir übrigens hier in Berlin unmittelbar Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! neben dem Reichstag, auf dem Platz des 18. März, an die Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat einen Märzrevolution anno 1848 erinnern, und zwar – wie seit Gesetzentwurf zur Stärkung der Pressefreiheit vorgelegt. vielen Jahren – parteiübergreifend. Die Pressefreiheit Das begrüße ich namens der Fraktion Die Linke aus- war eines der Ziele dieser Revolution. drücklich. Abschließend: Beide Anträge gehen in die Aus- Der Gesetzentwurf hat einen Anlass: die Durchsu- schüsse. Dort können wir über die Paragrafenfeinheiten chung von Redaktionsräumen des Magazins „Cicero“ im verhandeln und auch darüber, ob ein Paragraf aus dem September 2005. Das war kein Einzelfall. Razzien bei Jahre 1936, der vermeintlichen Geheimnisverrat unter Medien gibt es häufiger, vornehmlich bei vermeintlich Strafe stellt, so wie er im Moment gefasst ist, noch zeit- linken. gemäß ist. Man kann nicht einerseits Informationsfrei- (Joachim Stünker [SPD]: Na, na, na!) heit per Gesetz befördern und zugleich die Pressefreiheit per Gesetz beschneiden. Das ist widersinnig. Deshalb Die „taz“ könnte darüber Geschichte erzählen oder auch wird sich die Linke in den Beratungen über diese Ent- die „Junge Welt“. würfe für eine Lösung zugunsten der Pressefreiheit und der Bürgerrechte sowie von mehr Demokratie einsetzen. Die politische Farbenlehre ist aber ein ganz anderes Thema. Heute geht es prinzipiell um die Frage, ob das (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1997

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zierung müssen wir im Verhältnis zur Pressefreiheit (C) Zum Abschluss der Debatte hat das Wort der Kollege nachvollziehen. Peter Danckert, SPD-Fraktion. Eines kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen: (Beifall bei der SPD) Niemand in unserer Republik befindet sich in einer Situ- ation, in der er nicht kritisiert werden darf. Wir werden Dr. Peter Danckert (SPD): permanent kritisiert. Ich halte Kritik auch für vertretbar – sie sollte nur nicht diskriminierend sein –, wenn wir Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Pau, als ich Ihren mit staatsanwaltschaftlichem Vorgehen oder richterli- Beitrag eben hörte, habe ich gedacht: Vielleicht sollten chen Entscheidungen nicht einverstanden sind. Es ist nur Sie einmal über die Zeit von 1945 bis 1989 reflektieren. immer die Frage, wie wir kritisieren. Aber dass sie au- Dann reden wir noch einmal gemeinsam über Pressefrei- ßerhalb der Kritik stehen, das kann ich nicht erkennen. heit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der DIE GRÜNEN – [CDU/CSU]: CDU/CSU – Petra Pau [DIE LINKE]: Daraus Aber doch nicht in einem laufenden Ermitt- kann man Lehren ziehen! – Dr. Ilja Seifert lungsverfahren!) [DIE LINKE]: Das machen wir ständig!) – Auch in einem laufenden Ermittlungsverfahren! Ich Das hier ist doch zum Teil wirkliche Heuchelei. Es tut sage Ihnen ganz ehrlich: Auch in einem laufenden Er- mir Leid, dass ich das an dieser Stelle einmal sagen mittlungsverfahren muss es möglich sein, Dinge kritisch muss. anzusprechen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das muss man (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE immer wieder sagen! Völlig richtig! – Petra GRÜNEN]: Auch im Parlament!) Pau [DIE LINKE]: Das ist ein wenig unter Ih- rem Niveau!) Aber immer in der richtigen Form; das will ich Ihnen gern konzedieren. Auf diesen Punkt muss man aufmerk- – Ja. Man muss ein bisschen in die eigene Vergangenheit sam machen. zurückschauen, ehe man sich hier so aufspielt. Jetzt komme ich zu dem Verfahren, das im Zentrum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – unserer Überlegungen steht. Ich greife gern auf das Ur- Petra Pau [DIE LINKE]: Wie Sie wissen, ha- teil zurück, das Sie eben ansatzweise zitiert haben, näm- ben wir das schon mehrfach debattiert!) lich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (B) Aber jetzt komme ich zu dem Hinweis darauf, dass vom 5. August 1966, die so genannte „Spiegel“-Ent- (D) wir ganz am Anfang einer parlamentarischen Debatte scheidung. Darin ist ganz klar ausgeführt worden – ich stehen, die aus meiner Sicht notwendig ist. Die Verfah- weiß nicht, ob das vor dem Hintergrund der Durchsu- ren der letzten Monate, vielleicht auch etwas länger zu- chungs- und Beschlagnahmebeschlüsse Bestand hat –, rückliegend, belegen aus meiner Sicht, dass es erforder- dass eine Durchsuchung und Beschlagnahme, die aus- lich ist, dass wir uns in aller Ruhe und ohne Eifer und schließlich dem Zweck dient, den Informanten zu ermit- Zorn über diese Fragen unterhalten. Ich denke, der Fall teln, unzulässig ist. Das hat das Bundesverfassungsge- „Cicero“ ist kein schlechter Fall, um einmal exempla- richt klar gesagt und das kann man durchaus auf diesen risch darüber zu diskutieren, was dabei schief gelaufen Fall anwenden. Sie wissen wahrscheinlich wie ich, dass ist, und um gemeinsam darüber zu beraten, was wir im diese Beschlagnahme- und Beschwerdeentscheidung der Verfahren verbessern müssen. Gerichte in Potsdam jetzt auf dem Prüfstand des Bundes- verfassungsgerichts steht. Eine Verfassungsbeschwerde Im Zentrum, Kollege Kauder, steht doch die Presse- wurde eingereicht. Wir werden sehen, was daraus wird. freiheit. Sie ist ein ganz hohes Gut. Das würden Sie gar nicht bestreiten; das weiß ich. Aber es gibt immer wieder Der „Gehilfe“, der Journalist, war bekannt. Man Eingriffe in die Pressefreiheit. Ich als Abgeordneter wusste auch, dass das Dokument, aus dem er zitiert hat, muss ganz ehrlich sagen: Ich spreche gerne mit den Jour- unter Geheimschutz stand. Hier war also überhaupt nalisten und ich fühle mich ihnen sehr verbunden, weil keine Aufklärung mehr erforderlich. Dennoch hat man wir oft gar nicht die Möglichkeit haben, an Dinge zu nach Wochen bzw. Monaten ganz gezielt versucht, den kommen, die mit einem Mantel des Geheimnisses be- Haupttäter zu ermitteln. Das ist – wenn ich mir an dieser deckt sind. An wesentliche Informationen kommen wir Stelle die Freiheit nehmen darf, das so zu bezeichnen – gar nicht ohne die Hilfe der Journalisten. ein Missbrauch unserer strafprozessualen Regeln. Das tangiert sehr wohl die Pressefreiheit, die ich an dieser Nun sehe ich durchaus das Spannungsfeld zwischen Stelle ganz hoch hängen würde. dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit – nicht nur unseres – und dem Interesse der staatlichen Organe, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bestimmte Dinge unter Geheimschutz zu stellen. Es be- steht eine Differenzierung zwischen Staatsgeheimnissen Herr Kollege. im Sinne von § 93 StGB und den Geheimnissen im Sinne des § 353 d. Das ist ein erheblicher Unterschied. Dr. Peter Danckert (SPD): In diesem Bereich unserer strafgesetzlichen Regelungen Wie ich eingangs gesagt habe, befinden wir uns erst wird sehr wohl unterschieden. Ich finde, diese Differen- am Beginn dieser Diskussion. Lassen Sie uns gemeinsam 1998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Peter Danckert (A) alle relevanten Aspekte sehr sorgfältig analysieren. Wir nerei betreiben, ist dieses Thema allerdings von existen- (C) sollten auch die Entscheidung des Bundesverfassungsge- zieller Bedeutung; richts abwarten, um eine noch bessere Grundlage für un- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) sere Beratungen zu haben. daher nehmen wir es ernst. Die Betroffenen sitzen jetzt Vielen Dank und einen schönen Abend. vor dem Fernseher; denn für sie ist dieses Thema von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ größter Bedeutung. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dieses Thema FDP – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kann jetzt aber nur noch im Münsterland im [FDP]: Das hört sich doch Erfolg verspre- Fernsehen übertragen werden!) chend an!) – Genau. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich möchte auf die Vorgeschichte des vorliegenden Damit schließe ich die Aussprache. Gesetzentwurfs hinweisen: Im Jahr 1999 haben wir das Branntweinmonopol grundlegend reformiert, indem wir Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, die die gewerblichen Brenner davon ausgenommen und das beiden Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/576 und Monopol auf die landwirtschaftlichen Brennereien, die 16/956 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Aus- quasi eine Kreislaufwirtschaft repräsentieren, reduziert schüsse zu überweisen. – Dazu gibt es, wie ich sehe, haben. Dadurch haben wir den Zuschussbedarf aus dem keine anderen Vorschläge. Dann ist so beschlossen. Bundeshaushalt deutlich verringert und die ökonomische Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zukunft des verbleibenden Monopols verlängert. Das war die Überlegung, die damals dahinter stand. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Später wurden auf EU-Ebene zwei kritische Diskussi- rung des Gesetzes über das Branntweinmono- onsansätze zum Branntweinmonopol verfolgt. Die erste pol und von Verbrauchsteuergesetzen Frage, um die es ging, war, ob Korn ein landwirtschaftli- ches Produkt oder ein Industrieprodukt ist. Da man auf – Drucksache 16/913 – dieser Ebene von diesen Dingen keine Ahnung hat, hat Überweisungsvorschlag: man sich leider entschieden, es als Industrieprodukt Finanzausschuss (f) einzustufen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (Vereinzelt Heiterkeit) (B) Verbraucherschutz (D) Haushaltsausschuss Daraus mussten Konsequenzen gezogen werden. In einer gemäß § 96 GO gemeinsamen Anstrengung haben wir es den Kornbren- Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen ist nern ermöglicht, dass sie nach wie vor ihren Getreide- eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. – brand herstellen und ihn zur Herstellung von Neutral- Dazu höre ich keinen Widerspruch. alkohol abliefern können, wodurch wir insbesondere die ökonomische Basis für die vielen Westfalen, die davon Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält der Kol- betroffen sind, erhalten konnten. lege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion, das Wort. Die zweite Herausforderung war noch größer: Die (Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ Kommission hat generell hinterfragt, ob das Brannt- CSU]) weinmonopol nicht insgesamt eine unzulässige Beihilfe darstellt. Hier hat sich die Bundesregierung wacker ge- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): schlagen. Dafür mein großes Lob! Wir haben es hinbe- Ich danke Ihnen ausdrücklich, Herr Oswald. – Wenn kommen, dass dieses Monopol zumindest bis zum es um das Branntweinmonopol geht, kommt eigentlich Jahr 2010 europafest erhalten bleibt und rechtzeitig, im Gemütlichkeit auf. Das sieht man auch an der Teilnahme Jahr 2009, über eine mögliche und vielleicht nötige hier im Saal. Von verschiedenen Seiten wurden sowohl Nachfolgeregelung diskutiert werden soll. Norbert Schindler als auch ich dringend gebeten, unsere Dieser gesamte Prozess mündete in dem heute erst- Reden zu Protokoll zu geben. Da wir beide aber so gut mals zu beratenden Gesetzentwurf. Nun müssen be- „im Stoff“ sind – das hat allerdings nichts mit Brannt- stimmte Maßnahmen, die im Zusammenhang damit ste- wein zu tun – hen, dass dieses Monopol früher auch gewerbliche (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der Brennereien beinhaltete, gesetzestechnisch bereinigt CDU/CSU) werden. und wir nicht groß etwas aufgeschrieben haben, konnten Die Zuführung an die DKV, eine Einrichtung in Lü- wir nichts zu Protokoll geben. Wir müssen unsere Reden dinghausen – kennt kein Mensch außer den Westfalen –, daher schlicht und einfach halten. Ertragt es mit Fas- wo Korn gereinigt worden ist, um ihn als Neutralalkohol sung. weiterzureichen, braucht nicht mehr bedient zu werden, weil Korn als solcher aus dem Monopol herausgefallen Für die betroffenen Landwirte, die neben ihrem land- ist. Die DKV hat ihren Auftrag rechtzeitig an die Mono- wirtschaftlichen Betrieb eine landwirtschaftliche Bren- polverwaltung zurückgegeben. Der entsprechende Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 1999

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) trag steht dem Monopol jetzt für andere Zwecke zur Ver- Zum Schluss ein Appell – auch wenn das nicht sämt- (C) fügung. Für die betroffenen Brennereien ist all das ein liche Abgeordneten massiv interessiert, allenfalls die aus großer struktureller Umbau. den ländlichen Räumen –: Hier im Parlament sind kritische Diskussionen geführt (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Trinkt Korn!) worden – von uns und von anderen –, dass der Aufwand für die eigentliche Monopolverwaltung immer zulasten Wir sollten versuchen, diesen relativ positiven Ansatz dessen geht, was an Brennrechten für die Brenner finan- des inzwischen über 80 Jahre alten Branntweinmonopols ziert werden kann, und dass die sich gefälligst auf Spar- in einer modernen Form auch über 2010 hinaus zu ret- flamme zu setzen hätten. Ich will bei dieser Gelegenheit ten. Ich gehe davon aus, dass Norbert Schindler – er hat loben, dass diese Appelle gehört worden sind: In der Mo- den nächsten Redebeitrag – mir dabei helfen wird. nopolverwaltung wird außerordentlich wirtschaftlich Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. gearbeitet, im wahrsten Sinne des Wortes auf Spar- flamme. Die Monopolverwaltung hat kaufmännisches (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Talent an den Tag gelegt und nennenswerte Alkoholmen- gen in Bereiche verkaufen können, die nicht unter das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Monopol fallen. Dies ging zugunsten der betroffenen Zwischendurch erlaube ich mir, dem Kollegen Landwirte, ohne dass dadurch der Bundeshaushalt zu- sätzlich belastet wurde. Dass sich eine Verwaltung, die Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion das Wort zu über 80 Jahre auf dem Buckel hat, so hervortut, sieht man geben. nicht jeden Tag. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Prozess zu be- Dautzenberg [CDU/CSU]) gleiten. Das ist zwar kein volkswirtschaftlich relevanter Bereich, aber er ist deswegen interessant – das sage ich Dr. Volker Wissing (FDP): aus Überzeugung –, weil die Landwirte, die in ihm wirt- Vielen Dank, Frau Präsidentin. Auch mir war aufge- schaften, nur selbst erzeugtes Getreide brennen, die fallen, dass gewissermaßen Herr Schindler schon ange- Rückstände dieses Brennprozesses an ihre Tiere verfüt- kündigt worden ist. Aber ich war ganz sicher, dass Sie tern, wobei die Gülle und der Dung der Tiere erneut auf auf eine ordnungsgemäße Debattenführung hinwirken den Feldern ausgebracht wird, auf denen das Getreide werden. wächst – Kreislaufwirtschaft im engsten Sinne. Das ist auch der Grund, weswegen die EU diese Beihilfe akzep- (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Ich tiert hat: Dafür sprechen ökologische Gesichtspunkte – dachte, ich könnte das ein bisschen beeinflus- (B) (D) auch ein interessanter Punkt. Der größte Teil des Pro- sen! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er hat es dukts landet in der kosmetischen Industrie und in der halt probiert!) pharmazeutischen Industrie. Nur ein kleiner Teil landet Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat unter Rot- in den beiden Leberlappen von Abgeordneten und ande- ren Feinschmeckern; das muss man auch einmal sagen. Grün begonnen und Schwarz-Rot macht so weiter: Sie Es geht also weniger um die Subventionierung von Hart- entziehen den mittelständischen Unternehmen Liquidi- säufern, sondern in erster Linie um die Förderung eines tät, um Haushaltslöcher zu stopfen. landwirtschaftlichen Prozesses, dessen Produkte in sehr (Beifall bei der FDP) viele unterschiedliche industrielle Verfahren einmünden. Zuerst war es die Vorziehung der Fälligkeit der Sozial- Zur Verkürzung der Frist für die Fälligkeit der beiträge um einen Monat, durch die dem Mittelstand Steuer: Das ist ein Gebot des Bundesrechnungshofs ge- 20 Milliarden Euro entzogen worden sind. wesen. Wir haben für die Fälligkeit bestimmter Ver- brauchsteuern – Schaumwein oder Kaffee zum Beispiel – (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ relativ lange Fristen, viel länger, als jeder Kaufmann sie DIE GRÜNEN]: Darüber hat sich noch keiner gewöhnlich hat; die Umsatzsteuervorauszahlung etwa beschwert!) muss pünktlich zum fünften des Monats eingehen. Fristen von 75 Tagen dagegen waren absolut großzügig und sind Jetzt wollen Sie den Unternehmen weiter Liquidität ent- angesichts der Situation, die wir jetzt haben, nicht mehr ziehen, indem Sie durch eine Verkürzung der Fälligkeits- hinnehmbar. Der Bundesrechnungshof wollte die Frist fristen von Verbrauchsteuern weiter Millionenbeträge drastisch verkürzen: auf 35 Tage. Wir sind – so sind wir abschöpfen wollen. halt – gnädig und sagen: 50 geht auch in Ordnung. Das ist (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: War immer noch deutlich darunter und es erleichtert die Um- das nicht die Rede von heute Vormittag?) stellung. Es kann aber durchaus passieren, dass wir diese Schraube irgendwann einmal noch ein wenig anziehen – Nach Ihrer Vorstellung, Herr Schultz, bereitet das den müssen; denn auch 50 Tage sind ein langer Zeitraum für Unternehmen keine Probleme. Die Realität in Deutsch- die Fälligkeit einer Steuerzahlung. Unter dem Strich ge- land sieht aber anders aus: Die deutschen Unternehmen, sehen sind die betroffenen Branchen – im Wesentlichen die ohnehin nur eine sehr geringe Eigenkapitalquote ha- die Schaumweinindustrie und die Kaffeeindustrie – aber ben, benötigen liquide Mittel. Sie müssen investieren. damit einverstanden und es gibt keine größeren Schwie- Wer die Liquidität mittelständischer Unternehmen ein- rigkeiten, geschweige denn ökonomische Verwerfungen. schränkt, schränkt ihre Flexibilität und damit ihre 2000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Dr. Volker Wissing (A) Wettbewerbsfähigkeit ein. Das gefährdet in den betroffe- cherungsbeiträge werden 13-mal kassiert, die Fristen (C) nen Branchen Arbeitsplätze. werden vorverlagert, aber über Entlastungen für den deutschen Mittelstand redet man mal im Jahr 2008 oder (Beifall bei der FDP – Reinhard Schultz am Sankt-Nimmerleins-Tag. Was ist das für eine Politik? [Everswinkel] [SPD]: Machen wir eine gene- Die Kuh, die Sie, meine Damen und Herren von der gro- relle Steuerstundung auf zwei Jahre!) ßen Koalition, mit Ihrem Gesetzentwurf erneut melken Sie machen einseitig Politik aus der Perspektive des wollen, gibt langsam keine Milch mehr. Staates heraus, ganz nach dem Motto: Hauptsache, wir Mit Ihrem Gesetzentwurf riskieren Sie weitere Ar- bekommen möglichst viel Geld in die Kassen. Das beitsplätze in unserem Land. Das ist unverantwortlich. Schlimme ist nur, dass das zulasten der Menschen geht, Bei 5 Millionen Arbeitslosen sollten Sie eine andere Po- die in diesem Land Verantwortung übernehmen, die an- litik machen. Alles, was Arbeitsplätze gefährdet, muss packen und Arbeitsplätze schaffen wollen. Denjenigen unterbleiben. machen Sie mit diesem Gesetz wieder das Leben schwer. (Beifall bei der FDP) (Florian Pronold [SPD]: Was haben Sie mit de- nen gemein?) Egal, ob in den Bereichen der Spirituosen-, Schaum- Die Frage ist: Wann bringen Sie endlich etwas auf den wein- oder Kaffeeherstellung: Unser Land hat keinen Weg, das unserer Wirtschaft hilft? Machen Sie endlich einzigen Arbeitsplatz zu verschenken. Ernst mit Ihren angekündigten Entlastungen! Stattdessen Die Haushaltssituation ist desolat und zweifellos dra- legen Sie uns eine Belastung nach der anderen vor und matisch. Sie von Rot-Grün haben der großen Koalition wundern sich, dass die Wirtschaft nicht in Schwung einen Scherbenhaufen hinterlassen; das will keiner in kommt und dass wir immer mehr sozialversicherungs- Abrede stellen. Nur kommen Sie aus der Misere nicht pflichtige Arbeitsplätze in unserem Land verlieren. Das heraus, wenn Sie unentwegt den Mittelstand belasten, kann doch nicht richtig sein. der in Deutschland noch Arbeitsplätze schafft, der anpa- (Beifall bei der FDP) cken und dieses Land wieder nach vorne bringen will. Wenn Sie jetzt den Mittelstand erneut zur Kasse bit- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Schimpfen ten, dann sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern auch Sie nicht auf uns! Wir versuchen da hinauszu- offen sagen, was das für Folgen hat. Sie kassieren wieder kommen!) mehr Steuern ab, machen sich dabei aber offenbar nicht Das ist offenbar die Gruppe, die Sie sich für Ihre Belas- klar, wozu das führt. Sie sollten den Beschäftigten der tungen besonders vorgenommen haben. (B) Sektkellereien und den Kaffeeproduzenten offen ins Ge- (D) sicht sagen, dass Sie damit ganz konkret Arbeitsplätze in Dabei sind Sie von der CDU/CSU nicht angetreten, unserem Land gefährden. um dem, was Rot-Grün hinterlassen hat, noch eins drauf- zusetzen. Ich erinnere mich in Sachen Mittelstandsför- (Beifall bei der FDP) derung von Ihrer Seite noch an ganz andere Sätze. Der Ich möchte Ihnen die Zahlen vorhalten: Die Zahl der Gesetzentwurf, den Sie uns jetzt vorlegen, schwächt den Beschäftigten bei Spirituosenherstellern ist seit 1998 deutschen Mittelstand und den ländlichen Raum. Eine um fast 30 Prozent gesunken. höhere Schaumweinsteuer bedeutet eine Belastung für den deutschen Weinbau. Ich halte das für höchst bedenk- (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Aber lich. Das ist unverantwortlich. nicht wegen der Fälligkeit von Steuern!) Sie sollten sich endlich daran machen und Entlastun- Die Zahl der Beschäftigten bei Sektkellereien ist im glei- gen für den Mittelstand in angemessenem Maße auf den chen Zeitraum um 15 Prozent zurückgegangen. 10 Pro- Tisch legen. Sie sollten aufhören, eine Belastung nach zent der Spirituosenhersteller haben gleich ganz dichtge- der anderen vorzulegen. Dem kann man so nur eine Ab- macht, sie haben aufgeben müssen. sage erteilen. Bei den Schaumweinherstellern ist der Umsatz seit (Florian Pronold [SPD]: Das sagt gerade die 1998 um 23 Prozent zurückgegangen FDP! Niemand hat so die Steuern erhöht wie (Florian Pronold [SPD]: Trotz Branntweinmo- Sie, als Sie an der Regierung waren!) nopol!) Was unser Land braucht, ist ein klares Bekenntnis zur Das betrifft besonders den ländlichen Raum. Ich freue mittelständischen Wirtschaft und nicht eine kleinkräme- mich, dass mein Kollege Norbert Schindler zu diesem rische Finanzpolitik, mit der versucht wird, jeden Euro sehr ernsten Thema gleich noch sprechen wird; denn die abzuschöpfen, weil Sie sich nicht auf echte Strukturre- Belastungen treffen auch den Fassweinmarkt, weil sie an formen einigen können. Das haben wir heute Morgen die Winzerinnen und Winzer vor Ort weitergegeben wer- schon in der Steuerdebatte gemerkt. So kommen Sie in den müssen. Deutschland nicht weiter. Trotzdem stellen Sie sich hier hin, Herr Schultz, und (Beifall bei der FDP – Reinhard Schultz sagen, das sei alles nicht schlimm, man könne ruhig [Everswinkel] [SPD]: Reine Schaumweine- noch ein bisschen Liquidität abziehen. Die Sozialversi- rei!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2001

Dr. Volker Wissing (A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Schindler, Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]) der bereits anmoderiert wurde. Solange es diese Solidarität draußen gibt, werden wir (Zuruf von der FDP: Angedroht worden ist!) immer wieder eine Bestätigung erhalten. Den ehrlichen Schritt, den die Bundeskanzlerin dabei vorgibt, brauche ich nicht noch einmal besonders zu betonen. Norbert Schindler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Danke schön für die Anmoderation Herr Wissing, Sie haben auch die Rückgänge im der doppelten Art. – Lieber Herr Volker Wissing, natür- Sektbereich angesprochen. Da ist was dran. Sie wissen, lich muss ich auf Ihre Feststellungen eingehen. dass ich in der Weinwirtschaft zufällig gute Erfahrungen habe. In den letzten Wochen war ich wieder auf ver- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Ich bin sehr schiedenen Jahresveranstaltungen. Auch in den künfti- gespannt!) gen Wochen werde ich wieder unterwegs sein, um zu Seit den 80er-Jahren sind die Zeiten, in denen es in den Korn- und Destillatherstellern zu gehen, und ich dieser Republik noch Wohlstandszuwächse gab, vorbei. kenne auch die Gefühlslage der Destillathersteller. Das Trotzdem haben wir alle, die im Parlament Verantwor- ist nicht das große Thema. tung trugen – egal auf welcher Ebene –, bis weit in die Die Rückgänge beim Sektverkauf hängen damit zu- 90er-Jahre hinein Wohlstand verteilt. Ich nehme die sammen, dass alternative Produkte auf den Markt ge- CDU hier ausdrücklich nicht aus. Seit dem letzten Sep- kommen sind. Das akzeptiert ja auch die gesamte deut- tember haben wir den Wählerauftrag und wir leben mit sche Sektwirtschaft. Bezüglich der Destillation und des einem strukturellen Defizit von 40 Milliarden Euro. Das Branntweinmonopols habe ich mit den Beteiligten drau- weiß jeder. Wir, die Union, haben vor der Wahl angekün- ßen diskutiert. Das muss man hier auch einmal mit digt: Wenn wir drankommen, gibt es Mehrbelastungen Dankbarkeit sagen. für die Bürgerinnen und Bürger. Herr Dr. Wissing, un- sere Glaubwürdigkeit muss ich hier nicht verteidigen. Der Kollege Reinhard Schultz hat zu Recht darauf Wir haben diesbezüglich auch nichts zurückzunehmen. hingewiesen – ich darf das hier auch so offen sagen –: In all den sieben Jahren, in denen die SPD führend tätig Natürlich haben Sie Recht, dass man in dem einen war, oder anderen Fall – wie jetzt bei diesem Gesetz – wieder (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: „Führend Zahlungsfristen verkürzt. Herr Kollege Wissing, in dem tätig“? Das bezweifle ich!) gesamten Bereich geht es in der Summe um 7 Millionen Euro. war auch unser guter zwischenmenschlicher Kontakt mit (B) maßgeblich dafür, dass wir bei den Brennern nicht das (D) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das sieht die Bun- erlebt haben, was die Europäische Kommission bereits desregierung anders!) seit sechs bis sieben Jahren will. – Sie waren gestern auf Ihrem Landesparteitag und wir Wenn wir über die Globalisierung reden, die manche hatten eine Sitzung des Finanzausschusses. Das ist kein Partei draußen gerne massiv vertritt, dann müssen wir Vorwurf; ich verstehe das. Die Zahlen liefere ich Ihnen auch über die Konsequenzen bei den Brennern nachden- gerne nach. Insgesamt geht es um 7 Millionen Euro. ken. Viele von uns waren unterwegs – ich will jetzt gar (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Das sind keine Protokolle dafür heranziehen – und haben gesagt: 7 Millionen Euro zu viel!) Eigentlich ist das, was die Europäische Kommission da vorhat, vernünftig. Nein, wir haben es gerettet, und zwar Sie haben von der Sektindustrie geredet. Ich könnte natürlich auch mit der Unterstützung dieses Parlaments. Ihnen jetzt die Sektkellereien nennen, nämlich zum Bei- Dabei wurden Aspekte bezüglich der Destillate genannt: spiel die Sektkellerei Schloss Wachenheim. Natürlich Streuobstwiesen und Offenhaltung der Landschaft. sind sie verärgert darüber, dass ihre Zahlungsfristen jetzt verkürzt wurden. Trotzdem: Im Etat von Herrn Für das, was die Destillathersteller in dieser Republik Müntefering haben wir Kürzungen des Staates bei der in Sonderdarstellungen auf den Weg gebracht haben, weil sie eigene Produkte verkaufen, hat der Staat Wohlstandsverteilung in Höhe von 5,x Milliarden Euro 243 Euro pro Hektoliter Unterstützung gewährt. Es war beschlossen. Wir sind angetreten, die 40 Milliarden Euro der deutsche Einfluss, der trotz eines Beschlusses des ös- durch Steuererhöhungen in Höhe von 20 Milliarden terreichischen Parlamentes – weil Österreich in der glei- Euro und durch die Streichung von Steuervergünsti- chen Situation ist, gab es da Druck – das deutsche Son- gungen in Höhe von 20 Milliarden Euro gegenzufinan- derrecht bis zum Jahr 2010 gesichert hat. Dass wir zieren, damit sich die Verschuldungssituation der nächs- wieder antreten werden, um darüber hinaus die Zukunft ten Generation in diesem Staat nicht weiter verschärft. der gesetzlichen Regelungen zu sichern, hast du, Wenn dieses Konzept falsch wäre, dann müssten wir Reinhard, schon deutlich gemacht. Dem kann ich nur in den Umfragen draußen mit dem Fahrrad unter den beipflichten. Teppich fahren. Das ist nicht so. Die Zustimmung brei- Egal, ob es um 120 Millionen oder um 85 Millionen tester Schichten in diesem Volk sagt uns: Wir sind ei- Euro geht: Der Berufsstand hat dies bis jetzt dankbar zur gentlich gut unterwegs. Wir sind auch ehrlich und offen Kenntnis genommen. unterwegs und sagen: Alle müssen bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben Belastungen auf sich nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 2002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Norbert Schindler (A) Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt auch Verständnis da- fung in Verbindung mit der Ethanolproduktion für un- (C) für, dass die Mittel in dem einen oder anderen Fall zu- sere Landstriche und die Erhaltung der ländlichen sammengestrichen wurden. Auch wird zur Kenntnis ge- Räume – der neue Bauer nimmt auch energiepolitische nommen, dass der Abzug des Übernahmepreises, der in Aufgaben wahr; das ist auch für sein Einkommen wich- der Vergangenheit 10 Prozent betragen hat, auf 5 Prozent tig – in dieser Europäischen Gemeinschaft eine beson- reduziert wird. Das bedeutet: Ab dem Jahr 2007 gibt es dere Bedeutung hat. Das muss die andere Zielrichtung eine höhere Beihilfe. Auch das ist entsprechend gewür- sein. digt worden. Im Zusammenhang mit der 50-Prozent-Re- gelung wurden in der Vergangenheit schon einige Opfer Lassen Sie uns nicht kleinkariert über 7 Millionen gebracht. Soweit zu der aktuellen Situation. Euro streiten; denn das wurde bereits akzeptiert. Die Änderung dieses Gesetzes erfolgt nicht freiwillig, Danke schön. sondern auf Druck der Europäischen Gemeinschaft. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) geht in der Definition darum – das hat schon Herr Schultz gesagt –, bei dem Kornrecht eine Entschärfung in der Debatte mit der Kommission in Brüssel herbeizu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: führen. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die Linke. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Jetzt ist Europa wieder schuld!) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Ich möchte noch ein Bedenken vortragen, das wir Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch bei der Anhörung in den nächsten Wochen mit den Das Thema Branntweinmonopol ist – das konnte man Fachverbänden diskutieren werden. Was passiert bei den eben verfolgen – sehr interessant. Einige von uns wissen mehlhaltigen Getreidesorten? Eine Definition von sehr detailliert darüber Bescheid. Ich glaube, den meis- „Korn“ gibt es so nicht mehr. Gibt es ein Umswitchen ten von uns geht das Wissen aber ab. Man kann höchs- bei den Destillatherstellern, sodass diese dann in Italien tens im Gebrauch beurteilen, ob es sich um einen guten oder anderswo Ersatz kaufen? Denn die deutsche Bun- oder schlechten Wein bzw. um ein gutes oder schlechtes desmonopolverwaltung für Alkohol hat derzeit einen ho- Destillat handelt. hen Bedarf. Sie könnte mehr Alkohol am Markt verkau- fen, als sie von uns zugestanden bekommt. Wegen der Ich finde aber den Verlauf der Debatte unter einem Gefahr von Swing-Geschäften der besonderen Art bin anderen Aspekt interessant. Herr Schindler hat eben auf ich sehr gespannt darauf, die Meinung der Fachverbände die Ehrlichkeit abgehoben. Dabei kann ich mir den Hin- (B) zu hören. Schließlich sprechen wir heute in erster Le- weis nicht verkneifen, dass Sie im Sinne einer ehrlichen (D) sung über dieses Gesetz. Politik sagen müssten, dass es nicht notwendig ist, 20 Milliarden Ausgaben einzusparen und Einsparungen Es gibt bei den Destillaten noch große Chancen, egal im sozialen Bereich vorzunehmen. Nehmen Sie lieber ob das Alkohol- oder Kornbrenner sind; denn eine ganze mehr Geld ein! Besteuern Sie anderes, zum Beispiel bei Palette von einigen Hundert oder auch Tausend Betrie- der Vermögensbesteuerung! ben in dieser Republik betreiben die Herstellung von Al- kohol als Haupterwerb. Viele betrachten die Herstel- (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das machen lung aber nur als Ergänzung oder Zuerwerb. wir in diesem Jahr! Gucken Sie auf die Zahlen In der Frage der Besteuerung von Biotreibstoffen be- im Januar und Februar! Gute Einnahmen!) finden wir uns in der politischen Gestaltung. Natürlich Das müssen Sie sich auch um diese Tageszeit noch anhö- muss für den Begriff Ethanol als Beimischung zu Benzin ren. eine Lösung gefunden werden. Ich werbe ganz offen da- für, dass bei Diesel, aber auch bei Benzin mit Ethanol Die SPD hat das erreichte Ergebnis gelobt. Ich finde auf die Umwelt Rücksicht genommen wird. Die Korn- es aber auch interessant, dass die FDP krampfhaft ver- brenner und Alkoholhersteller dieser Republik sind sucht hat, etwas zu finden, was kritisiert werden kann. bereit, dabei mitzuhelfen, um die zweite Generation so- Wenn Sie ehrlich gewesen wären – insofern muss ich Ih- wohl bei Dieselersatz wie bei Benzinersatz – das ist nen zustimmen, Herr Schindler –, dann hätten Sie we- technisch vorbereitet – in den nächsten fünf bis zehn nigstens sagen müssen, dass Sie der Subventionierung Jahren auf den Markt zu bringen. zustimmen. Das brachten Sie aber nicht über die Lippen. Ich denke, zum gegenwärtigen Stand wird das Experten- Im Sinne der Wertschätzung der ländlichen Räume in gespräch sicherlich auch im Finanzausschuss zu einer unserer neuen Verantwortung zur Erfüllung des Proto- Übereinstimmung führen. kolls von Kioto und auch in der Umsetzung der deut- schen Gesetzgebung gibt es für uns eine Chance, weil Sie haben aber zu Recht darauf hingewiesen, Herr wir in diesem Bereich als Zentralstaat in der Mitte Euro- Schindler, dass es noch andere Probleme gibt, die nicht pas wie bei der Einführung des Katalysators wieder mit der vorgesehenen Regelung abgegolten sind. Ich federführend sein werden. Dazu könnte man alle Be- denke, dass noch weiter diskutiert werden muss, und denkenträger aus der Lobbywirtschaft der Vergangen- zwar nicht nur über die Frage des Benzins, sondern auch heit, was wir auch jetzt wieder erleben, anführen. Wir – unter ökologischen Aspekten – über die Vermarktung werden deutliche Zeichen setzen, dass die Wertschöp- des Obstes. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2003

Dr. Barbara Höll (A) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Obst ist mir in gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so be- (C) flüssiger Form immer lieber!) schlossen. Damit kommen wir zu den Abfindungsbrennereien. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ich kann nicht verstehen, dass man dieses Thema nicht einbezieht, wenn man über Strukturveränderungen spre- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- chen will. Ich verstehe nicht, warum es nur in sehr be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales grenzten Gebieten in Deutschland möglich sein soll, (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten dass Bauern Streuobstwiesen betreiben und zum Bei- Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein, spiel alte Obstsorten wiederbeleben, aber auch die Mög- Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der lichkeit haben, für die unmittelbare Abgabe an Gaststät- Fraktion der FDP ten bzw. für einen Eigenbedarf von bis zu 300 Litern pro Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozi- Jahr selber brennen zu können. alabgaben rückgängig machen und struktu- In dieser Hinsicht besteht in Deutschland aufgrund relle Reformen in der Rentenversicherung ein- des derzeitigen Monopols eine sehr veraltete Regelung. leiten In anderen europäischen Staaten – zum Beispiel in Ita- – Drucksachen 16/396, 16/627 – lien und Österreich – gibt es andere Regelungen. In Deutschland ist es so, dass man eine Verschlussbrennerei Berichterstattung: braucht und sehr viel investieren muss, wenn man mehr Abgeordnete Katja Kipping als drei Liter destillieren will. Für die Aussprache war eine halbe Stunde vorgese- (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Drei Hektoli- hen. Allerdings werden die Reden zu Protokoll gegeben. ter!) Damit schließe ich die Aussprache.2) – Drei Hektoliter. Danke. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist nur ein schusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/627 kleiner Unterschied!) zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Vor- verlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabgaben Insofern ist die Frage berechtigt, warum das, was in rückgängig machen und strukturelle Reformen in der anderen europäischen Ländern möglich ist, in Deutsch- Rentenversicherung einleiten“. land nicht geht. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn Sie 100-mal sache 16/396 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- (D) (B) destillieren, haben Sie die drei Liter!) schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? In den vergangenen Jahren wurde das insbesondere von – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der ökologisch orientierten Bauern immer wieder beklagt. Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Die Finanzgerichte mussten deren Vorhaben bisher auf- Stimmen der FDP und der Fraktion Die Linke angenom- grund des Branntweinmonopols immer ablehnen. men. Wenn wir über Strukturanpassungen reden, so gehört Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: auch dieses Thema dazu. Wenn andere europäische Staa- Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska ten klug genug waren, Lösungen für entsprechende Kon- Hinz (Herborn), Kai Boris Gehring, Krista Sager, trollen bei der Branntweinherstellung zu finden, dann Rainder Steenblock und der Fraktion des BÜND- sollte das auch hier möglich sein. Ich hoffe, dass wir in NISSES 90/DIE GRÜNEN der Anhörung auch zu diesem Aspekt etwas erfahren können. In diesem Sinne freue ich mich auf das Ge- Mehr Mobilität und Austausch durch ein inte- spräch und den heutigen Abend. griertes EU-Bildungsrahmenprogramm Danke schön. – Drucksache 16/837 – (Beifall bei der LINKEN) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Kollegin Kerstin Andreae gibt ihre Rede zu Pro- Haushaltsausschuss tokoll.1) Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte vorge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sehen gewesen. Die Reden werden aber zu Protokoll ge- geben.3) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Drucksache 16/837 an die in der Tagesordnung aufge- wurfs auf Drucksache 16/913 an die in der Tagesord- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu 2) Anlage 3 1) Anlage 2 3) Anlage 4 2004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) so beschlossen. tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Kettenduldungen abschaffen Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl – Drucksache 16/687 – Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner Überweisungsvorschlag: Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Innenausschuss (f) der FDP Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstüt- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zen und vor Aids bewahren Hier werden ebenfalls alle Reden zu Protokoll gege- – Drucksache 16/586 – ben.2) Überweisungsvorschlag: Interfraktionell ist vereinbart, die Vorlage auf Druck- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sache 16/687 an die in der Tagesordnung aufgeführten Entwicklung (f) Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstan- Auswärtiger Ausschuss den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Aussprache vor- schlossen. gesehen gewesen. Die Reden werden jedoch zu Proto- koll gegeben.1) Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord- nung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/586 an die in der Tagesordnung aufge- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe dazu kei- destages auf morgen, Freitag, den 17. März 2006, 9 Uhr, nen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be- ein. schlossen. Nehmen Sie die gewonnenen Einsichten mit und ha- ben Sie einen schönen Abend. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Die Sitzung ist geschlossen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Britta (Schluss: 20.02 Uhr)

1) Anlage 5 2) Anlage 6 (B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2005

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Albach, Peter CDU/CSU 16.03.2006 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 16.03.2006 DIE GRÜNEN Bierwirth, Petra SPD 16.03.2006 Pflug, Johannes SPD 16.03.2006 Binding (Heidelberg), SPD 16.03.2006 Lothar Piltz, Gisela FDP 16.03.2006

Bismarck, Carl-Eduard CDU/CSU 16.03.2006 Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 16.03.2006 von Claudia DIE GRÜNEN

Dr. Botz, Gerhard SPD 16.03.2006 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 16.03.2006

Brüderle, Rainer FDP 16.03.2006 Schmidt (Nürnberg), SPD 16.03.2006 Renate Dreibus, Werner DIE LINKE 16.03.2006 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 16.03.2006 Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 16.03.2006 Christian Joseph DIE GRÜNEN Seehofer, Horst CDU/CSU 16.03.2006 Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 16.03.2006 Land), Axel E. Strothmann, Lena CDU/CSU 16.03.2006 (B) (D) Fograscher, Gabriele SPD 16.03.2006 Vogelsänger, Jörg SPD 16.03.2006

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 16.03.2006 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 16.03.2006

Dr. Geisen, Edmund FDP 16.03.2006 Peter * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Gradistanac, Renate SPD 16.03.2006 sammlung der NATO Heinen, Ursula CDU/CSU 16.03.2006 Anlage 2 Hilsberg, Stephan SPD 16.03.2006 Zu Protokoll gegebene Rede * Hörster, Joachim CDU/CSU 16.03.2006 zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntwein- Dr. h. c. Kastner, SPD 16.03.2006 monopol und von Verbrauchersteuergesetzen Susanne (Tagesordnungspunkt 14) Krichbaum, Gunther CDU/CSU 16.03.2006 Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Krings, Günter CDU/CSU 16.03.2006 An der Umsetzung der Entscheidung der EU-Kommis- sion vom 16. November 2004 führt kein Weg vorbei. Lehn, Waltraud SPD 16.03.2006 Diese hatte entschieden, dass die Subventionen für gewerbliche Kornbrennereien mit den Grundsätzen eines Lintner, Eduard CDU/CSU 16.03.2006 fairen Wettbewerbs in einem gemeinsamen funktionsfä- higen europäischen Markt einfach nicht vereinbar sind. Lips, Patricia CDU/CSU 16.03.2006 Die rot-grüne Bundesregierung hatte sich deshalb seiner- zeit – natürlich in enger Abstimmung mit der Brennerei- Meckel, Markus SPD 16.03.2006** wirtschaft – schon nachhaltig und auch erfolgreich für eine entsprechende Übergangszeit eingesetzt. Und diese Mücke, Jan FDP 16.03.2006 geht jetzt zu Ende. 2006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Insofern ist dieses Beispiel geradezu ein Vorbild für Sturm laufen. Wo sind also die eigentlichen Vorteile und (C) die große Koalition, die in ihrem neuen Subventionsbe- für wen? richt die degressive Ausgestaltung und Befristung aller Subventionen zum Prinzip erklärt hat. Das können wir Auch hier zeigt sich einmal mehr: Die Bundesregie- nur unterstützen, denn wir haben dies der großen Koali- rung hat immer noch größte Mühe, einen geradlinigen tion auch schon vorgezeichnet: Die Subventionen für ge- glaubwürdigen Weg zu finden. werbliche Brennereien hatten wir schon mit dem Haus- haltssanierungsgesetz von 1999 deutlich degressiv ausgestaltet und stärker auf kleinere Brennereien und da- Anlage 3 mit bäuerliche Familienbetriebe konzentriert. Zu Protokoll gegebene Reden Wichtig ist natürlich, dass beim Abbau von Subven- zur Beratung des Antrags: Vorverlegung des tionen eine ausreichende Übergangsfrist eingeräumt wird, Fälligkeitstermins für Sozialabgaben rückgän- damit die Betroffenen sich auf die neue Situation einstel- gig machen und strukturelle Reformen in der len können. Abrupte Brüche sind zu vermeiden, damit Rentenversicherung einleiten (Tagesordnungs- keine unnötigen volkswirtschaftlichen Schäden insbe- punkt 15) sondere für die damit verbundenen Arbeitsplätze drohen.

Im Übrigen können die bisherigen landwirtschaftli- Max Straubinger (CDU/CSU): Wir behandeln hier chen Kornbranntweinhersteller weiterhin die Möglich- heute zum zweiten Mal und damit abschließend einen keit nutzen, ihren Rohalkohol als Getreidealkohol bei Antrag der FDP, in dem diese das Rückgängigmachen der Bundesmonopolverwaltung für Branntwein abzulie- der Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabga- fern. Die meisten Brennereien machen schon seit dem ben fordert. Lassen Sie uns noch einmal betrachten, was 1. Oktober 2004 davon regen Gebrauch. dies bedeuten würde. Es ist immer wieder erstaunlich, aber auch festzustel- Zum einen bedeutete dies einen Liquiditätsentzug der len, wie umfangreich Subventionstatbestände geregelt Sozialkassen in diesem Jahr von circa 9 Milliarden Euro sind, so zum Beispiel, wenn man sich nur das Gesetz in der gesetzlichen Rentenversicherung und rund l Mil- über das Branntweinmonopol anschaut. Anzahl und Um- liarde Euro in der Pflegeversicherung. Da Rentenkür- fang von gesetzlichen Regelungen könnten folglich zungen vonseiten der Koalition nicht in Betracht kom- deutlich reduziert werden, wenn Subventionen abge- men – vielleicht strebt die FDP ja solche an ? – und schafft werden, anstatt immer wieder neue einzuführen. langfristige Strukturmaßnahmen nicht so schnell greifen Allerdings sehen wir bisher nicht, wie die große Koali- würden, käme nur eine entsprechende Erhöhung der Bei- (B) tion diese Vorsätze tatsächlich umsetzen will. Auf eine tragssätze der betroffenen sozialen Sicherungssysteme (D) Verringerung und Vereinfachung der Gesetzgebungsakti- als Alternative in Betracht. vitäten können wir bei dieser Bundesregierung leider nur vergeblich hoffen, denn das Gegenteil ist ganz offen- Dass dies zu einem massiven Anstieg der Lohnneben- sichtlich der Fall. kosten – insgesamt ein Beitragssatzpunkt und damit rund 500 Millionen Euro allein für die Arbeitgeberseite – und Die ebenfalls im Gesetzentwurf der Bundesregierung somit zu empfindlichen finanziellen Nachteilen für Ar- enthaltene Verkürzung und Vereinheitlichung der Zah- beitgeber wie Arbeitnehmer, ganz abgesehen von einer lungsfristen für weitere Verbrauchsteuern ist auch nichts weiteren Verschlechterung der Rahmenbedingungen des Neues und sollte nichts Spektakuläres sein. Kürzere und Standorts Deutschland, führen würde, sollte dann auch einheitliche Fristen sind in anderen Ländern schon längst offen ausgesprochen werden. Realität. Der Bundesrechnungshof hat deshalb schon ge- mahnt. Und was bei der Bier- und Tabaksteuer schon Wenn im vorliegenden Antrag demgegenüber von ei- funktioniert, sollte bei der Branntwein-, Sekt- und Kaf- ner Gesamtbelastung der Wirtschaft von über 22 Milliar- feesteuer nicht unmöglich sein. In Zeiten der umfassen- den Euro gesprochen wird, so ist dies schlichte Effektha- den elektronischen Datenverarbeitung sollte dies auch scherei. Tatsächlich entrichten ja die Arbeitgeber den kein technisches Problem mehr sein. Und übergebührli- Sozialversicherungsbeitrag insgesamt gesehen nur frü- che Belastungen der Hersteller sind auch nicht zu erwar- her, nicht aber generell öfter. Eine – zugegebenermaßen ten, denn immerhin wird ihnen das mit einem einmali- bestehende – Belastung wegen etwaiger Zinsverluste gen Steuerausfall von 215 Millionen Euro in 2007 durch Vorfinanzierungskosten dürften 2006 bei etwa versüßt. 400 Millionen Euro liegen. Nachdenklich macht aber doch, dass der Bund rein Dazu kommt, dass sich die meisten Unternehmen und rechnerisch immerhin fast 31 Jahre braucht, um nur den gerade auch viele Mittelständler – deutsche Unterneh- Nominalbetrag durch die erwarteten Zinseinsparungen men sind auch hier offenbar schneller als die FDP-Poli- von jährlich 7 Millionen Euro wieder auszugleichen. Ob tik – inzwischen jetzt schon auf die neuen Fristen einge- dies für den Bund wirklich ein gutes Geschäft ist, darf stellt haben oder noch von der eigens geschaffenen doch wohl zu Recht bezweifelt werden. Insofern ist es Möglichkeit zur Streckung der Januarbeiträge auf die fraglich, ob diese Fristverkürzung tatsächlich Sinn sechs Folgemonate Gebrauch machen. Im Übrigen wird macht, wenn einerseits der Bund Steuerausfälle von die Praxis – da bin ich sicher – wie immer bei Geset- mehr als 200 Millionen Euro in 2007 zu beklagen hat zesumstellungen flexibel reagieren. Ein Rückgängigma- und andererseits die betroffenen Verbände dennoch chen würde daher nur neue Bürokratie schaffen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2007

(A) Eine Kosten-Nutzen-Rechnung spricht hier also ganz dar. Lassen Sie uns alle gemeinsam an einem Mehr an (C) eindeutig gegen ein Rückgängigmachen der Fälligkeits- Beschäftigung und Wirtschaftswachstum arbeiten, zum regelung. Erhalt unserer sozialen Sicherungssysteme und damit zum Wohle unserer Gesellschaft und ihrer Bürger! Der Darüber hinaus gibt es doch im Zeitalter der moder- hier vorliegende Antrag hilft dabei nicht weiter und ist nen elektronischen Kommunikationsmittel nun wahrlich daher abzulehnen. keinen vernünftigen Grund, denjenigen, die ihr Überwei- sungssystem nicht ohnehin schon umgestellt hatten, grundsätzlich – Ausnahmen mag es bei komplizierteren Gregor Amann (SPD): Der vorliegende Antrag der Berechnungsarten auch heute noch geben – einen staatli- FDP-Fraktion ist kurz und konzentriert sich auf zwei chen Kredit für vor Jahrzehnten vielleicht technisch Dinge: Die Vorverlegung des Fälligkeitstermins der So- noch notwendige Überweisungszeiten für Sozialver- zialabgaben zurückzunehmen und darüber hinaus struk- sicherungsbeiträge zu gewähren, die bei der Auszahlung turelle Reformen in der Rentenversicherung einzuleiten, der Arbeitnehmerentgelte schon lange nicht mehr beste- um deren Finanzgrundlage zu verbessern. hen. Inzwischen ist der Januar vorüber, auch der Februar Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zu dem ist vergangen und der März ist schon zur Hälfte vorbei. zweiten Teil des Titels des Antrages sagen, der Einlei- Ich habe bisher weder den massiven Aufschrei der In- tung von strukturellen Reformen in der Rentenversiche- dustrie vernommen, noch ist die Masseninsolvenz einge- rung. Das Fälligkeitsvorziehen ist keine Maßnahmen zur treten, die Sie in Ihrem Antrag vorhergesagt haben. langfristigen Stabilisierung der Rentenkasse. Das ist uns Vielleicht erwarteten sie das aber auch in Wirklichkeit allen bewusst. Es war aber ein damals alternativloser gar nicht, sondern waren vielmehr von der Sorge ergrif- Schritt, um Zeit dafür zu gewinnen, nachhaltige Struk- fen, vor den anstehenden drei Landtagswahlen könnte turveränderungen auf den Weg zu bringen. Sie möglicherweise niemand zur Kenntnis nehmen und Letzteres haben wir zum Beispiel mit der Entschei- ließen sich deshalb vor den billigen Karren der Industrie- dung für eine schrittweise Anhebung der Regelalters- verbände spannen. grenze auf 67 Jahre ab 2012 getan. Flankieren werden Den Sozialsystemen fehlt es an Geld. Man müsste wir dies mit Maßnahmen, die eine tatsächliche längere schon von einer sehr langen Reise wiederkommen, ohne Lebensarbeitszeit – durch einen früheren Arbeitsbeginn davon gehört zu haben. Kurzfristig gibt es vier Maßnah- und Beschäftigungmöglichkeiten auch oberhalb von men, die ergriffen werden können: Die erste besteht da- 50 Jahren und einen Stopp von Frühverrentungen – er- rin, die Renten zu kürzen, fällt für diese Legislaturperi- möglichen. Dazu kommen die mittelfristige Einführung ode aus, ist mit uns nicht zu machen. Die zweite (B) (D) eines „Nachholfaktors“ zur Nachholung nicht realisierter Maßnahme wäre sofort möglich, auch rückwirkend zum Dämpfungen von Rentenanpassungen sowie eine lang- 1. Januar dieses Jahres: eine Erhöhung des Rentenversi- fristige Stabilisierung des Beitragssatzes – all dies auch cherungsbeitrags, ohne an anderer Stelle einen Aus- als ein Gebot der Generationengerechtigkeit. gleich zu schaffen. Eine weitere Erhöhung der Lohnne- Ein weiterer nicht zu unterschätzender Punkt ist die benkosten ist aber nicht das Ziel unserer Politik und Offenheit und Klarheit, mit der in Zusammenhang mit kann auch nicht das Ihrige sein. Als dritte Maßnahme der Debatte zum Rentenversicherungsbericht von unse- wird immer die Erhöhung des Bundeszuschusses disku- rer Koalition und dem zuständigen Bundessozialminister tiert. Bei allem Respekt – aber ist nicht auch immer die klargemacht wurde, dass die gesetzliche Rente zwar wei- FDP dabei, wenn gefordert wird, den Staatshaushalt zu terhin die wichtigste Säule der Altersvorsorge ist und sanieren? Die vierte Maßnahme ist nun die, mit der wir bleibt, aber zur Sicherung des Lebensstandards eine er- uns im Januar befassten und über die wir heute noch ein- gänzende betriebliche und private Altersvorsorge uner- mal sprechen. Lassen Sie mich kurz noch einmal schil- lässlich ist! dern, um was es geht. Es geht um die Betriebe, die den Lohn am Ende des Monats zahlen und bisher am 15. des Wir werden die Bürger dabei nicht allein lassen, son- Folgemonats die Sozialversicherungsbeiträge abzufüh- dern die Rahmenbedingungen für eine flexible private ren hatten. Anzumerken ist, dass in vielen Bereichen al- Altersvorsorge – zum Beispiel auch durch eine stärkere lerdings keine Veränderungen gegenüber der früheren Einbeziehung von selbstgenutztem Wohneigentum in die Fälligkeit hervorgerufen wurde, denn in Betrieben, in Altersvorsorgeförderung – weiter verbessern. denen am 15. eines Monats der Lohn ausgezahlt wird, war der Sozialversicherungsbeitrag bisher schon am Das A und O einer nachhaltigen Stabilisierung der so- 25. des Monats fällig. zialen Sicherungssysteme und damit auch der Rente ist und bleibt jedoch der Aufschwung in Wirtschaft und Ar- Natürlich führt die beschlossene Umstellung zu einer beitsmarkt. Das Impulsprogramm der Bundesregierung vorübergehenden, aber in ihren Ausmaßen noch erträgli- für mehr Wachstum, Beschäftigung und Innovation mit chen Belastung der Unternehmen. Mein Kollege Anton einem Gesamtvolumen von immerhin 25 Milliarden Schaaf erinnerte in der ersten Lesung an die Steuer- und Euro stellt mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen von Abgabenlast bis 1998. Diese war damals in der Republik der Förderung von Forschung und Entwicklung über auf dem höchsten Stand aller Zeiten. Allein der Renten- Programme zur Belebung von Mittelstand und Wirt- versicherungsbeitrag lag bei 20,3 Prozent. Hätte Rot- schaft bis hin zu Maßnahmen zugunsten von Privathaus- Grün seinerzeit nicht gehandelt, wäre er bei mittlerweile halten als Arbeitgeber einen hoffnungsvollen Anfang 22 Prozent gelandet. Man muss das einmal so deutlich 2008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) sagen. Die FDP galt bis 1998 ja als „geborene Regie- Übergangsregelung gibt, nach der es möglich ist, die (C) rungspartei“. Sie trugen damals die Verantwortung, der Beiträge für den Monat Januar 2006 auf die Monate Fe- Sie nicht gerecht geworden sind. Die in Ihrem Antrag bruar bis Juli 2006 zu verteilen. eingeforderten Strukturveränderungen sind unter Rot- Nutzt ein Unternehmen diese Übergangsregelung, Grün begonnen worden und werden nun weiter entwi- führt die Streckung der Zahlung der Beiträge sogar zu ei- ckelt. nem positiven Stundungseffekt, durch den die Liquidität Der eingangs erwähnten, aktuellen Belastung stehen des Unternehmens gestärkt wird. Zu Recht fordert die zwei Vorteile gegenüber, von denen auch, aber nicht nur FDP Strukturreformen in der Rentenversicherung: Aber die Unternehmen profitieren: Erstens trägt diese Maß- in Ihrem Antrag ist keine einzige Strukturreform be- nahme zur Verwaltungsvereinfachung und zum Bürokra- nannt! Ich dagegen kann Ihnen einige Maßnahmen nen- tieabbau bei. Mit dem im letzten Jahr ebenfalls beschlos- nen: Erstens haben wir uns entschieden, das gesetzliche senen vollautomatisierten Melde- und Beitragsverfahren Renteneintrittsalter ab 2012 allmählich auf 67 Jahre an- in der Sozialversicherung wurden zum 1. Januar 2006 zuheben. Dass das gerechtfertigt ist, erkennt man, wenn die Arbeitsabläufe beschleunigt und vereinfacht. Mit der man zur Kenntnis nimmt, dass sich die durchschnittliche Vorverlegung des Zahlungstermins der Sozialabgaben Rentenbezugsdauer von 1960 bis heute um circa 70 Pro- wird dieses moderne Verfahren konsequent weiterentwi- zent verlängert hat. ckelt. Durch das neue Verfahren wird eine Reihe unter- Zweitens erhöhen wir den Rentenbeitrag ab 2007 um schiedlicher Einzahlungs-, Buchungs- und Überwei- 0,4 Prozent; genau dann, wenn wir gleichzeitig die Ar- sungsvorgänge gebündelt und damit kostengünstiger beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unterneh- gemacht. Während das bisherige Verfahren in der Praxis men bei der Beitragszahlung an die Arbeitslosenversi- oft zu drei bis vier Beitragsabrechnungen in einem Mo- cherung entlasten. Weil die gesetzliche Rente den nat führte, insbesondere bei Unternehmen, in denen die künftigen Rentnerinnen und Rentnern nicht mehr das ausgezahlten Gehälter stark schwanken, entfallen zu- bringen wird, was sie für die heutigen Rentnerinnen und künftig Stornierungen, Korrekturen und das Ausfüllen Rentner leistet, muss die private Altersvorsorge als er- aufwändiger Korrekturbögen, wie sie bisher im Rahmen gänzende Säule attraktiver gemacht und konsequent aus- des Beitragseinzugsverfahrens notwendig waren. Da- gebaut werden. Dennoch, immerhin schon 5,6 Millionen durch, dass die Differenz zwischen der Vorausschätzung Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen heute be- am Monatsende und dem später errechneten Istwert jetzt reits in die Riesterrente ein. der Fälligkeit des laufenden Monats zugerechnet wird, gibt es ab 2006 nur noch zwölf Beitragsabrechnungen im Um die Riesterrente noch attraktiver zu machen, hat Jahr. die große Koalition zwei Festlegungen getroffen. Zum (B) einen prüfen wir, inwieweit privates Wohneigentum in (D) Davon profitieren übrigens auch die Krankenkassen, die Riester-Förderung einbezogen werden kann. Miet- die den Beitragseinzug für die gesamte Sozialversiche- freies Wohnen im Alter verringert die Gefahr der Alters- rung durchführen. Denn künftig müssen sie nur noch armut entscheidend. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, einmal im Monat die Weiterleitung der Beiträge an die dass wir auch diese Anlageform gleichberechtigt in die Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung veranlas- geförderte Altersvorsorge integrieren. Hinzu kommt die sen. Die Zahl der Abrechnungstermine wird von 24 auf Förderung von Familien mit Kindern, denn wir werden zwölf reduziert. Das hilft natürlich bei der Stabilisierung die Kinderzulage in der Riesterrente auf 300 Euro jähr- der Verwaltungskosten der Kassen. In der ersten Lesung lich erhöhen. Die Gestaltung einer sicheren und verläss- beschrieb der Kollege Straubinger diesen Vorgang als lichen Altersversorgung ist die große soziale Frage der Straffung der Abrechnungssysteme. Zweitens wird es im kommenden Jahre. Jahr 2006 zu einer immensen Liquiditätsverbesserung bei den Sozialkassen in Höhe von etwa 20 Milliarden Die beste Rentenpolitik aber ist eine gute Wirtschafts- Euro führen, wovon allein auf die Rentenkasse etwa politik. Schon lange forderten die Gewerkschaften ein 9 Milliarden Euro entfallen. Da haben wir die kurzfris- Investitionsprogramm. Die große Koalition hat nun in tige Unterstützung der Rentenkasse, die wir brauchen. Genshagen eines in Höhe von 25 Milliarden Euro be- schlossen. Unser erklärtes Ziel ist dabei, insbesondere Ich erinnere daran, dass Herr Dr. Kolb sich seinerzeit für mittelständische Betriebe die Abschreibungsbedin- vor allem darüber erregte, dass ich das Wort Subvention gungen zu verbessern. Das bedeutet mehr Zukunftsin- verwendete. Vielleicht liegt hier keine Subvention im vestitionen in unsere Betriebe, mehr Arbeitsplätze in un- klassischen Sinn vor, wie im Steinkohlebergbau oder in serem Land und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft. Aber ich bleibe dabei: Auch ein ein- unserer Betriebe. Das ist die Grundlage auch für die Fi- geräumter zinsloser Kredit der Sozialkassen an die Un- nanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Des- ternehmen ist eine Unterstützung aus öffentlichen Mit- halb bin ich sehr gespannt, ob die FDP bereit ist, uns bei teln und daher zumindest eine indirekte Subvention. Ich diesem Bemühen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, zu- finde, dass Sie bei Ihren regelmäßigen Forderungen, alle künftig zu unter stützen. Subventionen abzubauen, nur glaubwürdig sind, wenn Sie dabei auch konsequent bleiben. Bildlich gesprochen kann ich also zusammenfassen: Die Monatskarte kann zukünftig nicht mehr im kom- Im Übrigen wissen Sie genau, dass es gerade für Un- menden Monat, sondern muss schon in dem Monat be- ternehmen, deren Finanzrahmen besonders eng ist, wie zahlt werden, in dem sie benutzt wird. Das bedeutet den das häufig im Mittelstand der Fall ist, eine großzügige Abschied von einer lieb gewonnenen Gewohnheit, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2009

(A) bringt aber auf der anderen Seite dem Verkehrsbetrieb in vielen Fällen bei Firmen, die Einzugsermächtigung (C) eine zeitnahe Liquidität und Sicherheit. Gleise und Fahr- erteilt haben, der Beitrag auch bei denen, die eigentlich zeuge der Tram sind für die kommenden Herausforde- „null“ gemeldet hatten, geschätzt und eingezogen. An- rungen gut gerüstet. sonsten wäre die Beitragssteigerung wohl noch niedriger gewesen. Die Unternehmen spüren die Belastungen und das kann augenscheinlich nicht verleugnet werden. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. Am 8. Februar haben sich im Ausschuss für Arbeit und Soziales erneut Viertens. Das erneute Zurückweisen des FDP-Antrags – mit Ausnahme der FDP – alle Fraktionen des Bundes- durch die Mehrheit dieses Hauses kann auch nicht mit tages für das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversi- dem Argument begründet werden, der Antrag komme cherungsbeiträge und damit für die Belastung der Unter- „zu spät“. Für die Rücknahme einer belastenden und un- nehmen durch einen 13. SV-Monatsbeitrag im Jahr 2006 sinnigen Regelung ist es nie zu spät! Ein Zurücknehmen und für andauernd hohe bürokratische Kosten ausge- der Regelung würde den bürokratischen Aufwand von sprochen. Ich empfinde das als Skandal, weil die ebenso 24 statt zwölf jährlichen Meldungen auch jetzt noch und eindeutige Ablehnung dieses Gesetzes seitens der mittel- dauerhaft für die Zukunft beseitigen. Zudem würden die ständischen Wirtschaft damit vollständig ignoriert wird! Unternehmen, wenn noch in diesem Jahr der Antrag um- gesetzt würde, eben nur mit zwölf und nicht 13 Monats- Die FDP-Bundestagsfraktion wird weiterhin für die beiträgen belastet werden. Eine bessere Maßnahme der Rücknahme dieses Gesetzes kämpfen, denn mittlerweile Mittelstandsförderung gibt es nicht! zeigen sich die gravierenden Wirkungen dieses Gesetzes in der Praxis und führen zu weiteren – oft wütenden – Fünftens. Es kommt regelmäßig die Frage, wie denn Protestschreiben der betroffenen Mittelständler. So hat, die Liquidität der Rentenversicherung anderweitig si- um nur ein Beispiel zu bringen, eine mittelständische chergestellt werde. Es ist bezeichnend für die große Ko- Unternehmerin mir gegenüber gerade heute ihren Unmut alition, dass nur in Richtung der weiteren Erhöhung der darüber geäußert, dass ihr für den Kauf der erforderli- Beiträge gedacht wird. Dabei gibt es durchaus noch Ein- chen Programme – zusätzlich zu dem „normalen“ Jah- sparpotenzial in der Rentenversicherung. Allerdings sind resupdate – Kosten inklusive Installation und Schulung das durchweg einschneidende Maßnahmen, die ergriffen von rund 3 500 Euro entstanden sind. Nicht eben ein werden müssten. Und vor denen hat sich die Koalition ja Pappenstiel für ein mittelständisches Unternehmen! bisher nach Möglichkeit immer gedrückt. Zweitens. Gravierender als diese Investitionskosten Sechstens. Folgende Vorschläge könnten sofort Ein- ist und bleibt aber der Aufwand, der für die laufenden sparungen bei der Rentenversicherung in Höhe von über monatlichen Vorausschätzungen der voraussichtlichen 5 Milliarden Euro jährlich – und nicht nur mit Einmalef- (B) Beitragsschuld in den Unternehmen entsteht. Denn es fekt – bewirken und auch Gerechtigkeitsfragen beant- (D) genügt eben nicht, wie der Mittelstandsbeauftragte der worten, die in Zukunft stärker gestellt werden müssen. Bundesregierung, der Parlamentarische Staatssekretär Bei den Erwerbsminderungsrenten werden etwa im BMWT Hartmut Schauerte, glauben machen wollte, 4,3 Milliarden Euro jährlich für so genannte arbeits- einfach die Werte des vorangegangenen Monats wieder marktbedingte Erwerbsminderungsrenten ausgegeben. anzusetzen. Wie Staatssekretär Thönnes aus dem BMAS Das heißt, ein Versicherter erhält eine volle Erwerbsmin- hier im Plenum am 15. Februar 2006 bestätigte, müssen derungsrente, obwohl er nur teilerwerbsgemindert ist, vielmehr die Unternehmen bei den monatlichen Voraus- konkrete Betrachtungsweise. Das zahlen die anderen schätzungen versuchen, möglichst genau zu kalkulieren, Versicherten über ihre Beiträge und die Rentner über wie hoch ihre Abgabenschuld am Ende des Monats sein Nullrunden mit. Diese Belastung der Beitragszahler und wird. Und das macht es eben erforderlich, die Verände- Rentner ist nicht gerecht und nicht hinnehmbar. Die kon- rung der Zahl der Arbeitstage, der Mitarbeiter, etwaiger krete Betrachtungsweise ist zu beseitigen und damit Überstunden und auch der Beitragssätze – für jede Ein- ebenso die sich daraus ergebenden Kosten in der ge- zugsstelle separat – zu ermitteln. Das ist, ich habe es im nannten Höhe. Der Ausgleichsbetrag der Bundesagentur eigenen Unternehmen durchexerziert, wirklich Arbeit. an die Rentenversicherung beläuft sich auf etwa Und es kostet Geld! Wenn denn der neue „Normenkon- 200 Millionen Euro, steht also in keinem Verhältnis zu trollrat“ endlich einmal installiert wäre, so fände er hier den Belastungen der Beitragszahler. ein überaus lohnendes Betätigungsfeld! Er müsste, wenn er sich selbst ernst nimmt, dieses Gesetz von sich aus so- Und es geht noch weiter: Ein Versicherter, der nur als fort kippen! teilweise erwerbsgemindert eingestuft ist, aber dennoch die volle Erwerbsminderungsrente erhält, kann zugleich Drittens. Die finanzielle Belastung der Unternehmen noch bis zu 350 Euro völlig ohne Anrechnung hinzuver- tritt wegen der Stundung der Januarbeiträge erst allmäh- dienen. Er kann bis zu 611 Euro hinzuverdienen und die lich ein und wird erst Ende Juli 2006 voll gegeben sein. Rente zu 3/4 beziehen. Oder er kann bis zu 811 Euro hin- Immerhin aber zeigt die Tatsache, dass die Rentenversi- zuverdienen und sich die Rente zur Hälfte auszahlen las- cherung im Januar nur 27 Prozent Mehreinnahmen ge- sen, § 96 a SGB VI. Auch diese Bestimmungen könnten genüber dem Vorjahresmonat hatte – eigentlich hätte es auf den Prüfstand. ja eine Steigerung um 100 Prozent sein müssen, dass die Unternehmen gezwungen sind, wegen der Schwächung Da das durchschnittliche Rentenzugangsalter bei den der eigenen Liquidität von der Sechstelung Gebrauch zu Erwerbsminderungsrenten von 53,4 Jahren im Jahr 1990 machen. Und wegen der Panne bei T-Systems wurden ja auf 49,8 Jahren in 2004 gesunken ist, dürften hier 2010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Einsparpotenziale in Höhe von mehreren hundert Millio- schließlich bei den Einkommen aus Unternehmertätig- (C) nen Euro bestehen, wenn die Anrechnungsregelungen keit und Vermögen gelandet, die Arbeitnehmereinkom- verschärft würden. Das Gesamtvolumen der Ausgaben men sind sogar um 2,3 Milliarden Euro gesunken. Bei der Rentenversicherung für Erwerbsminderungsrenten solchen katastrophalen Verteilungseffekten können die macht derzeit über 13 Milliarden Euro jährlich aus. Sozialversicherungssysteme natürlich nur als Verlierer dastehen. Umso wichtiger sind daher aus unserer Sicht Ein letzter Vorschlag: Müssen Hinterbliebenenrenten die schnelle Einführung eines Mindestlohnes und die tatsächlich heute noch ab dem 45. Lebensjahr ausgezahlt Bekämpfung der ständigen Verlängerungen der Arbeits- werden? Dies mag für die gesellschaftlichen Zustände zeiten. um 1960 zutreffend gewesen sein. Im Jahr 2006 mit deutlich gestiegener Anzahl von eigenen Erwerbsbiogra- Die Massenarbeitslosigkeit verursacht ebenso enorme fien bei Frauen ist dies schlicht eine überholte Regelung. Kosten: 4,8 Millionen registrierte Arbeitslose bedeuten Bei einem Ausgabenvolumen von etwa 40 Milliarden für die sozialen Sicherungssysteme jährliche Beitrags- Euro bei den Hinterbliebenenrenten sieht auch der Sach- ausfälle von über 27 Milliarden Euro. verständigenrat hierein erhebliches Einsparpotenzial. Des Weiteren bedeutet die ständige Umschichtung Siebtens. Mit den vorgenannten Vorschlägen kann die von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu Rentenversicherung sofort entlastet werden. Denn hier Minijobs weitere Einnahmeverluste. Nur eine grundle- bestehen weder Vertrauensschutz noch verfassungsrecht- gend anders angelegte Wirtschafts-, Finanz- und Ar- lich geschützte Ansprüche. beitsmarktpolitik kann die sozialen Sicherungssysteme heilen und Abhilfe schaffen. Achtens. Sie sehen also, es ginge schon, wenn man nur wollte, das Gesetz zur Vorverlegung des Fälligkeits- termins für Sozialabgaben zurückzunehmen, auch ohne Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Beitragserhöhung! Ich sage ihnen voraus, Sie selbst wer- GRÜNEN): Wir haben im letzten Jahr gemeinsam mit den schon bald mit genau diesen Vorschlägen kommen der SPD und der CDU/CSU beschlossen, den Fällig- müssen, wenn der negative Trend bei der sozialversiche- keitstermin für Sozialabgaben vorzuverlegen, um damit rungspflichtigen Beschäftigung sich nicht endlich um- in diesem Jahr eine einmalige Entlastung bei der Renten- kehrt. Die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht sich aber, versicherung erreichen zu können. wenn das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversiche- Ohne die Vorverlegung wäre bereits in diesem Jahr rungsbeiträge nicht zurückgenommen wird. eine Erhöhung des Beitrags der Rentenversicherung um 0,5 Prozent erforderlich gewesen. Arbeit hat Vorfahrt! So hat es unser Bundespräsident (B) ausgedrückt. Wer dieses ernst nimmt und zur Maxime Aber: Steigerungen des Beitragssatzes wirken sich bei (D) seines Handelns macht, der wird nicht umhinkommen, den Betrieben und im Bundeshaushalt nachteilig aus. heute unserem Antrag zuzustimmen und die Ausschuss- Gewinnorientierte Unternehmen können die Sozialversi- empfehlung abzulehnen! cherungsausgaben als Betriebsausgaben steuerlich abset- zen, dadurch sinken die Steuereinnahmen. Nach gelten- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Der Fälligkeitstermin dem Recht muss proportional auch der Bundeszuschuss sollte nicht auf den 15. des Folgemonats zurückverlegt steigen. Für gemeinnützige Unternehmen ist sowohl die werden, aber trotzdem zeitnah gestaltet werden, weswe- Erhöhung der Beitragssätze als auch die Vorverlegung gen sich der 3. oder 5. des Folgemonats anbietet. Dies des Fälligkeitstermins eine außergewöhnliche Belastung. wurde auch von den Sachverständigen vorgeschlagen Aus diesem Grund haben wir uns im letzten Jahr dafür und würde Doppelarbeit bei der Abrechnung vermeiden. eingesetzt, dass kleineren und mittleren Unternehmen eine „gleitende“ Übergangsregelung eingeräumt wurde. Grundsätzlich schafft diese Vorverlegung aber nicht einmal eine mittelfristige Lösung des Problems. Auch In Abwägung der beiden Übel war die Vorverlegung die Ausrichtung auf eine wachstumsorientierte Wirt- des Fälligkeitstermins also das kleinere Übel. schaftspolitik der FDP reicht nicht aus. Wir haben diesen Weg beschritten, um auch über das Jahr 2006 hinaus stabile Beitragssätze zu gewährleisten. Die entscheidenden Probleme der sozialen Siche- Das ist der entscheidende Unterschied zur Rentenpolitik rungssysteme liegen in der katastrophalen Verteilungs- der großen Koalition. SPD und CDU/CSU gehen den entwicklung – anhaltende Umverteilung zugunsten der einfachen Weg. Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen und zulasten der Arbeitnehmereinkommen – und in der Der Beitragssatz zur Rentenversicherung soll 2007 Massenarbeitslosigkeit. auf 19,9 Prozentpunkte steigen. Die Beiträge für Lang- zeitarbeitslose an die Rentenversicherung sollen sinken, Wenn die schwache Steigerung der Einnahmen der der Haushalt soll auf Kosten der Beitragszahler entlastet Sozialversicherungen als konjunkturelles Problem titu- werden. liert wird, so ist dies völlig falsch. In der Tat ist die Summe der Sozialbeiträge im Jahr 2004 nur um Die Kosten für Arbeitnehmer werden steigen. Das ist 0,2 Prozent und im Jahr 2005 nur um 0,4 Prozent gestie- Gift für den Arbeitsmarkt. Die Koalition hofft auf gen. Das Volkseinkommen ist in beiden Jahren zusam- Wachstum, Sie hofft darauf, dass auf diesem Weg Be- men aber um 5,1 Prozent oder absolut um 84 Milliarden schäftigung entsteht und der Druck auf die Sozialversi- Euro angestiegen. Allerdings ist dieser Zuwachs aus- cherung abnehmen wird. Dabei ist in den letzten Jahren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2011

(A) die Zunahme der Beschäftigung mit einer Abnahme der reich so wichtig und muss weiter gestützt und ausgebaut (C) sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einherge- werden. gangen. Dieses grundlegende Problem muss gelöst wer- den. Den strukturellen Problemen der Rentenversiche- Als interessant bewerte ich allerdings die Tatsache, rung weichen SPD und CDU/CSU aus. Das ist wohl der dass Sie Ihren Antrag und die Forderungen gestellt ha- einzige Punkt aus dem Antrag der FDP, dem wir zustim- ben, ohne den Besuch des EU-Kommissars für allge- men können. Bisher hat die große Koalition wesentliche meine und berufliche Bildung, Kultur und Sprachen, Entwicklungen zu den veränderten Rahmenbedingungen Herrn Figel, und die Ergebnisse dieses Gespräches im bei den Sozialen Sicherungssystemen und dem Arbeits- Bildungsausschuss abzuwarten. Dieser Besuch war Teil markt nicht aufgegriffen. Ich nenne vor allem: die sin- eines Prozesses der aktuellen Diskussion über die anste- kende Zahl von sozialversicherungspflichtigen Beschäf- henden Dinge, die auch im Zusammenhang mit dem tigungsverhältnissen; die fortwährende Tendenz von Themenkomplex „Mobilität und Austausch durch ein in- Großunternehmen, ältere Arbeitnehmer in Altersteilzeit tegriertes Bildungsrahmenprogramm“ wesentlich sind. nach dem Blockmodell zu schicken und damit zulasten Dabei handelt es sich um die Frage der finanziellen Vo- der Sozialversicherungen Betriebe zu rationalisieren; rausschau 2007 bis 2013 im Hinblick auf relevante EU- neue Formen von Selbstständigkeit und prekäre, unstete Programme, die Entwicklung des Europäischen Qualifi- Arbeitsverhältnisse, die nicht mit einer ausreichenden kationsrahmens und die mögliche Schaffung eines Euro- sozialen Absicherung verbunden sind; die fehlende Ar- päischen Instituts für Technologie. beitsintegration von älteren Beschäftigten und nicht zu- Ich begrüße Ihre Erkenntnis, dass die Mobilität inner- letzt von Frauen; Frauen, die als stille Reserven des Ar- halb der Europäischen Union durch den grenzüber- beitsmarktes verstanden werden. schreitenden Austausch und die Kooperation innerhalb Herr Arbeitsminister, Sie beschönigen die Rentenper- Europas auf allen Ebenen des Bildungssystems einen spektive mit dem wunderbar beruhigenden Satz: „Si- wesentlichen Beitrag im Prozess der europäischen Inte- cherheit im Alter ist möglich“. Doch wir erwarten vom gration bedeutet. Auch wir in der Union sehen die Ver- Arbeitsminister nicht philosophische Weisheiten, son- tiefung des europäischen Integrationsprozesses im Be- dern zupackendes praktisches Handeln. Die Antworten reich der Bildungspolitik als eine der zentralen der großen Koalition auf die bestehenden Probleme sind Aufgaben. Wir wollen deshalb die Mobilität in Europa zutiefst widersprüchlich. Einerseits werden die Renten- sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht kassen mit der 58er-Regelung zugunsten von Großunter- steigern. Wir wissen, dass die Effizienz wesentlich von nehmen geplündert, andererseits werden den Rentenkas- der Entwicklung und Implementierung nationaler Quali- sen Beiträge in Höhe 2 Milliarden Euro über die fikationsrahmen abhängt. Im Kontext des lebenslangen (B) Kürzungen für die ALG-II-Bezieher entzogen. Wir wer- Lernens sind Förderung eines gesunden Wettbewerbs (D) den den Eindruck nicht los, Herr Müntefering baut auf und der Wissensgesellschaft notwendig. Wettbewerb das Prinzip Blüm statt auf das Prinzip Realismus. Dabei meint dann auch immer den sozialen Ausgleich zwi- ist das Konzept Blüm ganz offenkundig gescheitert. schen Stark und Schwach, Arm und Reich. Um eine Mobilitätsförderung zu gewährleisten, muss allerdings die richtige Balance zwischen dem Interesse Anlage 4 an der Erhöhung der Fördersätze und dem Interesse an Zu Protokoll gegebene Reden der Steigerung der Teilnehmerzahlen gefunden werden. Ebenso wesentlich im Zusammenhang mit der Mobili- zur Beratung des Antrags: Mehr Mobilität und tätsförderung sind Fremdsprachenerwerb und praktische Austausch durch ein integriertes EU-Bildungs- Projektkooperation sowie überschaubare und adressaten- rahmenprogramm (Tagesordnungspunkt 16) gerechte Programmstrukturen, auf die Sie zum Beispiel nicht in ihrem Antrag eingehen. Marcus Weinberg (CDU/CSU): Gern und mit Inte- resse habe ich den Antrag auf Drucksache 16/837 zur Sie fordern einiges in Ihrem Antrag, unter anderem Kenntnis genommen, dessen Analyse des Zustandes des eine weitere Verbesserung der Kooperation von Bund, europäischen Einigungsprozesses richtig ist und dessen Ländern und anderen Akteuren des Bildungswesens bei Erfassung der Bedeutung des Bildungsbereiches für die der Umsetzung der auf europäischer Ebene vereinbarten Schaffung eines „europäischen Bewusstseins“ sich wei- Programme im Bildungswesen. Die vorgesehene Reform testgehend mit der unsrigen deckt. Ein Bewusstsein des Föderalismus möchten Sie nun dahin gehend korri- muss konkretisiert werden – europäische Bildungspro- giert wissen, dass diese Zusammenarbeit nicht erschwert gramme und Bildungsinitiativen schaffen diese Konkre- oder gar unmöglich gemacht, sondern erleichtert wird. tisierung. Im Rahmen des Bolognaprozesses und der Dazu möchte ich Ihnen sagen, dass sich die Föderalis- Lissabonstrategie hat Bildung auf europäischer Ebene musreform ja gerade in die Europäisierung des Bil- die höchste Priorität. dungsbereiches einbettet, indem sie die Willensbildungs- prozesse in der Europäischen Union beschleunigen und Doch ist – sie verweisen darauf – die „europäische die Handlungsfähigkeit Deutschlands verbessern wird. Euphorie“ zurzeit etwas gebremst. Eine allgemeine Deutschland wird im Ganzen besser und gezielter auf Skepsis und die Unsicherheit über die Vorteile Europas EU-Bildungsprogramme einwirken können, indem indi- dominieren leider die Diskussion: Gerade zum Abbau vidueller gefordert und Verbesserungen schneller voran- dieser Bedenken ist der Bildungsbereich als Schlüsselbe- getrieben werden können. 2012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Durch klare Abgrenzung und Verteilung der jeweili- zial- oder Strukturfonds umgeleitet werden können, ist (C) gen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern wird noch zu diskutieren. Zu begrüßen ist ausdrücklich das auch die von Ihnen geforderte Transparenz geschaffen. Ergebnis der 6. Deutsch-Französischen Ministerratssit- Der Wettbewerb unter den Ländern wird erhöht und bes- zung vom 14. März, in der zum EU-Programm „Lebens- sere Zukunftschancen durch erstklassige Bildungssys- langes Lernen“ beschlossen wurde, dass Deutschland teme geschaffen. Und erstklassige nationale Bildungs- und Frankreich sich der Frage zuwenden werden, ob auf systeme schaffen die Voraussetzung für die Teilnahme europäischer Ebene die Zahl der Erasmus- und Leonard- und Integration von europäischen Bildungsprogrammen. stipendien signifikant erhöht werden kann, was bis zu ei- Verlangt werden zudem Transparenz und Vergleichbar- ner Verdoppelung gehen könnte, um die Mobilität junger keit, dies im Rahmen des europäischen Qualifikations- Auszubildender und Studierender zu fördern. rahmens. Da der Bund auch in Zukunft die Kompetenz für die Bereiche Hochschulzulassung und Hochschulab- Wir werden auch im Hinblick auf das Gespräch mit schlüsse behält, wird einer einheitlichen und transparen- dem EU-Kommissar Figel, den Ergebnissen aus dem ten Vergabe von Studienplätzen sowie der Vergleichbar- Ministerrat und im Zusammenhang mit Ihrem Antrag keit von Abschlüssen Rechnung getragen. Von jedem alle diese diskussionswürdigen Punkte in den Ausschuss Akteur auf diesem Gebiet – sei es der Bund oder die vertagen, wo diese noch umfassend und intensiv bespro- Länder – wird die Anforderung an ein gerechtes und chen werden. transparentes Hochschulzulassungsverfahren gestellt. Qualitätssicherung und Wettbewerbsfähigkeit werden Gesine Multhaupt (SPD): In die Ferne, um Neues durch die Möglichkeiten der Länder zur gemeinsamen kennen zu lernen und zurück in die Heimat, um das Er- Feststellung, gemeinsamer Bildungsberichterstattung so- lebte weiter zu erzählen und das Gewohnte mit „europäi- wie die Möglichkeit der Abgabe gemeinsamer Empfeh- schen“ Augen zu sehen, mit dieser Aufforderung auch lungen für eine umfassende Qualitätssicherung und mal über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen, somit für die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Bil- wirbt die europäische Union bei der jungen Generation, dungswesens wesentlich. sich verstärkt an Förderprogrammen im Jugend- und Bil- dungsbereich zu beteiligen. Im Zuge dieses Reformprozesses wird die Kultus- ministerkonferenz notwendigerweise an Bedeutung ge- Die SPD Bundestagsfraktion will, dass junge Men- winnen und bewirken, dass die Länder einen engeren schen wie selbstverständlich einen Teil ihrer Aus- oder Abstimmungsprozess zu entwickeln haben. Das gestrige Weiterbildung in Europa absolvieren, Schulen und Uni- Gespräch hat im Zusammenhang mit dieser Diskussion versitäten in anderen Ländern besuchen; und dabei Spra- gezeigt, dass immer noch Bedarf besteht, Details zu klä- chen lernen, andere Kulturen erleben, mit Menschen aus (B) ren und Positionen abzusprechen. anderen Ländern zusammen neue Technologien erfor- (D) schen, gemeinsam an einem Projekt arbeiten, eben neu- Noch kurz einige Bemerkungen zu den aktuellen gierig werden auf die vielen Chancen, die Europa für sie Punkten: bereithält und dabei gleichzeitig Verantwortung über- Erstens. Europäisches Institut für Technik: Den Auf- nehmen für das „gemeinsame Haus Europa“. bau dieses Institutes sehen wir skeptisch. Die Struktur Das ehrgeizige Ziel der Lissabonstrategie, Europa bis sollte eher auf Vernetzung der bestehenden Institutionen zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten Raum der ausgelegt sein, es sollte zu einem „wiederkehrenden Welt zu machen, können wir nur erreichen, wenn wir Wettbewerb“ kommen. Kritisch ist auch der rechtliche konsequent und zielstrebig unser Bildungssystem euro- Status zu bewerten. Die Finanzierung ist nach wie vor päisch und international ausrichten. unklar. Die Kommission hat phasenweise auch formal an dieser Stelle eine Grenze überschritten, die Hoheits- Das Europaprojekt an der eigenen Schule mit seiner rechte der Länder bei der Zielsetzung der Abschlüsse Partnerschule in Barcelona, das freiwillige soziale Jahr sind zu berücksichtigen. im lettischen Kinderheim, das Betriebspraktikum in Po- len, die Weiterbildung in einem Wirtschaftsunternehmen Zweitens. Europäischer Qualifikationsrahmen: Für in Dänemark oder den Niederlanden – das alles sind uns gelten folgende Vorgaben: Der Europäische Qualifi- ganz konkrete Beispiele wie wir Menschen motivieren, kationsrahmen soll als Metarahmen und Übersetzungs- neugierig aber auch fit machen für den internationalen instrument, der Förderung der Transparenz unterschied- Wettbewerb der „besten Köpfe“. licher Qualifikationen in Europa dienen und zielt nicht auf die Harmonisierung nationaler Bildungssysteme. Im Halbzeitbericht der Sachverständigengruppe zur Lissabonstrategie im November 2004 wurde festgestellt, Für den EQR ist eine mehrjährige Erprobungs- und dass sich alle beteiligten Länder noch mehr anstrengen Evaluationsphase notwendig. müssen, um die Ziele der Strategie bis 2010 zu errei- Ein bildungsübergreifender nationaler Qualifikations- chen. rahmen bedarf eines umfassenden Diskussionsprozesses In enger Absprache mit den Sozialpartnern haben da- aller im Bildungsbereich zuständigen Akteure. raufhin alle Mitgliedstaaten nationale Strategien für ein Drittens. Finanzielle Vorschau „Lebenslanges Lernen“: lebenslanges Lernen verabschiedet, um so effektiver auf Wir haben die Botschaft des EU-Kommissars verstan- den technologischen Wandel zu reagieren, Arbeitslosig- den, auch auf nationaler Ebene für eine Erhöhung des keit zu senken und die Beteiligung am Arbeitsmarkt zu Ansatzes zu werben. Ob allerdings Mittel aus den So- erhöhen. Alle bislang bestehenden EU-Programme in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2013

(A) der allgemeinen und beruflichen Bildung werden in ein stärkt und curricular entwickelt werden, die den frühzei- (C) Programm für lebenslanges Lernen zusammengefasst. tigen Fremdsprachenunterricht sinnvoll integrieren. Die SPD unterstützt darum auch die nächste Genera- Eine Vertiefung und Ausweitung der Bildungspolitik tion der Bildungsprogramme auf europäischer Ebene. in Europa wird auf Dauer nur zu einer Erfolgsstory, Wenn wir uns heute auf den Arbeitsmarkt von morgen wenn wir auch unsere deutschen Bildungseinrichtungen vorbereiten, die Herausforderungen der Wissensgesell- öffnen. Insbesondere für Familien, die nach Deutschland schaft und des demografischen Wandels besser bewälti- kommen, um hier zu arbeiten und zu leben, sind unsere gen wollen, dann müssen wir die allgemeine und berufli- Bundesländer gefordert, vielen Kindern und Jugendli- che Bildung stärker in den Kontext des lebenslangen chen aus unseren EU-Partnerländern in Deutschland eine Lernens stellen. gute Bildung zu ermöglichen. Die rot-grüne Bundesregierung hat in den letzten Jah- Ursprünglich waren für die Durchführung des Pro- ren mit einer verlässlichen Europapolitik ein gutes Fun- gramms „Lebenslanges Lernen“ rund 13 Milliarden dament für die Umsetzung der in der Lissabonstrategie Euro vorgesehen. Nach den letzten Überlegungen der vereinbarten Maßnahmen gelegt. Anlässlich des Be- Kommission bleiben für das Bildungsprogramm Lebens- suchs von EU-Kommissar Jan Figel gestern im Aus- langes Lernen lediglich 5,2 Milliarden Euro zur Verfü- schuss haben wir gehört, dass die neue Bundesregierung gung. Mit diesem stark reduzierten Ansatz kann nicht den begonnen Weg weiter fortsetzen wird. einmal der Status quo an Mobilität gehalten werden. Als wichtigste Aufgabe muss es der Bundesregierung Schülerprogramme lassen sich kaum noch realisieren. gemeinsam mit den Partnerländern gelingen, bei der Ich nutze darum diese Debatte auch, um dafür zu wer- Schaffung eines gemeinsamen europäischen Bildungs- ben, den Finanzrahmen insbesondere für europäische und Forschungsraums einen großen Schritt voranzukom- Bildungspolitik langfristig zu stabilisieren. men. Strategisch müssen wir die teilweise sehr unter- schiedlichen Systeme der allgemeinen und beruflichen Deutschland übernimmt im Januar 2007 die EU-Rats- Bildung europaweit angleichen. präsidentschaft, übrigens nach Finnland, dem Land, das Die verschiedenen Ausbildungsabschlüsse müssen oft als Beispiel für eine gute Bildungspolitik genannt gegenseitig anerkannt werden und dürfen nicht an natio- wird. Die SPD-Bundestagsfraktion geht davon aus, dass nalen Grenzen enden. Dafür benötigen wir geeignete In- die Bundesregierung die EU-Ratspräsidentschaft nutzt, strumente mit denen wir die Qualität von Aus- und Wei- um Europa vor allem bildungspolitisch nach vorn zu terbildung sichern und verbessern. bringen. (B) Ergänzend zu den bildungspolitischen Aktivitäten Einen wichtigen Impuls geben wir, indem möglichst (D) muss es der Bundesregierung – ebenfalls in Kooperation vielen Menschen eine Teilnahme an europäischen Bil- mit den Nachbarländern – gelingen, den europäischen dungsprogrammen ermöglicht wird. Der Erfolg der Lis- Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass alle Arbeitskräfte sabonstrategie wird auch daran gemessen, wie viele auch nach Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie Schüler ganz konkret an einem Austausch beteiligt sind. in die Lage versetzt werden, von den Möglichkeiten der Oder anders betrachtet: Gelingt es uns auf Dauer, jedem beruflichen und geografischen Mobilität Gebrauch zu jungen Menschen einen Aufenthalt in einem Partnerland machen. zu ermöglichen? Nach dem so genannten Vertrauensprinzip muss es im Um dieses ehrgeizige Ziel auf einen guten Weg zu gemeinsamen Europa noch selbstverständlicher werden, bringen, müssen wir rechtzeitig absichern, dass auch dass Diplome und Zeugnisse grundsätzlich auch in ausreichend Lehrer und Ausbilder für den europäischen anderen – möglichst in allen EU-Ländern akzeptiert wer- Bildungsauftrag fit gemacht werden. den. In diesem Sinne können viele in unserem Land mit- Mit Freude haben wir in diesem Zusammenhang in helfen, das Gewohnte mit „europäischen“ Augen zu se- dem Gespräch mit Herrn Figel zur Kenntnis genommen, hen. dass die Europäische Kommission plant, einen Katalog zu erstellen, in dem die unterschiedlichen Qualifikatio- Der uns vorliegende Antrag, liebe Kollegen von den nen aufgelistet und bewertet werden. Grünen, enthält viele Aussagen und Forderungen, die wir bereits im Antrag „Für ein integriertes EU-Bildungs- Eine Verbesserung des Istzustandes kann jedoch nur rahmenprogramm“ in der letzten Legislaturperiode ge- in einer gemeinsamen Anstrengung mit den Ländern, meinsam beschlossen haben. Kommunen und Bildungseinrichtungen erreicht wer- den. Nicht zuletzt als Konsequenz aus Pisa muss die bil- Der damalige Beschluss erfolgte jedoch unter dem dungspolitische Zusammenarbeit im Vorschulbereich Vorzeichen, dass wir für die EU-Bildungsrahmenpro- europaweit gestärkt und vor allem auch ausgebaut wer- gramme mit einem Mittelaufwuchs gerechnet haben. den. Nun müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die finan- Wenn ein Schwerpunkt der neuen EU-Bildungspro- zielle Absicherung der europäischen Bildungspolitik gramme auf das frühe Fremdsprachenlernen gelegt wird, schwieriger geworden ist. Diese Entwicklung sollten wir sind insbesondere die Bundesländer gefordert, Schulen in der weiten Debatte noch stärker berücksichtigen. Vor so auszustatten, dass eine europäische Ausrichtung ge- diesem Hintergrund schlage ich vor, den vorliegenden 2014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Antrag an den zuständigen Fachausschuss zu überwei- integrieren wir Schüler verschiedenster Nationen und (C) sen. Religionen in eine Klasse? Wann fangen wir mit der ers- ten Fremdsprache an? Wie ist das Verhältnis zwischen Patrick Meinhardt (FDP): Als die Europapartei und Muttersprache und der ersten Fremdsprache? Wie funk- als die Bildungspartei steht die FDP fest zum europäi- tioniert das Zusammenleben und Zusammenlernen von schen Einigungsprozess, gerade auch im Bildungsbe- Lehrern und Schülern aus 25 Nationen in einer Schule? reich. Die Bilanz der Bildungsprogramme SOKRATES, Wie gestaltet man Ganztagsschulen sinnvoll? Tom ERASMUS, LEONARDO und COMENIUS ist beacht- Høyem, ein Lehrer und Europäer im besten Sinne des lich. Es gibt für uns keine ernsthafte Alternative zur Wis- Wortes, bringt es auf den Punkt: „Die europäischen sensgesellschaft. Es gibt für uns aber eine Alternative Werte und Ideen sind vom Kindergarten bis zum Abitur zum Antrag der Grünen, den wir hier heute debattieren. und vom Lehrplan bis zum Pausenhof integriert.“ Die FDP sagt Nein zum Eurozentralismus der Grü- Die Bildungspolitik ist aber auch nur so gut, wie die nen. Jedes Land muss die Freiheit behalten, sich für sei- Lehreraus- und -fortbildung optimal ist. Die Europa- nen eigenen Weg zu entscheiden. Das bedeutet, dass wir schule lebt den europäischen Bildungsraum im Kleinen, in Europa der Bildung eine zentrale Beachtung geben sie erprobte ihn, sie entwickelt ihn weiter. Frühzeitige müssen, aber keine zentralistische. Denn Europa hat in Praktika in Schulen von Mitgliedstaaten und Lehreraus- Deutschlands Schullandschaft viel bewegt. Der europäi- tausch sind in der EU bereits Realität. Diese Ideen sind sche Gedanke, Mobilität und Förderung des Sprachen- von den Liberalen miterkämpft worden. Die FDP denkt lernens gehören zu den Kernaufgaben europäischer Bil- aber auch hier weiter. Es ist gut, ab und zu innezuhalten dungspolitik. Europäisch zu denken und europäisch zu und sich auf die Wurzeln zu besinnen. Deswegen stehen fühlen, das muss das Ziel einer europäischen Bildungs- wir für das Wandergesellentum – aber eben europäisch. politik sein. Europazentralismus ist der falsche Weg. Es muss in Zukunft möglich sein, eine Ausbildung in Polen zu beginnen, in Deutschland fortzuführen und in Deswegen müssen wir mit Argusaugen aufpassen. Frankreich zu einem qualifizierenden Berufsabschluss Das Markenzeichen in Deutschland ist die Qualität unse- zu bringen. rer dualen Berufsausbildung. Diese muss auch in Europa im Rahmen des europäischen Qualifikationsrahmens ih- Der Antrag der Grünen ist von viel Fleiß gekenn- ren Stellenwert erhalten. In einer Klassifizierung von zeichnet. Aber wenn der Geist nicht stimmt, stimmt auch 1 bis 5 darf sie nicht nur auf knapp 2 kommen. Die Bun- die Richtung nicht. Jeder Staat Europas hat über seinen desregierung muss in Europa dafür kämpfen, dass es Bildungsweg selbst zu entscheiden. Nur so entstehen 3 wird und der Technikerausbildung in anderen Ländern neue Ideen in der Bildungspolitik, nur so entsteht ein (B) gleichgestellt wird. Wettbewerb um die besten Bildungskonzepte, nur so (D) bringen wir uns mit Europa an die Spitze. Die Gesellschaft des lebenslangen Lernens ist unsere Herausforderung in Deutschland – wie in Europa. Uns Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Im Antrag der Frak- Europäern wird vor allem im Berufsleben ein großes tion des Bündnisses 90/Grüne wird gleich im ersten Ab- Maß an Mobilität abverlangt. Gleichzeitig brauchen die schnitt eine aus unserer Sicht sehr richtige Feststellung Menschen eine höhere Qualifizierung in einer sich getroffen. Ich zitiere: „In einigen Mitgliedstaaten ist die schnell verändernden Welt. Um diesen Gegebenheiten Zustimmung zur Europäischen Union in den letzten Jah- gerecht zu werden, müssen neue Lernkonzepte entwi- ren merklich zurückgegangen“. Darauf aufbauend for- ckelt werden. Das mediengestützte Lehren und Lernen dert der Antrag, mittels EU-Bildungsprogrammen die – das E-Learning – ist einer dieser Wege. Die Zukunft Akzeptanz wieder zu steigern. Diesen Ansatz halten wir einer offenen Wissens- und Informationsgesellschaft ist für falsch. der virtuelle Bildungsraum Europa. Die Akzeptanz für die EU sinkt doch nicht deshalb, Vorreiter und Vorbild der europäischen Bildungsidee weil die EU als „wenig greifbar, bürokratisch und bür- sind die europäischen Schulen, von denen es in Deutsch- gerfern“ wahrgenommen wird, wie im Antrag vermutet. land leider nur drei gibt Die älteste Europaschule Die Akzeptanz sinkt, weil sich die aktuelle Politik der Deutschlands, die ich an dieser Stelle als vorbildliches EU gegen die Mehrheit der Menschen richtet. Immer Beispiel nennen möchte, ist die europäische Schule in mehr Menschen weigern sich, diese Politik mitzutragen. Karlsruhe, die seit mehr als 40 Jahren existiert. Der Di- Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass der Widerstand ge- rektor, Tom Høyem, verkörpert als Däne und ehemaliger gen neoliberale Projekte wie beispielsweise aktuell die Grönlandminister seines Landes wie kein anderer die Bolkestein-Richtlinie wächst. europäische Idee. Wenn die Akzeptanz für ein gemeinsames europäi- Wenn Tom Høyem formuliert: „Die europäischen sches Projekt gesteigert werden soll, braucht es einen Schulen sind keine Modellschulen, aber wir können sie grundlegenden Politikwechsel – auch und gerade in der als größtes pädagogisches Labor Europas bezeichnen“, europäischen Bildungspolitik. Dazu sagt der Antrag sollte das für uns Richtschnur sein. Wir können von den kaum etwas aus, aber gerade darüber müssten wir disku- Erfahrungen der Kindergärten, Grundschulen und höhe- tieren. Ich nenne einige Beispiele. ren Schulen profitieren. Die Themen, die die Politiker heute diskutieren, sind hier in der Regel bereits seit Jah- In den EU-Bildungsprogrammen taucht eine soziale ren erprobt. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wie Dimension nur als Nebensache auf. Wir müssen uns aber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2015

(A) bei allen hier diskutierten Programmen die Frage stellen, men soll. Wir sehen Bildung dagegen als öffentliche (C) wer eigentlich maßgeblich von ihnen profitiert: Aus der Aufgabe, die öffentlich finanziert und demokratisch ge- Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks wissen steuert werden muss. wir beispielsweise, dass Studierende aus finanziell schlechter gestellten Familien kaum Möglichkeiten ha- Wir möchten also festhalten: Natürlich ist es grund- ben, sich an Austauschprogrammen zu beteiligen. Das sätzlich richtig und sinnvoll, eine bessere finanzielle SOKRATES-Programm ist – wie die anderen Bildungs- Ausstattung von EU-Bildungsprogrammen zu fordern. programme auch – nur ein Aufstockungsprogramm. Wer Auch zahlreiche weitere Anregungen und Vorschläge, keine eigenen Mittel zuschießen kann, muss auf die För- die im Antrag geäußert werden, halten wir grundsätzlich derung – und damit auf einen Auslandsaufenthalt wäh- für richtig. Wenn die EU-Bildungspolitik aber nicht dazu rend des Studiums – verzichten. genutzt wird, soziale und geschlechtsspezifische Unter- schiede abzubauen, dann werden sie keine Akzeptanz Weiter müssen wir fragen, auf welche inhaltlichen für Europa schaffen. Sie werden stattdessen Widerstand Ziele die EU-Bildungspolitik ausgerichtet ist, in welche gegen eine Politik mobilisieren, die auch zulasten der die Bildungsrahmenprogramme eingebunden sind. Eines großen Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, Lehre- der aktuellen Unworte ist hier die geforderte Orientie- rinnen und Lehrer, Studierenden und Auszubildenden rung an der Employability, also an der „Beschäftigbar- geht. Wir wollen ein soziales und demokratisches keit“ der Absolventinnen und Absolventen der jeweili- Europa. Deshalb werden wir diesen Widerstand unter- gen Bildungsgänge. An die Bildungssysteme wird damit stützen und in diesem Rahmen auch für EU-Bildungs- der Anspruch gestellt, die Menschen dem sich wandeln- programme streiten, die nicht nur die Mobilität der euro- den Arbeitsmarkt anzupassen, statt sie in die Lage zu päischen Eliten unterstützen, sondern die soziale versetzen, den europäischen Arbeitsmarkt und das euro- Dimension europäischer Bildung in den Mittelpunkt päische Projekt insgesamt aktiv mitzugestalten. Ganz in diesem Sinne hat die EU-Kommission kürzlich eine stellen. Damit könnten diese Programme dann auch tat- neue Empfehlung zur Schlüsselqualifikation „Unterneh- sächlich zu einem breit getragenen europäischen Projekt merisches Denken“ vorgelegt. Derartige Vorstöße führen beitragen. nicht zu einem solidarischen und demokratischen Europa. Solch eine Bildungspolitik verschärft Ausgren- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zung und wird sicherlich nicht dazu beitragen, die Ak- NEN): Der europäische Einigungsprozess ist eine Er- zeptanz der Menschen für das europäische Projekt zu folgsgeschichte. Er hat nicht nur Frieden und Wohlstand steigern. geschaffen, sondern den EU-Bürgerinnen und -Bürgern Dann müssen wir nach den Erfahrungen fragen, die neue Chancen der persönlichen und beruflichen Ent- (B) (D) bei der Umsetzung der EU-Bildungspolitik auf nationa- wicklung eröffnet. Trotzdem mussten wir im letzten Jahr ler Ebene gemacht werden: Die europäischen Vereinba- feststellen, dass in einigen Mitgliedstaaten die Zustim- rungen führen hier vielfach nicht zu einem Ausbau der mung zur Europäischen Union merklich zurückge- Bildungssysteme, sondern zu Einschränkungen von Bil- gangen ist. Für die zukünftige Entwicklung der EU ist es dungschancen. Bestes Beispiel: die Zulassungsbeschrän- daher wichtig, dass sie in der Wahrnehmung der Bürge- kung der im Rahmen des Bolognaprozesses neu geschaf- rinnen und Bürger nicht fern und fremd in Brüssel statt- fenen Masterstudiengänge. findet, sondern dass die Freiheiten und Vorteile der Union für immer mehr Menschen zu einer positiven Er- Der Antrag fordert eine Intensivierung des Hoch- fahrung im Alltag werden. Deswegen setzten sich Bünd- schulmarketings. Hochschulmarketing verfolgt aber nis 90/Die Grünen dafür ein, dass möglichst viele Men- weniger den Ansatz internationaler Verständigung, als schen darin unterstützt werden, einen Teil ihrer vielmehr der Vermarktung des deutschen Hochschul- Schulzeit, ihrer Ausbildung, ihres Studiums oder ihres standortes. Zu nicht unerheblichen Teilen werden hier Berufslebens in einem anderen Mitgliedstaat zu verbrin- Programme mit Gebühren beworben, mithin also auch gen. Eine solche positive Erfahrung prägt und trägt mit nur bestimmte potenzielle ausländische Studierende an- dazu bei, das Fremde und das Eigene besser kennen zu gesprochen. Auch das ist für uns keine Grundlage für lernen und sich selbst weiterzuentwickeln. eine progressive Bildungspolitik. Schließlich betont der Antrag, dass, um den europäi- Um den Austausch von Lernenden zu fordern, ist es schen Bildungsraum zu schaffen, Unvereinbarkeiten und einerseits unerlässlich, dass die verschiedenen Qualifi- Kohärenzprobleme der Bildungssysteme „baldmöglichst kationsschritte in den Mitgliedstaaten gegenseitig aner- beseitigt werden“ müssen. Wir sind dagegen der An- kannt werden. Genauso wichtig ist es aber auch, alle sicht, dass kulturelle Vielfalt eine der Stärken Europas Bürgerinnen und Bürger dabei zu unterstützen, mobil zu ist und bleiben soll. sein. Letztes Beispiel: Mit der umstrittenen Bolkestein- Für die Anerkennung der Qualifikationsschritte ist Richtlinie wird auch Bildung zur Dienstleistung erklärt. schon viel getan worden: Die Hochschulen richten sich Die EU-Kommission zielt auf eine weitere Bildungspri- auf gemeinsame Kreditpunkte ein, die ECTS; die beruf- vatisierung. Morgen werden wir den Leitantrag für die liche Bildung soll bald Ähnliches bekommen, die Frühjahrstagung der EU im Plenum diskutieren. Hier ECVET. Dadurch sollen Ausbildungen vergleichbar wird unverhohlen gefordert, dass der größte Teil der hö- werden, weil sie in einem Europäischen Qualifikations- heren Bildungsausgaben aus dem privaten Sektor kom- rahmen, dem EQR, eingeordnet werden können. Auch 2016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) mit der wichtigen Frage, wie Mobilität innerhalb Euro- einsetzen. Mindestens jede und jeder Zwanzigste sollte (C) pas verbessert werden kann, befasst sich meine Fraktion. an Maßnahmen im Rahmen der EU-Bildungsprogramme teilnehmen. Die finanzielle Unterstützung für diejenigen, die sich zu Bildungszwecken durch Europa bewegen, steht heute Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, sich im Mittelpunkt. Seit den 90er-Jahren hat die Europäi- für die europaweite Möglichkeit zur Mitnahme der im sche Union die Bildungsprogramme vorangebracht. Am eigenen Land gewährten Darlehen und Beihilfen bei Stu- bekanntesten und erfolgreichsten ist wohl das Teilpro- dien- und Ausbildungsaufenthalten im Ausland stark zu gramm SOKRATES-ERASMUS für die Hochschulbil- machen, etwa nach dem Vorbild des BAföG in Deutsch- dung, das es schon circa 1,4 Millionen Studentinnen und land. Ebenfalls unterstützt werden sollte die Etablierung Studenten ermöglicht hat, an einer Universität in einem eines Verbundes von EU-Bildungsforschungsinstituten, anderen Mitgliedstaat zu studieren. Aber auch vom Pro- welche die verschiedenen Evaluierungsstudien der Mo- gramm LEONARDO DA VINCI für die berufliche Bil- bilitäts- und Integrationsmaßnahmen im Rahmen der dung haben viele Auszubildende profitiert, zudem wur- EU-Bildungsprogramme bündeln und bewerten. den daraus innovative Projekte für die Modernisierung Und nicht zuletzt ist eine weitere Verbesserung der der Berufsbildung unterstützt. Dadurch werden nicht nur Kooperation von Bund, Ländern und anderen Akteuren Einzelne gefördert, sondern auch Bildungsreformen un- des Bildungswesens bei der Umsetzung der auf europäi- terstützt. Der Europäischen Union und den Mitgliedstaa- scher Ebene vereinbarten Programme im Bildungswesen ten entstehen aus diesen Programmen Kosten von derzeit sicherzustellen. circa 650 Millionen Euro jährlich. Diese lohnen sich aber, denn die Wirtschaftskraft der EU baut genauso wie Die vorgesehene Reform des Föderalismus muss da- ihre demokratische Gestalt auf einem leistungsfähigen hin gehend korrigiert werden, dass sie solche Zusam- und innovativen europäischen Bildungsraum auf. menarbeit erleichtert und nicht erschwert oder gar un- möglich macht. Für die nächsten sieben Jahre ist ein neues Rahmen- programm für lebenslanges Lernen geplant, das die vor- handenen Programme in den verschiedenen Bildungsbe- Anlage 5 reichen bündelt. Zu Protokoll gegebene Reden Die Verhandlungen über den neuen EU-Finanzrah- men für die Jahre 2007 bis 2013 werden nun zeigen, wie zur Beratung des Antrags: Den Südsudan beim ernst die Mitgliedstaaten die Bildungsprogramme und Wiederaufbau unterstützen und vor Aids be- damit die Förderung des Austausches und der Mobilität wahren (Zusatztagesordnungspunkt 6) (B) innerhalb der EU nehmen. Der neue Finanzvorschlag (D) seit dem Gipfel im Dezember liegt deutlich unter dem, Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Der Nord-Süd-Bürger- was die Kommission im Frühjahr 2005 vorgeschlagen krieg im Sudan war einer der längsten und blutigsten hatte. Für das Programm „Lebenslanges Lernen“ bedeu- Kriege weltweit. Genau genommen dauerte er fast ein tet der Vorschlag der Staats- und Regierungschefs nach halbes Jahrhundert. Die Auseinandersetzung fing bereits Aussagen des EU-Bildungskommissars Jan Figel eine 1956 an und wurde nur von 1973 bis 1983 unterbrochen. Stagnation, für einzelne Teilbereiche sogar einen großen 1983 startete der muslimisch-arabisch geprägte Norden Rückschritt. So hat beispielsweise ERASMUS jährlich eine Islamisierungskampagne im Süden mit dem Ziel, Nachfragesteigerungen von 10 Prozent zu verzeichnen, auch dort die Scharia, das islamische Recht, einzuführen. das gewährte Darlehen stagniert aber seit Anfang der Die Südsudanesische Rebellenorganisation SPLA – Su- 90er-Jahre bei circa 125 bis 150 Euro. Hinzu kommt der dan Peopls Liberation Army – nahm damals den bewaff- Nachholbedarf in den neuen Mitgliedstaaten. Das Pro- neten Kampf auf. In diesem Krieg sind ethnische, reli- gramm müsste also dringend besser ausgestattet werden. giöse, wirtschaftliche und geostrategische Faktoren Das ist eine Aufgabe für die Staats- und Regierungs- miteinander verwoben. Die Bilanz des Krieges ist chefs, denn schließlich wollen sie ja die Lissabonstrate- schrecklich: mehr als 2 Millionen Tote und 4 Millionen gie für einen leistungsfähigen, innovativen europäischen Vertriebene. Bildungsraum zum Erfolg führen. Wir unterstützen in diesem Zusammenhang auch die Forderung des Euro- Erst im Januar 2005 wurde der Bürgerkrieg zwischen päischen Parlaments, die Mittel für Bildung und For- Nordsudan und Südsudan durch ein Friedensabkommen schung deutlich zu erhöhen. formell beendet. Folgende Punkte des Friedensabkom- mens möchte ich hervorheben: Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung und Erstens. Die Regierung und die SPLA einigen sich die Länder auf, sich für den Ausbau der bildungspoliti- auf eine 6-jährige Übergangsphase, in der die Scharia schen Zusammenarbeit in der EU im Bereich der vor- außer Kraft gesetzt wird. Zweitens. 2011 soll ein Refe- schulischen Bildung einzusetzen, der sich insbesondere rendum über die Unabhängigkeit des Südsudans stattfin- im Programm COMENIUS niederschlagen muss. Ziel den. Drittens. Die Einnahmen aus dem Ölvorkommen muss es sein, dass auch Kindertagesstätten und Erziehe- sollen zu gleichen Teilen zwischen dem Norden und Sü- rinnen und Erzieher eingebunden werden. Weiter müs- den aufgeteilt werden. sen sich Bund und Länder für eine stärkere Förderung der Mobilität von Lehrerinnen und Lehrern an allge- Es muss hier ausdrücklich betont werden, dass das meinbildenden Schulen im Rahmen von COMENIUS Abkommen die Krisenregion Dafur nicht mit ein- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2017

(A) schließt. In Dafur terrorisieren seit drei Jahren arabisch- über 40 Nationen Soldaten, Polizisten und Helfer für die (C) stämmige Reitermilizen die schwarzafrikanische Bevöl- UN in den Südsudan. kerung. Auch hier müssen wir eine schreckliche Bilanz Ich denke, dass wir auch darauf achten sollten, dass beklagen: bis zu 200 000 Tote und 2 Millionen Vertrie- alle Staaten, die im Sudan und in Afrika entwicklungs- bene. politisch tätig sind, sich für allgemein gültige Prinzipien Die Afrikanische Union, AU, hat in Dafur eine wie zum Beispiel gute Regierungsführung und Umwelt- 7 000 starke Schutztruppe. Sie konnte jedoch das Mor- schutz einsetzen. den, Vergewaltigung und Vertreibung nicht verhindern. Der FDP-Antrag thematisiert auch die HIV/Aids-Prä- Deshalb wurden Stimmen laut, die Mission zur Überwa- vention im Südsudan. Ich begrüße das außerordentlich, chung des Waffenstillstandsabkommens an die UN zu denn man kann das Thema HIV/Aids nicht oft genug ins übergeben. Nach langem Hin und Her hat jetzt die AU Bewusstsein der Menschen rücken. Ich denke aber, dass ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, der Übergabe ih- der Südsudan hier nicht isoliert betrachtet werden kann. rer Mission in Dafur an die Vereinten Nationen zuzu- stimmen. Im Jahr 2005 kam es weltweit zu fast 5 Millionen Neuinfektionen, 3,2 Millionen davon allein im südlichen Die Internationale Gemeinschaft tut also eine Menge, Afrika. Im gleichen Jahr starben 3 Millionen Menschen um den Friedensprozess zwischen Nord- und Südsudan an Aids, darunter mehr als eine halbe Million Kinder. zu fördern und zu stabilisieren: Die UN-Friedensmission Die Gesamtzahl der HIV-Positiven beträgt derzeit mehr im Sudan, UNMIS, überwacht und unterstützt die Um- als 40 Millionen. Das heiß: innerhalb von 10 Jahren hat setzung des geschlossenen Friedensvertrages. Insofern sich die Zahl verdoppelt. ist Ihre Forderung, lieber Kollege Addicks, nach einer Der Krieg im Südsudan hat Arbeitermigration, Han- internationalen Vermittlungsstelle, die die Einhaltung del und Reisen verhindert. Man vermutet, dass durch des Friedensvertrags überwacht, zumindest teilweise er- diese erzwungene Isolation sich HIV nicht so stark aus- füllt. gebreitet hat. Man befürchtet durch die Rückkehr der Die UNMIS hat das Mandat, notfalls auch militäri- Flüchtlinge und Soldaten eine stärkere Verbreitung des sche Gewalt anzuwenden, um UN-Einsatzkräfte und ein- Virus. Laut UN-Aidsbericht 2005 sind die HIV-Präva- heimische Zivilisten im Südsudan zu schützen. Die lenzraten im Sudan – im Vergleich zu Nordafrika – hoch. UNMIS umfasst bis zu 10 000 Soldaten sowie ziviles Zudem sind im Südsudan die höchsten Infektionsraten Personal, darunter 700 Polizisten. Deutschland ist mit zu finden. Besonders dramatisch ist die Unkenntnis der bis zu 75 Soldaten an der UNMIS beteiligt. Dabei han- Bevölkerung über HIV/Aids. Aktuelle Studien im Sudan delt es sich in erster Linie um Militärbeobachter. ergaben: Nur drei Viertel der Schwangeren haben jemals (B) von Aids gehört. Nur 5 Prozent wussten, dass der Ge- (D) Vor knapp einer Woche fand ein hochrangiges Treffen brauch eines Kondoms die HIV-Infektion verhindern des „Sudankonsortiums“ unter der Leitung der Weltbank kann. Mehr als zwei Drittel der Frauen hatten noch nie und der Vereinten Nationen in Paris statt. Ziel des Tref- von einem Kondom gehört oder je eines gesehen. Mehr fens war es, die internationalen Beiträge zum Wiederauf- als die Hälfte – 55 Prozent – der Prostituierten gaben an, bau des Sudans zu koordinieren. In Oslo haben sich im dass sie nie von einem Kondom gehört oder eines gese- April 2004 die Geberländer verpflichtet, 4,5 Milliarden hen hätten. Dollar zur Verfügung zu stellen. Das sind beachtliche Weniger als 20 Prozent der Prostituierten wussten, Mittel. dass Kondome eine HIV-Übertragung verhindern kön- Die Weltbank verwaltet die Multi Donor Trust Funds, nen. je einen für den Norden und den Süden. Die Bundesregie- Wir wissen, dass in Entwicklungsländern Aids eine rung hat – bereits 2005 – hierfür insgesamt 88 Millionen Krankheit der Armen ist. Und der Südsudan gehört zu Euro FZ, plus 6 Millionen Euro, zugesagt. 68 Millionen den ärmsten Regionen Afrikas. Es mangelt an Wasser, es Euro werden aufgrund ungeklärter Handelsschulden mangelt an Nahrung, es mangelt an Straßen, es mangelt noch nicht ausgezahlt. Ich denke, die Frage ist erlaubt: an Schulen. Die HIV/Aids-Bekämpfung kann nur mit Warum sollten einem ölreichen Land einfach seine Han- dem gleichzeitigen Aufbau eines funktionierenden Ge- delsschulden erlassen werden? Von den restlichen meinwesens gelingen. Da es sich beim Aufbau im 20 Millionen Euro wurde der Anteil von 10 Millionen in Südsudan um eine Herkulesaufgabe handelt, die viele den Fonds für den Südsudan am letzten Freitag, den Bereiche umfasst, ist es umso wichtiger, auf eine gute 10. März 2006, überwiesen. Koordination und Harmonisierung der Anstrengungen von Gebern und Kooperationspartnern zu achten. Der Süden hat das Geld erhalten, weil er die Bedin- gungen erfüllt hat. Dazu gehört eine Regierungsbildung Die Arbeit von NGOs kann in diesem Zusammen- nach Vorgaben des Friedensabkommens. Aufgrund hang nicht hoch genug geschätzt werden. Obwohl es schwerster Menschenrechtsverletzungen und aufgrund viele gibt, die segensreich tätig sind, möchte ich an die- der blutigen Überfalle in Darfur sind die Mittel für den ser Stelle nur als Beispiele nennen: Die Diakonie Kata- Norden eingefroren. Hier setzt die Bundesregierung strophenhilfe und Caritas International sind seit Jahren konsequent die Forderung aus dem Koalitionsvertrag im Sudan aktiv. Die Diakonie Katastrophenhilfe zum nach guter Regierungsführung um. Wie bereits erwähnt, Beispiel unterhält seit Jahren im Südsudan ein Basisge- ist die internationale Gemeinschaft im Hinblick auf den sundheitsprogramm. Pro Jahr werden in den Gesund- Südsudan sehr engagiert. So entsenden zum Beispiel heitstationen bis zu 60 000 Patienten versorgt. Eine 2018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Übergabe der Einrichtung an die südsudanesische Ge- dass auf der Geberkonferenz in Oslo mehr als 2 Milliar- (C) sundheitsbehörde soll Schritt für Schritt erfolgen. In Zu- den Euro für humanitäre Hilfe zugesagt wurden. Auch sammenarbeit mit dem International Rescue Committee wir beteiligen uns an dieser Hilfe. Ich unterstütze aber bietet die Diakonie Katastrophenhilfe Beratung und ausdrücklich die Aussagen von Frau Staatsministerin HIV-Testmöglichkeiten. – An dieser Stelle möchte ich Müller und von Frau Wieczorek-Zeul, dass wir diese die enorme Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit Nicht- Mittel nicht der Regierung in Khartoum, sondern regierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen im Hilfsorganisationen zukommen lassen.“ Bereich der Entwicklungspolitik ausdrücklich betonen. Damit Sie sich einen kurzen Überblick über die heu- Erfahrungen lehren uns, dass Prävention und Behand- tige Situation verschaffen können, werde ich Ihnen ein lung zwei Seiten derselben Medaille sind. Die CDU/ paar Fakten geben. Seit 1983 sollen mehr als 2 Millionen CSU-Fraktion hat bereits in ihrem Antrag in der letzten Menschen im Krieg oder an dessen direkten Folgen ge- Wahlperiode unterstrichen, dass wir jede Initiative unter- storben sein. Die Verbreitung der HIV-Epidemie wurde stützen, die Prävention und Behandlung gleichzeitig för- aufgehalten, dadurch dass der Krieg die Bevölkerungs- dert. wanderungen, Handel und Reise stark begrenzt hat. Die Konkret bei der HIV/Aids-Prävention im Südsudan, im Vergleich zu Nachbarländern noch einigermaßen ge- denke ich, sollten folgende Punkte beachtet werden: Ver- ringe HIV-Rate von 2,3 Prozent – so UNAIDS, das Ge- schiedene Zielgruppen müssen Zugang zu zielgruppen- meinsame Programm der Vereinten Nationen zu HIV/ spezifischen Aufklärungsangeboten und Beratungsmaß- Aids – könnte aber mit der Rückkehr der Flüchtlinge, in- nahmen haben; denn die einzelnen Zielgruppen ternen Vertriebenen und der Demobilisierung der Armee – Frauen, Kinder, Männer, ehemalige Soldaten, Händler, nach allen Schätzungen bald explodieren. Mit der Wie- Flüchtlinge – haben jeweils unterschiedlichen Aufklä- deröffnung des Landes könnte sich die Infektion bald rungsbedarf. Hierbei spielt auch die hohe Analphabeten- unkontrolliert verbreiten. Die massiven Bevölkerungs- rate eine Rolle: Bei Männern liegt sie bei 30 Prozent, bei wanderungen werden nämlich sehr wahrscheinlich unge- Frauen sogar bei über 50 Prozent. – Umfassende Aufklä- schützte sexuelle Praktiken ankurbeln. Dazu kämen auch rungs-, Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten soll- weitere Ausbreitungsfaktoren wie Armut, ein rudimentä- ten in alle Gesundheitsdienste, die aufgebaut werden, res Gesundheitssystem und eine geringe Zahl an Ein- von Anfang an integriert werden. – Die Aufklärungsar- schulungen. Nach 20 Jahren Konflikt in Südsudan und in beit muss in den Schulunterricht integriert werden. Na- Darfur könnte die HIV-Epidemie mehr Opfer als der türlich muss eine vorhergehende Schulung der Lehr- Krieg selber fordern. Besonders gefährdete Gruppen kräfte erfolgen. Enorm wichtig ist meines Erachtens sind, neben den Vertriebenen, Frauen und Mädchen, auch die Einbeziehung der Eltern. – Ein kostenfreier Sexarbeiter, Straßenkinder, Lkw-Fahrer, Gefangene und (B) (D) bzw. kostengünstiger Zugang zu Kondomen und Femi- Polizei- und Armeepersonal. HIV-Prävention und Auf- domen, dem Kondom für die Frauen, sollte sichergestellt klärungsmaßnahmen, gekoppelt mit zugänglicheren werden. – Besonderes Augenmerk verdienen die Aids- HIV-Behandlungen, sollten dringend verbessert werden, Waisen. Es müssen Wege gefunden werden, wie das Lei- vor allem in einem Kontext der häufigen Stigmatisierung den dieser Kinder gemindert wird und wie diese Kinder und Diskriminierung der HIV-infizierten Menschen. ein Zuhause finden können. Durch die Erdölressourcen ist der Sudan ein reiches Pastor Friedrich von Bodelschwingh sagte vor Land und es hat dadurch zahlreiche Unternehmen zu 100 Jahren: Neue große Nöte bedürfen neuer, mutiger sich gezogen, darunter auch deutsche Unternehmen. Es Gedanken. Heute fordert Aids neue, mutige Gedanken ist jetzt auch unsere Verantwortung, etwas zu unterneh- sowie schnelle und schlagkräftige Antworten, auch im men. Es gibt zurzeit, so UNAIDS, mehr als 30 nationale Südsudan. und internationale Nichtregierungsorganisationen, die schon eine erhebliche Arbeit im Bereich HIV und Aids Im FDP-Antrag sind viele richtige Punkte genannt. leisten, so zum Beispiel German Emergency Doctors. Ich denke, dass das Problem HIV/Aids-Prävention im Südsudan in einem größeren Zusammenhang gesehen Unsere Verantwortung müssen wir beweisen, indem werden muss. Darüber hinaus würde ich zwei derart wir dazu beitragen, die Bemühungen der sudanesischen wichtige Punkte wie den Wiederaufbau im Südsudan ei- Regierung, der Zivilgesellschaft und der NGOs vor Ort nerseits und die HIV/Aids-Problematik im Südsudan an- zu unterstützen. Die FDP hat in ihrem Antrag diese Fra- dererseits wahrscheinlich nicht in einem einzigen Antrag gen zum Teil behandelt. Ich hoffe, dass wir im Aus- zusammen thematisieren. schuss dieses noch ergänzen können, freue mich, dass die Bundesregierung hier Rückenwind von der Opposi- tion erhält und wünsche mir, dass diese Arbeit in einen Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Seitdem wir vor ei- gemeinsamen Antrag aller Fraktionen einfließen kann. nem Jahr über die humanitäre Situation in Südsudan de- battiert hatten, hat sich nichts geändert. Damals hat un- sere Kollegin Brigitte Wimmer gesagt: „Dort gibt es fast Karl Addicks (FDP): Als am 9. Januar letzten Jahres nichts. Der Süden ist noch nie entwickelt worden. Das die Regierungspartei National Congress Party und die Wenige, das vorhanden war, ist zerstört, die Siedlungen südsudanesische Befreiungsorganisation Sudan People‘s ebenso wie Brunnen und Brücken. Es gibt kaum saube- Liberation Movement endlich ein Friedensabkommen res Trinkwasser, keine Schulen und keine Kliniken. Ar- unterzeichnet haben, hatte ich noch große Erwartungen. beitsgeräte für die Landwirtschaft fehlen. (…) Es ist gut, Das 242 Seiten umfassende Werk, das den über 20 Jahre Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2019

(A) andauernden Bürgerkrieg beendet, regelt minutiös alle Projekte zur Prävention der Region vor Aids mit Nach- (C) Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten. Die Macht in druck hinwirkt. Khartoum sollen sich die beiden Parteien genauso teilen, wie die nicht unerheblichen Öleinnahmen des Landes. Außerdem – dies sage ich auch mit einem sorgenvol- Außerdem ist dem Süden zugesichert worden, nach einer len Blick auf die Region Darfur – muss sich die Bundes- Übergangszeit von sechs Jahren per Referendum für regierung dafür einsetzen, dass eine Vermittlungsstelle oder gegen den Verbleib in der Republik Sudan abstim- im Sudan eingesetzt wird, die auf die Einhaltung des men zu dürfen. Klingt doch viel versprechend. Friedensvertrages achtet und hilft, strittige Fragen zu klären. Nur so kann der Südsudan den Weg einer „gesun- Doch leider sieht nun ein Jahr nach der Unterzeich- den Entwicklung“ einschlagen. nung die Realität ganz anders aus. Die Schreckensmel- dungen aus dem Sudan wollen einfach nicht enden. Da Heike Hänsel (DIE LINKE): Der vorliegende FDP- gibt es die immer wiederkehrenden Nachrichten über die Antrag ist zwar gut gemeint, aber nicht ausreichend, furchtbare Krise in der Region Darfur, die uns in naher denn der Antrag blendet wichtige Zusammenhänge aus. Zukunft noch stark beschäftigen wird. Aber dafür ist Die Bekämpfung von Aids im Südsudan muss in einen diese Debatte hier und jetzt nicht vorgesehen, denn wir größeren Kontext gestellt werden. in der FDP-Fraktion machen uns auch sehr große Sorgen über den Südsudan. Erstens. Die ganze Region ist nach wie vor in hohem Maße militarisiert. Und nichts und niemand trägt stärker Dieser sieht sich nämlich auch nach der Unterzeich- zur Ausbreitung der Aids-Pandemie bei, als umherwan- nung des Friedensvertrages mit vielen Problemen kon- dernde Milizen und demobilisierte, nicht integrierte frontiert. Die Region muss komplett wieder aufgebaut Exsoldaten. Auch ein Jahr nach dem Friedensschluss er- werden. Sie können sich vorstellen, was ein Bürgerkrieg reichen uns Nachrichten von bewaffneten Auseinander- von 21 Jahren von einer Region übrig lässt. Nun gilt es, setzungen zwischen konkurrierenden Banden und von dies alles wieder aufzubauen. Es fehlt an Wasser, Nah- dem Einsickern von Waffen und Bewaffneten aus dem rung und Medizin. Es fehlen wichtige Elemente der In- Südsudan in benachbarte Krisenregionen. Dadurch kann frastruktur, die die Grundversorgung und Gesundheits- der jahrzehntelange Konflikt jederzeit wieder im Südsu- versorgung der dort lebenden Bevölkerung sichert. Hier dan aufflammen. Hier sind zivile Strategien zur Entwaff- ist die südsudanesische Regionalregierung gefordert. nung und zur Integration der demobilisierten Milizen in ein ziviles Leben dringend notwendig. Nur der Aufbau Nicht, dass das bereits schon ausreichende Aufgaben stabiler ziviler Strukturen kann dauerhaften Frieden wären, nein, es kommt noch hinzu, dass aus Karthoum bringen. Möglichkeiten wirtschaftlicher Betätigung und (B) und den benachbarten Ländern und Regionen zahlreiche Selbstversorgung müssen entstehen können. Gegen den (D) Bürgerkriegsflüchtlinge in den Süden zurückströmen. Aufbau lokaler Produktion und Vermarktung stehen al- Schätzungen gehen von mindestens 4 Millionen Südsu- lerdings nicht nur interne Konflikte und Kriege, sondern danesen aus, die während des Krieges nach Norden oder allzu oft auch die Interessen der mächtigen Industriestaa- ins benachbarte Ausland geflohen sind. Diese kehren ten: Dafür steht global die Verhandlungsführung der EU jetzt wieder zurück in ihre Heimat zu ihren Familien und im Rahmen der WTO- und EPA-Verhandlungen. Am Angehörigen. Daran ist ja noch nichts schlecht. Aber konkreten Fall drückt sich das aus im Wettlauf des Wes- aufgrund seiner Isolation während des Krieges ist der tens mit der VR China um afrikanische, auch sudanesi- Südsudan eine der wenigen Regionen in Afrika, in denen sche Märkte und Rohstoffe. Dieser Wettlauf trägt viel sich das HI-Virus noch nicht so stark verbreiten konnte Potenzial für künftige Konflikte in sich. wie in vielen anderen afrikanischen Staaten. Auch das ist ja nicht schlecht. Aber die zurückkehrenden Soldaten, Zweitens. Wir unterstützen Ihren Vorschlag einer in- Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge aus den angrenzen- ternationalen Vermittlungsstelle im Südsudan. Diese den Ländern, der sich entwickelnde Handel, all das wird könnte Schritte in Richtung Demokratisierung und sozi- zu einem starken Anstieg der HIV-Infektionen in den aler Entwicklung kontinuierlich evaluieren und die Ein- nächsten Jahren im Südsudan führen, es sei denn, wir haltung des Friedensabkommens überwachen. Einige helfen dem Südsudan rechtzeitig, entsprechende Präven- Fragen stellen sich allerdings bezüglich der konkreten tivmaßnahmen zu ergreifen. Ausgestaltung: Wir stellen uns natürlich nicht vor, dass dort Vertreter westlicher Regierungen sitzen sollten. Sie alle wissen, dass es heutzutage immer noch keine Vielmehr sollte es ein Schlichtungsgremium sein, das Heilung von Aids gibt. Wir haben im Moment nur die sich aus zivilgesellschaftlichen Gruppierungen aller Möglichkeit, wenn überhaupt ausreichend Medika- Teile des Sudan und aus benachbarten Ländern sowie mente vorhanden sind, die Lebenszeit etwas zu verlän- aus international erfahrenen Mediatorinnen und Media- gern und die Lebensqualität zu verbessern. Gerade des- toren zusammensetzt. Ein solches Gremium darf nicht halb ist es doch nur sinnvoll und wichtig, den noch so das Einfallstor einer interessengeleiteten Politik des wenig „infizierten Südsudan“ vor der unaufhaltsamen Westens sein. Es ist ja bekannt: Auch deutsche Wirt- Ausbreitung der Seuche zu bewahren. Es ist doch besser, schaftsinteressen sind im Südsudan berührt. Der Vorver- präventiv zu agieren als später nur noch kurieren zu kön- trag zwischen einem deutschen Unternehmen und der nen. Deshalb stellt die FDP-Fraktion den Antrag an die damaligen Rebellentruppe und heutigen Regierungspar- Bundesregierung, dass sie sich wie geplant an dem Multi tei SPLA zum Schienenbau im Südsudan ist ein Beispiel Donor Trust Fund für den Südsudan beteiligt und auf dafür. Das sollte die Bundesregierung möglichst nicht 2020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) dazu verleiten, auf die staatliche Neuordnung im Sudan auf einen Neubeginn. Doch trotz Hoffnung müssen wir (C) Einfluss zu nehmen. vorsichtig sein und aus Erfahrungen lernen. Und leider zeigt unsere Erfahrung mit anderen afrikanischen Län- Drittens. Die Bundesregierung wird sich nach eige- dern, dass die Rückkehr von Flüchtlingen aus Ländern nem Bekunden am Multi Donor Trust beteiligen. Ich mit höheren Aids-Infektionsraten, der Wiederbeginn von finde, 10 Millionen Euro für den Trust stehen in einem Handel und durchlässige Grenzen auch Krankheiten mit ungenügenden Verhältnis zu über 80 Millionen Euro, die sich bringen. allein im Einzelplan des Auswärtigen Amtes für 2006 für den finanziellen Beitrag zur Blauhelmmission Der Südsudan ist momentan noch nicht bereit, mit UNMIS eingestellt werden sollen. Wir brauchen eine an- diesen Herausforderungen umzugehen. Nach 20 Jahren dere Prioritätensetzung! Deshalb fordere ich für die lau- Bürgerkrieg und Isolation fehlt es im Südsudan an allem: fenden Haushaltsverhandlungen eine deutliche Erhö- an Infrastruktur, Schulen und Gesundheitsversorgung. hung der Mittel für den zivilen Friedensdienst. Und was Anfang des Jahres starben allein im Südsudan 127 Men- ganz speziell die Bekämpfung von Aids in Ländern des schen an Cholera, einer eigentlich mittelalterlichen Südens betrifft, so begrüßen wir die Einrichtung des in- Krankheit. Und obwohl sie wieder bei null anfangen ternationalen Fonds aus den Aufkommen neuer interna- müssen, kehren die Menschen zurück. tionaler Steuern, wie es uns Frankreich gerade vormacht. Hier hinkt die Bundesregierung weit hinterher. Und die Genau hier ist der Antrag der FDP aber viel zu be- FDP tritt übrigens im Ausschuss für wirtschaftliche Zu- schränkt. Die Brisanz der Gesamtlage im Sudan wird sammenarbeit und Entwicklung als schärfste Gegnerin überhaupt nicht klar. Den Konflikt in Darfur zum Bei- neuer internationaler Mechanismen zur Entwicklungsfi- spiel erwähnen Sie mit keinem Wort. Es ist jedoch nanzierung auf. Diese Haltung sollten Sie, liebe Kolle- falsch, anzunehmen, dass man in einem kleinen Bereich, ginnen und Kollegen, auch vor dem Hintergrund Ihres nämlich der Aids-Bekämpfung, tätig werden kann, ohne berechtigten, in Ihrem Antrag beschriebenen Anliegens die gesamtpolitische Lage zu beachten. gründlich überdenken. Wie wollen Sie aber den Wiederaufbau des Süd- Viertens, und auch das gehört zum Kampf gegen sudans unterstützen und eine Aids-Ausbreitung dort ver- Aids: Solange bereits existierende Möglichkeiten, das hindern, wenn nicht zuerst die Frage von Krieg und Frie- Leid von Aids-Patienten zu lindern, nicht zum Einsatz den im Sudan geklärt ist? Wie soll der Wiederaufbau des gebracht werden können, weil Unternehmensinteressen Südsudans vorangetrieben werden, ohne dass die Regie- davor stehen, kann der Kampf nicht mit voller Kraft ge- rung des Gesamtsudans den umfassenden Friedensver- führt werden. Im Moment kämpfen die „Ärzte ohne trag einhält? Wie stellen Sie sich eine dauerhafte Lösung (B) Grenzen“ dafür, dass ein neues Kombinationspräparat, für den Südsudan vor, wenn der Konflikt in Darfur wei- (D) das ganz speziell für den Einsatz in den Tropen geeignet ter eskaliert und dort das Morden und Vertreiben immer wäre und dort das Leid vieler Betroffener lindern weitergeht? Zu diesen Fragen finden sich keine Hin- könnte, in Afrika auf den Markt gebracht wird. Das ver- weise in ihrem Antrag. treibende Unternehmen hat bislang kein geschäftliches In der Realität sieht es so aus, als wäre der Sudan auf Interesse daran. Und allein das zählt offensichtlich. Sie einem guten Weg. Vor nicht einmal einer Woche berich- wissen, dass gerade im Bereich der medizinischen Ver- teten die Vereinten Nationen, dass in der Entwicklung sorgung und der Pandemiebekämpfung allerorten Markt- des Südsudans „kein nennenswerter Fortschritt“ erzielt versagen festzustellen ist. Ich denke, hier sind wir uns ei- worden sei. Offenbar ist die sudanesische Regierung nig: Hier herrscht dringendster Regelungsbedarf ganz in nicht bereit, die in Darfur stattgefundenen Menschen- Ihrem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen von der rechtsverletzungen aufzuarbeiten. Auch wird berichtet, FDP, zur wirksamen Bekämpfung und Eindämmung von dass von der sudanesischen Regierung unterstützte Re- Aids. bellen von Darfur aus inzwischen auch im Tschad ope- rieren und dort für Instabilität und Krisen sorgen. Falsch Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dem ist also, zu glauben, man könne die wichtige Frage der leider sehr knappen Antrag der FDP wird gefordert, den Aids-Bekämpfung im luftleeren Raum behandeln. Südsudan beim Wiederaufbau zu unterstützen und die Ausbreitung von Aids zu verhindern. So weit, so richtig. Für meine Fraktion findet sich der richtige Weg im Diese Ziele können natürlich auch wir Grüne unter- Arbeitsplan der Vereinten Nationen für den Sudan. Die- schreiben. Gleichwohl gilt: Aids-Prävention kann nie- ser drängt darauf, zuerst die Situation in Darfur zu mals erfolgreich sein, wenn man nicht die gesamte poli- befrieden und den Friedensvertrag einzuhalten. Es ist tische Situation im Blick hat. Dazu findet sich wenig in richtig, so wie es der UN-Plan tut, die Gelder des Multi Ihrem Antrag. So wirkt der Antrag gut gemeint, aber Donor Trust Fund prioritär für die Schaffung eines dau- nicht klar durchdacht. erhaften Friedens einzusetzen. Und es ist richtig, dass in alle Maßnahmen der humanitären Hilfe und Entwick- Auch wir befürchten, dass im Südsudan in den nächs- lungszusammenarbeit auch die Querschnittsthemen ten Jahren die Zahl der Aids-Infektionen steigen wird. HIV/Aids, Gender und Umwelt- und Ressourcenschutz Zehntausende Flüchtlinge kehren in diese Region zu- integriert werden müssen. Wir setzen darauf, dass die rück. Denn der im letzten Jahr geschlossene Friedens- Bundesregierung ihre Ankündigungen umsetzt. Das be- vertrag gibt den Menschen im Sudan nach Jahrzehnten deutet, dass sie den Multi Donor Trust Fund finanziell des Bürgerkriegs zwischen Norden und Süden Hoffnung unterstützen und die Anstrengungen der Vereinten Na- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2021

(A) tionen bei der Umsetzung des Friedensplanes im Sudan falls nicht mehr als verhältnismäßig angesehen werden (C) begleiten sollte. kann. Wie in vielen anderen afrikanischen Ländern geht es Tatsächlich zeigt die Verwaltungspraxis, dass es ein auch im Sudan um die Sicherung von Rohstoffen und Jahr nach In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes wie in vielen anderen Fällen verschärfen die enormen immer noch so genannte Kettenduldungen gibt. Rund Einnahmepotenziale durch die Ausbeutung des Erdöls 50 000 in Deutschland geduldete Menschen hangeln sich die Brisanz der Situation noch. Eine der vorrangigen – laut eines Berichtes des Tagespiegels vom 9. Januar Aufgaben jeglicher Entwicklungszusammenarbeit mit 2006 – seit mehr als zehn Jahren mit Hilfe dieser zum dem Sudan muss sein, das Land weiter zu stabilisieren Teil nur einen Monat geltenden Bescheide durchs Leben. und sich dafür einzusetzen, dass die Regierungen trans- Bundesweit wurden nur in wenigen Ausnahmefällen An- parent mit ihren Rohstoffeinnahmen umgehen. Das wird träge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 ein ganz schwieriger Prozess, da eben auch Akteure, bei- Abs. 5 AufenthG positiv beschieden. Dies lässt vermu- spielsweise chinesische Unternehmen in der Ölförde- ten, dass die Verwaltungen eine andere Auslegung der rung, beteiligt sind, die kaum Interesse an Transparenz Norm an den Tag legen oder dass die Verwaltungsvor- und Nachhaltigkeit haben. schriften erst zu spät erlassen worden sind, um das Ge- setz entsprechend umzusetzen. Ohne eine Stabilisierung des Landes, ohne eine Lö- sung des Konfliktes in Darfur, ohne einen dauerhaften Es sind sich Vertreter aller Parteien darüber einig, Frieden im gesamten Sudan werden wir es trotz großer dass ein Vertrösten von Duldung zu Duldung der Men- Anstrengungen nicht schaffen können, den Südsudan vor schen, die unverschuldet an der Ausreise gehindert sind, Aids zu bewahren. Wer also dem Land und den geschun- ein unsäglicher Zustand ist, den es zu ändern gilt. Im denen Menschen helfen will, muss sich für eine Lösung Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom des gesamtsudanesischen Konfliktes einsetzen. 11. November 2005 wurde bereits vereinbart, dass dem- nächst eine Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes ins- besondere unter dem Gesichtspunkt der Überprüfung der Kettenduldungen sowie der humanitären Probleme, vor Anlage 6 allem mit Blick auf die in Deutschland aufgewachsenden Zu Protokoll gegebene Reden Kinder vorzunehmen ist. Allerdings ist es meines Erachtens ebenso unabding- zur Beratung des Antrags: Kettenduldungen bar, daran festzuhalten, dass ausdrücklich zwischen aus- abschaffen (Tagesordnungspunkt 17) reisepflichtigen Personen differenziert wird, die nicht (B) zurückkehren können, und solchen, die nicht in ihr Her- (D) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Der heute kunftsland zurückkehren wollen. hier verhandelte Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 16. Februar 2006 zielt auf die Abschaffung Es muss völlig klar sein, dass wir neben den unver- der so genannten Kettenduldungen, die sich aus den An- schuldet in Deutschland ausreisepflichtigen Anwesen- wendungshinweisen des Bundesministeriums des Innern den und den Personen die unter die Härtefallregelung zu § 25 Aufenthaltsgesetz ergeben, ab. Grundsätzlich ist fallen, nicht die Personen „belohnen“ dürfen, die ihre hierbei festzuhalten, dass § 25 Abs. 5 AufenthG bereits Papiere vernichtet, den Reiseweg verschleiert haben das Ziel hat, die so genannten Kettenduldungen abzu- oder auf andere Weise eine Abschiebung zu verhindern schaffen und Personen, die unverschuldet an der Aus- versuchen. Hier muss eine eindeutige Differenzierung reise gehindert sind, in ein Bleiberecht zu überführen. vorgenommen werden. Was aber wiederum auch nicht bedeutet, dass zwar bei der Prüfung für ein Bleiberecht Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, dem Antragsteller grundsätzlich bei fehlenden Pässen der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von und Dokumenten unterstellt werden darf, dass der Ge- § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt duldete seine Mitwirkungspflicht verletzt hat und die werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tat- Entscheidung im Rahmen des Beurteilungspielraumes sächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall systematisch zu ungunsten der Geduldeten auslegt wird. der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rech- Allerdings muss an dieser Stelle auch klar und deut- nen ist. Rechtlich unmöglich ist die Ausreise dann, wenn lich gesagt werden, dass in der Praxis leider die Fälle Abschiebungsgründe nach § 60 II bis VII AufenthG vor- überwiegen, bei denen Ausreisepflichtige mutwillig ihre liegen und nicht ausnahmsweise eine Ausreise in einen Mitwirkungspflicht verletzen, um sich ihr Bleiberecht zu Drittstaat in Frage kommt. Tatsächliche Gründe sind erzwingen. Die Fälle, die aus so genannten Problemstaa- Fälle der Reiseunfähigkeit, der unverschuldeten Passlo- ten kommen, wo es keine ordnungsgemäßen Meldere- sigkeit und unterbrochene oder fehlende Verkehrsverbin- gister gibt, die Abklärung der richtigen Angaben/Identi- dungen. Auch die Betrachtung des Verhältnismäßig- tät oder das Beibringen der Papiere aus bestimmten keitsgrundsatzes, der alle staatliche Gewalt bindet, Umständen nicht möglich ist, sind in der Regel die we- sofern sie subjektive Rechte des Bürgers in irgendeiner nigsten. Weise beeinträchtigt, kann zur Anwendung von § 25 AufenthG führen. Hier sind Fallgestaltungen zu nennen, Grundsätzlich kann und darf es keine Belohnung in bei denen eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreise- Form von einem Bleiberecht für Verstöße gegen unsere pflicht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzel- Rechtsordnung geben. 2022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Das Aufenthaltsgesetz enthält keine allgemeine Alt- sern. Denn diese Personengruppe und auch ihre in (C) fall- oder Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Deutschland zum Teil schon geborenen oder hier aufge- ausreisepflichtige ausländische Staatsangehörige. Die wachsenen Kinder konnten und können aus von ihnen derzeitigen Regelungen bzw. die Umsetzung ist jedoch nicht zu vertretenden Gründen nicht in ihre Heimat zu- vor allem für diejenigen bedauerlich, die seit Jahren mit rückkehren, haben jedoch keine Anerkennung als ihren Familien in Deutschland wohnen, sich integriert Flüchtlinge oder Asylberechtigte bekommen und leben haben und aufgrund des andauernden Duldungsstatus je- deswegen zum Teil schon seit vielen, vielen Jahren mit derzeit mit ihrer Ausreiseverpflichtung bis hin zur Ab- immer wieder verlängerten Duldungen von manchmal schiebung in ihr Herkunftsland – das vielfach nicht mehr nur wenigen Monaten sozusagen aus ihren Koffern mit- als Heimatland angesehen wird – rechnen müssen. ten unter uns. Die meisten von ihnen können ohne Ar- beitserlaubnis den Lebensunterhalt für sich und ihre Fa- Auf der Innenministerkonferenz am 8./9. Dezember milien nicht bestreiten, ihre Kinder können keine 2005, bei der einige Bundesländer bereits Vorschläge zur vernünftige Ausbildung erhalten oder abschließen. Änderung des Aufenthaltsgesetzes einbrachten, wurde die Frage einer Bleiberechtsregelung für langjährig im Wir waren und sind der Auffassung, dass dieser so- Bundesgebiet geduldete ausreisepflichtige ausländische wohl unter humanitären Gesichtspunkten für die Betrof- Staatsangehörige ausführlich erörtert. Abschließend fenen als auch unter ökonomischen Gesichtspunkten für wurde beschlossen, dass eine Arbeitsgruppe auf Minis- unsere Gesellschaft unsinnige Zustand durch das neue terebene eingerichtet wird, die sich mit der Gesamt- Recht dahin gehend hätte beendet werden sollen, dass problematik befassen und gegebenenfalls Verfahrensvor- zumindest die meisten von ihnen eine Aufenthaltserlaub- schläge entwickeln wird. Die Evaluation sollte daher nis erhalten würden. Bündnis 90/Die Grünen weisen in abgewartet und anschließend im federführenden Innen- ihrer Antragsbegründung richtigerweise darauf hin, dass ausschuss beraten werden, damit man zu einer – im Inte- es bei diesem Ziel unter allen politischen Kräften sowohl resse der Betroffenen – vernünftigen Änderung des Auf- im Bundestag als auch im Bundesrat weitgehende Über- enthaltsgesetzes gelangt. einstimmung gab. Unterschiede mag es allenfalls in der Einschätzung gegeben haben, wie groß der davon be- Das geltende Gesetz ermöglicht – mehr als das alte günstigte Personenkreis im Ergebnis sein würde. AuslG –, Kettenduldungen zu vermeiden. Erforderlich ist jedoch eine Auslegung der Normen im Sinne der Ab- Nun haben die ohne jede Mitwirkung der vormaligen sichten des Gesetzgebers. Wir müssen dafür Sorge tra- Koalitionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü- gen, dass die bisherige Praxis nicht weiter fortgeführt nen durch den Bundesinnenminister am 22. Dezember wird, da sonst nicht nur die Altfälle ungelöst bleiben, 2004 in Kraft gesetzten vorläufigen Anwendungshin- (B) sondern immer weiter neue Fälle von Kettenduldungen weise zum Aufenthaltsgesetz und auch die seither zu be- (D) geschaffen werden. obachtende Verwaltungspraxis der meisten Bundeslän- der diese Absicht des Gesetzgebers aber gerade nicht Eine Ad-hoc-Entscheidung, die zu einem allgemeinen umgesetzt, dass heißt für viel zu viele Menschen des an- Bleiberecht ohne Einschränkungen führen würde, wäre gesprochenen Personenkreises besteht über ihre Zukunft meines Erachtens aber ein völlig falsches Signal denjeni- weiterhin Unklarheit oder sie sind in Einzelfällen sogar gen gegenüber, die ihre dauerhafte Anwesenheit in von Abschiebung bedroht. Deutschland nicht selbst verschuldet haben und sich rechtstreu verhalten und denjenigen gegenüber, die be- Da sich dies bereits kurz nach In-Kraft-Treten des reits unsere Rechtsordnung beachtet und den bestehen- neuen Rechtes schon so abzeichnete, haben die vormali- den Regelungen hinsichtlich Ausreise gefolgt sind. gen Koalitionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen am 11. April 2005 eine koalitionsinterne Prakti- Eine Gesetzesänderung des Aufenthaltsgesetzes darf keranhörung durchgeführt, die diese Defizite aufgedeckt nicht zur „Belohnung“ von Verstößen gegen unsere hat. Rechtsordnung mit einem Bleiberecht führen. Schon aufgrund der dann vorzeitig zu Ende gegange- nen Legislaturperiode ist es indessen nicht mehr gelun- Rüdiger Veit (SPD): Das Anliegen, das Bündnis 90/ gen, auf eine entsprechende Änderung der vorläufigen Die Grünen in ihrem Antrag verfolgen, ist ebenso richtig Anwendungshinweise hinzuwirken, oder gar eine Kor- wie allerdings auch wenig neu. rektur des Gesetzes ins Auge zu fassen. Wobei ich übri- Bei dem Zustandekommen des Zuwanderungsgeset- gens die ausdrückliche Beschränkung auf lediglich zes – ich erinnere daran, dass in zwei Anläufen im Ver- Abs. 5 der Vorschrift des § 25 des Aufenthaltsgesetzes mittlungsausschuss praktisch ein Allparteienkompro- im vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen miss gefunden werden musste – haben nicht wenige nicht nachvollziehen kann. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die zum Konsequenterweise haben wir als Sozialdemokraten Teil schmerzlichen inhaltlichen Zugeständnisse in Rich- dann nach den Bundestagswahlen in den Koalitionsver- tung der Positionen ihres heutigen Koalitionspartners der handlungen mit unserem neuen Partner CDU/CSU die- CDU/CSU nur deswegen noch vertreten können, weil ses Thema wieder aufgegriffen und vereinbart wir die begründete Erwartung hatten, mit dem neuen – Seite 137 –: Recht werde sich die Situation der Mehrzahl der mehr als 250 000 geduldeten ausländischen Mitbürgerinnen Wir werden das Zuwanderungsgesetz anhand der und Mitbürger in der Bundesrepublik dauerhaft verbes- Anwendungspraxis evaluieren. Dabei soll insbe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006 2023

(A) sondere auch überprüft werden, ob eine befriedi- lung, dass auch dann, wenn die Rückkehr unzumutbar (C) gende Lösung des Problems der so genannten Ket- ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden muss. Es tenduldungen erreicht worden ist. wäre wünschenswert, als Regelbeispiel in das Gesetz aufzunehmen, dass die Unzumutbarkeit einer Rückkehr Bereits für den 30. und 31. März dieses Jahres ist zu sich insbesondere aus gelungener Integration ergeben einem Praktikererfahrungsaustausch im Rahmen der kann. Langjähriger Aufenthalt kann dafür ein entschei- Evaluation des Zuwanderungsgesetzes eingeladen. dendes Kriterium sein. In der Bevölkerung wird auch Aus der Sicht der sozialdemokratischen Fraktion darf nicht verstanden, warum Familien, deren Kinder in ich mich für diesen zügigen Beginn der Umsetzung un- Deutschland aufgewachsen sind und hier die Schule be- serer Koalitionsvereinbarung auch beim Minister suchen, abgeschoben werden, obwohl sie bestens inte- Dr. Schäuble ausdrücklich bedanken und hoffe, dass wir griert sind. Auf diese Weise tragen Unklarheiten des Ge- nach dieser Anhörung uns über die weiteren Schritte setzes dazu bei, dass gerade Personen, deren Aufenthalt nicht nur koalitionsintern verständigen werden. Dazu ge- in Deutschland unter dem Aspekt der Integration keiner- hört dann auch die Weiterberatung des gegenständlichen lei Probleme bereitet, entweder hier unter dem Damo- Antrags von Bündnis 90/Die Grünen im Innenausschuss. klesschwert der Nichtverlängerung ihrer Duldung leben oder am Ende ganz abgeschoben werden. Dr. Max Stadler (FDP): Das Zuwanderungsgesetz Deswegen ist es an der Zeit, die Ankündigung des da- ist besser als sein Ruf. Insbesondere im humanitären Be- maligen Bundesinnenministers , das neue Zu- reich darf nicht übersehen werden, dass durch die Aner- wanderungsrecht werde weitgehend mit der Praxis der kennung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Kettenduldung Schluss machen, jetzt endlich in die Tat Verfolgung deutliche Fortschritte erzielt worden sind. umzusetzen. Die FDP-Bundestagsfraktion ist bereit, da- Alle Versuche, das Asylrecht im Zuge der Zuwande- ran konstruktiv mitzuwirken. rungsdebatte noch stärker einzuschränken, konnten ab- gewehrt werden. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ich begrüße ausdrücklich, Dennoch gibt es eine Reihe von Punkten, bei denen im dass die Fraktion der Grünen hier noch einmal das Pro- Zuge der Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz keine blem der Kettenduldungen auf die Tagesordnung gesetzt Einigkeit erzielt werden konnte. Eine Bleiberechtsrege- hat. Gleichzeitig stellt sich für mich die Frage, ob es sich lung für langjährig Geduldete, wie sie die FDP-Bundes- hier nicht um einen Fall von Populismus handelt, mit tagsfraktion nachhaltig gefordert hat, war mit der CDU/ dem man die eigene Klientel befriedigen will. Denn es CSU nicht machbar, stieß aber auch auf den Widerstand gibt schon einen Antrag der Fraktion Die Linke zur Än- großer Teile der SPD. derung des § 25 des Aufenthaltsgesetzes, der demnächst in den Ausschüssen behandelt wird. Nach dem, was der (B) Die Residenzpflicht von Geduldeten – ein überholtes Kollege Bürsch in der letzten Rede zum Thema gesagt (D) Relikt – ist ebenso geblieben wie die Verweigerung des hat, kann man hier auf eine konstruktive Diskussion hof- Zugangs zum Arbeitsmarkt für Geduldete. Das bedeutet, fen. dass Integration behindert wird, und zwar ganz bewusst. Das führt zu unnötigem Neid, weil Geduldete von staat- Ich halte das Problem für zu dringlich, um das von lichen Transferleistungen leben, ohne dass ihnen die den Grünen vorgeschlagene Vorgehen für ausreichend Chance gegeben wird, selbst ihren Lebensunterhalt zu halten zu können. Zunächst soll es eine Neufassung der verdienen. Anwendungshinweise für die Ausländerbehörden geben. Dann guckt man mal, ob sich was tut. Wenn nicht, dann Dass die Problematik der mit dem Aufenthalt von soll die Bundesregierung einen entsprechenden Ge- „Illegalen“ verbundenen Personen im Zuwanderungsge- setzentwurf vorlegen. Das dauert uns zu lange. setz nicht angegangen wurde, war kürzlich schon Ge- genstand einer Plenumsdebatte. Besonders dringender Bei der letzten Debatte über das Thema waren sich Nachbesserungsbedarf besteht hinsichtlich § 25 des Auf- alle Rednerinnen und Redner einig, dass das Problem enthaltsgesetzes. Während der Beratungen zum Zuwan- dringend gelöst werden muss. Der einzige, der dem wi- derungsgesetz waren sich alle Seiten einig, dass Ketten- dersprochen hat, war der Kollege Grindel. Da diese Rede duldungen unerwünscht sind. Die betroffenen Personen von wenig Sachkenntnis geprägt war, kann man sie hier haben Anspruch darauf, in angemessener Zeit Klarheit aber ruhig zur Seite lassen. über ihr weiteres Schicksal zu erhalten. Ich möchte kurz begründen, warum wir eine sofortige Die unabhängige Kommission „Zuwanderung“ unter Lösung des Problems wollen. Die Zahlen dürften ja be- Vorsitz von Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth hat in ihrem kannt sein. Ich wiederhole sie noch einmal. Nach An- Bericht vom 4. Juli 2001 auf Seite 166 dargestellt, dass gabe der Bundesregierung halten sich über 47 000 Ge- die Rechtspraxis der Kettenduldungen unzulänglich sei. duldete seit mehr als zehn Jahren hier auf, weitere 72 000 seit mehr als fünf Jahren. Ich erinnere auch noch Auch nach In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgeset- mal an die Beispiele, die hier letztes Mal genannt wur- zes hat sich an diesem Befund leider nichts geändert. den: die Familie mit fünf Kindern aus dem Libanon, der Der unbestimmte Rechtsbegriff des „Ausreisehindernis- die Papiere verweigert wird und die seit 14 Jahren mit ses“ wird von den Bundesländern sehr unterschiedlich einer Duldung hier lebt; die allein erziehende Mutter mit interpretiert. Wenn das Ziel, Kettenduldungen abzu- neun Kindern, seit 13 Jahren in Deutschland – die Mut- schaffen, tatsächlich erreicht werden soll, darf nicht auf ter soll nun allein abgeschoben, die Familie auseinander eine objektive Unmöglichkeit der Ausreise abgestellt gerissen werden –; der Flüchtling aus dem Irak, seit neun werden. Es bedarf vielmehr einer gesetzlichen Klarstel- Jahren in Deutschland, wiederholte Angriffe von 2024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2006

(A) Neonazis haben zu einer Retraumatisierung geführt; das teitag im November 2003 beschlossen: „Der unwürdige (C) kurdische Geschwisterpaar, das nach 18 Jahren abge- Zustand langjähriger Kettenduldungen muss ein Ende schoben werden soll – obwohl sie einen Schulabschluss haben.“ haben und voll integriert sind. Oder ein aktueller Fall: die Familie Kutlu aus der Türkei, seit neun Jahren in Die gesetzliche Umsetzung dieser politischen Absicht Neuruppin. Am 6. März hat sich die Stadtverordneten- soll durch § 25 Abs. 4 S. 1 und 5 AufenthG erreicht wer- versammlung in großer Einmütigkeit für eine dauerhafte den. „Pro Asyl“ hatte die Regelungen frühzeitig als un- Aussetzung der Abschiebung ausgesprochen. 4 500 Bür- zureichend kritisiert. Die nun vom Bundesinnenministe- gerinnen und Bürger haben sich per Unterschrift für ein rium ausgegebenen vorläufigen Anwendungshinweise Bleiberecht eingesetzt. Ein besseres Zeichen gelungener übertreffen sogar noch die pessimistischen Erwartungen. Integration kann es kaum geben. Wir alle hoffen, dass Um bei den Ausländerbehörden eine verbesserte Praxis sich die Verantwortlichen noch zur Erteilung einer Auf- herbeizuführen, müssen endlich entsprechende Signale enthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bewegen von der Bundesebene ausgehen, die dem Willen des Ge- lassen. setzgebers entsprechen. Doch ändert das nichts an der grundsätzlichen Proble- Die Anwendungshinweise zu § 25 Abs. 5 AufenthG matik: Wenn Geduldete eine Aufenthaltserlaubnis erhal- lassen zentrale Punkte aus der Gesetzesbegründung au- ten wollen, sind sie der Willkür der Ausländerbehörde ßer Acht. Während restriktive Aspekte aufgegriffen wur- ausgeliefert. Nur in Ausnahmefällen erhalten sie eine den, fehlen wichtige Passagen, die die Überwindung der Arbeitserlaubnis. Nur wenn sie Arbeit haben, steht ihnen Kettenduldungen intendieren. Die Gesetzesbegründung der Weg zur Härtefallkommission offen. Selbst wenn sie sieht vor, dass die „subjektive Möglichkeit – und damit diese Hürde geschafft haben, nützt ihnen das meist implizit auch die Zumutbarkeit – der Ausreise“ zu prü- nichts; denn die Innenminister müssen der Empfehlung fen ist. Hiermit sollte der unbestimmte Rechtsbegriff des der Härtefallkommission nicht folgen, manche tun das in Ausreisehindernisses näher konturiert werden. Denn keinem Fall. theoretisch ist die „freiwillige Ausreise“ fast immer möglich. Auf die faktische Ausreisemöglichkeit allein Der Vorsitzende der Migrationskommission der kann es jedoch nicht ankommen. Dann wäre der Anwen- Bischofskonferenz, Bischof Josef Voß, hat zu Recht da- dungsbereich des § 25 Abs. 5 AufenthG nahezu auf null rauf hingewiesen: Die Ausländerbehörden nutzen ihren reduziert. Da dies vom Gesetzgeber aber nicht gewollt Ermessensspielraum fast ohne Ausnahme zum Nachteil ist, ist es unabdingbar, dass von der Bundesseite deutlich der Betroffenen. Daher brauchen wir eine gesetzliche gemacht wird, dass es auch auf die subjektive Möglich- Klarstellung und wir brauchen sie sofort. Wir haben ei- keit der Ausreise ankommen muss. nen entsprechenden Vorschlag eingebracht, nun sind Sie (B) alle in der Pflicht, nicht nur guten Willen zu zeigen, son- Weiterhin fehlen in den vorläufigen Anwendungs- (D) dern das Richtige zu tun: Kettenduldungen abschaffen! hinweisen die Vorgaben zum Umgang mit geduldeten Minderjährigen. Die Gesetzesbegründung sieht aus- drücklich vor, dass bei Minderjährigen ein positiver Er- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- messensgebrauch erfolgen soll. Minderjährige werden NEN): Bei den Verhandlungen um das Zuwanderungsge- durch das Leben mit einer Duldung besonders stark in setz haben die Innenpolitiker der rot-grünen Koalition ihrer Entwicklung beschränkt, insbesondere durch die stets betont, dass mit dem neuen Gesetz Defizite des al- Verwehrung des Zugangs zu Ausbildungsplätzen, zu ei- ten Ausländergesetzes von 1990 behoben werden soll- nem Studienplatz oder durch die Angst vor der Abschie- ten. Unter anderem sollten die Abschaffung der Ketten- bung. duldungen, die Lösung von Härtefällen durch die Härtefallregelung und eine Verbesserung des Flücht- Mit dem vorliegenden Antrag wird die Bundesregie- lingsschutzes erreicht werden. Die bisherige Anwen- rung daher aufgefordert, gegenüber den Bundesländern dungspraxis des Zuwanderungsgesetzes zeigt, dass bis Ende März 2006 für eine Klarstellung in den vorläu- bundesweit nur in wenigen Einzelfällen Anträge auf Er- figen Anwendungshinweisen des Bundesinnenministe- teilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Auf- riums zu sorgen, die dem Ziel des Gesetzgebers ent- enthG positiv beschieden worden sind. Lediglich in spricht. Hierin sind insbesondere die Zumutbarkeit einer Rheinland-Pfalz erhielten bislang über 1 000 geduldete Ausreise sowie die besondere Situation in Deutschland Personen eine Aufenthaltserlaubnis. Für diese restriktive aufgewachsener Kinder und Jugendlicher zu berücksich- Anwendungspraxis sind insbesondere die im Dezember tigen. Wenn auf dem vorgenannten Weg keine Änderung 2004 vom Bundesinnenministerium herausgegebenen der Praxis der Bundesländer zu erreichen ist, soll die vorläufigen Anwendungshinweise verantwortlich. Sie Bundesregierung dem Bundestag zeitnah einen Geset- konterkarieren positive Intentionen des Gesetzgebers. zesentwurf zur Änderung von § 25 Abs. 5 Aufenthalts- gesetz vorlegen, der der Intention des Gesetzgebers ge- Während der Verhandlungen zum Zuwanderungsge- recht wird. setz hat Rot-Grün wiederholt herausgestellt, dass die Praxis der Dauerduldungen nicht länger hingenommen Der heute dem Plenum vorliegende Antrag ergänzt werden soll. „Duldungen, insbesondere Kettenduldun- den Gesetzentwurf der Fraktion von Bündnis 90/Die gen stellen keinen Aufenthaltstitel dar. Sie sollten auf Grünen für die Schaffung einer gesetzlichen Altfallrege- insgesamt maximal ein Jahr begrenzt werden“, heißt es lung (Drucksache 16/218). in dem Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion von 2001. Auch Bündnis 90/Die Grünen hätten auf dem Par- Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag.

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