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BerndStratthaus Was heißt „interkulturelle Literatur“?

DissertationvorgelegtbeimFachbereich3(LiteraturundSprachwissenschaft)derUniversitätDuisburgEssenim FachAllgemeineundVergleichendeLiteraturwissenschaftzurErlangungdesGradesDr.phil. DatumdermündlichenPrüfung:21.Februar2005 Gutachter:RolandGalle(UniversitätDuisburgEssen),PereJoaniTous(UniversitätKonstanz) Inhalt Einleitung...... 3 DasProblem:WieteiltmanLiteraturein? ...... 3 MöglicheKriterienderEinteilung:DerStatusderSprache ...... 7 MöglicheKriterienderEinteilung:DieSoziologisierungderLiteratur ...... 9 MöglicheKriterienderEinteilung:EthnischeReduktion ...... 11 GliederungderArbeit:TeilI.WasheißtinterkulturelleLiteratur? ...... 14 GliederungderArbeit:TeilII.AlternativeLektüren ...... 16 DieTextgrundlage ...... 19 Abschluss.DerVorwurfdesRelativismus ...... 21 I. Was heißt „interkulturelle Literatur“? ...... 23 I.1DerSekundärdiskurszurinterkulturellenLiteratur ...... 24 Gastarbeiterliteratur–Migrantenliteratur–interkulturelleLiteraturindeutscherSprache ...... 26 Littératuremaghrébined’expressionfrançaise–littératurebeur ...... 36 I.2 Littératuremineure oder grandelittérature ? ...... 46 Deterritorialisation ...... 48 PolitikundKollektivität ...... 56 I.3DieIdentitätvonKultur(en) ...... 63 DieNotwendigkeitderMarginalität ...... 63 StabileUntereinheiten ...... 71 BeweglicheKulturen.DasLotmanscheRealitätsgefälle ...... 78 DasParadoxonderursprünglichenHybridität ...... 83 II. Alternative Lektüren ...... 101 II.1YokoTawadaunddasUnbehagenderIdentität...... 102 II.2aUrheberschaft–Gültigkeit–Verantwortung ...... 109 Prolog:WasisteinAutor? ...... 113 WörtlichesEigentum,eigentümlichesWort.DieAngstvordemVerlustdesUrsprungs ...... 118

1 DieHierarchisierungvonInterpretationen.DieAngstvordemVerlustderAutorität ...... 124 Exkurs:WeichgezeichneteWorte ...... 130 SchuldunddekonstruierteVerantwortung.DieAngstvordemVerlustderethischenAdresse ...... 138 II.2bDerAutorundseinText.DrissChraïbisL’inspecteurAli ...... 153 Europaschreibt...... 153 ParatextundEndederSprache ...... 158 DieSuchenachdereigenenSprache ...... 164 Mapremièreconférence–DieRezeption ...... 175 DieInkarnationendesInspecteurAli ...... 178 II.3ZerfallendeFamilien.AssiaDjebars LesnuitsdeStrasbourg ...... 183 DieElternKindBeziehung ...... 186 HandelndeFrauen ...... 194 Vergessen ...... 203 II.4DasWunderbarebeiMayaArrizTamzaundEmineSevgiÖzdamar...... 211 ZeitzuSchweigen.LuneetOrian ...... 215 BesitzergreifungohneVerstehen.MarvelousPossessions ...... 222 DasWunderderKommunikation.DieBrückevomgoldenenHorn ...... 230 II.5...... 244 Literaturverzeichnis ...... 249

2 Einleitung DasProblem:WieteiltmanLiteraturein? ImJahr2000widmetesichFrancoMorettiineinemderReaktivierungdesaltenGoethe schen Terminus der Weltliteratur. Weltliteratur ist für Moretti dabei ein Faktum, mit dem wir lernenmüssenumzugehen,denn„theliteraturearoundusisnowunmistakablyaplanetarysys tem“ (MORETTI 2000, 54). Ein Hauptproblem, das Moretti bei der Beschäftigung mit diesem Systemsieht,ist,dassesaufgrundderÜberfülledeszubewältigendenMaterials(55)unmöglich ist,FachmannfürWeltliteraturineinemdirektenSinnezusein.VielleichtistdiesauchderGrund dafür,dasssichdasProjekt„Weltliteratur“nachMorettibisherbestenfallsaufWesteuropabe schränkt hat „and mostly revolving around the river Rhine (German philologists working on Frenchliterature)“(54).ErschlägtdeshalbeinePraxisdes„distantreading“vor(56ff),dievor allemdarinbesteht,großeEntwicklungslinieninnerhalbderweltweiten,kulturenübergreifenden literarischen Produktion zu identifizieren und zwar über die Analyse von Sekundärtexten: Die nationalliterarischenSpezialistenuntersucheneinenkleinenAusschnittderliterarischenProduk tionim closereading ,ihreErgebnissewerdenvoneinerimSinneMorettisneuzudefinierenden komparatistischenDisziplinmiteinanderverglichen. DasProjektMorettisisteigentlicheinesehrinteressanteLösungfürdasrichtigbenannteProb lemdernichtzubewältigendenweltweitenLiteraturfülle,diedurcheineimmerstärkereVernet zungdesErdballsauchimmerstärkerinsBewusstseintritt.MorettisLösungisteineArtsuprana tionaleLiteraturwissenschaft,eineArtweltweitesSubsidiaritätsprinzip:Erschlägtvor,denNati onalphilologienihrenjeweiligenBereichzuüberlassenundaufsieaufbauend,dochnichtinsie eingreifendeinsekundäresAnalysesystemzuerrichten.DamitwäresowohldemWunschnach (kultureller)Besonderheit,alsauchderRealitäteiner(auchästhetisch)immerinterdependenteren WeltRechnunggetragen.MorettilegtauchgleichdasAngewiesenseinaufVorarbeitenoffen,die ernichtzuersetzenwünscht,weilersiejaauchnichtersetzenkann.DieKomparatistikàlaMo retti wäre somit eine Metawissenschaft, die aus der Mittelbarkeit ihres Zugriffs auf literarische TexteeineStärkezumachenversuchte:„Ifwewanttounderstandthesysteminitsentirety,we mustacceptlosingsomething.Wealwayspayapricefortheoreticalknowledge:realityisinfinitely rich;conceptsareabstract,arepoor.Butit’spreciselythis‘poverty’thatmakesitpossibletohan dlethem,andthereforetoknow”(57f).

3 DerVorschlag Morettishat erwartungsgemäß eine kleine Debatte seiner Thesen ausgelöst, die nochnichtbeendetist 1.Morettihatinzwischenklargestellt,dassesihmnichtdarumgeht,Geset zevonallgemeinerGültigkeitzuentwerfen,d.h.Gesetze,diefürjedeFormvonLiteraturimmer und überallzutreffen müssen: „Truth be told, Iwould bevery disappointed if all ofliterature turnedoutto‚followthelawsofthe’[unddiehatteMorettiinseinemursprünglichenAuf satz skizziert, B.S.]: that a single explanation may work everywhere is both very implausible and extraordinarilyboring“(MORETTI 2003,75).Morettikümmertsichumdas,wasinderdiskursi venWirklichkeitgeschieht,erpraktiziertehereineAnalysevonPositivitätenàlaFoucault,derdie Bedingungenbenennt,unterdenenliterarischeEntwicklungstattfindet;erbeschreibtdentatsäch lichenVerlaufdieserEntwicklungen,behauptetdadurchallerdingskeineswegsdessenZwangsläu figkeit(75ff). MeinHaupteinwandgegeneineVorgehensweise,wieMorettisievorschlägt,zieltnichtaufdie KonzeptiondiesesVorgehensselbst.SiezieltauchnichtaufdenGegenstandsbereich(ausschließ lichSekundärliteratur),dennichhalteesfürlegitim,jafürunvermeidlich,sichdieArbeitsergeb nisseandererForscherinnen 2fürdieeigeneArbeitzunutzezumachen,auchwenndieshierin sehrweitreichenderWeisederFallseinmüsste.ProblematischistvielmehrderGegenstandsbe reichderTexte,dieMorettialsseineigenesKorpusverwendet.ProblematischistdieParzellie rungvonLiteraturnacheinzelnenSprachen,nach kulturellen Hintergründen .„Noliteraturewithout interference...hence,also,noliteraturewithoutcompromisesbetweenthelocalandtheforeign” (79).AndiesemSatzstörtdieSchlussfolgerung.Dennwiesind thelocal und theforeign trennscharf zu unterscheiden,wenn gilt: No literature without interference ? Das Problem an Morettis Herange hensweiseistdieallzuleichtfertigeAnnahmekulturellerEinheiten,dieeinfach identifiziert werden könnten.SeinProjektveranschaulichtaufgerademWegeeinenwichtigenBefund:DasSprechen über Kultur ist immer ein identifizierendes und homogenisierendes Sprechen – und das meist uneingestanden.

1EntgegnungenaufseineThesengabesz.B.vonPRENDERGAST 2001(derdievonMorettivorgeschlagenePraxis des distantreading methodischkritisiert),ARAC 2002(dersichvorallemgegendievonMorettinichtproblematisierte VermitteltheitliteraturwissenschaftlicherErkenntnisdurchdieenglischeSprachewendet),KRISTAL 2002(derausge hendvonderFeststellung,dassMorettisAnalysenamBeispieldesmodernenRomanssichnichtohneweiteresauf andereGattungenübertragenlassen,bestreitet,dassderEinflussdesWestensbeiderEntwicklungneuerliterarischer Formensodominantsei,wieMorettibehauptet,73),APTER 2003(wobeiEmilyApterinihrerliteraturhistorischen AufarbeitungderSituationanderUniversitätvonIstanbulwährenddeszweitenWeltkriegsundindenJahrenda nachMorettisAufsatzeheralsAufhängerbenutzt,umdieseSituationalsKeimzellederKomparatistikzubeschrei ben);MorettiselbstschobeinekurzeStellungnahmenach,MORETTI 2003. 2IchbenutzeweiblicheFormenabwechselndmitmännlichengenerisch.IchversuchemitdieserVorgehensweise denEinwändenLuisePuschsRechnungzutragen,diezurechtbeklagthat,dassdiedeutscheGrammatikdasMasku linumfürdiegenerischenWendungenvorschreibt–Frauensindimmermitgemeint(vgl.PUSCH 1984,v.a.4668). EntsprechendsindbeimeinerVerwendungderweiblichengenerischenFormendieMännerimmermitgemeint.Falls esnötigseinsollte,geschlechtlichzudifferenzieren,werdeichdieentsprechendenAdjektivehinzusetzen.DenVor schlagPuschs,dasNeutrumfürdiegenerischeBedeutungzuverwenden,halteichfürvergleichsweiseschwerprakti kabel,wennerauchzugegebenermaßendielogischsteLösungdesProblemswäre. 4 MorettisSatzließenämlichaucheineandereSchlussfolgerungzu: Noliteraturewithoutinterference, hencenoidentifiablelocalorforeignliterature .StattdessenwirdvonMorettimitderUnterscheidungvon Kern/Zentrum( core )undPeripherieoperiert 3.DieseUnterscheidungsolldenMachtverhältnissen inderWeltRechnungtragen,wasvorallemwichtigist,wennmandieliterarischeProduktionaus denehemaligenKolonialgebietendereuropäischenMächteindenBlicknimmt.Wiekannman aber gleichmacherischen, kulturimperialistischen Tendenzen entgehen, ohne stattdessen das durchdenKolonialismuserzeugteMachtgefällezueineranalytischenKonstantebeiderLitera turbetrachtungzumachen?WiekannmanderHeterogenitätvonKultur(nichtnurvonKultu ren!)gerechtwerden,ohnegleichzeitigdenImperialismuszuverharmlosen,d.h.ohnezusagen: Im Grunde sind intra kulturelle Unterschiede völlig homolog zu inter kulturellen Unterschieden. EinenleichtenAuswegausdieserProblematikwirdesnichtgeben,dennbeideVorgehensweisen trageninsichdieGefahr,denkolonialistischenImpetuszuverlängern:entwederdurcheinemög licheEinebnungdesMachtgefällesoderdurcheineständigeProlongationdesdurchdenKolo nialismuserzeugtenUnterschieds. Es existiert keine angemessene Begrifflichkeit für das skizzierte Problem. Die Unterscheidung vonintraundinterkulturellerHeterogenitätistansichschoneine contradictioinadjecto 4.Dennist Kulturheterogen,dannfälltesschwer,dieseUnterscheidungzumachen,außeresgelingt,den GraddesUnterschiedszubestimmen:IndiesemFallwärenintrakulturelleUnterschiedeweniger prägnantalsdieUnterschiedezwischenKulturen,sodasseineentsprechendeEinteilungindis tinkteKulturengerechtfertigtwäre.IchkennenurkeinenüberzeugendenAnsatz,derdenGrad der Unterschiedlichkeit einzelner kultureller Elemente adäquat zu erfassen imstande wäre, was vorallemdamitzusammenhängt,dassKultureinsovielesumfassenderBegriffistunddasses deshalbschonschwerfällt,überhauptdieKommensurabilitätdereinzelnenElementezubeurtei len. Esistnunrespektabel,dieseUnterschiedealsnichtweiterergründbarhinzunehmen,vonihrer faktischendiskursivenExistenzauszugehenunddieMechanismenihrerInteraktionzuuntersu chen.DiesscheintmirMorettisWegundauchdervielerandererTheoretikerzusein,dieinihren EntwürfeneineUnterscheidungvonZentrumundPeripherievornehmen.Undichstimmeauch 3JonathanAracstelltsoauchinetwasverwirrenderWeisefest,dass„inMoretti’slaw,thecentre’srelationtothe coreoperatesby‘influence’.Thatis,thecentreisearlierthanthecore”(ARAC 2002,38).Trotzseiner–vielleicht polemischüberspitzten–Entgegensetzungvon centre und core ,diebeiMorettisonichtvorkommt,weistArachierauf eingrundsätzlichesProblemallerZentrum/PeripherieAnsätzehin,diesoeinendynamischenKulturbegriffkonsti tuieren helfen sollen: Wie entsteht eine kulturelle Einheit, die nach den Interaktionsprozessen von Zentrum und Peripheriefunktioniert?IchwerdemichdiesemProblemvorallemamBeispielderSemiosphärentheorieYuriLot mansinTeilI.3dieserArbeitwidmen. 4DieseÜberzeugungteileichmitThomasWägenbaur:„DieinderDebatteumInterkulturalitätbehaupteteHybridi tätlässtsichauch intra kulturellbeobachten.UnterformalenGesichtspunktenmachteskeinenUnterschied,obvon MigrantenzwischenverschiedenenKulturenoderverschiedenenSchichten,GruppenoderSystemendieRedeist“ (WÄGENBAUR 1999,30). 5 insoweitmitihnenüberein,alsichdieErgründbarkeitderursprünglichenkulturellenKonstituti onfüreineIllusionhalte.NichtsdestowenigeroperierendieseTheorienmitdiesemblindenFleck, DynamikvonKulturwirdzwareingeräumt,dochsiekannnuraufdemGrundfester,historisch gewachsenerkulturellerEinheitenkonzeptualisiertwerden.Ichhalteesfürirreführend,ständigin dieser quasimetaphorischen Art von Vermischung, Hybridisierung, Interferenz oder ähnlichem zusprechen,dennalledieseBegriffefunktionierennurvordemHintergrunddistinkterEntitäten, diesichmischen,kreuzen,diemiteinanderinterferierenkönnen 5.DemParadoxoneinerArtur sprünglichenHybriditätmusstheoretischentsprochenwerden.DasfunktioniertmeinerAnsicht nachallerdingsnichtübereineInvisibilisierungdieserSchwierigkeit,wiesieMorettivornimmt, indem er die Untersuchung kultureller Unterschiede an die Fachleute der einzelnen nationalen LiteraturenverweistundhinterdieseAnalyseebenenichtmehrzurückgeht.SeinEntwurfistin sichschlüssig,aberunbefriedigend. DievorliegendeArbeitwidmetsichdemProblemderstandardisierendenKategorienbildungam BeispielderGattungderinterkulturellenLiteratur,diedieSchwierigkeiteinerklarenEinteilung und das Fehlen von nachvollziehbaren Kriterien für eine solche Einteilung vielleicht wie kein anderes literarisches Phänomen klar zutage gefördert hat. Diese Schwierigkeit hat leider nicht dazugeführt,dieKriterien,nachdenenliterarischeProduktiontatsächlicheingeteiltwird,zuhin terfragen,sondernzueineminmeinenAugeneherunglücklichenSchritt:DieinterkulturelleLite raturwurdealseineeigeneGattungetabliert.LeitfragederArbeitsollsein,obeinerseitsinden Sekundärtexten zurinterkulturellenLiteraturdieSchwierigkeitdieserEinteilungausreichendwahr genommen wird oder ob die Rückbindung auf kulturelle Hintergründe vielmehr als etwas be trachtet wird, das für Literatur eine Unausweichlichkeit besitzt und gar nicht in Frage gestellt werdensoll.Andererseitssollgezeigtwerden,dassdie Primärtexte selbstkulturelleHintergründe motivisch aufnehmen und sie in ihrer eindeutigen Interpretierbarkeit problematisieren. Diese Problematisierung,sodieThese,fügtdiejeweilsaufgenommenenMotiveineinekomplexeStruk tur ein, die eine allgemeinere Lesbarkeit wenigstens möglich macht. Alle besprochenen Texte gehörendeshalbzurhieralsÜberbegriffgewählteninterkulturellenLiteratur,eineGattung,die gewöhnlichnachethnischsoziologischenundbiographischenMerkmalendefiniertwird 6. Seitdenspäten60erJahrenentsteheninDeutschlandBüchervonAutorenmitMigrationshin tergrund; schon vorher (eigentlich schon seit den 10er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts 7, prominentdannaberinderpostkolonialenPhaseseitden50ern)gibteseinefranzösischsprachi 5 Diese Konzeption nehmen viele Interpretationen unhinterfragt als gegeben hin, vgl. fürein prägnantesBeispiel WIERSCHKE 1997,189.HybriditätwirdinsolchenTextenganzeinfachalsVermischungzweierpräexistenterEntitä tenbetrachtet.ZurSchwierigkeitdesBegriffsundzuseinerheterogenenVerwendung,vgl.Kap.I.3. 6ZumProblemderBegriffsbildungundzudeneinzelnenSubkategorien,dieichhierunterdemSammelbegriff inter kulturelle Literatur zusammenfasse,vgl.untenKap.I.1. 7Vgl.füreinenÜberblickzudenAnfängender littératuremaghrébinedelanguefrançaise CALMES 1984,1058. 6 geLiteraturinNordafrika,seitden80erneineLiteraturvonarabischstämmigenEinwanderernin Frankreich.DiessindnureinigeBeispielefüreineflorierendeLiteraturproduktionjenseitsvon StaatszugehörigkeitundauchjenseitsvonklarennationalphilologischenZugehörigkeiten.Diese ArbeitsolldieThesestützen,dassdieNormierungsundZuordnungsversuche,dieunternom menwordensind,diebesprocheneLiteraturaufeinebestimmteVorstellungvonihrverkürzen, siestetsaufeinenPlatzverweisen,dersiemöglichstweitvonderkanonisiertenLiteraturentfernt hält.IhrehäufigindenVordergrundgestellteRückbindunganeinschwerfassbaresKonzeptder Interkulturalitätistdabeiwenighilfreich,denästhetischavanciertenStatusdieserTextesowieihre theoretischeReflexionsleistungzuillustrieren.DievonmiruntersuchtenTextesollendemzufolge auch keine nationalphilologisch vergleichende Perspektive eröffnen; ihre Analyse soll vielmehr dazudienen,zuveranschaulichen,wieobsoleteinesolchePerspektivedurchdieliteraturprakti scheundtheoretischeEntwicklungderletzten50Jahregewordenist.DieinderSekundärlitera tur immer wieder zu findende Opposition zwischen politischsoziologischer und ästhetischer LesartderTextebeigleichzeitigerEinsichtindieUnmöglichkeitersterevollständigzuignorieren, bewirkteineinterpretatorischeVerarmungdesinfragestehendenKorpusunddadurchseineun terkomplexeWahrnehmung.DiesenMechanismuszudurchbrechenistZieldieserArbeit.Texte sindnichtgefangeninSprache,kulturellerZuordnungundwertenderKanonisierung,sondernsie thematisierendieseKategorienundüberschreitensiegeradedadurch. MöglicheKriterienderEinteilung:DerStatusderSprache Als Einstieg in die Erörterung der Frage, welche literarische Produktion warum zu einer be stimmtenNationalliteraturgehört,sollmireinaußereuropäischesBeispieldienen.InderTitelge schichtederFebruarausgabe2002desMagazins OutlookIndia ,beschäftigtsichSheelaReddymit derFrage: HowIndianisIndianwritinginEnglish? 8DerArtikelbestehtauseinerArtUmfrageunter denindischenSchriftstellern,dienichtinEnglischschreiben,anlässlichdesersteninternationalen indischen Literaturfestivals, das in jenem Februar in NeuDelhi stattgefunden hat. Sie werden dazuaufgefordert,zumErfolgderIWE(IndianwritersinEnglish)Stellungzunehmen,diein ternationalFuroremachen,undsomitdasBildIndiensimAuslandbestimmen.AmAnfangdes ArtikelswirdaufeinZitatSalmanRushdieshingewiesen,deroffenbarpauschaldieindischeLite raturinenglischerSprachealsdiebesserebezeichnethatte.DieReaktionistebensoundifferen ziert:DieSchriftstellerenglischerSprachewerdenals„creativetravelwriters“,„necromancers“ und„artificialwesternflowers“abgetan:

8REDDY 2002;ichzitiereimTextnachder4seitigenInternetversion,dieunterwww.OutLookIndia.comimArchiv desMagazinsderZeitschrifteinzusehenist. 7 „It’snotacaseofsourgrapes,insisttheregionalwriters,shruggingoffthelargeadvances, overnightfame,theinstantaccesstointernationalreadershipandawardsnowroutinely accordedtotheIWEasmerelytheunfairadvantageEnglishhasoverregionallanguages. ‘Justlikeafairskinnedwomanhasinoursociety,’asnotedBengaliwriterSunilGangop adhyayputsit.”(1) NeidundMissgunstwerdenalsMotivezwarzurückgewiesen,dochstehtsofortdasBeispielder hellhäutigen Frau bereit, die in der indischen Gesellschaft mehr Erfolg hat. Außerdem ist das wertende„unfair“inBezugaufdieVorteile,diedieenglischeSprachefürdieVermarktungbe sitzt,beachtlich.DieFrontstellungistschnellbeschrieben:Dieeinensindneidisch–auchwenn siedasGegenteilbehaupten–undverleihendiesemNeidinkolonialistischenStereotypenAus druck: restriktive Sprachenpolitik, die weiße Frau (offensichtlich chauvinistisch). Die anderen erkläreninklassischemkolonialenDuktusdieSprachedesEroberers–undesdarfnichtverges senwerden,dassdieenglischeSpracheinIndiendiesenStellenwerthat–zurüberlegenenund rechtfertigendiesesVerdiktmitdemHinweisaufdieQualität,fürdiekeineKriterienangegeben werden. DochauchdienichtenglischsprachigenindischenAutorenmachensichdasQualitätsargument zueigen: „WhenIwriteinmyownlanguage,IknowandmyreaderknowswhatI’mtalkingabout. But if I have towrite for English readers then I have to go into tedious explanations, leavinglittlespaceforcreativewriting.That’swhyIndianwritinginEnglishissosecond rate.It’scircumscribedbywhatthewesternreadercanappreciate:exoticaorerotica.”(2) IndiesemStatementfindensichmehrereGrundannahmen,dieinZweifelzuziehensind.Zu nächstistesnichteinsichtig,warumeseinemLandangemessenerseinsollte,inderSpracheder Autochthonenbeschriebenzuwerden.WarumwirdausdemBlickdessen,derineineranderen Sprache schreibt, sofort bestenfalls ein „touristy look“ (2), schlimmstenfalls eine vollkommen verzerrteDarstellung?DieseSichtweisegehtvoneinergeheimnisvollenEssenzaus,dieSprache, LandundindigeneBevölkerungmiteinanderverbindet,diedenFremdenjedochausschließt.Was fremdist,wirddabeinatürlichvondenAutochthonenbestimmt.AlleindurchdieseSichtweise kommenwirzuBenennungenwieetwaIWEinderenglischsprachigenLiteraturoder littérature maghrébine de langue française im französischen Sprachraum oder der allgemeineren Bezeichnung interkulturelle Literatur ,dievorallemimgermanophonenRaumgeradeenvogueist.DieseBemer kungistvielleichtnochetwaspauschal,dochichmöchteversuchen,sieimLaufederArbeitstär kerzukonturieren. DasgelingteventuellschonmitderErläuterungderzweitenGrundannahmedesZitates,dieich ebensouneinsehbarfindewiedieerste.SiegiltderAnnahme,dasseinLesereinerbestimmten Sprache natürlich versteht,waseinAutorderselbenSprachemeint.DieÄußerunglegteineArt vonKontinuumnahe,dasvonderSprachevermitteltwirdundLeserundAutorzueinerArt unio 8 mystica bringt.Ichdenke,manmusszweiDingestriktauseinanderhalten:Esisterstenseinzuse hen,dassjedeSprachealshistorischkonstituiertevondenGewohnheitenderer,diesiegebraucht haben– alsoderSprecherdieserSprache–durchzogenist.EineSprache hatalssolcheeinen traditionellenHintergrundundeinenjeweilseigenenAssoziationsreichtum.Dochesistzweitens wichtig zu beachten, dass ich damit eine Aussage über das innere Funktionieren der Sprache selbstgemachthabe,nichtetwaüberihrVerhältniszudemgeographischenRaum,indemsie gesprochen wird, oder zu der sie jeweils aktualisierenden Sprecherin. Derjenige, der sich der Sprachebedient,seierindigenodernicht,ruftdamitdenAssoziationskontextdieserspezifischen Spracheaufundverändertihnzugleich,indemerselbstdieSpracheineinergewissenWeisebe nutzt.Damitistnichtgesagt,dassSprecherinundSpracheinirgendeinembesonderenRepräsen tationsverhältnisstehen,wenndieSprecherindieSprachealsKindgelernthat–ganzabgesehen davon,dassdiesjaauchaufdieKinderzutrifft,diemitMigrationshintergrundinDeutschland oderFrankreichaufwachsen.Ebensoweniggilt,dasssichSprecherderselbenSpracheautoma tischbesserverstehen,wennsiebeideMuttersprachlersind.IndieserWeiseausformulierttritt,so denkeich,dieProblematikzutage,dieeinesopauschaleAussagewiediezitierteeinfachüber geht. DerOrientalismus,aufdenamEndedesZitatsangespieltwird,istzwareinElement,dasman niemalsaußerAchtlassensollte,dochespauschaldenenglischsprachigenSchriftstellernzuun terstellen, greift zu kurz. Orientalismus ist durch nichts an eine bestimmte Sprache gebunden (auchhiermussdiegeradebesprocheneDifferenzierungsleistungerbrachtwerden)undsolltein derRepräsentationhinterfragtwerden 9.IhnaneineSprachezubindenundihnmitdieserzuent sorgen,erscheintmirnichtalssehrredlicheLösung. MöglicheKriterienderEinteilung:DieSoziologisierungderLiteratur Dochdamitnichtgenug,eintamilischerAutorbeschwörtdieVolkseinheitunddieVerwurzelung (“rootedness”)inseinerVolksgruppe:„RushdieisextremelycleverandhedoestrytobeIndian butnotsuccesfully“,behauptetAshokamitranundfügthinzu:„Thisdistancefromthecommu nitytheIWEhave,theirsenseofnotbelonginganywhere,theirlackofemotivecontent,makes themprimecandidatesforaspirituallife,notwriters.”(2)DasKlischee,dassMenschen,diesich keinerGruppezuordnen,automatischnirgendshingehörenoderzwischenallenStühlensitzen, ist hierbei noch weniger auffällig als die offensichtliche Überzeugung Ashokamitrans, sowohl 9“Orientalismisastyleofthoughtbaseduponanontologicalandepistemologicaldistinctionmadebetween‘the Orient’and(mostofthetime)‘theOccident’”.SAID 1978,2.SolcheontologischenundepistemologischenUnter scheidungensindauchundnichtzuletztan Sprache gebundenundinihrzufinden,aberebennichtandie eine Spra che,andie andere hingegennicht. 9 bestimmenzukönnen,was indisch ist–Rushdie’stryingbutnotsuccessfully –alsauch,waszueinem Schriftstellergehört.HinteralldemstehtdieVorstellung,dasszumSchriftstellerseinein emotive content gehört, der nur durch die Gemeinschaft verliehen werden kann. Dieser emotive Gehalt unddieGemeinschaftbestimmensichdabeierneutgegenseitigineinerzirkulärenFigur,diesich zusätzlichdadurchzuplausibilisierensucht,dasssieeinAußenkonstruiert,dasdurchwurzellose Zeitgenossenrepräsentiertwird. EinwändewiedervonSunilGangopadhyayssinddaschonehernachvollziehbar: „IprefertowriteinBengaliasit’sthetonguemymotherspoke,thatIhearinshops, farms,factories;Iknowitseverynuance.MuchofIndianEnglishwritinglacksnuances. It’sokaywhentheytalkofupperclassIndiansbutwhenitcomestoportrayingcommon IndiansinsophisticatedEnglish,itsoundsfunny.”(3) ImmerhinsindhiersowohldieAngehörigender“upperclass”alsauchdieeher“commonpeo ple”beide„Indians”.Unddassetwaslustigklingt,wennesineinemfürdieSacheungewöhnli chenIdiolektmitgeteiltwird,istnachzuvollziehen,dennzueinerbestimmtensozialenRollege hörtebenaucheingewisserSprachgestus.DochderjeweiligeSprachgestusbeiderKlassengehört gleichermaßen zur Gesellschaft eines Landes. Die Frage, was denn indianness von der Idee her überhauptseinsoll,musshiernichtgeklärtwerden10 –ichdenke,esistindiesemessentialisti schenSinneauchnichtzuklären.JedenfallsumgehtGangopadhyayinseinerFormulierunggenau das Problem, dem sich B.Jayamohan stellen muss,wenn er über dieTexte englischsprachiger indischerAutorensagt:“It’sthelanguagetheygetfromthedrawingroom,orthebooksthey read,notthestreets,that’swhytheydon’tsoundnatural.“(3)WasaneinerSprache,diemanauf derStraßelernt, natürlicher ist,alsander,diemaninBüchernliest,musserstnochgeklärtwerden. Eshilftdabeinicht,wennmandiesem„natural“eineBedeutungbeilegt,dieetwa„verbreiteter“ oder„gewöhnlicher“seinsoll;denn Verbreitung machtebennochnichts natürlich undesiststets verräterisch,wenneineMehrheitsichdasEpitheton„natürlich“beilegt,auchwennnochsooft beteuertwird,dashabekeinenhierarchisierendenAnspruch.NaturalisierungeinesZustandsoder SachverhaltsführtstetszueinerhierarchisierendenUmwertungdesGegenteilsundbeidemZitat JayamohansistdasGefälledieserWertungwohleindeutig. Einen letzten bedenkenswerten Einwand erhebt schließlich Balahandran Nimade, wenn er in Bezug auf die IWE fragt: „What is their contribution to India’s literary history?“ Seine eigene Antwortlautet:„Absolutelynothing.TheymayhavemadesomecontributiontoBritishliterary historybutnottoours.“(4)WennmanLiteraturschonimweitestenSinnenationalphilologisch rubriziert,dannistsicherlichdasKriterium Sprache dasjenige,dasamleichtestennachzuvollziehen 10 Vgl.hierzudieDiskussionumdenBegriffderEthnizität,seineVerhaftetheitmitdemRassismus,aberauchseine NotwendigkeitfürdieBestimmungdesdiskursivenOrtesdesSubjektsbeiBALIBAR /WALLERSTEIN 1988,118123, sowieHALL 1992,21ff.FürdenBegriffderDiaspora,denHallindiesemZusammenhangaufbringt,vgl.HALL 1990, 235. 10 ist. Ein Buch, das auf englisch verfasst ist, gehört dann der englischen Literaturgeschichte an. Schwierigkeiten ergeben sich bei dieser Zuordnung aber für jede Art der Kreolisierung. Man müsste schon einen Standard definieren, der bestimmte,welche literarischeÄußerung in deut scherSprachezurbundesdeutschenLiteratur,welcheaberzurschweizerdeutschenoderzurös terreichischenLiteraturzählt.GehörtGerhartHauptmannmitseinenTheaterstückeninschlesi scherMundart,dieheuteimBundesgebietnurnochsehrwenigeverstehen,eherzurdeutschen LiteraturalsinasiDikmen,derseineSatireninvorbildlichstemHochdeutschabzufassenpflegt? Wennja,warum?NurweilSchlesieneinstzuDeutschlandgehörteunddieTürkeinicht?Damit befändemansichschonwiederaufeineranderenEbenederArgumentation,esgingenichtmehr umdieTexte,sondernnurnochumdieHerkunftderAutoren.DiesenSachverhaltkönnteman als SoziologisierungderLiteratur bezeichnen,umdieTendenzzuverdeutlichen,TextenachderPer sondesAutorsundseinenLebensumständenzubeurteilenundsomitdasgenuinTextuellezu vernachlässigen,dasdochwohlinderAblösungvomAutorbesteht.ÄhnlicheProblemegibtes natürlichauchinsämtlichenehemaligenKolonialgebieten. DiePositiondesAutorshervorzuheben,impliziertdabeiimFallederinterkulturellenLiteratur nochnichteinmaleineproduktionsästhetischeHerangehensweise,dennesgehtjanichtumden Sinn,denderAutorvielleichtindenTexthineinlegenwollte,sondernalleinumseineBiographie. UndeinenTextaufdieLebensumständezureduzieren,indenenseineVerfasserinsichbefand, istmindestensebensofatalverkürzendfürdieInterpretationwiederVersuch,inihmdenWillen desgenialenAutorsubjektswiederfindenzuwollen.AlledieseFragenhabeneineRelevanzfürdie KonzeptionunddiethematischeodermotivischeAusgestaltungeinesTextes;aberdieInterpreta tionaufsiezubeschränkenhießedenTextschließen,einenseiner„Polezuisolieren“ 11 . MöglicheKriterienderEinteilung:EthnischeReduktion Esistwahrscheinlich,dassdieaktuelleBewusstseinslagevieldazubeiträgt,dassdieHerkunftvon Autoren(unddasistjanichteinmalrichtig,manmüsstegenauersagen:ihreAbstammung)zu einem Kriterium für die Einteilung ihrer Texte werden kann. Doch dies ist eine bedenkliche Entwicklung.UnterdemDeckmanteldeskulturellenHintergrundeswerdensozialeundbiologi scheKategorienzurBeurteilungundKlassifizierungvonLiteraturherangezogen.Sogesehengibt eskeineinzigesThema,dasssicheinersolchenBestimmungentziehenkönnte.Ineinemgewis

11 ISER 1976,39:„VerwandeltdervirtuelleOrtdesWerksTextundLeserinPoleeinerBeziehung,danngewinnt dieses Verhältnis selbst vorrangiges Interesse. Damit es nicht aus dem Blick gerät, darf sich die Betrachtung des WerkswederaufdieeinenochaufdieanderePositionmitAusschließlichkeitkonzentrieren.DiePolezuisolieren, hieße,dasWerkaufdieDarstellungstechnikdesTextesbzw.diePsychologiedesLeserszureduzierenunddamit genaudenVorgangauszublenden,deneszubetrachtengilt.“ 11 senSinnesindalleÄußerungensozialbestimmt.DochdieimpliziteKlassifizierungsleistungeines Begriffs wie interkulturelle Literatur geht viel weiter, als zu sagen, Texte würden aus einem be stimmtenErfahrungsundWissens,jaauseinemepistemischenZusammenhangherausverfasst. DasAdjektiv interkulturell istsobestimmend,dassalleAussagenschlussendlichaufeszurückge bundenwerdenkönnen. DasThema„Identität“(unddiesesThemawirdüberdenKulturbegriffmeistunweigerlichaufge rufen)istjedochmeinerÜberzeugungnachsogrundlegendundgleichzeitigsovage,dassmanes indereinenoderanderenForminallenliterarischenÄußerungenwiederfindenkann.Esistdes halbeinweiteresZielmeinerArbeit,dieKoppelungzwischenkulturellerIdentitätundInterkul turalität, die so erdrückend ist, zu lockern. Das ginge kaum, indem ich mich anderenThemen widmete,dieimöffentlichenBewusstseinwenigerstarkanInterkulturalitätgeknüpftsind–im mervorausgesetzt,esgäbesolcheThemenüberhaupt.UmdieseLockerungzuerreichen,sollen imLaufedieserArbeitauchimmerwiederintertextuelleVerweisstrukturenaufgezeigtwerden.Es gibtmeines ErachtenskeinenüberzeugendenGrund,dieTextevonAutorenunterschiedlicher Herkunftunterschiedlichzuklassifizieren–esseidenn,manbekenntsichoffenzudemeinzigen dannnochverbleibendenUnterscheidungskriterium,ebendemdesethnischenoderkulturellen Hintergrundes selbst. Dass diese Vorgehensweise eine grobe Vereinfachung in Bezug auf den Diskussionsstand um den Kulturbegriff, auch in Bezug auf Interkulturalität darstellt, ist eine GrundüberzeugungmeinerArbeit. EsgibtdabeiauchimDiskursüberdieinterkulturelle Literatur Interpretationsansätze, auf die sichdieseArbeitpositivbezieht.Sohatz.B.ThomasWägenbaurdengeradeerwähntenProb lemkomplexder ethnischenReduktion ineinemAufsatzangesprochen.ErbenenntdasProblemwie folgt: NochimmerwerdenAutorendadurchdiskriminiert,dasssiedereinenoderanderenso zialenGruppezugeschlagenwerden,stattalsIndividuenbehandeltzuwerden,wieandere Autoren einer ‚Literatursprache’. [...] Zum einen haben es die Autoren dieser Literatur nochimmerschwer,publiziert,gelesenunduniversitärwahrgenommenzuwerden.Zum anderenhatdieseLiteraturkulturelleProblemezumGegenstand,dienatürlichindirek temZusammenhangmitdemProblemihrerAnerkennungstehen.“ (WÄGENBAUR 1995, 22) Ich teile diese Einschätzung, würde sie aber in der hier dargelegten Weise modifizieren. Ganz gewiss behandelt die interkulturelleLiteratur Probleme, die in Zusammenhang mit ihrerAner kennungstehen 12 .EinAutorkannbeiderSchaffungvonLiteraturschwerlichüberseinenper 12 Vgl.hierzuauchdiebedenkenswertenÜberlegungenvonStefanRieger,SchammaSchahadatundManfredWein berginRIEGER ETAL .1999a,16ff;vgl.auchGARCÍA DÜTTMANN 1997,19,aufdessenÜberlegungenzumZusam menhangzwischenKulturundAnerkennungsichRieger,SchahadatundWeinbergbeziehen:„Weil[...]Kulturnie einfachsieselberist,weilKulturimmerbedeutetzwischendenKulturen ,kanneseinAnerkennengebenundistdieerste ForderungnachAnerkennungdiederKultur.“ 12 sönlichenHorizonthinausgehen,d.h.esgibteinenZusammenhangzwischenderThemenwahl unddemAutor.DeshalbisteseigenartigeinerAutorinvorzuwerfen,wiediesB.Jayamohange tanhat,sieklinge„notnatural“,nurweilsiesichimRahmendiesespersönlichenAusdruckshori zontesbewegt.DenndieseArtderBeschränkunggestehenwirauchjedemAutorzu,dereiner Literaturspracheunhinterfragtangehört.MankanndieseUnterschiedesicherlichunterdenver schiedensten Blickwinkeln gut beschreiben, man kann sie sozial , man kann sie kulturell nennen unddieseBegriffeaufjeeigeneWeisedefinieren.DieUnterschiede,diedurchdiepersönliche AuswahlvonSpracheoderThemagetroffenwerden–unddaskannnichtoftgenugwiederholt werden–dürfendabeiabernichtalsEinschränkungdesTextesselbstbetrachtetwerden.Indie serWeisegeschiehtaberdieDiskriminierung,dieWägenbaurbeschreibt. FolgerichtigwirdfürWägenbaureine„NeuDefinitionvonIdentitätimentsprechendenZusam menhangmiteinerNeuDefinitionvonKultur“notwendig.„Interkulturalität“bedeutetfürihn dabei gerade „keine Subsumtion und Homogenisierung der einzelnen ‚Eigenheiten’“, sondern „Hybriditätbzw.Heterogenität“(23).UnterdiesenGesichtspunktenwird„Interkulturalität“zu einemAttributfürTexte,diesichdieserNeuDefinitionwidmen. BishierhindecktsichdieAnalyseWägenbaursmitmeinereigenen;dochvollziehtereineWen dung, der ich nicht mehr folgen kann, wenn er schreibt, genau diese NeuDefinition sei das ThemaderinterkulturellenLiteratur 13 undsomitimplizitdieKonstitutiondieserGattungrecht fertigt.MitdieserVolteverschenktereinwenigdieErgebnisseseinerAnalyse.Ichdenke,dass das,wasdieLiteraturwissenschaftunterdemLabelderinterkulturellenLiteraturzusammenfasst, ineinemTraditionszusammenhangsteht,derdieseTextemitvielenTexten,diedieserGruppe gewöhnlich nicht zugeschlagen werden, verbindet. Ich halte auch Wägenbaurs Rekurs auf den Unterschied zwischen Minderheits und Mehrheitsperspektive in diesem Zusammenhang für unglücklich,denn–unddieserPunktistentscheidend–dieMinderheitsperspektiveeinesTextesistnicht identischmitderseinesAutors .WägenbaursAnalysehattedochgeradeeineDifferenzierungzwischen derPersonderAutorinundihremWerkgefordert.DieTextederinterkulturellenLiteratursind genausosehrundgenausowenigandervonihmgefordertenNeuDefinitionbeteiligtwieWerke, dieohneZögerneinerNationalliteraturzugeordnetwerden 14 .

13 Vgl.WÄGENBAUR 1995,23. 14 Vgl.AlexanderGarcíaDüttmannsAusführungenzumparadoxenDoppelcharakterderAnerkennung.Übereine polemischzugespitzteForderungderSchwulenbewegungschreibter:„ We’requeer,we’rehere,sogetfuckin’usedtoit – handeltessichbeidieserParoleumeineForderungnachAnerkennung,soscheintsie,wiealleForderungennach Anerkennung,nachBestätigungundStiftung,voneinemWiderspruchauseinandergerissen[...]:Gefordertwird,dass mananerkennt,wasmangarnichtmehranzuerkennenbraucht.Wir,dieAnerkennungfordern,sindbereits,waswir sind,wirsindesnichtaneinemanderenOrt,zudemihrkeinenZuganghabtodervondemihreuchfernhalten könnt,geradedeshalbfordernwirAnerkennungineurerMitte“(GARCÍA DÜTTMANN 1997,110).Dieseparadoxe FigurderAnerkennungsiehtGarcíaDüttmannimZentrumjederKultur(19etpassim),sodassKulturpermanent eineNeuDefinition,eineNeuPositionierungihrerselbstvornimmt;vgl.dazuauchNANCY 1993,6. 13 FolgtmandieserThese,sobleibennurzweiMöglichkeiten:entwedermanrechnetzurinterkultu rellenLiteraturalleTexte,diederDefinitionWägenbaursentsprechen,daswärendannabernicht nursolchevonAutorenmitMigrationshintergrund 15 odermanlässtdieBezeichnungganzfallen. DerersteVorschlagscheintmirvernünftigerundersolldurchdiefolgendenAusführungenplau sibilisiertwerden.DieLiteraturbeschäftigtsichinderTatmiteinerNeuDefinitionvonKultur undIdentität,dochdieseNeuordnungfindetlängstintheoretischenDiskursenstatt,dievonei nerVielzahlvonAutorinnenundAutorenrezipiertwerden.Wennmaneshilfreichfindet,kann man diese thematische Ausrichtung, die Ordnungsfunktion dieses sujet im Sinne Foucaults mit demAttribut„interkulturell“belegen. Esbliebedannzuklären,obderVersuch,KulturundIdentitätneuzudefinieren,wirklichso innovativ ist oder ob er nicht vielmehr eine Funktion von literarischer Produktion überhaupt darstellt.LiteraturistmindestenseinStofflieferantfürDiskussion(daskannmanauchnochüber die avantgardistischsten Sprachspiele und die konkreteste Poesie sagen), häufig jedoch ist sie mehr, sie ist ein Ort, an dem durch die Sprache versuchtwird, Gedanken Form zuverleihen, Literatur hat ein utopisches Potential. Es können in literarischen Texten bestimmte Ideen in Handlungumgesetztwerden,siesindeinOrtdesNachdenkensunddesAushandelns,derstän digenVerschiebungdessen,wasmanzuverstehenglaubt.DieseFunktionwirdunabhängigvon derästhetischenÜberzeugungausgeübt,denendieeinzelneAutorinoderdieeinzelneInterpretin anhängen.Egalobmaneinergenieästhetischenodereinerstrengmimetischen,eineruniversalisti schenodereinerganzindividuellenVorstellungvonLiteraturanhängt:LiteraturistOrtderRe flexionvonRealitätundzwargleichgültig,obmandavonausgeht,dassdieseRealitätkonstruiert, diskursiverzeugtodereinfachabgebildetwird,sieistjedenfallseinOrtderIntersubjektivität,der Mitteilung. GliederungderArbeit:TeilI.WasheißtinterkulturelleLiteratur? AllerdingssollhiernichtnurderSinneinerAbspaltungder interkulturellen vonder(wiesollichsie nennen?) monokulturellen Literaturbezweifeltwerden.Essollauchgezeigtwerden,dassdieimmer wieder vorgetragene Forderung, man möge die interkulturelle Literatur doch nicht so sehr als Quellelesen,dennalsästhetischesProdukt,solangenichterfülltwerdenkann,wiemansieschon begrifflichimmerwiederanihrenMinderheitenstatuszurückbindet.EinkursorischerÜberblick überdenbisherigenwissenschaftlichenUmgangmitdiesenTexten,denichinTeilI.1vorneh

15 DieInterpretationvonShakespeares Sommernachtstraums durchShankarRamankanndafüralsbrillantesBeispiel dienen,auchwennRamanselbstleidernichtsoweitgeht,den Sommernachtstraum ausdrücklichzurinterkulturellen Literaturzurechnen,vgl.RAMAN 1995. 14 menwerde,wirdunteranderemzeigen,dasssichimSekundärdiskurszurinterkulturellenLitera turzweiInterpretationsmodigegenüberstehen:einerseitsdieLektürederTextealszeithistorische Quelle,als soziologischesDokument ,andererseitsihreLektüre„alsLiteratur“,als vollwertiges Kunstwerk . Diese beiden Modi sind in ihrer Opposition diejenigen, die die Forschung bisher weitgehend beherrschthaben,ohnedasssichirgendjemandausihrerFrontstellunghätteproduktivbefreien können 16 .DerSekundärdiskurszurinterkulturellenLiteraturerschöpftsichfolglichsehrhäufigin AppellenindieeineoderindieandereRichtung. TeilI.2wirddanneinemindiesemDiskursemsigrezipiertenAnsatzgewidmetsein,dervoral lemzurErklärungderPotentialeeinerMinderheitenperspektiveherangezogenwird.Ichspreche vomKonzeptder littératuremineure ,wieesGillesDeleuzeundFélixGuattarivorinzwischenfast dreißigJahreninihremBuchüberFranzKafkasProsavorgetragenhaben.Ichhabebereitser wähnt,dassichesnichtfürangemessenhalte,dieMinderheitenperspektiveeinesAutorsmitder einesTextesgleichzusetzen.GenauzurStützungdieserKonvergenzdientaberindenallermeis ten Fällen die Berufung auf Deleuze und Guattari. Ich werde versuchen plausibel zu machen, dassderenKonzeptnursehreingeschränktwahrgenommenwirdundseineweitreichendenKon sequenzen,wennmanDeleuzeundGuattaribiszumEndefolgt,fürjedeliterarischeÄußerung geltenkönnen.DasKonzeptder littératuremineure wirdvoneinemstrengsozialgespeistenPhä nomen, das vor allem vor dem Hintergrund bestimmter Gruppenkonstellationen seine Schlag krafterhält,zueinemallgemeinerenästhetischenPhänomen,dasvielehereinebestimmteArtdes Ausdruckswillens eines Autors als seine unbedingte Abhängigkeit von seiner gesellschaftlichen Randstellungbeschreibt. Der schwierigen Frage nach dem generellen Für und Wider von Abspaltungen, der Kenntnis nahmevonkulturellenBesonderheitenauchfürdieliteraturwissenschaftlicheForschung,möchte ichdamitnichtausweichen.DieGefahreinerkulturimperialistischverengtenBetrachtungsweise bestehtbeieinerHerangehensweise,wiesiehiervorgenommenwerdensoll,unbestreitbar.Des halb befasst sich das dritte Kapitel des erstenTeils mit dem Kulturbegriff. Im Rahmen dieser Arbeitistesdabeiunmöglich–aberauchgarnichtnötig–eineAufarbeitungdergesamtenGe schichtediesesumfangreichenBegriffeszuunternehmen.DiesesKapitelwirdsichalsoweitge henddaraufbeschränken,dieSchwierigkeitenherauszustellen,diederKulturbegriffinderGat tungsbezeichnungderinter kultur ellenLiteraturaufwirft.EswirddieeigentümlicheGemengelage 16 EsgibtdabeiauchdieKritikdaran„toreducetheliteraryproductionofforeignersinGermanytoapurelyliterary phenomenon“(TERAOKA 1987,97),wiesieArleneTeraokavorallemanHaraldWeinrichundIrmgardAckermann, denExponentendeszuBeginnder1980erJahrediskursprägenden InstitutsDeutschalsFremdsprache derUniversität München,übt.WennichauchdieKritikTeraokasamVorgehenWeinrichsundAckermannsteile(auchwasden unterschwelligenkolonialistischenTonihrerArbeitenbetrifft,vgl.TERAOKA 1987,93f),versuchtmeineArbeitgera dedenReflexzuvermeiden,eine„nurliterarische“Betrachtungalsunpolitischzubrandmarkenundzuverwerfen unddeshalbeinesozial/kolonialgeschichtlicheFlankierungderInterpretationzufordern.DieserPunktwirdinden folgendenKapitelnimmerwiederaufgegriffenwerden. 15 untersuchen,dieinderDebatteumdiesenBegriffzwischenseinendynamischenundseinensta bilenAnteilenbesteht.Eswirdaußerdemuntersucht,wiedererfolgreicheTerminusderHybridi sierung in diesem Zusammenhang zu bewerten ist und ob er tatsächlich eher die dynamische SeitedesKulturbegriffesunterstreicht.AußerdemwirdimZusammenhangmitdenstabilenEle mentenvonKulturnachdemVerhältnisvonKulturundIdentitätgefragtwerden,zweiBegriffe, diezwarmeinesWissensniealsSynonymeausgewiesen,gleichwohlabermeistununterscheidbar gebrauchtwerden. GliederungderArbeit:TeilII.AlternativeLektüren DiebisherigenInterpretationsansätzesuchenvorallemnachSpurenkulturellerBesonderheiten indenTextenderinterkulturellenLiteratur.IchneigedazudiesesVorgehenskeptischzubeurtei len:MeinesErachtenssolltekeinbereitsvorgefertigterKatalogankulturellenoderidentitätsstif tendenElementenaufgezähltundindenTextenverortetwerden;vielmehrgehtesdarum,die vonderinterkulturellenLiteraturbehandeltenThemenalssolchezubegreifen,dieüberallinder LiteraturzufindensindundebennichtnuraufirgendeinepersönlicheBefindlichkeitderAuto rinnenzurückweisen.MeineBeispielezweisprachigerTextekonntendieseNähebereitsillustrie ren,dochsollensowohlallgemeineretheoretischeAnsätzederPhilosophie,LinguistikundLitera turwissenschaft als Skopus der ausgewählten Texte identifiziert als auch intertextuelle Bezüge jeglicherArtaufgezeigtwerden. GenauumdiesewenigeraufbestimmteThemenverengteInterpretationspraxisgehtesimzwei tenTeildieserArbeit.Inihmsollgezeigtwerden,dassesnichtaufdasimeinzelnengewählte Themaoder setting einesliterarischenTextesankommt,sonderndassdieseimSinnedes sujet bei FoucaulteineOrdnungsfunktionfürdieTexteausfüllen,dieindenTextenselbstnichtautoma tischvorhandenist–ein sujet wirdimmerauchimZusammenspielvonLeserundTexterzeugt, eshängtdemTextnichtzwangsläufigundausschließlichan.DieRomaneDjebarsundChraïbis mögeninderTatdenStatusvonMigrantenzumThemahaben(obundinwelcherWeisediesim einzelnenderFallist,mussspätergeklärtwerden),sieerschöpfensichdeshalbnochlangenicht darinundkönnenebensoschlüssignachanderenGesichtspunktengelesenundgegliedertwer den.DieFrage,diehiergeklärtwerdensoll,istallgemeinererNatur:BeziehensichdieAussagen, die in ihren Texten gemacht werden, die Konzepte, die in ihnen entwickelt werden, nur auf Migranten,weilsievonMigrantenhandelnoderweisensie nichtvielmehrüberdiesethemati schenVorgabenhinaus,sindeinliterarischesVehikelwiejedesandere sujet auch,umüberhaupt eineAussagemachenzukönnen?SollmandieTextewirklichaufdieOppositionvonMehrheit undMinderheiteinschränkenodernimmtmanihnendadurchihrePrägnanz?

16 Nocheinmal:Essollundkannnichtbestrittenwerden,dassindenzubesprechendenRomanen Fremdheit,KolonialismusundähnlicheThemeneineRollespielen.DochkannmandieseBegrif fenichtsowenden,dasssievielumfassenderklingen?ManwürdedochauchnichtaufdieIdee kommen, dass Thomas Mann seine Buddenbrooks ausschließlich für hanseatische Großbürger schreibt,nurweilsiediejenigensind,diedarinvorallemvorkommen.Mangehtwieselbstver ständlichdavonaus,dassdieWirrungenderarmenTonietwasüberdasThema zwischenmenschliche Beziehungen imAllgemeinenaussagenundnicht nur überdasThema HeiratspraktikenderBourgeoisie . DiesisteinZugeständnis,das,eigentlichselbstverständlich,jedemTextgemachtwerdenmuss, alsoauchdenen,diemandurchdieBezeichnung interkulturelle LiteraturaufdieBestimmungdie sesAttributsfestlegt.SiehandelnebennichtnurvonspezifischenProblemeneinerMinderheit, sondernbesitzenebensodasPotential,überdenexemplarischenFallihreseigenen sujet hinaus zuweisen.DieseArbeitgehtvondereinfachenGrundannahmeaus,dasseinTextbeiderWahl seiner Handlung, seines Inhalts notwendig eingeschränkt ist, dass dies aber nicht dazu führen darf,ebendiesenInhaltzumunverrückbarenZentrumdesTexteszuerklären,vondemausjede Deutungkontrolliertwird 17 . Eskanneingewandtwerden,obindiesemFallnichtüberhauptaufdieliteraturwissenschaftliche Untersuchung von Themen verzichtet werden sollte, die so stark mit der besonderen sozialen Verfasstheit einerbestimmtenGruppezusammenhängen,dassdieserZusammenhang offenbar nuruntergrößtenSchwierigkeitenaußerAchtbleibenkann.Ichmöchtezubedenkengeben,dass dieserZusammenhangzurWahldesAutorsgehört,denTextdeshalbabernochlängstnichtauf eineaufihnbeschränkteLesartlimitiert.DieFragemuss,denkeich,andersgestelltwerden:Wa rumregenesgewisseEigenschafteneinesTextesan,ihnineinerbestimmtenArtzulesenoder fürihnsogareineeigeneGruppezuschaffen,dievonderNationalliteraturunterschwelligfern gehaltenwird 18 ?BeiderinterkulturellenLiteraturliegtdieVermutungnahe,dassmansichnoch nichtdarangewöhnthat(vielleichtauchnichtgewöhnenmag),dassMenschenausLändern,die lange Zeit als das schlechthin Andere der europäischen Zivilisation galten (Fernost, islamische Länder,Afrika)nunplötzlichinderLandessprachezureigenenKunstproduktionbeitragen.Die senGewöhnungsprozesseinweniganzuschiebenisteinweiteresZieldieserArbeit. NachderVorstellungeinesTextesvonYokoTawada(II.1),indemdieKategoriederethnischen ZugehörigkeitaufsehrklugeundleiseWeiseaufgegriffenundhinterfragtwird,solldieDebatte über die Autorschaft den ersten Bezugspunkt in meinem Interpretationsraster abgeben. Driss

17 ZurRolledes sujet alsFunktioneinesTextesvgl.FOUCAULT 1969,810f. 18 InDeutschlandwirddieserTeilderLiteraturproduktioninzentralenOrganendesliterarischenLebenssogartot geschwiegen.SoexistiertetwakeinEintragzurinterkulturellenLiteraturinKindlersLiteraturlexikon(KLL).Ebenso wenigwerdenallerdingsdieentsprechendenTexteundAutorenimEssayüberdiedeutscheLiteraturerwähnt,jaes existieren noch nicht einmal eigene Einträge zu Autorinnen wie Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu oder AyselÖzakin,umnurwenigeerfolgreicheundprofilierteBeispielezunennen. 17 ChraïbisRoman L’inspecteurAli (II.2)sollzudiesemZweckinBezugaufseineThematisierung derVerbindungzwischenAutorundTextgelesenwerden.HierzumusseinlängererAbschnitt überdieProblemevorgeschaltetwerden,dieeineBindungeinesAutorsanbzw.eineLösungdes AutorsvonseinemTextimpliziert. DerzweiteBezugspunktmeineralternativenLektürenistdannineinemweitenSinnediefemi nistischeTheorie.AssiaDjebarsRoman LesnuitsdeStrasbourg (II.3)sollaufseineDarstellungder HandlungsmöglichkeitvonFrauenineinerpatriarchalgeordnetenWelthinuntersuchtwerden. AußerdemwirdhierdieFragenachdemdurchdenTextvermitteltenBildderFamiliealsInstitu tionindenBlickgenommen.DasProblemderunterdrücktenFrauensolldabeinichtaufeine wohlfeile Verrechnung mit vermeintlich „islamischen Traditionen“ verengt werden. Es muss differenziertererörtertwerden:WiealleMachtverhältnisse–undichorientieremichbeimeiner AnalyseamMachtbegriffFoucaults–sindauchdieGeschlechterverhältnisseimIslamvorallem eingespielt ;„dieTatsache,dasswirvonderMachtausgeschlossensind,gibtunsFraueneineun glaublicheFreiheitdesDenkens,dieleidermiteinerunerträglichenSchwächeeinhergeht“,gibt zum Beispiel Fatema Mernissi zu bedenken. 19 Die Unterdrückung wird dabei erkennbar nicht geleugnet,abersiewirdineinenZusammenhangeingeordnet,derauchbestimmtepositiveEf fektezeitigt.DieswirdnirgendsinderStellungnahmeMernissiszueinerRechtfertigungderheu teinvielenislamischenLändernpraktiziertenFrauenverachtung.DieVerdrängungderFrauaus dem Diskurswirdvielmehr in einer Tradition gesehen, in der die herrschenden Instanzen des Islamvergessenhaben,wiemanmiteineranderenMeinungandersumgehenkönnte,inderdas Denken insgesamt ausdemDiskursverdrängtwordenist.DochistdieseVerdrängungdesDen kens kein islamisches Spezifikum, sie istvielmehrein hegemonialer Effekt, der entsteht,wenn Machtausgeübtwird,undzwarumdieseMachtzustabilisieren. AlsdritterBezugspunktmeinerInterpretationdienendanndieTheoriedesPhantastischenund dierhetorischeKategoriedesWunderbarenundihrEinsatzimKommunikationsprozess(II.4). DabeihandeltessicherneutumeinThema,daszweifelloseinegroßeNähezudenLebensbedin gungen unter dem Zeichen des Kolonialismus besitzt. An dem Roman Die Brücke vom goldenen Horn vonEmineSevgiÖzdamarsollgezeigtwerden,wieElementedesPhantastischenanders gelesenwerdenkönnenalsimRückgriffaufeinen–indiesemFallwirklichfrappierenden–Ori entalismus,dergeradeinderDiskussionumdieVerleihungdesBachmannPreisesanÖzdamar bemerkt werden konnte 20 . Özdamar liefert vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem Thema derKommunikation,geradeimZeichendessen,wasansprachlicherKommunikationnotwendig opakbleibtundsichsomitfüreineÜberbrückungdurchdieKategoriedesWunderbarenanbie

19 MERNISSI 1992,9. 20 JANKOWSKY 1997, 266f,KONUK 1997, 154. 18 tet.DieForschungenStephenGreenblattszugenaudiesemThemawerdendaherfürdieseInter pretationalsAusgangspunktdienen. EinweitererText,dieErzählung LuneetOrian desjungeninFrankreichlebendenundvonder Kritik bisher kaum beachteten Maya Arriz Tamza, soll ebenfalls auf seine phantastischen Ele mentehinuntersuchtwerden.TamzawirdvonAlecHargreavesder littératurebeur zugerechnet 21 , obwohl seine Texte viele der für diese Gruppe normalerweise angesetzten Kriterien gar nicht erfüllen–derAutorerfülltsieebenschon.DerTextTamzaswirdwiederÖzdamarsvonmirauf seine Darstellung von Kommunikationsprozessen hin gelesen. Es wird sich erweisen, dass die intertextuelleBezugnahmeaufden Parzival StoffdabeieinevielversprechendeFährteist. DieTextgrundlage DieKriterienderZugehörigkeitzueiner National literatursinddurchdenKolonialismusunschär ferdennje,denndurchdieAusbreitungdessen,wasmangernepauschalmit„europäischemkul turellenErbe“bezeichnet,istesnahezuunmöglichgeworden,gewisseAutorinnenundAutoren einernationalphilologischenKategoriezusubsumieren–undderStatusderProduktiondieser AutorinnenundAutorenisteinerderInteressenschwerpunktedieserArbeit.MeineAuswahlvon Texten ist dem Fundus entnommen, den die Literaturwissenschaft als interkulturelle Literatur beschreibt 22 .DieseAuswahlkönntefalscheSchlussfolgerungeninBezugaufdashierverfolgte Projektnahelegen,darummüssenvonAnfanganeinigeklärendeÜberlegungenvorausgeschickt werden: 1.DiehiervorgenommeneTextauswahlistnichtdaraufgerichtet,ihreinenrepräsentativen CharakterfürdieGattungbeizulegen.Dasgehtschondeshalbnicht,weilichmitseinenKonsti tutionsregelnnichteinverstandenbin.ImerstenTeildieserArbeitsolldieHerausbildungdieser Gattungbeleuchtetwerden,dasindensiebzigerJahreninDeutschlandnochGastarbeiterliteratur hießunddessenBenennungseitheringeradezuatemberaubenderGeschwindigkeitwechseltbzw. variiert.IchhaltedieseSchwierigkeitenbeiderNamensgebungfüreinAnzeichen,dasseigentlich keinersogenauweiß,warummandieseTexteüberhauptineinereigenenGruppezusammenfas sensoll.IchmöchtemirbeiderdeutschenundderfranzösischenTaufpraxisdieGründeunddie KonstitutionsregelnfürdieseGattunggenaubetrachten.GibtesguteGründe,bestimmteTexte vondervollständigenZugehörigkeitzueinerNationalphilologieauszuschließen?Reichtes,Sibe liusoderPuccinizuhören,umzuwissen,warumbestimmteKulturmerkmalenichteuropäisch

21 Vgl.HARGREAVES 1992,44f. 22 ZudiesemBegriffvgl.WÄGENBAUR 1995,2226. 19 unddamitebenauchnichtdeutschsind,wieLorenzJägerimFeuilletonderFAZbehauptete 23 odersindsolcheÄußerungennurAusdruckeinesseitdemImperialismuszwaroffiziellbeschwie genen,aberstetsvorhandenenkulturellenÜberlegenheitsgefühlsderer,diesichdankihrerpoliti schenVerfasstheitEuropäernennendürfen? 2.Eswirdzuklärensein,wasindiesemZusammenhangInterpretationenleisten,diedie SpracheeinesTextesinsZentrumihrerAnalyserücken.Esist–unddieshabeichobenbeim Zitat Nimades hervorgehoben – ein intuitiv einleuchtender Standpunkt, dass die Sprache ein starkesKriteriumfürdieZugehörigkeiteinerLiteraturzueinerNationalphilologiebildet.Diese ArbeitstehtsolchenHerangehensweisenjedochskeptischgegenüber,dasieGefahrlaufen–im plizitoderexplizit–einernochdazuunbestimmtenVorstellungvonstandardisierterHochspra cheeineTransparenzfürdereneinheimischeSprecheranzuheften 24 .WenneineAutorinwieE mineSevgiÖzdamartürkischeidiomatischeAusdrückeinsDeutschewörtlichübersetzt,istdies dannnäheraneinemstandardisiertenDeutschalswennThomasMannim Zauberberg übermeh rereSeiteneinGesprächinFranzösischzwischenClawdiaChauchatundHansCastorpwieder gibtunddazukeineÜbersetzungliefert 25 ?Mankönntesagen,dasBeherrschenderfranzösischen SprachegehörteumdieJahrhundertwendezudenselbstverständlichenKompetenzeneinerge bildetenSchicht.Dochdamitistschoneingeräumt,dassvieleLeser,diesichmitRechtalsMut tersprachlerfühlen,vondemVerständnisdieserSeitenausgeschlossensind.Außerdemwärezu entgegnen,dasseinebilingualeMinderheit(türkisch/deutsch)genausozurheutigengesellschaftli chen Realität zählt wie eine bilinguale Minderheit (französisch/deutsch) zur gesellschaftlichen RealitätderklassischenModernezählte–wennauchdieseMinderheitimGegensatzzujenerin dengesellschaftlichenMachtzentrenangesiedeltwar.ÜberdiesliefertÖzdamardochzweifellos einedeutscheÜbersetzung,wennsieeineihrerFigurenaufdieFragenachdemBefindenantwor tenlässt:„’Ĭçgüveysindenhallice’,unddasbedeutete,mirgehteseinbisschenbesseralseinem Schwiegersohn,derbeiseinenSchwiegerelternwohnenmuss.“ 26 IchbinimGegensatzzuAzade Seyhan nicht der Ansicht, dass „this tongueincheek signifies a space of verbal untranslatability,andthetranslationbecomesastrangeexplication.“ 27 Esmagsein,dasseinbilin gualerSprechermehrindiesemSatzlesenwird,alsich,derichnurmitderdeutschenÜberset zung vorlieb nehmen muss. Doch die Nebeneinanderstellung dieser beiden Wendungen hat

23 JÄGER 2002,35. 24 Vgl.LARONDE 1996, 712, SEYHAN 1996,420f,KONUK 1997,151.DieseAnsätze,diefürdieInterpretationder interkulturellenLiteraturentwickeltwerden,bleibenallesamtKonzeptionenverhaftet,dieeinerGruppe,derenSpra che,derenKulturetc.einemerkwürdigunaufhebbareEinheitlichkeitunterstellen.DieserAspektwirdimerstenTeil meinerArbeiteingehendbetrachtet,dennerstellteinwichtigesMerkmalderbisherigentheoretischenUmgangsweise mitinterkulturellerLiteraturdar. 25 Vgl.MANN 1924,470482. 26 ÖZDAMAR 1992, 164. 27 SEYHAN 1996,421. 20 durch die extrem unterschiedliche Länge der beiden Ausdrucksweisen auch einen komischen Effekt(undzwarnichtimSinnevon strange ,sondernimSinnevon funny ).DieserEffektistnun abervölligunabhängigvoneineretwaigenungenauenÜbersetzung,dochergehörtebensozum TextwiediesesemantischeUngenauigkeit,dienureinbilingualerLeserfeststellenkann.Warum sollnunaberdereineEffekteinenText,derübermindestenssoweiteStreckenaufdeutschge schriebenistwieeben DerZauberberg ,indemjemand,derFranzösischnichtbeherrscht,vondem Gespräch zwischen Chauchat und Castorp nicht etwa nur nicht jede Nuance, sondern einfach keineinzigesWort versteht,warumsollalsodersemantischeMehrwertfürdendeutschtürkischen ZweisprachlernundieSchaffungeinervölliganderenGattungrechtfertigen?Werwürdeessich anmaßen,wegeneinervielumfangreicherenAbweichungvomStandarddeutschen,den Zauberberg plötzlichnichtmehrvollständigzurdeutschenLiteraturzuzählen,ihmeineSonderstellungzwi schenderdeutschenundderfranzösischenNationalphilologieeinzuräumen?Soabsurdderletzte GedankebeikanonisiertenAutorenwieThomasMannaucherscheinenmag,eristfürAutorin nenwieEmineÖzdamarschonlängstgedachtundhatseineAuswirkungenaufdieAnalyseihrer Texte. DieGründefürmeineTextauswahlliegenalsowederinderenrepräsentativerFunktionfüreine bestimmte Gattung odereinenbestimmten kulturellenHintergrund nochfüreinebestimmte Sprache . Siebesteheneherdarinzuzeigen,dassesgarkeinenzwingendenGrunddafürgibt,nacheiner solchenRepräsentationzusuchen. Abschluss.DerVorwurfdesRelativismus DieEinleitungistsicherauchdiegeeignetsteStelle,umsichgegendeninletzterZeitimöffentli chenDiskurswiedersehrgerngemachtenVorwurfdesRelativismuszuverwahren.Esistzwei fellosundenkbar,vonWertungengrundsätzlichAbstandzunehmenundesistauchnichtwün schenswert,denhistorischenKontext,dieEinbettungdesKunstwerksinZusammenhänge,die nichtunmittelbarästhetischerNatursind,zuvergessen. DochWertungenmüsseneineGrundlagehaben,manmusssichfürKriterienentscheiden,über derenunmöglicheAllgemeingültigkeitmansichdabeinichtimUnklarenseindarf.DieVerant wortung,diesesodereinanderesKriteriumzuwählen,dasmanalsOrientierungfürdieWertun gennimmt,obliegtdabeistetsdemEinzelnen.Ichsehenicht,wasdaranbeliebigoderrelativis tischseinsoll,dennesbleibtverpflichtend,dieeigenenKriteriennichteinfachzusetzen,sondern siezuplausibilisierenundesbleibteineAufgabederRedlichkeit,andereFormenderGewichtung zuakzeptieren.EswirdnotwendigundeinzentralerPunktdieserDiskussionsein,denGedanken

21 derVerantwortung,derhierinliegt,imZusammenhangmitderDiskussionderAutorschaftzu erläuternundzustärken. DemanderenRelativismusvorwurf,demdesKulturimperialismus,mussichaufähnlichdifferen zierteWeisebegegnen.Nichtnur,aberinsehrsinnenfälligerWeise,istesvordemHintergrund deseuropäischenKolonialismusschwergewordenzwischendemzutrennen,waseuropäischist unddem,wasdiesnichtist–imZusammenhangmitdemHybriditätsbegriffwirddieserGedan keausgeführtwerden.Eshilftnicht,denKolonialismuszuleugnenundeinenUniversalismusan seinenPlatzzusetzen,dochdaswirddieseArbeitauchnichtversuchen.Esistnichtuniversalis tisch,literarischeTexteinmehralseinerHinsichtlesenzuwollen,imGegenteil.Eshilftaber auchnichts,Dinge,diewahrscheinlichschonseitdenZeitenKolumbus’–häufigauchgewalt sam,dasmussimmerbedachtwerden–begonnenhabensichzuverbinden,ständigwiederin ihreEinzelteileauseinanderzunehmenunddieZugehörigkeitdereinzelnenElementezueiner nationalenodereuropäischenodersonstigenKulturherauszustellen,dennsiesindnuneinmalin Interaktion getreten. No literature without interference . Die Schaffung einer eigenen Kategorie für dieseWerkebedeutetallerdings,dieseInteraktionhypothetischzubeschränken,bedeutetsozu tun,alsgäbeeseineGruppevonAutoren,dievondieserEntwicklungnichtbetroffenist.Man magfürLeutewieMichaelRoesdannlieberdenTerminus Reiseschriftsteller verwenden,manmag AlbertCamusundPauleConstantaufihrenStatusalspiedsnoirs zurückbinden,mankannnicht leugnen, dass all diese Kategorisierungen letztlich willkürlichen Entscheidungen entspringen, mögenhinterihnenauchdurchausÜberlegungenstehen.Aberüberdiese Überlegungenmuss gestrittenwerden,dennsiesindallzuhäufignichtsalsdieBequemlichkeitdessen,derKonventi onenalsNaturphänomeneausgebenmöchte. Noliteraturewithoutinterference,hencenoidentifiablelit erature .DasBeiwort interkulturell istdeshalbehergeeigneteinebestimmteInterpretationspraxisals einedistinkteGruppevonTextenzubeschreiben.

22

I. Was heißt „interkulturelle Literatur“?

23 I.1 Der Sekundärdiskurs zur interkulturellen Literatur 28 IstderBegriffdes„Gastarbeiters“sinnvollmitliterarischerProduktionzuverbinden?IstimSin nedesGastrechtsdamitzurechnen,dasseinschreibenderGastarbeiterirgendwannwiederver schwindet 29 ?OderwardieIdeedes Gast arbeitersvonAnfanganeineIllusion,einerdervielen Begriffe,diedieVorstellungdesGemeinwesensalshomogeneEinheitstützensollten?DieLite raturgeschichtehatgezeigt,dassSchriftstellerfaktischalsGastarbeiterbezeichnetwurden;sogibt esseitden70erJahreninderBundesrepublikDeutschlandschreibendeMigranten,diestetseine eigene Gruppe jenseits der bundesdeutschen Nationalliteratur bilden, obwohl sie auf deutsch schreiben.DieLiteraturkritikhatsichmitdiesenSchriftstellerinnenseitjeherschwergetan. WelcheArgumentegabesfürdasSchaffeneinerGattung Gastarbeiterliteratur ,diezudemimLaufe derletzten20Jahreständigumbenanntwurde,obwohldieGruppederSchriftsteller,dieunter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden, bemerkenswert stabil geblieben ist. Freilich, es sindneueNamenaufgetaucht,aberausder Gastarbeiterliteratur durftesichniemandmehrverab schieden, bei keiner der zahlreichen Namensänderungen der Gattung. Heute erfreut sich in DeutschlandvorallemderBegriffder interkulturellenLiteratur ,sowieimmernochderder Migrati onsbzw. Migrantenliteratur großerBeliebtheit. InFrankreichistdiebegrifflicheLageanders.DasliegtvorallemanzweiUmständen.Zumeinen sindundwarendieschreibendenMigranteninFrankreichnichtindemMaßeArbeitsmigrantin nenwieinDeutschland.EsgabfürFrankreichkeinÄquivalentzum Gastarbeiter undfolglichauch keine Gastarbeiterliteratur .ZumanderenistFrankreichskolonialeVergangenheitzuberücksichti gen,dieganzandereStrukturenindenkolonisiertenGebietengeschaffenhatalsdiesindenspär lichen deutschen Kolonien der Fallwar 30 . Im Zuge des Prozesses der Entkolonialisierung ent stand so in den ehemaligen französischen Gebieten Nordafrikas eine Littérature maghrébine d’expressionfrançaise .DieunterdiesemLabelzusammengefasstenSchriftstellerinnenschreibenauf Französisch,gehörenmeistzurintellektuellenEliteihrerHerkunftsländer,lebenaberhäufignicht mehr in diesen heute oft von Bürgerkriegen gezeichneten jungen Nationen. Die Literatur der 28 IchgebraucheimVerlaufderArbeitdenBegriff interkulturelleLiteratur sowohlalsÜberbegrifffürdieLiteraturpro duktion von Menschen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen als auch in seiner eingeführten Bedeutung im BezugaufihrendeutschsprachigenTeilbereich.AndenStellen,andeneneineDifferenzierungnötigwird,setzeich imzweitenSinne deutschsprachig bzw. indeutscherSprache hinzu. 29 Vgl.zumGastrechtPITT RIVERS 1977,94112. 30 DieseUnterscheidungbeziehtsichdabeinuraufdieArtderMigrationunddesdirektenKolonialismus’.Dabeisoll keineswegsinAbredegestelltwerden,„dasssichdiePhänomenekolonialerKulturkeineswegsaufdievermeintlich kurze und folgenlose Episode der politischen Kolonialmacht des Deutschen Reiches beschränkten“ (HONOLD /SIMONS 2002,10).AlexanderHonoldundOliverSimonsisthingegenzweifelsohneindemBefundzuzu stimmen,dasssichDeutschlandausseinerhistorischenSituationherauszwarhäufigalskolonialkritischgerierte,dies aberhauptsächlichdeshalbgeschah,umeinegrößerenAbsetzungdenanderenkolonialenImperiengegenüberzu gewährleisten.Diesbedeutetallerdingsnicht,dassdie„deutscheKulturmacht“esdeshalbweniger„aufdieEtablie rungeinerüberseeischenHegemonie“abgesehenhätte.NurdieStrategienwarenverschieden. 24 arabischstämmigen Einwanderer nach Frankreich ist jüngeren Datums und wird seit den 80er JahrenunterdemÜberbegriff Littératurebeur behandelt.SiespeistsichausdemSchaffenmeist männlicher, junger Schriftsteller, die oft nur ein einziges, autobiographisch gefärbtes Buch ge schrieben haben und die zum Großteil nicht zur intellektuellen Elite gehören, sondern unter schwierigensozialenBedingungenaufgewachsensind. In diesem Kapitel möchte ich nacheinander den Zuschnitt der drei genannten Literaturen be trachten,dennausihnenwirdspätermeineigenesKorpuszusammengesetzt.Dazuwerdenso wohl einflussreiche Texte der Sekundärliteratur analysiert als auch programmatische Texte der Literatenselbst.IchbeschränkemichdabeiaufTexte,dieüberblickshafteDarstellungenliefern undverzichteindiesemKapitelaufspezielleBetrachtungenzueinzelnenliterarischenTexten.Es wirdsichallerdingszeigen,dassgeradediewissenschaftlichenTextesehrinduktivangelegtsind, d.h.vomBeispielausgehendzuallgemeinenAussagengelangen,ohnediesedannwiederaneiner umfangreicherenTextmengezuprüfen–einVorgehen,dasichnichttadle,dasaberdemAn spruchderumfassendenBeschreibungeinerklarumrissenenGattung interkulturelleLiteratur wi derspricht.AlsArbeitshypothesesollgelten,dassSchriftstellerinnenmiteinembestimmtenethni schen Hintergrund sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die volle Zugehörigkeit zur französischen oder deutschen Nationalliteratur verweigert wird. Es ist dabei selbstverständlich auch die Kehrseite dieses Arguments zu beachten, nämlich dass eine solche Abspaltung und SonderbehandlungimZeicheneinergewährtenodervondenSchriftstellernselbstgeforderten kulturellenAutonomiestattfindet.DiewesentlichenArgumentefürdenZuschnittderGattung interkulturelle Literatur liefern erstens die Biographie der Autoren sowie zweitens die Thematik ihrerTexte,wobeidieTextanalysenimzweitenTeilmeinerArbeiterweisensollen,dassgerade diesesKriteriumextrembetrachterabhängigist.Andersgesagt:DieInterpretenderinterkulturel lenLiteraturfindenstetsvorallemElemente,dieimweitestenSinnemitMigrationoderkulturel lerAlteritätzutunhaben,weilsienachnichtsanderemsuchen. Leider fehlt ein Diskurs, der die interkulturellen Literaturen von Frankreich und Deutschland miteinanderverbände.DiegesamteSekundärliteraturbleibthier–erstaunlicherweise,dennim merhingehtesjaumInterkulturalität–sehrnationalspezifischundversuchtnicht,dieuntersuch tenElementeanLiteraturvonMigranteninderganzenWeltnachzuvollziehen.Auchdiesbezüg lichbetrittmeineStudieNeuland.Eswirdsichzeigen,dassdiejeweiligenliteraturwissenschaftli chenDiskursederbeidenLänderzuihrenjeweiligen„Migrationsliteraturen“weitgehendgleich funktionieren und dies trotz aller Unterschiede der migrationsspezifischen Entwicklung in den jeweiligenLändern.

25 Gastarbeiterliteratur–Migrantenliteratur–interkulturelleLiteraturindeutscherSprache DieseArbeitmusssichvonAnfanganmitdemEinwanddesKulturimperialismusauseinander setzen.Warum,sokannmansichzurechtfragen,solltedieliterarischeProduktionvonMenschen mitMigrationshintergrundnichtimZusammenhangmitihrenkulturellenHintergründengelesen werden?BedeutetdieAbweisungeinessolchenZugangsnichteinewestliche,hochmütigeForm dergeistigenKolonisation?UndnimmtdiesdenTextennichtihresubversiveKraft 31 ?DieAnt wortistebensoeinfachwievielschichtig:weilLiteraturnichtaufdieAutorenzureduzierenist; weileinesoziopolitischeInterpretation,sofernsiedieeinzigebleibt,denbetreffendenTextauf einen seiner Aspekte reduziert; weil es persönlich und ästhetisch gesehen eine Diskriminierung darstellt, einen Autor stets ausschließlich auf seinen sozialen oder ethnischen Hintergrund zu rückzubinden.DochauchwennmandieseEinwändegegeneineEinteilungvonLiteraturnach sogenanntenkulturellenKriterienakzeptiert,bleibtdieangestrebteUntersuchungheikel,dennes istnichtvonderHandzuweisen,dassesTextevonAutorenderinterkulturellenLiteraturgibt, diegenaudieserEinteilungentsprechen. AmAnfangderinterkulturellenLiteraturdeutscherSprachestehtsou.a.einText,indemzwei exponierte Schriftsteller dieses Zweiges der deutschen Literatur 32 gerade den soziopolitischen AnspruchihresSchaffensanmeldeten.Die LiteraturderBetroffenheit ,dieFrancoBiondiundRafik SchamiindiesemTexttitelgebendskizzieren,machtegroßeKarrierealsMuster,nachdemdie– imUntertitelvonBiondiundSchamiselbstsogenannte–GastarbeiterliteraturinderFolgezeit rezipiertwurde.AufdiesenTextvon1981beziehtsichdieSekundärliteraturmehroderweniger durchgängigalsaufdasersteausgearbeiteteProgrammderMigrantenliteratur 33 . BiondiundSchamibeschreibeninihmdieGastarbeiteralsMenschen,diemeistaussüdlichen LändernunddortausländlichenGebietenkommen 34 .DahererlebtendieseinderBundesrepu blikeinen„Bruch,dennsiewerdenineinefestgefügte,aufeinemanderenStandderEntwicklung sichbefindendeKulturhineingeworfen“(BIONDI /SCHAMI 1981,124).FragenderIdentitätseien somit wenig überraschend das beherrschende Thema der aufkommenden Gastarbeiterliteratur. 31 „Butdoesn’topennesstootherness,itsgeneralacceptance,carrywithitthedangerthatminoritieswillbegiven theirplacewithinsocietyandbeabsorbedintothedominantculture?Doesn’tacceptanceimplyincorporationof‘the Other’?”fragtz.B.HeidrunSuhr(SUHR 1989,73f). 32 DennalssolchenmöchteichdieinterkulturelleLiteraturdeutscherSprachevorerstmindestensbetrachten,wobei derDuktusdieserArbeitdaraufzielt,dieAbgrenzunginsgesamtalswissenschaftlichnichtplausibelzuentlarven. ZeichenderAusgrenzungsindz.B.ihrevollständigeAuslassunginweitverbreitetenPublikationenwiedemKLL. Der Littératuremaghrébined’expressionfrançaise isthiereineigenerEssaygewidmet,erfolgreichedeutschschreibende, abernichtdeutschstämmigeSchriftstellerinnenwieEmineSevgiÖzdamarhabennichteinmaleineneigenenEintrag. 33 Vgl.z.B.WEINRICH 1984,21,SEIBERT 1984,44,NELL 1998,41. 34 ZAPTÇIOGLU 2003bestreitet,dass„dieerstentürkischenGastarbeiter[...]Analphabetenausdenrückständigsten ländlichenGebieten[waren]“undsiefährtfort:„BevorsienachDeutschlandkamen,hattensieofteineinländische Migrationhintersichgebracht[...].DiePionieredertürkischenMigrationindieIndustriestaatendesWestenswaren dieMutigstenundMobilstenihrerGeneration.“ 26 Die Arbeiter, so Biondi und Schami, waren ökonomisch gezwungen, die Heimat zu verlassen, wurdenausihrgeradezuverjagt,sodassdieseHeimatsehnsuchtsvollbetrauertundausderFerne mitidealen, idyllischenZügenversehenwurde(125).DieangeworbenenArbeiterbrachtendie Vorstellung mit, nach einigen Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren. Diese Vorstellung erwies sich in vielen Fällen als trügerisch. Dies ging Migranten in vielen Ländern so, doch in DeutschlandkameineBesonderheithinzu:ihrestetigeBedrohungdurchdasbesondersrestrikti veAusländerrecht.ImGegensatzzuderMigrationssituationz.B.inamerikanischenStaaten,blie benMigrantinneninDeutschlandstetsauchrechtlichFremde.DortwiehierbliebdieDiskrimi nierung, doch nur in Deutschland war dieser Bedrohung noch die der Ausweisung beigefügt (126) 35 . In dieser Diskriminierungs und Ausbeutungssituation sehen Biondi und Schami den Schnitt punktzurArbeiterbewegung:„DieersteAufgabederGastarbeiterliteraturliegtgeradeimKampf gegendieaufgezwungeneTrennunguntersichundzwischenihnenunddendeutschenArbei tern“ (128). So ist auch das Stichwort der „Betroffenheit“ zu verstehen, das Harald Weinrich zusammengesetztsiehtausderSemantikderVerwaltungsspracheundderjenigeneiner„bestimm tenreligiösenoderquasireligiösenErfahrung“(WEINRICH 1984,21).DieseMischungvonadmi nistrativerundexistentiellerBetroffenheitmachterals„fürdaspolitischeBewusstseinderBun desrepublik charakteristisch“ aus und bezeichnet deshalb die Gastarbeiterliteratur als „in ihrer innerstenliterarischenSubstanz,zuihremVoroderNachteil,deutsch“(22). WieauchimmermanzudieserletztenEinschätzungstehenmag,festzuhaltenistdieKonzeption derGastarbeiterliteraturalsexplizitpolitisch,miteinemAkzentaufder Arbeiter literatur,diedas verbindende Element zwischen Arbeitern deutscher und nichtdeutscher Herkunft herstellen soll 36 .GenauindieserAffinitätzurArbeiterklassebestehtfürBiondiundSchamiauchderUnter schiedzurEmigrantenund,dieimmernurEinzelne,nieeineganzeKlasseumfasst habe.MankannimAnschlussdarandemTerminusderBetroffenheitnocheinekollektiveRele vanzbeifügen. LiteraturderBetroffenheit bedeutetimmeraucheinenliterarischenAusdruckderUn

35 EinenÜberblicküberdieEntwicklungdesAusländerrechtsinDeutschlandgibtD’AMATO 2000.Einführungenin MigrationsgeschichteundrechtlicheProblemevonAusländerninDeutschlandsindimübrigengängigerweiseTeil vielerPublikationenzurinterkulturellenLiteratur,soauchhier.DergenannteArtikelbefindetsichimHandbuch InterkulturelleLiteraturinDeutschland ,herausgegebenvonCarmineChiellino,ExponentderGruppe Südwindgastarbeiter deutsch undMitbegründerdes PolynationalenLiteraturundKunstvereins(PoLiKunst) .EinweiteresBeispielfüreinensol chenÜberblickistSUHR 1989,76f.SuhrlässtimfolgendenauchkeinenZweifeldaran,dass„thefactthatthereisa literaturebyforeignersintheFederalRepublicisstillasociologicalphenomenon“(97). 36 SigridWeigelhatdaraufaufmerksamgemacht,dassSüdwindgastarbeiterdeutsch sichschon1983in SüdwindLiteratur umbenannten,umdamitdenalsproblematischempfundenenBezugzurArbeiterklasse,denendiemeistenderin dieser Gruppe organisierten einfach nicht angehörten, aufzulösen. Nichtsdestoweniger verstand sich die Gruppe weiterhinalspolitischundwarweiterhininternationalgeprägt,vgl.WEIGEL 1992,210f;zudiesemWiderspruchvon ZusammensetzungundBenennungderGruppevgl.auchTERAOKA 1987,83. 27 terdrückungssituationeinerganzenGruppe 37 .DieseGruppeistimFallevon Südwind gastarbeiter deutsch ,derenGründungsmanifestderTextBiondisundSchamisdarstellt,ausdrücklichinternati onalangelegt,eineTatsache,diesievonderbisherigenTraditionderexilliterarischenGruppen bildungabhebt,„derTraditionnämlich,dasshöchstensnationaleZusammenschlüssevonLitera ten entstanden, die in eigener Sprache für ihre Landsleute schrieben.“ (BIONDI /SCHAMI 1981, 129)DieAufgabeeinerGastarbeiterliteratur,der Südwindgastarbeiterdeutsch einePlattformbieten soll,bestehtnungeradedarin,„kontinuierlich,dasWortderGastarbeiterindieÖffentlichkeitzu bringen“(130)undalso–inAbwandlungderberühmtenFrageGayatriSpivaks: Canthesubaltern speak? –denSubalternenzueinerStimmezuverhelfen. FormalistdieGastarbeiterliteraturlautBiondiundSchamieinExperimentierfeld.DieMehrheit derAutorensindkeine„eingeweihtenLiteraten“(130).VielfachsuchtendiesedarumVorbilder in dervolkstümlichen Erzählkultur ihrer Herkunftsländer. Die ästhetische Dimension trete bei derGastarbeiterliteraturhinterdiepolitischezurück.DieseLiteraturkönnezwar„keineRezepte liefern,abersiekanndieVerhältnissebloßlegen,unterdenendieGastarbeiterlebenund‚unter deneneinMenschzumGastarbeitergemachtwird,damitsieaufgehobenwerdenkönnen.’“(133) MiteinemseltsamunscharfenKulturbegriffbeschreibensiedieKulturderGastarbeiteralsden einzigenOrt,indemdiesenochHaltfindenkönnen,umihreEigenständigkeitundihreIdentität zusichern. BiondisundSchamisProgrammgibtsoeinMustervor,andemsichinderFolgediemeisten Interpretationen abgearbeitet haben. Dabei sind vor allem zwei Punkte hervorzuheben: Zum einenwirdinterkulturelleLiteraturmeist–wasihreimplizteÄsthetikbetrifft–aufpopuläreTra ditionenrückbezogen.DieserZusammenhangleitesich,sowirdargumentiert,ausderBildungs fernederAutorenher.Diesekannaber,wieichangemerkthabe,nichtsoohneweiteresalsge geben angenommen werden. Doch für Biondis und Schamis Argument ist diese geringe In struiertheitentscheidend.SiebehauptendabeiallerdingskeinewirklicheTraditionalitätderTexte, sondernseheninihnennur Einflüsse ausvorwiegendvolkstümlichenQuellen. ZumanderenwirdständigeineVerbindungvonKunstundLebenpostuliert,dieinderBetrach tung„herkömmlicher“NationalliteraturenlängstkeinesoprominenteRollemehrspielt.DieFra gen nachVerwurzelung,(nationaler) Identität oderIdealisierung des Heimatlandeswerdenwie selbstverständlich als zentral für jeden Text der interkulturellen Literatur angenommen. Aller dingsfordernBiondiundSchamiinklassischmarxistischerTraditioneineInternationalisierung derLiteraturunddamitgeradekeineethnischePartikularisierung.SielegendenAkzentaufdie nationenübergreifendeProblematikvonökonomischerAusbeutungundpolitischerMarginalisie 37 AndieserStellewirdschondieWeichezumKonzeptder littératuremineure sichtbar,dieeifriggenutztwordenist. Vgl.dazuunten,Kap.I.2dieserArbeit. 28 rung.WichtigistfürsieaußerdemdieNutzungderdeutschenSprachealslinguafranca 38 .Auch diesesDetailunterstreichteherdeninternationalenZuschnittihrerBestrebungen 39 . GeradedieserletztePunkterwiessichalsungemeinschwierigfürdieRezeptionderinterkulturel lenLiteraturaufwissenschaftlicherEbene.DasmöchteichandererstenbedeutenderenPublika tiondemonstrieren,diesichganzdemThemaderdamalsnochsogenanntenGastarbeiterliteratur widmete:demHeftNummer56der ZeitschriftfürLiteraturwissenschaftund Linguistik ,dasimJahr 1984erschien.HaraldWeinrichführt–dieseNummereinleitend–vor,wieschweresoffenbar ist,übereineLiteraturzuschreiben,derenEingrenzungentlangethnischerKriterienmaneigent lich nicht vertreten kann und möchte. Er stellt zunächst fest, dass „die deutsche Literatur der GegenwartnichtmehralleinvonDeutschengemachtwird“(WEINRICH 1984,12).SeinKriteri umfürdeutscheLiteraturscheintdabeizunächstdiedeutscheSprachezusein,dochbesprichter dannrelativausführlichdieTexteArasÖrens,einesSchriftstellers,derzwargängigerweisezur interkulturellen Literatur gerechnet wird, aber auf Türkisch schreibt. Dieser Sachverhalt führt Weinrichdazu,Örennur„miteinergewissenEinschränkungimZusammenhangmitderdeut schen Gastarbeiterliteratur“ zu sehen (13), und ein weiteres Kriterium für diese Literatur an zugeben. Nach Weinrich haben die Texte Örens nämlich ihr „eigentliches Lesepublikum in Deutschland“, da sie sowohl von Deutschland handeln, als auch hier spielen. Diese Aussage machtnachdenklich,dennplötzlichargwöhntdieLeserin,sieseivielleichtfürdiesohochge schätzteNewYorkTrilogy oderfürdie TalesoftheCity ,dieüberfünfzehnJahreundmehrereBände hinwegdasfiktiveLebenihrerProtagonisteninSanFranciscoschildern,nichteigentlichAdressa tingewesen.DieliterarischgebildeteRezipientinwirdsichallerdingsschnellwiederberuhigen, dennsiehatschondavongehört,dassrealeOrteinderLiteraturfiktionalisiertwerdenundsomit nichtmitihremgleichnamigenReferenteninderWirklichkeitgleichzusetzensind–fallsesihn überhauptgibt,wasjanichtinallenliterarischenTextenderFallist.DieseGleichsetzungvon LebeninderLiteraturundvonLebeninderWirklichkeitist,solässtsichmutmaßen,direkter AusdruckeinerLiteraturkonzeption,dieinSelbstundFremdbeschreibunggeradedieseGrenze einzureißenversucht.UndvondieserRealisierungdesfiktionalenRaumeswerdendannundiffe renziertalleTextevonaufDeutschschreibendenAusländernerfasst. Außerdem insinuiert Weinrich die merkwürdige These, dass man einem Text die Nationalität seinesAutorsansehe,oderwiesonstistseineBeschreibungvonAkifPirinççisErstling Tränen sindimmerdasEnde zuverstehen:„DiesemRomanmerktman,außerineinpaargelegentlichen

38 Vgl.BIONDI /S CHAMI 1981,134. 39 Gerade diese Internationalität war der Hauptkritikpunkt vieler Wissenschaftlerinnen am Ansatz Biondis und Schamis,dennsiewurdealseinZeichendafürgesehen,dassdieMigrantenalsundifferenzierte,homogeneGruppe konzipiertwurde,vgl.hierzuADELSON 1990,70;SheilaJohnsonsprichtdiesbezüglichvonden„pitfallsof Betroffen heitsliteratur “,JOHNSON 2001,50. 29 Bemerkungen,kaumnochan,dassseinVerfasserkeinDeutscherist.[...]WasistandiesemRo mantürkisch?“(16).Manmöchtezurückfragen:Wiesoistdaswichtig?Weinrich,sowillesschei nen,trautsichnicht,diesesElementderSelbstbeschreibungderGastarbeiterliteraturlinksliegen zulassen.ErbefreitdiekulturelleProduktion,diefürBiondiundSchamiderOrtderIdentifizie rungdesMigrantenwar,nichtvondieserüberflüssigenKategorie,sondernhältesfüropportun, aufdasFehleneinerethnischenMarkierung,diesonstfürkeineLiteraturautomatischangenom menwird,eigenshinzuweisen.WegenseinerinternationalenTendenzenistdieseSichtweisenicht einmalzweifelsfreimitdemProgrammderbeidenMitinitiatorenvon Südwindgastarbeiterdeutsch zu begründen. AuchPeterSeibertbeziehtsichimangeführtenHeftder LiLi inseinemÜberblickzudenkon zeptionellenAnsätzender„Ausländerliteratur“–einTerminus,denerzunächstalsdenneutrals tenunddeshalbgeeignetstenbezeichnet(SEIBERT 1984,41),denerdannabergarnichtdurch gängigbenutzt–starkaufBiondiundSchami.Bemerkenswertist,dasserinseinemfürdieBe sprechung von interkultureller Literatur typischen Überblick über die rechtliche Situation der sogenannten Gastarbeiter deren „Anspruch auf kulturelle Betätigung“ (41) hervorhebt. Diese Bemerkungdemonstriert,wieumfassendderRaumist,dendieschiereTatsachederLiteratur produktion von Menschen mit Migrationshintergrund in wissenschaftlichen Texten einnimmt, diesichdocheigentlichumdieliterarischenTexteselbstkümmernwollen.BeiSeibertwirddie LiteraturzumSchauplatzeinergesellschaftlichenUtopie.DieIntegrationwirdinderFiktionmit künstlerischen Mittelnverwirklicht,wo sie in derWirklichkeitmit politischen Mitteln scheitert (43f).MitBezugaufeinenanderenTextvonBiondiwirdherausgestellt,dassdiebundesrepubli kanischeLiteraturvonMigranten„nichtinersterLiniedieästhetische,sonderndie‚stoffliche’ BeziehungzuraußerliterarischenWirklichkeit“fordert„undmansichvondieseröffentlicheRe levanzerhofft“(47).DieserEinschätzungliegtderTrugschlusszugrunde,dasspolitischeRele vanznuraufdirektemWegzuerreichenist.EswirddieKontroversezwischenÄsthetizismus undNaturalismusaufgerufen.Der„bewusste[]VerzichtaufästhetischenAnspruch“solldarüber hinaus„einemöglicheVerweigerungsstrategiegegenüberdenWertungsinstanzenderliterarischen Öffentlichkeit“darstellen(47).ÄsthetikwirdkünstlichineinendiametralenGegensatzzupoliti schemAnspruch,alternativenWertigkeitenundöffentlicherRelevanzgebracht.Siewirdaufdie extremePositiondes l’artpourl’art verkürzt,dieihrso–zumindestfürdieLiteratur–nurim KontexteinesTeilsderklassischenModernezukommt.ÄsthetischerAnspruch,sokönnteman diesesVorurteilzusammenfassen,lenktvonpolitischenInhaltennurabundistdeshalbmitdie sennichtzuvereinbaren. In diese Reihe passt auch dieVorstellung,Autorinnen der interkulturellen Literatur seienVer mittlerinnenzwischenKulturen.DiesemRasterentsprichtbesondersgutderimmerwiederge

30 nannteYükselPazarkaya 40 ,dernichtzuletztalsÜbersetzertürkischerLiteraturhervorgetretenist (53f).DiesesFunktionalisierungsargumentschriftstellerischerArbeitvonMenschenmitMigrati onshintergrundverweistaufdiegesellschaftspolitischeBedeutung,dieinterkulturelleLiteraturfür mancheoffenbarvorallemhabensollte:DievorbildlichstenVertreterderinterkulturellenLitera tursindauchnochKulturvermittler 41 . IndiegleicheRichtungführtdieArgumentationIrmgardAckermanns,wennsiedie„Darstellung des‚Anderen’inder‚Ausländerliteratur’“untersuchtunddasGanzemit„Deutscheverfremdet gesehen“betitelt(ACKERMANN 1996,211).Der„Andere“istindieserPerspektiveder„Deut sche“.EtwasanderesscheintfürAckermanninder Ausländerliteratur nichtvorstellbar.DieseFra geperspektiveisttypischfürdenSekundärdiskurs:DieAutoren,sodashiervorgebrachteArgu ment,machenErfahrungenmitdemAkkulturationsprozess,alsomussmaninihrenTextennach derThematisierungdieserErfahrungensuchen.EineeventuelleAbsenzdiesesMotivswirddabei alseigeneFormderDarstellungdesFremdenidentifiziert 42 ,sodassdieinterkulturelleLiteratur demihrallgemeinunterstelltenKulturkonfliktgarnichtentkommenkann. IchmöchtedenBlickdafürschärfen,dassdieseFrageperspektivenichtselbstverständlichist.Bei TexteneinesbeliebigendeutschenExilliteratenwürdeniemandaufdieIdeekommen,zuerstzu fragen,wieinihnendieAkkulturationthematisiertwird.Demkönnteentgegengehaltenwerden, dassvieleTextederinterkulturellenLiteratur explizit kulturelleDifferenzenthematisieren.Doch istdieskeinArgumentfüreinesogelagerteVerkürzung.AucheinThema( sujet )istnichtsalseine bestimmteFunktioneinesTextes 43 .DahermöchteichdiesemEinwandmitderFrageFoucaults begegnen:„comment,selonquellesconditionsetsousquellesformesquelquechosecommeun sujetpeutilapparaîtredansl’ordredesdiscours?“(FOUCAULT 1969,810f)Wederbedeutetdas NichtAuftaucheneinesbestimmtenMotivsseineUnbrauchbarkeitfürdieInterpretation,noch bedeutetseinVorhandenseindiezwingendePerspektivierungderInterpretationaufdiesesMotiv hin. Nichts davon hat mit Verdrängung oder Bewusstmachung kultureller Fremdheit (ACKERMANN 1996,217)zutun.DasseinebestimmteSichtweisezueinerbestimmtenZeitbevorzugtwird,ist vielmehr ein Diskurseffekt. Ein Thema ist nicht mit einem Text amalgamiert. So naheliegend gewisseMotiveeinebestimmteDeutungscheinbarmachen,esistinvielenFällenmöglich,eine

40 ZurRollePazarkayasalsVerfechter„ofthegrandGermantraditionoftheEnlightenment,ofHerderandhistori cism,ofGermanidealismandGermanclassicism“(86f)inder Gastarbeiterliteratur ,vgl.TERAOKA 1987,85ff. 41 Diese Forderung wurde auch in Frankreich lange Zeit wiederholt, wie ich weiter unten anhand der Analysen CharlesBonnsnochausführenwerde,derfürdiesenSachverhaltdenTerminusder commandeimplicite geprägthat,den ichindiesemSinnegebrauchenmöchte. 42 Vgl.ACKERMANN 1996,213und216ff. 43 Vgl.FOUCAULT 1969,810f. 31 ebensoplausibleandereInterpretationvorzunehmen,ohnedieentsprechendenMotivezuigno rieren 44 . SigridWeigelist1992soweitichsehedieerstegewesen,dienacheinemkonzeptionellenAusweg ausderAporie,der–vonihrsogenannten–Migrantenliteratur gesuchthat.SielegtdenFingerauf dieSchwierigkeit,diesichausdempolitischenAnspruchdieserLiteraturergibtunddieGefahr birgt,dassdieliterarische„ProduktionlediglichalsBeiwerkpolitischerManifestationenrezipiert“ wird(WEIGEL 1992,212) 45 . WeigelsBeitragin HansersSozialgeschichtederdeutschenLiteratur istinsoferneinSchrittindierichtige Richtung,alshierunterdemStichwort LiteraturderFremde nichtnurdieProduktionvonAuslän dernverhandeltwird,sondernauchdieliterarischenBeiträgevonDeutschen,dieüberdie/das Fremdeschreiben.FreilichbleibendiesebeidenAspekteinWeigelsAufsatzsäuberlichvoneinan der getrennt und freilich ist auch bei diesem Zuschnitt eine Orientierung an den Inhalten zur KonstitutionderGattungfestzustellen,dieichnichtfürsinnvollhalte.Dochesmussberücksich tigt werden, dass ein Artikel in der genannten Reihe naturgemäß einen literatursoziologischen ZuschnittaufweistundWeigelsAnsatzdennochsehrvielmehralsfrühereBeschreibungen,die keinenausdrücklichsoziologischenSchwerpunkthatten,dieProblematikerkennt,diemitdieser engen konzeptuellen Bindung einer bestimmten Literatur an die „gesellschaftliche Wirklichkeit“ verbundenist.SiebenenntdieGefahrdesPaternalismus,diemitjederöffentlichenUnterstüt zung der interkulturellen Literatur verbunden ist, sei sie wissenschaftlich oder politisch 46 – die automatischeEngführungvonsozialenPhänomenenundliterarischerProduktionvonMenschen mitMigrationshintergrundprovozierenachgeradepaternalistischeGesten. ObwohlsiedemnachdieskizzierteProblematikinderHerangehensweiseandieinterkulturelle Literaturwahrnimmt,fokussiertauchWeigelihreVorstellungaufMotivewieMigration,Interkul turalität, Traditionalismus oder Identitätsfindung, denen sie in den literarischen Texten nach spürt 47 .Esistihrnichtzuzustimmen,wennsiebehauptet,dieLiteraturderMigrantenselbstdro he„unterdemBergder‚über’Textezuverschwinden“(216).Abgesehendavon,dassichdieser EinschätzunginderSachenichtzustimmenkann,dennesgibtwahrlichTexte,überdieeineum fangreichereSekundärliteraturvorhandenist,kanneigentlichnurbeklagtwerden,dassdieAnaly se der Texte auf der Stelle tritt und sich nicht aus dem ethnischen, sozialen und politischen

44 Vgl.zurpraktischenUntermauerungdieserTheseTeilIIdieserArbeit. 45 AuchsieführthieralsBeispielArasÖrenan,dersichschonfrühgegendieseeinseitigpolitischeInstrumentalisie rungseinesSchaffenszurWehrgesetzthabe. 46 Vgl.WEIGEL 1992,214. 47 DabeiwirddieinhaltlichgeprägteGliederungsmatrixallerdingszumSelbstläufer.ÜberdieSatireninasiDikmens sagtWeigelz.B.folgerichtig,sieblieben„inhaltlichaufdieselbenThemenundTopoiwiedieübrigeMigrantenlitera turfixiert“(220). 32 Dunstkreisfortbewegt.Alternative LesartenderinterkulturellenLiteratursindauch zehnJahre nachWeigelsZwischenbilanznochMangelware. WernerNellproblematisiertinseinerBetrachtungder Migrantenliteraturerneutstarkdiepolitische DimensiondesBegriffs.„PassbesitzschafftwedereineliterarischeGattungnocheinenStil,nicht einmal zur inhaltlichen Eingrenzung kann ervernünftigerweise herangezogenwerden“ stellt er grundsätzlichfest(NELL 1998,37).SchonderBegriffselbstvernachlässigtdemnachdieästheti scheDimensionderunterihnsubsumiertenTexte,sodassdieDominanzderpolitischenLesart nichtverwundernkann.EinethematischeEingrenzungdesBegriffsistfürNellallerdingsauch nichtsinnvoll,dennwederschreibenalleMigrantenausschließlichüberihreMigrationserfahrung, nochkannmanbehaupten,dassdiesesThemainliterarischerProduktionDeutscherohneMigra tionshintergrundnichtvorkämeundalsoalsMerkmaldienötigeTrennschärfebesäße(38). InderFolgenimmtNelleinenFadenwiederauf,denschonHaraldWeinrichgesponnenhatte. WeinrichhattedieinterkulturelleLiteraturtheoretischmitViktorŠklovskijsbekannterThese,die poetischeSprachemüssemitHilfevonBilderndiealltäglicheSemantikverfremdenundentau tomatisieren,inVerbindunggebracht:„ZieldesBildesistnichtdieAnnäherungseinerBedeutung anunserVerständnis,sonderndieHerstellungeinerbesonderenWahrnehmungdesGegenstan des,sodasser‚gesehen’wird,undnicht‚wiedererkannt’“(ŠKLOVSKIJ 1916,25) 48 .DieguteIdee WeinrichsundNellsbestehtdarin,dasElementderFremdheitpoetologischundnichtinhaltlich zu konzeptualisieren. Nell tut dies seinerseits im Rückgriff auf Cassirer, der Kunst nicht als „NachbildungeinervorgegebenenWirklichkeit“beschreibt,sonderninAbgrenzungvonsolchen reinmimetischenKunstvorstellungendiefolgendeCharakteristikgibt:„SieisteinerderWegezu einer objektiven Ansicht der Dinge und des menschlichen Lebens. Sie ist nicht Nachahmung, sondern Entdeckung von Wirklichkeit“ 49 . Nell fasst diesen Gedanken folgendermaßen zusam men: „Fremdheit erscheint hier also nicht als soziale Tatsache oder persönlichbiographische Erfahrung,diederAufarbeitungbedarf[...],sondernalseineFormjenerInterferenzerfahrungen, die das Gewebe der Kultur selbst ausmachen und die gestalten zu können die grundlegende FunktionderKunstdarstellt.“(NELL 1998,38)DerBegriffderMigrantenliteraturerweisesich nurinpolitischsozialerHinsicht,nichtaber„alsliteraturwissenschaftlicheKategorieoderText sortenbestimmung“ als nützlich (39). Dazu passt, dass Nell die vier Strukturen, die er in der Migrantenliteraturausmacht,amEndenichtaufdiesebeschränkenwill,sondernfeststellenmuss, dasssiezuden„allgemeinenStrukturen“gehören,diejedeArtschönerLiteraturauszeichnen.“

48 Vgl.dazuauchWEINRICH 1983,918. 49 CASSIRER 1944,220.DieEinschätzungderKunstals einerobjektivenAnsichtderDinge weistdabeiaucheineParallele zuGeorgSimmels ExkursüberdenFremden auf.DieserbeschreibtdenFremdengeradealsobjektivundmeintdamit dessenUnabhängigkeitvondenFestgelegtheitenderGruppe,seineBeweglichkeit;vgl.SIMMEL 1908,766f). 33 (46)NellsBestimmungsarbeitführtalsoletztenEndeszueinerAuflösungderGattung,daser docheigentlichnurbeschreibenwollte. DochdieAuflösungwurdenichtvollzogen,ganzimGegenteil.ImJahre2000erschienimMetz lerVerlagein500SeitenschweresHandbuchzurinterkulturellenLiteraturinDeutschland.Von derStrukturherbringtesnichtswirklichNeues:EswirdmiteinemÜberblickzuMigrationund der sozialen und rechtlichen Stellung von Migranten in Deutschland eingeleitet und orientiert sichauchimAufbaudesliteraturwissenschaftlichenTeilsandenhierbereitsproblematisierten GrößendesAutorsundderHandlung/Thematik 50 .AllerdingsführtCarmineChiellinoeinweite resElementein,dasichhierzumAbschlussnochdiskutierenmöchte.Ersprichtnämlichvon der zentralen Kategorie der interkulturellen Authentizität, die die interkulturelle Literatur von anderen Literaturen unterscheide. Chiellino scheint den Begriff der Authentizität für relativ un problematischzuhalten,dennerdefiniertihnankeinerStelle.Deutlichwirdnursoviel: interkultu relle LiteraturstehtfürChiellinoinOppositionzueiner monokulturellen Literatur.Erstere,sowäre zuvermuten,erlangtdurchdieEinblicke,diederAutoroderauchderInterpretindieFunkti onsweisevonmehrerenKulturenhat,dieFähigkeitzueinerAuthentizität–desAusdrucks?der Erkenntnis?–diejemand,deraneineeinzelneKulturgefesseltist,indieserWeisenichterzeugen kann.DieserwirdimmerineinerbestimmtenPerspektive,meistinderderMehrheitskultur,auf Texteblickenbzw.dieseproduzieren. ChiellinosKonzeptistdabeinichtanderkulturellenKompetenzderAutorenorientiert,sondern anderSprache.SchonhieristdieUnterscheidungnichtmehrscharf,dennChiellinogibtkeinen Anhaltspunktdafür,wiezwischender„kulturelle[n]AndersartigkeitderStandorte,derFiguren oderderVerfasser/innen“unddemeigentlichen„OrtderLiteratur“,nämlichderSprache,sau berdifferenziertwerdenkann(CHIELLINO 2000,391).Die„dreiinnovative[n]Komponenten“, dieeingenuinesWerkderinterkulturellenLiteraturauszeichnen–dasProjekteinesinterkulturel lenGedächtnisses,diedialogischeZusammensetzungderSpracheunddiePräsenzeinesinterkul turellenGesprächspartnersalsLesernebendemimplizitenLeserausdereigenenKultur(395)– helfennichtweiter;denninderSpracheselbstseheichnurdieerstenbeidenElementeangesie delt,dasdrittethematisiertoffensichtlicherneuteineRezeptionssituation. FangenwirmitdiesemdrittenElementan,sostelltsichdieSchwierigkeit,zwischendem,was Chiellinoalsmonokulturell,unddem,waseralsinterkulturellbegreift,zuunterscheiden.Istder interkulturelleGesprächspartner ,deralsLeserder interkulturellenLiteratur konzipiertwird,aufdieglei cheWeiseinterkulturellwiediese?DadieinterkulturelleLiteraturfürihndochnichtsunbedingt Vermittelndesmehransichhat,keineZwischenformmehrdarstellt 51 ,isteswenigeinsichtig,wa

50 Vgl.CHIELLINO 2000,53. 51 Vgl.CHIELLINO 2000,391. 34 rumChiellinobeiseinerRedeüberdieseLiteraturhartnäckigeineUnterscheidungvon eigen und fremd mitführt.GenaudiesseheichinderGegenüberstellungdesimplizitenLesersausdereige nenKulturunddesinterkulturellenGesprächspartners(eswärehinzuzufügen:der–deutschen– Mehrheitskultur)realisiert 52 .ChiellinosInterkulturalitätsbegriffführtstillschweigendeineVorstel lungvonklarabgrenzbarenkulturellenEntitätenmit 53 . Die beiden anderen, die Sprache selbst betreffenden innovativen Komponenten der interkulturellen Literatursinddagegenbesserverständlich.SiehabenihrenAusgangspunktineinemenggefassten Polyphoniekonzept,dasChiellinoamAnfangseinerAusführungeninsSpielbringt.Bachtinhatte bei seinem Entwurf ausdrücklich Soziolekte und individuellen Sprachgebrauch ebenso in seine ÜberlegungenmiteinbezogenwiefremdsprachlicheElemente 54 .BeiChiellinogerätdieseletzte Komponentenunnachgeradehypertroph.InterkulturelleKompetenzwirdbeiihmzueinerEi genschaft,diestrenggenommennurnochvonMigrantenerworbenwerdenkann 55 . BedenkenswertistindiesemZusammenhangallerdings,warumChiellinoDeutschsprachigkeitals Bestimmungsmerkmal der interkulturellen Literatur ablehnt 56 : Interkulturalität, so seine richtige Bemerkung,kannsinnvollkaumaneineeinzelneLiteratursprachegebundenwerden.Inseiner Beschreibung von neunverschiedenen Polyphonietypen tritt an die Stelle der Literatursprache als verbindendemElementallerdingsnichtdiespätervonChiellinosostarkhervorgehobeneKate goriederinterkulturellenAuthentizität.AlleneunTypengründenihreLegitimationaufeineir gendwiegearteteMigrationserfahrungdesAutorsbzw.aufdieThematisierungderMigrationser fahrungseinerLandsleute(5457).DurchdieseInkonsistenzmachtChiellinoeineBestimmung auchdererstenbeiden innovativen Komponenten derinterkulturellenLiteraturpraktischunmöglich. DennwiewillChiellinonundiefremdsprachigenTextesinnvollvondenLiteraturenderHer kunftsländerderAutorenunterscheiden?ErkönntedenSinnnationalliterarischerEinteilungen insgesamtbezweifeln,dochdastuterdefactoankeinerStelle.ImGegenteil,Nationenscheinen fürihnalsleichtgreifbareEinheitenseinerkulturellenEinteilungeinenunverzichtbarenStellen wertzuhaben.WiesonstkönnteersichzuVerdiktenwiedemhinreißenlassen,„dasseinmono kulturellesGesprächüberInterkulturalitäteinewissenschaftlicheFehlleistungist“(389).Chielli

52 DiesenEindruckstütztauchdieäußerstkonfuseBeschreibungdes„implizitenGesprächspartners“–einebeson dersunglücklicheAmalgamierungderbeidensonst,wieerwähnt,gegensätzlichgebrauchtenTeilederPhrase–ohne den für Chiellino die interkulturelle Literatur „undenkbar“ ist. Ist dieser Gesprächspartner, der bei seinem ersten Auftauchen der deutschen Mehrheitskultur entstammt, identisch mit dem interkulturellen Gesprächspartner am EndedesBuches?IchsehekeinenAnhaltspunktfüreinanderesVerständnis.Vgl.CHIELLINO 2000,59f. 53 DiesesproblematischePhänomenwirdimdrittenKapiteldieserArbeitnochausführlichzurSprachekommen. 54 Vgl.BACHTIN 1934/35,z.B.168ff,sowiemeineAusführungenzuBachtininKap.I.3.Chiellinoselbsterwähnt Bachtinübrigensnicht,übernimmtnurdenBegriffderPolyphonie. 55 ErdifferenziertdabeinichteinmalkonsequentnachdenGenerationenodernachderMuttersprache.Ohnedass sieexplizitausgegrenztwürden,passensämtlichePersonen,diekeinemuttersprachlichenFähigkeitenindernicht deutschenDialogsprachebesitzen,nichtmehrinseineVorstellungvoninterkulturellerKompetenz. 56 Vgl.CHIELLINO 2000,51fund57. 35 nos Interkulturalitätsbegriff benötigt als Gegenstück unbedingt eine homogene, monokulturelle Entität,sonstfunktioniertseingesamtesKonzeptnichtmehr.SeinEntwurfeinesinterkulturellen GedächtnissesisteineZusammensetzungausmehrerendistinktenkulturellenEinzelgedächtnis sen,wennauchdurchdenProzessderKombinationeinezusätzliche,emergenteEbeneentste hen mag. Sein sprachlicher Dialog meint einen Dialog zweier Einzelsprachen, interkulturelle KompetenzistfürihnindiesemZusammenhangeineZweisprachigkeit,dieallerdingsnichtvon einemMuttersprachlerderMehrheitsspracherepräsentiertodererworbenwerdenkann(388f). ObwohlerimEinzelnenauchsehrinteressantePunkteindieDebatteeinführt 57 ,fälltChiellino damitinsgesamthinterdenStandderDiskussionzurück.DenndieZweisprachigkeitderAutoren bleibt eine Eigenschaft der Autoren , die mindestens mittelbar mit ihrem Migrationshintergrund und also letzten Endes doch wieder nicht mit den Texten, sondern mit den Einzelschicksalen unddenPässenzusammenhängt.DasspiegeltsichauchimmittlerenTeildesBucheswider,in demnachHerkunftsländerngeordnetdieeinzelnenAutorinnenaufgelistetwerden.DieAusrich tungdernichtdeutschsprachigenTexteanihrerBeschäftigungmitMigrationbleibteinethemati scheAusrichtung,dieproblematischist,dennerstens–wieWernerNellrichtigbemerkthatte– thematisierennichtalleSchriftstellerinnen,diezurinterkulturellenLiteraturgerechnetwerden,in jedemihrerTextedieMigrationserfahrung,nochwerdenAutorinnenaufgenommen,diekeinen Migrationshintergrundhaben,Migrationaberthematisieren.Biographie plus Stoffbleibtsomitin DeutschlandbislangdieweitgehendanerkanntemagischeFormelfürdieZuordnungeinesAu torsundseinerTextezurinterkulturellenLiteratur. Littératuremaghrébined’expressionfrançaise–littératurebeur DerDiskursüberdiefranzösischsprachigeLiteraturproduktionvonMigrantinnensollnuneben fallsanhandeinigerprominenterEinlassungenzudiesemThemanachvollzogenwerden.Eswird sichherausstellen,dasshierähnlicheMusterzuerkennensind.SchonindenBezeichnungen litté rature maghrébine d’expressionfrançaise 58 und littérature beur stecken genauwie in den Benennungen ihrerdeutschsprachigenÄquivalenteVorannahmensoziologischerArt.Siewerdenzunächstnach ethnischenKriteriengebildet.EsgehtumMigranten,die beurs –einSlangwortfür arabe –sowie um geographische und/oder kulturelle Zuordnungen. Am Beispiel der LMEF zeigt sich, dass

57 ZunennenistallemvorandieProblematisierungder„deutschsprachigenPriorität“(52)derinterkulturellenLitera tur,dieeinErbeausden80erJahrenist.InwieweitdasKonzeptdistinkterNationalliteraturenüberhauptnochsinn voll ist, wäre ein lohnender weiterer Forschungsgegenstand, der an dieser Stelle nicht vertieft werden kann. Ich möchteindiesemZusammenhangnuraufaktuelleEntwicklungenhinweisenwiedasinternationaleZürcherSympo siumzumKonzeptderNationalliteraturen(vgl.z.B.MACHO 2003)odereine2002inder FrankfurterRundschau ge führtenDebattemitdemselbenSchwerpunkt(vgl.u.a.ASSMANN 2002,GUMBRECHT 2002). 58 ImfolgendenabgekürztmitLMEF. 36 GeographiehäufigkulturelleHintergründehat.Denneslässtsicheigentlichnurmitderbesonde renBedeutungerklären,diegeradedienordafrikanischenKolonienfürFrankreichhatten,dass im Rahmen dieser Bezeichnung maghrebinische Literatur weder national differenziert noch der MaghrebindiegrößeregeographischeEinheit Afrika eingegliedertwird–wasjaganzundgar nichtabwegigwäre,daesjaauchindensubsaharischenehemaligenfranzösischenKolonieneine frankophone Literatur gibt. Es lässt sich unschwer vermuten, dass diese Praxis mit der still schweigenden Annahme verbunden ist, den Maghreb zeichne irgendetwas als Einheit aus. Die Untergruppierung,diederMaghrebdarstellt,istalsoschoninhohemMaßepolitischaufgeladen unddiesüberträgtsich,wenigüberraschend,auchaufdieRezeptionderhiersubsumiertenTexte. CharlesBonndatiertdasAufkommeneinermaghrebinischenLiteraturinfranzösischerSprache etwaaufdasJahr1930 59 ,wennauchschonseitEndedes19.JahrhundertseinzelneTexteausdem KreisderindigenenBevölkerunginfranzösischerSprachepubliziertwordensind.DievonBonn alsdieKlassikerderLMEFbezeichnetenSchriftstellerKatebYacine,MohammedDibundDriss Chraïbi sind allerdings erst in den 50er Jahren in Erscheinung getreten. Zu dieser Zeit ist die LMEFauchvoneinemgrößerenPublikumwahrgenommenworden.DieDarstellungihrerEnt wicklung durch Charles Bonn ist eng an der politischen Entwicklung der Entkolonialisierung orientiert.BrücheundgroßflächigereÄnderungenwerdenstetsanhistorischeEreignissewieden Algerienkrieg,dieSprachgesetzgebungnachderUnabhängigkeitoderangrößereMigrationsbe wegungengebunden.FürdieliterarischeProduktionderMigranteninsgesamt,alsofürdieTexte ausden50erJahren,dieindendamaligenKolonienentstandensind,sowiefürdieTexteder litté raturebeur ,diegeographischunbestreitbarfranzösischenUrsprungssind,machtBonneinenver bindendenPunktaus:„leurdimensiondetémoignageplusoumoinsvécu,mêmeàtraverslafic tion.“(BONN 1996,3).Dieserdokumentarische,zeithistorischeCharakteristes,soBonn,derdie Leserinden50ernwieheuteandiesenTexteninteressiertunddasbestimmendeMerkmalihrer Rezeptiondarstellt.DieLeserwollenetwasüberdie„culturemaghrébinequileurestétrangère“ (3)erfahrenundsuchensonachdeskriptivenStrukturen,nachinformativenElementeninden literarischenTexten.AlsZeugeneinergesellschaftlichenRealitätvonhöchsterBrisanzhabendie SchreibendenkeinRechtauf„unvéritabletravaild’écrivain“(3). DabeiistfürBonnbemerkenswert,wieseltendieAutorender50erund60erJahrewirklich be schreibende Texteabliefern.IhnengemeinsamscheintnurdieThematisierungeiner„doublecultu re“(4)bzw.einer„culturesoumiseàlaviolencedestructrice“(4)zusein 60 .BeiAutorinnenwie AssiaDjebaroderauchChraïbisiehtBonneineAuseinandersetzungmitdenpatriarchalenStruk

59 Vgl.BONN 1996,5.ErnenntalsdenAhnherrndieserLiteraturJeanAmrouche. 60 JeanDéjeuxverbindeteinenähnlichenGedankenmitsprachzerstörerischenundsexuellenElementen,dieerin einigenTextenderLMEFamWerkesieht.ZudiesersehrbedenklichenInterpretationwirdgleichnochetwasmehr zusagensein.Vgl.DÉJEUX 1992,101113. 37 turendereigenenGesellschaftundihrekritischeHinterfragung.Bis1975 61 hatlautBonnzudem keinRomanderLMEFdirektdieEmigrationthematisiert.DieAuseinandersetzungmitdiesem fürdieeuropäischeLeserschaftoffenbarsowichtigenThemawurdevielmehrnurindirektgeleis tetundkünstlerischverfremdet.ImmermehrentfernensichimLaufeder70erJahrebekanntere LiteratenwieMohammedDibvondieser commandeimplicite (8)desPublikums,aufInformation größerenWertalsaufdiekünstlerischeUmsetzungzulegen.EigenartigerweiseverbindetBonn mitdieserEntwicklungaufderProduzentenseiteankeinerStelleeineÄnderungauchimRezep tionsverhalten.Vielmehrbetonter,dassdurchdiekünstlerischaufgewertete,nichtmehreinfach nurbeschreibendeLiteraturnunsozialeundpolitischePhänomeneindenBlickgenommenwer denkönnten,diebisheralsnichtliteraturfähiggalten.„Plusqu’àla‘vérité’insaisissabledelades cription,lesécrivainss’intéressenticiauxpouvoirsdel’écriturefaceàuninnommé,voireunim pensé,faceàuneréalitéquecertainspourraientqualifierdenonculturelle,danslamesureoùelle n’ajamaistrouvéunevoixpourl’exprimervéritablement.“(8) Das Argument Bonns erscheint reichlich anachronistisch. Bereits der Naturalismus hatte sich über die angeblich mangelnde Literaturfähigkeit bestimmter alltäglicher Situationen hinwegge setztundsieinseinerliterarischenProduktionthematisiert.DieDiskussion,diehiervonBonn anhand von Literatur aus den 70er Jahren geführt wird, ist eher eine der Jahrhundertwende 62 . Bonnentscheidetsichbeiseiner–zugestandenermaßenallgegenwärtigen–KritikanderVerken nungderästhetischenQualitätenderLMEFgegendieMöglichkeit,nach anderenInterpretati onsdimensionenderTextezusuchen.InseinerPerspektivethematisierensiezweifelsohnekultu relleDifferenzen,kolonialeUnterdrückungoderMigration–dochsietunesaufliterarischho hemNiveau.BonnsStrategieisteineästhetischeValorisierungderLMEF,diesichüberdiezu sätzliche Information herstellt, die ein Text gerade durch seine ästhetische Dimension geben kann:„Cestextesdisentpeutêtreainsimieuxquedesdescriptionsréalistesunvécudel’immigré qu’aucune étude statistique ni aucune description ‚typique’ ne saurait dire.“ (8) Seine Strategie besteht also nicht darin, der einseitigen Rezeption der von ihm so geschätzten Texte die Er schließungneuerBedeutungssphärenentgegenzusetzen,sonderndarin,dievonihmbehauptete ErwartungderLeser,dieTextedermaghrebinischenAutorenmöchtenihnenetwasüberdieso ziokulturelle Situation dieser Gruppe sagen, zu bedienen, ihnen aber zugleich zu suggerieren, dieseInformationenseiennurzuhaben,wennmanbereitsei,sichaufdieästhetischeFunktions weisederTexteeinzulassen.ProblematischandiesemAnsatzistjedoch,dassdieseErwartungen

61 IndiesemJahrerschien Topographieidéalepouruneagressioncaractérisée vonRachidBoudjedra. 62 WahrscheinlichbeziehtsichBonneheraufeinemanchenTextenderLMEFgernunterstellteNähezumNouveau Roman(vgl.z.B.E.RUHE 1987,181).DasProgrammdesNouveauRoman,wieesAlainRobbeGrilletformuliert, istallerdingskeinThematisierenvormalsnichtliteraturfähigerElemente,sonderneineästhetischeFrageeinerradi kalrealistischenDarstellungsweise(vgl.ROBBE GRILLET 1956,20ff). 38 überhaupterzeugtwerden.Esistnichteinzusehen,warumdieInterpretationvonTexten,dieals ästhetischavancierterkanntundbenanntwerden,weiterhinaufeinedominanteDimensionein geschränktwerden. DerästhetischeWertderLMEFbestehtfürBonnganzmaßgeblichinder„rencontreféconde descodesdivers“(9).DieseAmalgamierungverschiedenerkulturellerCodesbedeutedieAbleh nung einer eindeutigen Traditionslinie der LMEF. „Maghrébinité“ wird zur „résultante de convergencesculturellesdiversifiées“unddieAutorenderLMEFöffnen «desbrèchesdécisivesdans‘leGrandCode’occidental–langue,mythes,référentscultu rels,formesgénériques–pouryengouffrerdesélémentsdu(des)code(s)originel(s).Dé sormaisdeuxsystèmesmodelants,àlafoisconflictuelsetcomplices,sontàl’œuvredans letravaildel’écriturequasimentaumêmetitre.»(9) DieAuffassungBonnsähneltsehrderjenigenChiellinosinBezugaufdiedeutschsprachigeinter kulturelleLiteratur.GanzdeutlichwirdauchbeiihmdasPostulatfesterkulturellerUntereinhei ten,die àlafoisconflictuelsetcomplices denneuenCodederinterkulturellenGenerationspeisen.Die se Beiordnung von Konflikt und Verständigung soll dabei wohl verdeutlichen, dass nicht von gespaltenenoderfragmentarischenIdentitätendieRedeseinkann.OhnesichexplizitaufBhabha zubeziehen,würdensichChiellinoundBonnwohlseinerselbstbewusstenDarstellungderkultu rellenAmalgamierunganschließen.FragmentarischeIdentitäten,solässtsichvermuten,stellenin dieser Logik eher die Fortschreibung eines Opferdiskurses dar. Eswird später noch zu klären sein,inwieweitdieTheorieBhabhaszusolchenDeutungeneinlädt,diestabilekulturelleEinhei ten voraussetzen 63 . Jedenfalls entfernen sich Bonn und Chiellino damit von poststrukturalisti schenStrömungen,zudenenBhabhaausdrücklichzuzählenist.SeineIdeedesdrittenRaumes ergibt für mein Empfinden nur dann Sinn,wenn man ihm einen heterogenen Charakter zuer kennt,dendiebeiden erstenRäume –wennichsiesonennendarf–stillschweigendmitführenund behaupten.Esnütztwenig,wieBonneinenunbestimmtenPluralinKlammernzusetzen,aber imnächstenSatzvon deuxsystèmesmodelants zusprechen,dieandemneuenCodemitwirken.Die IdeederHeterogenitätvonKulturwirdzueinemoberflächlichenLippenbekenntnis,wennsiefür dieweitereAnalysezugunstenderbekanntenBinaritätausgeblendetwird. Chiellinohatteversucht,diesesProblemdurchdasPostulatinsichgeschlossenerIchInstanzen indenTextenundindenLebensläufenderAutorinnenzulösen 64 .DochbleibtdieseAbgeschlos senheitderIchInstanzengenausoeineBehauptungwieesdiederZerrissenheitwar.Chiellino entferntsichexplizitnichtvonderVorstellung,„dieLebensläufederProtagonisten“erwüchsen „nachwievorausdemSpannungsfeldderKulturen“(CHIELLINO 2000,61).Ichwerdeindieser Arbeit exakt gegenläufig argumentieren und das Spannungsfeld der Kulturen als eine textexterne 63 Vgl.Kap.I.3dieserArbeit. 64 Vgl.CHIELLINO 2000,61. 39 Konstruktion beschreiben, die nicht als selbstverständliche thematische Triebfeder den Texten derLMEFoderderinterkulturellenLiteraturindeutscherSpracheunterstelltwerdenkann.Das Thema ( sujet ) ist nichts als eine Funktion des Textes und als solche sind bestimmte Elemente ebenso plausibel in eine nichtethnisierende Richtung zu deuten. Chiellinos Abgrenzung der „ethnisierendenReduktion“vonseinemeigenenVorgehenkanndiesbezüglichnichtüberzeugen. „EineethnisierendeReduktioneinerLiteraturliegtdannvor,wenndieInterpretationnichtdie interkulturelleKomplexitätindenVordergrundstellt,sonderndieWerkeausschließlichineinem WechselspielvonMehrheitundMinderheitdeutet“(394).WahrscheinlichwürdeChiellinoBonn genauindiesereduktionistischeSchubladestecken,wenndieservonseinen deuxsystèmesmodelants spricht 65 ;indendrei innovativenKomponenten Chiellinoskannichindesnichtsanderesalsdiesevon ihmkritisierteBeschränkungaufdas WechselspielvonMehrheitundMinderheit erkennen.Geradesein Beharren auf den kulturellen Einheiten, die ebenso in seinem Modell der autonomen Ich Instanzenaufscheint,machteineDeutungjenseitsdiesesMustersnachmeinemDafürhaltenun möglich. Weder Bonn noch Chiellino erläutern, wie sie sich ein Aufeinandertreffen kultureller Systeme (Bonn)odereineinterkulturelleAuthentizitätjenseitsdesWechselspielszwischenMehrheitund Minderheit (Chiellino) vorstellen. Bonn bezeichnet die Intertextualität als die wahre Natur des Schreibens,machtalseineseinergrundlegendenFunktionendieaus,„d’inventerlesmotspour direunvécu,individueloucollectif,toujoursenavancesursaformulationcommune“(BONN 1996a,3).UndgenaudazuseidieLMEFaufgrundihrerhistorischenSituationbesondersprädes tiniert.WennauchkeineKultursichaufeineeindeutigeDefinitionfestlegenließe,soBonn,sei dochdie„pluralitéidentitaire“derLMEFgeradedadurchausgezeichnet,dasssieumeinepoli tischhistorischeDimensionergänztsei,dieanderswowenigerVitalitätbesitze(2).Immerwieder wirddemnachliterarischeProduktionunmittelbarangesellschaftlicheVerhältnissegeknüpft.Ich möchte nicht bestreiten, dass es engagierte Literatur und also eine Wechselwirkung zwischen LiteraturundPolitikgibt,dochgleichzusetzensindsiesichernicht. DieungerechtfertigteBindungfindetfolglichaufzweiEbenenstatt:ZumeinenwirdderAutor anseineHerkunftsgesellschaftunddiedortherrschendenVerhältnisse,betreffensienunPolitik oder Kultur, in einem weiteren Sinne gebunden; diese Bindung fußt letzten Endes immer auf ethnischenZuschreibungen,dennauchdieSchriftstellerinnendernachfolgendenGenerationen werdenihnenunterworfen.ZumanderenwerdendieAutorenganzstarkanihreTextegebunden. Es wird suggeriert, die Themen, die im Leben der Autoren eine Rolle spielen, würden sich 65 Ichkanndiesallerdingsnurvermuten,denngeradederDiskursüberinterkulturelleLiteratur,wievehementauch immervonChiellinodiedeutschsprachigePrioritätbestrittenwerdenmag,beziehtsichkaumaufdieliteraturwissen schaftlicheForschungdesNachbarlandes.Schonhieranwirddeutlich,wievorgeschobendiebehaupteteInternatio nalitätderbeschriebenenPhänomeneist. 40 zwangsläufigaufdievonihnenproduziertenTexteübertragen,seiesdirekt,indemessichum autobiographische Texte handelt, sei es eher indirekt, indem die Texte Schauplätze, Ereignisse oderProtagonistenenthalten,diemitderHerkunftdesAutorsineinerbestimmtenVerbindung stehen.WennauchPluralitätundHeterogenitätvonKulturstetsbeschworenwerden,sobehält schließlichdieHerkunftsgesellschafteinÜbergewichtfürdieInterpretationundvorallemfürdie BestimmungderZugehörigkeitzurKategoriederLMEF.DerEurozentrismus,denmanzuü berwindenhoffte,wirddurcheinensolchenZuschnittehernochbedient. DiesbeweistauchdieAuflistungder spécificitésdesécritures ,wiesieJeanDéjeuxinseinerhaarsträu bendenBeschreibungderLMEFabliefert.DieSexualmetaphorik,dieerdabeibemüht,stütztsich zwaraufZitateeinzelnerAutoren,diederLMEFzugerechnetwerden,dochsiewirdvonihm nichtsdestoweniger zu einem System ausgeweitet, das schlimmsten orientalistischen Klischees zuarbeitet.GeradeanseinemTextwirdüberdiesdeutlich,wiestarkindertheoretischenAusei nandersetzung mit interkultureller Literatur der Akzent auf die Person desAutors gelegtwird. Déjeux psychologisiert schon vom ersten Satz an die schriftstellerische Arbeit des „écrivain maghrébin“(DÉJEUX 1992,101).SprachewirdvonDéjeuxstetsmitSexualitätundWeiblichkeit in Verbindung gebracht. Dieses Vorgehen wird mit Zitaten männlicher Autoren gestützt. Mit Sprachewird„Liebegemacht“(102),sieist„verführerisch“,SchreibeninzweiSprachenistwie „Bigamie“(104)oderrührtandasInzesttabu(103);schließlichistdievollkommeneVereinigung zumAndrogyneninderLiteraturwieinderLiebeunmöglich(104). NebendiesersexuellenundbegehrlichenHaltunggegenüber derfranzösischenSprachemacht DéjeuxbeimanchenAutoreneinenHangzurSprachzerstörungaus,dieerallerdingsnichtgut heißt,sobaldsieeinengewissenRahmenüberschreitet.DieseGrenzeistnichterreicht,wennes sich nur um ein „foisonnement de symboles“ oder „[des] connotations maghrébines“ handelt (105). Diese bereichern eher die Texte. Doch wenn „la langue de l’Autre“, in diesem Fall der Franzosen, benutzt werden soll „pour la retourner contre celuici“ (106), hört für Déjeux der Spaßauf.Solche„expériencesdelaboratoire“habenkeineChancebeidenLesern–unddaszu recht,wennesnachDéjeuxgeht,denn„lesgrandsauteurssaventcontrôlerleurcréation“(107). AnÄußerungenRachidBoudjedrasveranschaulichtDéjeuxnochdieBetonungderLiteratur„en tantqu’excèsetdélire“(108),bevorerdemmaghrebinischenRomansowohldasNichtvorhan densein des Dialogs als auch einer intimen, persönlichen IchInstanz attestiert (109). Erneut durchZeugenausdermaghrebinischenAutorenschaftgestützt,führtDéjeuxdiesenUnterschied aufdenUnterschiedderReligionenzurück.DiechristlicheBeichtundgeistlicheGesprächskul turhabedenZugangzumSelbsteröffnet,währendimIslamdasIndividuumvernachlässigtwor den sei (110f). Die Abwesenheit des Dialogs erklärt Déjeux einfach durch die Unmöglichkeit, einensolchenzwischenzwei maghrébiens infranzösischerSprachezuentwerfen,dadiesderAll

41 tagswirklichkeitsofernliege(!,109f).DiefremdeSpracheerlaubeaberandererseitsdiekritische DistanzunddiepersonalisierteIchInstanz,diederislamischenWeltbishersosehrabgegangen sei(111).WenneramEndeschreibt,dass„d’authentiquescréateursontfaitàcette‘superbema îtresse’(...)detrèsbeauxenfantsauxcouleursdelaMéditerrannéeetduMaghreb“(112),kanner vordemHintergrunddesGesagteneigentlichnurdieSchönheitdeseuropäischenTeilsdieser amourösenLiaisonmeinen.DerpaternalistischeGestusunddiekrudeSexualmetaphorikgemah nenüberdiesanlängstüberwundengeglaubteBildervomAfrikaneralsdersexuellenBedrohung dereuropäischenFrauen,derzudemzuGewalttätigkeitundunkontrollierbarenGefühlsausbrü chenneigt,weilseinekollektivierendeReligionihmnichterlaubt,seinwahresSelbstzufinden. DieseDarstellung,soerschütterndsieist,führteigentlichnurextremkonsequentfort,wasim DiskursüberdieinterkulturelleLiteraturinfranzösischeroderdeutscherSpracheallgegenwärtig ist:dieVorstellungvonkulturellenEinheiten,diezwarmiteinanderinKontakttretenundkom munizierenkönnen,dabeiabernichtihrenidentifizierendenKernpreisgeben,dersiedauerhaft voneinanderunterscheidet.DiePaarungsmetaphorikschließtüberdiesandenHybriditätsbegriff an,derlangeeineunreinesexuelleDenotationhatte 66 .MankannanEntwürfenwiedemDéjeux’ nachvollziehen,wienotwendigeswäre,dieständigoberflächlichaffirmierteinnereHeterogenität vonKulturenfürdieAnalysefruchtbarzumachen–unddaswürdezunächsteinmalbedeuten, sichvondenaufgeführtenStereotypenzulösenunddieTextederinterkulturellenLiteratur,wel cherSpracheauchimmer,nichtstetsnuraufdievermeintlichsounhintergehbareKategorieder kulturellenIdentitäthinzuuntersuchen. WiestehtesnunumdietheoretischeBeschäftigungmitder littératurebeur ,miteinerLiteratur,die nichtseltenalsInbegriffeiner littératuredetémoignage gesehenwird?WievonBonnwirdsiehäufig alsnichtwesentlichunterschiedenvonderLMEFkonzeptualisiert,wennsieauchalseinebeson derePhasederliterarischenProduktionvonMigrantenwahrgenommenwird.Dieentscheiden denMerkmale,umals Beur zugelten,sinddieAbstammungundderGradanformalerBildung 67 . AuchdieweiterenBestimmungen,dieAlecHargreaveszusammenfasst,sindeherliteratursozio logischerNatur:DieAutorensindjung,oftmännlich,sieschreibenmeistautobiographischeTex te.DabeisindsiealsSchriftstellernichtrepräsentativfürihreGeneration,dasieausdemfranzö sischenSchulsystemerfolgreichhervorgegangensind.IhreSpracheisthäufigsehrinformell,an gesprochenerSpracheundamJugendslangorientiert.Viele derTextebedienensichaußerdem

66 Vgl. dazu die Studie von Robert J.C. YOUNG 1995, 619 für einen Überblick zum Gebrauch des Hybriditäts begriffsseitseinerEinführungindieWissenschaftenvomMenschen.Vgl.füreineausführlichereBesprechungdie sesKomplexesaußerdemKap.I.3dieserArbeit. 67 „Le critère essentiel est le fait d’avoir des parents musulmans d’origine maghrébine ayant émigré en France; l’intéresséestnédanscepaysouyvitdepuissonenfance.(…)Enfrançaiscourant,quidit‘immigré’dit‘travailleur immigré’.LesprofessionnelsquiémigrentenFrancesontdésignésparl’hommedelaruecommedesétrangers,et nonpascommedesimmigrés,dénominationréservéeauxseulsouvriersqui,danslecasdesMaghrébins,sontgéné ralementpeuinstruits.“(HARGREAVES 1992,7) 42 einer humorvollen Schreibweise 68 . Bis auf die ethnischen Zuschreibungen, das kann an dieser Stelle nur wiederholt werden, erlauben diese Merkmale keine klare Eingrenzung der Gruppe. Denn da sich auch viele Emigrantenkinder gegen die Charakterisierung wenden und gebildete Emigranten,wiebeispielsweiseTaharBenJelloun,sichweigernfürihreKinderdeneineneher niedrigenBildungsstandsuggerierendenTerminus Beur zuakzeptieren 69 ,wirddieKlassifizierung tendenziellnichtssagend. AuchMichelLaronderichtetseineMonographiezur littératurebeur ganzdaraufaus,dieSucheder Gruppe der Beurs nach einer eigenen Identität zu analysieren. Die Texte werden hier in erster LiniezueinemOrt,andemdiekollektiveIdentitäteinerMinderheitgeformtwird.Dabeiwirdfür ihnjedeindividuelleIdentität–undzwarbeijederSelbstzuschreibung–inBezugaufgewisse kollektiveIdentitätenhinentworfen,sowohlaufsolche,vondenenmansichabgrenzt,alsauch aufsolche,denenmansichanschließt 70 .ImGegensatzzuChiellinonimmtereinegrundsätzliche SchwierigkeitderIdentitätsbildungbeiIndividuenan,diedirektoderindirekt–inderzweiten Generation–mitMigrationkonfrontiertsind,dadiebeidenkollektivenIdentitäten,denenge genüber sich das Individuum positionieren muss, für Laronde nur fragmentarisch vorhanden sind 71 .WieIdentitätgenaukonzipiertwird,istfürdiehiergeübteKritikamDiskursallerdings zweitrangig,dennmirgehtesjadarum,dasssieüberhauptinsoausschließlicherWeiseinden Blick gerät. Im Ergebnis strebt Laronde an „de dégager le sens de l’identité beure “ (LARONDE 1993, 41) und zwar durch eine Analyse der literarischen Produktion der als Beurs eingestuften Individuen.AuchLarondebetrachtetkollektiveIdentitätenalsgleichermaßenvirtuellundverän derlich;dennochbetonterderenNotwendigkeitalsMuster,mitdessenHilfesicheineindividuel leIdentitäterstherstellenlasse.DieseproblematisierterwiederumbeiallerVirtualitätvonAn fang an nicht konsequent genug, wenn er den Prozess der Gruppenbildung ( collusion ) als die GrundfigurderIdentitätsbildungbegreift:„Maisdanslalittératurecommedanslavie,silacollu sionestapprentissagedemacapacitéàmemettreàlaplacedel’Autre(àjouerun rôle ),elleest aussiapprentissagedemapropredifférencelorsquejerestelemêmeàtraverstouscesrôles.“ (16)DieVorstellung,manbleibeinallenRollendochirgendwiederselbe,scheintfürLaronde nichtkritikwürdigzusein.Vielleichtistabernichtnurkollektive,sondernauchindividuelleIden titätvirtuellundheterogen.IndiesemFallwäredieses resterlemême allerdingshöchsterklärungs bedürftig.

68 Vgl.HARGREAVES 1989,661663. 69 Vgl.HARGREAVES 1992,7.AußerdemoffenbartsichhierderlogischeBruch,dassdieBeurLiteratenzwardas französischeSchulsystemerfolgreichdurchlaufenhaben,aberdennocheinenniedrigenBildungsstandhabensollen. 70 Vgl.LARONDE 1993,17. 71 Vgl.LARONDE 1993,20.DieGegenpositionfindetsichz.B.beiCHIELLINO 2000, 61. 43 ZudemscheintmirbeiLarondesDarstellungaucheinrechtunkritischesVerhältniszurDicho tomie eigen/fremd zubestehen.DennwenneramSchlussseinesEinleitungskapitelszusammen fasst,worindieBesonderheitderIdentitätssucheder Beurs seinerMeinungnachbesteht,kommt erzunächstzueinemallgemeinenModell,daserunmittelbardaraufwiedereinschränkt.DasMo dellbestehtdarin,dasseinIndividuumdiekulturelleRealität,indereslebt,alsobjektivierund rationalisierbardenkt.DamitessichindieserRealitätaberauchalsIndividuumerkennenkann, teiltessiesystematischauf–Larondemeinthierwohl,manblendebestimmteTeileaus,dieei nemnichtgeeignetscheinen,umsichmitihnenzuidentifizieren,währendmananderebetone undfüreinenpersönlichalsverbindlichannähme.DieserMechanismussollnunaberunverstän dlicherweise eher dann stattfinden, wenn das betreffende Individuum fremd ist, denn, so La ronde,„ilestpeuprobablequejelefasse[découperlaréalitéculturelle,B.S.]pourdégagermon identitéindividuelleduseindel’identitécollectivequandj’appartiensàcettecollectivité.“(42). Während Autochthone sich einfach in ihre kulturelle Identität fallen lassen können, müssen Fremde sich eine periphere Identität zusammenbauen, die sichvon der zentralen Identität der Gesellschaft,indersieleben,unterscheidet. Es bleiben mindestens zwei zentrale Fragen offen. Erstens: Warum sollten sich Autochthone nichtgenausovonderkollektivenIdentitätinmanchenPunktenabsetzenwollen,geradeumihre Individualitätzuaffirmieren?GeradeeinebestimmteFormderJugendkulturdürftegenauüber diesenMechanismusfunktionieren 72 .Zweitens:WarumsolltensichIndividuennichtauchgegen zentraleCodesihrerHerkunftsgesellschaftwenden,geradedann,wennessichumIntellektuelle handelt?InsbesonderedieLiteraturistnichteinfachnurAbbildungbzw.BeschreibungvonVer hältnissen,daistCharlesBonnzuzustimmen,derdieAbsenzgeradederBeschreibungsebenein derLMEFsostarkherausgestrichenhat 73 ,sondernbeinhaltetofteinereflexive,nichtselteneine kritischeKomponente. Larondevermengt,wievieleanderevorundnachihm,dasistindiesemKapitelhoffentlichdeut lichgeworden,literarischeProduktionundLebenswelt.Dassollnichtheißen,dassallenderin terkulturellen Literatur zugerechneten Texten pauschal ihr Status als littérature engagée abzuspre chenwäre, dochsieerschöpfensichbeiweitem nichtindiesermöglichenPerspektiveaufsie. „Pourtantlaprésenteintroductionamontréqueplusqu’uneautrepeutêtre,cettelittératureest dépendantedutypedelecturequ’onenfait“(BONN 1996,19/13).DieserEinschätzungistnur insoweitzuzustimmen,alsgerade dieseLiteratur voneinseitigerLektüregeplagtist.Vielleichtwäre ihrschongeholfen,wennmansienichtmehrals dieseLiteratur untersuchte.Dannwäresieeven

72 «LesjeunesbanlieusardsdeMehdiCharefn’ontrienencommunqueleurmarginalitésociale,maisnullement l’origineethniquedeleursfamilles.»(BONN 1996,12) 73 Vgl.BONN 1996,3. 44 tuellnurnochebensoabhängigvonderArtderPerspektiveaufsie,wiejedeandereliterarische Produktionauch. DiesemVorhaben steht allerdings dieThematisierungvon Marginalität und kulturellen Beson derheitenimDiskursüberdieinterkulturelleLiteraturentgegen.ImfolgendenKapitelsollnun zunächstdasThemaderMarginalitätanhanddeseinflussreichenKonzeptsder littératuremineure vonGillesDeleuzeundFélixGuattaribesprochenwerden.ZentralesErkenntnisinteresseist,ob dieseTheorienichtverkürztgelesenwird,wennmansienurinBezugaufdieLiteraturproduktion vonMinderheitenliest.MeineThese,dieichdurchein closereading vonDeleuzeundGuattarizu plausibilisierenhoffe,ist,dassdiesesKonzepteinenwesentlichweiterenBezugsbereichhat. ImdrittenKapitelsollgefragtwerden,inwieweithomogeneKulturvorstellungeninderaktuellen Debatte noch verbreitet sind. Anhand einiger einflussreicher Positionen aus den Geistes und SozialwissenschaftensollzudiesemZweckdasVerhältnisvonKulturundIdentitätaufeinee ventuelle Synonymie der beiden Begriffe hin überprüft werden. Diese Untersuchung soll dazu dienen,denSinnhomogenerKulturvorstellungenüberhauptzuthematisieren,umdavonausge hendimzweitenTeildieserArbeitalternativeLektürenzentralerTextederinterkulturellenLite raturanbietenzukönnen,diesichvondiesenübermächtigenSchlüsselbegriffenwenigstenszum Teilemanzipieren.

45 I.2 Littérature mineure oder grande littérature ? Wörterbleibennichteinfachdas,alswassiezurZeitihrerPrägunggeäußertwurden.Wiezuletzt Judith Butler im Anschluss an Jacques Derrida gezeigt hat, zeichnet sich Sprache durch eine grundlegende Zitathaftigkeit aus, die dazu führt, dass Sprache sich einerseits semantisch stets fortentwickelt–unddasjedesMal,wenneinbeliebigesWortgebrauchtwird.Andererseitsführt jedersprachlicheAusdruckaberauchbeständigeinenSchatzanBedeutungmitsich,dersichaus seinemhistorischenGebrauchherleitet.JedersprachlicheAusdruckistsosimultanerSchauplatz vonOriginalität(desaktuellenGebrauchs)undvon–bewussteroderunbewusster–Reprodukti onvorgängigerMuster,diedemSprachmaterialanhaften.DieseFigurhatJacquesDerridaunter demBegriffderIterabilitätindensprachtheoretischenDiskurseingeführt. SprachekannnuringenaudieserWeiseverwendetwerden:ManbenutztWörterundSätze,die bereitsgebrauchtwurdenundsichdeshalbimmernurzumTeildemeigenenbedeutungsverlei henden Willen fügen. Derrida nennt dieses Vorgehen miteinemBegriffausderBotanikAuf pfropfung( greffe )undwendetsichmitdieserfreundlicherenBezeichnungauchgegenVersuche der Sprachbeschreibung, die bestimmte Grundformen annehmen, von denen her sich andere Formenparasitärspeisen 74 . DieseallgemeineSituierungsollverdeutlichen,welchetheoretischenKonzeptediskutiertworden sind,alsGillesDeleuzeundFélixGuattari1975ihreÜberlegungenzuFranzKafkaderÖffent lichkeitpräsentierten. Kafka.Pourunelittératuremineure wurdeinderFolgezueinembeliebtenthe oretischenPfeilerfürdieAuseinandersetzungmitinterkulturellerLiteratur.Esschiensichgera dezuaufzudrängen,dieindiesemBuchgemachtenÜberlegungenaufdiekolonialeSituationan zuwenden:„Unelittératuremineuren’estpascelled’unelanguemineure,plutôtcellequ’unemi noritéfaitdansunelanguemajeure“(DELEUZE /G UATTARI 1975,29).WennmandieserDefini tionfolgt,mussmansichnichtmitFragenbeschäftigen,wiewichtige( majeures )vonunwichtigen (mineures )Sprachenzutrennenwären.VielmehrlässtsichdieseTrennungohnegrößereBrüche andiebasalekolonialeUnterscheidungvonZentrumundPeripherieandocken,diedurcheine restriktive Sprachpolitik z.B. inAlgerien bis zurUnabhängigkeit imJahre 1962 zu einer „large prédominancedelalanguefrançaise“(GRANDGUILLAUME 1995,18)geführthatunddiezudem unterschwelligaufrassistischeStereotypeverweist.Dennwiekönnteein„grosdébilemental“,ein „Européenlobotomisé“(FANON 1961,356bzw.359)–undnichtsanderesistderAlgerierbzw. derAfrikanerimallgemeinenfürdieKolonialmedizingewesen 75 –einewichtigeSprachehervor

74 DieKontroversezwischenSearleundDerridaumdenBegriffdesParasitenwirdunsinKap.II.2anocheingehen derbeschäftigen. 75 Vgl.zumRassismusinderVerhaltensbiologieundderKolonialmedizinFANON 1961,356361. 46 bringen?AnstattdieUnterscheidungvon majeure und mineure ,d.h.vonZentrumundPeripherie, grundsätzlichzuhinterfragen,erlaubteesdietheoretischeArbeitvonDeleuzeundGuattariviel mehr,denkolonialisiertenSchriftstelleralssubversivenInnovatorzubeschreiben,derdieSpra chedesFeindesuntergräbt,umsiesodeneigenenZweckengefügigzumachen. DochwennmaneinenBegriffverwendet,mussman,ganzimSinnederallgemeinenIterabilität vonSprache,damitrechnen,dassdieserseinenfrüherenGebrauchsowiediePotentialeseines möglichenGebrauchsmitführt.SoistderBegriffder littératuremineure insehrheterogenerWeise indentheoretischenDiskursaufgenommenwordenunddiessogarinoffenemWiderspruchzur geradegenanntengrundsätzlichenDefinition 76 .BeispielsweisewendetihnBernardLeuilliotauf denmittelalterlichenUnterschiedzwischenlateinischerLiteraturundHochspracheund(franzö sischer)VolksspracheanundbedientsichdamitgeradedervonDeleuzeundGuattariausdrück lichausgeschlossenenMöglichkeit littérature und languemineure zuverbinden 77 . EinzweitesmöglichesVerständnisdesBegriffs,dasnichtdurchdieAusführungenDeleuzesund Guattarisgedecktist,istdieinihmangelegteEngführungvonLiteraturundästhetischemWert: eine littératuremineure wäreindiesemSinneeineunbeachtete,nichtkanonisierteLiteratur 78 .Gera dedieserAspektverdienterhöhteAufmerksamkeit,dennerscheintsichaufzudrängen,vorallem vordemHintergrund,dassDeleuzeundGuattarimitihremKonzeptder littératuremineure aus drücklichauchderenpolitischenImpetusbeschreibenwollten.DieseAssoziationistverlockend, dochirreführend,dennDeleuzeundGuattarientwickelnihreGedankenjaanKafka,einemAu tor, den man schwerlich nicht zu den kanonisierten rechnen kann 79 . Réda Bensmaia weist auf diesenUmstandzwarausdrücklichhin(BENSMAIA 1994,213),dochverfolgtsieimLaufeihres TexteseineStrategie,Kafkaalsliterarhistorischsubversivherauszustellen,daeralsTeildesKa nonsgeradedieIdeedesKanonsradikalverworfenhabe(215). All diese Überlegungen sind für Kafka sicherlich fruchtbar, doch die Frage ist, ob das Deleu ze/GuattarischeKonzeptindieserWeisegelesenwerdenkann.VielleichthatsichdieRezeption deshalbsosehraufdieseAspektebeschränkt,weilsiesichvorallemaufdasdritteKapitelvon Kafka.Pourunelittératuremineure bezog,indemDeleuzeundGuattaridiedreifürsiegrundlegen denErkennungsmerkmaleeiner littératuremineure erläutern:Deterritorialisation,politischeDimen sion,kollektiverWert.DiesenDreischrittmöchteichimfolgendenanhanddesTextesvonDe leuzeundGuattariuntersuchenunddabeinahelegen,diegenanntenMerkmalenichtzuletztin ihrerBedeutungfürdieTextproduktionwahrzunehmen.DieRezeptiondesKonzeptskapriziert 76 IchbeschränkemichhierzumgrößtenTeilaufdieDiskussiondesBegriffsimZusammenhangmitderinterkultu rellenLiteratur,daesjagenaudieseWechselwirkungist,diemichvordringlichinteressiert. 77 Vgl.z.B.LEUILLIOT 2000,245. 78 IndiesemSinngebrauchendenBegriffz.B.DESSONS 2000,213,VAILLANT 2000,193ffundBENSMAIA 1994, 214f. 79 DerProceß istjasogarBestandteildesbeiSuhrkamp2002herausgegebenenKanonsMarcelReichRanickis. 47 sichbisweilenaufdieUnterscheidungvonZentrumundPeripherie 80 ,einefürdenDiskursder InterkulturalitätunddesPostkolonialismushäufige,dochdeshalbnichtunproblematischeUnter scheidung,dasieMachtsehrverortbardenktundaußerdeminihrerHartnäckigkeiteinenhomo genisierenden Schleier über die einzelnen kulturellen Einheiten legt, der mir nicht hilfreich er scheint 81 .MehrAufmerksamkeitverdienthingegendiestarkstrukturalistischeTextauffassung,die beiDeleuzeundGuattarizumAusdruckkommt.Eswirdunteranderemzuklärensein,welche Rolle in ihr der Instanz des Autors zukommt, ein Problem, das im zweiten Teil dieser Arbeit nochausführlicherbehandeltwerdensoll. Deterritorialisation WenndasersteCharakteristikumeiner littératuremineure imKontextderinterkulturellenLiteratur diskutiertwird,sowirdeshäufigrechtknappundgegenständlichgehalten–einfatalesVersäum nis mit absehbaren Konsequenzen für den Diskurs. Réda Bensmaia versteht den Terminus bespielsweisealsBezeichnungfüreineSituationderkulturellenIsolation:IneinemLand,indem DeutschoderFranzösischdieSprachensind,diealsMediumfürdiekulturelleBetätigung( cultural medium ,BENSMAIA 1994,216)einzigzurVerfügungstehen,seieinKulturschaffender–z.B.Kaf kaodereinbeliebigermaghrebinischerAutor–dazugezwungen,sichdieserSpracheundnicht seinerMuttersprachezubedienen.DieserVergleichhinktdabeischonhistorisch,dennKafkas MuttersprachewarDeutsch,wasimPragderJahrhundertwendeeineMinderheitensprachewar. FürBensmaiaentstehtdieDeterritorialisationausdieserpostuliertenZwangslageheraus:diebe rufeneSchriftstellerinstecktinderZwickmühle,schreibenzuwollen,diesaberdurchdieSpra chenpolitiknichtzukönnen,siemusssichentwederderMehrheitssprachebedienenoderaber schweigen,bzw.indiekulturelleBedeutungslosigkeitunddiediskursiveNichtexistenzversinken. AuchAbbesMaazaouistütztseinVerständnisdesBegriffsderDeterritorialisationganzaufdas dritteKapiteldes Kafka BuchesvonDeleuzeundGuattari.DieSprachedesUnterdrückers,derer man sich – im Sinne Bensmaias – bedienen muss, ist für Maazaoui „par définition celle de la marginalisation“(MAAZAOUI 1998,80).DieseSprachewerdenuninzweiunterschiedlichenWei senbehandelt:entwederals„objet[...]dedésir(onchercheàlamaîtriser)“oderals„[objet]de rejet(onluichercheunsubstitut)“(80).Dochdamitnichtgenug,denndieseDeterritorialisation 80 Vgl. neben den bereits genannten vor allem die diesbezügliche Ausweitung des littérature mineure Konzepts in MAAZAOUI 1998,82. 81 ZurVorstellungrelativstabilerKulturen,diealssolchemiteinanderinteragierenwirdspäternochmehrzusagen sein.AuchderBegriffderHybridisierungmussindiesemZusammenhangaufdenPrüfstand.Richtungsweisend,das seihierschonangemerkt,scheintmirdabeieineaktuelleBemerkungNancyFrasers,diedie„gegenwärtigeGesell schaft“wiefolgtbeschreibt:„NichtmehraufgesellschaftlicheRandgebietebeschränkt,durchdringennuntranskultu relleEinflüssediezentralen‚Binnenräume’sozialerInteraktion.[...]Mankönntesagen,dasssämtlicheKulturenauch imInnerenhybridisiertsind.“(FRASER 2003,78) 48 wirdergänztdurcheineReterritorialisationseitensderunterdrücktenSprache,sodass„structures orales,expressionsfamilièresetrégionales,verlan,empruntsàl’arabeoul’anglaisetc.“(81)inden in der Mehrheitssprache verfassten Text Einzug halten. Reterritorialisation versteht Maazaoui demzufolgealssubversiveUnterwanderungdessprachlichenHoheitsgebietsdeskulturellenUn terdrückers. Die Beobachtungen Bensmaias und Maazaouis sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dochsiefindenimTextvonDeleuzeundGuattarikeinehinreichendenBelege.GeradedasBeg riffspaar Deterritorialisation/Reterritorialisation ist hier nämlich überall präsent und wird nicht nurimdrittenKapitelverwendet.ZumerstenMalerläuternesDeleuzeundGuattariimZusam menhangmitKafkasErzählung Josefine,dieSängerinoderdasVolkderMäuse :Josefineistdieeinzige MausmitmusikalischemVerstand,einewahreDiva,undwirdalssolchevomVolkderMäuse bewundert und verehrt. Doch diesem Zugeständnis zu Anfang der Erzählung wird gleich der Zweifelhinterhergeschickt.DenndenGrundderBewunderungJosefinesvermagkeinederMäu seanzugeben:„ImvertrautenKreisegestehenwireinanderoffen,dassJosefinesGesangalsGe sangnichtsAußerordentlichesdarstellt.“(KAFKA 1924,519)DieKunstJosefinesistein„Nichts anLeistung“ein„dünne[s]Pfeifen“,daseigentlichnuralsAllegoriewertvollist.Esist„wiedie armseligeExistenzunseresVolkesmittenimTumultderfeindlichenWelt“undversinnbildlicht dergestaltdieMöglichkeit,sichauchmitschwachenKräftenodergarmitzweifelhaftenQualitä teninderWeltdurchzusetzen(527).„CequiintéresseKafka“,meinendarananschließendauch DeleuzeundGuattari, «c’estunepurematière sonoreintense,toujours enrapport avec sapropreabolition ,son musicaldéterritorialisé,criquiéchappeàlasignification,àlacomposition,auchant,àla parole,sonoritéenrupturepoursedégagerd’unechaîneencoretropsignifiante.[...].Tant qu’ilyaforme,ilyaencorereterritorialisation.L’artdeJoséphineaucontraireconsisteen cecique,nesachantpaspluschanterquelesautressouris,etsifflantplutôtmoinsbien, elle opère peutêtre une déterritorialisation du ‘sifflement traditionnel’, et le libère ‘des chaînes de l’existence quotidienne’. Bref, le son n’apparaît pas ici comme une forme d’expression,maisbiencommeune matièrenonforméed’expression ,quivaréagirsurlesau trestermes.»(DELEUZE /G UATTARI 1975,12f) ReterritorialisationistbeiDeleuzeundGuattarinirgendsdas,wassiebeiMaazaouiist,nämlich einesubversiveAneignungsstrategieeinerMinderheitensprache,diesichüberdenGebrauchin dieMehrheitsspracheinfiltriert.ReterritorialisationbezeichnetvielmehreineTreuezur signifizie renden Kette undalsozurBindungderSpracheaneine bestimmte Bedeutung.DieseBestimmtheitist verbunden mit Tradition und Konvention. Deterritorialisation bezeichnet im Gegensatz dazu eineEntfernungvomfestgefügtenSinnundvoneindeutigerZuschreibbarkeit.SiestärktdieAr bitrarität des Signifikanten oder, in der Terminologie von Deleuze und Guattari, das Material gegenüberderForm.Dabeiistfestzuhalten,dassbeide–MaterialundForm–Ausdrucks potential

49 besitzen.NurfindetderAusdruckeinmalinvorgefertigtenBahnen,dasandereMalaberinge nauerAbsetzungvondiesenBahnenstatt.DerBedeutung,demAusdruckentgehenbeideArten desUmgangsmitSprachenicht 82 . DerUnterschiedzwischenDeundReterritorialisationwirdweiterausgeführt.ZurSeitederDe territorialisation zählt alles, was in Bewegung ist, alles Prozesshafte, somit auch das Begehren (désir ,DELEUZE /G UATTARI 1975,11,16).DasBegehrenistinsofernwichtig,alsesgleichzeitig dieAuflehnunggegenjedeFormvonAutorität,gegenfesteStrukturenkonnotiert.Reterritoriali sation bezeichnet im Gegensatz dazu die Unterwerfung unter Strukturen und Autoritäten (11, 23). Die Motivik, die bei Kafka mit diesem Gegensatz verbunden ist, wird von Deleuze und Guattariebenfallsthematisiert,sollhierabernichtimeinzelnenangeführtwerden.Ichmöchteals BeispielnurdieTiergestaltennennen,dievoralleminKafkasErzählungenallgegenwärtigsind. SiesindfürDeleuzeundGuattarinichtmythologischunterfüttert,sondernderSeitederDeterri torialisationzugeordnet.SiesymbolisierenindieserLesartnichtsBestimmtes,wieetwaTierein einerFabeldiestun,sondernkonnotierengeradeeineBefreiungvonAutorität,sindZeichendes individuellenBegehrensunddamitAbschiedvoneinerkollektivverfügtenBedeutungsstruktur. DieDeterritorialisationhatallerdingsaucheinekonkreteKomponente,siebezeichnetVerpflan zung,EntnahmeauseinemKontextundEinbringenineinenanderen.DiesekonkreteVerpflan zunghataberimmerauchAuswirkungenaufden,dersievornimmt 83 .Wichtigistdabei,dassdie deterritorialisierendeBewegungimmereineist,dienachanderenalsdenbereitsbekanntenWe gensucht.Sieisteine nochnichtgeformteMaterie .DarananschließendistdieWechselwirkungzwi schenTierundMenschbeiKafkaeinedestabilisierende. DochdiedestabilisierendeWirkungvollziehtsichdennochandersalsdiesbeiMaazaoui(81)für dieSpracheinderinterkulturellenLiteraturnahegelegtwird.EshandeltsichbeiderWechselwir kungzwischenTierundMenschebennichtumeinAufeinandertreffenzweierfestgefügter Na turen ,solässtsichausdenAusführungenvonDeleuzeundGuattarifolgern,sonderndieDeterri torialisationisteineallgemeineEntbindungvonFormundAutorität.EsgehtnichtumeineIn terpenetrationvonSubstratundSuperstrat,wieimBeispielvonMinderheitsundMehrheitsspra chebeiMaazaoui.NichteineFormtrifftaufdieandere,sonderndieFormtrifftaufihrGegen teil. 82 DieseStelleistalsogutdafürgeeignet,einweitverbreitetesMissverständnisaufzuklären,dassdemPoststruktura lismusgerneintotounterstelltwird.DieStärkungdesSignifikantenheißtebennichtBeliebigkeit.NichtjedesWort kannallesbedeuten,sondernalle,dieSprachegebrauchen,müssendamitrechnen,dasssprachlichesMaterialständig imweiterenGebrauchresignifiziertwird,einSachverhalt,derBedrohungundChancezugleichist,wieJudithButler überzeugendausgeführthat,vgl.BUTLER 1997,27etpassim.ImzweitenTeildieserArbeitwerdeichihrKonzept nocheingehenderbehandeln. 83 DeleuzeundGuattariverweisenaufdieDressurRotpetersim BerichtfüreineAkademie .DortverschleißtderAffe, ausdemdie„Affennatur[hinaus]raste“dadurchmehrereLehrer,dassdieäffischeNaturaufdieseübergreift,sodass der erste Lehrer gar „in eine Heilanstalt gebracht werden musste.“ (KAFKA 1917, 331f). Vgl. dazu DELEUZE /GUATTARI 1975,24ff. 50 DieseUnterscheidungwirdunsgleichausführlichbeschäftigen.Schonhiermöchteichallerdings deutlich machen, was ich am Gebrauch des Begriffs der Deterritorialisation bei Maazaoui be denklichfinde.SeinModellfasstdieinterkulturelleLiteraturalseineArtTreffpunktvonSubstrat und Superstrat. Die kleine Sprache oder Literatur bildet das Substrat, die dominante das Su perstrat.Jenewirktaufdieseein,verändertundsubvertiertsie.ZukeinerZeitwirdvonMaazaoui dabeieinewirklicheWechselwirkungaufallgemeinererEbeneangedacht.InseinerVorstellung interferierenlediglichzweiinsichstabileEntitäten.DieDestabilisierung,diedurchvieleAutoren derinterkulturellenLiteraturundmeinesErachtensauchdurchDeleuzeundGuattariangepeilt wird,istallerdingsgeradeeinesolchallgemeine:NichteinSubstratdestabilisierteinSuperstrat durchseineAndersartigkeit,sonderndieSpracheöffnetsichaufihreMöglichkeitenhin,verlässt alteBedeutungsmusterundbringt nichtgeformteMaterie insSprachspielein. Wendenwirunsnun,mitunserenVorüberlegungengewappnet,demvielzitiertendrittenKapitel des Kafka Bucheszu,indemvonDeleuzeundGuattaridieDimensiondesAusdrucks( expression ) behandeltwird(29).Ichhattevorhinschonerwähnt,dassBensmaiadieSituationKafkasfalsch beschreibt, wenn sie sie mit der von maghrebinischen Schriftstellern in französischer Sprache vergleicht.KafkahatseineMuttersprache–dasDeutsche–geradenichthintersichgelassen.Die MehrheitsspracheimPragderJahrhundertwendewarTschechisch.DiedeutschenJudenPrags, so Deleuze und Guattari im Anschluss an einen Brief,denKafkaimJuni1921anMaxBrod schrieb, mussten auf deutsch schreiben und zwar aus drei Gründen: Erstens war die deutsche SprachemiteinemverwischtenNationalgefühldieserGruppeverbunden;zweitensfühltensich dieJudenPragsvondertschechischenMehrheitsehrverschiedenundsaheninderSpracheein Distinktionsmittel;drittenswardasjüdischeVierteloffenbareineSprachinsel,indereinDeutsch gesprochenwurde,dasvondenMassenabgekoppeltwar,d.h.anderEntwicklungderdeutschen Sprache im Mutterland keinen Anteil mehr hatte und von ihr auch nicht beeinflusst wurde (DELEUZE /G UATTARI 1975,29f) 84 . IndiesemZusammenhangführenDeleuzeundGuattaridenBegriffderDeterritorialisationin jenemdrittenKapiteleinundsagenausdrücklich,wosieihnheutzutagevorallemamWerkse hen: «Problèmedesimmigrés,etsurtoutdeleursenfants.Problèmedesminorités.Problème d’unelittératuremineure,maisaussipournoustous:commentarracheràsaproprelan gueunelittératuremineure,capabledecreuserlelangage,etdelefairefilersuivanteune lignerévolutionnairesobre.Commentdevenirlenomadeetl’immigréetletziganedesa propre langue? Kafka dit: voler l’enfant au berceau, danser sur la corde raide.» (DELEUZE /GUATTARI 1975,35) 84 Das„PragerDeutsch“waroffenbarkeinwirklicherDialekt,sondernehereinephonetischetwashärtereVariante desHochdeutschen,vgl.CORNGOLD 1994,89f. 51 Dieses Zitat ist im Zusammenhang mit der interkulturellen Literatur häufig rezipiert worden, allerdings vor allem sein erster und sein letzter Teil 85 . Die mittlere Passage, die die Kafkasche Sprach und Literaturauffassung auf eine allgemeingültigere Ebene hebt, wird gern unterschlagen. DerPunkt,denDeleuzeundGuattarianKafkastarkmachenwollenunddensiemitdemBegriff derDeterritorialisationbelegen,istdereinerFremdheitdereigenenSprachegegenüber,diesie interessanterweisealswünschensunderstrebenswertbegreifen.DieHauptsachebeiihrerArgu mentationscheintmirzusein,dassdiesewenigeraufdieUnterdrückungssituationrekurriert,als aufdieIsolation,aufdiemangelndeSelbstverständlichkeit,sicheinerSprachezubedienen 86 . DiePolyglossieeinesSamuelBeckettodereinesJamesJoycedientihnendeshalbaucheherals Muster (35), als diejenige eines Autors aus den ehemaligen Kolonien. Ich möchte damit nicht sagen,dasssichdasModellnichtauchaufsolcheSchriftstellerinnenausdehnenließe,dochder FokusbeidieserAusdehnungsolltenichtaufderUnterdrückungoderderMarginalisierungliegen –wiebeiBensmaiaoderMaazaoui–sonderngewissermaßenaufderAußenperspektiveaufeine Sprache.AutorenwieBeckett,JoyceoderKafka,abernatürlichauchvieleAutorinnenderinter kulturellenLiteratur–zudenkenwäreandasBeispielEmineSevgiÖzdamars,dasichinderEin leitungangeführthabeoderauchanYokoTawada,dieichimnächstenTeilkurzbehandelnwer de–habenkeinenselbstverständlichenUmgangmitSprache,sondernsindsichderMöglichkei tenmitihrzuspielendurchausbewusstundmachenvondiesenGebrauch. EswürdeeineeigeneArbeiterfordern,dieseverschiedenenArtendesdeterritorialisiertenUm gangs mit Sprache im einzelnen zu untersuchen. Deleuze und Guattari begnügen sich mit der EntwicklungzweierModelle.Daseine(anJoyceexemplifiziert)setztganzaufsprachlicheÜber determination, auf einen unheimlichen Reichtum an Assoziationen, an mitgeführten Bedeu tungsmöglichkeiten.Joyce„opèretouteslesreterritorialisationsdumonde“(35)sagenDeleuze und Guattari und meinen damit eben diese Mannigfaltigkeit an Bedeutung, an Erinnerung, an Ausblicken,wiesiebeispielhaftanLeopoldBloomaufscheint,eineinzigerTagausdessenLeben einen700SeitenRomanzufüllenvermag. DerGegenentwurfzuJoyceistBeckett,dermitsprachlichemMinimalismusundabsoluterKarg heit die Signifikanten in ihrer Materialität spürbar macht. Was bei ihm – und auch bei Kafka,

85 DerletzteTeilistz.B.titelgebendfüreinerechtbekannteAufsatzsammlungzur„deutschsprachigenMigrantIn nenliteratur“: DenndutanztaufeinemSeil (FISCHER /MCGOWAN 1997)–wobeimöglichist,dassdieserintertextuelle Bezugnichtintendiertist,daSabineFischerundMorayMcGowandemBucheinGedichtAdelKarasholisvoranstel len,dasdieseZeilerefrainartigwiederholt. 86 DiesbezüglichistdieKritikvonChristopherPrendergastanDeleuzeundGuattarizurückzuweisen,derdenVor schlag„toreadKafka’sownfictionalwritingasaninstanceofminorityliterature“als„completenonsense“bezeich net(PRENDERGAST 2001,113).SieistallerdingseinegerechtfertigteKritikander Rezeption vonDeleuzeundGuatta ri,dieden littératuremineure BegriffebenzustarkaneinsehrkonkretesKonzeptvonMigrationundFremdheitkettet, sodassauseinem instanceofminorityliterature eine„instantiationofa‚dialect’calledliteraryPragueGerman“wird. 52 denneristnachDeleuzeundGuattaridiesemzweitenModellzuzuordnen–übrigbleibt,nennen diebeidenTheoretiker Intensität ,imGegensatzzurrepräsentativenoder extensiven Funktionvon Sprache,diemitderReterritorialisationinVerbindungsteht.DieseistderVersucheinerSprache, sichdesSinnszuversichern:„D’ordinaire,eneffet,lalanguecompensesadéterritorialisationpar unereterritorialisationdanslesens.Cessantd’êtreorganed’unsens,elledevientinstrumentdu Sens“(37).DieseFormulierungspieltaufdieTransparenzvonSprachean.WenndieSprache keinSinnesorganmehrist,alsoeinegrundlegendeInkommensurabilitätvonKognitionundderen sprachlichemAusdruckangenommenwird,wirddieSpracheineinerreterritorialisierendenBe wegungzumHortdes–großgeschriebenen–Sinns. Dieser Gedanke verdeutlicht auch die Gründe für die Begriffswahl des Paares De /Reterritorialisation und zeigt deren Nähe zu Konzepten wie der allgemeinen Iterabilität von Sprache 87 . Deterritorialisation bezeichneteineDestabilisierung,sätZweifelundweistaufdenVor aussetzungsreichtumderNutzungvonSprachehin. Reterritorialisation zieltaufKonsolidierung,auf Selbstverständlichkeit, sie erhebt einmal vorgenommene Bedeutungszuweisungen in den Rang einesSinnsmitgroßemSundversuchtdiesenmitDauerhaftigkeitzuversehen. Doch die Intensivierung von Sprache gilt nicht allein für linguale Unterdrückungssituationen, sondernimmerdann,wennmanaufdieSprachealsFunktionzurückgeworfenist,wennsiedeut lichalsKettevon Signifikanten erkennbarwird 88 .DieRezeptiondurchdenSekundärdiskurszur interkulturellenLiteraturhatdiesenAspektnursehreinseitigbeleuchtetundsoentgehtihrdie DimensiondiesesselbstverständlichenSprachverlustes.Esistsicherlichrichtig,dassdieserdurch kolonialeundpostkolonialeBedingungenderLiteraturproduktiongefördertwerdenkann,doch erstelltkeinCharakteristikumausschließlichdieserLiteraturdar,sondernwirdbeiDeleuzeund GuattarizumZielpunktjedesliterarischenSchaffens. DieserBlickaufSpracheverwischtfolgerichtigauchdieUnterscheidungzwischenwörtlicherund übertragenerBedeutung(39f).AlleBedeutungeinesAusdruckswirdzueinemKontinuum,das zwarnichtbeliebig,aberdochbiszueinemgewissenGradewillkürlichist.DeleuzeundGuattari etablierendieMetamorphosealsGegenbegriffzurMetapher:„Lamétamorphoseestlecontraire delamétaphore.Iln’yaplussensproprenisensfiguré,maisdistributiond’étatsdansl’éventail dumot.“(40)DasMotivder Verwandlung ,besondersaugenfälliginseinergleichnamigenErzäh lung,wirdinderInterpretationvonDeleuzeundGuattarialsozumpoetologischenProgramm Kafkaserklärt. 87 ZudiesemKonzeptDerridasvgl.Kap.II.2a. 88 SolässtsichdieserBefundmitBeobachtungenzumWunderdiskursbeiEntdeckernundEthnographenübertra gen,wieihnStephenGreenblattin MarvelousPossessions aufgearbeitethat.Sprache,diemannichtversteht,wirdhier ganzwillkürlichindaseigeneBedeutungssystemintegriert,wassoweitgeht,RechtsansprücheaufdieneueWeltzu untermauern–denndieindigenenBewohnerhabenderLandnahmejaformellzugestimmt(vgl.GREENBLATT 1991, 91ff).DieserAspektwirdimletztenKapiteldieserArbeitnocheingehenderuntersucht. 53 Nichtsdestoweniger beschreiben Deleuze und Guattari im folgenden auch die linguistisch technischeSeitedesPhänomensderDeterritorialisation.Siebeziehensichdabeizunächstaufdie vonKlausWagenbachangestelltenUntersuchungenzumPragerDeutsch(42).Dabeiistfestzu halten,dassKafkaoffenbarnichteinfachdieseVariantedesDeutschenmitihrenganzenBeson derheitenbenutzte.„Wagenbachinsistesurceci:touscestraitsdepauvretéd’unelanguesere trouvent chez Kafka, mais pris dans un usage créateur [...] Le langage cesse d’être représentatif pour tendreverssesextrêmesouseslimites .“(42)IndieserWeisedeutenDeleuzeundGuattariz.B.dieVer änderungeninGregorSamsasSprache,dievoneinfachenSätzenüberJaundNeinsagenbiszu unverständlichen Lauten immer weiter verfällt. „Gregor war aber sehr viel ruhiger geworden. ManverstandzwarseineWortenichtmehr,trotzdemsieihmgenugklar,klareralsfrüher,vorge kommenwaren[...].Aberimmerhinglaubtemannunschondaran,dassesmitihmnichtganzin Ordnungwar,undwarbereit,ihmzuhelfen.“(KAFKA 1915,108)DieverarmteSprache,dieam EndenurnochausunverständlichenTönenbesteht,vermagnichtsdestowenigeretwas,dasder nochverständlichenSprachenichtgelungenwar.DerEindruckGregorSamsas,seineWortesei en nach ihrer Degradation zu einfachen Geräuschen klarer als früher , täuscht also vielleicht gar nicht.DurchdieReduktionderSpracheaufdenSignifikantenhatinderTerminologieDeleuzes und Guattaris eine Intensivierung stattgefunden „qui branche directement le mot sur l’image“ (DELEUZE /G UATTARI 1975,43). Darüber hinaus referieren Deleuze und Guattari das tetralinguistische Modell Henri Gobards (43ff)undversuchenmitihmdieWechselwirkungenzwischendeneinzelnenimPragderJahr hundertwende gesprochenen Sprachen zu erfassen. Gobard unterscheidet zunächst eine langue vernaculaire ,gelerntzuHauseoderiminformellenKreis,gesprochenvondereinfachenBevölke rung;zumzweitengibtesdie languevéhiculaire ,dieimöffentlichenDiskursangewandtwird,die offizielleHochsprache;drittenssetztGobardeinelangueréférentiaire an,SprachederKulturund des Sinns; sie scheint mir am schwierigsten zu fassen, da gute Beispiele fehlen. Deleuze und GuattarinennendasLateinische,weisenaberzugleichdaraufhin,dassdieseSpracheihrenStatus überdieJahrhundertegeänderthat;fassbarwirddurchdiesesBeispielhingegendieBewegung, die jede Sprache stets betreffen und von der einen Funktion in die andere transferieren kann. VierteundletzteFormimtertralinguistischenModellsistschließlichdie mythischeSprache ,Sprache der Religion oder des spirituellen Lebens. Jeder dieser Funktionen ordnet Gobard ein lokales Adverbzu: „lalanguevernaculaireest ici ;véhiculaire, partout ; référentiaire, làbas ;mythique, au delà .“(43) FürdenPragerJudenKafkasetzen DeleuzeundGuattarianhanddiesesModellsdiefolgende Sprachkonstellationan: languevernaculaire wäredasTschechische, véhiculaire dasDeutsche, référenti

54 aire ebenfallsdasDeutsche,docheinanGoetheinspiriertes,älteres, mythique dasHebräische(46). DasJiddischehättedabeieineSonderstellung: «Kafka[...]yvoitmoinsunesortedeterritorialitélinguistiquepourlesjuifsqu’unmou vementdedéterritorialisationnomadequitravaillel’allemand[...];c’estunelanguegreffée surlemoyenhautallemand,etquitravaillel’allemandtellementdudedansqu’onnepeut paslatraduireenallemandsansl’abolir[...].Bref,langueintensiveouusageintensifde l’allemand,langueouusagemineursquidoiventvousentraîner[...].»(46f) KafkaentscheidetsichbeiseinerLiteratursprachewederfüreinetschechischeReterritorialisation, noch für eine symbolische oder mythisierende Übersteigerung durch eine Annäherung an das klassischeDeutschoderAnleihenbeimHebräischen,nochfüreinebereitsvorgegebeneVariante desdeterritorialisiertenDeutsch,wieesdasJiddischedarstellt.Erentscheidetsichvielmehrfür eineabsoluteVerarmung,füreineBetonungdesSignifikantendurchReduktionaufdasphoneti scheMaterial(47f). IstdiesesModellnunaufdieinterkulturelleLiteraturzuübertragen?FürdiemaghrebinischeLite ratur in französischer Sprache funktioniert ein solcher Transfer fast nahtlos. Langue vernaculaire wärehierdasBerberische, véhiculaire und référentiare dasFranzösische, mythique dasklassischeAra bisch.WirhättenalsoeineanalogeVerteilungzurSituationKafkasimjüdischenViertelPrags. MankannsogardieRolledesDeutschenimzerfallendenHabsburgerreichmitderdesFranzösi schenimzerfallendenKolonialreichvergleichen.HierwiedorthandeltessichumdieSprache desUnterdrückers,diederBevölkerungoktroyiertwurdeunddiesichnun,imLaufedesRück zugsdiesesUnterdrückers,zueinerverhasstenundisoliertenSpracheentwickelt.Derentschei dendeUnterschiedbestehtindem,wasRédaBensmaiafalschreferierthat,nämlichdarin,dass dasDeutschedieMutterspracheKafkaswar,währenddieMuttersprachedermeistenmaghrebi nischenLiteratengeradedie languevernaculaire ,alsoeinberberischerDialektist. Für Immigranten und vor allem deren Kinder, also für die Vertreter der littérature beur ist die Konstellation wiederum ganz anders. Für diese sind die einzelnen Sprachfunktionen nämlich nochvielwenigervoneinanderabzuheben,alsdiesbeimtetralinguistischenModellschonganz allgemeingilt(44).FürsiebesetzenmehrereSprachengleichzeitigdieeinzelnenFunktionsorte, z.B.müsstemansicherlichzwischenFreundeskreisundFamilieunterscheiden,wennmanfürdie beurs eine langue vernaculaire suchte. Der Ansatz von Deleuze und Guattari ist hier nicht trenn scharf,dennamAnfangdesdrittenKapitelswarenjagerade„[les]immigrés,etsurtout[...]leurs enfants“(35)dasParadebeispielfürdendeterritorialiserendenUmgangmitSprache.Ausdieser VerlagerungdesFokuslässtsichfürmicheigentlichnurableiten,dassesDeleuzeundGuattari nichtprimärumFragendesSpracherwerbsunddeshäuslichenoderregionalenkulturellenHin tergrundsgeht.DiesesindvielmehrKatalysatorenfürdieIntensivierung( intensification )dereige

55 nenMuttersprache,dieimSinneDeleuzesundGuattariseinallgemeinespoetologischesDeside ratdarstellt: «Seservirdupolylinguismedanssaproprelangue,fairedecelleciunusagemineurou intensif,opposerlecaractéreopprimédecettelangueàsoncaractèreoppresseur,trouver lespointsdenoncultureetdesousdéveloppement,leszonesdetiersmondelinguisti quesparoùunelangues’échappe[...].»(49) DasauffälligsteandieserFormulierungistinderTatihrallgemeinerSkopus:Esgehtnichtum die Gegenüberstellung einer unterdrückten oder einer Unterdrückersprache, nicht um Sub strat/SuperstratKonstruktionen,sondernumdieuniversaleMöglichkeitdesPolylinguismus,der sowohlsprachlicheFunktionenimSinnedestetralinguistischenModellsalsauchFremdsprachen umfasst. Im Entwurf von Deleuze und Guattari geht es demnach um eine Validierung bisher vernachlässigterDimensionen jeder SpracheundnichtsosehrumeineOppositionzwischenUn terdrücktenundUnterdrückern.DiekolonialeSituationgibteinBeispiel,vielleichtsogareinMo dellab,dochdiesesModelllässtsichnichtineinemSinnelesen,derklareRollenverteilenwürde. VielmehrweisenDeleuzeundGuattaridaraufhin,dass jede Sprache(unddamitjedeinihrvor handene kulturelle Konstruktion), zu einer gefährlichen Stabilisierung neigt. Wenn Sprache zu selbstverständlichwird,wennderSignifikantnichtmehrmitallseinenWiderständensichtbarist, danngleitetsieaufihren caractèreoppresseur(49)zu.IndiesemSinnesollmanzum Nomadenund zumImmigrantendereigenenSprache (35) werden,sollmanlernen,denUnterschiedzwischen wörtli chemundübertragenemSinn (40)nichtzuselbstverständlichzunehmen. PolitikundKollektivität DieDeterritorialisationistzwarnurdaserstederdreiMerkmaleder littératuremineure ,diebeiden anderenwerdenjedochimVergleichzuihrsehrknappabgehandelt.Mitihnenwerdeneinindivi duellerundeinkollektiverAspektaufderHandlungsebenebzw.imBezugaufdenAutorunter schieden.DaszweiteMerkmaleiner littératuremineure istfürDeleuzeundGuattaridieunmittelba repolitischeDimensionjederindividuellenAngelegenheit( affaireindividuelle ).DieseAussagebe ziehtsichaufdieHandlungsebene,dennsiewirdkontrastiertmitdenentsprechendenPhänome nen der „’grandes’ littérature“, in denen „l’affaire individuelle (familiale, conjugale, etc.) tend à rejoindre d’autres affaires non moins individuelles, le milieu social servant d’environnement et d’arrièrefond“(30).Deshalbisthier,nachDeleuzeundGuattari,keinedieserindividuellenAn gelegenheitenunverzichtbar–fürdieGesamtheitderHandlung,ließesichanfügen.Allediese AngelegenheitenspielensichvoreinemHintergrundab,aufdensiesichzwarbeziehen,mitdem sie sich aber nicht in unbedingter Weise verbinden. Auf ein Beispiel aus der Einleitung – Buddenbrooks –angewandt,würdedasmeinedortvertreteneTheseunterstützen.Die grandelittéra 56 ture ,zuderThomasMannzweifelsohnezurechnenist,erlaubtesnicht,TonisBeziehungsunfälle nurimZusammenhangmitdenbourgeoisenHeiratspraktikenam findesiècle zusehen.Diesesind, ummitDeleuzeundGuattarizusprechen,dersozialeHintergrund( arrièrefondsocial ),vordemsie sichzwarabspielen,derfürsieabergenausowenigunabdingbarwirdwiesiefürihn 89 .Dieindi viduellen Angelegenheiten eines Handlungsstrangs eines Textes der grandes littératures sind viel mehrinnerhalbeinesweitenRaumesgruppiert,indemsiealsindividuelleAngelegenheitenein Ensemble bilden, das sich von den kollektiven Angelegenheiten abhebt, zu denen der soziale Hintergrundzuzählenist. Inden littératuresmineures hingegenistinnerhalbjederindividuellenAngelegenheitetwasanderes amWerk,dassiezueinerpolitischen,alsoeinerkollektivenAngelegenheitwerdenlässt.„C’esten cesensqueletrianglefamilialseconnecteauxautrestriangles,commerciaux,économiques,bu reaucratiques,juridiques,quiendéterminentlesvaleurs.“(30) DeleuzeundGuattarisindandieserStellesehrknapp–siehandelndiesesMerkmalaufeiner Seiteab.UmeinesbesserenVerständnissesdiesesPunktswillenmöchteichdeshalbhinzufügen, dassicheineUnterscheidungzwischeneinerkonkretenundeinerabstraktenLesartderverschie denenLiteraturenausmache,wennDeleuzeundGuattariauchnichtausdrücklichvoneinersol chenUnterscheidungsprechen.Die grandeslittératures lasseneineAbstraktionzu,die littératuremi neures nicht,dennjedesprivate,individuelleHandlungselementinihnenwirdaufeinepolitische, kollektiveEbeneverlegt,aufderessichzwangsläufigmitpolitischenDeutungsschemataverbin det. DasdritteMerkmalder littératuremineure transferiertdiesesMusterindenRaumaußerhalbdes Textes. Deleuze und Guattari sprechen vom kollektiven Wert ( valeur collective ), den jede indivi duelleÄußerungzwangsläufigannehme:„cequel’écrivaintoutseulditconstituedéjàuneaction commune, et ce qu’il dit ou fait est nécessairement politique, même si les autres ne sont pas d’accord.Lechamppolitiqueacontaminétouténoncé“(31).AuchdasdritteMerkmalder littéra turemineure bewegtsichdemnachmaßgeblichineinerpolitischenDimension.Wieistnunaber daszweiteMerkmal( toutyestpolitique )nochvomdritten( toutprendunevaleurcollective )zuunter scheiden?MeineAntwortlautet:durchdenBereich,demdiesepolitischeDimensionbeigefügt ist.ImFalledeszweitenMerkmalsscheintmirdiesdertextimmanenteBereichzusein,imFalle desdrittenMerkmalsdasAußendesTextes,alsoderBereich,indemsichProduktionundRe zeptioneinesTextesabspielen.DabeiisteinSchriftstellernichteinfachalsWortführereinerbe stimmtenGruppezusehen,dennderRestderGruppekannsehrwohlnichtmitdemeinverstan

89 AlsEmblemfürdasGegenteileinersolchenLesartkannaufSeitender littératuremineure einer der klassischenTexte deralgerischenLiteraturinfranzösischerSprachegelten:KatebYacines Nedjma (YACINE 1956).Nedjmaisthierin sowohlbegehrteundvermissteFrauaufderindividuellenEbene,alsauchAllegoriefürdasunterdrückteAlgerien. 57 densein,waserschreibt–derkollektiveCharakterjederseinerÄußerungenbleibtdennochvor handen.DerSchriftstellermussnichtvonderGesamtheitderGruppelegitimiertsein,seineTex te erlangen den kollektiven Wert allein über seine Zugehörigkeit zur entsprechenden Gruppe. DieserkollektiveWertistfolglichmitseinenÄußerungenuntrennbarverbunden. Esistklar,dassaufdieseWeisejederSchriftstellerineiner littératuremineure sehrvielschwererein genialer Schöpfergeist attribuiert werden kann als ihrem Pendant in den grandes littératures ; ja, wenn man Deleuze und Guattari genau folgt, ist eine solche Zuordnung geradezu unmöglich, dennjedeÄußerungverliertjaschonihrenindividuellenCharakter,derfürdie(original)geniale Äußerungnichtwegzudenkenist,quaderZugehörigkeitihresAutorszurentsprechendenGrup pe.UnterdiesenUmständenwirdLiteraturvoneinerindividuellenLeistungzueinerAngelegen heitdesVolkes( affairedupeuple ),in dersichdasrevolutionärePotentialderGruppeAusdruck verschafft.FolgerichtigverzichtetKafkalautDeleuzeundGuattarischnellaufherausgehobene Erzählerinstanzen, sowie auf die Dyade AutorHeld – und das trotz seiner Bewunderung für Goethe(32).IndenTextenKafkasundalsoinder littératuremineure , «iln’yapasdesujet, iln’yaquedesagencementscollectifsd’énonciation –etlalittératureexprime cesagencements,danslesconditionsoùilsnesontpasdonnéesaudehors,etoùilsexis tentseulementcommepuissancesdiaboliquesàveniroucommeforcesrévolutionnairesà construire.»(33) DasgenialeAutorsubjekttrittindiesemModellhinterdenTextundseineFunktionenzurück. LiteraturwirdzueinemOrtderkollektivenMöglichkeit,andemdieEinzelnemitihrenjeweiligen Wünschenzupartizipierenvermag.AndiesemOrttrittdieAnordnung( agencement )andieStelle desmonolithischenSubjekts,dasdieBedeutungverbürgt.LiteraturbietetindiesemZusammen hangdieMöglichkeitderKommunikationüberideologischeGrenzenhinweg,dieinderPolitik eineRollespielenmögen;sieistkollektiveÄußerung( énonciationcollective ),geradeweilsiesichvon einerbestimmtenBedeutungfreizumachenversteht. „Lamachinelittéraireprendlerelaisd’unemachinerévolutionnaireàvenir“(32),dasMaschinelle istdiezweiteKomponente,dienebendemKollektivendenentscheidendenVorteilverkörpert, den die Anordnung ( agencement ) vor dem Subjekt ( sujet ) auszeichnet. Ich verstehe Deleuze und Guattarihierso,dassdasBildderMaschinekeingleiches Resultat eines Prozesses insinuiert, sonderndassdieMaschinevielmehrinderLageist,heterogeneEingabenaufzunehmenundsie prozesshaft zu bündeln. Dabei ist die literarische Maschine mit einer revolutionären Maschine verbunden.LiteraturwirdzumrevolutionärenMedium,dasindividuellunterschiedlicheBegehren (désirs )zueinerkollektivenÄußerungverbindet.DaherauchdieErsetzungdesSubjektsdurchdie Anordnung: „Un agencement, objet par excellence du roman, a deux faces: il est agencement collectifd’énonciation,ilestagencementmachiniquedudésir.“(145)

58 Diesem Konzept liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine Äußerung niemals einem einzelnen Subjektzugeordnetwerdenkann,undzwarwedereinemderAussage( énonciation )nocheinemdes Aussagens( énoncé );einSubjektkannwederimgrammatikalischennochimrealenSinnmiteiner Ein heitodereinemIndividuumgleichgesetztwerden.LiteraturistdemzufolgenureinSonderfall der Sprache im allgemeinen, die immer zwischen ihrem Gebrauch durch ein Individuum und einerAusrichtungaufeinKollektivhinschwankt.Die littératuremineure ,diedurchdenBruchmit denAutoritätenundZwängenneueWegeaufzuzeigenversprichtundalsoprädestiniertistneue Aussagen ( nouveaux énoncés ) zu machen (149), muss sich mit diesem Sachverhalt konfrontieren lassen:„L’énonciationlittérairelaplusindividuelleestuncasparticulierd’énonciationcollective.“ (150)IndiesemSinnelassensichdieSprachundLiteraturvorstellungvonDeleuzeundGuattari nahtlos an die eingangs erwähnte und später noch ausführlich zu erläuternde These von der sprachlichenIterabilitätanschließen:DaseinzelneIndividuumistindieserKonzeptionTeileines „fonctionnementd’unagencementpolyvoque “(152),dasseinerseitsnichtwiedereinfacheinErsatzdes Subjektsist. Weder dasKollektiv, noch dasIndividuumbestimmendenSinneinerAussage,dieser wirdvielmehrineinerArtSprachspielentwickelt(somöchteichdas fonctionnementdel’agencement polyvoque deuten),dasichmitWittgensteinalsModelleineriterablenSpracheverstehe 90 .Deleuze undGuattarisprechenvoneinemPrimatderAussage( primatdel’énonciation ,152f).Siegehedem Aussagen( énoncé )voraus„nonpasenfonctiond’unsujetquiproduiraitceluici,maisenfonction d’unagencementquifaitdecellelàsonpremierrouage“(152).EineAussage,wieneuundrevo lutionärsieimmergeplantseinmag,istalsostetsangewiesenaufihrenBezugaufeinekollektive Instanz,dieihrerseitsanihrerBedeutungmitwirkt.Diesewirddabeiwedervoneinem(einzelnen) Subjekt,nochvoneiner(kollektiven)Anordnunggesteuert,sondernistdergegenseitigeBezugs rahmendieserbeidenInstanzen,diesich–wieichmeinenspäterenAusführungenvorgreifend betonenmöchte–alsProduktionsundRezeptionsseitederLiteraturbzw.derSpracheimallge meinenbegreifenlässt.Dabeimussdaraufhingewiesenwerden,dassDeleuzeundGuattarikeine derbeidenSeitenfallenlassen.DerAutorhatinihremModellseinenfestenPlatzalswünschen desIndividuum.SiebleibendamitdeutlichdiesseitsderAutorvorstellungFoucaults,derdiesen selbstzueinerFunktionerklärtundseineDurchdringungdurchdasWissenansetzt.Eswärezu überlegen,obdiesedochsehrstarkindividuelleBewusstseinsinstanzdenAusführungenDeleuzes undGuattarisnichteherschadet,siezumindestverundeutlicht.DerStellenwertdesindividuellen Bewusstseinsbleibtbeiihnenletztendlichunklar.DenkbaristeineErgänzungihrerThesendurch FoucaultsVorstellungvomArchiv,daserdefiniertals„laloidecequipeutêtredit,lesystème qui régit l’apparition des énoncés comme événementssinguliers“(FOUCAULT 1969a,170).Bei DeleuzeundGuattarigewinntmaneherdenEindruck,alsspeisesicheineindividuelleÄußerung 90 Vgl.zumeinerWittgensteinInterpretationuntenKap.II.2a. 59 alsunabhängigeskommunikativesEreignisindieliterarischeoderdierevolutionäreMaschineein, bliebeaberselbstvonderenFunktionierenunberührt.DasKonzeptFoucaultsbildetdazumei nesErachtenseinesinnvolleErgänzung. DasDeleuze/GuattarischeVorhabenstelltsichnachdiesenBetrachtungeneinwenigseltsamdar: eswerdendreiKriterieneiner littératuremineure angegeben,dieaberbeiihrernäherenBetrachtung eherzuallgemeinenPotentialenvonLiteraturüberhauptmutieren 91 .DieSeltsamkeitverflüchtigt sichaber,wennwirdiestrengeOppositionvon grandelittérature und littératuremineure aufgeben:Es istdasProblemundnichtdieLösung,bestimmteTextemitdemCharakteristikumderRandstän digkeitzubelegen.ImAnschlussanAbdulJanMohamedsKritik92 schlägtAbbesMaazaouiaber genaudasvor:MarginalisierungaufderHandlungsebenegehörealsviertesKriteriumzur littératu remineure (MAAZAOUI 1998,82).DamitkonterkarierenJanMohamedundMaazaouigeradezuden AnsatzDeleuzesundGuattaris,diedasKollektiveander littératuremineure ebennichtinihrem Inhaltsehen,sonderndiedenAkzentaufdieFunktionenundaufdenAusdrucklegen,diedem Inhaltvorangehen(DELEUZE /G UATTARI 1975,152f).DerInhaltselbstistaufderHandlungs ebenebeiKafkajaäußerstzurückgedrängt,daszeigtsichindenRomanenwiedem Schloß oder dem Proceß undinErzählungenwie InderStrafkolonie schonindembürokratischenElement,das auchfürdieInterpretationDeleuzesundGuattariseineherausgehobeneRollespielt. Esmagsein,dassinbestimmtenBüchern,MaazaouinenntRomaneRachidBoudjedrasundMo hammedDibsalsBeispiele,auchaufderinhaltlichenEbeneeineThematisierungderMarginalität eineRollespielt,dochdiesistnichtderzentralePunktdes littératuremineure Konzepts,wieesvon Deleuze und Guattari entwickeltwird.Außerdem bleibt das Stichwort der Marginalisierung zu vageumtrennscharfzusein,denn„l’expérienceindividuelleet/oucollectivedelamarginalisation économique,géographique,ethnique,politiqueoulittéraire“(MAAZAOUI 1998,82)istindieser BreiteinvielenliterarischenTextenzufinden.MaazaouiundJanMohamedhabeneineganzbe stimmteLiteraturimKopf,diezwarmitdenKriterienvonDeleuzeundGuattaridurchausver einbar ist, sich aber nicht auf diese beschränkt. Doch genau diese Beschränkung scheinen mir Kritiken wie die ihre zu verfolgen 93 . Das Modell der littérature mineure soll für eine bestimmte

91 Vgl.dazuauchBOGUE 1997,115. 92 Vgl.JAN MOHAMED 1984,297. 93 ÄhnlichverlaufendieKritikvonRENZA 1984unddieEntgegnungdaraufvonBENSMAIA 1994.IndieserArgu mentation wird die Dichotomie von kanonisierterund nicht kanonisierterLiteratur ausgebreitet. Renzas Vorwurf lautet, dass Autoren wieKafka beiDeleuzeundGuattari privilegiert würden, weil sieeine Literatur produzierten „whichthemajorlanguageorcanonicalcriticalcodescanmisrecognizeasmajoraccordingtotheirownstandards.“ (RENZA 1984,34).BensmaiareagiertdaraufmitderVerteidigung,dassKafka(oderPoe)zwarindenKanonintegri ertwordenseien,dochdassdiesnichtzwangsläufigsogeschehensei:„Quitethecontrary,thisrecuperationcouldbe onemoreindicationofthepotencyofthemajoritarianliterarymodel,whoseforcederivespreciselyfromthefact thatitmakespossibleboththedeflectionofthedestabilizingpower[...]ofwhatcannowbeidentifiedasminori tarianflowsoftexts,andtheirinscriptionafterallastextsinthemainstream,thecanon.”(BENSMAIA 1994,218)Für 60 GruppevonTexteninAnspruchgenommenwerden,dieabervielengergefasstistalsdasModell selbst.DieserUmstandwirddanndemModellalsDefizitangelastetundweitereKriterienwer deneingeführt,diedieseEingrenzungvornehmensollen,wasimFalleMaazaouisnichteinmal gelingt 94 .UmdieTendenzenseinesinhaltlichenKriteriumsderMarginalitätzuentschärfen,die „risquecependantderenforcerlatendancenéfastequiconsisteàcroirequecettelittératureest essentiellementdescriptiveetmimétiqueetàlaplacerainsisurlesmargesduchamplittéraire“ (82f),schlägteralsfünftesKriteriumfürdie littératuremineure dasderLiterarizität( littérarité ,83) vor, „c’estàdire une configuration d’éléments réglés par les lois d’un système“ 95 . Doch dieses Kriteriumbleibtsehrvage,dennestrifftindieserAllgemeinheitaufjedesprachlicheÄußerung zu. DieErweiterungdesDeleuze/GuattarischenModellshatdabeierneutdasgrundsätzlicheProb lemvorgeführt,dasderSekundärdiskurszurinterkulturellenLiteraturmitsichschleppt,nämlich dieEntgegensetzungvoneinemVerständnisderTextealssoziologischhistorischeDokumente bzw.alsgenuinkünstlerischeErzeugnisse.GenaudiesenGegensatzüberwindetaberdaskritisier teModell,wennmanessolässt,wieesist,undeszudemkomplettrezipiert.Esverwischtnä mlichdieGrenzevon grandelittérature und littératuremineure ,sodassdiezunächstalsMerkmaleder letzteren angegebenen Punkte – „la déterritorialisation de la langue, le branchement sur l’immédiat politique, l’agencement collectif d’énonciation“ (DELEUZE /G UATTARI 1975, 33) – zumPotentialvonLiteraturimallgemeinenwerden:„Autantdireque‚mineur’nequalifieplus certaines littératures, mais les conditions révolutionnaires de toute littérature au sein de celle qu’onappellegrande(ouétablie)“(33).AuchimHinblickaufdieseAussageistderVorschlag Maazaouisalsungeeignetzuverwerfen,dennseinLiterarizitätskriteriumstelltgeradeeineRegel geleitetheit in Rechnung, dievor allem beim Kriterium der Deterritorialisation zurückgewiesen wird. Mineur wirdindieserLesartAttributeinerLiteratur,dieeherAvantgardefunktionhat,die herkömmlichekulturelleCodesinFragestelltundunterläuft.SobeschreibenDeleuzeundGuat taridasKonzeptder littératuremineure sogarausdrücklichalseines,dasgrundsätzlicheralsdasei ner littérature marginale, populaire oder prolétarienne anzusetzen sei (33). Für diese geben sie keine Kriterienan,dochnachalldem,waswirgesehenhaben,lässtsichvermuten,dassessichbeiden dieAnalyseistdurchdiesenStreitnichtsgewonnen,denneswirdeinemarginalisierteLiteraturvorausgesetzt,die irgendwannvomKanonentdecktwerdenkann.TextlicheKriterienfürdie(Un)MöglichkeiteinersolchenEntde ckunggebenbeidejedochnichtan. 94 JanMohamedhatdamitkeineProbleme,dennfürihndarf dieLiteraturvonMinderheitenvonihrempolitischen Kontext nicht getrennt werden, vgl. JAN MOHAMED 1984, 297, sowie JAN MOHAMED /L LOYD 1990, 243. JanMo hamedundLloydwendensichmitdieserForderunggegeneineangebliche„concomitanttendencytoreadcultural textsexclusivelyfortheirrepresentationof‚aesthetic’effectsand‚essential’humanvalues.“(Ebd.)InBezugaufdie interkulturelleLiteraturstelleichehereinegegenläufigeTendenzfest.Dabeimöchteichnichtbehaupten,dasseine Interpretationanhandvon essentialhumanvalues mirmehrgefallenwürde,dochsomöchteichmeinenFokusaufdie allgemeineFunktionsweisevonSpracheauchnichtverstandenwissen. 95 MESCHONNIC 1970,174;zit.nachMAAZAOUI 1998,83. 61 BegriffennichtumGegensätze,sondernumSchachtelungenhandelt.DieMöglichkeiten,diedie Minorisierung von Literatur bereithält, können in (thematisch, inhaltlich) spezifischer Weise von einzelnenTextenaufgegriffenwerden. Mineur würdedamiteherdieGegenläufigkeiteinesTextes zuherrschenden(ästhetischen,sprachlichen,erkenntnistheoretischen,philosophischenetc.)Dis kursenbezeichnenundnichteineMarginalisierungseinerAutorenoderProtagonisten–undnur daraufscheinenmirdiegemachtenErgänzungsvorschlägeletztendlichhinauszulaufen.

62 I.3 Die Identität von Kultur(en)

DieNotwendigkeitderMarginalität DieMarkierungundanschließendeGewichtungbestimmterDifferenzenistvielleicht das zentrale Thema von Kultur und Identitätsdebatten. Kulturen sind „immer ‚schwach’“, wie Hartmut Böhmefeststellt,„sielebenvonGrenzziehungen,welchedaszurjeweiligenKulturAndereab stoßen, exterritorialisieren und entwerten: gerade darüber laufen die Prozesse der Identitätsbil dungundSelbstaffirmierungvonKulturen.“(BÖHME 1996,61)DieserProzessderAbstoßung oder Exterritorialisierung wird dabei jedoch nicht verlässlich als Prozess wahrgenommen, viel mehrführtdieVerbindungvonKulturundIdentitätzueinereigentümlichenGemengelage,die implizitoderexpliziteineDauerhaftigkeitoderIdentitätvonKultur(en)behauptet. Zur Erläuterung dieses Gedankens möchte ich auf die Thesen Abdul JanMohameds zurück kommen. JanMohamed wendet sich in seinen Texten gegen eine humanistische Denkfigur 96 , die sichdadurchauszeichnet,dasssieinKunstundLiteratureineallgemeinmenschlicheWerteskala postuliert,andersichalleamKulturbetriebBeteiligtenorientierensollten.SieistdamiteineFi gur, die kulturelle Unterschiede nivelliert, ja, negiert und dadurch die speziellen Bedingungen, unterdenenkulturelleProduktionentsteht,vernachlässigt.DieSchreibenden,dieeinerMinder heitangehören,seiennundurchihrepsychosozialeEntwicklunghochpolitisiert.„Thusworksof minoritywritersarelinkedbytheimperativetonegate,invariousways,thepriornegationofhis culturebythedominators.”(JAN MOHAMED 1984,296)Interpretationen,diediesesBeharrenauf kulturellen Unterschieden, die ihrerseits von den historischen und aktuellen rassistischen Un rechtserfahrungenmarginalisierterBevölkerungsgruppenherrühren,nichtbeachten,tundenTex tennachJanMohamedsMeinungschlimmesUnrechtan.LiteraturproduktionvonMinderheiten sei über lange Zeit hinweg durch das nationalliterarische Establishment als ästhetisch unzurei chend vom Kanon ausgeschlossen worden. Nun, wo eine Assimilation zumindest an den RänderndesKanonsstattfinde,„minoritycriticismmustresistthehegemonicpressureswhich seektoneutralizethembyrepressingtheirpoliticalnature[...];ifapoliticalhumanisticdefinitions areallowedtoemasculateminoritycriticaldiscourse,thenthechallengeofminorityliteraturecan beeasilyneutralizedorignored.”(297) ObwohlAbdulJanMohamedundChristopherLloydgrundsätzlichzuzustimmenistundsieü berzeugende Beispiele für die Ungleichbehandlung von Angehörigen marginalisierter Bevölke

96 Vgl.JAN MOHAMED 1984,sowieJAN MOHAMED /LLOYD 1990. 63 rungsgruppen im Wissenschafts und Literaturbetrieb anführen 97 , ist nicht einzusehen, warum nurkulturelleSegregationdiesepolitischeAufgabeausfüllenkönnensollte.IhreVorschlägefür dieErrichtungalternativerKanonssindvonderIdeebegleitet,dassnurdieseVorgehensweise eine spätere Verständigung mit der dominanten Kultur auf gleicher Augenhöhe ermöglichen würde.Sieargumentieren,dasseineSelbstdefinitionundeineSelbstvalidierungdermarginalisier tenGruppen„beforeanyconsiderationofintegration“notwendigsind(JAN MOHAMED /L LOYD 1990, 240). Damit legen sie nahe, dass kulturelle Verständigung nur auf der Basis vorgängiger festerIdentitätenmöglichsei.HierinliegtdieGefahr,dassdamitessentialistischenVorstellungen vonKulturVorschubgeleistetwird.KulturistgenauwieIdentitätsbildungimSinnedereingangs zitiertenBemerkungenHartmutBöhmesaberprozesshaft.DieseErkenntnisistdempoststruktu ralistischen Denken inhärent, dem sich JanMohamed und Lloyd grundsätzlich verbunden füh len 98 .BeiallerSympathiefürdasProjektvonJanMohamedundLloydscheintesmiretwasnaiv zuglauben,mankönne„celebratemarginalityanditsspecificmanifestationswithoutfetishizing orreifyingit.“(JAN MOHAMED 1984,298) DieLösungdesProblemsmussmeinerAnsichtnachdarinbestehen,sichtbarzumachen,dasses KulturalsIdentität ,d.h.KulturineinerstabilenFormvonWertekanonso.ä.nichtgibt.Esistdabei nötig,denBegriffderAllgemeinheit,wieichihnimletztenAbschnitteingeführthabe,vondem zuunterscheiden,wasJanMohamedzurechtalsdashumanistischeFeiernallgemeinmenschlicher Werteidentifiziert,hinterdemsichaberhäufignichtsalseinstarkwertenderEthnozentrismus verbirgt 99 . Die Allgemeinheit des minoritären Schreibens, die Deleuze und Guattari in jedem Schreibprozessbegrüßen,beziehtsichhingegenaufeineformaleEbene,nichtaufeineinhaltlich wertende.SiestehtinZusammenhangmitderUnbeherrschbarkeitderSprache 100 .EinePosition wiedieJanMohamedsistimGegensatzdazuinsofernnaiv,alssiedieGefahrunterschätzt,die voneinergrundsätzlichenAnerkennungvonStabilitätinKulturenausgeht.WenneinVerhandeln aufgleicherAugenhöheerreichtwerdensoll,dannmeinesErachtenseherdadurch,dassderhu manistischeKanondestabilisiertundhomogeneKulturvorstellungenalsunpassendentlarvtwer den. IndiesemSinneschließeichmichderDarstellungTrinhThiMinhHasan,dieinihremEssay Outside In Inside Out nach der Möglichkeit einer klaren Trennung zwischen dem Mitglied einer

97 Vgl.JAN MOHAMED /L LOYD 1990,236f.ZurunvermeidlichenBezogenheitdesIntellektuellen,dereinermarginali siertenBevölkerungsgruppeangehört,aufdiese,vgl.auchDIRLIK 1994,342. 98 Vgl.JAN MOHAMED /L LOYD 1990,247. 99 „Onemustalwayskeepinmindthattheuniversalizinghumanistprojecthasbeenhighlyselective,systematically valorizingcertaintextsandauthorsasthehumanisttraditionwhileignoringoractivelyrepressingalternativetradi tionsandattitudes.“JAN MOHAMED /L LOYD 1990,239. 100 Vgl.z.B.BUTLER 1997,46fetpassim.IndiesemSinneistRonaldBoguezuwidersprechen,wennerinBezugauf Deleuzes littérature mineure Konzept behauptet, dass „his views of language [...] put him at odds with much of poststructuralism“(BOGUE 1997,99).Ansonstensiehtaucherdie minorliterature eheralsein minorwriting unddemzu folgealseinevonDeleuzegewünschteEigenschaftvonLiteraturimAllgemeinen. 64 GruppeundderenAußenweltfragt 101 .SietutdiesinBezugaufeineModeinDokumentarfilmen, diedarinbesteht,AngehörigeindigenerGruppenselbstzuWortkommenzulassenoderihnen eineKameraindiezuHandgeben.Dadurchhoffensie„’tograspthenative’spointofview’and ‚torealize his visionof his world’“(TRINH 1991,65) 102 .DieseVorgehensweiselässtaußerAcht, dassjedeFormdesBlicksaufeineKulturdieseKulturerstherstellt.DieVorstellung,dieskönne andersseinundmangelangedurchdiegeteilteMachtinderKonstruktioneinesBildeseinerKul turzueinerobjektiverenDarstellung,istfürTrinhtrügerisch,denndieMachtderDefinitionwird eben nur vorgeblich geteilt; die Möglichkeit, an einer Darstellung teilzunehmen, wird von der Dokumentarfilmerineinseitiggewährt.„Theplaceofthenativeisalwayswelldelimited.‘Cor rect’ cultural filmmaking usually implies that Africans show Africa; Asians, Asia; and Euro Americans,…theWorld.”(69)DieserBefundlässtsichdemJanMohamedsinsoweitannähern, alsauchersagt,dasseinAustauschzwischenKulturenniemalsaufgleicherAugenhöhestattfin de,sondern dassauchinderliberalstenBemühtheitstetsein gerütteltMaßanneokolonialisti scherAttitüde(meistdurchjenenHumanismusgetarnt)vorhandensei.„Itisaparadoxicaltwist ofthecolonialistmind:whattheOutsiderexpectsfromtheInsideris,infact,aprojectionofan allknowingsubjectthatthisOutsiderususallyattributestohimselfandtohisownkind.“(70) TrinhsAntwortaufdiesenUmstandistnunabereineanderealsdieJanMohameds,dennsiegeht davonaus,dassUnterschiedeunddemnachIdentitäten 103 nichtgegebensind,sonderninjeder Interaktionneugeschaffen( recreated )werden.DieWeltdarffolglichnichtinkulturelleBezirke aufgeteiltwerden,überdiedanndiejeweiligenindigenenExperten(AfrikanerüberAfrika,Asia tenüberAsien)dieDefinitionsmachterhalten,sondernderungebrocheneAnspruchvonEuro päern und Amerikanern, die Welt zu erklären, muss gebrochen werden. Dies kann aber nicht über einen Mechanismus geschehen, der der Trennung der Welt zuarbeitet, sondern nur über einen solchen, der essentialistische Zuschreibungen konsequent leugnet. Dies heißt für Trinh dabeiebennichtautomatisch,dass „thehistorical‚I’canbeobscuredorignored,andthatdifferentiationcannotbemade; butthat‚I’isnotunitary,culturehasneverbeenmonolithic,andmoreorlessisalways moreorlessinrelationtoajudgingsubject.Differencesdonotonlyexistbetweenout siderandinsider–twoentities–,theyarealsoatworkwithintheoutsiderortheinsider– asingleentity.“(76) Trinhsprichtsichnichtdafüraus,dieeigeneKulturzustärken,sondernzuerkennen,dassdie eigeneKulturalshomogeneEntitätnichtexistiert.Ihristvielmehr–sowiejedervorgeblichho mogenenIchInstanz–eineKoexistenzmitdemunangemessenenAnderen( InappropriateOther )

101 TRINH 1991,73;vgl.zudiesemArgumentauchCLIFFORD /MARCUS 1986,13ff. 102 DasZitatimZitat,beiTrinhohneReferenz,stammtausMALINOWSKI 1922,49. 103 Vgl.dazuBÖHME 1996,61. 65 konstitutiv.Das–kulturelloderindividuell–EigenebildetdabeimitdemAnderenkeinfestes Gegensatzpaar,sonderneherdenNamenfürdas,wasineinerbestimmtenhistorischenSituation desIndividuumsoderdesKollektivsalsdasjeweilsHandlungsleitendebegriffenwird.DasAnde reistdas,wovonsichinebendieserSituationabgesetztwird.FlankiertvondiesenÜberlegungen setzeichmichvielleichtwenigerdemVorwurfdesKulturimperialismusaus,denneinegrundsätz licheInfragestellunghomogenerKulturkonzeptestehtjainoffensichtlicherOppositionzueiner VerbreitungbestimmterkulturellerWerte,diealsüberlegen,allgemeinmenschlichetc.betrachtet werden. WiderspruchdrohtnochausderRichtungeineranderenDebatte,diesichgegendasPräfix post wendet.AufdereinenSeitegibtesberechtigteKritikvorallemandertemporalenDimensiondes Begriffes postkolonial 104 , zum anderen wird von einigen Kritikern die Postmoderne bzw. der Poststrukturalismus als ungeeignetes Instrument angesehen, um die realen Unterdrückungsver hältnisseindenehemaligenKolonienundimUmgangmitethnischenMinderheitenzuerfassen. DieseAuffassungstehtz.B.hinterderKritikJanMohameds,wennerbeklagt,dieLiteraturvon MinderheitenkönnenichtvonihrenpolitischenImplikationenbefreitwerden,ohnesiezugleich allihrerKraftzuberauben( emasculate ).DenndieNichtIdentitätbzw.diegebrocheneIdentität, diepostkolonialeTheorienzuproduzierensuchten,seienfürdieAngehörigeneinerMinderheit schmerzhafteRealitätundkeinZeichenvonBefreiungwelcherArtauchimmer.„Onthecon trary,thenonidentityofminoritiesremainsthesignofmaterialdamagetowhichtheonlycoher entresponseisstruggle,notironicdistance.“(JAN MOHAMED /LLOYD 1990,247) WasJanMohamedundLloydhierinOppositionzueinanderbringen,versuchtStuartHallinsei nerSichtaufdenPostkolonialismusmiteinanderzuversöhnen.GegendieKritik,dieampostko lonialistischenDenkengeübtwirdunddieaufseineuniversalisierendeTendenzabhebt,versucht HallinsFeldzuführen,dasseseineabstrahierendeEbenegebe,aufderderPostkolonialismuszu Rechtuniversalisiere,nämlichinHinsicht„aufeinengenerellenProzessderEntkolonialisierung, der,wiedieKolonisationselbst,diekolonialisierendenGesellschaftensomachtvollgeprägthat wie die kolonialisierten (wenn auch natürlich auf andere Weise)“ (HALL 1996,226).Andieser Stelle wieder eine Frontstellung von Kolonisatoren und Kolonisierten in Anschlag zu bringen unddergestalteinebinäreOppositionwiedereinzuführen,dieklareIdentitätenschaffte,würde fürHalleinenRückfallhinterdendurchdie Post DenksystemeerreichtenErkenntnisstandbedeu ten. „FolglichdientderBegriff‚Postkolonialismus’nichteinfachdazu,‚dieseGesellschafteher als ‚jene’ oder das ‚Damals’ und das ‚Jetzt’ deskriptiv zu erfassen. Er liestvielmehr die 104 Zur Schwierigkeit desBegriffs postkolonial sei grundsätzlich verwiesen auf die bedenkenswertenEinwände von MCCLINTOCK 1992,FRANKENBERG /M ANI 1993,293f,sowieHALL 1996,aufdessengleichzeitigeVerteidigungdes grundlegendenKonzeptsichgleichnochzusprechenkomme. 66 ‚Kolonisation’alsTeileinesimwesentlichentransnationalenundtranskulturellen‚globa len’Prozessesneu–undbewirkteinvonDezentrierung,DiasporaErfahrungoder‚Glo balität’geprägtesUmschreibenderfrüherenimperialenGroßgeschichtenmitderNation alsZentrum.“(227) DerPostkolonialismusistalsonurinsofernpost kolonial ,alseralstheoretischesRastermonolithi scheVorstellungenvonKulturalsIdentitätabzulösenvermag.EristnichtindemSinne post ko lonial,dassdamitgesagtwerdensollte,dieKolonialisierungseiinihmüberwunden.Dekonstruk tive,poststrukturalistischeVerfahrenbringenaberdiemonolithischenBegriffenichteinfachzum Verschwinden, ihre Dekonstruktion mündet eben nicht in einen fröhlichen Limbus der Nicht Identität ,wieesFoucaultinseinemVorwortzudenErinnerungenHerculineBarbinsausgedrückt hat.DekonstruktionalleineistfolglichauchnochkeinepolitischeDeplazierung,wieHallzube denkengibt(231).DieDekonstruktionsetztBegriffenurmomentanaußerKraft(240),dochbei ihrererneutenVerwendungkommtes zwangsläufig zueinerBewegungder Re konstruktion.Diese BewegungundnichtnurihredekonstruierendeSeite„istcharakteristischfüralle‚Posts’.“(239) DerdekonstruktiveImpetusistalsonichtSelbstzweck.ErdientderBereitungdesFeldesfürdie anschließendeunvermeidlicheRekonstruktion;erkanndieMachtnichtabschaffen,sondernsie nursichtbarmachen.DochwassollimvorliegendenFalldanachgeschehen?FürJanMohamed und Lloyd ist es klar: Die Sichtbarwerdung der Unterdrückungsstrukturen muss dahingehend genutztwerden,dasssiezumKampfderUnterdrücktengegendieUnterdrückerführtunddieser funktioniertin ihremAnsatz eben nicht zuletzt über dieAffirmation einer eigenen kollektiven Identität der marginalisierten Gruppen. Diese wiederum ist abhängig von einer konsequenten BewusstmachungderhistorischenLagedieserGruppen,diedurchUnterdrückunggekennzeich netist.IndieserStrategiewirdnichtausreichendberücksichtigt,dasserstensdieBetonungder Marginalisierung die Marginalisierten nicht unabhängiger vom Blick der Herrschenden werden lässt, denn diese haben jenen ja den entsprechenden Platz am Rande gerade zugewiesen. Eine UmwertungdieserBeschreibungwäreeineironischeDistanzierung,dieJanMohamedundLloyd aberablehnen.ZweitensistimAnschlussdaranzufragen,woransichdenndieeigeneIdentität orientierensoll?WennnichtandenVorgabenderHerrschenden(undnichtsanderesistdermar ginaleStatus),danndochnurineinereigenen,kohärentenkulturellenGroßerzählung,diedem herrschendenDiskursentgegengesetztwerdenkann.DochdieswürdediekolonialistischeFigur nurwiederholen,dieaufkulturelleHegemoniezieltunddas Inappropriate Other imSinneTrinhs auszuschließenversucht.DerWunschbleibtzwarverständlich,aberdiegeplanteDurchführung abseitsallerReifizierungenundHegemonialbestrebungenbleibtgleichermaßenunkonkret.Wenn esstimmt,dass„dieKolonisation–inihremglobalenundtranskulturellenKontextverstanden– [dafürgesorgthat],dassjederethnischeAbsolutismuszueinerzunehmendunhaltbarenkulturel lenStrategiewurde“(233),dannmussgefragtwerden,wieeine kulturelleStrategie heutenochaus 67 sehenkann.DiesführtmichzurGrundfragediesesKapitelsnachdemZusammenhangzwischen KulturundIdentitätim theoretischenDiskursüberdenKulturbegriffundsomitzuderFrage nachdenImplikationeneinerhomogenenVorstellungvonKultur(en). GängigerweisewerdenmitdemTerminus Kultur zweigroßeBedeutungsfelderbeschrieben:zum eineneinästhetisches,„hochkulturelles“,zumandereneinanthropologisches 105 ,das–vielumfas sender – die spezifischen Lebensumstände einer bestimmten Gruppe bezeichnet. Es ist dabei typisch, dass der Singular mit dem ersten, der Plural aber mit dem zweiten Feld verbunden wird 106 . DerBegriffderIdentitätistinmancherleiHinsichtaufdenderKultur,dabeijedochnichtein deutigaufeinederbeidenangeführtenKomponentenbezogen;vielmehrhabeichdenEindruck gewonnen,dassdiebeidenBegriffeüberhauptnichtklarvoneinanderabzugrenzensind.Alsein BeispielfürdieseunscharfeGrenzziehungkanndasModellkollektiverIdentitätsbildunggelten, dasBernhardGiesenentwirft 107 .Giesenscheintesüberhauptnichtfürnötigzuhalten,diebeiden Begriffe voneinander abzusetzen, „kulturelle Identität“ erscheint bereits im ersten Satz seines VorwortesalsUnterkategorievon„kollektiverIdentität“undzwarzunächstneben„nationaler“, „regionaler“und„ethnischer“Identität.InderEinleitungstellterspäterunterschiedlicheModel levor,dieeralsinunterschiedlichemMaßebrauchbarfürdieAnalyseeinerkünstlichenHerstel lungvonGemeinschafteinstuft.EinesdieserModellebegreiftGemeinschaftalsrituellhergestellt (15ff):GestenderGleichförmigkeitverwischendieindividuellenDifferenzenderer,diesiege meinschaftlichausführenundstellendadurcheineBarrieregegennichtamRitualteilnehmende

105 IchgebrauchedenBegriff anthropologisch inderFolgeimangloamerikanischenSinne.ZurunterschiedlichenBe deutungsgeschichteinEngland,DeutschlandunddenUSA,vgl.FISCHER 2003,17. 106 SowohlRobertJ.C.Young–imBezugaufWILLIAMS 1976–alsauchTerryEagletonnehmenzwareigentlich eineDreiteilungan,dochdiedritteKategorieverschwimmtinbeidenFällen.BeiEagletonhandeltessichumdie „’Mass’ or popular culture, a category that floats ambiguously between the anthropological and the aesthetic“ (EAGLETON 2000,32).BeiYoungundWilliamsistdieästhetischeKategorienocheinmalinsichgeteiltineinerseits „ageneralprocessofintellectual,spiritualandaestheticdevelopment“,andererseits„intheworksandpracticesof intellectualandespeciallyartisticactivity”(YOUNG 1995,53),wobeiauchhierimunmittelbarenAnschlussbemerkt wird,dassdiesebeidenBedeutungen“inEnglish”häufigzusammenfallen.AuchHartmutBÖHME (1996, 53)setzt eineDreiteilungan,dieindenzentralenzweiPunktendiesemModellfolgtundinderdrittenabweicht.Analogteilt AleidaASSMANN (1991,11)Kulturin„Lebenswelt“(anthropologischeSeite)und„Monument“(ästhetischeSeite). Thomas Wägenbaur stellt einem „differenztheoretische[n] Kulturbegriff“, der dem hier ästhetisch genannten anzu schließen wäre einen „wissensorientierten Kulturbegriff“ gegenüber, „der Kultur als eine analytische Dimension identifiziert,diesozialenPraktikenzugrundeliegtbzw.durchsieerzeugtwird“(WÄGENBAUR 1999,29).Wenndamit auch,wiebeivielenneuerenKulturtheorien(vgl.etwaKITTLER 2000,12),eineTendenzzurZusammenführungder beidenBereicheuntereinemsehrweitenKulturbegrifferkennbarist,habeichdochnichtdenEindruck,dasssich dieseTendenzdurchgesetzthätte,waswahrscheinlichnichtzuletztamsinkendenanalytischenPotentialeinessolch allgemeinenBegriffsliegt.MankönntebeidiesenKonzeptionenvielleichtehervoneinemengenundeinemweiten Kulturbegriffsprechen,wobeiderBezugsbereichdesletzterenvielleichtamehestenals asymptotischallumfassend zu bezeichnenwäreundderengeinseinemkanonischenZuschnittkritisiertwird.Jedocherkenntmanauchindieser DichotomienochdiebeideneingangsbenanntenBereiche,derenfaktischeRelevanzfürdieBedeutungdesBegriffs Kultur übrigensauchindiesenTheoriennichtbestrittenwird. 107 Vgl.GIESEN 1999,923. 68 outgroups her.DochgenügtnichtalleindieAusführungsolchergleichförmigenRituale,„dieHan delndenmüssenimAugenblickdesRitualsauchwissen,dasssiegleichförmighandeln,siemüs seneinBewusstseinderGleichförmigkeitausbilden“(16).HierkommtnunbegrifflichdieKultur insSpiel,dennsieistes,diediesesWissenherstellt.Giesenmeintdamit,dassdierituellenPrakti kenBilderundSymbolebenötigen,„mitdenendieTeilnehmeramRitusihrTunselbstbeschrei benundbegründen“(17).SelbstbilderundBildervondem,wasfremdist,werdendemzufolge nicht nach rationalen Nutzenerwägungen entworfen, sondern bedürfen der „Einbettung in all gemeinekulturelleWeltbilder“(17)undzwarvorallem,umdie„KontingenzvonZielsetzungen“ und die „Konstruiertheit von Identität“ im Bewusstsein des Einzelnen zu invisibilisieren (17). GiesenbeschreibtKulturhierdemzufolgealsdiesymbolischeSphäre,dienötigist,damitGe meinschaftlichkeit überhaupt hergestellt werden kann. „Kultur bestimmt als ein solcher nicht mehr hinterfragbarer oder begründungsbedürftiger Horizont die Konstruktion von Gemein schaftlichkeitundkollektiverIdentität.“(18) UmfasstekollektiveIdentitätimVorwortalsonochkulturelleIdentität,soisthierihrVerhältnis umgedrehtundentlarvteinenPleonasmus:KulturistletztbegründenderHorizontfürIdentität und der Terminus kulturelle Identität wird (wohlwollender ausgedrückt) zu einem Hendiadyoin, jedenfallskannmanihnsichnichtmehreinfachalsderkollektivenIdentitätnachgeordnetvor stellen.AuchGiesenstelltallerdingsheraus,dassesproblematischist,Kulturalsewigen,unwan delbaren,letztbegründendenHorizontzubeschreiben.EinemsolchenModellentgingendie„so zialen Prozesse und institutionellen Formen, in denen Kultur hergestellt,verbreitet und aufge nommen wird“ (20), die dann ihrerseits auf ideologische Konstrukte Einzelner verweisen, die selbstanihreKonstruktenichtglaubenmüssen,damitsiefunktionieren,sonderndiedieseMo dellezureigennützigenKontrollederBevölkerungentwerfen(12bzw.20f). Kollektive Identität ist bei Giesen somit ein emergentes Phänomen, das aus verschiedenen Macht und Nutzenerwägungen sowie aus kulturellen Mustern und „spontaner Sympathie mit demanderen“(21)herausgebildetwird.DerVerweisdarauf,dassKultursichstetsimWandel befindet,machtihrensystematischenOrtinnerhalbseinerTheorienichtebensichtbarer.Außer dembleibtunklar,warumInstitutionennichtauchzumHorizontsymbolischvermittelterVer ständigungzählen,sonderndiesenihrerseitsherstellen. DerZusammenhangzwischenKulturund(kollektiver)Identitätscheintzwargegeben,istaber nichtexaktnachvollziehbar.DerEindruck,dassbeidesynonymsind,wirdhäufigdurchnichtsals ihre konstante begrifflicheTrennunguntergraben. Beide scheinen gleichzeitig Stabilität zuver bürgenundeinemunumgänglichenWandelzuunterliegen;beidescheinenimaginiertzuseinund doch auf konkrete symbolische Formen zurückführbar; beide scheinen mit intersubjektiven Verständigungs und Anerkennungsprozessen untrennbar verbunden, gleichzeitig aber auch

69 durchindividuelleEntscheidungsprozesseveränderbarundvonihrerBilligungabhängigzusein. Beide scheinen außerdem in analoger Weise auf einen Naturbegriff als ihr Gegenteil bezogen werdenzukönnen–ganzgleich,ob Natur aufmaterielleGrundlagenwieHunger,Sterblichkeit undAtmungreduziertoderobdieserBegriffmitkulturellenKategorienwie Geschlecht oder Ethnie angereichertwird,indemsiewenigstenspartiellderNaturzugeschlagenwerden.Identitätwird wieKulturalseinKonstruktbegriffen,daszudenmateriellenGrundlagenderNatur–wieweit oderengsieauchimmergefasstseinmögen–ineinemhomologenOppositionsverhältnissteht. AufgrunddieseraußerordentlichverwirrendenterminologischenSituation,möchteichvorschla gen, Kultur unterdemzuerstgenanntenBlickwinkelzuanalysieren,d.h.inihrerDoppelbedeutung als ästhetisches bzw. anthropologisches Phänomen. Identität erscheint mir dabei analytisch von Kultur nichttrennbarzusein,diebeidenBegriffestützensichgegenseitig,nehmensichgegensei tigzumAusgangsundzumZielpunkt,jenachdem,inwelchenTextmangeradeschaut.Hart mutBöhmehatdiesenuntrennbarenZusammenhangimHinblickaufdie„historischeSemantik“ desKulturbegriffszuerklärenversucht,diezeige,„dassesbeijedwederKultivierungaufdieSi cherungvonräumlicherStändigkeitundzeitlicherStetigkeitankommt.“(BÖHME 1996,53)Kul turistsogesehendurchIdentität,d.h.durchgewisseTechniken,RitualeoderVerhaltensweisen geprägt,diedemoffenbarsowichtigenZielderDauerhaftigkeitzuarbeiten. DasfolgendeKapitelsoll,vondieserengenVerflechtungvonIdentitätundKulturausgehend, derenVerhältnisindertheoretischenDebattebeleuchten,umschließlichimweiterenVerlaufder Arbeitnachvollziehenzukönnen,inwelcherWeisedieTextederinter kultur ellenLiteraturden ihnengattungsmäßigeingeschriebenenKulturbegriffbehandeln,wieervonihnenverändert,ob erironisiertodergarverworfenwird.Eswirdsichzeigen,dassesbereitsimtheoretischenDis kurs ganz gegensätzliche Aussagen dazu gibt, ob Kultur vor allem stabil oder vor allem dyna mischundveränderlichgedachtwerdenmuss.Eswirdzuüberlegensein,wieernsteindynami scher Kulturbegriff zu nehmen ist, wenn er gleichzeitig mit der Unterscheidung von Zentrum undPeripherieoperiert:IstnichtinsolcheinerVorstellungderstabileKerneinfachvoneinem changierendenAußenbezirkabgespaltenworden?InwieweitistKultureinüberindividuellerBeg riff?InwieweittragenandererseitsdieHandlungenundEntscheidungendesEinzelnenzuseiner VeränderungoderStabilisierungbei? IchstützemichindieserArbeitfürdieBeantwortungdieserFragenaufdiediskurstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults, der das äußernde Subjekt nicht mit dem Individuum gleich setzt 108 .EinSubjekttrifftseineEntscheidungenzwarintentional,dasheißtmiteinembestimmten Ziel, doch das heißt eben nicht automatisch, dass die Entscheidungen individuell sind in dem Sinn,dasssiedemfreien,unbeeinflusstenWilleneinesindividuellenSubjekts( sujetindividuel )ent

108 Vgl.FOUCAULT 1969a,124. 70 springen 109 . Ein solches ist bei der Analyse von Machtverhältnissen, aus deren Spannungsfeld letztlichÜberzeugungen,HandlungenunddieVerfasstheitderWelthervorgehen,nichtauszu machenundalsonichtvonBedeutung,somöchteichdenFoucaultschenPositivitätsbegriffver stehen 110 . SchließlichsollderBegriffderHybriditätuntersuchtwerden,derhäufigalsMischungzweierin sichwiederumstabilerIdentitäten/Kulturengedachtundoperationalisiertwird–einePraxis,die ihn,wieRobertJ.C.YounginseinersehrlesenswertenStudiegezeigthat,eherindieKontinuität eines rassistisch geprägten Kolonialdiskurses stellt, als ihn von diesem abzuheben. Schließlich wirdzuüberlegensein,wiederHybriditätsbegriffgebrauchtwerdenmüssteoderdurchwelchen anderenBegrifferzuersetzenwäre,umeinechtesdynamischesKulturkonzeptbeschreibenzu könnenoderobdieseDynamikeineIllusionist,dieinihremVerhältniszueinerunzerstörbaren Stabilitätneudefiniertwerdenmüsste. StabileUntereinheiten Mitteder90erbrachteSamuelHuntingtonseineThesevomKampfderKulturenauf.Siefandim folgendenrascheVerbreitungundwurdeindenletztenJahrenheftigdiskutiert.Eslässtsichda beikaumleugnen,dasssiedurchdieAnschlägedes11.September2001unddendarauffolgen densogenannten„KrieggegendenTerror“überdieseinezentraleBedeutungfürdieTagespolitik unddiegegenwärtigeGestaltdieserWelterhaltenhat. ReligiöseMehrheitsbekenntnissenehmenfürdenKulturbegriffHuntingtonseineentscheidende Positionein,sodassesfastunmöglichgewordenist,dierealpolitischeSimplifizierungderohne hinnichtsehrkomplexenKulturkampfthesezuübersehen:KulturentsprichtReligion.Religion entspricht – solange sie nicht christlich ist – dem Fundamentalismus. Der Fundamentalismus mussnotfallsmitGewaltbekämpftwerden.DassesHuntingtonnichtetwaumpolitischeEinhei tengeht,lässtsichschonvonseinerGrafik1.3(HUNTINGTON 1996,30f)ablesen,aufderetwa Griechenland–alsTeilderEuropäischenUnion–nichtdem„westlichen“;sonderndem„or thodoxenKulturkreis“zugerechnetwird 111 .OhnehinistdasKriteriumderReligionfürdieIden tifikationeines Kulturkreises 112 häufigbesondershervorgehoben 113 .

109 Vgl.FOUCAULT 1976,124f. 110 Vgl.zur positivité FOUCAULT 1969a,164. 111 HuntingtonunterläufthiereineverwirrendeUngenauigkeit:ZwarnennterbeiseinerAufzählungderKulturkreise denorthodoxen(57),dochführterzudiesem,imGegensatzzuallenübrigen,aufdenandieseAufzählunganschlie ßendenSeitennichtsgenaueresmehraus.DennochistaufallenKartenundinallenTabellenderorthodoxeKultur kreisinderFolgegetrenntverzeichnetundimKapitelüberdie„Kernstaaten“wirdRussland,alsKernstaatdesor thodoxenKulturkreises,eineigenerAbschnittgewidmet(26068). 112 ObderBegriff Kulturkreis inderdeutschenÜbersetzungmitZustimmungHuntingtonsverwendetwird,istaus der„VorbemerkungzurÜbersetzung“(HUNTINGTON 1996,14)nichteindeutigzuentnehmen.Erentstammtdem 71 Huntington verteidigt mit Nachdruck seine Überzeugung, dass es die von ihm identifizierten Kulturkreisegibt,ermöchtesichkeinesfallsaufeinenuniversalenKulturbegriffeinlassen.Fer nand Braudel zitierend weist er darauf hin, dass diese Einstellung ebenfalls impliziert, dass es keineneinheitlichen„MaßstabfürZivilisiertheit“(50)gebenkönne,dassdemnachvieleverschie deneWegeundWeisenderZivilisierungexistieren 114 . SeineneigenenKulturbegriffentwickeltHuntingtonanHerodot,beidemerbereitsdievierent scheidendenElementeeinerjedenKulturbenanntfindet:„Blut,Sprache,Religion,Lebensweise“ (52).DasersteElement,sofernessichaufdieKategorieder„Rasse“bezieht,schwächtHunting tonallerdingssofortwiederab,indemerbetont„diewesentlichenUnterschiedezwischenMen schengruppen“beträfen„ihreWerte,Überzeugungen,InstitutionenundGesellschaftsstrukturen, nichtihreKörpergröße,KopfformundHautfarbe.“(53)HuntingtonversuchtsichaufdieseWei sevomRassismusabzusetzen,jedochinvisibilisierternurdessenFunktionsweise.DieBedeutung derOberflächeunddesOptischenfürrassistischeGewaltwirdnichtnurinTextenderinterkul turellenLiteraturbetont 115 ;auchsoziologischeTexteweisendeutlichdaraufhin,dass„lavisibilité estunecaractéristiqueimportanteduvécudelamigration.“ 116 DurchseinevordergründigeZu rückweisungdieserBedeutung,diejedochmitderAffirmationunsichtbarerDifferenzen( Werte , Überzeugungen )einhergeht,verharmlostHuntingtongeradeingefährlicherWeisedenProzessder Mythisierung,wieihnRolandBarthesbeschreibt 117 . EsgibteinweiteresOberflächenphänomen,dasmitKulturfürHuntingtonnichtszutunhat,ja, ihrsogarentgegengesetztist:diepolitischeOrdnung.Esistalsonichtmöglich,diesealsKonkre

VokabulardesdeutschenDiffusionismus,erscheinterstmalsbeiFROBENIUS 1898(vgl.dazuROTH 1976,1338).Der DiffusionismusistvonderGrundannahmegeprägt,dassKulturelemente–unddassindindiesenTheorien„Muse umsobjekte[]“genausowie„immaterielle[]Kulturphänomene[]“(STAGL 2003,48)–nureinmalerfundenworden undvondiesemZentrumausdurchMigrationsbewegungenallerArtverbreitetwordenseien.DiffusionistischeThe oriengehendemzufolgeauchvoneinergeradezuunverwüstlichenStabilitätallerKulturelementeaus:Einsolches ElementwirdnureinmalerfundenunddannlediglichkopiertundmitanderenElementenkombiniert.Diffusionisti scheTheorienblendensodaskreativePotentialvonKulturvollkommenaus.DurchdieBehandlungvonimmateriel len menschlichen Eigenschaften und materiellen Artefakten als nur zu ergänzenden, nicht aber zu verändernden ElementeneinesKulturkreisesbestehtinihnendemzufolgestetsderHang,ethnischenKlischeeszuzuarbeiten.Esist sonichterstaunlich,dassinFrobenius’Ansatz(dereintemporalesSchemaderKulturentwicklungbeinhaltet,das besagt, dass Kulturen einen Alterungsprozess durchmachen) z.B. „die ‚philosophische Kultur’ Westeuropas“ mit dem„Mannesalter“gleichgesetztwird,währendetwadie„mythologischeKultur“derpazifischenInselvölkersich nochim„Kindesalter“befindet.(ROTH 1976,1338f). 113 Vgl.Sätzewie:„Ambedeutsamstenwar,dassdereuropäischeImperialismusdasChristentumsüdlichderSahara einführte.“(61)WarumdieserUmstand ambedeutsamsten undalsobedeutsameralsz.B.dieVerbreitungdereuropäi schenSprachen südlichder Sahara gewesen sein soll, führtHuntington nicht näher aus.Vorher haterdie zentrale StellungderReligionindenjeweiligenKulturkreisenallerdingsschonanIndizienzubeweisenversucht,diesichvor allemaufdieExistenzvonReligionskriegenin ethnisch und sprachlich –angeblich–homogenenGebieten(wiedem ehemaligenJugoslawien,demLibanonoderIndien(sic!))beziehen(52). 114 DerUnterschiedzwischenKulturundZivilisationist,lautHuntington,nurimDeutschengegeben.Erbenutzt dieseBegriffe,wiederimAnschlussanBraudel,zwarnichtvölligsynonym,aberdochalsuntrennbarverbunden(51). 115 Vgl.untenmeineBesprechungvonTAWADA 1996(KapitelII.1). 116 BEGAG /C HAOUITE 1990,55;vgl.desweiterendenganzenAbschnitt5559desselbenTextes. 117 Vgl.BARTHES 1957,v.a.96110.Vgl.zurMythisierungundzummythischenDenkenauchKapitelII.1dieser Arbeit. 72 tisierungder InstitutionenundGesellschaftsstrukturen zusehen,dieeinezentraleRollefürdieBestim mungseinerKulturkreisespielen.ErzitiertAddaB.Bozeman,wenner„politischeSysteme“als „vergänglicheNotbehelfeanderOberflächederZivilisation“begreift(55).SokommtHunting tonzueinemscharfen KontrastzwischenPolitikundKultur:„Kulturkreise[...]tun [...]nichts vondem,wasRegierungentun:dieOrdnungaufrechterhalten,fürGerechtigkeitsorgen,Steuern erheben,Kriegeführen,Verträgeaushandelnunddergleichenmehr.“(56)MitdieserBehauptung beweistHuntingtonfreilichnur,dassereineunglaublichengeVorstellungvondemhat,wasKul turentun.Wennmannochdarüberstreitenkann,obKulturenwirklichkeineSteuernerheben– ichwäredavorsichtig–istesschonsehrfragwürdig,obKulturennicht dieOrdnungaufrechterhalten oder Gesetzeerlassen .DerjuristischeKodex,sokannmanargumentieren,übersetztjageradedas, wasineinembestimmtenGemeinwesenalserlaubtodernormalzugeltenhat.Gerechtigkeitistja keinuniversalesFaktum 118 ,sondernentstehtausgewissensozialenPraktikenundÜberzeugun gen.IngewisserWeise erlässt dieKulturalsosehrwohldieGesetzeunddasssieineinemsogar nochvielweiterenSinndieOrdnungsicherstellt,scheintmirnurschwerbestreitbarzusein,ganz sicherabernichtohnejedesArgument,wieHuntingtonesversucht. DieDynamik,dieHuntingtonseinenKulturkreisenzuerkennt,beziehtsicheheraufräumlicheals aufinhaltlicheGrenzen.KulturkreisesindindemSinnevariabel,dassimLaufeihrerGeschichte verschiedenepolitischeEinheitenvonihnenannektiertwerden,anderevonihnenabfallen.Die politischenEinheitenscheinenfürHuntingtondabeinichtmehruntergliedertwerdenzukönnen. Siesindzwar,wiewirgesehenhaben,Oberflächenphänomene,dochalssolchehaltensiedieKul turenoffenbardurchnichtnäherbestimmteKräftezusammen(55f).Vielleichtkönntemanes sichsovorstellen,dasspolitischeEinheitensolangestabilbleiben,wiederkulturelleZusammen haltnochstarkgenugist?WennerschwindetzerfallensieinzweipolitischeUntereinheiten.In denWortenHuntingtons„[variiert]diepolitischeZusammensetzungvonKulturkreisen[...]im LaufederZeit“(56),dochinhaltlichscheinteskeineVarianzgebenzukönnen–diesewärefür Huntington wohl gleichbedeutend mit dem Ende des betreffenden Kulturkreises, zumindest wennsieeingewissesAusmaßannähme,dasdannwiederumzumAbfalleinerpolitischenEinheit führte,dieentwederKeimzelleeinerneuenKulturseinkönnteoderabersicheinembenachbar tenKulturkreisanschlösse. WichtigandemBild,dasHuntingtonzeichnet–undesstehthierstellvertretendfüreineganze AnzahlauchpolitischweitentfernterAnsätze–istdieVorstellung,dassKulturenimKernstabile Einheitenbilden 119 .Eskönnenzwareinzelne(räumliche)Teilevonihnenabfallen,anderehinzu

118 WahrscheinlichgehörtsiedeshalbfürHuntingtonauchnichtzurKultur,denndieistjauniversal,wiewirgesehen haben,nichtvorstellbar(50). 119 DieseVorstellungübersetztderdiffusionistischeKulturkreisbegriffdannwiederumrechttreffend. 73 kommen,dochmankanninHuntingtonsKonzeptnurdannsinnvollvoneinerKultursprechen, wennsieeine„außerordentlicheLanglebigkeit“hat(55)–icherinnerehierandie Dauerhaftigkeit , dieauchfürdenKulturbegriffHartmutBöhmeseinesogroßeRollespielt. TrotzalledemistselbstbeiHuntingtonnirgendsdieRedevoneinerEssenzundesistwichtig, aufdiesenUmstandbesonderesAugenmerkzulegen.Stabilitätleitetsichinkeinemdervonmir besprochenenAnsätzeoffenauseinerEssenzher.DochStabilitätwirdals notwendige Fiktionkon zeptionalisiert.Gruppen,soscheintes,bildenKultur,indemsie„daszurjeweiligenKulturAnde reabstoßen,exterritorialisierenundentwerten“(BÖHME 1996,61).Nur:Bleibenjenerabstoßen deunddieserabgestoßenePolgleichundvorallemwenigstensprinzipiellvoneinandergetrennt oderumschließtderKulturbegriffselbstschondieseBinaritätvon„ Restriktion und Mobilität “,wie es Stephen Greenblatt nahe legt (GREENBLATT 1990, 49)? Welche Implikationen hätte dieser letztere,übergeordneteBegrifffürdasKonzeptderKultur? DieRelevanzdieserFragenwirddeutlich,wennwirnuneinBeispieluntersuchen,dasdasRingen um eine postkoloniale Identität beschreibt. Die Überlegungen Léopold Sédar Senghors, die in vielerleiHinsichtmitdenThesenHuntingtonsnichtvereinbarsind,zeigeninBezugaufdieSta bilitätvonKultur(en)HomologienzudessenModell.Senghornähertsichzunächstvieloffener alsHuntingtonessentialistischenPositionen,wennerdie négritude als„rootingoneselfinoneself“, „selfconfirmation: confirmation of one’s being“ oder als „the African personality “ beschreibt (SENGHOR 1970,27).Gleichzeitighatdie négritude aberaucheinenuniversalenAnspruch.Seng hornenntsieeinen„humanismofthetwentiethcentury“(28)undstreichtParallelendieser Afri canpersonality z.B.mitdenEntwicklungenindermodernenwestlichenNaturwissenschaftheraus (2830). Négritude ,soversuchteresineinemSatzzuformulieren„is[...]thesumofthecultural valuesoftheblackworld;thatis,a certainactivepresence intheworld,orbetter,intheuniverse.“ (28, Hervorhebung B.S.) Dieses Eigene , das die négritude darstellt, denkt Senghor demnach als grundsätzlichdialogisch:esistderBeitragAfrikaszuruniversalenKultur. SenghorerscheintdamitgewissermaßenalsdasNegativvonHuntington.Zwarbezweifeltdieser, dassAfrikaüberhaupteineigenerKulturkreissei–hältesallerdingsauchnichtfürvölligausge schlossen(HUNTINGTON 1996,61)–dochverbindetbeideIdeenderGlaubenandenStellenwert einer einheitlichen spirituellen Ordnung für die Konstitution eines Kulturkreises. Vollkommen abgesehen davon, ob man diese nun für Afrika annimmt – Senghor tut dies, Huntington und einigeanderenicht–stehthinterbeidenKonzepteneinenotwendigeVorstellungvonEinheit lichkeit.SenghormöchtediesedannineineuniversaleKultureinordnen,dieHuntingtoneherfür unmöglichhält,dochauchhierstehensienichtinvölligerOppositionzueinander.Dennselbst, wennmaneineuniversalemenschlicheKulturannehme,soHuntington,brauchemannocheine BezeichnungfürundeineVorstellungvonihrengroßenUntereinheiten(77).Demwiderspricht

74 dieDarstellungSenghorsdurchausnicht,wenndieserdenBeitragder schwarzenWelt zurWeltkul turzubestimmenversucht.SenghorerscheintsoalsfriedlichereVariantevonHuntington,dieser glaubtandenKampfderKulturen,jenerandenDialog;beidengemeinsamistderGlaubeandie Notwendigkeit relativ großer und stabiler Entitäten. Der Vorwurf des Essentialismus ist von Senghordabeinichtvölligfernzuhalten,dochdurchseineBetonungdesDialogskönntemandie Erzeugungseiner Africanpersonality alsdiskursivannehmen. FrantzFanonhatsicheinersolchwohlwollendenLesartSenghorsundder négritude heftigwider setzt. In seinem Essay Sur la culture nationale 120 beschäftigt er sich mit dem für ihn zentralen „problème[...]delalégitimitédelarevendicationd’unenation“(FANON 1961,252).Nationund kulturelleEigenständigkeitbleibeninseinenÜberlegungendieganzeZeitaufeinanderbezogen. ErvertrittdamitallerdingsausdrücklichkeineessentialistischeVersiondesKulturbegriffs,son derneinepolitischkreative.SenghorsPositionistfürihnnichtsalseinAnachronismusundzwar indoppelterHinsicht:zumeinenseidieweltweiteSuchenacheiner blackcommunity ,wiesiedie négritude herzustellenversuche,eineFortführungdeskolonialistischenBildes.DieSchwarzenin AfrikaunddieinderDiasporaverbinde,außerdasssiesichalleimBezugaufdieWeißen,also aufdieehemaligenHerrendefinieren,nichtsmiteinander(261).Sieschreibenindiesemverzwei felten Versuch, der durch den Kolonialismus gebrachten Kultur etwas entgegenzusetzen, eine universalistischeEinteilungfort,gegendiesichFanonzurWehrsetzt.DieVerfechterder négritude nehmenfürihndasBildwiederauf,dasdieKolonialmachtstetsindieKöpfederKolonisierten zupressenversuchthat,„queledépartducolonsignifieraitpoureuxretouràlabarbarie,enca naillement,animalisation.“(256) Die kolonisiertenIntellektuellen (263)lenken,soFanonszentraleThese,ihrenBlicknichtindieZu kunft,sondernindieVergangenheitunddiesistdannderzweiteAnachronismusdessensiesich schuldigmachen.SiesuchenTransnationalitätundHomogenitäteinerpanafrikanischenKulturin einerdurchForschungzugänglichgemachtenHinwendungzurVergangenheit,ineinerErinne rung an „lambeaux momifiés qui, stabilisés, signifient [...] la négation, le dépassement, l’invention.“ Kultur lasse sich nicht in dieser Weise still stellen: „Dans son essence elle est à l’opposédelacoutumequi,elle,esttoujoursunedétériorationdelaculture.Vouloircolleràla traditionouréactualiserlestraditionsdélaisséesc’estnonseulementallercontrel’histoiremais contresonpeuple.“(270) BeiallerZustimmung,dieichFanonsThesenimGrundsatzentgegenbringe,mussdocherwähnt werden,dasserdenBegriffdesVolkes( peuple )inrechtauffälligerWeiseverwendetundihnmit denBegriffenderKulturundderNationzuverbindensucht.WieunterscheidetsichdieserBeg riffvonVolkundNationnunabervondemSenghors,denFanonsoausgiebigkritisiert?Ein

120 FANON 1961,249296. 75 Blick auf die drei Phasen, die Fanon für die Entwicklung einer Nationalliteratur unter (post)kolonialenBedingungenansetzt,solldiesbeantworten.SielassensichmitdenSchlagwor tenImitation,ErinnerungundKampfüberschreiben:IndererstenPhaseimitiertendiekoloni siertenIntellektuellenFanonzufolgediegeistigenStrömungenderMetropole,alsodesKolonisa tors.InderzweitenPhase–zuihrgehörtdie négritude –beginnesichderIntellektuellezuerin nernundzwarinderbeschriebenenanachronistischenundstarrenWeise.„Maiscommelecolo nisé n’est pas inséré dans son peuple, comme il entretient des relations d’extériorité avec son peuple,ilsecontentedesesouvenir.“(268)ErstinderdrittenPhasewürdendieIntellektuellen politisch,schriebennuneine„littératuredecombat,littératurerévolutionnaire,littératurenationa le.“(268) DasErreichendieserletztenPhaseistFanonserklärtesZiel.Inihr,soseineÜberzeugung,findet der progressive und kreative Charakter von Geschichte und Politik endlich ein Forum, die SchriftstellerbeschäftigensichnichtmehrmitFremdem,wieinPhaseeins,odermitVergange nem,wieinPhasezwei,sienehmen–endlich–ihrSchicksalindieHandundbenutzendieihnen zuGebotestehendenWaffendesGeistesnicht alleingegen dieUnterdrückungssituation,son dernauchzurkonstruktivenArbeitanderneuenNation. HintergrunddiesespositivenNationalkonzeptsbleibtderKolonialismus.DasFremdegehörthier konzeptionellzurKolonialmachtundmussdeshalbvermiedenwerden.JedochistFanonsVor gehenetwasundurchsichtig,dennerselbstschreibtnichtnuraufFranzösisch,sondernbedient sich–alsPsychoanalytiker–auch„fremder“oder„westlicher“Theorien.Erbenutztalsoseine europäischeBildung,umKritikzuüben–einUmstand,derfürafrikanischeIntellektuellenicht ungewöhnlichist 121 .DerUnterschiedzwischenderzweitenundderdrittenvonFanonangesetz tenEntwicklungsphasedesintellektuellenLebensindenehemaligenafrikanischenKolonienist davon nicht berührt: Fortschritt und Entwurf, statt Stabilisierung und Rückschritt lautet sein Motto.„Sebattrepourlaculturenationale,c’estd’abordsebattrepourlalibérationdelanation, matricematérielleàpartirdelaquellelaculturedevientpossible.“(280)EineRückwendungzu verschüttetenKulturfragmentenausvergangenenJahrhundertenbedeutetfürihnletztlichEntpo litisierungundResignation. AuchdasVerhältnisvonersterunddritterPhaseistalsgroberEntwurfklar.DerWegzureige nenKulturkannnichtüberdieImitationvonVorbildernlaufen,dieausdemgeistigenLebender Kolonialmächtestammen.Schwierigwirdeserst,wennmanversucht,denStellenwertdesdurch denKolonialismuszweifellosnachAfrikaübertragenenWissenszubestimmen.Wasgenau,so ließesichnämlichfragen,istImitation?UndwoermöglichtsieeinekritischeStellungnahmeso 121 Vgl.hierzuundauchallgemeinzurFragederNationalliteraturimpostkolonialenAfrikadenAufsatzvonChristo pherL.MILLER 1993,90ff. 76 wohlgegenüberderKolonialmachtalsauchgegenüberderFührungselitederneugegründeten Nation?–unddieseletzteFunktionmüssenIntellektuelleundSchriftstelleralsdiepolitischHan delnden,diesiefürFanonseinsollen,unbedingtausfüllen.ChristopherL.Millermachtaufdas Mittel aufmerksam, das sich ihnen zu dieser Aufgabe bietet und von dem sie schon lange Gebrauchmachen: „European high culture can be used against itself , as a tool for liberation. Thus, while [René,B.S.]MaranandhisheirsinfrancophoneAfricanliteraturemaypersistinusingan ‘alien’mediumofexpressionandinappealingtoidealstheylearnedincolonialschools, theydosointhenameofselfdetermination,inthenameofanationthatdoesnotyet exist.“(MILLER 1993,73) Diese Möglichkeit, die Miller im Laufe seines Artikels schließlich mit einer Hybridisierung im Sinne Homi Bhabhas verknüpft (75, 80, 90), scheint in Fanons Modell nicht als klare Option verortbarzusein.DennfürdiesenentstehtdieeigeneKulturerstnachderBefreiungvonder Kolonialmacht.Wiediese Befreiung angesichtsderkolonialenRealitätinderWeltaussehensoll,ist mitFanonnichtauszumachen.FanonspolitischerImpetusträgtihnzueinemnichtnäherbe stimmtenGlaubenandieMöglichkeitdesEigenen,dassichinirgendeinerWeisevonTradition undkolonialerVergangenheitunterscheidet.DiesePositionistzwarnichtimeigentlichenSinne essentialistisch,wiemandiesdenAusführungenSenghorsunterstellenkann,abersieverweistim KernnichtsdestowenigeraufklarekulturelleParzellierungen. DiesisteinwichtigerPunktmeinerArgumentationundErgebnisdieseserstenÜberblicksüber einigeTheorien,die Kultur alsstabilbegreifen:Essentialismusistinkaumeinergegenwärtignoch diskutierten Identitäts oder Kulturtheorie mehr zwingend vorhanden, den Konstruktivismus habenalleaufdieeineoderandereArtintegriert.DerentscheidendeUnterschiedzweierTypen vonKulturtheorienbestehtnunmehrdarin,wiederAushandlungsprozessvonKulturbeschrie benwirdundvorallem,vonwelcherBasisauserstartet.DieserUnterschiedistmitdemGegen satzpaarvonIdentität/StabilitätversusHybriditätnurunzureichendzuerfassen.Einmalabgese henvonderschwierigenDefinitionderbeidenPolediesesGegensatzesistnämlichauchderBeg riffderHybriditätfürsichgenommenallesanderealseinhomogenerAntipodezudemderIden tität.HybriditätkannnämlichebensowieIdentitätvonfestenUntereinheitenhergedachtwer den.FürdiesenUmstandwarHuntingtonsVariantedesKulturkreiskonzeptseingutesBeispiel. FürjenenmöchteichimFolgendendieSemiosphärentheorieYuriLotmansnäheruntersuchen. VonseinerTheorieausgehendwirdesmöglichsein,denBegriffderHybriditätgenauerzuklären undaufeinezeitlicheParadoxiehinzuweisen,diebeiseinerVerwendungfastallgegenwärtigist. NachdieserBetrachtungamPolderHybriditätkanndannabschließenddasgesamteGegensatz paarwiederindenBlickgenommenwerden,umesinseinerVerbindungzumKulturbegriffge nauerzuuntersuchen.DabeiwirddieFragezustellensein,obdieeingangsbenanntenbeiden

77 Bedeutungenvon Kultur –dieanthropologischeunddieästhetische–ingleicherWeisemitdem PaarIdentität/Hybriditätvernetztsind.DievonmirzuBeginnalsHypotheseaufgestellteSyno nymie von Kultur und Identität müsste so eventuell in Abhängigkeit vom jeweiligen Feld be trachtetwerden,dasderKulturbegriffimeinzelnenFallaufspannt. BeweglicheKulturen.DasLotmanscheRealitätsgefälle YuriLotmandefiniertinseinem1990erschienenenBuch UniverseoftheMind dieSemiosphäreals „The semiotic space necessary for the existence and functioning of languages, not the sumtotalofdifferentlanguages;inasensethesemiospherehasapriorexistenceandisin constantinteractionwithlanguages.Inthisrespectalanguageisafunction,aclusterof semioticspacesandtheirboundaries,which,howeverclearlydefinedtheseareinthelan guage’s grammatical selfdescription, in the reality of semiosis are enroded and full of transitional forms. Outside the semiosphere, there can be neither communication, nor language.”(LOTMAN 1990,123f) Diese Ausgangsdefinition Lotmans legt sofort mehrere Fragen nahe: Was bedeutet semiotischer Raum ( semioticspace )?Washabeichmiruntereiner Übergangsform ( transitionalform )ineinerSprache vorzustellen, die ihrerseits in ihrer grammatikalischen Selbstbeschreibung klar definiert ist? Zwi schenwelchenEinheitenbildetdie Übergangsform einenÜbergang?Undschließlich:inwelchem SinngehtdieSemiosphärederSprachevoran? Der semiotische Raum, so wird schnell deutlich, ist an einen Kulturbegriff gekoppelt. Diese KopplunglässtdabeiwiederumdenBegriffderSpracheambigwerden:meintLotman,dasseine KulturmehrereSprachenumfassenkann,ineinemSinne,wiediesauchHuntingtonnahegelegt hatte,odermeintermit mehrerenSprachen eherverschiedeneIdeolekte,dieinnerhalbeinereinzigen Nationalsprache zu unterscheiden sind 122 ? Da Lotman seine Idee der Semiosphäre an den der Biosphäreanschließt,ließesichdieSemiosphäresogaralsderRaumbegreifen,indemsämtliche semiotischenProzesseablaufenunddashieße,esgäbeeigentlichnureineeinzigeSemiosphäre– sowieesjainderTatauchnureineBiosphäregibt 123 .DieEntscheidungwirddurchdieTatsache erschwert,dassLotmananderStelle,andererseinKonzepteinführt,einmaleinfachvon„cultu re“, dann wieder von „the culture in question“ spricht (125) und auch weiterhin teils den be stimmten,teilsdenunbestimmtenArtikelvor semiosphere setzt.WennerspäterdenBegriffder Grenzeeinführt,scheintes,alsgeheerdavonaus,dassesmehrereSemiosphärengebe(z.B.136), 122 CorneliaRuhemachtbeiihrerBeschreibungdesLotmanschenKonzeptesdenmäanderndenKursLotmansmit (C.RUHE 2000,176fbzw.185ff)undinvisibilisiertsodieProblemeseinerTheorie,diesieals„enrichissantepour unelecturedelalittératurepostcoloniale“bezeichnet(191). 123 Vgl.hierzuLotmansDarstellungderTheorieVernadskys(LOTMAN 1990,125):„Thesemiosphereistheresult andtheconditionforthedevelopmentofculture;wejustifyourtermbyanalogywiththebiosphere,asVernadsky definedit,namelythetotalityandtheorganicwholeoflivingmatterandalsotheconditionforthecontinuationof life.“ 78 diederRaumfürjeweils eine Kultur sind,wobei dieser Kulturbegriff nichtwirklich geklärt ist: FälltermitdenSprachoderdenStaatsgrenzenzusammenodergehterüberdiesehinauswiebei Huntington? DieFragenachdem,wasundwievielein semioticspace umfasst,wirdalsovonLotmannichtein deutigbeantwortet.Darausfolgt,dassauchdieTransformationsundAustauschprozesse,dieer beschreibt,imKernunklarbleiben.DenndieseProzessefindensowohlinnerhalbdereinzelnen undwesenhaftheterogenenSemiosphäre(125)alsauchzwischenmehrerenSemiosphärenstatt (136f).Dasheißtwiederum,dassdieGrenzziehungzwischen„’itsown’internalspaceand‚their’ externalspace“,mitderfürLotmanjedeKulturbeginnt(131),sowohlalsdasheterogeneEle mentgesehenwerdenkann,daseine(die?)Semiosphäreprägt,alsauchalsdasElement,dasdie einzelneSemiosphärevoneinerbenachbarten–undauch,wasdasbedeutet,wärezuklären– unterscheidet.LotmanbenenntdiesesParadoxallerdingsvonAnfangan,beschreibt„theinternal spaceofasemiosphere“als„atthe sametimeunequalyetunified,asymmetricalyet uniform“ (131). Das bedeutet, eine Semiosphäre ist zwar heterogen, aber gleichzeitig auch homogen – nämlichinBezugaufdiebenachbarteSphäre.FürdieHeterogenitätmussnichtgesorgtwerden, sieeignetderSemiosphärevonBeginnan.IhreHomogenitätwirdhingegenaufeinerMetaebene hergestellt,aufdereineidealisierte semioticmap derSemiosphäregezeichnetwird,diesichmitder Zeitändert,waszuunterschiedlichen semioticmaps fürunterschiedlicheEpochenführt(129).Die semioticmap ,das pictureoftheupperlevel (130)istdemnacheinheitlich,das lowerlevel ,dieRealität,ist diversunddurchzogenvondenverschiedenstensemiotischenProzessen. DiesebeidenEbenen,soversteheichLotman,bildendieGrundlagefürseinewichtigeUnter scheidungzwischenZentrumundPeripherie 124 ,wennerauchbeiseinerIdentifizierungderGren zenals„hottestspotsforsemioticizingprocesses“(136)wiedereherdieGrenzezwischenzwei verschiedenenSemiosphärenzumeinenscheint.MiteinemweitenTextbegriffbeschreibterdie Grenzeals „amechanismfortranslatingtextsofanaliensemioticsinto‚our’language,itistheplace wherewhatis‘external’istransformedintowhatis‘internal’,itisafilteringmembrane which so transforms foreign texts that they become part of the semiosphere’s internal semioticswhilestillretainingtheirowncharacteristics.”(137)

124 DiesesVerständnisführtmichautomatischzuanderenErgebnissenalsCorneliaRuhe,dieihrenAkzentaufdie ProzessezwischenmehrerenSemiosphärenlegt,waszudemProblemführt,dass Zentrum und Peripherie beiihreine realereBedeutunggewinnen(vgl.z.B.RuhesAbschnitt„Diebanlieue–‚acreolizedsemioticsystem’,C.RUHE 2000, 185ff),wosiebeiLotmanmeinerAnsichtnachgeradeauchineinem Realitätsgefälle zueinanderstehen:DasZentrum istzwarbestimmend,dochesbildetgleichzeitignureinenkleinenAusschnittdersemiotischenProzessederSphäre: „Sowhileonthemetalevelthepictureisoneofsemioticunity,onthelevelofsemiotic reality whichisdescribedby themetalevel, allkindsofothertendenciesflourish .“(LOTMAN 1990,130,HervorhebungenB.S.)DieFormulierungist nebenbeiauchnocheinmaleineIllustrationfürdasParadoxzwischenHomoundHeterogenität,diesoderSemi osphäregleichzeitigzukommen. 79 DieserÜbersetzungsprozessistfürLotmantreibendeKraftdessemiotischenGeschehensüber haupt.ErlässtsichdaherauchalsMechanismusinnerhalbeinerSemiosphäre,zwischendenein zelnen Ideolekten oder Diskursen vorstellen. Dabei wird der eindringende fremde Text nicht einfach assimiliert, sondern er behält seine eigenen Charakteristika. Übersetzung funktioniert demnachinLotmansVorstellungdialogisch.ErentwirftfolgendesMustervondiesemProzess (144f): Kulturelle Einheiten (Lotman gibt als Beispiel die Geschichte der englischen Literatur oderdesrussischenRomans)unterliegeninderZeitunterschiedlichtiefgreifendenVeränderun gen.EsgibtPeriodenrelativenStillstandsundsolcheheftigerKämpfeumPraktikenundKon zepte.DerStillstandistfürLotmannunResultateinerInaktivitätderfremdenTexte,dieausden angrenzendensemiotischenStrukturen(fürLotmanlässtsichseinMusterauf„unitsofalllevels“ beziehen„fromgenrestonationalcultures“,144)indiejeweiligeStruktureinströmen.Aufdie PhasedesStillstandsfolgteinederSättigung,inderdieTexteangepasst,d.h.indemobenbe schriebenenSinneübersetztwerden.WenndieseSättigungeinenbestimmtenGraderreicht,be ginntdieempfangendeStrukturaktivzuwerden, produziertTexteund bombardiert (145)damit alleanderenStrukturen.DiesenVorgangnenntLotmaneinen„changeoverbetweencentreand periphery“(145).DasempfangendeundnunheftigproduzierendeSystemexpandiertundver größertsomitseinenEinfluss–Lotmanspezifiziertnicht,inwelcherHinsicht.Mutmaßlichmeint er den gesellschaftlichen Einfluss der betreffenden semiotischen Struktur. Sie avanciert zum ZentrumderKultur. DieseBeschreibungwirfteinbedeutendesProblemauf:sielässtsichnurschlechtmitdervon LotmanangesetztenHeterogenitäteinerSemiosphärezurDeckungbringen.Diesgelingtallen falls,wennmandasbeschriebeneModellalsVorgangaufdererwähntenMetaebenedenkt,d.h. wenneseinenKampfumdieidealisierendeDeutungshoheit,nichtumdiesemiotischeRealität beschreibt.LotmantrenntdasandieserStellenichtmehrsaubervoneinander,wasbewirkt,dass Zentrum und Peripherie nicht als virtuelle, sondern als konkrete Konzepte erscheinen. Dieser EindruckwirddurchdieseinModellillustrierendenBeispieleverstärkt,diesichausschließlichauf kulturelleKämpfezwischenNationenbzw.Völkernbeziehen(145f).FürMachtkämpfe innerhalb derKulturgibterkeinBeispiel. LotmanschangierendeStrategieinBezugaufdieBeschreibungdessen,waskulturelleEinheiten sind,wiesiedemzufolgeinVerbindungstehenundanwelchepolitischenEinheitensiegebunden sind (Sprachgemeinschaften, „Völker“, Nationen), ob sie es überhaupt sind, mündet an dieser StelleineineSetzungdieserEinheiten.DieseSetzungerfolgtabernichtausdrücklich,sondern implizitanhandderBeispiele.SeinTextversuchthierdasParadoxaufzulösen,daserananderer Stelleeingeführthatte,wirddamitabernichtmehrderparadoxenStruktursemiotischerProzesse gerecht,diejageradeineinemRealitätsgefällezwischenhomogenisierenderMetaebene,diesich

80 alsidealisierendesZentrumzuetablierenversucht,undheterogenerPraxisbesteht,diediesehe gemonialenBestrebungenständigunterläuft. LotmansFormulierung,dass„theperipheryisbrightlycolouredandmarked,whereasthenucleus is‚normal’,i.e.lackingincolourorscent,it‘simplyexists’”(141)gerätdurchdieseWendeinei nenessentialistischenDunstkreis,denndieses itsimplyexists istplötzlichnichtmehralsidealisie renderMachteffektausgewiesen,sondernerscheintunangenehmkonkret,ja,beinahenaturalisie rend.DiekulturelleDynamik,diedurchaussehrweitgehendausseinemAnsatzherauszulesenist, unddiesichsowohlzwischendenSemiosphärenalsauchinihnenabspielt,bekommtsoplötzlich Schlagseite.Denngrundsätzlichistnichteinzusehen,warumesinseinemModellschwierigersein solltezuerlernen,das eigene semiotischeSystemzuhandhaben,alsein fremdes .Ermussdafürir gendeineFormvonNähezwischenElementenderselbenSemiosphärepostulieren.Außerdem von ihm angesprochenen Metadiskurs ist aber nichtsvorhanden,was diese Nähe rechtfertigen könnte.DerMetadiskurswirdaberbeiseinerEinführunggeradealsidealisierendundrealitäts fern,jedochwirkmächtigbezeichnet.DieserklugeZuschnittseinesKonzeptsgehtLotmanbei derBeschreibungderDialogprozesseinundzwischendenSemiosphärenwiederverloren. Meine eingangs formulierte zweite Frage lässt sich folglich nicht eindeutig beantworten: Zwi schenwelchenEinheitenvermittelndie transitionalforms undwasgenausindsie?Esscheintsie überallzugeben,nichtnurinderPeripherieeinerSemiosphäre–wennernstzunehmenist,dass indenkulturellenKernvordringendeTexteihreBesonderheitenbehaltenundebennichteinfach gleichgemachtundassimiliertwerden.DochdannfehltesdemKernzwaran colourandscent ,doch ebennuraufeinerMetaebene.DurchihreBeherrschungversuchtjederherrschendeDiskurs,sich selbstalsnormalundalsdenStandardzupräsentieren,vondemallesandereAbweichungensind. DochdiesbleibteinSichPräsentieren,gewinntkeineSubstanz. DieserPunkt,derinLotmansKonzeptdurchausangelegtist,hättestärkerherausgearbeitetwer den müssen, um so dem Vorwurf zu entgehen, das Modell gehe letztendlich doch von festen relativstabilen–oderummitHuntingtonzusprechen langlebigen –Einheitenaus.Erwürdees dannaucherlauben,aufdieletztevonmirzuBeginngestellteFragezuantworten,inwelchem Sinn die Semiosphäre der Sprache vorangeht. Denn Lotman bleibt diesbezüglich ja zunächst rechtvage: IneinemSinne gehtdieSemiosphäreSprachevoran.IneinemanderenSinnetutsiedies dann offenbar nicht – bleibt, das Verhältnis dieser beiden Funktionen der Semiosphäre zu bestimmen. Dies scheint mir aus der nun geleistetenAnalyse heraus allerdings nicht mehr so schwierig zu sein.DennaufdereinenSeitewirdzwardieSemiosphäredurchdie–sprachlichvermittelten– semiotischenProzessekonstituiert,wirhabenunsLotmansPhasenmodellgeradebetrachtet.Die semiotischenProzessesindalsoständigdabei,dieSphäre,indersoetwaswieBedeutungüber

81 haupterstmöglichwird,zubauenundzuverändern.EinzelneDeutungsstrukturenoderDiskur sekämpfenbuchstäblichdauerndumdieVorherrschaft.IndiesemSinneistdieSemiosphäreder Sprache nachgeordnet . AufderanderenSeiteistsiediesallerdingsnicht,dennderidealisierendeMetadiskurshomogeni siertundnormalisiertjabestimmteBedeutungsstrukturenundgibtvor,diesaufDauerzutun. DiesentsprichtzwarnichtderRealität,abergenaudieseInvisibilisierungderHegemonialkämpfe aufderMetaebeneistseineFunktion.ErsollbestimmteStrukturengeradealsunhinterfragbar undnatürlichausweisen.IndiesemSinnegehtdieSemiosphärederSprache voran ,nurvoreinem solchenHintergrundkannesüberhauptBedeutunggeben.DassdieseStrukturenaberkonstruiert sindundsichimLaufederZeitändern,diesherauszustellenistAufgabederAnalystin.Ankeiner StelledarfsiedieseswesentlicheDetailausdenAugenverlieren. Dassdiesallerdingsnichtunmöglichist,dassmandenAnsatzLotmansauchalseineBeschrei bungvonKulturalszusammengesetztausfestenUntereinheitenlesenkann,zeigtderAufsatz vonCorneliaRuhe,indemsieLotmansAnsatzaufdieinterkulturelleLiteraturangewendethat. Ruhe untersucht in ihm die Shérazade Trilogie der algerischen Schriftstellerin Leïla Sebbar. Be sondereAufmerksamkeitwidmetsiedabeidemsynkopiertenNamen,dessenauffälligeVerände runginderRomanhandlungthematisiertwird 125 .ImAnschlussanAnneDonadeysInterpretation der ShérazadeTrilogie kommt Ruhe zu dem Schluss, dass die „syllabe perdue“ in Shérazades NamenvondiesernichtalsMangelerlebtwird,sonderndasssie„ihrenNamenalssymptoma tischfüreineKultur“versteht,dieinihrerGeschichtestetseineGrenzregionzwischenOrient undOkzidentgewesensei:„InseinerverkürztenFormistderNamezukunftsweisendesSymbol undkannsomitzumAnsatzpunktfüretwasNeueswerden,fürden‚thirdspace’der croisés .“(C. RUHE 2000,188)FürdenBegriffdes thirdspace verweistRuheineinerFußnoteexplizitaufHomi Bhabha. BhabhasHybriditätsbegriff,wieerinderBezeichnung thirdspace griffigverdichtetist,istdabei abergeradenichtdas,wofürRuheihnhält.EristkeinSchnittpunktzweierKulturen,diefürsich genommenbestimmbareEntitätenbilden,erkannkein Ansatzpunkt sein,dennihmeignetkeine Identität:„formetheimportanceofhybridityisnottobeabletotracetwooriginalmoments fromwhichthethirdemerges,ratherhybriditytomeisthe‚thirdspace’whichenablesotherpo sitions to emerge.“ (BHABHA /R UTHERFORD 1990, 211) Doch genau diese two original moments setztRuhevoraus,wennsiedenNamenShérazade(mitHustonundSebbar)als„croisement[...] de l’Orient et de l’Occident“ bezeichnet (C. RUHE 2000, 188). Diese Ungenauigkeit ist aber FruchtderUneindeutigkeitinLotmansKonzept,dieRuheübersieht,dieabervonAnsätzenwie demjenigenBhabhasinentgegengesetzterRichtungwegführt.FürBhabhaistder dritteRaum ge

125 Vgl.dazuC.RUHE 2000,187. 82 radekeineKreuzung,sondernetwas,ausdemdiebeidenfälschlichalsursprünglichundmitsich identisch gedachten Entitäten – in diesem Fall Orient und Okzident – ihrerseits kommen. Im folgendenAbschnittwirdnochausreichendGelegenheitdafürsein,dieverschiedenenHybridi tätskonzeptenäherzubetrachten.Zunächstsolltedeutlichgewordensein,dassderBegriffder KreuzungoderderVermischung,wieerbeiRuhe,abernichtnurbeiihr,auftaucht,aneinKon zeptgebundenist,dasHybriditätalszusammengesetztausfestenUntereinheitenbzw.alsher vorgegangenausbestimmbarenEntitätenbegreift.DieseSichtweisekommtbeiRuheauseiner bestimmtenLesartvonLotman,dersich,wieichgezeigthabe,sehrunklargegenüberdemvon ihmselbstpostuliertenRealitätsgefällezwischenMetaebeneundalltäglicherfahrenersemiotischer Praxisverhält.DievonRuhegewählteLesartisteine,diederLotmanscheTextbereitstellt,wenn ersieauchnichtzwingendnahelegt.Sieistdannallerdings,imGegensatzzumvonmirgewähl tenAnsatz,nichtmehranschlussfähiganeindekonstruktivesKulturkonzeptàlaBhabha. DasParadoxonderursprünglichenHybridität „Die Vermischung ist nicht akzidentell, sondern ursprünglich;sieistnichtkontingent,sondernnot wendig;sie ist nicht:siegeschieht. “ (NANCY 1993,7) DerBegriffderHybrideistausderBiologieübernommenworden.DieseÜbernahmefandschon im19.JahrhundertstattundzwarnichterstalsReaktionaufdenVordenkerdermodernenGene tik,JohannGregorMendel.RobertJ.C.YounghatdenZusammenhangvonHybriditätundFort pflanzungsowiedendarananschließendenRassismusüberzeugenddargelegt 126 .InseinenAus führungenwirdderDiskursdarüber,obdieMenschheiteineEinheitbildetoderobunterschied liche menschliche Arten ( species ) anzusetzen sind, schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet.DerBegriffderHybriditätkommtinsSpiel,alsesdarumgeht,dieExistenzmeh rerer Menschenarten nachzuweisen. Als Waagscheide dafür galt für einige Theoretiker, ob die NachkommenschaftzweierMenschen,diealsverschiedenenArtenzugehörigverdächtigwaren, weiterhinfruchtbarbzw.zeugungsfähigwar: „Theuseoftheterm‚hybridity’todescribetheoffspringofhumansofdifferentraces implied,bycontrast,thatthedifferentracesweredifferentspecies:ifthehybridissuewas successfulthroughseveralgenerations,thenitwastakentoprovethathumanswereall onespecies,withthedifferentracesmerelysubgroupsorvarieties–whichmeantthat technicallyitwasnolongerhybridityatall.“(YOUNG 1995,9) YoungsKritikamHybriditätsbegriffdecktsichdemzufolgemitmeinereigenenamSemiosphä renkonzept.AlleineseinGebrauchlegtnämlichstabileUntereinheiten von irgendetwas nahe,diesist

126 Vgl.YOUNG 1995,619. 83 dasErbeseinerGeschichte,dassemantischeSediment 127 .UndwieYoungzeigt,istdieses irgendet was imFalledesHybriditätsbegriffsnichtsgeringeresalsdieExistenzvonMenschenarten.Bereits dieAnnahmevon Rassen oder Varietäten hat,wiedieGeschichtegezeigthat,verheerendeAuswir kungen,denneinmalangenommen,istesallenfallseineFragederZeitbis–mythisierendimSin neBarthes’–dieseUntereinheitenmitwertendenAttributeninVerbindunggebrachtwerden. Youngdifferenziertaberdurchaus,erräumtein,dassnichtjederHybriditätsbegriffdemanderen inderVerwendunggleicht.NichtsdestowenigerbleibtseinVorbehaltgegendieVerwendungdes Begriffsinsgesamtvalide.IchmöchtenunimFolgendendieobenschonformulierteFragedisku tieren, ob sich ein Unterschied in der Verwendung des Hybriditätsbegriffs im Zusammenhang mitdenbeidenFelderndesKulturbegriffsfeststellenlässtundobesSchnittmengengibt. DabeidarfderBefund,denichdurchdieDiskussiondesAnsatzesvonYuriLotmangewonnen habe,nichtausdemBlickgeraten.ErscheintmirsogareineSchlüsselstellungbeiderÜberprü fung der These einzunehmen: Impliziert nicht der Terminus der Hybridität , genau wie der der interkulturellen Literatur ,dassbeieinersolchenKategorisierungvonvornhereindavonausgegangen wird,dassessoetwaswieKulturen gibt?GanzohneZweifel.Dochmansolltevorsichtigermit demGebrauchdieserBegriffewerden,wennmanYoungsEinwändeakzeptiert.Sowieerzeigen kann,dassangeblichnatürliche,objektivnachprüfbareKriterienzurErstellungeinesKategorien systemsinBezugauf Art oder Rasse benutztwerdenkönnen,sokannmannatürlichzeigen,dass KulturenvoneineranalytischenzueinerrealenGrößegemachtwerden,sobaldeinebestimmte Art von Diskurs über sie geführt wird. Alle konstruktivistischen Präliminarien nutzen nichts, wenndasRealitätsgefälle,vondemLotmanspricht,anirgendeinerStelleeinestheoretischenAn satzesvergessenwird,denngenaudannkommtesautomatischzumythisierendenBewegungen. BeimTerminusder interkulturellenLiteratur bestehendiesemutmaßlichineinerVerbindungvon (National)LiteraturundeinemunscharfenKulturbegriff,derebenauch,ineinemeherdemanth ropologischen Feld zuzuordnenden Sinn, geschliffene Umgangsformen und sittliche Reifung bezeichnenkann.DiemöglichenAssoziationenliegenbeidiesemBeispieloffenzutage. Betrachten wir die Verwendung des Hybriditätsbegriffs zunächst in einem klassischen biologi schenText,nämlichinJohannGregorMendels VersucheüberPflanzenHybriden ,sofälltbereitseine Differenzierungauf,dieinderRezeptionundWeiterentwicklungderMendelschenThesenalsdie zwischenintermediärerbzw.dominant/rezessiverVererbungbekanntwerdensollte.DerAnstoß fürMendelsUntersuchungenwarennämlich„künstlicheBefruchtungen,welcheanZierpflanzen deshalbvorgenommenwurden,umneueFarbenVariantenzuerzielen“(MENDEL 1865,1).Die 127 ZumKomplexderSpracheundeinereindeutigzuzuordnendenBedeutungvgl.untenKapitelII.2a,insbesondere denAbschnittzu SchuldunddekonstruierterVerantwortung . 84 seneuenFarbenVariantensindnichtsanderesalsintermediäreHybriden,d.h.Hybriden,denen ihrhybriderStatusanzusehenist.DieMerkmale,dievonderParentalgenerationvererbtwurden, vermischen sich in der Filialgeneration und ergeben eine neue Variante, die die Merkmale der Elterninsichvereinigt.Soergebensichz.B.ausderKreuzungmanchrotundweißblühender PflanzenindividuenrosafarbeneNachkommen. Beidenderdominant/rezessivenVererbung(oder,wieesbeiMendelheißt, dominirend vs. recessiv ) entspringendenhybridenIndividuenistdiesesichtbareMittelbildunggeradenichtvorhanden.In diesenFällen„besitztdaseinederbeidenStammMerkmaleeinsogroßesÜbergewicht,dasses schwierigoderganzunmöglichist,dasandereanderHybrideaufzufinden.“(4)Hybriditätkann demnach auch unsichtbar sein und zu einem späteren Zeitpunkt wieder durch weitere Nach kommenschaftmanifestwerden.MendelselbstlegtdabeiwertaufdieFeststellung,dasssicheine hybrideFormvoneiner VarietätderSpecies genausowenigsicherunterscheidenlässtwiediesevon der Species selbst(2).MendelsAufsatzspieltsotrotzseinerzentralenStellungfürdieVererbungs lehrekeineRollefürdieWeiterentwicklungdesHybriditätsbegriffs,wiesievonYoungaufgezeigt wird.Dochlässtsichanihmguterläutern,vonwohersichdieDebatteumdenHybriditätsbegriff seither speist,vor allem da manch eine die biologischeVerwendungsweise des Begriffs als die wörtlicheansieht,derverschiedenemetaphorischeandieSeitezustellenwären 128 . DieSchlüsselwörterheißen Sichtbarkeit bzw. DifferenzierungvonArten .DabeizeigtschonderMen delaufsatz,dasskeineswegsgesagtist,dasseineGleichgültigkeitdemzweitenPunktgegenüber denerstenirrelevantfürdieFragestellungwerdenließe.ObmaneineDifferenzierunginArten vornimmtoderunterlässt,sagtnichtsübersinnlichwahrnehmbareUnterschiedeaus.DieFrage scheinthierzusein,obmandieseUnterschiedemiteinemWerturteilodermitanderenEigen schaftenkorreliert,diezueinemsolchenWerturteilführenkönnen,d.h.obeinemythisierende Strategievorliegt. ZweifellosistdieSichtbarkeithiervonnichtvollkommenabzuheben,ja,siebieteteinenwichtigen KristallisationspunktfürdiegenanntenBestrebungen.DochderUmgangMendelsmitihrweist daraufhin,dassdermythisierendeZugriffaufUnterschiedekeineswegszwangsläufigist,sondern dass sie auch für sich und damit wenigstens theoretisch wertneutral wahrgenommen werden könnten 129 .

128 Vgl.KAPCHAN /S TRONG 1999,240. 129 NatürlichistauchdiestatistischeAuswertungMendelsnichtwertfrei,daHäufigkeiteinfürWerturteilesehrge eigneter Angriffspunkt ist. An dieser Stelle kommtes mir nurdarauf an, dasseineWahrnehmung vonDifferenz nichtautomatischinWertungenmündenmuss,unddassumgekehrteineAbstinenzvonWertungennicht Gleichma cherei ,d.h.dieabsoluteLeugnungvonUnterschiedenbedeutet. 85 SehrfrühwurdederHybriditätsbegriffsomitUnreinheitkonnotiert 130 undbekameinenpejorati venBeigeschmack.Esistschwierigzusagen,warumersich–vordemHintergrundderschweren Hypotheken,dieermitsichführt–gegendieKonkurrenzdurchgesetzthat,dieimmerbestand: Synkretismus, bricolage ,Kreolisation, métissage .DeborahA.Kapchanund PaulineTurnerStrong meinen,ererfreuesichdeshalbsogroßerBeliebtheit,weilerinsovielenwissenschaftlichenDis ziplinenzuHausesei–eineErklärung,dieseinehistorischeSemantikunberücksichtigtlässt. Synkretismus warstetssehrstarkreligiösaufgeladenundpasstedeshalbnichtsogutzueinertheo retischenVerwendungsweise,dieweitmehralseinereinreligiöseIdentitätbezeichnenwollte 131 . DerBegriff bricolage istenganClaudeLéviStrauss’Mythenanalysegebunden.ErwirdvonLévi StraussalsMetapherverwendet,diedieFähigkeitbezeichnetauseinemgegebenenSetanEle menten spielerisch etwas herzustellen 132 . Gerade wegen dieser spielerischen Kombination von VorhandenemsehenKapchanundStrong bricolage eigentlichalsbesondersgeeignetan,postmo derneVerhältnissezubeschreiben(KAPCHAN /S TRONG 1999,241). Kreolisation isteinBegriffaus der Linguistik, der hier eine stark kreative Seite hat 133 . Er bezeichnet nicht so sehr eine Ver schmelzungzweierSprachenalsvielmehrdiegrammatikalischeNeuregulierungeinervorherver einfachten, einer sogenannten PidginSprache. Solche vereinfachten Varianten europäischer SprachensindverbreitetindenKolonienentstanden134 . Métissage istschließlicheinBegriff,der eine ähnliche Bedeutung hat wie Hybridität, der wie dieser einem biologischen Kontext ent stammtunddiegleichensemantischenSchwierigkeitenmitsichführt 135 . Hybridität hatinderpostkolonialenDebatteinderTatdenweitestenFokusalldiesermöglichen Bezeichnungenfüretwas,dasvermischtist,angenommen.SeinentheoretischenRitterschlager hielternichtzuletztdadurch,dassHomiBhabhaihninseinerTheoriedesdrittenRaumesver wendet. BhabhamachtesseinerLeserinallerdingsnichtleicht,genauherauszufinden,wasereigentlich meint,wennervonHybriditätschreibt.MonikaFludernikfiltertinihrerminutiösensprachlichen AnalysevonBhabhas LocationofCulture zweigrundsätzlicheBedeutungsmöglichkeitendesBeg

130 Vgl.KAPCHAN /S TRONG 1999,239,FLUDERNIK 1998,10. 131 Vgl.KAPCHAN /S TRONG 1999,240.COLPE 1997gibteinenbegriffsgeschichtlichenAbrissdesTerminus’ Synkre tismus ,derseinereligiösenWurzelnaufzeigt.MonikaFludernikrücktdieseVerwendungsweisenichtsostarkinden Vordergrund,wennsieaufdieRezeptiondesBegriffsdurchAbdulJanMohamedverweist,dermitSynkretismusvor allem„arapprochementbetweenselfandOther“bezeichnet(JAN MOHAMED 1985,73). 132 «[L’]universinstrumental[dubricoleur]estclos,etlarègledesonjeuestdetoujourss’arrangeravecles‘moyens dubord’,c’estàdireunensembleàchaqueinstantfinid’outilsetdematériaux,hétéroclitesausurplus,parcequela compositiondel’ensemblen’estpasenrapportavecleprojetdumoment,nid’ailleursavecaucunprojetparticulier, maisestlerésultatcontingentdetouteslesoccasionsquisesontprésentéesderenouveleroud’enrichirlestock,ou del’entreteniraveclesrésidusdeconstructionsetdedestructionsantérieures.»(LEVI STRAUSS 1962,31) 133 Vgl.KAPCHAN /S TRONG 1999,241,FLUDERNIK 1998,12. 134 Vgl.HYMES 1971,6590,sowiedenArtikel Kreolsprache in:BUßMANN 1990. 135 Vgl.denbegriffsgeschichtlichenHinweisinSHERZER 1998,105. 86 riffsheraus:ZumeinenkommtHybriditäteinerGesellschaftzu,diesichineinerGrenzsituation unterkolonialenBedingungenbefindet.DabeiistdurchdieVerwendungdesAusdrucks condition beiFludernikleidernichtherauszufinden,obsiedie Eigenschaft derRandständigkeitoderdiewie auchimmergeartete Bedingung meint,diezuRandständigkeitführt(FLUDERNIK 1998a,30),ich vermute eher ersteres. Zum anderen ist Hybridität eine Eigenschaft der Sprache, die eine Art différance erzeugt(30).AlsSchlüsselcharakteristikumdesBhabhaschenHybriditätsbegriffsbenennt FludernikamEndeihresArtikels„theveryambivalencebetweenstasisandprocessuality“(46) undfasstdamitmöglicherweisediebeidengenanntenBedeutungennocheinmalzusammen:die Prozessualitätder différance ,dieStatikderzugeschriebenenGrenzsituation. Sehrweithilftdiese Beschreibungallerdingsnochnicht. VielleichtscheitertFludernikanderVollständigkeitihrerErhebung,dennsiebetrachtetwirklich jedeeinzelneStelle,anderBhabhain TheLocationofCulture „hybrid“odereinzumselbenWort stammgehörendesLexemverwendet.DerPunktwirddeutlicherbeiderfokussierterenAnalyse RobertYoungs.ErbeziehtsichnuraufBhabhasEssay SignsTakenforWonders ,indemHybridität aneinerStelleals„ProblematikkolonialerRepräsentation“beschriebenwird,„diedieWirkungen derkolonialistischenVerleugnungumkehrt,sodassandere‚negierte’Kenntnissystemevomdo minantenDiskursBesitzergreifenunddieBasisseinerAutorität–seineErkenntnisregeln–ver fremden.“(BHABHA 1993,168) 136 .EsgehtdemnachumUmwertungundumdieSubversionvon Autorität.Hybriditätistdie ProblematikkolonialerRepräsentation ,d.h.auchhierbleibendiebeiden benanntenAspektenebeneinanderstehen:HybriditätkannsowohlalsEigenschaftbegriffenwer den,aufdiediekoloniale GefügigmachungdurchBeschreibung trifftunddiesiesodurchihreArtdes ZugriffsalsEigenschaftselbsterzeugt.MankannHybriditätaberauchalsProblematikderBe schreibungundalsoderSpracheselbstverstehen,alseineBedingungderMöglichkeitvonSpra che,diesiekonstituiertundzugleichdenBodenfürihreSubversionschafft 137 .IndieserPerspek tiveerscheinendiebeidenBedeutungennichtmehrsogrundsätzlichverschiedenwieinderbrei terangelegtenAnalyseFluderniks.Vorallemist„Bhabha’sactualuseoftheterm hybrid(ity) “hier nichtmehrso„curiouslystatic“(FLUDERNIK 1998a,23).VielmehrsindderVersucheinerstati schenZuschreibung,wiesiederkolonialeBlickundmitihmderkolonialeDiskursdarstellt,und seineSubversionuntrennbarmiteinanderverbunden. 136 AufdenselbenAspektbeziehtsichChristopherMiller,wennerinpostkolonialerLiteraturnachdemsucht„what Bhabha calls the repetition of discriminatory identity effects.“ (MILLER 1993, 80). Bei Bhabha heißt es wörtlich: „HybriditätistdieUmwertungdesAusgangspunkteskolonialerIdentitätsstiftungdurchWiederholungderdiskrimi natorischenIdentitätseffekte.“(BHABHA 1993,165) 137 Vgl.diedreifacheSpaltungdesSubjekts,derZeitundderSprache,dieElisabethBronfenundBenjaminMarius alszentraleKonzeptionnichtnurbeiBhabhaausmachen,BRONFEN /M ARIUS 1997,10f.DieLücke,diesoentsteht, istauchinderSprechakttheorieJudithButlers„RaumderHandlungsmacht“,beschränktsichhierallerdingsnicht nuraufdieFigurderUmkehrung,sondernbezeichnetdieMöglichkeiteinerallgemeinenResignifizierungvonSpra che.Vgl.BUTLER 1997,182200,hier:183,sowiedenAbschnittzurVerantwortungdesAutorsindieserArbeit,s.u. TeilII.2a. 87 ProzesshaftigkeitbedeutetdabeidenVerzichtaufeinenUrsprungvieleheralseineFokussierung aufdasIndividuelleundeinenVerlustdesGemeinschaftlichenbzw.Politischen.SoleitetBhabha etwaseineÜberlegungenzur VerortungderKultur dergestaltein,dasserfürdieIdentitätskonstitu tionindermodernenWelteineAbkehrvongroßflächigenErklärungsmusternsieht–ernennt hier Geschlecht oder Klasse alsBeispiele.SubjektesindinseinerTheorienichtmehrüberwiegendals einereinzelnenGruppezugeordnetzudeuten.Siekonstituierensichvielmehrineinemvielbrei terenSpektrumvonSelbstundFremdzuschreibungen. „TheoretischinnovativundpolitischentscheidendistdieNotwendigkeit,überGeschich tenvonSubjektivitätenmiteinemUrsprungoderAnfanghinauszudenkenundsichauf jeneMomenteoderProzessezukonzentrieren,diebeiderArtikulationvonkulturellen Differenzen produziert werden. Diese ‚Zwischen’Räume stecken das Terrain ab, von demausStrategien–individuellerodergemeinschaftlicher–Selbstheitausgearbeitetwer denkönnen[...].“(BHABHA 1993,2) IndiesemSinnebedeutet Prozesshaftigkeit auchkeineswegs Heimat oder Bindungslosigkeit ,sondern die allgemeine Erfahrung im Sinnevon Bhabhas Zwischenräumen . Selbstheit ist für ihn nicht so sehrfesteGrößealsvielmehroperativesZentrumeinerStrategiedesSelbstentwurfes.Esist,an ders gesagt, für Bhabha nicht entscheidend,woher jemand kommt, um zu definieren,was aus ihmwird.Esscheintnochnichteinmalsozusein,dassdieGemeinschafteineübergroßeRolle spielt.VielmehrakzentuiertBhabhadieReaktionaufdieArtikulationvonDifferenz,dieinjeder kulturellenSituationständigvorkommtunddiesinBezugaufallesmögliche,vonkleinteiligen Verhaltensweisen oder Gewohnheiten bis zu großen Entwürfen des Lebensweges. Wenn ich Bhabharichtigverstehe,möchteerdieseVielfaltgeradenichtunterdiestrukturierendenLabels vonRasse,KlasseoderGeschlecht zusammenfassen.ErhebtvielmehrdendrittenRaum,den RaumderSubversion,dieHybriditäthervor,diejedemEntwurfzugleichalsReihevonReakti onsundReproduktionsmöglichkeiteninnewohnen: „Die Repräsentation von Differenz darf nicht vorschnell als Widerspiegelung vor gegebenerethnischeroderkulturellerMerkmalegelesenwerden,dieinderTraditionfest geschriebensind.DiegesellschaftlicheArtikulationvonDifferenzistausderMinderhei tenperspektive ein komplexes, fortlaufendes Verhandeln, welches versucht, kulturelle Hybriditäten zu autorisieren, die in Augenblicken historischen Wandels aufkommen.“ (BHABHA 1993,3) HybriditätwirdsozuHandlungsfähigkeit,jafastschonzuHandlungsnotwendigkeit 138 .InBhab hasKonzeptionhatsiejedenfallsnichtsmehrzutunmiteiner–wieauchimmervorgestellten– 138 HiertrifftsichderHybriditätsbegriffBhabhasauchmitderFunktionvonLiteratur,wieStephenGreenblattsie beschreibt.Literaturist„manifestationoftheconcretebehaviorofitsparticularauthor,[...]theexpressionofthe codesbywhichbehaviorisshaped,and[...]areflectionuponthosecodes“(GREENBLATT 1980,4).DieseFunktion alisierung beobachtet Greenblatt in der Renaissance, in der „there appears to be an increased selfconsciousness aboutthefashioningofhumanidentityasamanipulable,artfulprocess“(2).DieseIdeedes selffashioning hatsich geradeauchfürdietheoretischeErfassungderGattung Autobiographie alsaußerordentlichfruchtbarerwiesen,vgl. hierzuz.B.GOLDMANN 1994. 88 UnreinheitoderVermischung.HybriditätistjenevonBronfenundMariusthematisierteLücke 139 , diederpoststrukturalistischeDiskursinSubjekt,ZeitundSprachesichtbargemachthat. Eigenartig bleibt, dass diese doch angeblich so konstitutive Lücke stets als Zwischen adressiert wird,obwohlBhabhaselbstseineTheoriedesdrittenRaumesgeradenichtalseinsolches Zwi schen entwirft,wennerauchHybriditätalsdendrittenRaumbezeichnet,ausdemanderePositio nen hervorgehen 140 . Andere als welche Positionen? wäre die adäquate Nachfrage. Und darauf entgegnet Bhabha, dass „hybridity puts together the traces of certain other meanings or dis courses.Itdoesnotgivethemtheauthorityofbeingpriorinthesenseofbeingoriginal:theyare prioronlyinthesenseofbeinganterior.”(BHABHA /R UTHERFORD 1990,211)Hybriditätsetzt also in der Zeit verschiedene Bedeutungen zusammen, sie ist der Faktor, der das Auftauchen alternativerBedeutungenermöglicht.DieserelativneuenBedeutungen–relativneu,dasieeben inderZeitspäterkommen–sinddabeilautBhabhaabernichtwenigeroriginär. DieserGedankescheintmirnichtsehrkonsistentzusein,dennervernachlässigtdieBedeutung derZeit.BhabharekurriertganzunnötigerweiseaufeinenBegriffdesUrsprungs( original ):Die Hybridität sei nichtweniger ursprünglich als die zeitlich früheren Elemente, zwischen denen sie angesiedelt ist; aber diese Elemente blieben zeitlich vorrangig. Bhabha gewinnt durch diesen Schachzugnichts,dieHybriditätbleibteinRaumodereinProzess,ganzklarwirddieserBegriffja nicht,derinirgendeinerWeiseabgeleitetist,beiBhabhaebenzeitlich.ImGrundeließesichsein ArgumentaufdiebanaleAussagereduzieren,dassetwasnichtdeshalbbedeutenderseinkann, weilesälterist.SozialeTatsacheistaber,dassgenaudiesezeitlicheRelationineineWerthierar chieumgewandeltwird:EineTraditionodereine(Bedeutungs)Praxis,dieschonsehrlangein nerhalbeinerbestimmtenGruppevorhandenist,kannnichteinfachnegiertwerden.SolchePrak tikenstrukturierendasLebenderbetreffendenGruppe,gebenihrHaltundwerdensoimanth ropologischenSinnzuihrerKultur 141 . Dadurch dass Bhabha der Hybridität einen in Bezug auf die Ursprünglichkeit gleichen Status zuordnet,erabergleichzeitigdietemporaleRelationanihreStellesetzt,kommtseinetheoreti scheBeschreibungnichtübereinenmoralischenAppellhinaus:DaszeitlicheVorher sollte nicht miteinemWertzuschlagerhöhtwerden.DieserAppellistzwarbegrüßenswert,verfehltaberdie eigentümlicheProblematik,diemitdemBegriffderHybriditätverbundenist,unddiesichinder TatambestendurchhistorischeBetrachtungenwiedieYoungssichtbarmachenlässt.Esistfür

139 Vgl.erneutBRONFEN /MARIUS 1997,10f. 140 Vgl.hierzunocheinmalBhabhasDefinitioninBHABHA /R UTHERFORD 1990,211. 141 IndiesemzeitlichenSinneargumentiertz.B.diesemiotischeTheorieRolandPosners:„KulturensindZeichensys teme;sieerfordernvondenLebewesendieFähigkeitzumVollzugvonZeichenprozessenspeziellerArtundbringen ihnendenVorteil,dasssiebeiderBewältigungihrerLebensproblemezusätzlichzudergenetischenInformation auf dieLebenserfahrungenihrerunmittelbarenVorfahrenundZeitgenossenzurückgreifenkönnen .“(POSNER 1991,39,Hervorhebung B.S.) 89 denZuschnittdesBegriffsnämlichkaumentscheidend,inwelcherWeiseeraufeineAbgeleitet heitverweist.DieFrageist,warumeineAlternativestetsnurals abgeleitetvon konzeptualisiertwer denkann.BhabhasraunenderAppellistnichtausreichend.Verschiedenheitmusszeitlichunab hängig gedacht werden, wenn sie soziale Phänomene adäquat erfassen soll. Denn ein soziales GefügeundsozialeMechanismenfunktionierenjanichtnurüberdenherrschendenDiskursund über die gängig praktizierten Muster, sondern diese gewinnen als vorherrschende erst Realität dadurch, dass sie von anderen abgesetzt sind, dass sie wenigstens strukturell eine individuelle Wahldarstellen. Ichsage:strukturell,dennichmöchteandieserStellenichtindieDebatteumdieMöglichkeit oderUnmöglichkeiteinerindividuellenWahleintreten.DieTheorienFoucaultsundBourdieus habenüberzeugenddargelegt,dassvorgeblichfreieEntscheidungenstarkvonhistorischenKon tinuitäten,epistemischenFormationenundDistinktionsmechanismengeprägtsind.Mirgehtes andieserStellenichtdarum,michmitmeinerOptionfürdiestrukturelleindividuelleWahlvon diesenÜberlegungenabzuwenden,ganzimGegenteil.GeradevorihremHintergrundhalteiches für unausweichlich, auf die implizite Wertigkeit zeitlicher Priorität hinzuweisen, die Bhabhas KonzeptvonHybriditätnichtangemessenberücksichtigt.ZeitlicheAbfolgeistvoneinemnobili tierenden Ursprungsgedanken praktisch nämlich nicht so einfach zu trennen, wie Bhabha dies nahelegt.HybriditätistvieleheralseinZwischenodereindritterRaumdie conditiosinequanon vonKultur. DeutlicherwirdmeinEinwandvielleicht,wennwirgemeinsameinenanderenbekanntenHybri ditätsbegriffgenauerbetrachten,nämlichdenMichailBachtins.InseinemAufsatz DasWortim Roman wendetersichgegendieAuffassung,dieAnalyseeinesRomanskönnesichaufinhaltliche oderthematischeElementebeschränken,bzw.dieSprachedesRomanssei außerkünstlerisch ,d.h. ungleichderderLyrik„nichtinspezifischerWeisebearbeitet“(BACHTIN 1934/35,155)undalso nichtwirklichpoetisch.BachtinsetztdieserVorstellungseinPolyphoniekonzeptentgegen,indem erdasWirkenderSprache„imMilieuderRede vielfalt “ansiedeltundSprachealsgrundlegend„in sozioideologischeSprachen“gespaltenkonzeptualisiert: „UnddiesefaktischeAufspaltungundVielfaltderRedeistnichtnurdieStatik,sondern auchdieDynamikdessprachlichenLebens:dieAufspaltungunddieRedevielfaltverbrei ternundvertiefensich,solangedieSprachelebendigistundsichentfaltet;nebendenzen tripetalenKräftenverläuftdieununterbrocheneArbeitderzentrifugalenKräftederSpra che,nebenderverbalideologischenZentralisierungundVereinheitlichungfindenunun terbrochenProzessederDezentralisierungundDifferenzierungstatt.“(165)

90 GenaudieseMischungausDynamikundStatikinnerhalbderSprache,vonderabgehobendiese garnichtdenkbarist,konstituiertbeiBachtindenBegriffderHybridität.DennimRomankann dieseRedevielfaltfürdieKonstruktioninstrumentalisiertwerden: „Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen)undkompositorischenMerkmalennachzueinemeinzigenSprecherge hört,indersichinWirklichkeitaberzweiÄußerungen,zweiRedeweisen,zweiStile,zwei ‚Sprachen’,zweiHorizontevonSinnundWertungvermischen.“(195) DieRomanfigursprichtdemnachmitdoppelterZunge.DieStimme,dieinderplatonischenVor stellungnochdieEinheitderPersonverbürgte,wirdinderRomantheorieBachtinszumOrtei neselementarenBruchs.HybriditäterweistsichandieserStellealsderAusdruckdernichtvor handenenSelbstpräsenzdesSprechersundseinerunüberwindbarenTrennungvomMediumder Sprache,diedamitnieganzzuseinereigenenwird. Erstaunlichbleibt,dassauchdasBachtinscheKonzeptunübersehbarvoneinerZweiheitseinen Ausgangnimmt.HybriditätwirddabeivonAnfanganalsMischungbegriffen,wobeidieZwei heitinBachtinsArgumentationnichtsosehrzwingend,sonderneherüblicherscheint.Soteilter beispielsweisediesprachlichenAusdrucksweiseninzweigroßeGebieteein,dasrhetorischeund daskünstlerische,wobeidiesebeidenwiederunbestimmtoftzuuntergliedernsind(162).Auch spricht Bachtin von der monologischen Sprachauffassung von „Sprachphilosophie, Linguistik undStilistik“,die„imwesentlichennurzweiPoledessprachlichenLebens“unterscheiden:„das SystemdereinheitlichenSprache unddas Individuum ,dasdieseSprachespricht“(163).BachtinsStrate giezieltnundaraufab,dasangeblichmonologischerhetorischeWort,genauwiedaspoetische, alsder„innere[n]DialogizitätdesWortes“(162)unterworfenzudenken.IndiesemZusammen hangscheintBachtinvorallemdaranzuliegen,sämtlicheBinaritäten,dieerindertraditionellen BetrachtungundAnalysederProsaausmacht,aufzulösen. Andererseits führt Bachtin einweiteres Begriffs paar ein.Wie gesehen unterscheidet er nämlich zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften, die auf eine Sprache einwirken. Doch diese UnterscheidungistinersterLinieeinInstrument,umdenMonologismusderSprachezuunter laufen. Die zentripetalen Kräfte sind diejenigen, die von Sprachphilosophie, Linguistik und Stilistik bisherindenAugenBachtinszustarkbeachtetwordensind.SiezielenaufVereinheitlichungund Homogenisierung,sindderMotorfürdieHerstellungeinerhochsprachlichenNorm.Ihnenent gegenwirkendiezentrifugalenKräfte,dassinddieveränderndenKräfteeinerSprache.Siesind dabeidiegrundlegenderensprachlichenCharakteristika,dieRedevielfaltwirdvondenNormen derHochsprachegebändigtundschütztdiesevorallzuabruptenWechseln(164). AuffälligistderPlural,indenBachtinalldieseKräfte setzt, die er nicht weiter spezifiziert. Sie verweisendarauf,dassdieBinarität,dieBachtineinführt,nureinescheinbareist;dennsieorien tiertsichzunächstaneinerDifferenzierungzwischenZentrumundPeripherie,d.h.indiesemFall 91 zwischenoffizieller,geglätteterundrealer,vielfältigerSprache.DieseVielfaltistaufdreiEbenen angesiedelt,diedasWortdurchziehen.Daistzunächst„seinedialogischeOrientierunginmitten fremderAussageninnerhalbderselbenSprache“,die„ursprüngliche[]DialogizitätdesWortes“. SieistdiebasalsteEbene,aufderSprachenichtmitsichselbstidentisch,d.h.dialogischist.Die zweiteEbenedersprachlichenVielfaltentsteht„durchdieOrientierungunteranderen‚sozialen Sprachen’imRahmenderselbenNationalsprache“.AufihristdiejeweiligeNationalsprachebe reits in sich geteilt, differenziert nach den Verwendungsgewohnheiten verschiedener sozialer Gruppen.UndschließlichgewinntSprachedrittensVielfaltdurchihreAffizierungdurch„ande re[]NationalsprachenimRahmenderselbenKultur,desselbensozioideologischenHorizontes“ (168).DieseEbeneschwächtdasmythischeDenken,mitdemNationalsprachenorganischver bunden sind (253) und in dem die „sprachlichen Verbindungen und Wechselbeziehungen als Verbindungen und Wechselbeziehungen von Momenten der Wirklichkeit selbst“ ausgegeben werden(254).DieseSchwächungereignetsichdurchdievonderaußernationalenSprachvielfalt hergestellteLösungdesabsolutenKonnex„zwischendemideologischenSinnundderSprache, vondemdasmythischeundmagischeDenkenbestimmtist.“(253)NachBachtinsAuffassung schärftdemnachdieExistenzverschiedenerNationalsprachendenBlickdafür,dassdieBedeu tung(derSinn)derSprachenichtautomatischbeigelegtist.Diesletzterebehauptetderabsolute Konnex,derdurchdasmythischeDenkeninderSpracheverankertist. AufallendreiEbenenwirdeinsdeutlich:DieIdentitätderSprachemitsichselbst,derabsolute Konnex, der Monologismus sind Illusionen, die durch autoritäre Gesten geschaffen werden. ZentrumundPeripherie,diedurchdasWirkenzentrifugalerundzentripetalerKräfteaufgerufen sind,werdensozueinerbinärenUnterscheidung,gegendiesichBachtineherwendet,alsdasser sieverficht.DenndasZentrum,solässtsichseinenAusführungenentnehmen,istautoritärver fügtesGebiet,wedernatürlichgegebennochaussichherausüberzeugend.IndieseLogikpasst auchdieUnterscheidungvonautoritäremundinnerlichüberzeugendemWort.Erstereswirdge stütztdurchdas,wasFoucaultEpistemenennenwürde,dasAusdruckfindetinder„Meinungder Allgemeinheit, [der] offizielle[n] Wissenschaft, [der] Kritik“ (229). Das innerlich überzeugende WortkannsichaufkeinedieserAutoritätenstützen,ist„oftohnejedesozialeAnerkennung[...], bisweilensogarillegal.“(229) Das„ideologischeBewusstsein“desIndividuums(229)bildetsichimKampfdieserbeidenKate gorien,seinWerdenist„derProzessderauswählendenAneignungfremderWörter“(228).Hier treffenwirdemnachwiederaufdenGedankenderWahl,dervonBachtininsofernsehrvorsich tig gebraucht wird, als er die Ideologie, die alles individuelle Streben unausrottbar durchzieht, stetsausdrücklichbenennt:ErsprichtvonideologischemAlltagslebenundideologischemWer den genausowievom ideologischenWort undvom ideologischen Bewusstsein (228f) und be

92 schreibtdamitdie(ideologische)RahmungdesAuswahlprozesses,derdieAneignungderSprache durchdasIndividuumist.BereitsBachtinsetztalsoeinegrundlegendeFremdheitderSprachean, dieJudithButlerrund60JahrespäterunterdemStichwortderZitathaftigkeiterneutthematisiert und die als Erbschaft des Sprachgebrauchs die Verantwortung des Sprechers eher stärken als verwässernsollte 142 . VordiesemHintergrundmussauchderUnterschiedgelesenwerden,denBachtinzwischender intendierten Sinnhybride undder organischenHybride macht,diemitihremDifferenzierungsmerkmal derIntentioneinsprachtheoretischhöchstproblematischesElemententhalten 143 .Inderkünstle rischen Sinnhybride werden die enthaltenen Standpunkte laut Bachtin nicht miteinander ver mischt,sonderneinanderdialogischgegenübergestellt.DersoerzeugteKontrastsolldiebeiden inderHybrideenthaltenenSprachenwechselseitigerhellen.DieSinnhybrideist„ein künstlerisch organisiertesSystemderKombinationvonSprachen “(246).ImGegensatzdazuistdieorganischeHybri deeineverdunkelndeVermischungzweierSprachenundWeltanschauungen.AuchdieseVermi schungbleibtzwar„historischüberausproduktiv“,dasie„KeimeneuerWeltdeutungen,neuer ‚innererFormen’desverbalenWelterkennensinsich[trägt]“,dochsieistimGegensatzzurSinn hybridenicht„notwendiginnerlichdialogisch“(246).MirscheineninBachtinsKonzeptionzwei unterschiedlicheBegriffedesDialogischenamWerkzusein,diedasVerständnisdiesesPunktes erschweren.DeneinenBegriffhabenwirbeider ursprünglicheninnerenDialogizitätdesWortes kennen gelernt,dieaufdererstenEbenederzentrifugalenKräfteinnerhalbderSpracheangesiedeltwar. EristzwarnichtmitderorganischenHybridegleichzusetzen,dochistdieseauchinseinemSinne dialogisch,nämlichnichtintendiert.WennBachtindasDialogischenurfürintentionaleVorgänge reservierenwollte,würdedieebenerläuterteDreiEbenenUnterscheidunghinfällig. DerzweiteBegriffdesDialogischengreiftnunbeiderSinnhybride,aber auch beiderorganischen Hybride,wenndieseaufihrdialogischesPotentialreflektiert.DenndieorganischeHybrideist zwarnicht notwendig innerlichdialogisch,dochBachtinhütetsichzubehaupten,siewäreesüber haupt nicht. Mit dieser Unterscheidung weist er demnach darauf hin, dass die Sinnhybride im Roman, im künstlerischen Prosawerk notwendig auf ihre Konstitutionsbedingungen reflektiert, währenddieorganischeHybridedieseBedingungenzumindestmitführt,wennmansichdessen im Gebrauch auch nicht ständig bewusst ist. Diese Invisibilisierung, so lässt sich aus Bachtins Ausführungenweiterfolgern,istEffektdesabsolutenKonnex,derdurchdiezentripetalenKräfte der Sprache, die im mythischen Denken und in der hochsprachlichen Normierung ihren Aus druckfinden,aufrechterhaltenwird.

142 Vgl.BUTLER 1997,46. 143 Vgl.dazudieBesprechungderDebattezwischenSearleundDerridaüberdieSprechakttheorieindieserArbeit. 93 BachtinsHybriditätsbegriffistsomitderjenige,dersichamweitestenvonderLogikderVermi schungzweierstabilerEntitätenentfernt.Esdarfdabeinichtunerwähntbleiben,dasserdennoch imZusammenhangmitderZitathaftigkeitvonSprachezudereigenartigenAuffassunggelangt, „dassvonallenimAlltaggeäußertenWörternnichtwenigeralsdieHälftefremdeWörtersind.“ (227).WieerzudieserZahlgelangtbleibtvollständigintransparent.Betrachtetmandenbetref fendenAbschnittgenauer,istallerdingsfestzustellen,dasserverblüffendeParallelenzuDerridas Zitatenlogikaufweist 144 .DiefremdenWörter,dieeinMenschausspricht,sindunmittelbarvorder NennungderZahlvon50%noch„bewusstfremde“(226).DieseDifferenzierungweistdenWeg zurInterpretationdieserMerkwürdigkeit.DennoffenbarunterscheidetdiefremdenWörtervom RestderWörternichtdieFremdheit,sonderndasBewusstsein–genauwiedieSinnhybridevon derorganischenHybridedasBewusstseinderVermischungunterschiedenhatte(246).Eslässt sichalsomutmaßen,dassderRestderSpracheauchvermischt ,dasssicheinebeliebigeSprecherin dieserVermischungabernichtnotwendigerweisebewusstist.DieandereHälftederWörterwä renso unbewusstfremde ,eineVorstellung,diemitdenAusführungenBachtinssicherlichkompatib lerwäre,alszuvermuten,dieandereHälftederWörterseiendieeigenen. InsofernistRobertYoungdiesesMalnichtzuzustimmen,wennerbeiBachtineineHierarchisie rungderbeidenFormenvonHybriditätannimmtundbehauptet,dassdieser„ismoreconcerned withahybriditythathasbeenpoliticizedandmadecontestatory:hybridityasdivisionandsepara tion.“(YOUNG 1995,21).ZweiunbegründeteAnnahmensindindieserTheseenthalten:erstens die,dassBachtindiepolitischeSprengkraftnurdereinenForm,nämlichderSinnhybride,zuer kennenwolle.Denndaraufbeziehtsich–ausdemKontextersichtlich–derKomparativ:Bach tingeheesmehrumdiesepolitische,alsumjeneunbewussteFormderHybridisierung.Hieraus ergibtsichdiezweiteunbegründeteAnnahmeYoungs,dasspolitischesHandelnnurmitbewuss terSprachbenutzungzuverbindensei.DochBachtinsPunktisteinganzanderer,wieausmeiner Analysedeutlichgewordenist:Spracheist–bewusstoderunbewusst–notwendigerweisehybrid. SchondieseKonzeptualisierungisteinpolitischesFaktum,dennsiekonterkariertdasautoritäre Wort, wie Young ganz richtig bemerkt, denn „authoritative discourse Bakhtin argues must be singular“(22).BachtinsTextmachttransparent,dasseinheitlicheSpracheinjedemFalleinnach träglichhergestelltesPhänomenist.DerGebrauchdesTerminusHybriditätistalsotatsächlich seinerseitswiederhybrid,dochnichtindemSinne,dasserzuoptimistischaufdieeigeneGeltung pochte,wieThomasWägenbaurdiesnahelegt 145 .DerDiskursüberdenBegriffderHybridität weist vielmehr die Schwierigkeit auf, dass er sich als wörtlich vermischt und zusammengesetzt vor

144 Vgl.z.B.DERRIDA 1977,14. 145 Vgl.WÄGENBAUR 1994,27.WägenbaursTextlegtdenAkzentbeiseinemtitelgebendenWortspiel( Hybride Hybri dität )aufdieDoppelbedeutungdesWortesHybridität,dassowohl„SichMischen“alsauch„SichVermessen“deno tiert. 94 einenbezweifeltenBegriffderEinheitsetzt,dasseralsoeinzeitlichesParadoxbeinhaltet.Denn inwelchemSinnekannHybriditätnochalsvermischtangesehenwerden,wenn–z.B.vonBach tin–behauptetwird,dasseseineursprünglicheReinheitnichtgibt,dassdiesevielmehreinemer gentes,nachgeordnetes,durchmythisierendeProzesseentstandenesPhänomenist,hervorgerufen durchdiezentripetalenKräftederSprache? DerGebrauchdesTerminusHybriditäterscheintunterdiesemBlickwinkelalsEffekteinesvor auseilendenGehorsams.ErantizipiertundintegriertbestritteneUrsprungsundEinheitsvorstel lungen.DasProblem,dasichindenstetsstillschweigendmitgeführtenstabilenUntereinheitenin derBeschreibungdesKulturbegriffsausgemachthabe,kannalsogeradewegenderFunktions weisevonSprachenichtgelöstwerden.DerTerminusderHybridität,daistYoungnunendgültig zuzustimmen,vermaggeradedurchseinesemantischenSedimente,diestetsvorallemein Sich Mischen nahelegen,nichtdieFragenachderExistenzvonKulturenzuklären,dennerübernimmt inseinemkritischenGestusaufsemantischerEbenegeradedas,wasdieserkritischeGestushin terfragensoll. WiestehtesnunmehrumdieVerwendungdesBegriffspaaresderHybriditätundderIdentitätin BezugaufdiebeidenFelderderBedeutungvonKultur,dasästhetischeunddasanthropologi sche? Nachdem über eine Betrachtung einigerVerwendungsweisen des Begriffs der Hybridität deutlichgewordenist,dasssichkeineTheorievollständigvomsemantischenErbediesesWortes trenntundalsoeinerVorstellungzuarbeitet,dieKulturalszusammengesetztausdistinktenEnti tätendenkt,sollnunnochgeklärtwerden,obesdiesbezüglicheinenUnterschiedmacht,inwel cherseinerbeidengängigenBedeutungenderKulturbegriffgebrauchtwirdundobundinwel chemSinnmaneineSynonymievonIdentitätundKulturannehmenkann. HypothetischkönntemanfolgendeVermutungäußern:DieKulturinihremästhetischenSinntut sichleichtermitdemAbschiedvonfestenEntitäten,denndieHochkulturistohnehineineSphä re,diedurchdieJahrhunderteinternationalrezipiertwurde.Nichtsdestowenigerfindetsichauch indenVorstellungeneinerWeltliteratur,wiesiebeispielsweisevomspätenGoethebeschrieben wurden, das Festhalten an den nationalen Besonderheiten. Goethe fordert gegenseitige Wahr nehmungundAuseinandersetzungmiteinander,jedochnichtVerschmelzung 146 .Deranthropolo gischeDiskursüberKulturwarhingegenstetsdurchdieSalienzvon–eventuellgarnichtvor handenen–Differenzengeprägt.EthnographieistinderTatauchnurdannvorstellbar,wenn manvonderExistenzkulturellerDifferenzenausgeht.DochmüssendieseUnterschiederäum lichverdichtetundteilhomogenisiertgedachtwerden? 146 „GoetheswichtigsteÄußerungenüber‚Weltliteratur’“sindim12.BandderHamburgerAusgabeaufdreiSeiten zusammengestellt(361364). 95 Wiewirgesehenhaben,isteinhybridesGenreimSinneBachtinsnichtunbedingteines,dassich ausverschiedenenNationalsprachenoderliteraturenzusammensetzt.SeineTheorie,diesichvor allemmitKulturimästhetischenSinnauseinandersetzt,hatteauchdiegeringsteNeigung,Kultur oderinseinemFallSprachealsinirgendeinerWeisereinzudenken.SeinHybriditätsbegriffver miedamsicherstendieseFalle. DochauchimBezugaufdieanthropologischeSeitedesKulturbegriffsgibtessolcheBeispiele. Zu nennen wäre z.B. William Foleys Vorstellung von Kultur alsverkörperter Praxis( culture as embodiedpractice )147 ,dieermitBezugaufPierreBourdieusKonzeptdesHabitus’ 148 sowieaufdie Systemtheorie Humberto Maturanas und Francisco Varelas 149 entwickelt. Gerade an Bourdieus Konzeptwird ersichtlich, inwelche Richtung zu denken ist, um die Einteilung in präexistente EinheitenbeiderBeschreibungvonKulturzuunterlassen,ohnegleichzeitigdieMöglichkeitauf zugeben,dieSpezifikabestimmter Praxiswelten (BOURDIEU 1980,100)zuerfassen.Bereitsin Es quissed’unethéoriedelapratique hatBourdieudenHabitusineinembestimmtenSinnvomRitus abgehoben:BeieinerrituellenPraxissindnämlichdieHandlungenperfektvorauszusehen,wo hingegenderHabitusnurretrospektivzubeschreibenvermag,warumeineHandlungaufdiese oderjeneWeisevorgenommenwurde.DerHabitusistdurchdieseinversetemporaleLogikviel variabler als beispielsweise der Ritus, der nach bestimmten Regeln vor sich zu gehen hat. Ein Habitusistnichtsalsein„SystemdauerhafterundübertragbarerDispositionen“(98),diedieGe genwartinBezugaufeinwahrscheinlichesZukünftigesstrukturieren 150 . Bedeutung,durchkulturellePraktikenvermittelt,unterdenendieSpracheeinenbesonderenStel lenwerteinnimmt(FOLEY 1997,24),wirdnungenauübersolchwahrscheinliche,aberebennicht zwingendeDispositionenerzeugt:„Thesepracticesmaybeverbalornonverbal,buttheymust becommunicativeinthesensethattheyoccuraspartofongoinghistoriesofsocialstructural couplingandcontributetotheviabilityofcontinuedcoupling.”(14)IndiesemkulturellenSpiel gibteswieinWittgensteinsSprachspielkeinenfestenRegelkodex 151 .DieRegelnsindalsonicht erlernbar, sondern nur praktizierbar, die Regelhaftigkeit des Spiels wird über einen Feedback Mechanismus,derdieSpieleraneinanderbindet,aufrechterhalten.Diesbedeutetaberinletzter

147 Vgl.FOLEY 1997,rechtübersichtlichzusammengefasstaufdenSeiten824.Vgl.auchdeneingangserwähnten „wissensorientierte[n]Kulturbegriff“ThomasWägenbaurs(WÄGENBAUR 1999,36). 148 Vgl.BOURDIEU 1980,98f.In Esquissed’unethéoriedelapratique gibteseineknappereDefinition.DerHabituswird beschriebenals„ladispositioncultivée[...]quipermetàchaqueagentd’engendrer,àpartird’unpetitnombrede principesimplicites,touteslesconduitesconformesaurèglesdelalogiquedudéfietdelariposteetcelleslàseule ment, grâce à autant d’inventions que n’exigerait aucunement le déroulement stéréotype d’un rituel.“ (BOURDIEU 1972,43). 149 Vgl.FOLEY 1997,811. 150 ZurUnterscheidungvonfreierZukunftundwahrscheinlichemZukünftigenvgl.BOURDIEU 1980,99. 151 AuchBourdieustelltdieAnalogiezumSprachspielWittgensteinsher,vgl.BOURDIEU 1980,74f;vgl.auchden AbschnittzumSprachspielinKap.II.2adieserArbeit. 96 Konsequenz,dassmanineinSpielprinzipiellstetseintretenkann,unddassmandessenvirtuelles RegulariumdurchdieeigenePartizipationverändert. VerbindenwirnundiesenGedankenmitdereingangsschonkurzerwähntenAuffassungStephen Greenblatts,derKulturalseinSystemausRestriktionundMobilitätbegreift.DieRestriktion,das seihiernurderVollständigkeithalbererwähnt,läuftdabeisowohlüberBestrafungenalsauch– und dies ist laut Greenblatt wohl die gängigere Form eine bestimmte Verhaltensweise abzusi chern–überBelohnungen 152 .DieseVorstellunglässtsichmitdemHabitusbegriffBourdieusund mitderstrukturellenKopplung( structuralcoupling )gutverbinden,wiesieWilliamFoleyalszentra lenKulturmechanismusansetzt.AmBeispieldesHabitusderArbeiterklasseundmitexplizitem BezugaufBourdieuentwickeltdieserdenfolgendenGedanken: „By engaging successfully in this ongoing history of structural coupling, the individual takes on the social behavior we recognize as diagnostic of working class, but it is also one’senactmentofthisbehaviorwhichisnecessarytocontinuebeingamemberofthe network.[...]Thoseinculcateddispositionswhichcorrespondtothedensestsectionofan individual’s relationships will generate the most experiencenear [...], unquestioned pre reflectiveaspectsofhisbehavior,whatwemightconsiderashisselfidentity.”(FOLEY 1997,22) NachdenErkenntnissen,dieichindiesemKapitelzusammengetragenhabe,kannnunfestge stelltwerden:dieseSelbstIdentitätiststarkgebundenandieGruppenidentität,wiesieüberdie KulturmechanismenalsvirtuellesRegelwerkaufrechterhaltenwerden.DerEinzelnerichtetsein VerhaltenzueinemgutenTeilanBelohnungsstrukturenaus,dieebennichtzuletztdarinbeste hen,dassersich,wieFoleyherausstreicht,mitdementsprechendenVerhaltenalsMitgliedseines sozialenNetzwerksbewährt.AußerdemistdiesesVerhalten amnächstenanseinersozialenErfahrung undwirdsomitperseersteinmalnichtinFragegestellt. FoleygliedertdieseNetzwerkenunzunächstgeographischundbeschreibt,dasseinIndividuum ineinerGesellschafteinfachphysischaneinbestimmtesUmfeldgebundenist,nachdemsein Verhaltenausgerichtetwird–aufgrundderErfolgsaussichten,dieHabitus,strukturelleKopplung undBelohnungsundRestriktionssystemeabsichern.DochFoleyräumteinunddiesistderent scheidendePunktfürdieseArbeit,dassinmodernen–undmansollteanfügen:mobilen–Ge sellschaften„thedistributionofculturalpracticesandknowledgeoftheirmeaningcanbecome extremelycomplex.Wenolongerhaveasimplelocalsocialsystem,butacomplexone,withele mentsfrommanydifferentlocalsocialsystemsthrownin.“(FOLEY 1997,23)AuchFoleyrutscht damitimplizitaufdenHybriditätsbegriffzurück,denwirbereitskennen.Dochebennichtganz, denndurchseineAusrichtungamHabituskonzeptistdasVerhalten,daserbeschreibt,ebennur nocheinrelativlokales.FoleybezeichnetKulturenalsstetsporös,alsallesanderealshomogen

152 Vgl.GREENBLATT 1990,49. 97 undalsnichtvonallihrenMitgliederngeteilt(21ff).GenauansolchenhomogenenKonzepten sindjadieIdentitätsvorstellungen,wiewirsiegesehenhaben,immerausgerichtet.Sieberücksich tigengewöhnlichnicht,dassIdentitätenimSinnedesHabituskonzeptesOberflächenphänomene sind,dienurausunüberlegten( prereflective )Handlungsweisenabgeleitetsind.Identitätensindin diesem Sinne eben auch nicht hybrid, sondern nur unterschiedlich erfolgreiche Strategien, mit denenversuchtwird,amKulturspielteilzunehmen.DerBegriffderHybridität,daistYoungvoll zuzustimmen,verwirrtbeieinergenauerenAnalysederkulturellenMechanismeneher,alsdasser hilfreichwäre. Kultur,umimBildzubleiben,wäredamitzubeschreibenalseinzwangsläufiglokalbegrenztes Spiel mitvirtuellen Regeln, die sichje abhängigvon denTeilnehmernverändern lassen. Diese TeilnehmerbringenunterschiedlicheHabitusundunterschiedlicheErfahrungeninsozialenKon textenmitinsSpiel.DielokaleKulturistaberAusdruckdieserverändertenTeilnehmerstruktur, sieistnichtdasErgebnisderVermischungvonRegeln,denneinesolchekannnichtstattfinden, wennesfesteRegelkodizesüberhauptnichtgibt.KulturistsomitstetsanderGegenwartausge richtet,alsoandenStrategienderaktuellenTeilnehmer.EineZeitdimensionkommtindasKul turspielüberdiejenigenTeilnehmer,dieschonlangeinihmmitwirken,dochauchdiehabennicht automatischdieerfolgreicherenStrategienparat.KulturbestehtwohlnichtzuletztimAushan delnvonKoalitionen,dieaneinzelnenPunktenihreirreduzibleHeterogenitätmildernsollen. AufdiebeidenFelderdesKulturbegriffsangewandtlässtsichnunschlussfolgern:fürdenanth ropologischenBereichistdasentworfeneModellvonHybriditäteineÜberzeugung,dieimmer wiederdurchmythisierendeKonsolidierungenunterlaufenwird;undgenauindieserkonsolidier tenFormistKulturimanthropologischenSinnmitIdentitätsynonym.ImnächstenKapitelwird diesanhandeinesLiteraturbeispielsnochillustriertwerden.FürdenästhetischenBereichgewinnt dasModelleinenstabilerenCharakter.FürStephenGreenblattstelltKultursowohleine„Struk tur von Beschränkungen“ als auch einen „Regulator und Garant von Bewegung“ dar (GREENBLATT 1990, 53): „Was etabliert wird, unter höchst unterschiedlichen Umständen und mitradikaldivergierendenFolgen,isteineStruktur,überdiesichimprovisierenlässt,eineReihe vonMustern,diegenügendElastizitätundgenügendRaumfürVariationenaufweisen,umdie meistenTeilnehmereinergegebenenKulturaufzunehmen.“(54)UnderstdurchdieImprovisati onüberdaskulturelleThemawirddiebeschränkendeGrenzeüberhauptsichtbar.Jemand,der sichgarnichtandieseVorgehensweisehält,sonderndasThema,überdasimprovisiertwerden darf, vollständig missachtet, wird von der Mehrheit gewöhnlich in andere Sphären versetzt, „sprich vertrieben, getötet oder zum Gott erklärt“ (54). Geniale, aber verehrte Autoren „sind wohleherbesondersbrillanteImprovisatorenalsabsoluteRevolteureoderreineErfinder“(54).

98 Dasominöse Thema ,dasderImprovisationzugrundeliegt,mussinderLogikdesKulturspielsals virtuell verstanden werden. Es entspricht keinem reifizierten Katalog an Werten oder Verhal tensmustern,sondernvielmehreinerMomentaufnahmederSpielenden.Dabeiistzubeachten, wasschonWittgensteinfürdasSprachspielherausstrich:derUnterschiedvonBeschreibungund Erklärung.DieGrammatikeinerSprachebeschreibtdiese,erklärtsieabernicht 153 .Manmussdas Spielspielen,umesgänzlichzuerfassen,steigtmanaus,verflüchtigensichauchdieRegeln.Dies istes,wasderLinguistFoleymitden culturalembodiedpractices ,wasBourdieumitdemHabituskon zept bezeichnet; dies ist es, worauf ich hinweisen wollte, als ich von einem radikalen Gegen wartsbezugderKultursprach. SolässtsichKulturalsein„NetzwerkvonVerhandlungen[negotiations]überdenAustauschvon materiellenGütern,Vorstellungenund–durchInstitutionenwieSklaverei,AdoptionoderHeirat –Menschen“begreifen(55).„GroßeAutoren“improvisierenvirtuosmitdengeradeherrschen denCodesimKulturspiel.„DievonihnengeschaffenenWerkesindStrukturenzurAkkumulati on,Transformation,RepräsentationundKommunikationgesellschaftlicherEnergienundPrakti ken.“(55)DabeibestimmteinCodenichtdenVerlaufeinesDiskurses,erstrukturiertihnnur nachträglichundfördertdasVerständniseinergewissenVorgehensweise.Erkannnichtalspro spektives Instrument genutzt werden, verrät nichts über Kausalzusammenhänge, die reprodu zierbarwären 154 .EinCodebeschreibtnur,ererklärtnicht. FreilichenthältauchdieDefinitionGreenblattseinenHaken:siesprichtvon großenAutoren ,die MeisterderkulturellenCodesseien,dochsiesagtnicht,wieeinAutorzueinemgroßenAutor wird.VielleichtstrebtsogarjedergroßeAutordanach,imSinnedessen,waswirvonDeleuzeund Guattarigelernthaben,zueinemkleinerenAutorzuwerdenunddadurchdieCodeseherinFra gezustellenalssichihrerzubedienen.WelcheKulturstrategiedereinzelneauchimmerverfolgen mag,esscheintmirgrundsätzlichnichtsinnvoll,eineEinteilungnachkulturellenHintergründen vorzunehmen, die auf der Plattform der Literatur aufeinander träfen. Emine Özdamar, Driss ChraïbioderAssiaDjebarimprovisierenüberdienämlichenKulturthemenwieanderezeitgenös sischeAutoren,der modernenkomplexen GesellschaftseiDank.IchmöchteindenfolgendenAb schnittenzeigen,wiedieTextedieserAutorinnenantheoretischeDiskursederinternationalen WissenschaftandockenundübersieimSinneGreenblattsimprovisieren;ichmöchtezeigen,wie gewisse Motive, die einen vermeintlich eindeutigen kulturellen Stellenwert besitzen – wie etwa BezugnahmenaufdenKoran,aufdasWunderbareoderaufdieRollederFrauinpatriarchalen gesellschaftlichenStrukturen–ihreklareZuordnungverlierenundsomitzugenuinkulturellen Themenwerden,diedadurchallerdingsnichtkontextunabhängigtypologisiertwerden können,

153 Vgl.WITTGENSTEIN 1945,Zif.496. 154 Vgl.dazuGEERTZ 1973,27. 99 sondernüberdieimprovisiertwerdenmuss.EineEinteilunginKulturkreiseerscheintmirlitera turtheoretisch nicht einsichtig. Und der Begriff der interkulturellen Literatur führt wie der der Hybridität zur irrigen Annahme, wir hätten es bei den so rubrizierten Texten mit kulturellen Mischformenzutun.

100 II. Alternative Lektüren

101 II.1 Yoko Tawada und das Unbehagen der Identität „Eigentlichdarfmanesniemandemsagen,aberEuropagibtesnicht“stelltYokoTawadaganz lapidarineinemEssayfest.IndessenerstemAbschnittgibtsieeinfiktives„GesprächmitXan der,einerFiguraus[ihrer]Erzählung DasBad “(TAWADA 1996,45)wider.DieserEssay,jaschon seinersterAbschnittgebenersteAnhaltspunktefüreineliterarischeAnnäherungandenBegriff derkulturellenIdentität. Zunächst verdient die Gesprächsanordnung, die Tawada in ihrem Essay entwirft, besondere Aufmerksamkeit:DasThemadeserstenAbschnittssinddieBedeutungunddieLokalisationder Hautfarbe.DamitwerdenKategorienwie Rasse oder Ethnie aufgerufen,diealsGrundfürStigma tisierungundkörperlicheGewaltzumAngelpunktvielerRomaneundErzählungenderinterkul turellenLiteraturgewordensind.AllerdingsentfaltetTawadasTextnochweitereDimensionen derAnalyse.ZunennenwäreerstensdieKategorie Geschlecht ,dennesistwohlkeinZufall,dass der Gesprächspartner der Erzählerin Xander heißt und also männlich ist. Darüber hinaus fällt zweitensderNamederFigurauf: Xander verweist–mehrnochalsdieLangform Alexander –auf seinegriechischenUrsprünge.GriechenlandistnunaberalsWiegederabendländischenKultur imDiskursumeineeuropäischekulturelleEinheitfestverankert.MitdiesendreiKategorien– ethnischeZugehörigkeit,Geschlechtundkulturelle/politischeTraditionen–benenntTawadadie verbreitetstenGliederungspunktefürnationaleoderregionaleIdentität. Tawadagelingtesallerdings,durchihreerzählerischeAnordnungeinMomenteinzuführen,das diegeradegenanntenKategorienübergreiftunddestabilisiert,dennsieunterhältsichmiteiner literarischenFigur ,nochdazumiteiner,diesieausdrücklich selbsterschaffen hat.DieFigurXanders hängtso,obwohlsieallehegemonialenMerkmaleinsichvereinigt(weiß,männlich,westlich)von derErzählerinab,diealsdergenaueGegenpolkonzipiertist(farbig,weiblich,fernöstlich).Damit schafftTawadaeinegelungeneParodie:ObwohlesdochseitEdwardSaideineverbreiteteAuf fassungist,dassdasBilddesorientalistischenAnderenphantasmatischeZügebesitzt,drehtsie dieVerhältnisseum.DerwestlicheweißeMannwirdinihremEssayzueinerfiktionalenInstanz, die der Phantasie der Erzählerin entspringt, die ihrerseits das kulturelle Andere verkörpert. Ist dies bereits eine Umkehrung des kolonisierenden Blicks wie Homi Bhabha ihn beschreibt 155 ? Welche Elemente müssen gegeben sein, damit eine Umkehrung nicht einfach Affirmation der hegemonialenVerhältnisse,sondernderenParodieist,wieesz.B.JudithButlerinihrenÜberle gungenzurKonstitutionderGeschlechterrollenskizziert 156 ?

155 BHABHA 1993,165.Vgl.dazuauchMILLER 1993,75ff. 156 BUTLER 1990,215. 102 Yoko Tawada löst den Identitätsdiskurs in ihrer Erzählanordnung also von der ausschließlich ethnischen Kategorisierung und erschließt ihn in seiner Vielfalt: Sie problematisiert den Status vonRealitätinnerhalbdiesesDiskurses.DieserreichtsiedurchdiebeschriebenedoppelteFiktio nalisierungsgeste(dieErzählerinunterhältsichmitihrereigenenFigur).IneinerspätenReplik aufdieAnwürfeJacquesDerridasvomEndeder70erJahre,hatJohnSearledaraufhingewiesen, dass„astheorists”,zudenenerDerridadannoffenbarnichtzählt,„weareinterestedintheon tology of language, and the epistemological question – how do you know? – is irrelevant“ (SEARLE 1994,648).Eswirdzuklärensein,obdieseAussageSearleseinPlädoyerfürdieExis tenzvonsinnerfüllterSprachejenseitsihresGebrauchsistoderoberdamitvielmehreinInteres seanderFunktionsweisevonSprachebekundenmöchte,dienichtautomatischmitihrenInhal ten,ihrerSemantikzutunhat.FürdieBestimmungdesVerhältnissesvonRealitätundFiktion lassensichdiesbezüglichdiefolgendenFragenformulieren:InwelcherWeiseistesmöglich,die IdentitätvonsprachlichenÄußerungenzugewährleisten?InwieweitkannmanvonstabilenBe deutungensprachlicherEinheitenausgehen,siebenutzenundsichaufihrenSinnberufen?Was bedeutetdasfürdieIdentifizierbarkeitdeseigenenWillens,anwelcherStellevonSprachhand lungenhatIntentionalitätihrenPlatz?OderzerbirstdassprechendeSubjektundgibtsodenBlick freiaufdieUnmöglichkeitSinnzukonstituieren?InwieweitistfürdieMöglichkeitdesSubjekts derGedankeeinerSelbstpräsenznotwendig,diesichihrerseitsimFadenkreuzvonDerridasLo gozentrismuskritikbefindet? TawadaruftdenGegenstandmöglicherIdentifikationüberhauptauf,wennsiediefiktionaleund dierealeEbeneinihremEssayverdoppelt(dieIchErzählerinistdieAutorinihresGesprächs partners–undsomitauchseinerÄußerungen?)undüberdiesenKunstgriffversucht,sämtliche anderenKategorien,diezurIdentifikationherangezogenwerden,zudestabilisieren. Wo aber ist die Identität eines Menschen zu verorten, fragtTawada weiter und lenkt das Ge spräch ihrer Figuren auf die unklare Lokalisierung der Farbe – im/am/auf dem menschlichen Körper: „’GlaubenSiewirklich,dassdieHauteineFarbehat?’fragteichihnzögernd,damitich nichtindenTonfalleinerAufklärerinverfiel. Erlachtekurzundantwortete:’WasfüreineFrage.OderglaubenSievielleicht,dassdie FarbevonihremFleischkommt?’“(TAWADA 1996,45) TawadasAnordnung istso beschaffen, dass Xander sich erstaunlicherweise gegen dieAussage wehrt,dassdieFarbeinderSubstanzdesKörpers–imFleisch–zufindensei,dasservielmehr wertdarauflegt,denoberflächlichenStatusdiesesPhänomensfestzuhalten.Dassessichumein physisches,umeinmateriellesPhänomenhandelt,wirddagegenwedervonihmnochvonder IchErzählerinangezweifelt.DiesegebrauchtdieAusdrücke Aufklärerin undspäter Physiklehrerin imZusammenhangmitsichselbst,umdiesenPunktihrerAussagenzuunterstreichen.Hautfarbe 103 istfürbeidedurchauseinphysikalischerEffektunddamiteinOberflächenphänomen,keinetiefer verwurzelteEigenschaft.UmdiesemEffekteineEssenzzuverleihenmusseinestillschweigende Verschiebungvorgenommenwerden: „IchkonnteseineAbsichtnichtverstehen:FallsfürihndieIdentitätals‚Weißer’wichtig sein sollte, müsste er eher behaupten, dass keiner von den Weißen eine papierfarbene HautbesitzeunddassdieGemeinsamkeitdersogenanntenWeißenaufeinerganzande renEbenezufindensei.“(45f) DieErzählerinbenennthiereinenMechanismus,denichmitRolandBarthesalsMythisierung bezeichnen möchte. Die Gemeinsamkeit der Weißen müsse auf einer anderen Ebene gesucht werden,mutmaßtsie,dennimprimärensemiotischenSystemwäremitBarthesdiebleicheFarbe einfachmateriellerTrägerderBedeutung weißsein undnichtmehr.DieIdentitätalsWeißerkann aberübereinsolch–imWortsinn–oberflächlichesPhänomennichtgesichertwerden.Erstdie Errichtung eines sekundären semiotischen Systems, ausgehend von dem seines Signifikats ent leertenZeichens,taugtdazu,einenichttrivialeIdentitätalsWeißerzustützen.Der„Vorratan Geschichte“,dendasursprünglicheZeichendemsekundärenSystemmitliefert,wirddurchdas sekundäre System usurpiert und für seine Zwecke verändert, „deformiert“, wie Barthes sagt (BARTHES 1957,103).Eswirdsogetan,alskönnemandasOberflächenphänomenmiteinerEs senzinVerbindungbringen,doch „inWahrheitistdas,wassichindemBegriffeinnistet,wenigerdasReale,alseinegewisse KenntnisvomRealen;[...]dasimmythischenBegriffenthalteneWissen[ist]konfus,aus unbestimmten,unbegrenztenAssoziationengebildet[...]DiesesWissenistkeineswegsei neabstrakte,gereinigte Essenz;esisteineformlose,unstabile,nebulöse Kondensation, derenEinheitlichkeitundKohärenzmitihrerFunktionzusammenhängen.“(99) EsistinetwadieseBewegung,diedieErzählerinvonihremGesprächspartnererwartetunddie siegleichzeitigentlarvt.Dochdamitnichtgenug,siegibtzudemAnhaltspunktefüreinealternati veSichtweiseaufdengeradebeschriebenenKomplex:„DamalsbetrachteteXanderdie‚weiße’ HautfarbealseinenBestandteilseinesKörpersundnichtalseineMetapher“(TAWADA 1996,45). DiesezweiteLösungistesaber,diedieErzählerinstarkmachenmöchte.Sietutdasmitgrößter Schlichtheit,ihrgenügtdieeinfacheBenennungderrhetorischenFigur,diesichhintereinerEs sentialisierungderweißenHautfarbezuverbergensucht.ErstdieKonzeptionvonHautfarbeals MetapherbringtdenLeseraufdienunverfolgteFährte:dieHautfarbeistalsMarkervonIdenti tätdiskursiverzeugt.AlsphysikalischerEffekt,alsEffektderLichtbrechungwirddieHautfarbe dabeinichtinFragegestellt,dochsiewirdindividuellunterschieden:„DasLichtspieltaufjeder Hautanders;beijedemMenschen,injedemMonatundanjedemTag.“(46)ZudervonderEr

104 zählerinnichtansichbestrittenenphysikalischenMaterialität 157 trittandieserStelleeinMoment derNichtIdentität.AufderHautdesselbenMenschenspieltdasLichtanders,jenachdem,wann diesgeschieht.VoneinerStabilitätdesreinenZeichenserstersemiotischerOrdnungkannalso keineRedesein.DieUnterscheidungmacht,dasentlarvtderTextimmerdeutlicher,überhaupt nurSinn,wennmandieHautfarbeessentialisiertundsiesymbolischauflädt,siemitbestimmten Eigenschaftenverbindet.DasphysikalischePhänomenverschwindetohneseinenTräger–„ohne LichtgibteskeineFarbe“(46)–dochdassekundäresemiotischeSystembleibterhalten.Esist flexibelundkannimmerandereElementedes„Vorrat[s]anGeschichte“ 158 deserstenSystems aktualisieren,sodassessichdemargumentativenZugriffstetszuentziehenvermag.Istalsojede FormderBezeichnungbereitseineEssentialisierung?Verhilftalleindiepraktische,diekommu nikative Notwendigkeit der relativen Sinnstabilität eines Zeichens jeder sprachlichenÄußerung schon zu einem ausreichenden Nährboden für die Ausbreitung sekundärer Zeichenhaftigkeit? Undwennja,wiesollmandamitumgehen? DieHautfarbeisteinWahrnehmungsundalssolcheseinKulturphänomen,denn,sodieErzäh lerin,„wennmansichineinerFinsternisbefindet,[...]sobietetsieunsdieChance,unsereAugen von den täglichen Bildern zu befreien.“ Tawada hätte hier wohl auch von all täglichen Bildern schreibenkönnen,dochistausihremTextohnehinschonhinreichendklargeworden,dasssie sich auf Bilder bezieht, wie sie durch mythologische Systeme im Sinne Barthes’ entstehen. Zu ihnen gehört jedoch das Vertrauen in die Unhintergehbarkeit der eigenen Wahrnehmung, die ihrerseits wieder kulturell geprägt ist – so wenigstens die Erzählerin: „Weil uns die optische Wahrnehmungzuleichtfällt,bleibenwirdabeimeistenszupassiv.AusFaulheitübertragenwir SprachbilderinsOptische,anstattdasSpieldesLichtesinSprachezuübersetzen.“(46)DieEnt scheidung,sichdemBlickzuunterwerfenundihnzumAusgangspunktallerweiterenIdentifika tionsmechanismenzunehmen,istfürsiedabeieineeuropäischeBesonderheit:„DerKörper,der gesehenwerdenwillundmuss,isteineuropäischerKörper.“(47)DieoptischeWahrnehmung,so diehiervorgetrageneThese,istkonstitutivfürdieeuropäischeArtderIdentifikation. DochistdiesnichtdaseinzigeSpezifikum,dasTawadaEuropa zuschreibt.Sievergleichtesviel mehrmit„zweiTheaterfiguren“,einerweiblichenundeinermännlichen.„DiemännlicheFigur derEuropawünschtsichvorallem,dasssievomPublikumbetrachtetwird“(47).DieSelbstbe schreibungEuropas,diesocharakterisiertwird,läuftaufeineinteressanteFormderSelbstauslö schungzu.DerWunschbetrachtetzuwerdenbekommtsoeineweitereDimension.Erbezeich netnichtmehrnur,wieimGesprächmitXanderzuAnfang,diemythisierendeAufladungsinn 157 DasInsistierenaufderPhysisistetwas,dasTawadasSichtweisemitderfeministischenPerspektiveverbindet:die EinteilungdesKörpersschafftWirklichkeitundkannalssolchenichtabgeschafft,sondernallenfallspersifliertwer den.Vgl.zuPhysisundMaterialitätBUTLER 1993,22f,zumGedankenderPersiflageBUTLER 1990,201ff. 158 BARTHES 1957,97. 105 lichwahrnehmbarerOberflächenphänomene.DiemännlicheFigurderEuropa„isteineMeiste rinderKritik[...].Wennsienichtkritisiertwird,verschwindetsie“.DieKritikistindiesemSinne eineStrategiederSelbstaffirmation.EuropaschütztsichdurchsievordergefürchtetenNicht Existenz.„SiekritisiertsogareineandereKultur,wennsiezusehrvonihrbeeinflusstwird.Ihre KritiklautetindiesemFall:Warumbleibstdunichtduselbst?Warumahmstdumichnach?Ich bindochschlecht“.DieKritik,sodieErzählerinweiter,seidieGrundformdesDenkensdieser FigurEuropas.Doch„KritikistfürmichnochnieeinekreativeFormderÄußerungübermich selbstundüberdasFremdegewesen“(48).DerIdentitätsmechanismus,derhierentworfenwird, ist demnach ein rein negativer. Europa, so die These, entdeckt überall seine Spiegelbilder und Plagiatoren 159 .DochdieseSpiegelbildersindnichtmehr,wienochzurHochzeitdesKolonialis muspositivbesetzt;EuropaistselbstzuihrerstärkstenKritikeringeworden. „DieweiblicheFigurderEuropaistdiejenige,dieineinermythischenZeitverlorengegangensein soll“(48).Europa,sodiedarananschließendeThesewurde„bereitsimUrsprungalseineVer lustFigur erfunden“; ihre Realität ist in eine ferne unauffindbare Vergangenheit entrückt, ihr WiederfindenistGegenstandunendlicherDebatten.AuchdieseFiguristdemnachphantasma tisch.Währenddie„männlicheFigurderEuropa“überallihreDoppelgängergesehenhat,istdie weiblicheFigurallerdingsreinesPhantasma,verschwundenundnichtwiederaufzufinden.Tawa dasEssaybeschreibtsoeineklatantesMissverhältniszwischenderständigbehauptetenEvidenz vonIdentitätundzwischenihremdemgegenübergeradezulächerlichfiktivenAuftretenalsGe genstanddesDiskurses.EuropäischeIdentitätist,wiealleIdentität,wedereineSummevonO berflächenphänomenen,vonBildern–dieseVorstellungvergleichtdieErzählerininBezugauf EuropamiteinerUmkehrungdesOrientalismus–sieistaberauchkeinTiefenphänomen,alle mythischeAufladungstelltsichletztendlichalsFiktionheraus. DerEssayTawadaslässtsichdemnachbruchlosandieallgemeinenVorgabenMichelFoucaults anschließen,dieerfürseinenEntwurfeinerArchäologiedesWissensbeschreibt: «L’analyseénonciativeestdoncuneanalysehistorique,maisquisetienthorsdetoutin terprétation:auxchosesdites,ellenedemandepascequ’ellescachent,cequis’étaitditen ellesmalgréelleslenonditqu’ellesrecouvrent,lefoisonnementdespensées,d’imagesou defantasmesquileshabitent[...].»(FOUCAULT 1969a,143) FoucaultsTheoriebeinhaltetdabeikeineexpliziteKritikandermythischenAufladungvonSpra che, 160 wieBarthessievorgetragenhatte.Siemöchteeheruntersuchen,wiedieBedingungender 159 ZumThemadereuropäischenRepräsentationspraxisundzumdamitzusammenhängendenGlaubenandieUni versalitätvonKommunikationsprozessen,vgl.meineDarstellungeinigerThesenStephenGreenblattszumEntde ckerdiskursindieserArbeit,Kap.II.4. 160 ZueinerKritikam Mythenrealismus (VII)vgl. VON GRAEVENITZ 1987.GerhartvonGraevenitzschließtdabeizwar anFoucaultan,versuchtihnaberinsofernweiterzudenken,alserihmeineBlindheitdereigenenMethodegegenüber nachweisenmöchte:„[...]Foucaults‚Diskurs’BegriffunddieihmkomplementäreMethode[leugnen]ihrenrhetori schen Fundus [...] und [wollen] sich gerade jenseits der auf ‚Tradition’ und ‚Gewöhnung’ zielenden rhetorischen 106 Möglichkeit von Wissens und Bildbeständen, von Denken im allgemeinen und Vorstellungen vonderWeltimspeziellenzustandekommen. «Décrireunensembled’énoncésnonpascommelatotalitécloseetpléthoriqued’unesi gnification, mais comme une figure lacunaire et déchiquetée; décrire un ensemble d’énoncésnonpasenréférenceàl’intérioritéd’uneintention,d’unepenséeoud’unsujet, maisselonladispersiond’uneextériorité;décrireunensembled’énoncés,nonpaspoury retrouverlemomentoulatracedel’origine,maislesformesspécifiquesd’uncumul,ce n’estcertainementpasmettreaujouruneinterprétation,découvrirunfondement,libérer desactesconstituants;cen’estpasnonplusdéciderd’unerationalitéouparcouriruneté léologie.C’estétablircequej’appelleraisvolontiersune positivité .»(FOUCAULT 1969a,164) DieAnalysedieser positivités schließtnunanmeineÜberlegungenausdemerstenTeilan.Siefolgt derÜberzeugungFoucaults,dassBedeutungstetsdiskursiverzeugtistunddasseinebestimmte TextbedeutungdurchdieOrientierungangewissenOrdnungsprinzipienhergestelltwird.Fürdie Textbedeutung der interkulturellen Literatur werden dabei häufig die Ordnungsprinzipien der Biographie,desAutors, sowie des kulturellen Hintergrunds,der sozialen Gefügtheit der ethni schenHerkunftsgesellschaft 161 inAnspruchgenommen.DieseOrdnungsgrößenbestimmenher kömmlicherweisedas sujet einesTextesderinterkulturellenLiteratur. DernunfolgendezweiteTeilwirdinmehrerenausführlichenTextanalysenversuchen,dieseher kömmlichenGrößen,diebisherdenUmgangmitdenTextenderinterkulturellenLiteraturprä gen,alsdieinterpretationsleitendenGrößeninFragezustellen.DieersteAnalyse befasstsich ganzmitderInstanzdesAutors,weshalbihreinlängererAbschnittzudessenTheoretisierung vorangestelltist.DiehierbesprochenenFragensindsolche,dieinDiskussionendesVerhältnis sesvonAutorundTextimmerwiederauftauchen.DieausdieserDiskussionhervorgehenden ElementewerdendabeibereitsinHinblickaufDrissChraïbisRoman L’inspecteurAli aufgeführt, dersie–sodiezentraleThesemeinererstenInterpretation–wiederaufnimmtundsieineiner miseenabyme StrukturkritischgegendieallzueinfacheKopplungeinesTextesanseinenAutor wendet.ChraïbisTextlässtdabeisowohleineallgemeineLektüre(VerhältniszwischenAutorund Text)alsaucheinespeziellereLektürezu,diesichaufeineReflexiondesStellenwertesethnischer undkulturenspezifischerKriterieninnerhalbdiesesVerhältnissesbezieht. DasdarauffolgendeKapitelbeschäftigtsichmiteinemBestandteildeskulturellenHintergrundes, nämlichdenGeschlechterverhältnissensowiemitdenFamilienbilderninchristlichbzw.islamisch geprägten Gesellschaften. Assia Djebars Les nuits de Strasbourg thematisiert und durchbricht

Prägungenetablieren[...]“(XXI).FoucaultsDiskursbegriffwäresomitbeiallenMeritenselbstnochdemMythenrea lismusverhaftet. 161 Esistsehrschwierig,hiereineangemesseneBegrifflichkeitzuentwickeln.IchbeziehemichmitdiesemBegriff aufdenRückbezugaufdieGesellschaft,inderderAutorodermanchmalebennurseineElterngeborenworden sind.Daherkannnichteinfachvon„Herkunftsgesellschaft“gesprochenwerden.Entscheidendist,dassderBezugzu dieserüberethnischeKriterienüberdiedirektebiographischeZugehörigkeitzudieserGesellschafthinausverlängert wird. 107 zugleicheinekulturellallzueindeutigfixierteBestimmungdieserElemente.Ihreintertextuellen Verweiseaufdiesophokleische Antigone ermöglichenin LesnuitsdeStrasbourg eineallgemeineLes artaufdenHandlungsspielraumvonFraueninpatriarchalenGesellschaftenhin.KulturelleKon flikte kommen zwar auf der Handlungsebene vor, werden aber nicht an eindeutige kulturelle Schemata zurückgebunden. Inter und intrakulturelle Konflikte werden in diesem Text gerade nichttypisiertunterschieden. InKapitelII.4wirdschließlichdasElementdesWunderbarenunddesMärchenhaften,dashäu figaufvermeintlich„orientalische“Erzähltraditionenbezogenwird,inalternativerWeisegelesen. InterpretationenverschiedenerTexteerlaubeneshierzumeinendieübergreifendekommunika tiveFunktionaufzuzeigen,diedieseElementehaben.ZumanderenwirddieproduktiveDimen siondesWunderbarenoderdesPhantastischeninBezugaufdasFremdeundUnvertrauteher ausgestellt.

108 II.2a Urheberschaft – Gültigkeit – Verantwortung «Aprèsavoirrêvédedevenirmédecin,aprèsavoirentaméunecarrièredechimiste,Driss Chraïbi a trouvé enfin sa véritable voie, celle d’un admirable conteur avec la verve, le bonheur d’expression, le don de convaincre et de restituer la vie qui font de lui, au jourd’hui, l’un des meilleurs romanciers d’Afrique du Nord et, du même élan, l’un des meilleursécrivainsdelanguefrançaise.»(ROBLES 1986,1) DieseElogeEmmanuelRoblès’,immerhineinMitgliedder Académiefrançaise ,aufDrissChraïbiist einexemplarischerFallfürdenUmgangderLiteraturkritikmitdersogenannteninterkulturellen Literatur.DieVermengungbiographischerundregionalisierenderDetailsmitallgemeingehalte nenLobeswortenistsymptomatischfürdenvermeintlichenKönigswegderInterpretationvon Texten der interkulturellen Literatur. Die Forderung nach ästhetischerAnerkennung steht hier meistnebendemoffenbaralsunabwendbarempfundenenRekursaufdenethnischenoderregi onalkulturellenHintergrundderAutorenundAutorinnen. ZunächstweistRoblèsallerdingsaufdieberuflichenIrrwegehin,dieChraïbilangeZeitverfolgte –wasihnjedochzukeinerZeitwirklichamSchreibenhinderte.Chraïbifeierteschoninden50er JahrendesgeradevergangenenJahrhundertseinigefulminanteErfolge.Zuvorderstist hierein Romanzunennen,deralswütendesPlädoyergegendieZuständeinderpostkolonialenGesell schaftMarokkoszueinemSchlüsseltextder Littératuremaghrébined’expressionfrançaise gewordenist: LePasséSimple .DieserRomanistgleichermaßenGrundsteinfürChraïbisErfolgwieModellfür dieEinseitigkeitseinerRezeption. LePasséSimple istvageautobiographisch,beschreibtdieProb lemedesErzählers–derdenNamenDrissFerditrägt–mitdermarokkanischenpatriarchalge prägtenGesellschaft,dieentwürdigendenUmständeindenKoranschulen,diejedeIndividualität erstickendeErfahrungeinesmonarchischislamischenUmfeldes.DasBuchbeschreibtdenAus weg,dendiefreierewestlicheKulturzubietenscheint,aberauchdieFrustrationen,denensich einMarokkanerstetsausgesetztsieht,wennersichdieserKulturzunähernversucht,dieReser viertheiten,aufdieerbeidenFranzosenstößt,wennersichdochnuraufihrekostbarstenund angeblichselbstverständlichstenWerteberuft:Freiheit,Gleichheit,Brüderlichkeit. DieserStoffhatimFallevon LePassésimple zueinerKonstanzeinigerElementefürdieInterpre tationgeführt,diedurchausalsexemplarischfürdenSekundärdiskurszurmaghrebinischenLite raturgeltenkönnen 162 .AlsEinheitstiftendesElementfungiertdabeiindenmeistenInterpretati onendiePersondesAutors,bzw.derautobiographischeBezugseinerTexte 163 .DerzentraleCha rakter dieses Punktes wird bisher nirgends in Zweifel gezogen oder irgendwie relativiert; er

162 UmnureinigeLeitmotivezunennen:dievehementeAblehnungderpatriarchalenOrdnung,vgl.YETIV 1977, aberauchdesKolonialismus,vgl.BET 1991;dieZerrissenheitzwischendenKulturen,vgl.MARX SCOURAS 1992, GARANE 1993, MEZGUELDI 1996; die Suche nach einer eigenen (aufgeklärteren) Interpretation des Islam, vgl. HAWLEY 1996,BOURGET 1998. 163 Vgl.einprägsamkonzentriertundaußerdemnochausgeweitetaufeinenAutorder littératurebeur (MehdiCharef) AFOULLOUSS 1997. 109 scheintsoklarzusein,dassmandenEindruckgewinnt,eineLesart,dienichtindieserWeise fokussiertist,seidenTextennichtangemessen. DiesenGestuswiederholtnunRoblèsimangeführtenZitatundgehtsogarnochweiter:Driss Chraïbiistinzwischen–glücklicherweise–aufseinen„wahrenWeg“gelangt,gleichsamseiner BestimmunggerechtundalsoSchriftstellergeworden.DiesesFeiernderPersondesAutorsist gerade vor dem Hintergrund der Rezeption der Texte Chraïbis bezeichnend und verräterisch, wennesansichauchnichtaufAutorenderInterkulturellenLiteraturbeschränktist.Dochgerade imUmgangmitdiesertritteinTextimmersehrweithinterseinenVerfasserzurückundistvon dieseminbesonderseklatanterWeiseabhängig,wieesindiesemAusmaßfür„gewöhnliche“Na tionalliteraturennichtodernichtmehrgilt.MichelFoucaulthatzurechtbemerkt,dassderAutor fürdasWerkeineHomogenisierungsfunktionhat,dassermitseinemimmerwiederholtenNa mendieUngereimtheitenundWidersprüche,dieausderselbenFederstammen,überbrückensoll (FOUCAULT 1969,802).DiesgiltinderTatfüralleLiteratur.DochfürdieinterkulturelleLitera turhatderAutor–zumindestnachderVorstellungdermeistenInterpreten–darüberhinaus eineviel„authentischere“Rolleauszufüllen:EristeineArtZeitzeuge,seineTextesindDoku mente,diezwarfiktionalsind,aberdoch vorallemanderen aufeinenhistorischenund/odersozia lenHintergrundverweisen 164 .WährendalsoFoucaultdieNachträglichkeitundFiktionalisierungs tendenzdesAutorbegriffsbetont,wirdinderRezeptionderinterkulturellenLiteraturbishereher seineSimultaneitätundfaktischeBeglaubigungstendenzherausgestrichen.OhnedenBezugauf denAutorgrundsätzlichals„naiv“brandmarkenzuwollen 165 ,isteinElementdochsehrauffällig: Vor dem Hintergrund des Sekundärdiskurses zur interkulturellen Literatur hat man eher den Eindruck, als naiv zu gelten,wenn man autorkritische Positionenvertritt. Diese Brandmarkung geschiehtabernichtsosehrdurcheinetheoretischeAuseinandersetzungmitsolchenPositionen, sondernüberderenweitgehendeAussparung.Dasistumsoerstaunlicher,alsVertreterautorkriti scherAnsätze,wieFoucaultoderDerrida,fürdiepostkolonialeLiteraturtheorieeinegewichtige Rollespielen. Esscheintmirdeshalbangeratenzusein,BegriffewiedenderIdentitätauchindiesemKontext zulesen.MeinEindruckist,dassChraïbimitdiesemBegriffaufdensprachphilosophischenund literaturwissenschaftlichenDiskursderletztenJahrzehnteanspielt,dassseineRomane–imvor liegendenFallbehandleichvorallem L’inspecteurAli –ebenauchundvielleichtsogarvorallem ÜberlegungenzuliteraturtheoretischenProblemstellungenenthalten. Identität wäreindiesemSin nenichtsosehrinBezugaufautobiographischeDetailsoderkulturelleHintergründehinzuse 164 Vgl. hierzu erneut die commande implicite , derzufolge Texte Autorinnen mit Migrationshintergrund genau diese Funktionzuerfüllenhaben(BONN 1996,3). 165 EineTendenz,dieJANNIDISETAL .1997,3beklagen;ichgeheaufdieKritikanderKritikamAutorimfolgenden nochausführlicherein. 110 hen.DieserBegriffwärevielmehreinHinweisfürdieSchwierigkeiten,dieeinesolcheGleichset zungimpliziert.IndieserArbeitsolldemnachdieProblematisierungvonstabilerIdentitätnicht alsReflexionaufeinen realenZustand derAutorenundihrerLandsleute(werauchimmerdiese seinmögen)gelesenwerden,sondernalsBezugnahmeaufdietheoretischeErschütterungdieser Kategorieindenletzten3040Jahren.DieseAkzentverschiebungführtzusammenmitmeinen ÜberlegungeninKapitelI.3dazu,denAutorbezugderbisherigenInterpretationspraxisinBezug auf die interkulturelle Literatur tendenziell abzulehnen. Anders gesagt will es mir scheinen, als liefertenvorallemneuereTextederinterkulturellenLiteraturineiner miseenabyme StrukturAr gumentegegendenbisherigenliteraturwissenschaftlichenUmgangmitihnen. 1991erschieneinBuchChraïbis,dasichzumAnlassnehmenmöchte,genaudieseThesezuü berprüfen.EshandeltsichumdenRoman L’inspecteurAli ,mitdemChraïbiseineHinwendungzu dem für ihn neuen Genre des Kriminalromans einleiten sollte 166 . Dabei gehört L’inspecteur Ali selbstnichtzudieserGattung 167 ,seinThemaistvielmehrderkünstlerischeSchaffensprozess.Es gehtindiesemTextum dasVerhältniseinesAutorszuseinerProduktion:Wiewirdineinem TextBedeutungerzeugt?InwieweitistandiesemProzessderAutorbeteiligtundwelcheAuswir kunghatseineIntentionaufdenRezeptionsvorgang?WelcheKonsequenzhatalldiesfürFragen derVerantwortlichkeitfüreinenText,fürsprachlicheÄußerunginsgesamt? IchmöchteindieseFragenzunächstallgemeineinführen,umsieschließlichdurchdieInterpreta tiondes InspecteurAli miteinanderzuverknüpfen.DazubeschäftigeichmichindiesemKapitel mitderInstanzdesAutorsunddenautorkritischenPositionen,dieihrensinnenfälligstenAus druckimTiteldes1968erschienenTextesvonRolandBartheserhaltenhaben: Lamortdel’auteur . VorallemdieseFormelwirdindenletztenJahrenzumAnlassfürAttackengenommen,dieden Autorrehabilitierensollen.EinedifferenzierteBetrachtungsweisewärehierwünschenswertund wirdauchvondenVerfechterneinerstärkerenBetrachtungderInstanz Autor eingefordert 168 . IchmöchteindiesemZusammenhangdreiverschiedeneAspektederArgumentationunterschei denundmichihnenimfolgendennacheinanderwidmen,umdiesogewonnenenErkenntnisse anschließendfürdieInterpretationdes InspecteurAli zunutzen.DiedreiAspektesind:dasRecht desAutorsanseinemText,dieInstanz,dieüberdieGültigkeitseinerInterpretationentscheidet unddieVerantwortungdesAutorsfürseinenText. EskannbeiderBehandlungdieserdreiAspektenichtumVollständigkeitgehen,denndiege nannten Problemfelder gehören zur Grundausstattung des wissenschaftlichen Umgangs mit SpracheundLiteratur.DieAuseinandersetzungmitihnensolldiesegrundlegendenMotiveder

166 Essindinzwischenschondrei InspecteurAli Krimiserschienen:CHRAÏBI 1993,1996und1997. 167 WederzudenMerkmalenderKriminalnochzudenenderVerbrechensliteraturpasstdervorliegendeRoman. ZudiesenBegriffenvgl.grundlegendNUSSER 1992,1. 168 Vgl.BURKE 1992,17f;JANNIDISETAL .1997,34. 111 Autorschaftsdebatteausbreiten,umsieimRomantextChraïbisidentifizierenzukönnen.Gerade dieserweiteSkopussollzeigen,dassdasAuftaucheneinesAutorsineinemliterarischenTextviel mehrimpliziertalseinenautobiographischenBezug:BeiChraïbigehtesdarum,dasVerhältnis vonAutorundTextselbstzubeleuchten. DieseSichtweiseistinderTateineUmkehrungderFrage:„commentlalibertéd’unsujetpeut elles’insérerdansl’épaisseurdeschosesetluidonnersens“?(FOUCAULT 1969,810)Esgehtalso nichtdarum,denTextChraïbisdaraufhinzubetrachten,wiedasThemaderBikulturalität–der Stoffalso–dendiekolonialeSpannungzwischendemMaghrebundFrankreichliefert,aufge nommenwird,umdurchihndieKompaktheitderDinge–d.h.dieSpannungenselbst–zube schreiben. „Maisposerplutôtcesquestions:comment,selonquellesconditionsetsousquellesfor mesquelquechosecommeunsujetpeutilapparaîtredansl’ordredesdiscours?Quelle placepeutiloccuperdanschaquetypedediscours,quellesfonctionsexercer,etenobéis santàquellesrègles?Bref,ils’agitd’ôterausujet(ouàsonsubstitut) sonrôledefondement originaire , et de l’analyser comme une fonction variable et complexe du discours.“ (FOUCAULT 1969,810f;Hervorhebungvonmir,B.S.) EsistindieserPerspektivevongroßemNutzen,ChraïbisTextnichtalsAusarbeitungeinesbe stimmtenStoffes(etwa: Kultur/IdentitätskonfliktunterpostkolonialenBedingungen )zulesen,sondern wahrzunehmen,dassseinRomandaraufangelegtist,dieProduktionsundRezeptionsbedingun genvonLiteraturzureflektieren.DieRezeptionderliterarischenProduktiondesProtagonisten, wiesieimRomandargestelltwird,hatnichtsmitdesseneigenenErwartungenoderIntentionen beimSchreibenzutun.DiesspiegeltdieProduktionsverhältnisse,unterdenenLiteraturimallge meinen entsteht und ironisiert einen allzu produktionsästhetischen wissenschaftlichen Diskurs, derdasProduktzugunstendesProduzentenausdenAugenzuverlierendroht 169 . UnterdiesemBlickwinkelmöchteichdieThesewagen,das sujet des InspecteurAli seinichtsosehr derangesprocheneKulturkonflikt,sondern–vielumfassender–dieIdentitätvonSpracheoder Personenmitsichselbst,bzw.dieVerbindungeinesAutorsmitseinemWerk,dieZuordnung einerÄußerungzuihremSprecheroderSchreiber.Sogewendetwirdaus„l’undesmeilleursro manciers d’Afrique du Nord“, assoziiert mit postkolonialem Kulturkonflikt, vielleicht wirklich auch in einer allgemeineren Wahrnehmung „l’un des meilleurs écrivains de langue française.“ EineAutoritätwieEmmanuelRoblèsmagzurIneinssetzungdieserbeidenBezeichnungenallein durchseinUrteileinenBeitragleisten,wirklichvollendetistsieerst,wennAutor, sujet undRo mantextnichtmehralsinterdependentesGesamtkunstwerkrezipiertwerden,sondernwenndiese

169 Ichhoffe,esistbisherausreichenddeutlichgeworden,dasssichdieserVorwurfaufdieBehandlungderinterkul turellenLiteraturbezieht,dieinnerhalbeinerdiesesProblemweitgehendberücksichtigendenInterpretationspraxiszu einerEnklavedesstarkenAutorbezugsgewordenist. 112 homogenisierendeAmalgamierung,wiediesfürdenRestderLiteraturschonlängstderFallist, alsdasgesehenwird,wassieist:mindestensproblematisch. Prolog:WasisteinAutor? Im Jahr 1997 fand im Kloster Irsee eine Tagung mit dem Titel Rückkehr des Autors? statt. Im Vorwortzum1999publiziertenTagungsband(JANNIDISETAL .1999)verkündendieHerausge ber,siekönntendasFragezeichenfürdieVeröffentlichungaufgrundderErgebnissedesSympo siumsgutenGewissensstreichen. Jedoch wird im einleitenden Forschungsüberblick schnell klar, dass der Autor im eigentlichen Sinnenieverschwundenwar,sonderndassersowohlfürdiewissenschaftlicheInterpretationvon TextenunderstrechtimaußeruniversitärenUmgangmitLiteraturstetsseinenfestenPlatzhatte. WorinbestanddanndieNotwendigkeitseinerRehabilitation?DieAutorinstanzwar,soderVor wurfderHerausgeber,lediglichausdenTheoriedebattenverschwunden,inihnenwarjedeBe zugnahmeaufdenAutorvonvornhereinalsnaivgeächtet 170 . SchonderTitelderEinleitung–RedeüberdenAutorandieGebildetenunterseinenVerächtern –zeigt, worin das tiefsitzende Anliegen ihrer Autoren besteht: sie wollen den Autor als theoretisches ElementderInterpretationretten: „DerVerdachtdrängtsichauf,dassdietheoretischeReflexionüberdenAutorzentralen FormendeswissenschaftlichenUmgangsmitliterarischenTextennichtgerechtwird.Die Praxis der Interpretation(en) literarischer Texte demonstriert vielmehr legitime, ja not wendigeVerwendungsweisendesAutorbegriffs,dievonderTheoriediskussionnichtan gemessenwahrgenommenwerden.“(4) Schwierig sind in diesem Zusammenhang Kollektivbegriffe wie „die Theoriediskussion“ oder „die Interpretation(en)“. Sie sind nicht weniger problematisch als der Bezug auf „den Autor“, dessen differenzierte Betrachtung sie im folgenden anmahnen: Es gebe in der Geschichte der LiteraturverschiedeneAutorbegriffe,dienichtalleaufdasbiographischeIndividuumfokussiert seien.DieseBemerkungistohneZweifelzutreffend,dochdenSpießumzudrehenund„dieThe oriediskussion“deshalbderpartiellenBlindheitzubezichtigen,kannnichtdieAntwortaufden beklagenswertenDogmatismussein,dersich,wiebeijedererfolgreichenTheorie,zweifellosauch imAnschlussanBarthes’ Lamortdel’auteur oderFoucaults Qu’estcequ’unauteur? gebildethat.Der Gestus,denTitelvonTagungsbandundEinleitungerkennenlassen,istebensoundifferenziert wiedas,wasvonihnenkritisiertwird. DabeiisteinesolcheKampfhaltunggarnichtnötig,dennSeánBurke,auchmiteinemArtikelin RückkehrdesAutors? vertreten,hatbereits1992inseinemvielbeachteten DeathandReturnofthe

170 JANNIDISETAL .1999, 3. 113 Author gezeigt,dassdieDiskussionumdieInstanzdesAutorsweitergehtunddassinmanchei nemFall–BurkeerläutertdiesamVerhältnisvonDerridaundseinerRezeption–dieursprüngli chenTheorienselbstvieldifferenziertereAussagenüberdieKategorien Autor und Autorwille ge machthaben,alsesihreRezeptionerahnenlässt 171 .ExponentenpoststrukturalistischerAnsätze wieBarthes,FoucaultoderDerridawerdenfolglichnurrelativschwachkritisiert,umschließlich nichtnäherbestimmteInterpreteninderenTraditionumsoschärferanzugehen 172 . Nichtsdestoweniger geben Jannidis und Burke wichtige Hinweise für eine Differenzierung der Autorkritik.IhreAnalysensindhäufigsehrvielüberlegterundbrauchbareralsihrepolemischen RipostenaufdenTitelvonRolandBarthes’Aufsatz.KehrenwirnocheinmalzumobigenZitat ausJANNIDISETAL .1999zurück.EsistfürmeineZweckerelevant,demhierimplizitgemachten undspäterausgeführtenHinweisaufeineneklatantenWiderspruchinderRezeptionvonLitera turinsgesamtnachzugehen.Dennesistkaumzubestreiten,dassz.B.denForderungen,dieBar thesin Lamortdel’auteur erhebt,nurunzureichendnachgekommenwird,zumalinderBehand lungderinterkulturellenLiteratur.Barthesschreibt: „[...]untexteestfaitd’écrituresmultiples,issuesdeplusieursculturesetquientrentles unesaveclesautresendialogue,enparodie,encontestation;maisilyaunlieuoùcette multiplicitéserassemble,etcelieu,cen’estpasl’auteur,commeonl’aditjusqu’àprésent, c’estlelecteur”(BARTHES 1968,495). DerLeser,aufdenBartheshierzielt,istallerdingsnichtderprofessionelleLeser,d.h.derKriti ker.DessenMachtistfürBarthesuntrennbarandieunangefochteneStellungdesAutorsgebun den.Indemerdie eine gültigeInterpretationliefertisternurSprachrohrdesAutors,undVollstre ckungsinstanzseinesWillens. „DonnerunAuteuràuntexte,c’estimposeràcetexteuncrand’arrêt,c’estlepourvoir d’unsignifiédernier,c’estfermerl’écriture.Cetteconceptionconvienttrèsbien‘alacriti que,quiveutalorssedonnerpourtâcheimportantededécouvrirl’Auteur(ouseshypos tases:lasociété,l’histoire,lapsyché,laliberté)sousl’œuvre:l’Auteurtrouvé,letexteest ‘expliqué’,lecritiqueavaincu”(494). GeradeandieserStellewirddeutlich,dassBarthes’Autorkonzeptsehrweitreichendist:DerVer suchdesInterpreteneineimemphatischenSinnrichtigeDeutungdesAutorwortszufindenist verächtlich,weilerdenTextschließtundihnsoaufseinenUrsprungzurückwendet,ihnseiner Zukunftberaubt.DerUrsprungdesTextesliegtimAutor,seineBestimmungaberimLeser,so

171 Vgl.BURKE 1992,z.B.138.BurkesAnalysensindineinigenPunktensehrpertinent,inanderenlassensieaber wiederdiegleichenMechanismenerkennenwiediejenigenvonJANNIDISETAL .1999.Jedenfallslässtsichfeststellen, dassdiepolemischeForderungnachderRückkehrdesAutorsineinemeigenartigenWiderspruchzudenAnalysen Burkes,Jannidis’u.a.selbststehen. 172 SorichtetsichetwadiegesammelteStoßkraftvonJANNIDISETAL .1999nichtetwagegeneineklarbestimmte Theorie,sonderngegeneine„gegenwärtige opiniocommunis “(17),zuderesleiderkeineFußnotegibt–sehrauffällig beidersonstdochsehrreichhaltigenDokumentationdeswissenschaftlichenDiskursesumdieAutorproblematik. 114 hatesBarthesformuliert,wobei derLeser hieralsKollektivbegriffgebrauchtist,alsdieVielzahl derLeser,diedenTextstetsanderszudeutenberechtigtsind,alsdiesvorihnenderFallwar. DochBarthesgehtnochweiter,erwitterthinterdemAutorbegriffandereBegriffewieGesell schaft,Geschichteetc.,dieseineEssenzbilden.SeineBedenkensindverständlich.Erfürchtetbei alldenaufgezählten Hypostasen desAutors eineKnebelungdesfreienSpielsdesTextes.Erfürchtet, dassdieProduktionvonBedeutungineinemTextdurchdieseInstanzen(denAutorundseine Hypostasen)ausschließlichandenhistorischenMomentseinerEntstehungoderseineProdukti onsbedingungengebundenwird(eineFokussierung,diejaauchinderdiskursanalytischenPraxis vorgenommenwordenist 173 ),möchtedemTextaberseineunvoreingenommeneLesbarkeiterhal ten. HiertunsichoffensichtlichnichtnurpraktischeProblemeauf(aufwelcherGrundlagedarfein Textnochinterpretiertwerden?),sondernvorallemauchtheoretische,dennwiekannmansich Lektüre anders vorstellen als durch bestimmte kulturelle Vorbedingungen – die Barthesschen HypostasendesAutors–geprägt?IsteinesolchwechselndeVerankerungdesTextesnichtge nausobedenklichwiedieinderZeitseinerProduktion?Wennnein,warumnicht?WeilderText nicht geschlossen werden kann, weil ihm die Autorität des Produzenten abgeht? – ein Fehl schluss, wie z.B. die Interpretationspraxis des sozialistischen Realismus beweist 174 . Nur: woran sollsicheineLektüredenndannorientieren?Barthes’Forderungenscheineneherdahinzuge hen,dieeinmalgemachteInterpretationimmerwiederzuverändern,keineVersionjemalsgelten zulassen.AberwasmachtdanneineInterpretationplausibleralseineandere 175 ?ZujederZeit, beijedemLeseretwasanderes?BarthesgibtaufdieseFragenkeineAntwort. Wie man es dreht und wendet, Lektüre bleibt immer mit personalen, mit historischen oder e pistemischenInstanzenverbunden.DaskannBarthesnichtüberzeugendausräumen.Obdiese Notwendigkeit gleich „in essence theocentric“ (BURKE 1992, 25) ist, erscheint mir fragwürdig. BurkesEinwand,BarthestrageeherzurKonstruktionalszurZerstörungdes„AutorGottes“bei (26),scheintmiralszuweitgehend,dennerunterschlägtdenBarthesschenImpetus,einerganzen (akademisch)gebildetengesellschaftlichenKlassedasDeutungsmonopolüberTexteabzuerken nen. Barthes, diese Einsicht scheint mir bei seiner Argumentation naheliegend, steuert gerade wegsaufeinePopularisierungdesliterarischenFeldeszu.DeshalbsindinnerakademischeArgu

173 AlsBeispielseigenanntKITTLER 1984,einAufsatzmitdemTitel„CarlosalsKarlsschüler“,indemFriedrich Kittlerversucht DonCarlos imZusammenhangmitdenErlebnissenSchillersalsSchülerderHohenCarlsschulein Stuttgart zu lesen. Vgl. zur speziellen Art der historischen Bezugnahme in der Diskursanalyse grundlegend FOUCAULT 1969a,230f;zumBegriffderEpistemeindiesemtheoretischenRahmen,ebd.250. 174 WobeidieswohlwiedereinBeispielfürdieMachtvonKritikernwäre,dieBarthesjageradeimBundmitder InstanzdesgroßgeschriebenenAutorssieht. 175 DieseFragestelltauchHIRSCH 1967,wennauchzudieserZeitnochnichtdirektanBarthes. 115 mente–sozutreffendsieseinmögen 176 –auchsofruchtlosfürdasVerständnisseinesTextes, dennerversuchtjageradeeineInterpretationspraxiszustärken,diesichaufnichtsalsdenText stützt. Esgehtmirhiernichtdarum,BarthesinallenPunktenseineszweifelsohnepolemischenTextes zuunterstützen,ichbinskeptischgegenüberderanhaltspunktlosenLektürepraxis,diealsFlucht punktdesBarthesschenTextesdurchausvorstellbarist.DieKritikvonJannidisetal.anBarthes undseinenNachfolgernistjadieinhärenteKritikeinerPraxisvonLiteraturundInterpretation, die das Fortbestehen desAutors als bedeutungsgenerierende Instanz demonstrieren. Doch de monstriertnichtdieExistenzeinerLektüreohneHintergrundwissenauchdieSchwächungdes (großgeschriebenen)Autorprinzips?MankanndieAnsichtvertreten,dasseinesolcheSichtweise einen Frontalangriff auf die gesamte Literaturwissenschaft darstellt. Das ist sicher richtig und deshalbsolltemanbeiderAnalysederPositionBarthes’vielleichtlieberdasStichwortderPopu larisierungweiterindenVordergrundrückenundvonihmausgehendnachihrerüberzeugenden theoretischenAusgestaltungfragen,stattständigmitBarthes’Kampfbegriffvom ToddesAutors zuhadern. Ichmöchtevorschlagen,diePopularisierungalseineEntmystifizierungzulesen,alseinenEin wandgegenGemeinplätzeeinerGenieästhetik.DenngenauhieraufscheintmirDrissChraïbimit seinenAnleihenbeiBarthesim InspecteurAli hinzuweisen 177 . VordiesemHintergrundmussallerdingsderobenvonJannidisformulierteVorwurfneuüber dachtwerden.Vielleichtwird„dietheoretischeReflexionüberdenAutorzentralenFormendes wissenschaftlichenUmgangsmitliterarischenTextennichtgerecht“(JANNIDIS ET AL .1999,4), dochobdasfürden„außeruniversitärenUmgangmitLiteratur“(3)ebensogilt,möchteichbe zweifeln,esseidennJannidisbeziehtsichaufdenzweitengroßenBereichdesinstitutionalisierten Umgangs,aufdasFeuilleton.Ichmöchtehierkeineswegs–dasseinocheinmalbetont–inKlas senkampfrhetorikverfallen,ichstimmeJannidisüberweiteStreckenzuundversteheauch,dass ersichaufeinSegmentdesliterarischenLebensbezieht,fürdasseineAnalysenzutreffendsind. DochleseichbeiBarthesebeneine–wohlgemerktnichtdetailliertausgeführte–Anspielungauf einealternativeVorstellungvomUmgangmitLiteratur,dieersichalsvollkommenunbelastete RezeptiondesTextesdurchdenLeserdenkt–anderslässtsichfürmichseineKritikanderHy postasierungderAutorinstanznichtdeuten. EinerseitsöffnetnatürlichdieBeschränkungaufdieTextLeserBeziehungeinerintuitivenHer meneutikTürundTor.DochliestmandiesenAspektvonBarthes’Textstrategischwohlwollen

176 Jannidisetal.zählenz.B.auf,dassesinderGeschichtederLiteraturimmersehrunterschiedlicheAuffassungen überdenStellenwertdesAutorsinBezugaufdieInterpretationseinereigenenWerkegab(4ff). 177 Vgl.zuChraïbiundBarthesunten,besondersdieAnalysevonCHRAÏBI 1991,183ff. 116 der,sobeziehtersichaufeineUnterscheidungzwischengelehrtemZugriffaufSinn,dermitder BestimmungvonQualitätsmerkmaleneinhergeht,undeinerspontanerenFormvonTextbetrach tung,dieaufeinvomKulturbetrieblegitimiertesInformationssubstratverzichtet 178 .Außerdemist damit eine zweite Unterscheidung aufgerufen, nämlich die von hoher und populärer Literatur. Der beschriebene „oberflächliche“ Zugriff auf denTextwird bei populärer Literatur als ange messenempfunden,beiihrerernstenVariantejedochnicht.AuchdieseUnterscheidungwirdbei Chraïbiaufgegriffenundproblematisiert. AndererseitsistebenauchindievonBarthesimplizitattackierteVorstellungvomOriginalgenie ein ursprünglicher, von all den genannten Hypostasierungen unbeeinträchtigter Generierungs prozessvonSpracheeingeschrieben,hierallerdingsaufderProduzentenebene.DieseKonzepti ondesAutorsscheintweitgehend–d.h.auchbeidenKritikernderAutorkritik–aufAblehnung zustoßen.Dochauchbeiihrmussbeachtetwerden,inwieweitsienichtineinemaußeruniversitä renBereich–undindiesemFallmeineichz.B.diejuristischeKonstruktiondesUrheberrechts– alsideenleitendfürdenUmgangmitLiteraturzugeltenhat 179 . DerautorloseTextscheintdreiHauptsorgenauszulösen,diealledreimitdemTerminus Beliebig keit umschrieben werden können. Erstens droht eine Beliebigkeit in der Originalität des Aus drucksundfolglicheinederUrheberschaft,denn,wiewirsehenwerden,istderpersönlicheStil einerfolgreichesKriteriumfürdieZuordnungvonTextenzuihremAutor.MitdiesemProblem möchteichbeginnen,denndieseDebatteistschoneinmalzurGeburtsstundedesUrheberrechts geführtworden.SiedrehtsichumdieFrage,mitwelchemRechteinAutordieOriginalitätseiner Wortebehauptet,dieerdochindenöffentlichenDiskurseinspeistundsomitzueinemallgemei nenGutmacht. ZumzweitendrohtdieBeliebigkeitderInterpretation.WenneskeineAutormeinungmehrgibt, d.h.wennsienichtmehrrelevantistfürdieDeutungeinesTextes,dannstelltsichdieFrage,wer oderwasüberdiebessereunddieschlechtere,dietreffendereunddieabwegigereInterpretation entscheidendarf. DrittensdrohteineethischeBeliebigkeit.WerkannnochfürdieWorteseinesTextesverantwort lichgemachtwerden,wennhinterihnenkeinAutorsubjektmehrdenSinnzusammenhält?Dies isteinezentraleFrage,diegeradeandenPoststrukturalismusimmerwiedergestelltwirdunddie ichausführlichamSchlussdiesesKapitelsbehandelnwill.

178 IndiesemSinneisterzweifellosderAntipodezuE.D.HirschsValiditätskonzepts,vgl.HIRSCH 1967. 179 Sorechtfertigtz.B.dieKategoriedesStilsinihrerVerquickungmitderIndividualitätdesAutorsubjekts,wiesie vonFichteangesetztwurde,dieZuordnungeinerÄußerungzueinerbestimmtensprechendenoderschreibenden Person,vgl.FICHTE 1791,412. 117 WörtlichesEigentum,eigentümlichesWort.DieAngstvordemVerlustdesUrsprungs „Esistbemerkenswert,dassdasNachdruckzeitaltermitderGeniePeriodederLiteraturzusam mentrifft;alshingedieHerrschaftüberdieKopiendamitzusammen,dassderHerrscherselbst nichtkopiert.“(BOSSE 1981,10)HeinrichBosserücktbereitszuBeginnseinerDarstellungüber dieAutorschaftunddasUrheberrechtdieseAuffälligkeitinsZentrumdesInteresses.Alleautor kritischenPositionenvonBarthesangefangenarbeitenmitdiesereigenartigenKoinzidenz.Kann eswirklichZufallsein,dassdasPhänomenGoethe–undmiteinemanderenWortkannman seineAusnahmestellunginnerhalbderdeutschsprachigenLiteraturfastnurlitotischbeschreiben –geradeindiesemZeitalterseinenAusganggenommenhat,daesheftigsteAuseinandersetzun genumdieEigentumsrechteanGedankenmaterialgab?Im12.Buchvon DichtungundWahrheit nährtGoetheselbstdieseSichtweise,indemerinnerhalbwenigerSeitenseineDarstellungvon adäquatemTextverständnisundeineSchilderungderEigentumsverhältnisseaufeinanderfolgen lässt.ZwargibteshierbeikeineStelle,anderGoethesichaufdenGeniegedankenberuft,umein BesitzrechtangeistigenErzeugnissenzufordern,dochdieNebeneinanderstellungdergeschilder ten Gedanken nebst mehrfacher Erwähnung von Klopstock und Herder verdienen doch ein bisschenAufmerksamkeit,wenigstensindemKontext,dermichhierinteressiert. „Die Produktion von poetischen Schriften [...] wurde als etwas Heiliges angesehn, und manhieltesbeinahfürSimonie,einHonorarzunehmenoderzusteigern.[...]Demun geachtetwarunterdendeutschenAutoreneineallgemeineBewegungentstanden.Siever glichenihreneignen,sehrmäßigen,wonichtärmlichenZustandmitdemReichtumder angesehenenBuchhändler[...].AuchdiemittlerenundgeringernGeisterfühlteneinleb haftesVerlangen,ihreLageverbessertzusehn,sichvonVerlegernunabhängigzuma chen.“(GOETHE 1813,517f) GoethebekundetindieserPassageVerständnisfürdieBedürfnissederAutoren.Eswirddeut lich,dasserdieSchriftstellereizuZweckendesBroterwerbsdurchausangemessenfindet.Esist interessant,dasserunmittelbarimAnschlussandievonmirzitierteStelledenVorstoßKlop stocksbeschreibt,seineGelehrtenrepublikaufSubskriptionzuverkaufenunddieseBemühungen soalseinenunmittelbarenVersuchkennzeichnet,dieRechteandeneigenenGedankeninklin gendeMünzeumzuwandeln 180 .Herder,demGoethenachdenÄußerungenim12.Buchzuurtei len durchaus wohlwollend gegenübersteht, hat nun aber diese Subskriptionspraxis scharf kriti siert,indemerdasVerkaufengeistigerErzeugnissealsLetternkrämereibezeichnetundinseinem

180 AuchKlopstockselbstgibtdiesenGrundfürseinenAufrufzurSubskriptionder DeutschenGelehrtenrepublik an, hofftdassdieSubskribenden„denGelehrten[...]dazubeförderlichseynwerden,dasssiezudemwirklichenBesitze ihresEigenthumsgelangen“;zit.nachBOSSE 1981,37. 118 BekenntniszumGenie,zur„geheiligte[n]GabederGötter“deutlichgemachthat,dassfürihn LiteraturwesenhaftüberihregreifbareManifestationhinausgeht:„WennwahreDichtkunstvor allerSchriftundnurvorderselbenwar:wievielmehrwarsievorallemDruck,undvormDruck untersolchenUmständen,insolchemFormate.“ 181 GoetheistinseinerPositionzudiesemDissenszwischenKlopstockundHerdernichteindeutig. ErscheintmireinevermittelndeStrategiezuverfolgen,diediesenKonfliktnichtoffenanspricht, stattdessenaberimmeraufdiegeistigherausragendenQualitätenderbeidenKontrahentenhin weist 182 .InBezugaufJohannHeinrichMerckbringternämlichinhaltlichdasMerkantileunddas KreativeinOpposition(507),woeresdochinderobenzitiertenStelleimZusammenhangmit KlopstocknichtsogenaumitdieserKritiknimmt 183 .Vielleichtliegtesdaran,dassKlopstockfür ihneinGenie,MerckabernureinDilettantist(398bzw.507).ZudemerklärtGoethebereitsim 10. Buch von Dichtung und Wahrheit das Gelegenheitsgedicht zur „ersten und echtesten aller Dichtarten“(397),wodochgeradediesesalsSinnbildfürdieÖkonomisierungderLiteraturgel tenkann 184 . WasistalsovondemmäanderndenKurszuhalten,denGoetheinBezugaufdasVerhältnisvon GeldundLiteratureinschlägt?Umklarerzusehen,möchteichdazunocheinenAbschnittzitie ren,indemGoethezurBibelexegeseStellungnimmt.DiesewirdfürihnzumMusterfürdieSu chenachWahrheitimTextganzallgemein. „DennschondamalshattesichbeimireineGrundmeinungfestgesetzt,ohnedassichzu sagenwüsste,obsiemireingeflößt,obsiebeimirangeregtworden,oderobsieauseig nemNachdenkenentsprungensei.Eswarnämlichdie:beiallem,wasunsüberliefert, be sondersaberschriftlichüberliefertwerde ,kommeesaufdenGrund,aufdasInnere,denSinn, dieRichtungdesWerksan;hierliegtdasUrsprüngliche,Göttliche,Wirksame,Unantast bare,Unverwüstliche,undkeineZeit,keineäußereEinwirkungnochBedingungkönne diesem innern Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des KörperseinerwohlgebildetenSeele.“(509;Hervorhebung,B.S.) Danachkommt,waskommenmuss,dieSchriftwirdalsKörperundkorrupteFehlerquelledes geistigenWerksausgemacht.DasSchriftkonzeptwirdzwarnichtinOppositionzurSprachege bracht,diesevielmehrebensozurverderblichenSphäredesMateriellengerechnet,aberdennoch wirddeutlich,dasssichGoethehieraufeineVorstellungdesGeistigenbezieht,diezumAnlass fürdiepoststrukturalistischeKritikgewordenist,nämlichaufeineVorstellung,dieingeistigen ErzeugnissenetwasImmateriellesverortet,dasalsZielderInterpretationfreigelegtwerdenmuss. GoethenenntdiesesEtwas„denSinnderSache“(509),derdurchdasSprachmaterialinsgesamt

181 HERDER 1778,zit.nachBOSSE 1981,48. 182 Vgl.GOETHE 1813,398fzuKlopstock,405,408,507zuHerder. 183 Auch was seine eigene Produktion betrifft hat Goethe offenbar die merkantile Seite des Literaturbetriebs gut beherrschtundzunutzenverstanden,vgl.hierzuBOSSE 1981,79f. 184 Vgl.dazuBOSSE 1981,80ff. 119 verschleiertwerde.DieserSinnderSachekanndurchnichtsverwüstetwerden,eriststabil,das StabilsteüberhauptanSprache. DadurchdassGoethedieseVorstellungenamBeispielderBibelexegeseentwickelt,istauchdie VerbindungderInterpretationzurgöttlichenSphärehergestellt.Der SinnderSache istebenauch das Göttliche ,dasunverrückbarvonGottGemeinte,dassnurdurchdenVerlustdesVerstehens beimMenschentrübeundundurchsichtiggewordenist.WerkannabernunbeieinerSchrift,die nichtdieBibelist,indieserRollesein,wertrittdemnachinderherkömmlichengeistigenProduk tionandieStelleGottes?BurkehatteBarthesvorgeworfendurchseineharscheAblehnungdes Autors dessen göttliche Verfasstheit allererst zu begründen. Doch ich denke, man kann nicht leugnen,dassindenÄußerungenderKanonikerderdeutschenKlassikeineüberauswirkmächti geTraditiongeschaffenwurde,dieBarthes’Kritik,obwohlsiezugegebenermaßenpolemischist, nicht ganz unangemessen erscheinen lässt.An denÄußerungen Goethes ist ablesbar, dass der AutoralsHerrüberseinWerkganzzurechtüberdiesesverfügenundausihmfinanziellenVorteil ziehen möchte. Daher die Milde gegenüber der Position Klopstocks, die allerdings stets ver knüpftistmitderBetonungseinesGenies.DerStandpunktdesAntipodenHerderwirddabei– sehrdezent,umdieSchicklichkeitnichtzuverletzenundvielleicht,umsichselbstnichtmitdem Makelder Letternkrämerei zubeschmutzen–alsKronzeugefürdieseBerechtigungangeführt(da herauchkeinWortüberdenStreitzwischendenbeiden):DasGenie,diehehreInstanz,dievon denMusen–alsoauseinergöttlichenSphäre–ihreEingebungenempfängt,wirdvonHerder genommenundalsRechtfertigungfürdieForderungKlopstocksbenutzt.Goethesynthetisiert hierimreinstenHegelschenSinnedenallmächtigenAutor. ZudieservermittelndenPositionpasstauchdieAblehnungdesSprachmaterials:derTextselbst istimmereinerGefahrderFehldeutungausgesetzt,dahermussdasEigentlicheineinegeistige SphäreverlegtwerdenundzwarnichtindenRezipienten,sondernindenAutor(509f).Dennbei allerBetonungdespersönlichenDialogsmitdemText,beiallerEntgegensetzungvonprofessio neller (Kritik) und privater Deutung, unterliegt Goethes Text ein unverbrüchliches Vertrauen, eine„ausGlaubenundSchauenentsprungeneÜberzeugung“(510),wieeresselbstformuliert,in die Möglichkeit eines unmittelbaren Verstehensprozesses, der zwischen dem Eigentlichen der SchriftaufdereinenSeiteunddemInnerendesLesersaufderanderenSeiteabläuft.DieMate rialität des Textes korrumpiert diesen Verstehensprozess, den Dialog zwischen den Geistern, zwischenAutorundLeser. DassGoethediesim12.Buchnirgendsausdrücklichmacht,liegtanseinemVermittlungsprojekt zwischendenAntipodenHerderundKlopstock.DeutlichwirdesanderbereitszitiertenStelle, woerdemPublikumzuerklärenversucht,worumderUrheberrechtsstreitentbrannte(517)und woerdieHeiligkeitderPoesieunddieUngehörigkeit,mitihrGeldzuverdienen,nebeneinander

120 stellt.GoetheerklärtdiesenUmstandineinemTon,derklarmacht:dieLeserschaftvermagsich garnichtmehrvorzustellen,worumesbeidiesemStreitüberhauptging.AusderFormulierung sticht das Unverständnis für eine Position hervor, die den Autor von seinem Werk trennen möchte.IndiesenselbstverständlichenWendungenerreichtGoethevielmehr,alseresineiner programmatischenErklärungzudenRechtendesAutorsjevermöchte.ErmachtdasBandzwi schenAutor,Werkund SinnderSache zueinemnatürlichenUmstand,dernichtangezweifeltwer denkann. GoethebeschreitetmitdieserStrategieeinenanderenWegalsJ.G.Fichte,dereinewichtigeRolle imUrheberrechtsstreitspielteunddessenArgumentationichmichnunzuwendenmöchte 185 . Bis1800warderliterarischeMarktbeherrschtvonderDyadeVerfasser/Verleger.DieVerfasser produziertenTexteundverkauftendieseandieVerleger,diesieverbreiteten.Störfaktorindieser Symbiose waren vor allem die Nachdrucker, die Exemplare auf dem Markt erwarben, um sie dannaufeigeneFaustzuvervielfältigen.AusdieserungeregeltenSituationinBezugaufdieVer vielfältigungentstandnunderUrheberrechtsstreit.DieVerfasserverlangteneinenSchutzvorden wildwucherndenNachdruckpraktikenundwolltenvorallemamliterarischenMarkt,d.h.anjeder neuerlichgedrucktenAuflageeinesBuchesbeteiligtwerden. AusdieserVorgabeleitetesichdieNotwendigkeitab,aneinemTextUnverkäuflichesundVer käuflichesvoneinanderzutrennen.DasUnverkäuflicheeinesTextessolltedanndenAutordazu berechtigen,seineVervielfältigungzukontrollierenundausihrwirtschaftlichenNutzenzuzie hen. Es bestand allerdings erwartungsgemäß Uneinigkeit darüber, wie die Unterscheidung zu treffenseiundworaufsiesichbeziehe,woringenaualsodasUnveräußerlichedesTextesbestehe. Esliegt,daskonntenwirbereitsbeiGoetheverfolgen,ineinergeistigenSphäreundgewährleistet dieunverbrüchlicheVerbindungzwischeneinemAutorundseinemWerk. In der maßgeblichen juristischen Formulierung bei Johann Heinrich Feder sind dieses geistige EtwasdieGedankendesAutors.MankannaneinemDruckerzeugnisalsonurein„unvollständi ges Eigenthum“ erwerben bzw. aus Autorperspektive es nur eingeschränkt veräußern 186 . Doch wiesollteesmöglichsein,dassmanGedankenäußert–unddiesistjaderAnsprucheinesjeden, dereinenTextveröffentlicht–gleichzeitigaberdieseGedankenfürsichbehält?Eineziemlich interessanteFrage,dennVerbreitung,ÖffentlichkeitundDauerhaftigkeitderniedergelegtenGe dankensindjadasZieleinesSchriftstellers.WiekannnunaberdieserInteressenkonfliktgelöst

185 IchstützemichbeidennunfolgendenAusführungenzurEntstehungdesUrheberrechtsmaßgeblichaufderen AufarbeitungdurchHeinrichBosse,vgl.BOSSE 1981. 186 FEDER 1780,8,zit.nachBOSSE 1981,52. 121 werden,d.h.einerseitsandemselbstverständlichenWunschnachbreiterRezeptionfestgehalten, andererseitsaberderWunschnachdemSchutzdeseigenenGedankengutsformuliertwerden? MartinEhlersschlägteinen(gedachten)VertragzwischenLeserundAutorvor,indemsichjener verpflichtet,den„AbsichtenoderIntentionendesRednersgetreunachzukommen“(BOSSE 1981, 55).Washiereingeführtwird,istnichtwenigeralseineAsymmetriezwischenLeserundAutor. Der Autor diktiert gleichsam mit seinem Text ein Vertragspalimpsest, mit dem sich der Leser entweder qua Rezeption einverstanden erklärt oder aber „das Eigenthumsrecht desjenigen [kränkt], von dem er die Gedanken bekommen hat“ 187 . Dieser Vertrag sichert dem Autor die HerrschaftüberdiedemTextentnommenenGedankenzu. DieProblematikdieserKonstruktionistnichtschwerzuerkennen,dennwo,fragtmansichso fort,endetdas,wasderTextselbstausdrücktundalsoderWilledesAutors,undwobeginntdie eigenegedanklicheArbeit,zuderderTextanregt,ja,ausdrücklichanregensoll?Wieverhindere ich, dass der Text theoretisch das tut, was er praktisch offenkundig nicht tut, nämlich sich schließt?DievonEhlersundanderenverfochtenePosition,dassdieGedankeneinesTextesEi gentumdesAutorsbleibenunddasnichtVeräußerbareimSinneFedersdarstellen,nähertsich gefährlicheinemModell,dasdenTextzueinemkommunikationstheoretischenContainermacht, zueinemDingalso,indemeinbestimmterSinn–dieGedankendesAutorsnämlich–aufewig eingeschlossenbleibt.EineWeiterentwicklungderGedankenwirdzueinerMissachtungdesAu torwillensundseinerEigentumsrechte. EinenAuswegausdiesemDilemmasuchtFichteinseinemAufsatz BeweisderUnrechtmässigkeitdes Büchernachdrucks . Er nimmt hier eine abermalige Trennung innerhalb des geschriebenen Textes vor.DerUnterscheidungvonKörperlichkeit(desgedrucktenTextes)undGeistigem(derdarin enthaltenenGedanken)wirdeinezweitehinzugefügt,diedasGeistigeselbstnocheinmalineine materielleundeineformaleSeitespaltet:„DiesesGeistigeistnehmlichwiedereinzutheilen:indas MATERIELLE ,denInhaltdesBuchs,dieGedanken,dieesvorträgt;undindieFORM dieserGe danken,dieArtwie,dieVerbindunginwelcher,dieWendungenunddieWorte,mitdenenessie vorträgt.“(FICHTE 1791,411) DenerstenTermdieserUnterscheidungkannmansichnunprinzipiellaneignen,manmussnur einentsprechendesQuantumArbeitindieLektüredesTextesstecken,umInhaltundGedanken inBesitzzunehmen. „WasaberschlechterdingsnieJemandsichzueignenkann,weildiesphysischunmöglich bleibt,istdieFORM dieserGedanken,dieIdeenverbindunginder,unddieZeichen,mit denensievorgetragenwerden.[...]dennNiemandkannseineGedankensichzueignen, ohne dadurch dass er ihre Form verändere. Die letztere also bleibt auf immer sein AUSSCHLIESSENDES EIGENTHUM .“(412)

187 EHLERS 1784,28,zit.nachBOSSE 1981,55. 122 FichtelöstdasbeschriebeneDilemmaalsodurcheinenÜbersetzungsprozess:durchpersönliche ArbeitvermagesderLeser,denInhaltunddieGedankeneinesTextesinseinpersönlichesI deensystemzuintegrieren.DabeiveränderterabernotwendigdieForm,diederAutordenGe dankengegebenhat.Es istalsoimFichteschen ModellnichtderInhaltdesTextesselbst,der stabilbleibt.Sowirddievonmir–mitRekursaufBarthes–angesprocheneSchließungdesTex tes vermieden. Stabil bleibt hier nur die Verbindung zwischen Gedanken und deren formaler Gestalt.FichtebrauchtsomitauchnichtdiestarkeVerbindungzwischen SinnderSache ,Werkund Autor,diebeiGoetheaufgefallenwar.NimmtmanihnbeimWort,sokanneinbeliebigerGe danke in beliebigvielenpersönlichen Formen aktualisiertwerden. „Unwahrscheinlicher als das Unwahrscheinliche“(412)istFichtedabeinurdieGleichheitderIdeenreihen,alsodersyntakti schenVerknüpfungbeizweiverschiedenenMenschen.DieGedankensindineinerSphärejen seits der Sprache stabil, auf sie kann in stets neuerWeiseverwiesenwerden. Fichtevermeidet somitdenimplizitenVerweisaufdasmächtigeAutorsubjekt,wieerbeiGoethevorhandenist, brauchtdafüraberunbedingteineanderesinnstabilisierendeInstanz:dasReichderIdeen,dieals ReferentfürdiesprachlicheFormdienen. Esbleibtfestzuhalten,dassder–imvorliegendenFallanhandvonGoethesPositionbeschriebe ne–StabilisierungsversuchZielscheibevorallemderBarthesschenPolemikist,währendder–im vorliegendenFallanhandderPositionFichteserläuterte–IdealismusvorallemvonDerridaatta ckiertwurde.DieAngstvorderBeliebigkeitderOriginalitätwarAusgangspunktmeinerÜberle gungen.Esisthoffentlichdeutlichgeworden,dassOriginalität hierimWortsinnzuverstehenist, d.h.einenUrsprungbezeichnet,derverlorenzugehendroht.AuchbeiFichteistderAutoreine zentrale Instanz, die zwar nicht den Ursprung des Inhalts verbürgt, aber seinen einzigartigen Ausdruck. EigentumamWort bedeutetalsoimmerauchdie EigentümlichkeiteinesWortes ,d.h.seine unnachahmlicheGestalt.DiesekannsichabernaturgemäßnuraufdieReihung,aufdiesyntag matischeEbenebeziehen,denndieWörterselbstmüssenjawiederholbarsein.Sogewendetwird dieinnigeVerbundenheitdieserAngst(vordemVerlustvonOriginalitätundUrsprung)mitden beidenanderen(AngstvordemVerlustvonSinnundPlausibilitätbzw.vonVerantwortungfür seineÄußerungen)greifbar.SiebeziehtsichaufdieFreiheitderWahl(Fichte)undaufdieder persönlichenSchöpfung(Goethe).DerAngstvordemVerlustdieserFreiheitenentsprichtdie AngstvordemVerschwindendesAutors,dersiesichert.DieBeliebigkeit,diesoEinzugzuhal tendroht,istallerdingseineChimäre.Ichmöchteversuchen,dasandenbeidenanderenÄngsten zuzeigen(AngstvorderBeliebigkeitderInterpretation,AngstvordemVerschwindenderper sönlichenVerantwortung).

123 GegendieAngstvordemVerlustderOriginalitätkannnämlichnureineBehauptungaufgestellt werden, die da heißt: Der Verlust eines Ursprungs impliziert nicht den Verlust von Sinn/Plausibilität und Verantwortung. Der Ursprung selbst ist im Gegensatz zu den letzteren InstanzeninautorkritischenPositionenallerdingstatsächlichnichtzuhalten. DieHierarchisierungvonInterpretationen.DieAngstvordemVerlustderAutorität DieFrage,obeineInterpretationeinenTextgänzlichverfehltodereinezulässigeAktualisierung seinerAussageist,stellteinschwierigesProblemderLiteraturwissenschaftdar.Beidenchristli chenAutorenderSpätantikeundimeuropäischenMittelalterherrschtedieVorstellungvomvier fachenSchriftsinn.SiestehtamAusgangspunktderabendländischenhermeneutischenTradition. EinTexthattezunächsteinen sensuslitteralis ,einewörtlicheoderhistorischeBedeutung,bezeich neteetwasinderdamalsnochnichthinterfragtenWirklichkeit.NebenihmgabesfürjedenText eineheilsgeschichtliche,aufdiegöttlicheWahrheitgerichteteDeutung( sensusallegoricus ),eineethi scheDeutungfürdasLebendesLesers( sensusmoralis oder tropologicus )sowieschließlicheinee schatologischeDeutung,alsoeine,dieaufdasEndederWeltgerichtetwar( sensusanagogicus ).Für meineZweckeistesgleichgültig,obfürdieseVorstellungdiegottgegebeneSpracheideenleitend war,d.h.obsiealszwangsläufigerSubtextjedersprachlichenÄußerungbetrachtetwurde,dadie SpracheselbstdurchGottdenMenschengegebenwordenwar,oderobderAutoreineArtInspi rationhatte,durchdieerdenmehrfachenSchriftsinnselbstindenTexteinbringenkonnte.Ent scheidendist,dassSpracheschonsehrfrühalsetwaserkanntwurde,dassmehrereVerstehens ebenen zuließ, als etwas, das durch denselben Wortlaut ganz unterschiedlichen Bedeutungen Ausdruckverleihenkonnte.DennerstdurchdiesegrundsätzlicheKonzeptioneinesnichteinheit lichen Sinns wird die Frage nach einer besseren oder schlechteren Interpretation eines Textes überhauptsinnvoll. WenneinemTexteinSinnjenseitsdeswörtlichenSinnszugestandenwird,istesnureineFrage derZeit,wanneseineDebatteüberdiekontrollierendeInstanzgebenwird.Jannidisetal.haben inderEinleitungzuihremTagungsberichtgezeigt,dassdieGenieästhetikerstim18.Jahrhundert aufkam,dassvorherderindividuelleAutornureineRolleuntervielenkonkurrierendenModellen spielte,diefürdieSinngenerierungineinemTextinFragekamen.DieBeispiele,dieJannidiset al.geben 188 ,könnenabernichtüberzeugen.Siebeziehensichvorallemaufantikeundmittelalter licheWerke,beideneneinekollektiveAutorschaftfürwahrscheinlichgehaltenwirdunddiesich deshalb ganz automatisch nicht für eine auf die Künstlerpersönlichkeit fokussierte Perspektive

188 Vgl.JANNIDISETAL .1999,9ff. 124 anbieten 189 .AnsonstenführenJannidisetal.ÄußerungenvonRomanIngardenundMartinHei deggerinsFeld,beideausdem20.JahrhundertundbeideäußerstwichtigeBezugspunktefürdie moderne Autorkritik – Ingarden als profilierter früher Vertreter einer Rezeptionsästhetik, Hei deggeralsnunwirklichsehrbekannterIdeengeberfürdenPoststrukturalismus.Niemandleugnet, dassesseitderModernemehrereDiskurseundTraditionssträngegibt,diedenAutorinseiner Bedeutungzuschwächenversuchen–zweifrühereBeispielealsdievonJannidisetal.angeführ tenwärenetwaBretonoderTomaševskij 190 ,dieser,weilerdenAutoralsKonstrukterkennt,je ner, weil er den bewussten Gestaltungswillen des Einzelnen über verschiedene Techniken des ZufallsundderKollektivierungauszuschaltenversucht. Esscheintmirallerdingsetwasvorschnell,denAutoralleinaufgrundderExistenzandererDis kursealsübermächtigenAnhaltspunktfürdiePrüfungderGültigkeiteinerInterpretationwegdis kutierenzuwollen.„DasssichdasProblemdesAutorskeineswegssoteleologischeinsinnigent wickelthat,wieesetwaFoucaultsRedebehauptet“(JANNIDISETAL .1999,11),istabsolutun strittig.In Qu’estcequ’unauteur? wirdallerdingseinesolch teleologischeinsinnigeEntwicklung nirgends behauptet 191 .Foucaultschreibtvielmehr: „Cettenotiond’auteurconstituelemomentfortdel’individualisationdansl’histoiredes idées,desconnaissances, deslittératures,dansl’histoiredelaphilosophieaussi,etcelle dessciences.Mêmeaujourd’hui,quandonfaitl’histoired’unconcept,oud’ungenrelitté raire,oud’untypedephilosophie,jecroisqu’onn’enconsidèrepasmoinsdetellesunités comme desscansionsrelativementfaibles,secondes,etsuperposées (Hervorhebungvonmir,B.S.) parrapportàl’unitépremière,solideetfondamentale,quiestcelledel’auteuretdelœu vre“(FOUCAULT 1969,792). EsgehtFoucaultdemnachumdieübermächtigeRolle,dieBegriffewie Autor oder Werk fürun serTextundLiteraturverständnisspielen.IhreFunktionfürdieStrukturierungdesWissenssteht imZentrumseinerAufmerksamkeit.DieUnterstellungeinerTeleologiewirdFoucaultsWeltbild nichtgerecht,schongarnichteineTeleologiewegvom„schlechten“Autorprinziphinzueiner „besseren“, rezipientengesteuerten oder textimmanenten Interpretationspraxis. Die Funktion AutoristfürFoucaulteineKategoriederAnalyse,mussaberalssolcheauchgekennzeichnetund benutztwerden; Qu’estcequ’unauteur? istindiesemPunktnichtzuvergleichenmitBarthes’ La

189 DieseBegründungvermagschondeshalbnichtzuüberzeugen,daesvölligunproblematischist,einemKünstler kollektiventwedergemeinsamenGestaltungswillenoderIntentionenfürdieSinngebungeinzelnerTextpassagenzu unterstellen.DieAnonymitäteinesAutorsverhindertzwardietatsächlichbiographiegestützteInterpretation,doch darausfolgtnichtsfürdiegrundsätzlicheVorstellungvonderFunktionsweiseeinesliterarischenSchaffensprozesses. 190 Vgl.TOMAŠEVSKIJ 1923,55. 191 Auchnicht,wennFoucaultschreibt,dass„ladisparitiondel’auteur[…]depuisMallarméestunévénementquine cessepas“(796).Hierwirdnurdaraufhingewiesen,dassMallarméfüreineinnerliterarischeEntwicklungsteht,die denAutoralssinngebendeInstanzskeptischbeurteilt.DurchdieUnsitte,geradeansolchzentralenStellennicht anzugeben,woraufmansichbezieht,vereitelnJannidisetal.einegenauereAuseinandersetzungmitihrenThesen. DennesistleichteinemAutorpauschalirgendeinePositionzuunterstellen.DerVerdacht,diesgescheheabsichtlich, drängtsichdannvonganzalleineauf. 125 mortdel’auteur ,esistkeinAufrufzurnotwendigenÜberwindungdesAutors,sonderneinBeitrag zuseinergenauerenAnalyse. Der Autor ist es also, der die Einheitlichkeit eines Werkes gewährleistet (798 u. 802) und der durchdiesenVertrauensvorschusseineprädestiniertePositionbesitzt,dieRichtigkeiteinerInter pretationzubeurteilen.„L’auteur,c’est[...]leprinciped’unecertaineunitéd’écriture–toutesles différencesdevantêtreréduitesaumoinsparlesprincipesd’évolution,delamaturationoude l’influence.“ (802) Damit trifft Foucault ins Schwarze, denn ist es nicht wirklich ein zentrales MerkmalunseresDenkens,dasseineIdentitätderPersonüberdieZeithinwegniemalsangezwei feltwird?VeränderungeninderpersönlichenMeinunghängendieserWeltsichtnachmitErfah rungen,ReifungsoderEinflussprozessenzusammen.GenaugegendieseVorstellungrichtensich dieautorkritischenAnwürfe,denndieMachtdesAutorsisteinSymbolfürdieseStabilität,fürdie unverbrüchlicheIdentitätmitsichselbst.DieseIdentitätistabernachträglichdiskursiverzeugt, dasistebenfallsanderUrheberrechtsdebatteabzulesen,wojaeinTeilderDiskutierendenvon der grundsätzlichen Öffentlichkeit geäußerter Gedanken ausging. Die Gegenpartei, die sich schließlichdurchgesetzthat,verfolgtealsMotivvorallemfinanzielleInteressenundwollteüber denGeniebegriffdieDeutungshoheitfestschreiben. Esliegtfürmichnichtnäherzuglauben,dassTextedeshalbetwasmiteinanderzutunhaben, weil sie denselben Autor haben, als zu glauben, dass Texte in ihrer jeweiligen Aktualisierung durchdenRezipienteneinanderangenähertwerden.DerAutoristnureinebessererforschteund leichteradressierbareEinheit.DiesistauchbeiE.D.HirschsKritikanderAutorkritikherauszu lesen: „For,oncetheauthorhasbeenruthlesslybanishedasthedeterminerofhistext’smean ing,itverygraduallyappearedthatnoadequateprincipleexistedforjudgingthevalidity ofaninterpretation.Byaninnernecessitythestudyof‘whatatextsays’becamethestudy ofwhatatextsaystoanindividualcritic.”(HIRSCH 1967,3) DerAutor,sogibtHirschunumwundenzu,gewährleistetalsodieRichtigkeiteinerInterpretati on.Fällteraus,musseinandereranseineStelletreten,denn„thetexthadtorepresent somebody’s meaning–ifnottheauthor’s,thenthecritic’s.“(3).Esistallerdingsnichtselbstverständlich,dass einTextüberhauptdasMediumirgendjemandesMeinungist.Diesist,ichverweiseerneutauf denUrheberrechtsstreit,einerechtneuevorgeblicheEvidenzerfahrung,derenHintergrundnicht zuletztpekuniärerNaturist.EinTextkannauchalsAusgangspunktfürdieeigenegedankliche Arbeitgesehenwerden.DochdieseFunktionistebenzueinem–ummitFoucaultsWortenzu sprechen – relativ schwachen, zweitrangigen und überlagerten Ordnungsprinzip geworden. Es wirdvonHirschnichtausdrücklichbestritten,dasseinTextauchdazudaist,umdieGedanken desRezipientenoderdesInterpretenanzuregen,aberdieseFunktionbleibtderersten,derReprä sentation einer einzelnen Meinung, nachgeordnet. Dem Autor diesen repräsentativen Platz in 126 Bezug auf den Text abzuerkennen ist folgerichtig Usurpation. Der Interpret maßt sich einen Rangan,derihmnichtzustehtundbringtsomitdieTextweltheillosdurcheinander 192 .DennKri tikergibtesnatürlichvieleundsiehabenalleunterschiedlicheMeinungen,wasfürdieBedeutung einesTextesnurmisslichseinkann,seineEinheitzerfällt:„Tobanishtheoriginalauthorasthe determinerofmeaningwastorejecttheonlycompellingnormativeprinciplethatcouldlendva liditytoaninterpretation.”(111)HirschsargumentativerDrehundAngelpunktistdieÜberzeu gung, dass Sprache nur vor einem chaotischen Abgleiten in die Beliebigkeit geschützt werden kann, indem diese beiden Komponenten vollständig bewahrt werden. Die Annahme, ein Text könneaufunterschiedlicheWeiseaktualisiertwerden,bedrohtfürihndieGrundfesteneinerVer stehbarkeitvonSpracheüberhaupt: „Suchaconceptionreallydeniestheselfidentityofverbalmeaningbysuggestingthatthe meaningofthetextcanbeonething,andalsoanother,differentthingandalsoanother [sic]; and this conception (which has nothing to do with the ambiguity of meaning) is simplyadenialthatthetextmeansanythinginparticular.Ihavealreadyshownthatsuch anindeterminatemeaningisnotsharable.”(45) DieLeugnungderBestimmtheitvonSprachegefährdetinHirschsKonzeptiondasFunktionie renvonSprachealsMittelderintersubjektivenVerständigung.InteressanterweiseistdieserPunkt auchdiePlattformfürdiedekonstruktiveKritikDerridas.AuchfürDerridaistdieFunktionsfä higkeitvonSprachenurdurchihregrundsätzlicheIterabilitätgewährleistet 193 .Dochdieisteben keineselbstidentischeWiederholbarkeitimSinneHirschs,sonderneineparadoxeStruktur.Itera bilitätistdieEigenschaftderSprachestetssozuerscheinen,alsrekurrieresieaufetwasbereits Gesagtes,aufeinenbestimmbarenUrsprung,gleichzeitigaberdiesenUrsprungniemalsbenennen odereinholenzukönnen.Sprachewirdnietransparent,einMakeldenmanhistorischmitder VerteufelungderSchriftaufzufangenversuchte–eineKonstellation,diedenAusgangspunktfür DerridasKritikbildet 194 . Hirschund–wiewirspäternochsehenwerden–auchSearleversuchensichdieEinsichtendes spätenWittgensteinzueigenzumachen,umdemProblemderUndurchsichtigkeitvonSprache zu begegnen.Wittgenstein hatte den Begriff desSprachspiels eingeführt,der für Sprache zwar Regeln – Hirsch spricht von boundaries – ansetzt, doch gleichzeitig die Möglichkeit sowie die NotwendigkeitbegrifflicherPräzisionabstreitet 195 .ImKielwasserdieserÜberlegungversuchtim vorliegendenFallE.D.HirscheinenUnterschiedzwischenoffenkundigersprachlicherAmbiva lenzundgleichzeitigerForderungnachsprachlicherBestimmtheitherzustellen.Dennesistjanur

192 Vgl.HIRSCH 1967,5. 193 Vgl.DERRIDA 1971,375,CULLER 1988,123ff. 194 Vgl.zur„totenSchrift“DERRIDA 1974,33u.47,DERRIDA 1971,376f. 195 WITTGENSTEIN 1945,zumSprachspiel,Zif.7;zuGrenzeundPräzision,Zif.69,71,99.ÜberdieVereinnahmung Wittgensteinswirdweiteruntennochausführlicherzusprechensein. 127 sehrschwerdieGrenzezubestimmen,anderbeidieserVorstellungdieAmbivalenzinUnbe stimmtheitkippt.NurdurchdieGleichsetzungvonUnbestimmtheitmitsemantischerAnarchie kannHirschseinKonzeptplausibilisieren. DochdiesprachtheoretischenEntwürfederIterabilität(Derrida)undder Historisierung(Fou cault)sindjaihrerseitsimmeraneineDiskussiondesKontexts(Derrida)oderdesArchivs(Fou cault) gebunden. Die Struktur der Aufpfropfung ( greffe ), die für Derrida beispielsweise eine so große Rolle spielt, ist nicht zu verstehen, wenn man sie nicht innerhalb eines Sprachspiels im Sinne Wittgensteins und also im Sinne eines ständigen Bruchs mit dem Kontext sowie einer gleichzeitigenständigenRekontextualisierungauffasst 196 .EineBestimmtheitindiesemSinnewi derspricht also weder den Vorstellungen Derridas, noch denen Foucaults. Bei ihnen herrscht gerade keine semantische Anarchie, sondern ein unaufhaltsames Florieren von Sinn, das zwar nichtan bestimmte Grenzengebundenist,jedochausderSituationherausGrenzenmitführt.Ein WortkannauchfürDerridaoderFoucaultnichteinfachallesbedeuten,dochmankannseine semantischeEntwicklungnichtvorhersagen. HirscherkenntseinerseitsdasPrinzipderAufpropfunggrundsätzlichan,wennereinräumt,dass „meaningisnotmadedeterminatesimplybyvirtueofitsbeingrepresentedbyadeterminatese quenceofwords.”ErinsistiertdeshalbaufeineranderenInstanz:„Adeterminateverbalmeaning requiresadeterminingwill.“(46)Unddieser determiningwill gehörtfürHirschwieselbstverständ lichdemAutor,undesisteinGradmesserfürdessen„stylisticexcellence[...]thatheshouldhave managedtoformulateadecisivecontextforanyparticularwordsequencewithinhistext.[...]To speakofcontextasadeterminantistoconfuseanexigencyofinterpretationwithanauthor’s determiningacts.“(47)DieseFormulierungkannHirschnurbenutzen,weilervorherdieUnter scheidung zwischen Ambivalenz und Unbestimmtheit gemacht hat, die ich schon als ziemlich gewaltsamgekennzeichnethabe. DieVorstellungHirschskonturiertsichlangsam:DieAufgabeeinesgutenAutorsistes,einem Text eine möglichst klare Form zu verleihen, einen möglichst unmissverständlichen Kontext. AufgabedesInterpretenistes,anhanddiesesKontextesaufdieBedeutungdesTexteszuschlie ßen.DerKontextistfürHirscheinevomAutorganzunabhängigeInstanz,dochjebesserder Autor,soscheintes,destoeinfacherdieAufgabefürdenDeutenden.Dabeiistesschonmöglich, dass einem Autor nicht sämtliche Bedeutungsmöglichkeiten seines Textes im Moment seiner FormulierungvorAugenstehen,dochBedeutungbleibtinsofernaneinebewussteEntscheidung geknüpft,alssieineinemumfassenderenZusammenhangerzeugtwird.DieEntscheidungdar über,obeineInterpretationangemessenistodernicht,hängtalsogrundlegenddavonab,obdem Autorplausibelist,dasssieeinegültigeTeilmengeeines types ist,denerbeiseinerÄußerungim

196 Vgl.hierzuDERRIDA 1971,377u.393,CULLER 1988,149ff. 128 Sinn hatte. Es ist zwar zentrales Merkmal eines type , dass es durch verschiedene instances aus gedrücktwerdenkann,doch„whenwesaythattwoinstancesareofthesametype,weperceive common(identical)traitsintheinstancesandallotthesecommontraitstothetype.“(50) HirschveranschaulichtdiesenGedankenanalltäglichenGesprächssituationen,docheswirdnicht deutlich,wieseineVorstellungaufdieInterpretationliterarischerTexteübertragenwerdensoll. DekonstruktiveVerfahrenwiedieTravestie,dieParodie,dasLesengegendenStrichwärenun denkbar.EineInterpretationwiedievonKleists Marionettentheater durchdeMan 197 wäreeinun möglichesObjekt,denninihrwerdendreiganzunterschiedlicheDeutungendesSchreibprozes sesangeboten.Andernfallsmüsstemandavonausgehen,dassKleistkeineklareMeinungüber denSchreibprozesshatteunddeshalbwillentlichmehreresichwidersprechendeDarstellungenin seinenTexthineingenommenhat;oderdeMansAusführungenwärenganzeinfachfalsch. HirschsVorstellungvomVerständigungsprozesswirktsomitsehrhomogen.Esexistierteine wir Instanz,diesprachlicheGebildetaxiertundaufungeklärteWeiseineinenüberindividuellenBe stand von geteilten Mustern überführt. Hirsch weicht durch diese Konzeption zwar einerseits idealistischenModellenaus:BedeutungspeistsichnichtauseinerallgemeinenIdee,sondernwird durchdieeinzelnen instances intersubjektiverzeugt.Andererseitskannerabernichtplausibelma chen,wieeinderarthergestelltes type dannwiedervoneinemIndividuumineinempersönlichen Willensaktausgewähltwird. DerFallliegtparallelzudemvonSearleandieAdresseDerridasformuliertenVorwurf,dieser unterscheidenichtzwischen type und token (SEARLE 1994,642f).DasProblem,dasHirschund Searle beide nicht sehen wollen, ist das des infiniten Regresses, den sie produzieren. Type und token könnennurvoneinanderunterschiedenwerden,wenndas type vorgängigist.„Thedistinc tion between types and tokens, by the way is a consequence of the fact that language is rule governedorconventional,becausethenotionofaruleorofaconventionimpliesthepossibility ofrepeatedoccurencesofthesamephenomenon”,erklärtauchSearle.DieUnterscheidung ty pe /token hängtalsoihrerseitsvondersprachlichenGrundregelderWiederholbarkeitab.Dochdie lässtsichnuraufzweiWeisendenken:entwederalsIterabilität,daslehntSearleab;oderalsSys temvonSetzungen,dochdaswidersprichtdemGedankendesSpiels,derfürSearleinAnleh nunganWittgensteinsowichtigist.DenndieSpielregelnfürdasSprachspielsindnachWittgen steinimständigenFluss.An eineursprünglicheEinführungistbeiihnennicht zudenken.Sie funktionierenundwerdenmodifiziert,ihrUrsprungliegtunerreichbarimDunkeln. PositionenwiedieHirschsundSearlesführenstillschweigendimmerweiterdiesenUrsprungmit. GrenzenundBestimmtheitenmussesgeben,dennsonstkönntemannichtaufsprachlicheBe

197 DE MAN 1979,205233. 129 deutungenBezugnehmen,sonstkönntemannichtwissen,wasjemandgemeinthat 198 .Das expla nans fungiertimmerwiederals explanandum unddieseFormdesZirkelschlussesverdecktnurun zureichend,dasseseinzigdarumgeht,Verstehenzusichernundzwarvollständig.Missverständ nissesindFehlerundalssolchevomAutorauszumachenundzukorrigieren.WennderAutortot ist,schlüpftderverständigeInterpretinseineRolle,underreüssiertumsoleichter,jeexzellenter derStildesAutorsgewesenist.DieRezipientenebenewirdohneArgumenteignoriert,dennsie istindieseVorstellungnuralsanarchischesElementzuintegrierenodersiekoinzidiertmitder Autorebene–imFalleeiner„richtigen“und„angemessenen“Lesart–undmussdeshalbnicht gesondert beachtetwerden. Hirsch kann alternativeInterpretationen nur im Systemvon Fehler oder zulässigerVariante ,dieabervomAutormitgemeintgewesenseinmuss,fassen.Letzteresist möglichüberdasabstrakte type .DochdieseswirdjawiederumdurchseinenGebraucherstherge stellt, d.h. durch jede Aktualisierung verändert. Doch da Bedeutung sich nicht ändern darf 199 , läuftdasKonzeptinsLeere.DieUnterscheidungvon type und token istdemzufolgeeinfachnicht geeignet,umAutoritätsproblemezulösen,dasieeineunbezweifelteAutoritätbereitsvoraussetzt. WasheißtdasnunaberfürdieAngstvorSinnverlustundfürdieEntscheidbarkeitzwischenan gemessenenundfalschenInterpretationen?BenötigtmanfürdieZuweisungvonSinnwirklich, wieHirschbehauptet,einestabile,unwandelbareInstanz?EinRekursaufdennunschonhäufi gererwähntenWittgensteinsollindiesenFragenErhellungbringen. Exkurs:WeichgezeichneteWorte FürJohnSearleistderspäteWittgensteindieWasserscheidefürernstzunehmendeSprachphilo sophie.DieDekonstruktionistseinerMeinungnachhoffnungslos preWittgensteinian undausdie semGrundtraditionalistisch,veraltetundpositivistisch.WegendesGewichts,dasderBegriffdes Sprachspiels und seine unterschiedlichen Interpretationen gerade auch für die Frage der Zure chenbarkeithaben,scheintesmirratsam,hiereinengenauerenBlickaufihnzuwerfen.Inden Philosophischen Untersuchungen selbst können dabei zunächst Argumente sowohl für die Position SearlesalsauchfürdiejenigeDerridasgefundenwerden. Zunächstfälltauf,dassWittgensteinmitdemTerminus Sprachspiel mehrereSachverhaltebezeich nenmöchte 200 :Zumeinen„primitive“Sprache,d.h.Sprache,dieauseinfachenVerweisstrukturen besteht.EinWortbeziehtsichhieraufeinefestumgrenzteEinheitindermateriellenWelt,d.h. aufeinenbestimmtenReferenten.WittgensteinerkenntdarinallerdingssofortdieSchwierigkeit,

198 Vgl.HIRSCH 1967,50. 199 Vgl.HIRSCH 1967,46. 200 Vgl.WITTGENSTEIN 1945,Ziffer7. 130 dassesWortegibt,diesichnichtinihrerDeixiserschöpfen.EindeiktischesSprachkonzeptist ganzaufeineSprachevonSubstantivenausgerichtet.DeshalberweitertWittgensteindieExtensi ondesBegriffs Sprachspiel zumanderenaufeineabstrakteNachahmung,aufeinNachsprechen bestimmter sprachlicher Einheiten, durch welches der Gebrauch der Sprache erlernt werden kann,undschließlichaufdasganzeGewebevonSpracheunddiemitihrzusammenhängende Tätigkeit,d.h.aufdenletztendlichenGebrauchderSpracheselbst,auchdurchSprecher,diesie bereitsbeherrschen. IndieserKonzeptionscheintbereitsdieentscheidendeÜberlegungWittgensteinsauf,diedarauf hinausläuft, dass eine Sprache niemals im vollen Wortsinne beherrschbar wird und also mein ebengebrauchterAusdruckeineIdealisierungdarstellt.GewandteSprechereinerSprachebedie nensichihrervoninnenherausundverändernsiemitjedemGebrauch.Eserscheintmirdurch ausangemessen,dieseEigenschaftderSprachemitdemBegriffderIterabilitätzubelegen.Eine Sprachewirddemnachnichteinfacherlerntunddanachbenutzt(diesisthöchstensbeiden primi tiven ,nuraufSubstantivengestütztenSprachenvorstellbar),sondernLernenundGebrauchvon Sprachefallenzusammen.DasErlerneneinerSprachenachderhinweisendenMethode 201 muss davonausgehen,dassesbereitsetwasgibt,aufdasmansichbeziehenkann,esfunktioniertnach demModelldesFremdsprachenlernens.DochderersteErwerbeinerSpracheerfolgtaufandere Weise,nämlichindemmandasSpielspieltundsichseineRegelnimLaufedesselbenaufspezifi scheWeiseaneignet: „ManlerntdasSpiel,indemmanzusiehtwieandereesspielen.Aberwirsagen,eswerde nachdenunddenRegelngespielt,weileinBeobachterdieseRegelnausderPraxisdes Spielsablesenkann[...]WieaberunterscheidetderBeobachterindiesemFallzwischen einemFehlerderSpielendenundeinerrichtigenSpielhandlung?–EsgibtdafürMerkmale imBenehmenderSpieler.DenkeandascharakteristischeBenehmendessen,dereinVer sprechen korrigiert. Eswäre möglich, zu erkennen,dass Einer dies tut, auchwennwir seineSprachenichtverstehen.“(WITTGENSTEIN 1945,Zif.54) SprachewirdhiernichtnacheinerGrammatik,nacheinemkodifiziertenRegelwerkerlernt,son dernmanverleibtsiesichein.RichtigesVerhaltenindiesemSpielwirddanachbeurteilt,wiesich dieanderenzueinembestimmtenAktverhalten,obsiealsoVerstehensignalisierenoderdieÄu ßerungkorrigieren.NatürlichexistiertauchdieMöglichkeiteinerunangemessenenoderfalschen ReaktionaufderRezipientenseite.EinesolchefalscheReaktionlässtsichdabeiwiederumander ReaktiondeserstenSpielers,d.h.desSprechersfestmachen.Isterzufriedenmitdem,wasmut maßlichbeiseinenMitspielernangekommenist,dannliegtkeinRegelverstoßvor,dasSpielkann weitergehen,derZugwargültigundwirdinkorporiert.

201 Vgl.WITTGENSTEIN 1945,Zif.1,32.WittgensteinschreibtdenEntwurfdieserMethodeAugustinuszu. 131 EineHauptschwierigkeitdieserKonzeptionist,dassdieKontrolleeinergeglücktenodermiss glücktenKommunikationstetsäußerlichundaufMutmaßungendereinzelnenSprecherangewie senbleibt.AktionundReaktionwerdengegenseitiggedeutetundjenachdemwirdentschieden, obdieVerständigungangemessenfunktionierthatodernicht.EsgibtkeineMöglichkeitzuer kennen,obestatsächlicheinVerstehenimSinneeinerKonvergenzgeistigerZuständegegeben hat, ob also die Intention des Sprechers vollständig und unverändert beim Rezipienten ange kommen ist. Darauf kann nur mit Hilfe der äußerlich sichtbaren (Schrift)Zeichen geschlossen werden.Wenneskeinesolchengibt,wieetwaineinemDialog,potenziertsichdieUnschärfe, dennjedeneueReplikmussnachbestemWissenmitdenvorhergehendenabgeglichenwerden. AußerdemerfolgtdieKontrolleimmerinterdependent. Wittgenstein verabschiedet also das Modell einer eindeutigen Referentialität von Sprache und bewegtsichdamitganzinnerhalbderSprachvorstellungen,wiesieimAnschlussanSaussureund dessenThesevonderArbitraritätdesZeichensentwickeltwurden 202 .EsgibtkeinäußeresIndiz, daseinekorrekteVerständigungabsichernkönnte.DeshalbstellensichsehrbasaleFragen:Istso etwaswiekorrekteVerständigungüberhauptvorstellbaroderbleibtKommunikationnotwendig vage?InwelchemVerhältnisstehenSpracheundintentionaleZustände?Sindletzterefürirgend einenTeilnehmeramSprachspieltransparent–z.B.fürden,dersichderSpracheaktuellbedient, alsodenAutoreinerÄußerung–oderbleibenpsychischeZuständesobaldsiemitSprachezutun habenundurchschaubar? Die Verknüpfung des Signifikanten mit einem Signifikat wird über den Gebrauch hergestellt, nichtübereineeinmaligeZuweisung,überBenennung.„MitdemBenenneneinesDingsistnoch nichts getan.Es hat auchkeinenNamen,außerimSpiel“,formuliertWittgenstein(Zif.49).Diese grundlegende Einsicht führt aber neuerlich zu Unwägbarkeiten. Wenn eine Benennung nicht ausreicht,umeinDingoderallgemeinereinenSachverhaltzubestimmen,wennderGebrauchdie entscheidendeWaagscheideist,dannmussmansichüberdie(Trenn)SchärfevonSpracheunter halten.DieseerhältdurchdienichtvorhandeneobjektiveInstanzeineelementareVagheit.Der BeobachterinWittgensteinsBeispielentscheidetnichtdurcheinverfügbaresWissen,durcheinen Kodex,sondernalleinüberdasVerhaltenderSpieler.Erhat,selbstwennerversuchtvonaußen dasMuster,nachdemgespieltwird,aufzuzeichnen,keineMöglichkeit,dieseAufzeichnungins aktuelle Spiel einzubringen. Die Schiedsrichterposition in diesem Spiel ist anders gesagt nicht neutral,demSpielnichtäußerlich,sondernTeilallerSpieler.DieSprachwissenschaftistindiesem Modelldeskriptiv,dieWissenschaftlersindmachtloseChronisten,diekeinInstrumentzurRegel durchsetzunginihrenHändenhalten 203 .SpracheundihreFunktionsweisesindnurüberBeispiele

202 Vgl.SAUSSURE 1916,100ff. 203 Vgl.WITTGENSTEIN 1945,Zif.109:„Alle Erklärung mussfort,undnurBeschreibunganihreStelletreten.“ 132 erklärbar,ausdenenüberÄhnlichkeitsbeziehungeneinMusterhergestelltwird.NurkannÄhn lichkeitselbstverständlichaufvielenverschiedenenEbeneneintreten,kannaußerdemdemeinen etwasalsähnlicherscheinen,wasdieanderealsvollkommenunterschiedlichbegreift.Dochvon dieserUnschärfe,dieserprinzipiellenUnbegrenztheitistdieSprachenichtzutrennen.„Wirken nendieGrenzennicht,weilkeinegezogensind.“(Zif.69) UnschärfeverhindertallerdingsnichtWiedererkennen,dennsiebetrifftnurdieRänder,nichtdas Zentrum.DiesessichertdieStabilität. „Mankannsagen,derBegriff‚Spiel’isteinBegriffmitverschwommenenRändern.–‚A beristeinverschwommenerBegriffüberhauptein Begriff ?’–IsteineunscharfePhotogra phieüberhauptdasBildeinesMenschen?Ja,kannmanein unscharfesBildimmermit Vorteildurcheinscharfesersetzen?Istdasunscharfenichtoftgeradedas,waswirbrau chen? [...] Man gibt Beispiele und will [Hervorhebung B.S.],dass sie in einem gewissen Sinnverstandenwerden.[...]MitdiesemAusdruckmeineich[,][...]ersolledieseBeispiele nuningewisserWeise verwenden .“(Zif.71) Entscheidend für diese Sprachvorstellung ist das Konzept der Grenze. Die Grenze darf ruhig undeutlichgezogensein,solange dasWesentliche sichweitvonihrentferntbefindet.Oderumin derMetapherWittgensteinszubleiben:DasFotodarfunscharfsein,solangemandenMenschen daraufnochalssolchenerkennt.Wenndiesnichtmehrgesichertist,dannbewegenwirunsin einemGrenzfall.Vielleichterkenntdereine,geübtereBetrachterdasMotivnoch,wenndasGros schonsagt,aufdemFotoseinichtsbestimmtesmehrzuerkennen.DieseGrenzemussalsonicht scharfgezogenwerden,siekannrezipientenabhängigsein. Ichdenke,dieVerbindungzurProduktionsästhetikE.D.Hirschswirdklar.DieFigurderGrenze istdie,woeinUrteilübereinebestimmteDeutungAmbivalenzenzulässt.DasZentrumistbei HirschdurchdenAutorwillengesichert.DieInstanzdesWillensistauchinZiffer71der Philoso phischenUntersuchungen nochintakt,ichhabedasimZitatunterstrichen:Man will ,dassetwasin einemgewissenSinnverstandenwird,undschließtaufdieErfüllungdiesesWillensüberdasVer haltenderAnderen.Ambivalenzensindzulässig,jaoftsogargewollt(„Istdasunscharfenichtoft geradedas,waswirbrauchen?“),solangedieseAmbivalenzendenWillennichtunkenntlichma chen, schaden sie nicht, ja, sind das Risiko, vielleicht sogar Funktionsprinzip jeder Form von Sprache. Eine Garantie für die vollständige Erfüllung des Willens gibt es dabei nicht. Doch „missverstandenkannauchjedeallgemeineErklärungwerden.“(Zif.71) WirkommensozurRadikalisierungderFragenachdemVorhandenseindesWillens.Dennwenn seineDurchsetzungauchnicht ganz kontrollierbarist,siebleibtdoch grundsätzlich steuerbarund vorallembleibtsiedemÄußerndentransparent.VerstehenbleibtfürWittgensteingrundsätzlich eineInterpretationvonSignalen.WortesindfürihnnichtinderLage,seelischeZuständezube

133 schreiben 204 . Nichtsdestoweniger werden Worte vom Sprecher dazu gebraucht, um seelischen ZuständenAusdruckzugeben.AufSprachewirdsichalsaufeineArtMediumbezogen.Witt gensteinverabschiedetsojedeFormeineskommunikativenContainers.Erdenktnicht,dassin Spracheetwasenkodiertwird,dasdanninihrdauerhaftvorhandenist.Spracheistkeinlückenlo sesArchiv,dochihrständigermassenhafterGebrauchunddiestereotypenReaktionenaufihn erlaubeneseinemSprecher,sichmitseinenAbsichtenansiezuwenden 205 : „EskannnichteineinzigesMalnureinMenscheinerRegelgefolgtsein.Eskannnicht eineinzigesMalnureineMitteilunggemacht,einBefehlgegeben,oderverstandenwor den sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartiespielensind Gepflogenheiten (Gebräuche,Institutionen).“(Zif.199) Wittgensteinerkennt,dasssichhierauseinparadoxesVerhältniszwischen(Sprach)Handlungund Regel ergibt. Wenn „einer Regel folgen“ eine Gepflogenheit ist, gleichzeitig aber doch die (Sprachspiel)Handlungen selbst erst die Regel herstellen, d.h. wenn die Regel von außen nicht diktiertwerdenkann,dannfragtsich,wiedieGepflogenheitentstandenist.Wittgensteinspricht imfolgendenvonSpracheals„Übereinkunft“(Zif.355),zeigtabernirgendswirklichbefriedigend den Zusammenhang zwischen seiner Spielmetapher und der Konventionalisierung von Regeln auf.Wenneseinengibt,dannliegterim AktderAbsicht .DochseineAussagenbleibenauchhier vage: „WelcherleiüberstarreVerbindungbestehtzwischendemAktderAbsichtunddemBe absichtigten?–WoistdieVerbindunggemachtzwischendemSinnderWorte‚Spielen wir eine Partie Schach!’ und allen Regeln des Spiels? – Nun, im Regelverzeichnis des Spiels,imSchachunterricht,indertäglichenPraxisdesSpielens.“(Zif.197) DieAufzählungverhinderteineKlärungderaufgeworfenenFrage:Regelverzeichnis,Unterricht undPraxissindoffenbardieInstanzen,dieAbsichtundBedeutunginderSprachezusammen führen.DochdieseAussagebleibteinenachträgliche,siegehtdavonaus,dassalledreiInstanzen bereitsbestehen.IndiesemFallemachteskeineSchwierigkeiten,sicheineOrientierunganRe gelnundderen gleichzeitige Veränderungvorzustellen.DasParadoxlöstsichauf. EineErhellungHirschsdurchWittgensteinwardasAnliegendiesesExkursesundwirklich,wir sind wieder an derselben Stelle angelangt wie bei der type /token (Searle) bzw. der type /instance Unterscheidung(Hirsch).Ichhattegesagt,dieseUnterscheidungenführtenstillschweigendeinen Ursprungmit,eineirgendwannetablierteKonvention,eineirgendwiezustandegekommeneÜ bereinkunft zwischen Benutzern von Sprache. Auf das Konzept des Sprachspiels trifft dieses

204 Vgl.WITTGENSTEIN 1945,Zif.180. 205 IchgebrauchebewusstnichtdenAusdruck sichbedienen ,dennalles,waseineÜbersetzungodereineAbbildung vonAbsichteninSprachenahelegt,entsprichtnichtdemSchemader PhilosophischenUntersuchungen ,vgl.auchZif.280. 134 Verdiktnurbedingtzu,dennWittgensteinbeharrtjastetsdarauf,dassSprachenichtsabbildet undnichtreferentiellgedachtwerdensoll 206 ,d.h.beiihmbleibtdieSprachemedial. DieseVorstellungerlaubtdannallerdingsnichtmehr,bestimmteInterpretationenalsfalschoder richtigeinzustufen.EineAussageüberAngemessenheitkannnurinBezugaufeinebestimmte Spielsituation, d.h. auf eine bestimmte historische Situation gemacht werden. Außerdem ent scheidetderRezipientmaßgeblichmitüberdieseAngemessenheit 207 .WittgensteinsÜberlegungen lassen alsoweder dieThese gelten, Sinn müsse unwandelbar sein, noch die, er sei maßgeblich vomAutorzulegitimieren.ÜberAdäquatheitwirdinderInteraktionderBeteiligtenentschieden, daeseineexterneSchiedsgerichtsinstanznichtgibt.DasführtaberdennochnichtindieBelie bigkeit,daSprachehistorischistundeinReservoiranSinnmitführt,aufdas(zwangsläufig)Be zuggenommenwird. DerRezipienteinesTexteswirdsoerneutineineverantwortlicherePositionbezüglichderSinn zuweisunggesetzt.Esistnichtverwunderlich,dasssichdiehiervorgetrageneInterpretationdes SprachspielssehrgutmitrezeptionsästhetischenAnsätzenvereinbarenlässt.Sobeschäftigtsich etwaWolfgangIsermitdenBedingungenderMöglichkeitfiktionalerTexte.DaszentraleProb lemliegtfürihndarin,wiesichFiktionundRealität–eineOppositiondiefürIser„zudenEle mentarbeständen unseres ‚stummen Wissens’“ (ISER 1991, 18) gehört – aufeinander beziehen lassen.DieseFrageistderhierentwickeltennachderMöglichkeiteinesUrsprungs,einer„origi nären“Konvention,sprachlicherRepräsentationüberhauptmindestenssehrähnlich.Iserfokus siertdieFragestellungnuraufdieliterarischeProduktion.WittgensteinfragtnachdemVerhältnis vonSpracheundWirklichkeit,IsernachdemVerhältnisvonliterarischemTextundWirklichkeit. FürIseristnunderAktdesFingierensintentional.InihmaktualisiertderAutordasReale,das Iseralsdie„VielfaltderDiskurse,denendieWeltzuwendungdesAutorsdurchdenTextgilt“ definiert(20,Fußnote).HiersiehtmanbereitsdieNähezurKonzeptiondesSprachspiels:Das Realeistzwaretwas,dasdemeinzelnenintentionalenAkt(desFingierens)vorausgeht,dochesist ursprünglichvielfältig,heterogen.EsgibtalsoinIsersKonzeptionkeineGrundformderBedeu tung,aufdiesichdiejeweiligeFiktionstützenkönnte 208 .DasBesondereanjedemeinzelnenAkt desFingierensistnun,dassinihm„ZweckezumVorscheinkommen,diederwiederholtenWirk lichkeitnichteignen“.DieserZweckdesintentionalenAktesdesFingierensbestehtnunfürIser darin,dasRealealsZeichenaufeinImaginäresalsder„VorstellbarkeitdesdadurchBezeichne ten“(20)zubeziehen.DasImaginärebestimmtIserdabeinichtetwaals„menschlichesVermö

206 Vgl.WITTGENSTEIN 1945,z.B.Zif.280,293. 207 DieAuffassung,dassdemAutoreinSinnnichtklareristalsdemRezipienten,vertrittWittgensteinanmehreren Stellen;vgl.vorallemZif.210,504. 208 Hierinunterscheidetersichdeutlichz.B.vonSearleundseinerKonzeptiondes parasiticdiscourse .Vgl.zuSearle ausführlichdenfolgendenAbschnittzurVerantwortung. 135 gen.Esistnichtgleichzusetzenmit„Einbildungskraft,ImaginationundPhantasie“(20f,Fußno te).EsistvielmehrdasjenigeGliedderTrias(Reales,FiktivesundImaginäres),daserstimAkt des Fingierens seine Bestimmtheit gewinnt, vorher aber eine konstitutive Vagheit besitzt. Das FingierenleistetsonachIserzweiArtenderGrenzüberschreitung:ZumeinenmachtesdasReale zum Zeichen und damit zu etwas Unbestimmtem. Wenn die „Minimaldefinition des Realen“ nämlichseineBestimmtheitist(22),soverliertesdiesealsZeichenimfiktionalenText.Dafür wird die Instanz des Imaginären umgekehrt vom Unbestimmten zum Bestimmten überführt. Reales,FiktivesundImaginäressinddemnach„nurQualitäteneinesSachverhalts[...],dersich aus ihren Wechselbeziehungen ergibt“ (22). Jedes Glied der Trias besitzt eine unterschiedliche Funktion in Bezug auf die Weltwahrnehmung. Sie unterscheiden sich nicht durch feste, zuschreibbare Eigenschaften, sondern ermöglichen im Bezug aufeinander lediglich die Unter scheidungverschiedenerAggregatzuständederWeltwahrnehmung. Mankönntesagen,derAktdesFingierensverunsicherediePositionvonBestimmtheitundUn bestimmtheitinBezugaufunsereWeltwahrnehmung.Ergewinntsoden„CharakterdesEreig nisses“ (45), in dem diesbezüglich sicher geglaubte Grenzziehungen überschritten werden. Für IserentstehthierauseineSpannung,diedanachdrängt,dasErfahrenewiederinSinnzusammen hängeeinzuordnen.DieserSemantisierungsprozessistnunaberrezipientenabhängig: „Es erscheint daher nur als natürlich, dass die ereignishafte Erfahrung des Imaginären sinnsuchendeodersinnsetzendeAktivitätenimRezipientenauslöst,umdasEreignisauf Vertrautes zurückzubringen, was dem Ereignis insofern widerspricht, als dieses erst im ÜberschreitenvonBezugssystemenzueinemsolchenwird.“(46) DerSinndesTexteswirdsozur„PragmatisierungdesImaginären“(46),eristdemTextweder eingezeichnet,nochgehterihmvoraus. IsersBeschreibungistzwardazuda,dieFiktionalitäteinesTexteszuerklärenundihnvonseinem nichtfiktionalen Gegenstück zu unterscheiden, doch schon sein Beharren auf dem Funktions charakterdieserKategorienhatdiesenUnterschiedalsabsoluteneinstürzenlassen.Grenzensind alsonichtnurinihremBezugaufdieallgemeineBedeutungvonSprachefließend(Wittgenstein), sondernauchimBezugaufRealitätundFiktion,aufErnsthaftigkeitundNichtErnsthaftigkeit. InderSprachefindenstetsÜbersetzungsprozessestatt:„IstdasFiktivedieÜbersetzungdesI maginärenindiekonkreteGestaltzumZweckdesGebrauchs,soistdieSemantisierungdieÜ bersetzungeineserfahrenenEreignissesindieVerstehbarkeitdesBewirkten“(47).DieseÜber setzungensindaber„pragmatisch“zudenken,alsogebundenanvielesituationsspezifischeFak toren.SiesindkeineeinszueinsÜbersetzungen,sondernInterpretationeneinesvielfältigenUm felds.WahrnehmungistauchbeiIserabhängigvondem,wasdemjeweiligenRezipientenver trautist.Wennesdiesemdennochsoscheinenwill,alskönnegeradeseineDeutungeinesTextes (oder einer sprachlichen Äußerung überhaupt) allgemeine Gültigkeitsansprüche erheben, so ist 136 diesdemgeschuldet,wasIserals„ErwartungderSinnkonstanz“(45f)ineinemTextansetztund wasfürdiesenkonstitutivist.TatsächlichistesjaVerständigung,diedieSpracheleistensollund diesesollmöglichstvollständigeintreten.DieallseitigenAbhängigkeiten,Übersetzungsprozesse und Interpretationsleistungen, die Kontextabhängigkeiten und die historischen Gegebenheiten werdendabeiimGebrauch–wohlnotwendig–unterschlagen,dasenthebtdenInterpretenaller dingsnichtvonderAufgabe,diesenElementenausseineranalytischenPerspektiveherausRech nungzutragen. Die Richtigkeit einer Interpretation verliert so tatsächlich ihren absoluten Anspruch. Richtig ist eine Interpretation immer nur relativ zur Akzeptanz innerhalb der Sprechergemeinschaft, die natürlichauchvariierenkann.DieseletzteEinschränkungmussgemachtwerden,umzuverhin dern,dassmeinVorschlagderInterpretationWittgensteinsalseinAufrufzumDiktatderMehr heitgelesenwird.DennselbstverständlichsindErfolgoderMisserfolgmeinerInterpretationim merauchdavonabhängig, wem ichsiepräsentiere,alsosozialinduziert.DiesesProblemfeldkann hiernichtweiterbehandeltwerden.EntscheidendistfürmeineZwecke,dasseineInterpretation nichteinfachalsfalschangesehenwerdenkann,solangeesRezipientengibt,diesieplausibelfin den.WennichaufdiesemRechtzurEntscheidungüber richtig und falsch bestehe,kannichSpra chenichtmehralsSpieldenken,sondernmusssiemiteinerfestenSignifizierungsinstanzverse hen,einemUrsprungfürdennunmehrstabilenSinn.DiesenUrsprungindenAutorzulegenist dabeinureinedenkbareVariante,jedocheine,dieeinegroßeErfolgsgeschichtehintersichhat. DerErtragdieseAuseinandersetzungscheintaufdenerstenBlickalsorechtselbstverständlich unddürftig.MindestenszweiGründehabendieeingehendeBetrachtungeinerproduktionsästhe tischenPositiondennochnötiggemacht:ZumeinendieungebrochenstarkeStellungdesAutors imSekundärdiskurszurinterkulturellenLiteratur.ZumanderendieentsprechendeBezugnahme des Romans von Driss Chraïbi, den ich gleich auf seine Perspektive zur Rolle des Autors im Schaffensprozesshinuntersuchenwerde. Der Wittgensteinsche Gedanke erlaubt in dieser Lesart die Ablösung der Gültigkeit von einer neutralen und eindeutig verortbaren Kontrollinstanz. Es ist keine Ursprungsidee für den Sinn mehrnötig,dennerwirdinderInteraktionderBeteiligtenhergestellt,diezwaralleintentional handeln,aberdieseAbsichtennichtscharfaufeinandereinstellenkönnen.SomitverliertdieIn tentionalitätihreunangefochteneStellungalsHerrscherinüberdieBedeutungeinesTextesoder einer Äußerung. Die Bedeutung wird durch Rückgriff auf ein von historischen Sedimenten durchsetztenSprachmaterialsaktualisiertundsomitgleichzeitigverändert 209 . 209 DiesistdieBewegung,dieDerridaalsallgemeineZitahaftigkeitvonSprachebeschreibt,unddieunsimZusam menhangmitderzudiskutierendenVerantwortlichkeitnochbeschäftigenwird.Vgl.DERRIDA 1971,388f.Andieser 137 DiedritteFragestehtaus:WerübernimmtVerantwortungfüreinegetaneÄußerung,füreinen geschriebenen Text? Eine Frage, die den Kreis schließt, indem sie wieder Komponenten auf nimmt,diesichsowohlaufdiestrafrechtlichealsauchaufdiebereitsbehandelteurheberrechtli cheDimensionsprachlicherErzeugnisseauswirkenkönnen. SchuldunddekonstruierteVerantwortung.DieAngstvordemVerlustderethischenAdresse EshatsichinderletztenDekadeeingebürgert,derKritikamAutorbegriff,diesichvoralleman der Genieästhetik – also einer positiven, überhöhten Konzeption des Autors – festmacht, mit einerProblematisierungderAblehnungderAutorinstanzzubegegnen.DieseProblematikwird am deutlichsten, wenn Texte auftauchen, deren Autor man im Nachhinein mutmaßlich lieber nichtgewesenwäre,z.B.solche,dieantisemitischeAusfällebeinhalten,nochdazuwährenddes zweitenWeltkriegs.MitdiesemBeispielbezieheichmichnatürlichaufdieDebatteumPaulde Man. SeánBurkeleitet TheDeathandReturnoftheAuthor miteinerBesprechungdiesesFallsein,istda bei allerdings so klug, nirgends direkt auszusprechen, dass die Dekonstruktion sich hier durch einenihrerwichtigstenVertreterimHinblickaufihrenUmgangmitderAutorinstanzselbstde savouiert 210 .ErbezeichnetvielmehrandieserStelleAutorschaftals„areaofblindness“beiden vonihmuntersuchtenPoststrukturalisten,dietheoretischzufüllensei.AlsBeweisfürdieKor rektheitdieserForderungversuchteranhandwichtigerBegriffederAutordebatte(intention,au thority,(auto)biography,accountability,œuvre)zuzeigen,dasssichniemandinderAuseinander setzungumPauldeMansKriegsschriftenvondiesenKategoriengelösthat.BeideSeiten,also sowohlGegneralsauchdieApologetendeMans,„disintermanyofthelocioftraditionalauthor centeredcriticism“(BURKE 1992,4).MitdiesemVerdiktglaubtBurkedie areaofblindness enttarnt und ihre theoretische Unausweichlichkeit für den Poststrukturalismus demonstriert zu haben. DabeiverbeugtersichdennochsymbolischvordemTheoretikerdeMan,„arguablythemost giftedliterarytheoristofhisgeneration.“(7) Ichweißnicht,wierepräsentativdieQuellensind,aufdiesichBurkebezieht 211 ,mirscheintaller dingsseineKritiknichtdieTheorieselbstzutreffen,sondernnureinigeAutoren,diedeManals Autoritätrettenwollten.BurkebeschreibtdieEnthüllungdesdeManschenKriegsjournalismus alsAlptraum„forcriticaltheoriststhemselves,allofwhomoweadebtofinfluencetodeMan StelleweistDerridaauchaufdieveränderteRollederIntentionhin:«Danscettetypologie,lacatégoried’intention nedisparaîtrapas,elleaurasaplace,mais,depuiscetteplace,ellenepourrapluscommandertoutelascèneettoutle systèmedel’énonciation.»(389). 210 Vgl.BURKE 1992,17. 211 Essindinsgesamtnurfünf,innerhalbderAufzählungderzentralenBegrifflichkeitenzurAutordebattegarnur eineausgewiesene,vgl.BURKE 1992,175f. 138 andsomethedebtoffriendship“(1).EsistdiesenWissenschaftlern(sindsieTeilvonBurkes Referenzen?)nichtzuverdenkenmittieferBetroffenheitaufeinesolcheVerstricktheiteinesin tellektuellgeschätztenKollegenzureagieren.DochistdieseReaktionnichteherAusdruckeiner falschenIdentifikation,alsZeicheneiner areaofblindness imPoststrukturalismus?Burkebeschreibt nurdietatsächlichenVorschläge,deMansVorgehensweisezuerklären,offenbarbestandensie u.a.inzweifelhaftenVersuchen,eineKontinuitätzwischendenfrühenantisemitischenPamphle tenunddenspäterenTextenherzustellen 212 .DieserGestusistmenschlichverständlich,theore tischabervölligunnötig.SeinHintergrundistdieautomatischeVerbindungvonAutorundText inderherrschendenVorstellung.EsbestehtkeinGrund,dastheoretischeSchaffeneinesMen schenzuverwerfen,nurweilereinböserMenschwar,esseidennmangehtdavonaus,dassje derTextmitseinemAutorverbundenistundirgendwieseineBösartigkeitundseineverwerfli chenGedankenunterschwelligmitführenmuss. DochBurkebeziehtsichbeiseinerBehauptungeiner areaofblindness außerdemaufdenUmstand, dass de Man für seine antisemitischen Ausfälle verantwortlich gemacht wird, obwohl die De konstruktiondochdieAblösungdesAutorsvonseinemTextpredigt: „ThatdeManmustbeheldtoaccountforwhathehadwrittenisacceptedbyallparties ofthiscontroversy.Onthisissue,theoryseemstoabandonorsuspendtheideathatthe authorisamereortraceoflanguage,forifauthorshipwereindeedatextualillu sion,therewouldbenochargetoanswerbeyondthatofremindingtheworldthatinthe realityofthetext‘PauldeMan’signsandsignifiesnothing.”(5) Diese vermeintliche Beschreibung der poststrukturalistischen Autorkritik ist in entscheidender HinsichtnichtsalsihreKarikatur.IchwerdeimLaufediesesAbschnittszeigen,dassvorallem dieDekonstruktiondieKategoriederVerantwortunginsZentrumihrerArgumentationgerückt hat 213 .BurkeunterstelltdemPoststrukturalismus(imübrigenandieserStelle–imGegensatzzum RestseinesBuches–sehrundifferenziert),erseientwederunmoralischoderinkonsequent.Denn wenneinAutoreinEffektodereineSpursei(beideskeineswegsdasselbe),dannmüsseerdas auchsein,wennichihnfürseineTexteimethischenoderjuristischenSinnezurVerantwortung ziehenwill.Burkespieltdenadvocatusdiaboli,indemerdenAnhängernpoststrukturalistischer Theorienahelegt,siemögendochdenAutordiesmalnichtvonseinenRechten,sondernvon seinenPflichtenentbinden.DiesimplizierteinenwesenhaftenZusammenhangzwischendiesen beiden Arten der Zurechnung, der aber keineswegs gegeben ist. Rechte an einem Text sind grundsätzlich verschieden und unabhängig von einer Pflicht zu einem verantwortlichen GebrauchvonSprache.

212 Vgl.NORRIS 1988,189f. 213 Die zwei schlagendsten Beispiele, die ich im folgenden genauer analysieren werde, sind DERRIDA 1977 und BUTLER 1997. 139 DieletztederdreianfangsformuliertenÄngstehatmitderVerbindungvonpersönlicherAbsicht undsprachlichemAusdruckzutun,mitdemPhänomenderIntentionalitätundihremPlatzin nerhalbderSprache–elleaurasaplace hatteDerridaversprochen;oberdiesesVersprechenauch eingelösthat,darüberwirdzuentscheidensein.DieFrage,diesichaufdrängt,lautetaber:Kann VerantwortungfürsprachlicheHandlungnichtauchandershergestelltwerdenalsübereinestets alsdafürunabdingbarbeschworeneIntentionalität?OderistdieserRufnachderIdentifizierbar keit von Äußerungen als persönlich am Ende vielleicht nicht so sehr ein Instrument der Zu schreibung,denneinesderAbwehr?EineAbwehr,diesowohlinderBeteuerung,manhabeet wassoüberhauptnichtgemeint,alsauchinder–bewussten–Kapitulationvordemüberwälti gendenkonnotativenReichtumderSpracheoderimDankesüberschwanggegenüberdenQuellen derInspirationfürdieeigenenWortezutagetritt. JacquesDerridahatineinemgrandiosenSchelmenstückdieAntwortaufJohnSearleswütende ReplytoDerrida formuliert,diedieserseinerseitsbezüglichDerridasAustinKritikin SignatureEvé nementContexte verfassthatte 214 .DasSchelmenstückträgtdenprogrammatischenTitel LimitedInc , wasnacheineraugenzwinkerndenBeteuerungDerridasnichtgleichzusetzenistmitderimText geprägtenAbkürzung Sarl : «Pouréviterlalourdeurdel’expressionscientifique‘trois+nauteurs’,jedécideicietà partirdecetinstantdenommerenfrançaisl’auteurprésuméetcollectifdelaReply‘So ciétéàresponsabilitélimitée’,cequis’abrègecourammentdanscettelangueen Sarl .[...] J’espèrequelesporteursdenomspropresneserontpasblessésparcetartificetechnique ouscientifique.Celuiciévitera,desurcroît,parcourtoisie,d’atteindrelesindividusoules nomspropresaucoursd’uneargumentationqu’ilsjugeraienticioulà,àtort,polémique. Et si d’aventure ils voyaient dans cette transformation une altération ironique ou bles sante,ilspourrontconveniravecmoidesenjeux,désirs,phantasmesinvestisdansunnom propre,uncopyrightouunesignature.»(DERRIDA 1977,8) Diese – ironische, polemische oder vielleicht doch einfach ernsthafte? – Erklärung Derridas kommentiertdieersteFußnoteinSearles ReiteratingtheDifferences.AReplytoDerrida ,diedortim TiteldirekthinterdemNamenDerridasplaziertist.IndieserFußnotebedanktsichSearlebeiH. DreyfusundD.Searle„for[the]discussionofthesematters(denThemen,dieinder Reply be handeltwerden,B.S.).DerridasiehtSearledurchdiesenVerweisaufseineGesprächspartnerso wohl sein Copyright, als auch die Verantwortung für die Ausführungen beeinträchtigen, denn wennSearledieFußnote ernst meint,«voilàquele‚vrai’copyrightdevraitrevenir[...]àunSearle divisé,multplié,conjugué,partagé.»(3)Erschwerendkommthinzu,dassdieFußnotevielleicht nichtganzzuunrechtanDerridasNamensteht,daderDanknichtnuranD.Searle,sondern auch«àmonvieilamiH.Dreyfus»geht,mitdemDerridanacheigenerAussageinsointensivem

214 DiesedreiTexte(DERRIDA 1971u.1977,SEARLE 1977)bildenauchschondasHerzstückderDebatte,einerder klassischenAuseinandersetzungenumdieSprechakttheorie. 140 Austauschsteht,dasser,wennnichtaufdasCopyrightselbst,dochwenigstens«àquelque‚hol ding’danslasociétédece‚copyright’»Anspruchzuhabenglaubt. IstdieseForderungernstgemeintodernicht,istsieberechtigtodernicht,istsieeineAnmaßung Derridasodereine Schuld ,dieSearle,vielleichtsogarohneseinWissen,Derridagegenüberhat? DieFußnoteinder Reply beginntmitdieserverräterischenPhrase„Iamindebtedto“,irgendeine SchulderkenntSearlealsoan,dochwieweitgehtdieseAnerkennungundwarum?Verminderte Verantwortung und eingestandene Schuld stehen in einem chiastischen Verhältnis zum jeweils vertretenenSprachmodell:AufdereinenSeitestehtDerrida,dervoneinerallgemeinenIterabili tät der Sprache ausgeht und somit die absolute Selbstpräsenz des wollenden Subjekts in der sprachlichenÄußerungnegiert,damitnachAnsichtSearlesaberauchdieVerantwortungopfert. AufderanderenSeitegestehtdagegenSearlediediskursiveProduktionseinerGedankendurch einekonventionalisierteDankesformelzuundopfertdadurchindenAugenDerridasseinerseits dieVerantwortung.EsstehensichalsonichteinfachVerantwortungfürseineSprechhandlung unddieZurückweisungderVerantwortunggegenüber,sonderndieseeinfacheZuordnungwird gekreuztdurchdieFrage,wasesüberhauptbedeutenkann,fürWorteVerantwortungzuüber nehmen. DieAbkürzung Sarl verweist noch auf eineweitere Dimension des Problems, nämlich auf die FragenachdemUnterschiedzwischen seriouslitteralspeech und parasiticdiscourse .Derridaspielthier mitdervonSearleundAustinartikuliertenNotwendigkeit,inderSprechakttheoriestrategischdie sekundäre,abgeleitete,unernsteSeitederMöglichkeitdesGebrauchsvonSprachezunächstau ßenvorzulassen 215 .DasKürzel/dieParodie Sarl zeigt,dassSprachesehrwohlbeidesaufeinmal leistenkann:SiekannerstenseinenernsthaftenwissenschaftlichenBeitragzumThema Verantwor tung leisten. Sarl istindieserLesarteinfacheinKürzel.SiekannaberaucheineironischeVerdre hungdesNamens Searle darstellen,dieihrerseitsvielleichtbeleidigendgemeintist,vielleichtaber auchnicht,eventuellsogareineAnmaßungaufSeitenS(e)arl(e)s–dieser/diesesselbstautorisier tenErbenAustins 216 –nahelegt.EineEntscheidungdarüber,was Sarl alleskonnotiert,liegtam EndenichtzuletztimErmessenjedereinzelnenLeserin.

215 Vgl.SEARLE 1977,204:„Austin’sideaissimplythis:ifwewanttoknowwhatistomakeapromiseormakea statementwehadbetternotstartourinvestigationwithpromisesmadebyactorsonstageinthecozrseofaor statementsmadeinanovelbynovelistsaboutcharactersinthenovel,becauseinafairlyobviouswaysuchutter ancesarenotstandardcasesofpromisesandstatements.”Vgl.auchSEARLE 1994,645ff,AUSTIN 1962,43f.CAVELL 1995weistdaraufhin,dassAustinbereitsvor HowtodoThingswithWords diesehierausgelassenenThemenbehandelt hatunddassessichbeiseinerStrategiedeshalbeherumeineAuslassungalseineAusschließunghandelt(52).Inden vonCavellzitiertenPassagenausAUSTIN 1956( APleaforExcuses )wirddeutlich,dasssichAustinderGefahr,dieein IneinssetzenvonSprechaktundgeistigemZustand(Intention)birgt,sehrbewusstist(CAVELL ,55f,AUSTIN 9f).Es lässt sich nach meinem Ermessen hier allerdings nicht ablesen, dass Austin eine generelle Abgeleitetheit des non seriousdiscourse inFragestellt. 216 Vgl.DERRIDA 1977,9.ImfolgendenwirddieseAnmaßungderNachfolgeAustinsinderDiktionDerridaszu einem«chefd’œuvrederhétoriquemétaphysicooedipienne.»(66) 141 WassetztnunaberSearlegegendieallgemeineIterabilitätderSprache,mitwelchenKonzepten stelltersicher,dass„onthecontrary,ourcommunicationsareoftenperfectlyadequate;andwe can,atleastinprinciple,sayexactlywhatwemean“(SEARLE 1994,641)?EsistdasKonzeptdes Hintergrunds: „Der Hintergrund besteht aus nichtrepräsentationalen geistigen Fähigkeiten, die alles Repräsentierenermöglichen.NurvoreinemHintergrundvonFähigkeiten,dieselbstkei neintentionalenZuständesind,habenintentionaleZuständeihreErfüllungsbedingungen undsindmithinerstdadurchdieZustände,diesiesind.“(SEARLE 1983,182) Searleunterscheidetzudemzwischeneinem tiefen undeinem lokalenHintergrund .Jenerbezeichnet dieFähigkeiten, „dieallennormalenMenschenaufgrundihrerbiologischenBeschaffenheitzueigensind: zum Beispiel die Fähigkeit zu gehen, zu essen, zu greifen, wahrzunehmen, wiederzuer kennen,unddievorintentionaleEinstellung,mitderwirderFestigkeitvonDingenund der unabhängigen Existenz von anderen Gegenständen und Menschen Rechnung tra gen.“(183) Vielleichtwirdhieramdeutlichsten,wasSearlesPositionvonderjenigenDerridastrennt,nämlich derGlaubeanKonstitutionsbedingungen,dieallenMenschengemeinsamsind.Essindontologi scheMerkmale,ohnedieeinMenschnichtvorstellbarist.DerVorwurfSearlesandieAdresse Derridas,dieserunterscheidenichtzwischenontologischenundepistemologischenFragestellun gen 217 ,unddieEntgegnungDerridas,seineTheorieentziehesichdemZugriffdurchdieOntolo gie 218 ,sindcharakteristischfürdiegesamteAuseinandersetzung. Der lokaleHintergrund scheintmirwenigerproblematischzusein,wennesauchstrittigseinkönn te,oberimSinneSearlesüberhauptalsHintergrund,alsoalseinevorintentionaleKategorie,gel tendarf.ErbestehtausdemWissen,überdasman–kulturenspezifisch–dieeinenumgebende Weltbetreffendverfügt.Searlesprichtdaherauchvon lokalenKulturtechniken .Jedenfallsgehtes hierumkeineontologischeGrößemehr,sondernumklardurcheinenkulturabhängigenLern prozess,durchsozialeInteraktionerworbeneVorstellungendavon,was dieWelt ist.Derlokale HintergrundumfasstdemzufolgevorintentionaleEinstellungen„gegenübersolchenSachenwie Autos,Kühlschränken,GeldundCocktailParties“. DieSchwierigkeitmitdieserEinteilungSearlesliegtganzeindeutigdarin,dassnieganzklarwird, wasermiteinervorintentionalenEinstellungmeintundwosieendetundzueinerintentionalen wird.VielleichthandeltessichumdenUnterschiedzwischeneinemWissendarum,wasetwas (kulturell)ist,wasmanalsodamitanfangenkannundwasnicht,undeinerBewertung,einerper sönlichen Positionierung gegenüber diesen Dingen. Ich weiß durch den Hintergrund, dass es Geld,Autosetc.gibtundichweiß,wenigstensimPrinzip,wozumansiebenutzt.Meintatsächli

217 Vgl.SEARLE 1994,648. 218 Vgl.DERRIDA 1977,56. 142 cherUmgangmitihnen,ihreEingliederunginmeineLebensführungisthingegennichtvorgege ben.Ichkannz.B.CocktailPartiesgrundsätzlichdazubenutzen,umeinenSkandalzuveranstal ten,undsiesomitzueinerPlattformfüröffentlichepolitischeoderkünstlerischeStatementsma chen.IchspieleindiesemFallbewussteinanderesSpielalsdieKulturesmirvorgibt,dochdazu mussichdieseKulturersteinmalkennen.Daskommtdemsehrnahe,wasJudithButleralsRe signifizierungoderalsdiskursivePerformativitätbezeichnet 219 . Natürlich kann ich mich auch auf CocktailParties danebenbenehmen, wenn ich ihren Ablauf nichtkenne,weilichz.B.nieaneinerteilgenommenhabe.IndiesemFallhätteichnachSearle wohlehereine(kulturell)falschevorintentionaleEinstellungihrgegenüber,ichwürdesiealset wasbehandeln,dassiekulturellnichtist,fürdasichsieaberaufgrundmeineseigenenlokalen Hintergrundshalte. WasbedeutetaberindiesenFällen,derHintergrundseivorintentional?Bedeutetes,mankönne sichkeinenMenschenvorstellen,dernichtinirgendeinerWeisedurchdiesenHintergrundbe troffenwäre?Bedeutetes,jederMenschwerdeerstdurchseinesoziale–undd.h.seinesprachli che–Initiationgeschaffen,daeinkultureller,sozialerOrt,eineIdentitätimmerdurchSprache vermitteltseinmussundvonihrnichtzutrennenist?Fallsdieskonzediertwird,gibtesaberei gentlichkeinenUnterschiedmehrzwischendieserPositionunddekonstruktivistischenPositio nenwiederjenigenButlers 220 . IchseheaußerdemkeineentscheidendeDifferenzmehrzwischenderVorstellung,einMensch könnenichtSprachegebrauchen,ohnegleichzeitigaufeinenerlerntenHintergrundzurekurrie ren,sichvonihmabzusetzen,ihnzureproduziereno.ä.undderVorstellung,derMensch,könne Sprache nicht verwenden, ohne zugleich eine „kondensierte Geschichtlichkeit“ (BUTLER 1997, 12)mitaufzurufen. DieDifferenzistfreilichschonvorhergesichertworden,indemSearleden tiefenHintergrund als anthropologischeKonstanteder„normalenMenschen“postuliertundihnsomitdervermeintli chen Willkür eines kulturellen und konstruktivistischen Zugriffs entzogen hat. Der tiefe Hinter grund repräsentiert ein ontologisches Konzept, das versucht über Wahrscheinlichkeiten und Normalverteilungen einen Standardmenschen zu definieren, von dem es Abweichungen geben kann,dieaberalssolchevorjenemerkennbarbleiben.DieserStandardistallerdingsnichtpositiv angebbar,daerlautSearlejanichtrepräsentationalist.Dasbedeutetnatürlichauch,dassVerste

219 Vgl.BUTLER 1997,27. 220 Vgl.zurSubjektkonstitutiondurchdieSpracheBUTLER 1990,211sowieBUTLER 1997,14:„Spracheerhältden Körpernicht,indemsieihnimwörtlichenSinninsDaseinbringtoderernährt.Vielmehrwirdeinebestimmtegesell schaftlicheExistenz desKörperserst dadurch möglich, dass er sprachlich angerufen wird. Um das zu verstehen, mussmansicheineunmöglicheSzenevorstellen,nämlicheinenKörper,demnochkeinegesellschaftlicheDefinition verliehenwurde,derfürunsalsostrenggenommenzunächstunzugänglichist,aberimEreignisseinerAnrede,eines benennendenRufs,einerAnrufung,dieihnnichtbloß‚entdeckt’,sondernallererstkonstituiert,zugänglichwird.“ 143 henfürSearlemehristalseinesemantischeAufschlüsselung.Daheristesauchmöglich,dassein WortstetsdieselbewörtlicheBedeutunghat,obwohlesimmeringanzandererWeiseverstanden wirdunddieseunterschiedlichenVerständnisseeinandernichtsubstituierbarsind.Searleveran schaulichtdiesamBeispieldesWortes öffnen ,dasjenachObjekteineandereHandlungbezeich net(eineTür,dieAugen,einBuch,eineWand,eineWunde öffnen ): „Esscheintmirklarzusein,dassdasWort‚öffnen’beiallenfünfdieserVorkommnisse dieselbewörtlicheBedeutunghat.Werdiesbestritte,sähesichbaldzuderAuffassungge zwungen,dasWort‚öffnen’habeunbestimmtodervielleichtunendlichvieleBedeutun gen,denndieReihedieserBeispielelässtsichjafortführen;eineunbestimmteMehrdeu tigkeitalsResultatwirktjedochabsurd.“(SEARLE 1983,185) DerletzteSatzistklarerkennbardieAbwehreinerMöglichkeit,jedochkeinArgumentgegensie, daSearlegeradeselbsteineunbestimmteMehrdeutigkeitvorgeschlagenhat,„denndieReihedie serBeispielelässtsichjafortführen“.HiertauchterneutdiezweiteAngstvorAuflösungeiner gültigenInterpretationodereinerverbindlichenBedeutungauf,dieobenschonbesprochenwor denist.SearlescheintMehrdeutigkeitnuralsAnarchiedenkenzukönnen,nichtalseineBedeu tung, die immer wieder rekontextualisiert und somit stets wiederholt wird, aber eben auch die konstitutiveMöglichkeiteinesBruchsmitdemKontextmitsichführt.Butlerbeschreibtdiese DimensionsprachlichenHandelnsfolgendermaßen: „DergegenwärtigeDiskursbrichtzwarmitdenvorhergehendenDiskursen,jedochnicht imabsolutenSinne.ImGegenteil,dergegenwärtigeKontextundseinscheinbarer‚Bruch’ mitderVergangenheitsindselbstnurunterdemVorzeichendieserVergangenheitlesbar. Der gegenwärtige Kontext arbeitet zwar einen neuenKontext für dieses Sprechen aus, deraberalszukünftigernochnichtbeschreibbarunddamitnochgarkeinKontextimei gentlichenSinneist.“(BUTLER 1997,27) IndieserPerspektiveistesgarnichtnotwendig,dasseinWortimmerdieselbewörtlicheBedeu tung behält, sondern „die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (WITTGENSTEIN 1945,Zif.43)undjeneändertsichmitdiesem.Butlerweistdaraufhin,dassjeder einzelneGebrauch,alsojedes token ,ummitSearlezusprechen,dastype verändert,einenneuen möglichenKontextfüresschafft.OftwirddieserUnterschiednurminimalsein,manchmalaber auchimmens 221 .UnddiesenResignifizierungenisteinWortnichtnurbeiseinerProduktion,son dernauchbeiderRezeptionausgesetzt.SearlewürdesolcheBedeutungsveränderungenwohlmit seinemlokalenHintergrundzuerklärenversuchen,miteinerÄnderunginderkulturellenWahr nehmungeinesbestimmtenBegriffs.WürdeeraufdieVorschaltungderbiologischenTiefendi

221 Z.B.beibewusstenpolitischenResignifizierungsstrategien,wieButlersiebeschreibt;vgl.allgemeinBUTLER 1997, 64f. 144 mension 222 verzichten, wäre – wie ich schon erwähnt habe – kein entscheidender Unterschied mehrzuPositionenwiederButlerserkennbar. Es wäre dann auch nicht mehr nötig, zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung zu unterscheiden–eineUnterscheidung,diesichimübrigenfürdieBeispielederVerwendungdes Wortes öffnen schonaufgedrängthätte,dieSearleaberhiereigenartigerweiseübergangenhat,hier war öffnen angeblichjaimmerinderwörtlichenBedeutungverwendetworden.Searlekonzediert, dasssichkein„Algorithmus“angebenlässt,„mitdemsichherausfindenließe,wanneineÄuße rungmetaphorischgemeintist“(SEARLE 1983,189)undschließtdaraus, „dasswirgeistigeFähigkeitenhaben,mitdenenwirgewisseArtenvonMetapherninter pretieren können, ohne dabei irgendwelche anderen ‚Regeln’ oder ‚Prinzipien’ zur An wendungzubringenalsunsereschiereFähigkeit,gewisseAssoziationenzumachen.Ich weißnicht,wiemandieseFähigkeitenbesserbeschreibenkönntealsmitderFeststellung, dasssienichtrepräsentationalegeistigeFähigkeitensind.“(190) Die bessere Beschreibung, das können wir nun bereits angeben, liegt in der Konzession einer allgemeinenIterabilität,dieDichotomienwie wörtliche oder metaphorische Bedeutung überflüssiger scheinenlässt.Die„Fähigkeit,gewisseAssoziationenzumachen“isteinFunktionsprinzipvon Spracheimallgemeinenoderandersgesagt: «Un énoncé performatif pourraitil réussir si sa formulation ne répétait pas un énoncé ‚codé’ouitérable,autrementditsilaformulequejeprononcepourouvriruneséance, lancerunbateauouunmariagen’étaitpasidentifiablecommeconformeàunmodèleité rable,sidoncellen’étaitpasidentifiableenquelquesortecomme‘citation’.»(DERRIDA 1971,388f) DiesgiltfürjedewörtlicheundjedemetaphorischeBedeutung,fürjedenernstenundjedenironi schenGebrauch,diedaheraberlängstnochnichtidentischundeinförmigsind.Siesindihrem jeweiligen Kontext aktuell angepasst, führen ihre kondensierte Geschichtlichkeit, ihre früheren Kontexte als strukturelles Unbewusstes ( inconscience structurelle ) mit und sind vor genau diesem Hintergrundidentifizierbar,dersichabermitjederÄußerungundjederRezeptionschonwieder ändert.Esgibteine spécificitérelative einesWortesinjederGebrauchssituation,dochsieistrelativ reininBezugaufandereFormenderIterabilität,nichtinBezugaufeinewörtlichebzw.metapho rischeVerwendungdesWortes 223 . EineandereFormderIterabilitätwäredieUnterscheidungvonfiktionalerundwörtlicherBedeu tung.AustinhattesichfürseineTheoriederSprechakteentschlossen,vonStandardfällenauszu gehen,dieaufdieeineoderandereWeisevonUnglück( infelicities )betroffenseinkönnen:eine Konvention, die zur erfolgreichen Durchführung nötig ist, kann z.B. nicht richtig ausgeführt werden,mankannzuihrerDurchführungnichtberechtigtsein,siekanngarnichtexistierenoder

222 Zum(tiefen)HintergrundalsbiologischerKategorievgl.SEARLE 1983,183,sowieSEARLE 1994,640. 223 Vgl.DERRIDA 1971,389. 145 mankannsienurunaufrichtigausführenusw. 224 EinebesondereFormdabeiistderschoner wähnte Parasitismus, wie er insbesondere für die fiktionale Rede charakteristisch ist. Für John SearleistfiktionaleRedeunernst( nonserious )–imGegensatzzumetaphorischemSprechen,das nichtwörtlich( nonliteral )ist 225 .InderfiktionalenRedegibtderAutornurvor( pretends ),bestimmte Äußerungenzumachen.DieshatzurKonsequenz,dasseskeinTextmerkmalist,andemsichdie Fiktionalitäterkennenlässt.EssinddieillokutionärenIntentionendesSprechers,dieeineÄuße rungunernstwerdenlassen. DurchdiesenAktdesVorgebenswerdennunbestimmteRegeln,dieeineÄußerungerstzueiner solchenwerdenlassen,benutzt,parasitärausgehöhlt.DieseRegelnnenntSearlevertikaleRegeln. Sie stellen die Verbindung zwischen der Äußerung und der Welt her und bestehen in außer sprachlichenGeisteszuständenundZusicherungen,wiez.B.derZusicherung,diegemachteÄu ßerungseiwahrundmankönneaufVerlangenBeweisedafürvorlegen,oderdieZusicherungder Aufrichtigkeit,alsodeseigenenGlaubensandievorgebrachteBehauptung 226 . „Nowwhatmakesfictionpossible,Isuggest,isasetofextralinguistic,nonsemanticcon ventionsthatbreaktheconnectionbetweenwordsandtheworld[...].Thinkofthecon ventionsoffictionaldiscourseasasetofhorizontalconventionsthatbreaktheconnec tionsestablishedbytheverticalrules.[...]Suchhorizontalconventionsarenotmeaning rules;theyarenotpartofthespeaker’ssemanticcompetence.Accordingly,theydonot alterorchangethemeaningsofanyofthewordsorotherelementsoflanguage.What theydoratherisenablethespeakertousewordswiththeirliteralmeaningswithoutun dertaking the commitments that are normally required by those meanings.” (SEARLE 1974,326) Dieses Durchbrechen von Regeln und Fernhalten von Konsequenzen bei gleichzeitiger Auf rechterhaltungderwörtlichenBedeutungistdieGrundformdesparasitärenSprechens 227 .Parasi täresSprechenistnurmöglich,insofernesdieSprachenichtzerstört,d.h.insofernderenwörtli cheBedeutungnichtangetastetwird,ganzwieeinbiologischerParasitseinenWirtsorganismus nichtamÜberlebenhinderndarf,umerfolgreichzusein,sondernimGegenteilvommöglichst reibungslosenWeiterfunktionierendesletzterenexistentiellabhängigist.DieFormulierungSear les zeigt deutlich, dass es vor allem um ein Außerkraftsetzen bestimmter Zugeständnisse oder Verpflichtungen ( commitments ) geht, die, wie erwähnt, mit der Wahrheit oder der Aufrichtigkeit einerÄußerunginZusammenhangstehen.

224 FüreineAufstellungdermöglichenUnglücksfällevgl.AUSTIN 1962,40. 225 Vgl.SEARLE 1974,321. 226 Vgl.SEARLE 1974,322. 227 Vgl.dazuAUSTIN 1962,SEARLE 1974,326:„Inthissense,touseWittgenstein’sjargon,tellingstoriesisaseparate languagegame[...]andthelanguagegameisnotonallfourswithillocutionarylanguagegames,butisparasiticon them.” 146 Esberührtseltsamundmachtstutzig,dassSearledieimpliziteWertungderBezeichnung Parasit immerstriktleugnet 228 .DieWortwahlunddiedamitverbundenenKonzeptelassendagegendie rhetorischeFrageDerridassehrberechtigterscheinen:«Aquicacheratonquecetteaxiologie insistantesystématique,dogmatiquedétermineunobjetdontl’analysen’estpasessentiellement ‚logique’,objectiveouneutre?»(DERRIDA 1977,64)Dasgiltumsomehr,alsdurchdieAbsiche rungderwörtlichenBedeutungimmerauchverhindertwerdensoll,dassderSprecherdieKon trolleüberseineÄußerungverliert.Esmussin SearlesTheorieKonventionengeben,diezum einennichtsprachlichsind,dennsonstmüsstemansieinGrammatik,Semantik,Syntaxetc.ver ortenkönnen.ZumanderendürfendieseKonventionenaberdadurchnichtihreallgemeineGül tigkeitundVerwendbarkeiteinbüßen,dennsonstsiehterdieVerantwortlichkeitfürdieeigenen Äußerungensuspendiert:ErkannVerantwortungnurindirekterAbhängigkeitvonIntentionen denken.SeineBeweisführungläuftzumindestimmerdaraufhinaus,dassSprecherderWahrheit undAufrichtigkeitverpflichtetsind,dasssiesagen,wassiemeinen 229 . DiesunterstellendisteseinLeichtes,Abweichungenzubeschreiben,esistaberkeinLeichtes,sie in Äußerungen auch zu erkennen. Hier liegt der hauptsächliche Kritikpunkt poststrukturalisti scherSprachtheoretiker,aufdieSearleinsehrzweifelhafterWeisereagiert,indemerOntologie undEpistemologiegegeneinanderstelltundsichzuderBehauptungversteigt:„Roughlyspeaking, astheoristsweareinterestedintheontologyoflanguage,andtheepistemologicalquestion–how doyouknow?–isirrelevant.“(SEARLE 1994,648)DieseUnterscheidungläuftaufeinevollstän digproduktionsästhetischePerspektiveaufTextehinausundwirdeinmalmehralsGegenentwurf zueinerprinzipiellenUnbestimmtheitoderUnentscheidbarkeitvorgebracht.DieInterpretation einesTextesmussimmernachBeweisenfürihrePlausibilitätsuchen(epistemologischesProb lem).GibteskeineBeweise,istdieseinontologischesProblemundführtzueinernichtzuüber windendenIgnoranzaufSeitendesInterpreten. DasausschließlicheInteresseanontologischenFragenunddasvölligeDesinteresseanepistemo logischenFragen,dasSearlehierbehauptet,führtzuderAnnahme,ineinemTextseietwasent wedergeschriebenodernicht,ineinerÄußerungseietwasentwederintendiertodernicht.Eshat dienächsteKonsequenz,dassdieErkenntnis,dieSprachegebefürdieseersteAnnahmeeinfach keineAnhaltspunkteher,ganzaufdasKontodesfalschenUmgangsmitihrgeschlagenwerden muss:EntwederhatderAutordieSprachefalschbenutzt,d.h.einenichtauffüllbareInformati onslücke im Text erzeugt, oder der Rezipient hat einfach noch nicht ausreichend Information

228 Vgl.z.B.SEARLE 1977,205. 229 „SupposeIsay,‚It’shotinhere,’meaning:it’shotinhere.Nowwhatfollowsaboutmyspeakermeaningfromthe factthatthesentencetype,ofwhichmyutterancewasatokenisinhis[Derrida’s,B.S.]senseiterableandcitable? Nothingwhateverfollows.”SEARLE 1994,659.SearlesArgumentleugnetdietheoretischenundpraktischenFolgen einerallgemeinenIterabilität,weilervoraussetzt,dass sentencemeaning und speakermeaning (Intention)inseinemBei spielkongruieren.Dochgenaudashaternichtgezeigt. 147 gesammelt, um den Sinn eines Textes oder einer Äußerung korrekt zu erfassen. Die Sprache bleibtaußenvor,ausihremMaterialkannkeingarantiertrichtigerSinnextrahiertwerden.Der Sinn liegt in der Intention, die im SprachgebrauchGestalt annimmt. „The sentences are so to speakfungibleintentions.[...]Totheextentthattheauthorsayswhathemeans(!,B.S.)thetextis theexpressionofhisintentions.”(SEARLE 1977,202)WiekannmandieseAussagenanderslesen, dennalsAusdruckderidealenSelbstpräsenzdesSprechersinderRede,vonderSearleimmer behauptet,sieseinichtnotwendig 230 ,unddieDerridaalsvermeintlichuniversalesMerkmalvon Sprachenichtmüdewirdzukritisieren 231 ? FürSearleistIntentionalitäteineEigenschaftgeistigerZustände 232 .Wenndemnach„thesenten ces are precisely the realizations of the intentions“ (202), dann stimmen Sprache und geistiger Zustand, Sprache und illokutionäre Intention überein 233 . Diese Übereinstimmung, die Searle – unverständlicherweise–leugnet,istgenaudas,wasDerridaalsidealeSelbstpräsenzfasst,nämlich «laconscience,laprésenceconscientedel’intentiondusujetparlantàlatotalitédesonactelocu toire.»(DERRIDA 1971,383 ) Dasbedeutetnunwiederumnicht,dassalleIntentionenbewusst seinmüssen 234 ,sonderndassBeschreibungendesVerhältnissesvonIntentionalitätundSprache imStilSearlesgenaudieseBewusstheitvorgeben. Was macht diesen Punkt so zentral für die Verantwortlichkeit des Subjekts gegenüber seinen schriftlichenundmündlichenÄußerungen?EsgibteineübermächtigeTradition,dieIntentionan Verantwortungkoppelt.DieZuordnungerfolgtebenüberPräsenz.DeshalbistdieRedeima bendländischenDenkenauchderSchriftüberlegen.JenekanndurchdiePräsenzihresAutors– ihres Vaters ,wiePlatonesausdrückt–andiesengebundenwerden,dersievorFehlinterpretation schützt,sichaberdadurchauchandiegemachteAussagebindet.Dieseist,umimBildzublei ben,verwaist: „Istsieabereinmalgeschrieben,soschweiftauchüberalldieRedegleichermaßenunter denenumher,diesieverstehen,undunterdenen,fürdiesiesichnichtgehört,undver stehtnicht,zuwemsieredensollundzuwemnicht.Undwirdsiebeleidigtoderunver dienterweisebeschimpft,sobedarfsieimmerihresVatersHilfe;dennselbstistsieweder imstandesichzuschützennochsichzuhelfen.“(PLATON ca.460 V .CHR .,275e)

230 Vgl.SEARLE 1994,657. 231 «Enrevanche:soutenircontrecettepretendue‚illusion’,que‚thesentencesarepreciselytherealizationsofthe intentions’,voilàunlangagequimeparaîtreleverdecebonvieuxpsychologismereprésentationniste[…]etexpres siviste[…]quigardeintacteslesdistinctionsentre‘intention’et‘réalisation’,‘intention’et‘expression’»DERRIDA 1977,38). 232 Vgl.SEARLE 1983,15ff:„IntentionalitätistdieEigenschaftvielergeistigerZuständeundEreignisse,durchdiesie aufGegenständeoderSachverhalteinderWeltgerichtetsindodervonihnenhandeln.”(15) 233 Vgl.auchSEARLE 1983,27:„ DerSprechaktistgenaudannerfüllt,wennderentsprechendepsychischeZustanderfülltist, und dieErfüllungsbedingungenvonSprechaktundausgedrücktempsychischenZustandsindidentisch. [...]JederintentionaleZustand bestehtauseinemRepräsentationsgehaltineinemgewissenpsychischenModus.IntentionaleZuständerepräsentie renGegenständeundSachverhalteindemselbenSinn,indemSprechakteGegenständeundSachverhalterepräsen tieren“. 234 DieseBehauptungwirdfürdieDekonstruktionaufgestelltinSEARLE 1977,202.Vgl.zumUnterschiedvonBe wusstseinundIntentionalitätauchSEARLE 1983,16f. 148 NurdieIntentionvermagalsodieangemesseneInterpretationeinerÄußerungzugewährleisten, verschwindetsie,wieimFallederSchriftzeitweiligmöglich,istdieseungerechtenBeleidigungen vonSeitenderUnverständigenausgesetzt.ErstdieErklärungdesAutorsdurchPräsenzverbürgt dievollkommenangemesseneDeutung,nursiegewährleistetdieIdentifikationdesAutorsmit seinem sprachlichen Produkt. In genau dieser Hinsicht ist der hier kursorisch nachgezeichnete DiskursüberernsthaftesSprechen,überAufrichtigkeitundüberdieUnglücksfällederSprache, die Missverständnisse und parasitären Fiktionalisierungen auf den Begriff der Verantwortung bezogen.DieFrageist,obesFormenderVerantwortungjenseitsdieserUnterscheidungengeben kann: „Wenn hatespeech Zitatcharakterhat,bedeutetdas,dassderSprecherfürdenGebrauch diesesSprechensnichtverantwortlichist?Kannmansagen,dasservonjederVerantwor tungfreiist,daeinAndererdiesesSprechenerfundenhat,daserselbstnurgebraucht? Ichwürdedagegenhalten,dassderZitatcharakterdesDiskursesunserVerantwortungs gefühleherstärkenundvertiefenkann.“(BUTLER 1997,45f) WenndieSprachenachRegelnfunktioniert,dieichnichtmitgestaltethabe,sonderndieichein fach nur zu gebrauchen lerne, ist die Vermutung, man könne für seine Äußerungen nicht zur Verantwortung gezogenwerden 235 , zunächst nicht völligvon der Hand zuweisen. Ebenso gilt aber,woraufDerridamitseiner Sociétéàresponsabilitélimitée hingewiesenhat,nämlichdasseinRe kursaufdieoffensichtlicheWahrheit,diemandannauchnochmiteinempersönlichenCopyright belegenwill,eineaußerordentlichmerkwürdigeSacheist 236 .DieGeste,dieDerridahiersoskep tischbetrachtet,istimKerntotalitaristisch,siemarkierteinepersönlicheAussage,weistdieser aberimselbenAugenblickdenStatuseinerallgemeinenWahrheitzu.Dadurchwirddiebehaup teteVerantwortungunabweisbaruntergraben.FüreineoffenbareWahrheitbrauchteskeineVer antwortung,dennsieistallenWohlmeinendenfreizugänglich.IndiesemSinneistdieDiagnose Searles,Derridahabe„adistressingpenchantforsayingthingsthatareobviouslyfalse“(SEARLE 1977,203),tatsächlichbeunruhigend,genauwiederangeblichwertfreieAusdruckdes Parasiten , vondemnureinÜbelmeinenderdasGegenteilannehmenkann. AufdieallgemeineIterabilitätderSprachesolltealsonichtmiteinemRückzugaufdienunver meintlichmöglicheAbweisungvonabsoluterVerantwortungreagiertwerden,sondernmiteiner ÜbernahmevonVerantwortungfürdieSprache,diemanselbstnichtverschuldethat.Dazuge hörtsicheraucheinewacheTeilnahmeamSprachspiel,einHinterfragenderRegeln,diezube achten erwartet wird. Der Verweis auf eine objektive Wahrheit ist in letzter Konsequenz eine

235 Vgl.auchDERRIDA 1971,376. 236 Vgl.DERRIDA 1977,2. 149 AblehnungvonVerantwortung,einRekursaufeinehöhereInstanz,dienichtverteidigtwerden muss,sondernaufdiemansichstetsbequemzurückziehenkann. GenaudeshalbhatJudithButlerdavorgewarnt,sprachlicheÜbergriffegesetzlichzureglementie ren.InihrenGedankenzurZensurbeschreibtsiediesealseinenproduktivenMechanismus,der dasSprechennichtnachträglichbeschränkt,sondernesimGegenteilerstinseinerakzeptablen Formerzeugt.DurchZensurwirdgutes,wohlgefälligesSprechengefördert,indemesalsnicht sanktionierterTeilderSpracheindenDebattenstetsvorhandenist,selbstwennernicht explizit gefördert wird. Butler vertritt hier ein dezentrales Machtmodell im Anschluss an Foucault 237 . DurchdieUbiquitätderMachtistesnichtsinnvoll,sieaufihrejuridischdiskursive,aufihrere pressiveSeitealso,zubeschränken: «Lesrelationsdepouvoirsavoirnesontpasdeformesdonnéesderépartition,cesont des‘matricesdetransformation’.[...]aucun‘schémadetransformation’nepourraitfonc tionner si, par une série d’enchaînements successifs, il ne s’inscrivait en fin de compte dansunestratégied’ensemble.Etinversement,aucunestratégienepourraitassurerdes effetsglobauxsielleneprenaitpasappuisurdesrelationsprécisesetténuesquiluiser ventnonpasd’applicationetdeconséquence,maisdesupportetdepointd’ancrage.» FOUCAULT 1976,131f) DasFoucaultscheMachtmodellfunktioniertinnerhalbeinersolchenLogikderdoppeltenKondi tionierung( doubleconditionnement ).EinerseitsistMachttatsächlichrepressiv,Vehikelstrategischer Durchsetzung persönlicher oder umfassenderer Pläne ( pouvoir juridicodiscursif ); andererseits ist MachtaberauchindieKörperundindasVerhaltenallerimplementiert( biopouvoir ),siehateine selbstverständlicheSeite,dieGutundBöseklarvoneinanderzutrennenvermag.BeiButlerkehrt dieseanalytischeUnterscheidungwiederals explizitevs.impliziteZensur (BUTLER 1997,184).Macht kommtvonüberallher,vonaußenalsRepression,GesetzoderRegelwerk,voninnenalsNorma lität,Konvention,Tradition,kurzalsdas obviouslytrue .HoffnungschöpfenTheoretikerinnenwie Butler aus der Iterabilität von Sprache. Durch sie wird es möglich innerhalb einer von Macht imprägniertenWirklichkeit,HandlungsmachtzuentfaltenundsomitpersönlichVerantwortung zuübernehmen: „DieVerantwortlichkeitdesSprechersbestehtnichtdarin,dieSpracheexnihiloneuzu erfinden,sonderndarin,mitderErbschaftihresGebrauchs,diedasjeweiligeSprechen einschränktundermöglicht,umzugehen.[...]AutonomieimSprechenist,soweitsieexis tiert,durcheineradikaleundursprünglicheAbhängigkeitvonderSprachebedingt,deren GeschichtlichkeitdieGeschichtedessprechendenSubjektsinalleRichtungenübersteigt.“ (46f)

237 Vgl.FOUCAULT 1976,134f:«Iln’yapasd’uncôtélediscoursdupouvoiretenface,unautrequis’opposeàlui. Lesdiscourssontdesélémentsoudesblocstactiquesdanslechampdesrapportsdeforce;ilpeutyenavoirde différentsetmêmedecontradictoiresàl’intérieurd’unemêmestratégie;ilspeuventaucontrairecirculersanschan gerdeformeentredesstratégiesopposées.» 150 Die persönliche Verantwortung ist dabei nie in dem Sinn persönlich, dass sie einen Ursprung markierte; man erfindet seine Sprache nicht ex nihilo, sondern wird in ein längst bestehendes Sprachspieleingebunden,andessenRegelwerkmanaberebennichtfestgebundenist,sondern aufdasmanEinflussnehmenkann,wennauchbegrenzt.ImSinneFoucaultsundButlersund sicherlichauchDerridaswäreesmoralischePflichtdesSubjekts,genaudaszutun:aufdasRe gelwerkEinflussnehmen.Dennnichtnuristesnichtdaseigene(fallsessoetwasgibt)undsollte schondeshalbeinerPrüfungunterzogenwerden,sonderndasRegelwerkistzudemnichtkodifi ziert,Wittgensteinhattedasbeschrieben,eskannbeobachtetwerden,aberesgibtkeineSchieds richterinstanz,dieüberseineEinhaltungwachenwürde.Esbleibtdeshalbnotwendigprekär,stets vonAuszehrung( etiolation )bedroht,wieAustinesgenannthat 238 .DieseMöglichkeitderAuszeh rungistgleichzeitigdieMöglichkeitderHandlung.DieBewertungnimmt,nebendemSprach gebrauch,derHandelndevor,dasoffenkundigWahrebleibteineidealistischeIllusion. VielleichthatSeánBurkedieserPunktdreiJahrenachseinemAngriffaufdenPoststrukturalis mus dazu veranlasst, eine ähnlich gelagerte Ethik der Unterschrift zu postulieren 239 . In einem kurzenAufsatzvertritterdieThese,dassderjenige,dereineÄußerungtut( adiscourse’sauthor ), „establisheswhatwemightcallasignatorycontractbaseduponthesignatureasperformative.“ (BURKE 1995a,285)DieserKontraktgiltabernichtnur,somussmanBurkewohlverstehen,für dieAutorintention,wenngleicherdieMissinterpretationalsfixeGrößeseinerThesebeibehält: „Anactofsignaturethusestablishesthechainconnectingtheauthortohiscontempora neousestateortoherposthumousestate.Thesignaturebindsthetextrespectivelytothe stillliving author, to the legacy and legatees ofthe dead author, towhatever traditions mighthavebeenestablished innomineauctoris andtotheposthumousreconstructionsof authorialintention,biographyandanysystemofoeuvreeffectswhichmightinfluencethe ethicalrereadingofthetextinquestion.“(289) FreilichversuchtBurkehierimmernochdenAutoralsmaßgeblicheInstanzderSinngenerierung imTextzuretten,alleRekonstruktion,fürdiederVertraggeltensoll,mussimNamendesAu tors geschehen. Doch damit gerät Burke in eine Sackgasse: er erkennt die Autorintention als (re )construction , die zudem in jeder sprachlichen Äußerung „open to all perils of misreception“ (290)ist,docherziehtdarausnichtetwadieKonsequenz,dassIntentionnotwendigeineKon struktionundsomitalszentraleGrößenotorischunbrauchbarfürdieethischeDiskussionbleibt. EntsprechendvageistdennauchdieEntscheidungsinstanzBurkes,fürden„everythingisdeter minedbytheethoswithwhichonesignsandtheethosoftheaudiencewhichcountersignsa discourse.“(290)InZusammenhangmitdemFesthaltenanderAutorintentionalsmaßgeblich fürdenSinnwirktdieseAussagetrivial,dennsieverschiebtdieVerantwortungletztendlichwie

238 Vgl.AUSTIN 1962,44. 239 Vgl.denTitelvonBURKE 1995a: TheEthicsofSignature . 15 1 derineineSphärederAufrichtigkeit,überderenVorhandenseinabermitmenschlichenFähigkei tenimmernurgemutmaßtwerdenkann.DabeiwarBurkedochschoneinenSchrittweiter,in dem er derUnterschrifteineVerbindlichkeit auch für die nicht absehbare Zukunft ( posthumous estate, asyet unrealised historical circumstances , 289) zugeschrieben hatte. Erwar damit ja schon auf einer Linie mit Butler, die verantwortliches Sprechen darin gesehen hatte, „mit der Erbschaft ihres Gebrauchs, die das jeweilige Sprechen einschränkt und ermöglicht, umzugehen“. Wenn persönlicheVerantwortungnichtsicherzugeordnetwerdenkann,weildasklassischeEntschei dungskriterium (die Absicht des Autors) diese Zuordnung nicht objektiv zulässt – woran sich auchinabsehbarerZeitnichtsändernwird–dannmussVerantwortungübernommenwerden, obwohldieZuordnungnichtgeleistetwerdenkann. DerAutoristundbleibt–Homerhin,her–nichtnuretymologischein auctor , doch gibt man sich mit diesem Verhältnis zufrieden und kalkuliert nicht den nichtoriginären CharaktervonSprachemitein,entziehtmandenSprecheroderdenSkriptorebenauchimmer einemgroßenBereichseinerVerantwortlichkeit.Psychische ZuständesindimZusammenhang mitSprachekeinhinreichenderGarantfürRechenschaft,wiebereitsJohnL.AustininBezugauf denwortbrüchigenHippolytosherausgestellthat 240 : „Esistbefriedigend,geradeandiesemBeispielzusehen,wieeinÜbermaßanTiefe,oder sagenwirbesserErhabenheit,derUnmoraldenWegebnet.Dennwersagt:‚Versprechen erschöpftsichnichtdarin,dassmanWorteäußert!Esisteininnerer,geistigerAkt!’wird aussehenwieeinfesterVertreterderMoral,dersicheinerGenerationvonoberflächli chenDenkernentgegenstellt.[...]Abereristes,derHippolytosmiteinerAusredever sorgt,denBigamistenmiteinerEntschuldigungfürsein‚Ja’unddenWettbetrügermitei nerRechtfertigungfürsein‚Ichwette’.“(AUSTIN 1962,32) EsscheintkeineneinfachenAuswegausdemWiderstreitzwischenZuordnungvonBedeutung unddemWunschnachihrerKontrollezugeben,esgibtzuvieleKomponentenimSprachspiel, dieinihmselbstnichtzufassensind.DieseKomplexitätistesauch,dieBrahimOrourkeum treibt,denProtagonistendesnunzubesprechendenRomans L’inspecteurAli vonDrissChraïbi. DabeiwirdesmeinHauptanliegensein,zuzeigen,wieMotive,diegewöhnlichinautobiographi scherWeiseoderalsAusdruckkulturellerDifferenzengelesenwerden,beiChraïbiinBezugauf dievonmirgeradeskizzierteDiskussionumUrheberschaftvonundVerantwortungfürTexte gelesenwerdenkönnen.

240 „DieZungenur,derGeisthatnichtgeschworen.“(EURIPIDES 428 V .C HR .,612),vgl.zurBedeutungdiesesdra matischenAugenblicksfürAustinauchCAVELL 1995,52ff. 152 II.2b Der Autor und sein Text. Driss Chraïbis L’inspecteur Ali Europaschreibt KlischeesgehörenzumHaltbarsten,wasKulturhervorgebrachthat.SchondiePräsentationeines 2002abgehaltenenSymposiumsmitdemTitel Europaschreibt stimmteskeptisch.ImProspektzu dieserVeranstaltungwarenPhotosderteilnehmendenSchriftstellerabgebildet,diejeweilseinem (europäischen) Land zugeordnet waren. Emine Sevgi Özdamar firmierte – einmal mehr – als VertreterindertürkischenLiteratur.EsschiennureinweiteresunterzahlreichenBeispielendafür zusein,wiewenighinterfragtdieVerbindungzwischenderZuordnungzueinerbestimmtenNa tionalliteraturundderNationalitätderAutorenist. Interessant wurde die Veranstaltung, als am 12. April 2003 ein Beitrag Dubravka Ugrešis er schien,indemsiesichmitdernationalenEtikettierungvonLiteraturbefasst.Ugrešihattediesen TextausgerechnetaufjenemHamburgerKolloquiumvorgestelltundveröffentlichteihnnunin der Neuen Zürcher Zeitung. Sie vergleicht den europäischen Literaturbetrieb darin mit dem Songcontest:immerstehthinterdenNamenseinerRepräsentantenderNamedesStaates,dem siezugeordnetwerden.DieseEtikettierungempfindetUgrešialsBelastung: „Vor einem Dutzend Jahren hatte ich einen eleganten jugoslawischen Pass mit elasti schemrotemEinband.IchwareinejugoslawischeSchriftstellerin.DannkamderKrieg, unddieKroatendrücktenmirohnemichzufrageneinenblauenkroatischenPassin dieHand(dersichentschiedenvonderrotenkommunistischenFarbeabkehrt,aberdes senharterEinbandandiealtensowjetischenLeseausweisefürdieLeninBibliothekerin nert).“(UGREŠI 2003) DasIndividuum,soscheintihrTenorzusein,wirdzurtabularasafürdieverschiedenstenZu schreibungen.DaszentraleProblemist,dassessichihrernichterwehrenkann,auchwennesdies wünscht,dassesstetseinertotalitärenStrukturausgeliefertist,derDiktaturderIdentifikation. Doch diese ist keine sanfte Diktatur, keine lustige, nur halb ernst gemeinte, so wie die beim Songcontest.Warum,fragtsichUgrešischließlich,störtsiesichsoandiesemEtikett,dasdoch jedermitsichherumträgt,vielleichtsogarherumtragenmuss? „WeilsichinderPraxiszeigt,dassdasIdentifikationsgepäckdenliterarischenTextbe lastet.Weilsichweiterhinzeigt,dassdasIdentifikationsetikettdasWesendesliterarischen TextesundseineBedeutungverändert.WeildasIdentifikationsetiketteineverkürzteund stetsfalscheInterpretationdesTextesist.WeildasIdentifikationsetikettdenRaumöff net,etwasindenTexthineinzulesen,wasernichtenthält.Undschliesslich,weilesdis kriminierendist,diskriminierendfürdenTextselbst.DennichkommevonderPeriphe rie;einamerikanischerSchriftstellerhatdiesesProblemvermutlichnicht.“(UGREŠI 2003) DieseswütendePlädoyerhatselbstverständlichnichtverhindert,dassihrTextimTagungsband dereingangserwähntenVeranstaltungerschienenist,diediesesSystemderIdentifikationsetiket

153 tierungbereitsinihremProspekteinmalmehraufdieSpitzegetriebenhatteundgenaudastat, wasdemglobalenMarktsoentgegenkommt:ethnisierendeSignifikantenaufkleben.Dennletzt endlich,soUgreši,istniemandinderLage,dasspezifischEuropäischeeinesinHollandlebenden Afrikaners,deraufEnglischschreibt 241 ,inhaltlichzubenennen,alsodenSignifikantenmiteinem zwingendenSignifikatzuversehen. Stolz auf seine MultikultiIdeologie und Praxis, geht das VE (Vereinigte Europa, B.S.) nachdemerprobtenRezeptvor,«MeTarzan,youJane»,alsonachdemRezeptderAner kennungverschiedenerkulturellerundregionalerIdentitätenundnatürlichderIntegrati on,obwohlniemandweiss,wasdasheissensoll.JedemalsoseinBethaus,jederihreBur ka.UndsolangederMarokkaneraufseinemTresenetwasMarokkanischesanbietet,wha teveritmeans,undwiretwasEuropäisches,whateveritmeans,istalleso.k.Sowerden Kulturproduktegetauscht,sofunktioniertderglobaleMarkt,nachdiesemMechanismus läuftauchdieDynamikdesLiteraturlebens.(UGREŠI 2003) UgrešiweistsoaufdieBedrohunghin,dievoneinemkulturellenEtikettierungssystemimallge meinenundvonVertreterndersogenannteninterkulturellenLiteraturimbesonderenausgeht– einTerminus,derihr–ganzimSinnederhierverfolgtenArgumentation–alsTeilebenjenes Etikettierungssystemserscheinenmuss,auchwennsieihnnichtausdrücklichverwendet. Es gibt demnach ein weiteres bedrohliches Szenario, neben der im letzten Abschnitt von mir skizziertendreifachenBedrohungdesAutors.BeidelassensichinBeziehungzueinandersetzen. KehrenwirdazuzunächstnocheinmalzurückzudenGründen,dieUgrešifürihreAblehnung dernationalliterarischenZuordnunggeltendmacht.TrotzdervielenKausalsätzehandeltessich imKernumnichtmehralszweiVorwürfe.DererstebeziehtsichaufdieTextbedeutung.Ihr werdedurchdasnationaleEtikettaufvielfacheWeiseGewaltangetan,oderzumindestbegünsti gedasEtikettFehlinterpretationen.Ugrešinenntdabei Fehlinterpretation ,wasdieseArbeitalsein seitigeInterpretationbezeichnet. DerzweiteVorwurfisteinpolitischer.ErverweistaufdieAmbivalenzderkulturenspezifischen Interpretation,dieichimerstenTeilbesprochenhabe.ZumeinenistsielobenswerteAbkehrvon eurozentrischen Deutungsmustern und Anerkennung anderer Denkschemata. Zum anderen ist sieaberauchdieAufrichtungeinerneuenHegemonie,diedieWelt(unddamitebenauchdie literarischeWelt)inZentrumundPeripherieaufteilt.DieschlechtenMarktchancenvonLiteratu renkleinerLänderodervonLändernmiteinerglobalunbedeutendenSprache 242 istdabeioffen kundig.IhrErfolgkannamehestengesichertwerden,wennmansiemiteinemIdentifikationseti 241 UgrešibeziehtsichmitdiesemkonkretenBeispielaufMosesIsegawa,weitetdasaberimLaufedesArguments ausaufeinen„Araber,dereinneuerMarcelProust“bzw.einen„Türken,dereinneuerThomasMannseinmöchte“. AlldieseMenschenkönnenihrerMeinungnachvonkeinernationalliterarischenEtikettierungadäquaterfasstwer den,jastellendiesequaihrerschierenExistenzinFrage. 242 DerKonfliktinderindischenLiteraturzwischendenVerfechterneinerLiteraturindenindigenenSprachenbzw. einerenglischsprachigenLiteraturwurdeinderEinleitungdargestelltundillustriertdenUnterschiedzwischenSpra chenmitvielenSprechernundsolchenvonglobalerBedeutung,voralleminHinblickaufeinemöglicheVersilbe rung. 154 kett im Sinne Ugrešis versieht, doch das diskriminiert eben wieder nur diese Literaturen. US AmerikanischeAutoren 243 ,umbeidemvonUgrešigewähltenBeispielzubleiben,müssensicher lichnichtfürchtenaufihrennationalenHintergrundreduziertzuwerden.DerRespektvoreiner Minderheit, so kann man aus ihren Überlegungen schlussfolgern, sollte nicht die Konsequenz haben,dassmaneinzelnePersonen nur noch alsAngehörigederMinderheitwahrnimmt.Siesollte desweiterennichtdazuführen,dassTextevonAutoren,dieeinerMinderheitangehören,wieder nurnochvordemHintergrundderjeweiligenBiographiengelesenwerden.DieMarginalisierung, diederpostkolonialeDiskursjageradeaufweichenwollte,wirdsonstdurchdieHintertürwieder eingeführt.NachUgrešimissachteteineFixierungaufdenAutoralsAngehörigemeinerNation oderKulturalsoerstensdenText(unddemnachdieliteraturtheoretischenErkenntnissezurau torunabhängigenInterpretation)undzweitensdiePersondesAutorsselbst,dereigentlichdurch nichtsalsdurchAnonymitäteineEtikettierungsicherverhindernkönnte. EineähnlicheErkenntnisführtdenVerlegerinDrissChraïbisRoman L’inspecteurAli dazu,dem AutorBrahimOrourkeeinekosmetischeOperationanseinemNamennahezulegen: «Votre nom restera le même: Orourke. On le prendra dans la seule acception qui s’impose:patronymeirlandais,voireaméricain.Surtoutsionluiadjointuneapostrophe: O’Rourke.L’œildulecteuroccidentalestcurieusementconditionné.Jevousgarantisque personnen’iraimaginerquec’estunnomberbère.Quantàvotreprénom,ehbien!onle remplaceraparl’initialeB.C’esttout.Lacuriositéfonctionneradanstouteslesdirections sauflabonne.BenjaminO’Rourke?BasilO’Rourke?BrittenO’Rourke?…Signéainsi, B.O’Rourke,votrelivresevendrapartout,commetoutcequivientdesStates: B.D.,sé riesB,variétés,lasoupequitientlieudeculture.»244 (CHRAÏBI 1991,81f) EinberberischerAutorverkauftsichnicht,alsomussmandenSignifikantensoverändern,dass dasberberischeSignifikatverschwindetunddurcheinverkaufsförderndesamerikanischesersetzt wird.DassdiesesSignifikatauchstereotypisiertwirdals lasoupequitientlieudeculture ,isteinerder geschicktenWinkelzügedesTextes,dervermeidet,Etikettierungeinseitigzuverorten.Mankann sievielmehrdurchschauenundsichihrerzumeigenenVorteilbedienen,wiediesOrourkesVer legertut,derihrdannabergleichzeitiganeineranderenStelle–seinerEinschätzungAmerikas– erliegt. Lasoupequitientlieudeculture wirdhiergleichermaßenzueinemstrategischenwiezueinemunbe wusstenOrt.SicherlichkannmandieseStellealsKritikanderAmerikanisierungauffassen,das

243 WahrscheinlichsolltemannochdasAttribut weiß hinzufügen. 244 “IhrNamebleibtderselbe:Orourke.AberwirnehmenihnindereinzigenVersion,diesichaufdrängt:alsirisches, jaamerikanischesPatronym.Vorallem,wennwireinenApostrophhinzufügen:O’Rourke.DasAugedeswestlichen Lesers ist seltsam konditioniert. Ich garantiere Ihnen, niemand wird Glauben, dass er es mit einem berberischen Namenzutunhat.WasIhrenVornamenbetrifft,nun,denersetzenwirdurchdasInitialB.Dasistalles.DieNeugier wirdinalleRichtungen,bisaufdierichtigefunktionieren:BenjaminO’Rourke?BasilO’Rourke?BrittenO’Rourke?... MitdiesemAutornamenversehen,verkauftsichIhrBuchüberall,wiealles,wasausdenStaatenkommt:Comics,B Movies,Variété,dieSuppe,dieKulturersetzt.“ 155 lägeganzimFlowdesDiskursesüberdieinterkulturelleLiteratur 245 .DochdieStelleerschöpft sichnichtindiesemOberflächenphänomen,denndiebeidenPlanendensindkeineAmerikaner unddochbedienensiesichderMethoden,diesieals Suppe,dieKulturersetzt, bezeichnenundalso kritisieren.EinesinnvolleAussageüberkulturelleDifferenzenundderenWertlässtsichandieser Stelle demzufolge nicht treffen, denn die kritisierte Suppe wird durch die Signifikantenretusche nichtnurgenutzt,sondernauchselbsterzeugt.Wennesgenügt,einenApostrophindenAutor nameneinzufügen,umeineirischeoderamerikanischeUrheberschaftimBewusstseinderLeser schaftherzustellen,dannkannesmitderkulturenspezifischenSchreibweisenichtsehrweither sein.DenndieschiereMöglichkeitdiesesManöversimpliziertja,dassderTextselbstnichtsbe reitstellt,umdenSchwindelzuentlarven.DerFokusdesRomansscheintmirimAnschlussan dieseBeobachtungauftheoretischenErwägungenzumVerhältnisvonTextundAutor,sowieder Möglichkeitvon(kultureller)Authentizitätzuliegen.WirdüberdenKulturbegriffnichteigentlich eherdieserAspektaufgerufen? BrahimOrourkeerklärtsicheinverstandenmitdemSchachzugdesVerlegers,denn„jesuispour le fric“ 246 (82). Im Laufe des Romans versucht er dann allerdings noch ein anderes Buch zu schreiben,indemesihmumernsthafteThemengeht,umdenKriegunddieVerhältnisseinsei ner„Heimat“Marokko.DieserVersuchwirdaberständigsubvertiertundzwardurchdieHaupt figurseinererfolgreichenRomane,dieerunteririschamerikanischemPseudonym( B.O’Rourke ) „pourlefric“schreibt.DieseHauptfigur,derInspecteurAli,derdemRomanChraïbisschließlich auchdenTitelgibt,entwickelteinbeunruhigendesEigenlebenundkannschließlichauchausden „ernsthaften“literarischenBemühungennichtferngehaltenwerden.ErwirdzumParasitender TexteOrourkes. SchonindieserkleinenPassageumdieNamensänderungfindensicheinigederStichwortewie der,dieinderAutordebatteeineeminenteRollespielen.DenwenigenSekundärtexten,dieeszu diesemRomanvonChraïbigibt,istdeshalbinihrerTendenz,erneutaufdieautobiographische Kartezusetzen,zuwidersprechen 247 .BernadetteDejeandelaBâtieargumentiertnichtsehrüber zeugend,wennsiedasmerkwürdigeIneinanderfließenvonAutorundProtagonist,das Masken spieldesAutors ,wiesieesnennt,alsBeweisdafürheranziehenwill,dassderTextvorallemver schleierter Ausdruck der Gedanken Chraïbis sei 248 . Denn ein Ineinanderfließen bedeutet doch

245 Vgl.z.B.HARGREAVES 1990. 246 „Mirgeht’sumsGeld.“ 247 Vgl.DEJEANDELA BATIE 2002,61ff.FürdieKriminalromane,dieChraïbiinderFolgemitdemInspecteurAli alsHauptfigurverfassthat,vgl.DEJEANDELA BÂTIE1998,80,sowieCÉLESTIN 2001,197. 248 Vgl.DEJEAN DE LA BATIE 2002,186und189.DejeandelaBâtiesWortwahlistdabeiimdeutschenKontext besondersunglücklich,dasieaufeinenBegriffPauldeMansverweist,derfürDejeandelaBâtiesKonzeptionoffen sichtlichnichtvonBelangist(vgl. DE MAN 1979aAutobiographiealsMaskenspiel ).DeManversuchtmitihmgerade das„jedemVerstehensprozesseignendeMomentderwechselseitigenSpiegelung“zubeschreiben(134).Wennichim 156 geradeeine beidseitige Affizierung,eineVerwischungderKreationsverhältnisse.Indemmansich weigert,dieswahrzunehmen,reduziertmandenTextaufdieherkömmlicheLesart(Autorprodu ziertText,FiktionistsekundärgegenüberRealität),dieerjageradethematisiertundproblemati siert.DejeandelaBâtieziehtesüberhauptnichtinBetracht,imInspecteurAlietwasandereszu sehenalseineMaskierungdesrealenAutors.ObwohlsiedieAmbivalenzierungdesVerhältnisses Autor/Helddurchauswahrnimmtundauchalssolchebenennt,legtsieeinenganzklarenAkzent aufdieSeitedesAutors 249 .DieeinzigeAmbivalenz,diesiezulässt,istdiedemLeserzugemutete Frage,obnungeradederrealeAutoroderderfiktiveProtagonistspricht.EineAmbivalenzvon RealitätundFiktionselbstwirdnirgendsauchnurangedacht. Diese Haltung ist umso erstaunlicher als die Autobiographieforschung selbst schon längst auf diesenUmstandhingewiesenhat 250 .DejeandelaBâtieundmitihrvieleInterpretenderinterkul turellenLiteraturlasseneinDiltheyschesVertrauenindieAutobiographieerkennen.FürDilthey wardiese„derdirektesteAusdruckderBesinnungüber das Leben“ (DILTHEY ca.1910,244). Dieserergibtsichausder„besonderenIntimitätdesVerstehens“(246),dasdenEinzelnenmit seinemLebenverbindet.HinterdiesemVertrauenstehtbeiDiltheyjedochausdrücklichdie„Sel bigkeitdesGeistesimIch,imDu,injedemSubjekteinerGemeinschaft,injedemSystemder Kultur,schließlichinderTotalitätdesGeistesundderUniversalgeschichte“(235),alsoeineho mogeneKonzeptiondesGeistes,diealleMenschenmiteinanderverbindetunddiesomitüber greifende Einsichten in große geschichtliche Zusammenhänge und die Erlebnisse des eigenen Daseinsallererstermöglicht. Einewirkungsmächtige–hieraberalsunzureichendbewertete–LiniederKritikwürdeDilthey biszurAnnahmederSystemederKulturfolgen.DieseÜberzeugungstehthinterderselbstver ständlichenIdentifikationderAmbivalenzierungvonErzählverhältnissenmiteinem Maskenspiel desAutors :DerAutor(imvorliegendenFallalsoChraïbi)entwirftindieserVorstellungeinenPro tagonisten, der sich in auffallend lokalkolorithafter Weise auf internationalem Parkett bewegt, Stereotypebedient,ananderenStellendiesedurchbricht–kurzeinenhybridenCharakter.Hybri ditätwirdhiergedachtalsZusammensetzungzweierdistinkterIdentitäten.DerAutorschildert demnach seine eigenen Lebensbedingungen hinter der Maske des Protagonisten. Es gibt eine selbstverständlicheIneinssetzungderbeidenInstanzen,dennsiegehörentheoretischdemselben SystemderKulturimDiltheyschenSinnan.AlsInterpretmussmandemzufolgediekulturellen

FolgendendenBegriff MaskenspieldesAutors imSinneDejeandelaBâtiesverwende,möchteichdeshalbausdrück lichdiesenichtzutreffendeAssoziationvermeiden. 249 Vgl.DEJEANDELA BATIE 2002,188. 250 GabrieleSchabachergehtsoweit,dieThematisierungderUnentscheidbarkeitzwischenFiktionundRealitätzum eigentlichenMerkmalderGattungAutobiographiezuerheben(SCHABACHER 2003).Vgl.auchGOLDMANN 1994, einausgezeichneterVersuchzurEngführungvonautobiographischemSchreibenundTopik.DiesemAnsatzistdie vorliegendeArbeitverpflichtet. 157 Besonderheitendurchschauen,umdenTextzudechiffrieren.DieSchwierigkeiten,diepoststruk turalistischeAnsätzehinterderAnnahmeeinessolchengeistigenKontinuumsbestimmterMen schengruppen aufgezeigt haben, werden einfach ignoriert, Hybridität wird degradiert zu einem ProblemderangemessenenInformationüberdiejeweilsandereKultur 251 . Vergleicht man diese Sichtweise mit dem Diltheyschen Argument, wird deutlich, dass sie nur einen graduellen Unterschied zu einer Totalität des Geistes beinhaltet: Das intrakulturelle Konti nuumistinihrgrundsätzlichtransparent;dieinterkulturelleLiteratursprichtvondenSchwierig keiten,diebeiderÜberschreitungderkulturellenGrenzeauftreten.Undwerkönnteeinegrößere IntimitätdesVerstehens dieserProblematikhabenalsdieAutoren,dieselbstGrenzgängersind?Ein Diskurs,derdiespostuliert,beraubtdieAutorendertheoretischenMöglichkeit,überVerstehens prozesseanderszuredenalsvorderFolieihrereigenenBiographie.DasdiskriminierendeIdenti fikationsgepäck,vondemUgrešigesprochenhat,mussvonihnennolensvolensmitgeführtwer den. Die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie wird zu einer Form des symboli schen Imperialismus, denn die Kolonien waren immer Peripherie, die der Deutungshoheit der westlichenZentrenausgeliefertwaren.Heute,nachweitgehendemAbschlussderreinpolitisch geographischenDekolonisierungsindsieeswieder,nuraufeinersehrvielhaltbareren,weilpro teushafterenEbene,nämlichaufeinerimmateriellen.WennDejeandelaBâtiealsovermeintlich rhetorischfragt:„D’ailleurs,étantdonnélejeudemasquesàl’œuvredanslespolarsdeChraïbi, nenousincitetilpasàtrouverlestracesdesonuniverspersonnelquel’auteuralaisséesdans sontexte?“(DEJEANDELA BÂTIE 2002,189)mussmansichzumeinenüberlegen,obmanein solches kommunikationstheoretisches ContainerModell annehmen will (der Autor hinterlässt SpurenseinespersönlichenUniversumsimText)undzumanderen,obmannachdenhiervorge tragenen Argumenten so eine einfache Gleichsetzung der im Inspecteur Ali sicher vorhandenen miseenabyme 252 miteinem MaskenspieldesAutors mittragenmöchte. ParatextundEndederSprache Mankönnteendlosdarüberstreiten,obder1991erschieneneRoman L’inspecteurAli mitdenin loser Folge im Laufe der 90er Jahre publizierten Kriminalromanen Chraïbis Une place au soleil , L’inspecteurAliàTrinityCollege und L’inspecteurAlietlaC.I.A. einekonzeptuelleEinheitbildet.Die wenigenArbeiten,diezudiesenTextenerschienensind,legeneineKontinuitätnaheundinder InterpretationeinenklarenFokusaufdieKriminalromane.MeinHauptaugenmerksollhingegen

251 ZurKritikamBegriffderHybriditätvgl.auchKap.I.3dieserArbeit. 252 ZumBegriffvgl.RICARDOU 1973,60ff. 158 demerstenRomangelten,derselbstkeinKriminalromanist,dieFigurdesInspecteurAliaber dennochbereitstitelgebendmitführt. SchonderParatextdes InspecteurAli isteineVerdichtungdesAutorproblems.DasDeckblattzeigt zunächstzweiNamen:DrissChraïbi,klein,aberanersterStelle,L’inspecteurAli,groß,aberan zweiterStelle.FreilichistdieseOrdnungderKonventiongeschuldet,dieSchriftgrößensindau ßerdembeim folio VerlagstetsindieserWeiseverteilt:kleinderAutor,großderTitel.Dochdas Spielwirdfortgesetzt.DieWidmunglautet: AUREGRETTÉ WILLIAMMcCALLION Vosactesetvosparoles survivrontlongtemps àvoscendres D.C.253 BereitsinihrwirdeinUnterschiedzwischenmateriellerPerson(voscendres)undimmateriellem Text(vosactesetvosparoles)etabliert,wobeidieImmaterialitätdashaltbarereElementdarstellt. DieSignaturinInitialen„ D.C.“ antizipiert,wasimRomantextmitdemVornamenOrourkesge schehenwird. DiesebeidenIndizienalleinewürdenesallerdingsnochnichtrechtfertigen,voneinerReflexion aufdieAutorpositionauszugehen.EsfolgtnunabereineVorbemerkung( avertissementaulecteur ), vonderunklarist,obsieüberhauptnochzumParatext 254 gehörtoderschonTeildesmanifesten Textesist: Cecin’estpasunromanàclefs.Touteslesscènes,ycomprislesplusabsurdes,sontduesàl’imagination effrénéedel’inspecteurAli.Ettouslespersonnagessontfictifs,àl’exceptiond’unseul:lavilled’ElJadi da(Maroc)oùsedéroulel’action. 255 B.O’Rourke. p.c.c. DRISSCHRAÏBI Fangenwirhintenan:derrealeAutorChraïbiverbürgtsichfürdieRichtigkeitdergemachten Angaben 256 . Die Angaben, die der fiktive Charakter B. O’Rourke macht, der – wie wir bereits wissen–auchimTextnureinefiktiveKopieBrahimOrourkesist,geschaffen,umbeimPubli kumeinebestimmteWirkungzuerzeugen,diederechteName(BrahimOrourke)nichtzuer zeugenimstandewäre.B.O’RourkemachtnunseinerseitsAussagenzumFiktionalitätsstatusder 253 „WilliamMcCallion,denichschmerzlichvermisse.IhreTatenundIhreWortewerdenIhreAschebeiweitem überdauern.D.C.“ 254 ZumBegriffvgl.GENETTE 1982,9. 255 DiesistkeinSchlüsselroman.AlleSzenen,inklusivederabsurdesten,entspringenderzügellosenPhantasiedes InspecteurAli.UndallePersonensindfiktiv,außereinereinzigen:derStadtElJadida(Marokko),wosichdieHand lungabspielt. 256 „p.c.c.“isteineformelleAbkürzungfür“pourcopieconforme”,einePhrase,diedieKorrektheiteinerDurch schriftbezeugt. 159 Figuren( touslespersonnagessontfictifs ),nimmtdabeiinteressanterweiseeineaus,dieimherkömmli chenSinneaberkeineFiguroderPersonist:dieStadtElJadida.Eslägenahe,diesealsSynekdo che zu lesen: die Stadt steht für die in ihr wohnenden Menschen. Diese Aussage würde L’inspecteur Ali zu einer fiktiven (Auto)Biographie 257 der Hauptfigur machen, doch sie steht in offensichtlichemWiderspruchzurgetroffenenAussage,allePersonenseienfiktiv.Eswäremög lich,diesalshumorvollesParadoxzulesen,dochworaufgenauwürdesichdiesesParadoxerstre cken?AufdieganzeVorbemerkungodernuraufdenTeilmitdemfiktivenPersoneninventar? Schon dieser kurze Blick auf den Paratext (der unten noch um eine Verschachtelung ergänzt werdensoll)zeigt,dassdieLesartdes InspecteurAli alsMaskenspieldesAutors zukurzgreift.Es wärereineWillkür,bestimmenzuwollen,dassdieironischeDistanzierungunddiegewollteAm bivalenzierung ausgerechnet am Namen des realen Autors – Driss Chraïbi – aufhören sollten. Dagegen spricht außerdem, dass ja gerade an diesem Namen das buchhalterische Kürzel p.c.c. steht,daskeinKreations,sonderneinreinesVerwaltungsundBürgschaftsverhältnisdenotiert. ChraïbiveranstaltethiereinebensolchesSchelmenstück,wiewiresweiterobenbeiDerridasGe dankenzurAutorschaftder Reply verfolgenkonnten.DorthattedieseDemonstrationdieFunkti on,dieSchwierigkeitenbeiderZuordnungeinesCopyrightoffenzulegen.Warumsollteman diese Deutungsmöglichkeit für den Roman ausschließen,wo es doch – durch das Kürzel p.c.c. verbürgt – hier ebenfalls um eine Art von Vervielfältigung geht? Zudem ging es auch bei der KreationdesKürzels Sarl umdieUnterscheidungsmöglichkeitzwischenernsthaftemundnicht ernsthaftemSprechen.GenaudieseunmöglicheDifferenzierungführtChraïbiinseinem avertisse ment nocheinmalvor. DiePositionierungderbeglaubigendenPhraseistbeiDerridaundimParatextdes InspecteurAli ebenfallsanalog,soweitdasaufderBasisderunterschiedlichenKonstruktionenüberhauptmög lichist.ImRomanstehtsieamdoppeltfiktivenAutornamen–B.O’Rourke–undbeziehtsich aufdenrealenAutor–DrissChraïbi.InSearlesTextstehtdieFußnoteamNamenDerridasund beziehtsichaufrealePersonenimUmfeldSearles–D.SearleundH.Dreyfus.Ziehtmannun dievonDerridaständigspöttischwiederholteAussageSearlesheran,dassseine„confrontation (withAustin’sposition,B.S.)neverquitetakesplace“(SEARLE 1977,198),kannmanDerridas Nameninder Reply durchausalsfiktivbetrachten.FürSearleisteszwareherso,dassderName Austins und die Ideen, für die er metonymisch steht, in Derridas Text derart verfremdet sind („Derrida’sAustinisunrecognizable.Hebearsalmostnorelationtotheoriginal“,204),dasssie indieNähedesFiktivenrutschen,dochdiesisteineFragederPerspektive,dennfürDerridahat,

257 ObAutobiographieoderBiographie,wäredannnochzuklären,indemmandasVerhältnisvonB.O’Rourkeund BrahimOrourkebestimmte. 160 wiediesin LimitedInc flächendeckendnachzulesenist,SearlesInterpretationvonDerridasTexten wiederumnichtsmitdemzutun,wasinihnensteht. WiewirdnunimRomantextselbstdieseReflexionaufUrheberschaftundVerantwortlichkeitfür daseigene(Sprech)Handelnthematisiert?UmdieseFragezubeantworten,möchteichzunächst denAufbaudesRomanskurzskizzieren.ErhandeltvondeminternationalerfolgreichenAutor Brahim Orourke, über dessen Verstrickungen mit dem Literaturbetrieb wir inzwischen schon einigeswissen.ErhatseineEntdeckungalsSchriftstellereinerpopulärkulturellenVeranstaltung zuverdanken,einemKneipenwettbewerb,andemerzuseinerStudienzeitteilgenommenhat: «Quelqueslittérateursenherbe,dontBorisVian,avaientorganiséunesortedecourse contrelamontre–etcontrelalittératureengénéral.Leslibationsavaientétégénéreuses, n’importequoiquiavaitungoûtd’alcool.Nousavionscarteblanchepourlesujet.Mais nousdevionsnécessairement:1–terminerlemanuscritavantl’aube;2–êtreleplusdé bridépossible.Cequejefis.Audelàdetoutemesure.Unesemaineplustard,jereçusune lettredeséditionsMichelson.»258 (CHRAÏBI1991,80f) EsfolgtdiebereitserwähnteNamensänderungunddergroßeErfolgbeimPublikum.Orourke willigtinallesein,denn„jesuispourlefric“(82).DiesesHandelnwirderimweiterenVerlaufals moralischesProblembenennen,hieristesfürihnnochkeinThema.AndersalsimDiskursder deutschenKlassik,denichobenskizzierthabe,wirddieserWunschnachfinanziellerRentabilität deseigenenliterarischenSchaffensabernichtmiteinemRekursaufdenGeniebegriffbemäntelt. ChraïbinähertsichalsoehereineraktuellenVersionvonKlopstocksalseinervonGoethesKon zeptan. BemerkenswertistgeradeindiesemZusammenhangdieArtderProduktiondesTextes.Goethe hatte die Stegreifpoesie ja zur „ersten und echtesten aller Dichtarten“ geadelt (GOETHE 1813, 397)unddadurchzusätzlichdieKluftzwischenGeldundKunstzuschließenversucht 259 .Freilich vertritt der von Chraïbi hier genannte Boris Vian eine andere Kunstauffassung als Goethe 260 . Nichtsdestowenigerbleibtzubemerken,dassdieGelegenheitspoesieindenpopulären Happenings inSt.GermaindesPréseineebensogroße–wennauchandersgelagerte–Wertschätzungerfuhr

258 „EinigezukünftigeLiteraten,unterihnenBorisVian,hatteneineArtKampfgegendieUhr–undgegendieLite raturimallgemeinen–organisiert.FürGetränkewargroßzügiggesorgtworden,alles,wasirgendwienachAlkohol schmeckte,warvorhanden.DasThemawarnichtvorgegeben.Aberwirmusstenunbedingt:1.vordemMorgen grauenmitdemManuskriptfertigsein;2.unsererPhantasiemöglichstfreienLauflassen.Wasichtat.Jenseitsallen Maßes.EineWochespätererhielticheinenBriefdesMichelsonVerlags.“ 259 EinzweifelhaftesLichtaufdiesesLobdesUnverfälschtenwirftdieAnalysederRezeptionAnnaLouisaKarschs, dervielleichtberühmtestenStegreifpoetinderfrühenGoethezeit,durchSilviaBovenschen(vgl.BOVENSCHEN 1979, 150164).BovenschenzitiertaucheinenBriefGoethesanKarsch,dersichnahtlosindenherablassendenDiskurs überdieseProtagonisteneiner(typischweiblichen)empfindsamenLiteratureingliedert(152).Esscheintmirdeshalb sehrplausibelzusein,dieGoethescheArgumentationfürdasGelegenheitsgedichtalsTeileinergrößerendiskursiven StrategiederKlassikzubetrachten,dieauf–wiediesesBeispielzeigt–häufiginsichwidersprüchlicheWeisever suchte,demSchriftstellerdieHerrschaftüberseinWerkzuzusprechen. 260 ZuViansEinlassungaufpostkolonialeThemenseihierverwiesenaufdieKontroverseumdashöchsterfolgrei cheBuch J’iraicrachersurvostombes (VIAN /S ULLIVAN 1946). 161 wieindenEinlassungenGoetheszumUrheberrechtsstreit.Hierwiedahattesiejedenfallsmit ökonomischemErfolgzutun,derüberdiesenWegauchOrourkeerreicht. Esistalsozubemerken,dassdieserzunächstLiteraturundErnsthaftigkeitstrikttrennt.Dasän dertsichimLaufedesRomansunddieseVeränderungistseineigentlichesThemaundsieist ebenfallseineVeränderungderEinstellungdesAutors(Orourke)zuseinemWerk.DieKriminal romaneumdieFigurdesInspecteurAlisindfürOrourkezwarGarantseinesfinanziellenErfol ges,repräsentierenabergleichzeitigdieimmerdrängenderwerdendeGleichgültigkeitgegenüber derwirklichenWelt.OrourkefasstdaherdenEntschluss,einenernsthaftenRomanzuschreiben, einen,indemderInspecteurAlinichtszusuchenhat–einUnterfangen,dassichalsunmöglich herausstellenwird,dennderInspecteurAlientwickeltimLaufedesRomanseinseltsamesEigen lebenunddrängtderartgestärktauchindenVersuchOrourkes,ernsthafteLiteraturzuproduzie ren,d.h.ertauchtgegendenWillenBrahimsalsFigurindiesemTextauf(z.B.213). FormalistdasBuchindreiAbschnittegegliedert,diesich–fürdieerstenbeidenAbschnitte– am Besuch von Orourkes britischen Schwiegereltern in Marokko orientieren. Der dritte Ab schnittistmitdemsprechendenTitel L’auteur versehen,deraufdasdurchgängigeThema–das VerhältnisvonAutorundText–hinweistundfürseineStrukturierungeineentscheidendeRolle spielt.DennhierverliertderProtagonistseinepartielleAmnesie,dieaneinigenStellendesBu ches–eherbeiläufig–erwähntwird:OrourkekannsichanseineKindheitnichterinnern.Diese verbindetihnabereigentlicherstmitMarokko,dennspäter–dengenauenZeitpunkterfährtman nicht–isterjanachFrankreichemigriert,umerstalsgefeierterunderfolgreicherSchriftstellerin dieHeimatzurückzukehren. DasBandderKindheitserinnerungexistiertimTextalsozunächstnicht,esentstehterst,alser endetundvonderZeitdanachistnaturgemäßauftextuellemWegnichtszuerfahren.DerRo manverzichtetaufeinedirekteAntwortaufdieFragenachdemUrsprungliterarischenSchaf fens,einUmstand,derzweiunterschiedlicheInterpretationenerlaubt. Zunächst wäre eine traumatische Lesart denkbar. Diese würde der verbreitetsten Lektüre der interkulturellenLiteratur,dieeinenZusammenhangzwischenpersönlicherErfahrungundText herstellen will, am nächsten kommen. Sie ließe sich problemlos ins Werk Chraïbis einordnen, dennschonin Lepassésimple warenjadieentwürdigendenundgewalttätigenLebensbedingungen derHauptfigurDrissFerdibeschriebenworden;unddieserHauptfigurwar,ebensowieBrahim OrourkeimvorliegendenFall,einautobiographischesSubstratzugeordnetworden.Dieschreck lichenDemütigungenderKindheitwärenindieserLesartineinemzweitenBewusstseinOrour

162 keseingeschlossenundwürdendurchdasEreignisderGeburtamEndedesBucheswiederakti viert 261 . EinesolcheLektüreistvorstellbar,dochsielässteinigeElementedesTextesungenutzt,z.B.dass er an der Stelle der Wiedererinnerung abbricht. Natürlich kann keine Interpretation sämtliche DetailseinesTextesberücksichtigen,dochichmöchtealsAlternativegeradeeineFokussierung auf die Elemente vorschlagen, die im Roman den Schreibprozess selbst betreffen. Man kann nämlichdasFehlendesUrsprungsindemZusammenhanglesen,denichimvorangegangenen theoretischenTeilthematisierthabe:DersprachlicheUrsprungentziehtsichstetsdemZugriff desAutors.DieSchriftendetfolgerichtigin L’inspecteurAli genaudort,wodieserUrsprungwie derauftaucht.DerletzteSatzlautet:«Remontasoudaindansmamémoiretoutmonvieuxpassé, net,clair,aveuglantdanslesmoindresdétails–cepasséquej’avaisenfouisiprofondémenten moi.»262 (219)SobalddieVergangenheitklarunddeutlichhervortritt,blendetsiezugleichund machtihreBeschreibungdamitunmöglich.DieverdrängteVergangenheit,sokönntemanweiter argumentieren,wirdaufdieseWeiseformalausdemTextausgeschlossen. VerbindetmandiesenGedankenwiederummitderpsychoanalytischenTheoriedesTraumas,so wirdeineweitereBasisdafürgeschaffen,dassdieeigeneVergangenheitinsUnbewussteverscho benundsodemwachenBewusstseinunzugänglichwird263 .BeiChraïbiwirddiesespersönliche UnbewussteersetztdurcheinUnbewusstesdesTextes,dervorderaufkommendenErinnerung kapituliertundzuEndegeht,ohnesiezuschildern.Eswäreimmerhinmöglich,dieseKapitulati onalsUnmöglichkeitzulesen:DerTextkannseineigenesUnbewusstesnichtthematisierenund mussdeshalbdieIntentionverschweigen,dieihnhervorgebrachthat.DieStrukturdesTraumas verhindertgeradeseineKongruenzmitbewusstem,intentionalenVerhalten.DaswacheBewusst sein hat keine Möglichkeit, auf den Inhalt der condition seconde , auf das zweite Bewusstsein zu zugreifen. NunhatDerridagenaudieseStruktur–abzüglichderPathologisierung–seinerKonzeptionder ErzeugungvonBedeutungzugrundegelegt,wiesiein SignatureEvénementContexte entwickeltwird. DasstrukturelleUnbewusste( inconsciencestructurelle )desTexteswarfürihngleichzusetzenmitder «absenceessentielledel’intentionàl’actualitédel’énoncé»(DERRIDA 1971,389).Diehiervor geschlageneLesartvon L’inspecteurAli würdealsodenAbbruchderDiegeseimMomentderEr kenntnisals miseenabyme desSchreibprozessesfassen.DieAutorintentionistimTextnichteins

261 Vgl.hierzudiepsychoanalytischeTheoriedesTraumas,z.B.FREUD 1892. 262 „PlötzlichtauchtemeineganzealteVergangenheitwiederinmeinerErinnerungauf,deutlich,klar,blendendin denkleinstenDetails–dieseVergangenheit,dieichsotiefinmirvergrabenhatte.“ 263 FreudsprichtauchvoneinemzweitenBewusstsein,einer conditionseconde odereinemHypnoidbewusstsein;vgl. z.B.FREUD 1892,95. 163 zueinsumzusetzen.DasHervorbrechendereigenenErinnerungistinkompatibelmitihrerdirek tentextuellenGestaltung,sodassdiesegenaudaendet,wosichjenemanifestiert. MitdieserAnalogisierunggreifeichetwasvor.Esscheintratsam,umdiesezweiteInterpretation zuuntermauern,zunächstdieStationendesSchriftstellersOrourkeimRomannachzuzeichnen undzuzeigen,wiesichinihnendieMotivederDebatteumdieHerrschaftdesAutorsübersei nenTextwiederholen. DieSuchenachdereigenenSprache DerRomansetzteinmitgroßerGeschäftigkeit.BrahimsSchwiegerelternausEdinburghhaben ihrenBesuchangekündigtundallesdrehtsichumdiebevorstehendeAnkunftderbeiden(Susan undJock).IndieserSituationbeginntBrahimnunmitdenVorbereitungenfüreinneuesBuch– das,wiemanspätererfährt,vonseinemVerlegerschonlangeerwartetwird.Brahimhatseitsei nerRückkehrnachMarokko–unddieliegtzuBeginndesTextesschonanderthalbJahrezurück –keineZeilemehrabgeliefert.DaherwerdendieerstenNotizenvonBrahimauchnochmitbe tonterBeiläufigkeitbehandelt:„–Tuascommencéunnouveauroman,àcequejevois?Elledé signaitlepapieràdessinsurlequelj’avaisjetéquelquesnotesenvrac[...].–Oh!ça?C’estle Plan,avecunPmajuscule.Jet’enparleraicesoir.“ 264 (28) EsistkeinZufall,dassnochimselbenDialogderInspecteurAlizumerstenMalaußerhalbeines Textesauftaucht:„Ilatéléphonédansmatête.“ 265 (29)sagtBrahimundallehaltenesnochfür einenharmlosenScherz.DochimFortgangderHandlungzeigtsich,dassderInspecteurAlifür BrahimeineArtalteregodarstellt,dasihnbedrängtundbelastet.Dabeimaterialisiertersichzwar nicht,aberaufgeistigerEbenenimmtereinenimmergrößerenRaumein,wasamEndeinsEin geständnismündet:„C’étaitluiquipensait–etnonplusmoi,l’auteur.“ 266 (211)Esscheintalso nichtso,alslegederAutorautobiographischeElementeinseineFigur,sondernumgekehrt,die literarischeFigurscheintsichdesAutorszubemächtigenundihnauszulöschen. DochbisdahinistesnocheinweiterWeg.Zunächststelltsichheraus,dassder Plan,avecunP majuscule keinnächster InspecteurAli Krimiwerdensoll,wennBrahimauchnichtklarist,worum essichdannbeidemnächstenBuchhandelt–bisseineFrauFionaseinerInspirationaufdie Sprüngehilft:

264 „’Duhast,wieichsehe,einenneuenRomanangefangen.’SiezeigteaufdasZeichenpapier,aufdasicheinige unzusammenhängendeNotizengeworfenhatte[...].‚Ach,das...!DasistderPlan,miteinemgroßenP.Icherzähldir heuteabenddavon.’“ 265 „ErhatinmeinemKopfangerufen.“ 266 „Erwares,derdachte–undnichtmehrich,derAutor.“ 164 «–Sepeutil…sepeutilqu’onquitteunjoursaterrenatale,etpuis…etpuisquel’ony reviennetranquillement,fastueusement,commeenvacances,commesiriennes’yétait passéduranttalongueabsence,commesiellen’avaitpaseubesoindetoi?detoi? Encoremaintenant,jenepuismerappeleravecexactitudecequejefiscettenuitlà.En quelquestermes,clairement,ellevenaitdeformulerlethèmeetlebilan.Lethèmedulivre etlebilandemavie.L’unrejoignaitl’autre,sidifférentsqu’ilsfussent.J’étaisdélivré.»267 (62f) DochdieangesprocheneErlösung( délivrance )erweistsichalstrügerisch.DiewenigenWorte,in denen Fiona die Bilanz von Brahims Leben und gleichzeitig das Thema seines neuen Buches formuliert, sind gestaltet wie ein Mantra – mit beschwörenden Wiederholungen. Fiona erweist sichsomitschonsehrfrühalsGegenfigurzuBrahim.SieistinihreFamilieeingebettet,sowohlin die,ausdersiestammt,alsauchindie,diesieselbstgegründethat.Beiallerbewundertenkultu rellenAnpassung,diesieleistet,bleibtsieinderWahrnehmungderEinheimischenstetseine– wenngleichsehrrespektierte–Fremde,beideresauffällt,dasssiemitdemKrämerBeberisch spricht,währendihrMannBrahim,selbstSprösslingMarokkos,dieseSprachevergessenzuha benscheint(99).TrotzallerSensibilitätundWeltgewandtheitistsieesaberauch,diedurchge schickte Börsenspekulation aus dem zweiten Golfkrieg Gewinn schlägt und sich so erneut als Gegenentwurf zu Brahim erweist (179), denn der Golfkrieg wird für seine Bemühungen, ein ernsthafterSchriftstellerzusein,zumKristallisationspunkt. Eserscheintmirdaherwenigüberraschend,dassFionasFunktionalsMuse,dieimobigenZitat sodeutlichundklareineGemeinsamkeitzwischenLebenundWerkformuliert,nichtvonErfolg gekröntist.NachdemesBrahimgelingt,dasThemadesneuenRomansineinemSatzzuformu lieren – „L’Arabe, où qu’il se trouve, sera de plus en plus traquée par des puissances qui lui échappent“ 268 –wirderbaldgewahr,dassdasLebenihn„danslesmoindresdétails,avecinfini mentplusderigueurqueceluid’unroman“ 269 (102)verwirklichthat.DerPlanwirdvernichtet (ebd.). DochnichtnurdieKonzeptiondrohtzuscheitern,auchderInspecteurAlilässtsichnichtwie gewünschtausdemBuchprojektBrahims–mitdemTitel Lesecondpassésimple –ausschließen.„Il yavaitbienl’ombredudébutd’unesecondeversion,duenonàl’inspecteurAlimaisàmoi.Mais

267 „’Kannessein...kannessein,dassmaneinesTagesseinHeimatlandverlässt,unddann...unddannruhig,schwel gerisch,wieaufUrlaubzurückkommt,soalswärenichtspassiertwährenddeinerlangenAbwesenheit,alshättedeine Heimatdich...dichnichtgebraucht?’Nochjetztkannichmichnichtgenauandaserinnern,wasichinjenerNacht tat.IneinpaarWorten,ganzklar,hattesiegeradedasThemaunddieBilanzformuliert.DasThemameinesBuches unddieBilanzmeinesLebens.Daseineverbandsichmitdemanderen,sounterschiedlichbeidewaren.Ichwar erlöst.“ 268 „DerAraber,woauchimmerersichbefindet,wirdimmermehrvonMächtengehetzt,aufdieerkeinenEinfluss hat.“ 269 „indennebensächlichstenDetails,mitunendlichvielgrößererKonsequenzalsdereinesRomans“ 165 lasourceabrusquementtari.“ 270 (97)DieStrukturderbeidenInspirationsmodelleistdabeibe merkenswert:DieMusenrolleFionaswirdoffenbarwenigeralsFremdbestimmungempfunden alsdieEinmischungdereigenenliterarischenKreatur,nämlichdesInspecteurAli.ImLaufeder HandlungwirddieUrsachedieserEinschätzungdeutlich:WährendFionasAnmerkungsichals SubstratdeswahrenLebensherausstellt,repräsentiertderInspecteurAlieineSeitedesliterari schenSchaffens,dieBrahimloswerdenwill.EristQuelleseinesfinanziellenErfolges(212),aber inderWahrnehmungBrahimskeine hoheLiteratur (118).DochBrahimglaubtessichschuldigzu sein,diesenZustandendlichzuändern.DerGolfkriegistKatalysatorfürdieEntwicklunghin zumauthentischenSchriftsteller: «Jeportecelivreenmoidepuisvingtcinqans,depuisquej’aiétésaisiunjourparles démons de ‘l’écrivanité’. Et il a fallu cette guerre du Golfe pour que je me mette en branle.L’écrivaindoitêtreuntémoin.[...]Jemedoisdefairemonmétier,aulieudefaire lepitreavecl’inspecteurAli.[...]Rienquedanscepays,monpaysnatal, lemien ,j’aicomp témillecentdeuxgeôlestombeaux.Etl’onn’acessédemefêter,enraisondemespolars inoffensifs.»271 (93f) DerInspecteurAlirepräsentiertalsozugleichdas,wasBrahimundseinerFamilieeinLebener möglicht,diefinanzielleSeitederLiteratur,unddas,wasdenLiteraturschaffendenvonderLite raturentfernt,dieBelanglosigkeit.BrahimmachtAlidafürverantwortlich,dasserseineArbeit nichttunkann,keinZeugefürdasseinkann,wassichinseinemLandabspielt.DerInspecteur AliistInbegriffderUnterhaltungsliteratur,dievomwahrenLeben,vomKriegundvondenMas sengräbernablenktundGegenstandeinerlächerlichenJahrmarktspossewird.InBrahimsKon zeptionsinddieseMotivedabeiinüblicherWeiseverbunden:Bestsellersindkeineguteoder– wieesspäterebenheißt–hohe Literatur.SiesindBroterwerb,abersievereitelndieeigentliche AufgabedesSchriftstellers,nämlichZeugezuseinfürdaswahreLeben.Insofernsinddiebeiden Modellekomplementär:FionasSatzistSubstratdeswahrenLebensundebendiesabzubildenist inBrahimsAugenvornehmsteAufgabedesernsthaftenSchriftstellers,derebenkein pitre ,kein Clownseinwill. EineleichteIroniekommtbereitsmitdemNeologismusder écrivanité insSpiel,zusammengesetzt aus écrire und vanité ,dasjasowohlEitelkeitalsauch vanitas ,VergänglichkeitsowiedasKlammern anscheinbarWichtigesbedeutet.AusdemZitatistdabeinichtklarerkennbar,obdiese écrivanité inhaltlichaufdasneueProjektoderaufdie polarsinoffensifs derVergangenheitzubeziehenist,ob

270 „EsgabschondenSchatteneinesAnfangseinerzweitenVersion,diesmalnichtvomInspecteurAli,sondernvon mirselbst.AberdieQuelleistaufeinmalversiegt.“ 271 „IchtragediesesBuchseit25Jahreninmir,seiticheinesTagesvondenDämonender‚ écrivanité’ gepacktwurde. UndeshatdiesenGolfkrieggebraucht,damitichmichinBewegungsetzte.DerSchriftstellermussZeugesein.[...] Ichbinesmirschuldig,meinenBerufauszuüben,stattmitdemInspecteurAlidenPossenreißerzuspielen.[...]Al lein in diesem Land, meinem Heimatland, meinem , habe ich 1102 Gefangenengruften gezählt. Und man hat nicht aufgehört,michfürmeinebelanglosenKrimiszufeiern.“ 166 dieFigurBrahimsalsosodargestelltwerdensoll,dasssiesichderironischenKomponente,diein diesemWortmitschwingt,bewusstist. Authentizität,LebenundZeugnis,solautetdieTrias,dieBrahimaufdernächstenEtappeseiner SuchenachderInspirationfürseinneuesBuchleitet.MitdiesemfängtauchderzweiteTeildes Romansan,derdenTitel Ilssontarrivés trägt.DieserTeilbeginntfolgerichtigamFlughafen,denn ils sindimvorliegendenFalldieSchwiegerelternBrahims. InderSchalterhallekommtesbeidieserGelegenheitzueinerBegegnungzwischenBrahimund demmarokkanischenKulturminister.LetztereristeineKarikatur,dienurinZitatensprichtund ständigaufderSuchenachdenFernsehkamerasist,umsichöffentlichinSzenezusetzen.Des halbkannsichauchBrahim,derpopuläreSchriftsteller,seinerZudringlichkeitnichterwehren,er versuchtvielmehrmitstupenderKulturlosigkeitdieKonversationaufeinMinimumzureduzie ren(110f).AufjedesliterarischeZitatdesKulturministersantwortetermit:„Quiestce?“oder einerähnlichenFloskel,dieeinenAustauschüberLiteraturunmöglichmacht:WasBrahimnicht kennt,darüberkannernichtsprechen.DochdaesdemKulturministernichtumInhaltegeht, sondernnurumdenmedienwirksamenAuftritt,dauertdasGesprächan,sodassderMinisterauf Susantrifft,diealsgeboreneLadyBainesTiffordnochinteressanteristalsBrahim. DerKulturministeristderInbegriffderfremden,sinnentleertenSprache.ZusammenmitSusan, dieganzamAnfangdesBuchesschonalseineFigureingeführtwird,dieohnePunktundKom maspricht,undderesebensowenigaufKommunikationankommt(19f),bildetderMinisterso dasaugenfälligeGegenbildzurInspiration,dieBrahimplötzlichinGestaltdessenilenSchwieger vatersJockereilt: «–Excusezmoi,disjeauministre.L’inspiration…,çam’asaisitoutd’uncoup… Et je pris un peu de distance, une vingtaine de pas, afin d’assister à l’événement dans toutesasplendeur.[...]L’événementsemanifestasouslaformedeJock.»272 (116) EsschließtsicheinevölligalltäglicheSzenean,inderderabsolutunpassendgekleideteSchwie gervater(„Deuxtricots,unveston,unpardessusenlainemunidesaceinture,par32°centigrades à l’ombre“ 273 ), einen Steward auf englisch beschimpft, dem er vorwirft, ihn an Bord um das WechselgeldfüreinezollfreierstandeneFlascheschottischenWhiskysbetrogenzuhaben.Der StewardverteidigtsichundnachderInterventionSusansstelltsichdieganzeSzenealsdemnicht mehr einwandfrei funktionierenden Gedächtnis Jocks geschuldet heraus, entlarvt durch einen Dialog,denJockmitseinerFrauSusanführt: «–Jock!Listen,Jock!disaitSusanlentement,avecuneextrêmedouceur[...].Jeprésume quevousêtessincèredansvosparolesquineconcordentpastoutàfaitavecvosactes.– 272 „’EntschuldigenSiemich’,sagteichzumMinister,‚dieInspiration...eshatmichganzplötzlichgepackt...’.Undich entferntemicheinwenig,etwa20Schritte,umdemEreignisinallseinemGlanzbeiwohnenzukönnen.[...]Das EreignistratinderFormJocksauf.“ 273 „ZweiStrickwesten,einJackett,einWollmantelmitpassendemGürtelunddasbei32°CelsiusimSchatten“ 167 Mais,machère,j’aibienacheté…–Non,Jock.Non.Neditespascelaàmoi,quisuisvo treépousedepuisquaranteans.Jepuisvoussuivredansvosillusionsjusqu’àunecertaine limite, mais ne me demandez pas de me noyer aveuglément dans vos troubles de mé moire.Cartoutestlàdansmonsac:lesbilletsdebanque,lacartedecrédit,lestraveller’s cheques [...]. Dans ces conditions, avec quoi auriezvous fait cet achat chimérique? Et où? sur un tapis volant entre Ispahan et Istanbul? – Je croyais… j’étais persuadé d’avoir…–Maisoui!maisoui,conclutSusan.»274 (119) IndiesemDialogwirddieErkennbarkeitvonAufrichtigkeitundErnsthaftigkeitthematisiert,wie ichsiebereitsinderDebattezwischenSearleundDerridanachgezeichnethabe.DieAufrichtig keitaufSeitenJocksist durchseine mehrfachen Beteuerungenmarkiert.DochdieSzenewird pathologisiert mit der Zuschreibungvon Gedächtnisschwäche. Es ist dabei relevant,vonwem dieseZuschreibungvorgenommenwird,nämlichvonSusan,dieimDialogmitdemKulturminis ter als Trägerin des kulturellen Gedächtnisses erkennbar wurde – der Kulturminister ist auch ganzhingerissenvonihr(120).DieseskulturelleGedächtnis 275 ,diesefleischgewordeneAnsamm lungvonZitaten(Minister)unddieseinkarnierteVerweigerungderKommunikation(Susan),hat aberdieEvidenzaufihrerSeite,dennwomithätteJockdenKauftätigensollen,wodieMittel dazudochinSusansHandtascheschlummerten. DochdaswahreLeben,dieRealität,diefürdenSchriftstellerderQuellderInspirationseinmüs sen,sindindieserSzenebemerkenswerterweiseaufSeitenJocksverortet.Erliefertdas événement , dasBrahimplötzlichpacktundvondemersagt:„Avecdureculetunpeudelevain,jetransfor meraitoutcelaenuneenquêtedel’inspecteurAli–etpeutêtrebienenhautelittérature.“ 276 (118) DieRealität,diedenSchriftstellerinteressiertunddieerbeobachtet,istdemnacheineandereals diederGegenständeundFakten.SieistverkörpertdurcheinenaltenMann,derseinGedächtnis nichtmehrimGriffhat,dersichaufäußereUmständenichtmehreinzustellenvermagunddes halbauchvielzuwarmangezogenist.DieseKonstellationistliteraturfähig–jetransfomeraitoutcela [...] en haute littérature – während der gelehrte Dialog zwischen Susan und dem Minister in der SprachederhohenLiteraturvonBrahimlinksliegengelassenwird 277 .

274 „’Jock!Listen,Jock!sagteSusanlangsamundganzsanft[...].Ichnehmean,dassIhreWorteaufrichtigsind,die abernichtganzmitIhrenHandlungenübereinstimmen.’‚Aber,meineLiebe,ichhabedoch...’‚Nein,Jock.Nein. SagenSiemirdasnicht,ichbinseit40JahrenmitIhnenverheiratet.IchkannIhnenbeiIhrenIllusionenbiszueiner gewissenGrenzefolgen,aberverlangenSienichtvonmir,michblindinihreGedächtnisverwirrungenzustürzen. DennallesisthierinmeinerTasche:dieBanknoten,dieKreditkarte,dieTravellerschecks[...]WomithättenSieunter diesenUmständendiesenangeblichenKauftätigenwollen?Undwo?AufeinemfliegendenTeppichzwischenIspa hanundIstanbul?’‚Ichdachte...ichwarüberzeugtdavon...’‚Aberja,aberja,’schlossSusan.“ 275 IchverwendedenBegriffimAnschlussandasgleichnamigeBuchvonJanAssmann(ASSMANN 1997)alsÜber bergrifffürStichwörterwieTraditionsbildung,Vergangenheitsbezug,politischeIdentitätbzw.Imagination. Kulturell heißtbeiAssmannsovielwieartifiziellundinstitutionalisiert.BeiChraïbiistdasdamitverbundeneKonzept(erver wendetjadenBegriffnicht)allerdingsdeutlichnegativergefärbt. 276 „MitAbstandundeinpaarIdeenverwandleichdasallesineinenFalldesInspecteurAli–undvielleichtsogarin hoheLiteratur.“ 277 Unterstrichen wird diese Lesart durch das einführende Zitat des Kulturministers, das er Flauberts Anhang zu BouvardetPécuchet ,dem Dictionnairedesidéesreçus (FLAUBERT 1881),entnimmt.SchonhierwirdGelehrsamkeit,wiesie 168 DieInspirationfürdieeigentlicheLiteraturwirdindieserSzenedemnachmiteinemGedächtnis verlustenggeführt.Dabeiistdiesernichttotal,eristnurein troubledemémoire .DurchseineFlan kierungmitdemtopischenkulturellenGedächtnis,dasSusanundderMinisterverkörpern,wird ervielmehrzueinerBefreiungvondiesenTopoi,zueinerSehnsuchtnachdereigenenSprache– auchwennsichdieseimvorliegendenFallmitderWirklichkeitnichtzurDeckungbringenlässt– vosparoles[...]neconcordentpastoutàfaitavecvosactes . DesweiterenwirdhierschondieBlindheitantizipiert,dieimSchlusssatzeinesogroßeBedeu tunggewinnt:alsunvermeidlicheBeiordnungzurabsolutenKlarheit(219).Mitdieserblendenden Klarheit,ichhabedaraufobenbereitshingewiesen,endetderText.Deshalbmöchtesicheineso eloquente Frau wie Susan auch diesem Strudel entziehen – ne me demandez pas de me noyer a veuglémentdansvostroublesdemémoire –dennerwürdedenVerlustderSprachebedeuten,diefürsie als konstitutiv erscheint, wenn auch nicht als Kommunikationsmedium. So lässt sich auch die SchereimUmfangdereinzelnenReplikenzwischenSusanundJockerklären:Susanbeherrscht dieSpracheundsetztsieausgiebigein,währendJocknurkurzeundunzusammenhängendge stammelteSätzebleiben.DieserEindruckwirdimFortgangdesRomanserhärtet,indemJock immerschweigsamerwirdundSusanimmermehrredet.DochauchderFokusderschriftstelleri schenAufmerksamkeitbleibtbestehen:DerschweigendeJock(z.B.147152)wirdintensivge schildert,währenddieplauderndeSusanmitknappen,wennauchnichtmissbilligenden,Zusam menfassungen ihrer intensiven und ausführlichen Gesprächsgestaltung beschrieben wird (z.B. 141,144). EsergibtsicheineEntwicklung,inderzunächstSpracheundLebeneinanderangenähertwerden (ReplikFionas),dannabererkanntwird,dassSpracheundLebenauseinanderfallen(Szeneam Flughafen). Ein Grund dafür ist die Belastung der Sprache durch Zitathaftigkeit. So kann ein amnestischeralterMann zumpositivenGegenbildeinerfloskelhafterstarrtenSprachewerden. DieseBewegungsetztsichweiterfort.BeimgemeinsamenAbendessenergreiftdieInspiration erneutBesitzvonBrahim: «Demoncerveaupensantoudemoncorps,quidesdeuxétaitsubmergéparl’inspiration créatrice–cettepetiteclartéquiaveuglaitlesmotsetquej’avaisenvaincherchée, pa tiemment,tenacement,depuislejouroùj’avaisentreprisd’écrirele SecondPassésimple ?Si tunesaispascequis’estpasséavanttanaissance,turesterastoujoursunenfant .Voilàlaphraseclé, voilàlethémeprofond!278 (135)

derKulturministerverkörpert,zumInbegriffdeskulturellenSedimentsderSprache:zumGemeinplatz,dereinfach nurnochtopischadressiertwerdenkann(110). 278 „MeindenkendesHirnodermeinKörper,einsvonbeidenwurdevonderschöpferischenInspirationüberflutet– diesekleineKlarheit,diedieWorteblendetunddieichumsonstgeduldigdochhartnäckiggesuchthatte,seitdem Tag,andemichmichentschlossenhatte LesecondPassésimple zuschreiben. Wenndunichtweißt,wassichvordeinerGeburt zugetragenhat,wirstduimmereinKindbleiben .DaswarderSchlüsselsatz,dasgrundlegendeThema.“ 169 EinweiteresMalwirddieInspirationbzw.dieErkenntnismitdemBildderblendendenKlarheit beschrieben.Siemündethierindenetwaskryptischen,kursivgesetztenSchlüsselsatz,derdann einenSinnergibt,wennmanihnimZusammenhangmitderSuchedesSchriftstellersnachseiner eigenenSpracheliest:Manmuss–vielleichtließesichhinzufügen:alsSchriftsteller–vordieei gene Erfahrung zurückgehen, um dem unmündigen Status des Kindseins zu entwachsen. Was genaudasheißt,wirdinderunmittelbarenFolgedesZitatsklarer: «DerrièrelesSaddamHusseinetautresroisquioccupaientledevantdelascène,bien avanteuxilyavaiteuunautrepersonnage,considérable:leprophèteMohammed.Que oui!Ilétaitnostenantsetnosaboutissants.Ilmefallaitleressusciter,levoir,l’entendre, lecomprendre–etlecomprendreencettemisérablefindesiècle.Ilmefallaitdésappren dretoutcequ’onm’avaitapprisdansmonenfance,rejeterl’hagiographie,leslégendeset lesmythes–retrouvermaproprelangue,quin’étaitnicelledemamèrenicelledemon père.»279 (137f) HiertauchtnunzumerstenMalwörtlichdasMotivdereigenenSpracheauf.DieSuchenachihr bestehtimVergessendessen,wasBrahimvonseinenElternundauchvomkulturellenGedächt nis,vonKonventionundTraditiongelernthat–l’hagiographie,leslégendesetlesmythes .DieFaszina tionfürdengedächtnisschwachenJockbekommtsoeineandereNote,nämlicheinederFreiheit vonäußerenZwängen,diedaseigene,authentischeSeinverfälschen.DieAufgabedesSchriftstel lerswares,ZeugnisabzulegenunddasgehtfürBrahiminauthentischerWeisenur,wennman sichvomBallastbefreit,deraufderSprachelastet.DieserBallastfindethierauchzumerstenMal AusdruckimBildderSprachederEltern. PositivesGegenbildwirdandieserStelleinteressanterweiseMohammed.DerProphetwirdzum ZielpunktderBemühungenBrahimsumseineeigeneSprache.Dasistumsoüberraschender,als jenernichtgeradealseinkreativerSprachschöpfergeltenkann.EristjaMittlerfürdiegöttliche Botschaft,ihmwirddieSprachevonGotteingegeben.DerKorangibtüberdenStatusderSpra che,ausdererbesteht,anmehrerenStellenAuskunft. „EuerLandsmann(d.h.Mohammed)istnichtfehlgeleitetundbefindetsichnichtimIrr tum.Undersprichtnichtaus(persönlicher)Neigung.Es(oder:Er,d.h.derKoran)ist nichtsanderesalseineinspirierteOffenbarung.Gelehrthatesihneiner,derübergroße Kräfte verfügt, und dem Festigkeit eigen ist. [...] Und er gab seinem Diener (d.h. Mo hammed)jeneOffenbarungein.Waser(soleibhaftig)gesehenhat,haternichtetwasich selbervorgelogen[...].“(Sure53, DerStern ,26u.10f) 280

279 „HinterdenSaddamHusseinsundanderenKönigen,dieimVordergrundderAufmerksamkeitstanden,weitvor ihnenhatteeseineanderePersongegeben,einebemerkenswertePerson:denProphetenMohammed.Aberja!Er repräsentierteunsereGrenzen.Ichmussteihnwiedererwecken,ihnsehen,ihnhören,ihnverstehen–ihnandiesem armseligenJahrhundertendeverstehen.Ichmusstealldasvergessen,wasmanmiralsKindbeigebrachthatte,die Hagiographie,dieLegendenunddieMythenzurückweisen–meineeigeneSprachewiederfinden,diewederdiemei nerMutternochdiemeinesVaterswar.“ 280 IchzitieredenKoraninderÜbersetzungvonRudiParet,Stuttgartu.a.(Kohlhammer),8.veränd.Aufl.2001. 170 Mohammedsprichtalsonicht aus(persönlicher)Neigung ,sondernerwiederholt,wasGottihm einge geben hat.GleichzeitigisteraberdennochAugenundvorallemOhrenzeugederOffenbarung. WennderProphetalsonichtselbstSchöpferist 281 ,wirdgleichwohlanmehrerenStellendarauf hingewiesen,dassniemandingleicherWeiseinderLagegewesenwäre,denKorandemVolkzu übermitteln: „Odersie(d.h.dieUngläubigen)sagen:‚Er(d.h.Mohammed)hatihn [denKoran,B.S.] (seinerseits)ausgeheckt.’Sag:DannbringtdocheineSurebei,dieihmgleichist,undruft, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt, an, wen ihr an Gottes Statt (als Zeugen für die WahrheitderAussageaufzutreiben)vermögt.“(Sure10, Jonas ,38) MitdemgöttlichenUrsprungdesKoranswirdgleichzeitigabgewehrt,dassereinfachnureine AnsammlungderGeschichtenderVorfahrenseinkönnte: „Undsie(dieUngläubigen,B.S.)sagen:‚(Essind)dieGeschichten(?)derfrüheren(Ge nerationen),dieersichaufgeschriebenhat.Siewerdenihmmorgensundabendsdiktiert.’ Sag:(Nein!)Derhatihnherabgesandt,der(alles)weiß,wasimHimmelundaufErden geheimgehaltenwird.“(Sure25, DieRettung ,5f) EsgibthiergewisseParallelenzumOffenbarungsaktimpoetischenKonzeptBrahimOrourkes: EsfindetsichdasgleichezentraleMotivwieder,nämlichdieAbkehrvomkulturellenGedächtnis, bzw.vonden GeschichtenderfrüherenGenerationen .WederderKorannochdieguteLiteraturstützen sich auf einen kulturellen Wissensschatz, deshalb können sie auch von niemandem besser ge schriebenwerden.ImFalldesKoransistgarGottselbstderZeugedessen,wasaufgeschrieben wird.DieseEntstehungverbürgtindiesemModellhöchsteAuthentizität.DerSchriftstellerhat sichnachBrahimsVorstellunggenauandiesemModellzuorientieren.DieInspirationkommt auseinergöttlichenSphäre,derSchriftstelleristnurÜberbringer.VonderGenieästhetikistdiese Konzeptiongleichwohlgrundlegendunterschieden,dennMohammedistjakein Besessener (d.h. auchkein Dichter ).DieInspirationistkeinewilde,sonderneineehernüchterne.DasWortdirekt vonGottzuempfangen heißthiervorallem:es nichtvondenVorfahrenzu empfangen.Die Masse der Ungläubigen argumentiert gerade, dass Mohammed ihnen die Offenbarung doch in arabischerSpracheübermittelt(Sure16, DieBiene ,103105)unddasssiedeshalbdochnichtgött lichenUrsprungsseinkann.ZusammenmitderbereitszitiertenPassageausSure25zeigtdiese Stelledemnach,dassderZweifelausdemAnscheingespeistist,dieSpracheundderInhaltseien vonMenschengemacht,ihregöttlicheProvenienzseiAnmaßung.AufdiesenZweifelkannder religiöseTextnatürlichstetsmitdemGlaubenandieZeichenGotteskontern.

281 DieBezeichnungMohammedsals Besessener oderals Dichter (wasinderarabischenTraditionkeinenUnterschied macht)wirdalsUnglaubegeächtet.Vgl.Sure52, DerBerg ,29f. 171 DemSchriftstelleristdieserAuswegaberversperrt.ErmusssichderTatsachestellen,dassSpra cheniemalsfreiseinkannvonZitatenundgeschichtlichenSedimenten 282 .DieBezugnahmeauf dieOffenbarungssituationkannfolgerichtigfürBrahimeinzigeineutopischeFunktionerfüllen. DasVergessenbleibteinunerreichbarerFluchtpunktaufseinerSuchenachdereigenenSprache. DieswirddurchdasEindringendes InspecteurAli inBrahimsernsthaftesBuchdeutlich.Jenertut diesnichtinirgendeinerGestalt,sonderninderempörendenUsurpationderRolleMohammeds. IneinerTextpassage,diezunächstnichtverrät,werdieauftretendenFigurensind,kommtein Schriftsteller,dersichalsMohammedvorstellt,insBüroeinessaudischenVerlages.SeinManu skriptistvomVerlagslektorgeprüftwordenundwirdineinerkurzenUnterhaltungrechtwohl wollendbeurteilt–biszurentscheidendenFrage: «–Etqueltitreluidonnezvous [aulivre ,B.S.] ?–LeCoran, ditMohammed. L’inspecteurAlipartitd’unimmenseéclatderire.Ilsetenaitlescôtes,ilenpleurait.Ils’essuyalesyeux avecsongrandmouchoiràcarreauxetregardaleparterredepolicierssaoudiens.Aucund’euxnes’était associéàsagaieté.»283 (CHRAÏBI 1991,209) Nur aufgrund seiner erfolgreichen Ermittlungsarbeit, so erfahren wir noch, wird der fröhliche InspektorandieserStelledesTextsimTextnichtineinsaudischesGefängnisverfrachtet.Die HeiterkeitinjenemText,derja,dasdarfmannichtvergessen,einProduktBrahimsist,isteinsei tig.EinweiteresMotivfürdieFeindschaftdesSchöpfersseinemkapriziösenGeschöpfgegen überscheintandieserStelleauf,dennInspecteurAlilachtjagewissermaßenüberdenZusam menbruchdesvonBrahimmitsovielErnstverfolgtenWegeszumguten,verantwortungsvollen Schriftsteller.DerInspecteurmachtausgerechnetdasBuchzumZitat,das,wieichgeradeerläu terthabe,alseinIdealbildfürBrahimsSuchenachdereigenenSprachegeltenkann:denKoran. MitdieserSzenekündigtsichdasScheiternBrahimsanseineneigenenAnsprüchenan.Derdritte TeildesRomansführtwegvonderbisdahinvorhandenenAmnesiedesProtagonisten.Ermuss sicherinnern.DiesesErinnernhat,wennmandie miseenabyme desSchreibprozesses,wiesiein L’inspecteurAli durchgeführtwird,zurKenntnisnimmt,ebenkeineabbildendeFunktion,essoll nichteinfachdieHinwendungdesAutorszuirgendwelchenkulturellenWurzelno.ä.symbolisie ren. Die zurückkehrende Erinnerung lässt sich auchals das letztendliche Scheitern Brahims in seinerSuchenachdervonfremdenElementenfreien,dervollkommeneigenenSprachebegrei fen–undwieichgezeigthabe,gibtesdafüreineganzeReihevonAnhaltspunktenimText. AuchderTiteldesletztenAbschnitts–L’auteur –stütztdieseInterpretation.Erweistoffenkun digschonansichaufdasThemahin,dashierfürdieInterpretationdesRomansstarkgemacht werdensoll.DocherstehtaußerdemineineminteressantenZusammenhangmitderSzene,in

282 Vgl.hierzuz.B.nocheinmalBUTLER 1997,46f. 283 „’UndwelchenTitelgebenSieihm(demBuch,B.S.)?’‚ DerKoran ’,sagteMohammed.InspecteurAlibrachin schallendesGelächteraus.ErhieltsichdieSeiten,erlachteTränen.ErwischtesichdieAugenmitseinemgroßen, kariertenTaschentuchabundsahdasVolkdersaudischenPolizistenan.KeinervonihnenteilteseineHeiterkeit.“ 172 derzumletztenMaldasBollwerkdesVergessensfunktioniert,einerfolgenschwerenBegegnung imGartenderFamilieOrourke: «Lavoitures’arrêtadevantlagrille,rutilanted’enjoliveursetdechromes.Endescendirent unepetiterousseetunedouairièreimposante,leregarddroit,ledosraide.Parcheminée, lalèvresupérieurestriéederidesverticales.Elleavaitleschevillessifinesquejemede mandaivaguementcommentellespouvaientsupportertantdepoidsetd’autorité.[...]Je dis:‘Salut!Entrezdonc.Faitescommechezvous.’Mamaisonestouverteàtoutuncha cun,hospitalièreselonlaloidupays.[...]Bieninstalléesurledivan,elleemplissaitlesalon, d’unmuràl’autre,parsaseuleprésence.»284 (203ff) DieunglaublichePräsenz,dieWürdeundAutoritätdieserDamestehenindiesemAbschnittganz im Vordergrund der Diegese. Erstaunlich ist nur, dass eine solche, offenbar sehr gut situierte Dame–siefährtineinemamerikanischenWagenmitChauffeurvor–imGartenBrahimsauf taucht,dochniemandsiezukennenscheint.AufdieFrageFionas:„Quiestce?“antwortetBra himnur:„Jen’ensaisstrictementrien.“ 285 (206) DieDamescheintaußerdemziemlichvielzureden,dochmanerfährtdiesnurineinerZusam menfassung,esgibtkeinenDialoginwörtlicherRedezwischenihrundBrahim.Schließlichbittet siediesenumetwasGeldfüreineWallfahrtnachMekka,docherlehntmitdenWortenab:„Non madame.Jenesuispasencoremort.“ 286 (206)DieDameerhebtsichundverschwindetinihrer elegantenLimousine.DieseBegegnungbleibtdemLeserbiszumEndedesBucheseinRätsel. DerBesuchscheintjedochdietreueSaadiya–dieHaushälterinBrahims–sehrmitzunehmen,sie gehtBrahimabhierausdemWeg(216).DieDame,überderenIdentitätBrahimsogarnichts weiß,istseineMutter. WennmansichnunandieprogrammatischeEinführungdesVergessenserinnert,stößtmanauf dievonmirbereitsangeführteFormulierungdesErwerbseinereigenenSprache–„retrouverma proprelanguequin’étaitnicelledemamèrenicelledemonpère.“(138)BeiBrahimhältdieses VergessenseinerKindheitunddamitnatürlichauchvon„toutcequ’onm’avaitapprisdansmon enfance“(138)denganzenRomanüberan.Ervergisstaußerdemnichtnurdas,wasMutterund Vaterihmbeigebrachthaben,ervergisstsieselbst.IhreSpracheistbuchstäblichausgelöschtund kannsomitauchnichtinwörtlicherRedeerscheinen.DieAutorität,diemitderSprachederEl ternverbundenist,isthingegennocherhalten,dieraumfüllendeGestaltderMutterbeweistes. DochsiehatkeinezwingendeWirkungmehraufBrahim,erkannihrerBittetrotzen. 284 „ Das Auto hielt vor dem Gartentor mit glänzenden Verzierungen und Verchromungen. Ihm entstiegen eine kleine Rothaarige und eine würdige, imposante Dame, Blick starr nach vorne gerichtet, den Rücken gerade. Die OberlippewarwiePergamentundvonsenkrechtenFaltendurchzogen.SiehattederartigschmaleFußegelenke,dass ichmichkurzfragte,wiesiesovielGewichtundAutoritättragenkonnten.[...]Ichsagte:‚Hallo!TretenSieein.Füh lenSiesichganzwiezuHause.’MeinHausstehtjedemoffen,esistgastfreundlich,ganznachderTraditiondes Landes.[...]AlssiesichaufdemSofaniedergelassenhatte,fülltesiedenRaumvoneinerWandzuranderenallein durchihreGegenwart.“ 285 „IchhabenichtdieleisesteAhnung.“ 286 „Nein,Madame.Ichbinnochnichttot.“ 173 DamitverprellterdieMenschen,fürdieSaadiyaalsBeispielsteht,diejenigenalso,dieinderTra ditionfestverankertsindundfürdieesklareVerhaltensmustergibt,dieeingehaltenwerdenmüs sen,auchwennsievonaußenunreflektiertundkindlicherscheinenmögen 287 .DerVerlustseiner Familie – «Elle [Saadiya, B.S.] faisait partie de ma vraie famille: celle de l’esprit.»288 (24) – ist demnachdieKonsequenzseinerAuslöschungsarbeitanderfremdenSprache.DieIdylle,dieer mit Kindern, Frau, Freunden und Schwiegereltern darstellte, erleidet durch diese Szene einen nichtmehrzuheilendenSchaden.Esscheint,alsseiesnichtmöglichnurdasanVergangenheit auszuradieren, was einem nicht gefällt, nur das an Beeinflussung wegzunehmen, was einen in seinerFreiheiteinschränkt.DerVerlustdesGedächtnisses,derwillentlicheVerzichtaufMutter undVaterundalles,wassieeinembeigebrachthaben,hatauchEffekteaufdas,waseigentlich verschontwerdensollte: lavraiefamille,celledel’esprit . Doch die mise en abyme reicht noch weiter. Der Satz, mit dem Brahim seine Mutter abweist, scheintzunächstkeinenSinnzuergeben: Nonmadame.Jenesuispasencoremort .Wiesosolltedie Tatsache seinesTodes etwas daran ändern, dass eine offenkundig fremde Frau kein Geldvon ihmfüreineWallfahrterhält?LiestmandiesenSatzallerdingsparallelzumParatext,erschließt sicheineweitereBedeutungsebene.DennderAbschnittheißt L’auteur ,derVerweisaufdeneige nenTodwirddamitzumZitat: Lamortdel’auteur ,derAufsatzRolandBarthes’,deramAnfang sowohl meiner Betrachtungen als auch der wissenschaftlichen Debatte um die Autorinstanz stand,wirdhier aufgerufen. In dieser LesartwirddieWeigerung zu einem letztenAufbäumen gegendasScheiternanderSuchenachdereigenenSprache.SolangederAutornochnichttotist, besitzterdieseSprachenämlichnoch,eristnochinderkomfortablenPosition,diedieKontrolle überdenSinndesTexteserlaubtunddieBarthesinseinerPolemiksovehementangreift.Wenn somitBrahimsÄußerung,erseinochnichttot,alsmiseenabyme gelesenwird,dannheißteseben auch,dassderAutorsichnochgegendie„KondensierungeinerIterabilität,diedenAugenblick ihresGeschehensübersteigt“(BUTLER 1997,27),wehrt.Erwehrtsichnochgegendie„konden sierteGeschichtlichkeit“(12)derSprache,gegendie„ErbschaftihresGebrauchs“(46),erglaubt nochandieMöglichkeitihrerPersonalisierungundKontrolle.

287 BrahimweißdiesenZugSaadiyasamAnfangdesRomanssehrwohlnochzuschätzen,alssiesichnachseiner Eröffnung,dassFionaschwangerist,nichtimZaumhaltenkann.DochdaerFionaversprochenhat,niemandem von der Schwangerschaft zu erzählen, darf Saadiya ihrer Freude nicht freien Lauf lassen. Der erste Instinkt wird dadurchgebremst,dassBrahimihrdenMundzuhält.DochdannbeginnterstdieSzene,dennSaadiyakanndieMa nifestationihrerGefühlenichtzurückhalten:«Pourelle,c’étaitunenécessitévitale,irresistible.[...]Dixbonnesminu tesdurant,elletourna,erra,dansad’unpiedsurl’autre[…]etpuisellefonçadanslachambredesenfants,fermales volets,enfouitsatêtesouslescouvertures–etcefutlà,àl’abriduvoisinage,qu’ellelançasesyouyousséculaires[…]. Ellen’enpouvaitplus.»(25f)–„FürsiewareseineLebensnotwendigkeit,unwiderstehlich.[…]GutezehnMinuten lang,drehtesiesichhinundher,wusstenichtwohin,tratvoneinemFußaufdenanderen[...]unddanneiltesieins Kinderzimmer,schlossdieFensterläden,steckteihrenKopfunterdieDecken–unddort,geschütztvordenNach barn,setztesiezuYouyousan,wiemansienurallehundertJahreeinmalhört.[...]Siekonntenichtmehr.“ 288 „Sie[Saadiya,B.S.]warTeilmeinerwahrenFamilie:derdesGeistes.“ 174 DieVerantwortungverlierterdabeiausdenAugen,dennwieim Hippolytos istdieSzenezwischen BrahimundseinerMuttereinederUnschuldandengeradezugefügtenVerletzungen.Auchauf Brahim passt die Replik Hippolytos’: Die Zunge nur, der Geist hat nicht geschworen . Wie sollte der Geistauchschwören,wennersichvonderErinnerungfreigemachthat.Dochfürebendieses Verdrängender ErbschaftdesGebrauchs derSprache,dieinseineneigenenWortenmitdenEltern aufs Engsteverbunden ist (CHRAÏBI 1991, 138), trägt Brahimeben doch dieVerantwortung – undsiewirdihmvonSaadiyaauchaufgebürdet. Mapremièreconférence–DieRezeption Neben dem Weg des Literaturproduzenten thematisiert Chraïbi in seinem Roman außerdem nochdieRezeptionvonLiteratur.WieeinPopstarwirdderSchriftstellerBrahimOrourkeemp fangen,alserzuseinererstenuniversitärenVeranstaltungkommt.DieseVeranstaltungistdes halbinteressant,weilderSchriftsteller alsProduzent ziemlichimHintergrundbleibt.Erstehtei gentlichnurfürFragenzurVerfügung,hataberkeinVortragsmanuskriptvorbereitet–sehrun gewöhnlich für einen akademischen Auftritt. Stattdessen wird von einer Wissenschaftlerin ein Vortrag überihn gehalten. DochdiesemgiltnichtdievordringlicheAufmerksamkeit.DerrelativlangeAbschnittdrehtsich hingegenvorallemumdieTatsache,dassBrahimerstsehrdurstigunddannsehrhungrigund eigentlich die ganze Zeit dabei ist, über diese körperlichen Bedürfnisse nachzudenken und sie schließlichauchzubefriedigen:Erbringtden doyen derFakultätdazu,ihmeinSardinensandwich zubesorgen,daservordemPlenumverspeist,bevordieBefragunglosgeht.DiesesVerhalten rückterselbstindieNähedesVorgehensseinerRomanfigur:„C’estcequefaittoujoursmon héros avant de commencer une enquête. Il mange. Mon premier livre s’intitulait d’ailleurs: L’inspecteurAlisemetàtable .“ 289 (73) DeutlichesZielderKonferenzistes,das–inderEigenperspektivetriviale–SchaffenBrahims zurgroßenLiteraturzustilisieren.DieBegrüßungswortedesDoyenssinddemzufolgeauchganz daraufausgerichtet,denfinanziellenErfolgalskünstlerischenauszuweisen.DasSchweigender Wissenschaftüberihnwirdalswenigerschlimmdargestellt,immerhinsindseineBücherjaver filmtworden «à la différence des ouvrages d’autres écrivainsmaghrébins d’expression française aux quelsontétéconsacrés despavésdanslapresseetquantitédethèses,dontunedemi douzainededoctoratsd’État!Jepensenotammentà LaCivilisation,mamère ouau Passé simple de…de…jel’aisurleboutdelalangue…Jeluisoufflaiobligeamment:–Tahar 289 „GenaudiestutauchmeinHeldimmer,bevorereineUntersuchungbeginnt.Erisst.Deshalbhießmeinerstes Buchauch: InspecteurAligehtzuTisch .“ 175 BenJelloun.–TaharBenJelloun,s’écriatil.Merci. LePassésimpleet LaCivilisation,ma mère ne seront jamais sans doute portés à l’écran. Et pourquoi cela? Parce qu’ils ne se vendentguère.Etpourquoinesevendentilspas,contrairementaux Enquêtesdel’inspecteur Ali ?»290 (70f) DieAntwortaufdieletzteFrageerhaltenwirnichtmehr,dennBrahimunterbrichtdieseArgu mentationmitdemHinweisaufseinenHunger.DeutlichwirderneutdieEntgegensetzungvon finanziellem Erfolg undguter Literatur,wenn der Doyen sie auch zuverwischenversucht: Es gibtBücher,diesichverkaufenunddeshalbverfilmtwerden,undesgibtBücherdiesichnicht verkaufenundüberdiehöchstenseinegroßeMengeanDissertationenverfasstwird.DieKarika turdesUniversitätsbetriebsistoffenbar:derWissenschaftlerscheintdieVerfilmungenalsgröße renQualitätsbeweiszuschätzenalsdieDissertationen,obwohlerdochinstitutionellmitdiesen verbunden ist. Brahim erspart ihm durch seinen profanen Wunsch nach einem Sandwich die schonimAnsatzzweifelhafteDemonstrationderVereinigungvonGeldundQualität. Dies unterstreicht seinen eigenen Zwiespalt, der sich an einer anderen Stelle besonders heftig manifestiert:BrahimsalgerischesKontoistüberzogenundertelefoniertmitFrankreich,umsich nachdemStandseinerdortigenFinanzenzuerkundigen.ErerfährtvonderExistenzeinerun glaublichhohenSumme,dienichtalleineseinenTantiemengeschuldetseinkann:„Ilyaeudes rentréesdedroitsd’auteur.Etpuis,débutaoût,lorsdel’invasionduKoweïtparl’Irak,j’aireçu desdirectivesdelapartdevotreépouse.J’aiachetéquelquespaquetsdetitres,etjelesaireven dusàlafindelaguerreduGolfe. 291 “(179)GenauwieindenvonmirschonangeführtenSzenen zumStellenwertderKriminalromane–despolarsinoffensifs –wirddasGeldauchhierzumTräger derUnmoral.DieethischeVerantwortungsuchtBrahiminderFolgejainseinemernsthaften Text Lesecondpassésimple .DieseOppositionwiederholtsich,wiewirgesehenhaben,aufderKon ferenz: LePassésimple –TaharBenJellounzugeschrieben–wirdzumInbegriffderzwarfinanziell nichtlohnenden,dafüraberernsthaftenLiteratur,überdiemanDissertationenverfassenkann. DochdieKonferenzlässtdieseOpposition,dievondembegrüßendenProfessorinsokarikatur hafterWeiseunterstrichenwird,nichtstehen.DennBrahimwirdbeidemVortragderVizepräsi dentinderFakultätaufdieRezeptionsabhängigkeitvonLiteraturaufmerksam: «Cefutalorsunedécouvertedemoimême,del’hommequej’étaiscenséêtreetqui,des décenniesdurant,s’étaitcachéderrièrel’auteurdes Enquêtesdel’inspecteurAli .Quiplusest,

290 „’imGegensatzzudenBüchernanderermaghrebinischerSchriftstellerfranzösischerSprache,denenTonnenvon PresserezensionenundeinegroßeAnzahlvonwissenschaftlichenArbeitengewidmetwurden,unterihneneinhalbes DutzendanDissertationen!IchdenkenamentlichanLaCivilisation,mamère oderan LePassésimple von...von...es liegtmiraufderZunge.’Ichraunteihmbeflissenzu:‚TaharBenJelloun.’‚TaharBenJelloun’,riefer.Danke. LePassé simple und LaCivilisation,mamère ,werdensichernieverfilmtwerden.Undwarum?Weilsiesichschlechtverkaufen. Undwarumverkaufensiesichnicht,imGegensatzzuden Enquêtesdel’inspecteurAli ?’“ 291 „EsgabEinkünfteausAutorenrechten.Undschließlich,AnfangAugust,währendderInvasionKuwaitsdurch denIrak,habeichAnweisungenvonIhrerFrauerhalten.IchhabeeinigeAktienpaketegekauftundsiebeiEndedes Golfkriegeswiederverkauft.“ 176 cetauteurlà,venuàlalittératureàlasuited’unparistupide,étaitentraind’acquérirune dimensionàlaquellejenem’attendaispaslemoinsdumonde,monéditeurnonplus,je croisbien[...].Moi?Moi,porteurdetantdemessage?»292 (77f) Wieichobengezeigthabe,wirddieseineLeitfragevonBrahimsSuche: Moi? Erversuchteine persönliche Sprachezufinden,eine,die nurihn ausdrückt,mitdererseinerganz persönlichen Verant wortunggenügenkann.AbsurderweiseträgtdasBuch,mitdemBrahimdiesesZielerreichenwill –unddaswirdinderSchilderungderKonferenzoffenbar–alsTitelabereinZitat.DerProta gonistundSchriftstellerBrahimorientiertsichalsoaneinemMuster,woerdochgeradeaufMus terverzichtenwollte.DarumstehtamWendepunktdiesesProjektsauchdieFigurMohammeds, diealseinzige,mitdemZeugnisGottesausgestattet,Anspruchdarauferhebenkann,eine ganz neue Sprachezuverkünden.FreilichistdieseSprachedieSpracheGottesundfreilichistdessen Zeugniskein Beweis derOriginalität.DerBezugaufGottrepräsentiertvielmehrdieEntrückung derFragenachdemUrsprungderSpracheinuneinholbareFerne.Gottbeweistnicht,erverlangt Glauben. Analog glaubt Brahimhiernochandas Moi : Moi,porteurdetantdemessage? DerFortgangdesRo manszeigtihmjedocheineandereVariantederErklärungdieserseinenWerkenbeigemessenen Bedeutung,nämlichdenStellenwertderRezeption.Nicht er trägtdieBedeutung,d.h.nicht er legt sieineinemschöpferischenAktindenganzpersönlichensprachlichenAusdruck,sondernder Text,dieSpracheselbstisteinReservoir detantdemessage ,dasunterverschiedenenRezeptionsbe dingungenverschiedenaktualisiertwird 293 . DerSiegderrelativenAutonomiedesTexteswirdimRomandargestelltdurchdieUnmöglich keit,denInspecteurAliloszuwerden.DieserusurpiertzunächstdieRolleMohammedsundfügt demTextdadurcheinweiteresZitathinzu.InderobenzitiertenPassagewirdjanichtdeutlich, worumessichbeidemeingereichtenManuskripteigentlichhandelt:umeine eigene Produktion oderumeine Abschrift desKorans.BeidesistdenkbarundgeradedieUnsicherheit,inderder Leser diesbezüglich gelassen wird, illustriert die Unentscheidbarkeit in Bezug auf Originalität. SelbstimKorangibtesjaimmerwiederdieMassederUngläubigen,dienichtandengöttlichen Ursprung des Textes glaubt, da Arabisch doch eine menschliche Sprache und nicht diejenige Gottessei(Sure16, DieBiene ,103). Doch der Inspecteur tritt nicht nur blasphemisch an Mohammeds Platz, sondern auch an die StelledesAutors:

292 „EswareineSelbstentdeckung,dieEntdeckungeinesMannes,derichseinsollte,unddersichüberdieJahrzehn tehinterden Enquêtesdel’inspecteurAli versteckthatte.UndaußerdemwardieserAutor,derdurcheinedämliche WettezurLiteraturgelangtwar,geradedabeieineDimensionanzunehmen,aufdieichnichtimgeringstenvorberei tetwar,auchmeinVerlegernicht,möchteichmeinen[...].Ich?IchsollteTrägeralldieserBedeutungsein?“ 293 AndieserStelledesRomansistBrahimimSinneFoucaultsnocheinehomogenisierendeKlammerseinesGe samtwerks.Vgl.erneutFOUCAULT 1969,21. 177 «[...]cetinnomableouistitiprenaittropdeplace,avaitfiniparinfléchirmanature.Ilal lumaitcigarettesurcigarette.Etjel’avaisimité.Ilavaitunebronchitechronique.Moiaus si.J’avaisadoptésonlangaged’ânier.C’étaitluiquipensait–etnonplusmoi,l’auteur. Quiagissaitenmonnom.»294 (CHRAÏBI 1991,211) DiesistdiezweitetheoretischeMöglichkeit,sichvonderSprachezulösen:manersetztsiedurch dieWirklichkeit.DerInspecteurAli,literarischesundsomitsprachlichesGeschöpf,gleitetinden wirklichenAutorundhandeltanseinerstatt.DochdieErsetzungvonWirklichkeit/Lebenund Literatur/Sprachewurde ja schon ganz amAnfangvon Brahimverworfen – als er den ersten Planvernichtete,weilerdurchdieWirklichkeitsovielbesserausgeführtwordenwar,alsesjeder Romanvermöchte(102). DerDreischrittderEntwicklungBrahimslautetalso:Wirklichkeit/Leben–Glauben–Text.Der Text–einederInkarnationendesInspecteurAli–istallpräsent.ErvereiteltdieVersucheBra hims,dieeigeneSprachedurchAnnäherungandiebeidenerstenTermedesDreischrittszufin den.DieseVereitelungwirdflankiertvondenErkenntnissenaufderKonferenz,diegleichzeitig inparadoxerWeiseeinenderAuslöserfürdieSuchebilden.Brahimwirdhierdemonstriert,wie TextaußerhalbdesAutorswirkt.Daskannteilweiselächerlichsein–wieimFallederBegrü ßungsrede – es kann auch so sein, dass man den eigenen Text nicht mehr wiederzuerkennen glaubt–wieimFalledesVortragsderVizepräsidentin.EsbleibtjedenfallsdieErkenntnis,dass der vermeintlich selbst generierte Sinn nicht festgehalten werden kann, dass der Autor seinen Textnichtregiert,dassmitdemTextbeiseinerRezeptionganzgegensätzlicheDingegeschehen können.DiesführtzunächstzumWillen,dieHerrschaftüberdenTextzusichern–dieersten beidenTermedesDreischrittsstehenfürdiesenVersuch.Dochsiebezeichnenebenaucheine Entfernung vom Text. Wird der Text, in Gestalt des Inspecteur Ali, wieder eingelassen, kann Brahim zwar seinen Text abschließen, aber er verliert gleichzeitig wieder die so heißersehnte, vollständigeKontrolleübersie.DerInspecteurAli–derText–fordertseinenTribut. DieInkarnationendesInspecteurAli Zusammenfassendlässtsichfesthalten,dassderInspecteurAlimehrereDingeundSachverhalte bezeichnet:zunächstdenGegensatzzwischenfinanziellerfolgreicherundhoherLiteratur,dann aberauchdenzwischenTextundAutor.DiesebeidenRollensindnichtkongruent,interferieren abermiteinander,ausderInterpretationlässtsichableiteninwelcherWeise.

294 „[...]dieseunbeschreiblicheTypenahmzuvielPlatzein,hatteschlussendlichmeineNaturinBesitzgenommen. ErstecktesicheineZigarettenachderanderenan.Undichhatteihnimitiert.ErhatteeinechronischeBronchitis. Ichauch.IchhatteseineidiotischeSpracheübernommen.Erwares,derdachte–nichtmehrich,derAutor.Er handelteinmeinemNamen.“ 178 AufderSeitedesAutorsistdieProduktionzuverorten.Erverbürgt,daslässtsichanderEnt wicklungBrahimsnachzeichnen,Verantwortung.DeshalbentstehtderWunschnachderAbspal tungdesInspecteurAli.DieVerbindungvonAutornameundTextistaberauchfinanzielleAbsi cherung,derInspecteurdarfnichtganzinsAbseitsgestelltwerden,ersichertdasAuskommen BrahimsundseinerFamilie. DochhiererfolgtauchschoneinersterBruch:DerInspecteurentwickelteinEigenleben.Man kannsagen,weilerTextist,erzeugterEffekte,dievomAutornichtmehrgesichertsind.Dies wirddeutlichdurchdasRingenzwischenBrahimundAli,aberauchdurchdasVerhaltenAlisim Text,z.B.beidemScherz,denersichalsMohammederlaubt.Darüberhinausistderfinanzielle Erfolg,denAlisymbolisiert,derAusgangspunktfürdieAktienspekulationenwährenddesGolf krieges.AuchhierentgleitetAlidemAutor.AlibezeichnetdemnachsowohlalsTeilderTexteals auchalsEffektderTexte–d.h.alsdasEinkommen,dasmitdenTextenverdientwird–eine TorpedierungderBemühungenBrahimsumverantwortlichesHandeln. Andererseits bezeichnet der Inspecteur auch das, was an die Stelle dieser Bemühungen treten kann.Erkonnotiert–alsHauptfigurderKrimis–dieRezeption,dieBrahimerstdenGlauben daranschenkt,ersei porteurdetantdemessage .ErbezeichnetdesweiterendurchseineUsurpation derRolleMohammedsebennichtnurdieKränkungBrahimsunddessengescheiterteSuchenach dereigenenSprache,sondernauchdieAlternative.SeinScherzunddiegarnichtamüsierteReak tionseinerGegenüberverweisenaufdieAussichtslosigkeitihresTuns–unmittelbarimreligiösen Sinn,aberdadurch,dassMohammedzudemdieSucheBrahimsveranschaulicht,auchimliterari schenSinn.SeineGegner–imText(Brahim)undimTextimText(diesaudischenVerlagsange stellten)–mögennochsomoralischentrüstetsein,erlachtüberihrenGlaubenandieUrsprüng lichkeitdesTextesbzw.derSprache.DurchseinblasphemischesZitierenweisteraufdieeinzige Möglichkeithin,mitSpracheumzugehen:inwiederholender,zitathafterWeise. UnddieserHinweisführtamEndezurAuflösungderAmnesie,zurAnerkennungdereigenen Erinnerung. Das Versiegen des Textes zum Zeitpunkt der Erinnerung besiegelt einerseits das ScheiternvonBrahimsSuche,dochandererseitseröffnetesretrospektivdasLesendesTextes mitallseinenAnspielungenundimplizitenVerweisen.Eszeigtaußerdem,dassdieSuchenach derVerantwortunginnerhalbderSprachezurVerfehlungderVerantwortungaußerhalbderSpra chegeführthat.DochdieseZurückweisungaußerhalbderSprache–dieMutter–weistselbst wiederaufeineZurückweisunginnerhalbderSprachehin–aufdenWunschnachderBefreiung vonderSprachederEltern.DieAuthentifizierungdesAutorswirdaufdieseWeisezumunmög lichen Unterfangen, da jede Bewegung ihr Gegenteil provoziert. Die Bewegung auf die eigene Sprachezuheißtgleichzeitig,wieobengesehen,eineBewegungvonderSprache überhaupt weg, nämlichinsLebenbzw.indenGlauben.AußerdembezeichnetsieeineBewegungwegvonder

179 Erinnerung, die aber gleichzeitig eine Bewegungweg von den Menschen und jeder Form von Familieist–derwahrendesGeistes(Saadiya)unddergenetischen(Mutter). EsscheintmirimAngesichtdieserFüllevonBedeutung,diederText–undalsseineVerkörpe rungderInspecteurAli–trägt,garnichtwünschenswert,irgendeineFormvonEinengungvor zunehmen. L’inspecteur Ali lebt von dem Wunsch des Autors, Verantwortung zu übernehmen, dieserVerantwortungabernursehrschlechtgerechtwerdenzukönnen,dajedemdahingehenden VersucheingrundlegendesHindernisimWegsteht.ChraïbiuntersuchtverschiedeneAuswege aus der Erkenntnis, die sich seinem Protagonisten bei jedem neuen Versuch, ernsthafte, hohe Literaturzuschreiben,entgegenstellt.EinigedavonführenausderSpracheheraus,mankannsie mitdenStichwortenLebenundGlaubenbelegen.AndereführenindieSprachehinein,sindaber vollvonKränkungen,dieimmerwiedervoralleminGestaltdesInspecteurAliFormannehmen, aberauchindenPassagenüberdasmitLiteraturverdienteGeldzusuchensind.Sonocheinmal ganzamEnde,alsderVerlegermitdemneuen,ambitioniertenKrimieineneueZielgruppezu erschließenhofft:„Touslesfachos,touslesignaresvontseprécipitersurcebouquin.C’estun nouveaucréneauquejevaisexploiteràfond,croismoi.“ 295 (214)IstdieseAnkündigungeherein VersprechenodereineDrohung?IsteseinZeichenderSubversion,denRechtsextremenGeld ausderTaschezuziehen,mitdemsiedenLebensstandardeinesmaghrebinischenSchriftstellers sichern?OdersinddieWortedesVerlegersZeicheneinergrundlegendenIndifferenzgegenüber dermoralischenWirkungeinesTextes,einertotalenFixierungaufseineMarktchancen,hinterdie allesanderezurücktritt? Esbleibtunklar,obBrahimamEndedenEindruckhat,erseimitdemneuenKrimiindieSphä renhoherLiteraturvorgestoßen,oderobdasAuftauchendesInspecteurAliseinePlänezerstört hat.JedenfallsistdasentstandeneBuchnicht LeSecondPasseésimple ,dennvondemwirdamEnde gesagt,dassdieLeuteaufderStraßeeswohlnichtlesenwerden„sitoutefoisjeleterminaisun jour.“ 296 (216).DerProtagonistklammertsichamEndeandiePotentialedesmündlichenAus drucks(216),dochdieseWendeistschwereinzuordnen,dajaaucherimLaufederHandlung starkinMisskreditgeratenist.IchmöchtedieseSehnsuchtlesenalsdenunverbrüchlichenGlau benandieMöglichkeitenderSprache,selbstwennmansichbewusstgewordenist,wiewenig Kontrollemanschlussendlichübersieerlangenkann.ChraïbisSprachauffassungscheintmirda mitähnlichhoffnungsvollwiedieButlerszusein. WasdiebiographischeLesartbetrifft,dürfteklargewordensein,dassderTexteinzuoffensicht lichesVerwirrspielumdiePersonBrahimsinszeniert,alsdassmanvoneinereinfachenGleich

295 „AlleFaschos,alldieUngebildetenwerdensichaufdiesesBuchstürzen.DasisteineMarktlücke,dieichtotal ausbeutenwerde,glaubmir.“ 296 „wennicheseinesTagesdanndochnochbeendensollte.“ 180 setzungausgehenkönnte,wiesievonDejeandelaBâtievertretenwordenist.DieSteuerungdes AutorsdurchdieInkarnationdesTextes,denInspecteurAli,wirdjasogarwörtlichangeführt,ich habeaufdieStellemehrfachhingewiesen(211).DiesekomplexeKonstruktiondurcheineeinfa chebiographischeLesartzuentschärfen,isteineunangemesseneSimplifizierung. Diese Analyse sollte des weiteren gezeigt haben, dass die Autoren der littérature maghrébine d’expressionfrançaise nichteinfach„écriventsurl’évolutionsocioculturelledeleurpaysd’origine“, wiediesAzouzBegagundAbdellatifChaouitemitausdrücklichemBezugauchaufDrissChraïbi festgestellt hatten (BEGAG /C HAOUITE 1990, 98). Ich habe gezeigt, wie scheinbar eindeutig in diese Richtung zu lesende Motive bei näherer Betrachtung keine so eindeutige Semantik mehr aufweisen.ZurRekapitulationnurdreiBeispiele:Zunächstdasgeographischeundtransnationale SettingderHandlung.ChraïbikonfrontiertunsmiteinerbinationalenEhe,miteinemProtago nisten,derMigrationserfahrunghatundmiteinemRentnerpärchen,dasaufdenerstenBlickdie UnterschiedezweiersounterschiedlicherKulturenunddieSchwierigkeiteneinerÜberbrückung zwischendiesenveranschaulichensoll.MeineInterpretationnimmtdieMotiveauf,liestsieaber wenigerstarkfürsich,sondernbeziehtsieaufeinander.SowirddieMigrationnötig,umaufge wisseRezeptionsgewohnheitenhinzuweisen,wiesieDubravkaUgrešiinihremeingangszitierten Essay beschrieben hatte. Ausgehend vom ethnischen Hintergrund geschieht die Namensände rungdesProtagonisten,dieihrenzentralenPlatzinderAuseinandersetzungmitdemThemader Autorschafterhält:WiestehtesumdieFiktionalitätderAutorinstanz? Die Schwiegereltern, vor allem der greise und besonders anpassungsunfähige Schwiegervater Jock,habenindiesemSzenariovorallemeineFunktioninBezugaufErinnerungundVergessen ganzabstrakt,vieleheralsdasssienurdaseuropäischeGegenbildzurafrikanischenKulturabge ben.Siegebenessogarerstaunlichwenigab,vorallemSchwiegermutterSusanerscheintankei nemPunktderHandlungalsvonkulturellenDifferenzenüberfordert,ganzimGegenteil,sieist einVorbildanreibungsloserIntegration.UndauchdieWiderständeJockserwachsenausseinem mangelhaftfunktionierendenGedächtnisundnichtetwaauseinemKulturschock.Zwarwerden auchMotivederDifferenzderLebensgewohnheitenaufgenommen,dochsielassensichniemals aufihrenInhaltreduzieren,sondernerfüllenstetseinenarrativeFunktion 297 .DiebinationaleEhe mitFionaistanvielenStellennichtvonkulturellerDifferenzgeprägt,Fionasprichtsogar–im GegensatzzuBrahim–dieberberischeSprache,wobeiseinVergessendieserSpracheebenfalls narrativeFunktionbesitzt,wiewirinzwischenwissen. 297 Zunennenisthierz.B.dievonmirnichtausführlichbeschriebeneSzene,indersichJock,seinenbritischenGe wohnheiten entsprechend Zucker ineiner bestimmtenForm zumTeegereicht haben möchte. Diese Szenedient ebennichtnurderBeschreibungeinerkulturellenDifferenz,sondernnarrativderBeschreibungvonJocksStumm heit(vgl.oben,170bzw.CHRAÏBI 1991,147152). 181 ZweitesBeispielsinddieThematisierungdesKoransunddieoffeneBezugnahmeaufMoham med.DieserintertextuelleBezughatnichtprimärdieFunktion,BrahimskulturelleZugehörigkeit zusymbolisieren,sondernistabhängigvonder miseenabyme .AufdiesenUmstandweistsowohl dieBeschreibungMohammedsalsAusgangspunkteinerganzeigenenSprachehin,wieBrahim ihnbetrachtet.DieserBefundmachtabernurSinn,wennmanihnimZusammenhangmitBra himseigenerschriftstellerischerSucheliest,dennderKoranzeichnet,wieichgezeigthabeein anderesBildvomVerhältnisMohammedszurSprache,indemernuralsMediatordargestelltist, nichtalsSprachschöpfer.GeradeindieserAbhängigkeitvonderbereitsvorhandenenSprache, dieerdemMenschenzuweist,istderKoransogarderjenigeIntertext,derdenAbschiedvonder völligenBeherrschungderSprachedurchden(menschlichen)AutorinsSpielbringt. AußerdemistdieIronisierungdesKorandurchdenInspecteurAlizubeachten,derinblasphe mischerWeisedieRolledesProphetenusurpiertund,wiegesehen,im TextimText damitauch denerzählerischenPunktbildet,andemBrahimsHoffnungaufdieSpracheendgültigzunichte gemachtwird–unddiesindemaufgezeigtenErzählerdreieckMohammedBrahimAli,indem überdies auch noch der Unterschied zwischen ernster bzw. hoher und Unterhaltungsliteratur ohneliterarischenAnspruchaufgerufenundproblematisiertwird. Zuletzt möchte ich noch die Rolle der Eltern erwähnen. Ihr Vergessen könnte wohl auch als Bruch mit derTradition und/oder als Generationenkonfliktgedeutetwerden. Doch schon die AussparungdesVaters,dasalleinigeAuftauchenderMuttermacheneinealternativeLesartmög lich.EsistebennichteinfachdasGesetzdesVaters,dieTraditionalso,diehierzumThemage machtwird,sonderndieaufgezeigtenintraundintertextuellenVerweiseaufdieSprachederEl ternbzw.aufdenTextvonRolandBartheslegenesnahe,dieGartenszeneebenfallsmitderSu chenachdereigenenSprache,dieBrahimumtreibt,zuverbinden. AlldieseIndizienmachenesschwer,derverbreitetenAuffassungBegagsundChaouiteseinfach zufolgen.Chraïbiistin L’inspecteurAli weitübereineBeschreibungdersoziokulturellenEntwick lungAlgerienshinausgegangen.Erhatdieses sujet –imSinneFoucaults–vielmehrzum Ausgangs punkt genommen,umdasliteraturtheoretischindenletztenJahrzehntenbreitdiskutierteFelddes VerhältnissesvonAutorundTextzuentfalten.

182 II.3 Zerfallende Familien. Assia Djebars Les nuits de Strasbourg „Mirgiltesnichtverächtlich,dochderStadt ZumTrotzzuhandeln,habichnichtdieKraft.“ (SOPHOKLES ca.442v.Chr.,V.78f) LesnuitsdeStrasbourg vonAssiaDjebarhatseitseinemErscheinenvorinzwischensechsJahren nureinmäßigesEchohervorgerufen.Mankönntespekulieren,dassesdenKritikernsuspektist, sichmiteinemRomanauseinanderzusetzen,derdie commandeimplicite (Ch.Bonn)nichtbeachtet, demLeserInformationenüberdieHerkunftskulturderSchriftstellerinzuliefern.Dabeithemati siert LesnuitsdeStrasbourg aufderHandlungsebenesehrwohlMigrationserfahrung,Sprachenviel falt, binationale Beziehungen, die Kolonialzeit und den Algerienkrieg. Der Roman beschränkt sichnurnichtdarauf,sondernsprichtebensovomzweitenWeltkrieg,vonderdeutschenBesat zungdesElsass’,vonmittelalterlichenManuskripten,derStadtgeschichteStrasbourgs,sowievon einerTheatergruppeimVorort Hautepierre . Assia Djebar vermeidet in ihrem Roman von Anfang an die kulturalistische Falle, obwohl sie ständigvonKulturinihrenbeidenBedeutungenschreibt 298 .ImZentrumderHandlungstehen vierPaare,diealleaufjeeigeneWeisemiteinigendergenanntenthematischenBlöckeinVerbin dung stehen. Diesevier Paare entwickeln an neun aufeinanderfolgendenTagen eine komplexe Beziehung zueinander, deren Schilderung die Geschichte vorantreibt. Geheimes Zentrum des Textes bildet allerdings die Antigone , die von der genannten Theatergruppe aufgeführt werden soll.IchmachemirhierderDeutungJudithButlerszueigen,derzufolgeAntigone–entgegen dereinflussreichenDeutung,dieHegelvorgeschlagenhat 299 –„kaumfürdienormativenPrinzi pien der Verwandtschaft stehen“ (BUTLER 2001, 12) und also auch nicht als Vertreterin einer privaten,weiblichenSphäregeltenkann,dieeinermännlichen,öffentlichenSphäre–repräsen tiertdurchdenStaat–entgegenzusetzenwäre.DochgenaudiesestarkeOppositionvertrittHegel inseinenBezugnahmenaufdie Antigone .„AntigoneehrtdieFamilienbande,dieunterirdischen Götter; Kreon den Zeus, die Staatsmacht“ (HEGEL 1823, 304). Damit wird der Konflikt zwi schenAntigoneundKreonzuderAllegoriefürdenUnterschiedderGeschlechterinBezugauf dassittlicheHandeln,wieeresdannalsgeschlechtsspezifischesfastohneausgewiesenedirekte Bezugnahmeaufdie Antigone inder PhänomenologiedesGeistes beschreibt(HEGEL 1807,337,343et 298 Vgl.zumKulturbegriffKap.I.3dieserArbeit. 299 EsgibtbeiHegelhäufigeBezugnahmenaufdiesophokleische Antigone ,dieallerdingsmeistillustrativenCharakter fürseinetheoretischenÜberlegungenhaben.AlszentralezusammenhängendeInterpretationder Antigone giltdaher einAbschnittausder PhänomenologiedesGeistes (HEGEL 1807,328359),indemesallerdingsnureineeinzigedirekte BezugnahmeaufdasDramagibt(348).ImplizitistderBezuggleichwohlüberallvorhanden,sodassdiemeisten Interpretinnendiese Passage als Hegels wichtigsteAuseinandersetzung mit der Antigone rezipieren (vgl.IRIGARAY 1974,266281;BENHABIB 1992,258276,vorallem275;BUTLER 2001,29ff,5666). 183 passim).DerMannhandelthieralsBürgerimRahmendesStaates,dernachdemmenschlichen Gesetzkonstruiertist.DieFrauhandeltalsHüterinderFamilieundistdemgöttlichenGesetz verpflichtet 300 :Sieist„dieewigeIroniedesGemeinwesens–[sie]verändertdurchdieIntrigeden allgemeinenZweckderRegierungineinenPrivatzweck,verwandeltihreallgemeineTätigkeitin einWerkdiesesbestimmtenIndividuumsundverkehrtdasallgemeineEigentumdesStaatszu einemBesitzundPutzderFamilie“(HEGEL 1807,352f). DochAntigone–zwarFrau–istkeineUnpolitische,dieeineÜbertretungbegeht,indemsiedie privateOrdnungüberdieOrdnungdesStaatesstellt.SieistebensowenigAngehörigeeinesmar ginalenBereichs,derklarvoneinemzentralenBereichunterschiedenwerdenkönnte 301 .Antigone hatvielmehrteilanderOrdnung,gegendiesieaufbegehrt.DieklareBinaritätvonmännlicher undweiblicher,öffentlicherundprivaterSphäre,vonstaatlicherAutoritätundVerwandtschaftin dieser Tragödie Sophokles’ wie Hegel sie beschreibt, ist so für Judith Butler ein Trugschluss. Denn„wennVerwandtschaftsbeziehungenzueinerBedrohungfürdiestaatlicheAutoritätwer den und der Staat sich gewaltsam gegen diese Verwandtschaftsbeziehungen wendet – können diesebeidenBegriffedannüberhauptnochihrewechselseitigeUnabhängigkeitbehaupten?“(18) MitdiesergegenseitigenBestimmungvonStaatundFamilieweistButleraufdiesozialeVerferti gung von Verwandtschaftsbeziehungen hin, die eben nicht als natürlich im Gegensatz zu einer kulturellen Gesellschaftsordnung gesehen werden können. Sie wendet sich damit gegen die Be hauptungeinervorsozialenExistenzderVerwandtschaft,wiesiez.B.vonLacankonzeptualisiert wordensei 302 . EswirdindiesemKapitelzuuntersuchensein,inwieweitAssiaDjebarderDeutungder Antigone folgt, die Butler entwirft, d.h. wie sie den Zusammenhang von Weiblichkeit und politischer Handlungsfähigkeitkonzeptualisiert.Zunächstfälltauf,dassDjebarebensowieButlerdieNatür lichkeitvonVerwandtschaftsbeziehungenproblematisiert.DerRomanführtausführlichdreiEl ternKindBeziehungenvor,indenendieKinder(Mina,Thelja,Irma)denLeidenschaftenihrer ElternaufjeunterschiedlicheWeisegeopfertwerden.ImerstenAbschnittmeinerAnalysemöch teichmichmitdiesemThemaauseinandersetzenundesinseinenvielfältigenFacettenbeiAssia Djebar aufdecken. Diese Betrachtungen werden mich zwangsläufig zu einem zweiten themati schenBlockführen,nämlichderHandlungsfähigkeitvonFrauenin LesnuitsdeStrasbourg .Eswird sichzeigen,dassDjebarkeineinheitlichesFrauenbildvorführt,sonderninihremRomandiesbe

300 GeradediesediePassagebeiHegeldurchziehendeUnterscheidunginmenschlichesundgöttlichesRechtisteine direkteEntlehnungvonSophokles:„Derdasverkündete,warjanichtZeus;/AuchDikeinderTotengötterRat/Gab solchGesetzdenMenschennie.Sogroß/SchiendeinBefehlmirnicht,dersterbliche,/Dasserdieungeschriebnen Gottgebote,/Diewandellosen,konnteübertreffen“(SOPHOKLES ca.442v.Chr.,V.450455). 301 DieFigurderAntigonestütztalso–nebenbeibemerkt–nichtdieMeinungJanMohamedsoderMaazaouisin BezugaufdieinterkulturelleLiteratur,dieMarginalitätalsnotwendigansieht,umpolitischeWirkungzuerzielen. 302 Vgl.BUTLER 2001,34,71ff. 184 züglichsehrindividualisierendverfährt.ZuletztmöchteichdanndieRollederErinnerung,vor allemaberdasMotivdesVergessensnäherbetrachten.DasVergessenistleitmotivischinden Texteingeschrieben,dieErinnerungscheintdieallgegenwärtigeLethenurpunktuellundunzu sammenhängend zu durchbrechen. Andererseits gibt es auch Elemente, die sich aus dem Ge dächtnisnichtlöschenlassenundderendiffuse,stetigePräsenzalsBelastungbeschriebenwird. AntigoneundihreÜbertretungdervonKreonverfügtenOrdnungwirdvorallemfürdieersten beidengenanntenAspekteeinegroßeRollespielen.Dabeiwirdsichzeigen,dassDjebarunter schiedlicheFigurenauftretenlässt,diealleaufihreWeisemitdenvorhandenenOrdnungenha dern und diese herausfordern und die somit in einem klaren Zusammenhang zu Antigone als politischHandelnderstehen. WichtigistindiesemKapitelerneutdiealternativeLesartderthematischenBlöcke,wieichsie geradeaufgezählthabe.Verwandtschaft,RollederFrau,sowieErinnerungundVergessensollen nichtprimärinBezugaufetwaigekulturelleDifferenzenhingelesenwerden.EinesolcheVer kürzung verbietet schon der genius loci Strasbourgs, der die Geschichte von Beginn an prägt. StrasbourgwirdineinerfünfzigJahreumfassendenKlammerzuAusgangsundEndpunktdes Romans.EinPrologführtdieStadtEndeAugust/AnfangSeptember1939vor;derEinmarsch derdeutschenTruppenstehtkurzbevorundDjebarpräsentierteineStadtintotalerErstarrung, eineStadtinWinterstarre.DerHerbstdesJahres1939beginntschonmitdiesenTagen,„unau tomneprécoce“ 303 (DJEBAR 1997,15),dieVögelverlassendieStadtnochvordenMenschen(31). Strasbourgistkaltundleer,stillundreglos.DjebarschildertkeineDramen,keineMenschen,die sich gegen die Umsiedlung lauthals und aktiv wehren. Sie zeigt nichts als einen kontrollierten Exodus.DashängtmitdemhistorischenSchicksaldieserStadtzusammen,dasgutdazugeeignet ist, die Vorstellung von kultureller Kontinuität in ihren Grundfesten zu erschüttern. Denn als Spielball zwischen den europäischen Mächten Frankreich und Deutschland ist das Elsass stets umstandslosvondereinenoderderandereninkorporiertworden.Beideproblematisiertennie malsübermäßigdiekulturelleZugehörigkeitdiesesGebiets.DiehistorischeEntwicklungdieses Gebiets lässt überdies keine einwandfreie Bestimmung dieser Zugehörigkeit zu.An Strasbourg wirddemnachderflexibleCharaktervonKultursehrgreifbar. FünfzigJahrenachdemExodusverschwindetauchdieProtagonistinTheljaausStrasbourg,die FraumitdemkaltenNamen(erbedeutet„Schnee“)ebenfallsEndeAugust/AnfangSeptember. Die Stadt hat sich verändert, sie ist von der „cité de la séparation“ (21) zum „nombril de l’Europe“ 304 (350)geworden.DochwieunterschiedlichsinddiesebeidenBilder?IstderNabel nichtzunächsteinmalNarbe,bleibendesZeicheneinerursprünglichenTrennung?Wiegenauist 303 „einverfrühterHerbst“. 304 „StadtderTrennung“;„NabelEuropas“. 185 dieseVeränderungzubeschreiben,dieStrasbourgvomSymbolderZwietrachtinEuropazum Symboleiner–wennauchnichtspurlosen–Zusammengehörigkeitwerdenlässt? InjenemStrasbourgdesJahres1939tauchtaußerdembereitsdasMotivderAntigoneauf,dasals SubtextundIntertextfürdengesamtenRomanvonBedeutungist.Djebarschildertnämlicheini geMenschenkurzvorihremAuszugausderbedrohtenStadt,unteranderemeinaltesPärchen „liésparuneétrangeressemblance;ilsnesemblentpasforcémentdesépouxretraités,peutêtre sontilsfrèreetsœur“ 305 (19).DiesebeidenbegegnendemLeserimProlognocheinzweitesMal (22f).InihremGartensitzendwillderMannderAufforderungderBehördenfolgen,Strasbourg sofortzuverlassen,dochdieFrauweigertsich:SiemöchtesolangebeiihremtodkrankenHund bleiben, bis dieser gestorben ist. Der Mann verlässt wutentbrannt und verzweifelt den Garten unddieErzählerinteiltunserstjetztmit,dasichdieWegederbeidenvielleichttrennen,dasssie einengemeinsamenSohnhaben.Bedeutetdies,dasssiekeineGeschwistersindoderistdieses KindauseinerinzestuösenBeziehunghervorgegangen?DerTextlässtkeineEntscheidungdieser Frage zu. Er konzentriert sich darauf zu erwähnen, dass dieser Sohn wegen seiner politischen UmtriebigkeitimGefängnissitztundseineElternalsWaisenzurückgelassenhat:„Eux,lesvieux, lesvoicidésormaisorphelins“ 306 (25).DieganzeKonstellationgemahntanverschiedeneElemen tederÖdipusSage:derInzest,dieTotenwache,dieVerlassenheit,dieaussterbendeFamilie,der ZorndesMannesgegendieEntscheidungentreffendeFrau.DiefolgendenSeitendiesesKapitels werdennichtzuletztdenZusammenhangzwischendiesemmythischenKomplexunddemRo manDjebarszuerhellenversuchen. DieElternKindBeziehung Djebars Roman erzählt uns Geschichten von Trennung und Vernarbung. Die Hauptfigur des Romans ist eine junge algerische Historikerin, die zur Recherche nach Paris übergesiedelt ist. Thelja,soheißtsie,hatdabeiinderHeimateineFamiliezurückgelassen:Halim,denEhemann undeinenSohn,Tawfiq.DieserSohnistfastnuralsObjektderSehnsuchtvorhanden,ererhält im ganzen Roman keine Stimme. Damit geht es ihm ebenso wie seinem Pendant Selma, der TochterEves.EveisteineJugendfreundinvonThelja,hatdieseinMarokkokennengelernt,wo beideaufgewachsensind.NunlebtsieinStrasbourgundhat,wieThelja,ihreFamilieinderHei mataufgegeben.InteressantsinddieUnterschiedederbeidenFreundinnenimUmgangmitdie semVerlust.EveistdiePionierindesVerlassens.Sieemigriertzunächstzusammenmitihrem

305 „verbundendurcheinemerkwürdigeÄhnlichkeit;siescheinennichtunbedingteinRentnerehepaarzusein,viel leichtsindsieBruderundSchwester“. 306 „Sie,dieAlten,sindkünftigWaisen“. 186 MannOmarnachHolland.NachderTrennungvonOmarentschließtdiesersich,wiedernach MarokkozurückzukehrenundSelmamitsichzunehmen.BeiTheljastößtderGleichmut,mit demEvedieseEntscheidungihresMannesakzeptiert,zuerstaufUnverständnis:„Commentastu puquitterunefillettededeuxans?“(62).EvesAntwortistvonumwerfenderEinfachhheit:„Je l’auraichaqueétéetceseraunefêtepartoutoùj’irai[…].AMarrakech,elleaunegrandmère âgée de quarante ans seulement, trois tantes très jeunes et une dizaine de cousinscousines! Je serairemplacéedanslaprofusion!Jepenseàelled’abord!“ 307 (62f)Weitdavonentfernt,aufein Argumentzusetzen,daseineursprünglicheBeziehungzwischenMutterundTochterpostulieren müsste,bringtEveandieserStelledieSozialisationinAnschlag:JungeGroßmutter,jungeTan ten,vieleGleichaltrige:dasbietetMarokko.QuantitätundQualitätwerdendabeinichtineine Oppositionzueinandergebracht.VielmehrwirdaufdieFrage: commentastupu? mit: jepensed’abord àelle! geantwortet.D.h.derRekursaufdiequalitativunschlagbareMutterKindBindung,dieim plizitalskulturelleGewissheitdiesenDialogregiert,wirdalsegoistischeStrategieentlarvt:Eve denktzuerstan Selma ,nichtansich.DaheristdieFrage,wie sie siehabeziehenlassenkönnen, derSituationunangemessen. TheljasTrennungvonihremSohnverläufthingegenschmerzvoller.SchonihreSituationisteine völligandere.IhrMannHalimemigriertnichtmitihrzusammen,sondernbleibtinAlgerien,er wartetihreRückkehrnacheinemodermaximalzweiJahren.DochTheljaentschließtsichzum Bleiben in Frankreich. Der entscheidende Dialog, den Thelja mit Halim über diese Situation führt,findetbeieinemBesuchHalimsinParisstatt.DieKommunikationssituationisthiernicht diezwischenzweiFreundinnen,diebeidegegendiealthergebrachteOrdnungverstoßen,sondern diezwischeneinemVertreterderOrdnungundeinerFrau,diesieverlassenwill.DieFrage com mentpeuxtu wirdersetztdurcheineVerlagerungaufdasKind:EtTawfiq? fragtHalim.Theljasetzt zueinerähnlichenAntwortwieEvean:„Ilserabienchezmamèreauvillage!L’airdemontagne luiferadubien!“DochsiehältdieStrategienichtdurch,sondernfügthinzu:„Biensûrilme manquera!…Ilmemanquedéjà!“ 308 (98)InteressanterweisegewinntdieaufdieMutterselbst bezogene Aussage il me manque durch diesen Bruch inhaltlich einen konzessiven Charakter in RichtungaufdasKind:obwohlesdemKindandersbessergeht,mussderMutterrolleGenüge getan und ein Schmerz zum Ausdruck gebracht werden. Nicht, ob es ihm gut gehen wird, ist demnach die entscheidende Frage, sondern, ob der Sohn der Mutter fehlenwird. Letzteres ist regelkonform,ersteresnicht,daswirdvorallemdurchdieParallelstelle,diedieSituationEves

307 „’WiekonntestdueinMädchenvonzweiJahreverlassen?’–‚IchwerdejedenSommermitihrverbringenunddas wirdüberall,woichhingeheeinFestsein[...].InMarrakechhatsieeineerst40jährigeGroßmutter,dreisehrjunge Tantenund10CousinsundCousinen!IchwerdeinÜberfülleersetztwerden!Ichdenkezuerstansie!“ 308 „EswirdihmgutgehenimDorfmeinerMutter!DieBergluftwirdihmguttun!Natürlichwirdermirfehlen!...Er fehltmirbereits!“ 187 beschreibt,deutlich.TheljamildertindieserPerspektivealsodenRegelbruchdurcheinEntge genkommenandieRegeltreuenab. ZudieserSichtpasstauchdieEntscheidungTheljas,keinKindmehrzuwollen.Evehingegen, die den Bruch offen vollzogen hat, ist wieder schwanger, als die beiden Freundinnen sich in Strasbourgwiedersehen.DasungeboreneKindwirdinderLiebesszenezwischenEveundihrem deutschenFreundHanszueinerFortführungderÜberlegungenzuAltruismusundEgoismusin derFamilie.VorgeschaltetistdieserLiebesszeneeineBegegnungEvesmitihrerCousineDenise und deren Mann David. Diese bilden die prototypische „famillecocon se resserrant sur elle même“ 309 (148).VondieserwillsichEveabsetzen,siemöchtesievergessenundmitihrdasKind inihremeigenenBauch.DiesesVergessenweitetsichinderSchilderungdesBeischlafszueiner Szeneaus,inderdieExklusivitätdesgegenseitigenBesitzesdaszentraleMotivbildet 310 . DieseversprocheneExklusivitäterhälteinenBruchimunmittelbarandieLiebesszeneanschlie ßenden Dialog, in dem Eve, sephardische Jüdin, ankündigt, das Kind, sollte es männlich sein, nachjüdischemRitusbeschneidenzulassen.DieseAnkündigunggibtAnlasszueinemödipalen DramawieausdemBilderbuch: «Hansenasoudainassezdecetintrus,deceluiquiesttellementlàsansêtrevraiment apparu!…―Sic’estungarçon,répliquetil,etlaréponse(unegaléjade?)tourneuneul timefoisdanslatêtedel’homme(lepèrevraiment,luiunpère,luiplutôtl’absent,ouqui sait, l’endormi à son tour?… Elle, la mère, la Mèèèèère et l’autre, le toutpetit, eux deuxinséparables,déjàleprogramme,lescérémonies,lerituel,‘elleetlui’grondeceluiqui neseveutpaspère,quiricane,deluimême,detous…)―Sic’estungarçon,reprendil– etlaréponseestenfinlâchée–tumangeras,jesuppose,leprépuce…enbonnemèrejui ve!311 (161) AufderHandlungsebenetreibtdieserDialogsicherdenKonfliktzwischenderJüdinEveund ihrenSchuldgefühlenvoran,diesichdaraufgründen,dasssiesichausgerechnetineinenDeut schenverliebthat.DaherwirdunsdieseSzenenocheinmalbeschäftigen,wennspäterüberdie Erinnerungsstrukturvon LesnuitsdeStrasbourg genauerzuredenseinwird.Dochoffensichtlich hatdieseStelleaucheineFunktioninHinblickaufdieVerwandtschaftsmodelle,dieindenein zelnenFamilienplanungenderProtagonistinnenzumAusdruckkommen.Hansfürchtetindieser PassagedieengeVerbindung,diezwischenMutterundKindindergängigenVorstellungvon 309 „KokonFamilie,diesichumsichselbstzusammenzieht“. 310 DJEBAR 1997,156158.ZubeachtenistindieserPassagederGebrauchderPossessivpronomen,derNominal phrasenimStile toiettoiseul ,sowiederständigenBeschwörungEvesinRichtungihresLiebhabers,denBauchdoch zuvergessenoderzuvernachlässigen. 311 „HanshatplötzlichgenugvondiesemEindringling,vondem,dersosehranwesendist,ohnewirklicherschienen zusein!...WenneswirklicheinJungewird,antworteter,unddieAntwort(einWitz?)wendetsicheinletztesMalim KopfdesMannes(wirklichderVater,er,einVater;erdocheherabwesendoder,werweiß,seinerseitseingeschla fen?...Sie,dieMutter,DieMuuuuutterundderandere,derWinzling,diebeidensindunzertrennlich,schondas Programm,dieZeremonien,dasRitual,‚sieunder’maultderjenige,dernichtVaterseinwill,derlacht,übersich selbst,überalle...)–WenneseinJungewird,setztererneutan–unddieAntwortwirdendlichausgesprochen–isst duwahrscheinlichseineVorhaut...alsgutejüdischeMutter!“ 188 intaktenFamilienstrukturenbesteht.DieseVerbindung,daswirdinseinemkurzeninnerenMo nologandieserStelledeutlich,istvermitteltüber dasProgramm,dieZeremonien,dasRitual ,Dinge, vondenensichEveimVergleichzuTheljavorhervieldeutlicherabgesetzthatte.DieserSach verhaltsprengtdieeinfacheOppositionzwischenTheljaundEveundzeigt,dassdieBindungan eineOrdnungnichteinfachzuüberwindenundhintersichzulassenist.Theljaist–andersaus gedrückt–nichtdieIsmene,EvenichtdieAntigone,dieFreundinnensindnichtindereinfachen Binaritätvon wagen oder scheuen zuerfassen. Vielmehr illustriert Eve hier die Vermutung Butlers, die in der Figur der Antigone eben nicht einfacheinedieöffentlicheSphärezugunstenderhäuslichenSphäremissachtendeKraftverkör pertsah.EvehältgenauwieTheljaanbestimmtenÜberzeugungenfest,dieunzweifelhafttraditi oneller Art sind. Gleichzeitig widersetzt sie sich damit allerdings dem männlichen Machtan spruch:SiesprichtihrenEntschlussgegenüberHans–demVaterunddemDeutschen–aus.Er ist als solcher doppeltes Ziel einer Herausforderung. Doch diese Herausforderung bleibt sehr formal,siestütztsichaufandereRegeln,dieinnerhalbeinerbestimmtenPerspektivezwarinder Tat eine Opposition zum Vater und zum Deutschen bilden, andererseits ist die Beschneidung aberaucheinÜbergangsritus,derdiemännlicheNachkommenschaftvonderweiblichenabhebt undinsoferneineBestätigungdermännlichenOrdnungist 312 . Deutlichwird imVergleich der Freundinnen in Bezug auf ihre Kinder sicher eins: die Kinder selbstspielennirgendseinedirekteRolle.DerIndividualismusEves,derstummeVorwurfHa lims,daspflichtschuldigeReuebekenntnisTheljas–allesspieltsichvieleheraufderEbeneder BeziehungenderErwachsenenuntereinanderab.DieKinderhabenkeineStimme,nirgendswird ihre Reaktion thematisiert, die Erwachsenen arbeiten sich nur am Gesetz ab, das sie entweder überwindenoderschützenwollen,manchmalbeideszugleich. DieseKonstellationwirdnochdeutlicher,wennmansichdaseinzigeKindbetrachtet,dasinder Romanhandlungwirklichsichtbarwird:MinaistdieEnkelinvonTouma,derNachbarinEves. MinaistauchdieTochtervonToumasSohnAli.DieserspieltimweiterenVerlaufdesRomans eineentscheidendeRolle,daerseineehemaligeGeliebteJacqueline,FreundinvonEveundThel ja,erstvergewaltigtunddann,alsdieseihnanzeigenmöchte,aufoffenerStraßeerschießt.Mina istvonihrenElternverlassen:„Samère,partieavecunFrançais.Alim’adonnéMina.Mina,ma filleàmoi!” 313 (141f)erklärtToumaineinemGesprächmitHans.Abgesehendavon,dassMina

312 Vgl.z.B. VAN GENNEP 1908,75ff,derausdrücklichdaraufhinweist,dassessichbeiderBeschneidung„umein Ritualvonsozialer,nichtphysiologischerBedeutunghandelt“(75).DieBeschneidungstelltnachvanGennepeine dauerhafte kollektive Differenzierung dar. Der männliche Nachkomme wird durch derartige Initiationsriten glei chermaßenvonderhäuslichenSphärederFrauenalsauchvonderGruppederKindergetrennt. 313 „SeineMutter,miteinemFranzosenverschwunden.AlihatmirMinagegeben.Mina,meineTochter!“ 189 damitdasdritteKindimRomanist,fürdasdieGroßmutterMutterfunktionübernimmt 314 ,eine Tatsache,dieoffensichtlichaufdieAntigoneverweist,fürdiejaMutterundGroßmutterdieselbe Person(Iokaste)sind,wirdsieamdeutlichstenzumstimmlosenObjekt,dasdenLeidenschaften derElternausgeliefertist.DennMinasprichtnicht,zumindestnichtfranzösisch,abersiespricht imRomanüberhauptnurzweimalselbst.Ansonstenwirdimmernurdarüberberichtet,Mina habe gesprochen, nämlich Elsässisch (147) oder den marokkanischen Berberdialekt (141). In wörtli cherRedesprichtsienureinenSatzmitThelja(108)undschließlichmitHans,dochauchhier nurdreiWorte: «Kelb ! articuletelle, et, d’emblée, elle rit. Il ne peut comprendre, l’étranger blond, ni trouversurprenantqu’ellecommenceàaborderlevisiteur,attendusiimpatiemment,par uneinsulte…(‘Faudrait,biensûr,luidirequelesArabesinsultentparlechiend’abord, qu’ilshaïssentensuiteparlecochon,qu’ilsadmirentaussimaisencomparantaulion…’) ―Hansconnaîtlemot kelb ;laconversationdébuteparleplusfacile.Ilnecomprendpas lerireperlédeMinaquis’arrête.Quiseconcentre.Elleprenddanssamainlecoupledes enfants, miniature enverre coloré:― El oueld!el bent!―Trop simple!proteste Hans amusé.Moi,jeconnaistoutça…lefils,lafille,lepère,lamère…»315 (139) DiesePassageistinmehrfacherHinsichtbemerkenswert.Zunächstenthältsiewieerwähntfast dieeinzigenWorte,dievoneinemKindindiesemanKindernvirtuelldochsoreichenRoman gesprochenwerden.DieseWortesindzumzweiten:dieheftigsteBeleidigung,diedemKindin seinerMuttersprachezurVerfügungsteht,sowiedieNennungderklassischenFamiliensituation: Sohn,Tochter,Vater,Mutter .Esfälltschwerzuübersehen,dassdiedreiberberischenWorteaufein anderbezogensind.InsofernverstehtHansvielleichtdoch:erversteht,dassdieBeleidigung,die dasKindihmgegenüberineinerArtÜbersprungshandlungausstößt,ihmnichtgilt.DieseInter pretationgiltumsomehr,da–zumdritten–diezitierteStelleeineParallelstellegegenEndedes Bucheshat.UnmittelbarnachdemAli,derVaterMinas,Jacquelineerschossenhat,wirdernäm lichvoneinemPassanten,derdenMordmiterlebthat,rassistischbeleidigt:„’Chien!’hurletil, puisilajoute,trèshaut:‚chiend’étranger!’“ 316 (326).VomSchriftbildherfälltauf,dassdiebeiden BeschimpfungeninAnführungszeichengesetztsind,wasindemBuchsonstbeiwörtlicherRede kaumderFallist.DieAnführungszeichenkönntenalsoaucheinZitatmarkieren:einZitatMinas.

314 Späterkommtnocheineviertehinzu.AlsTheljadieGeschichteerzählt,wiesiezuihremungewöhnlichenNamen gekommenist,erwähntsieauch,ihreGroßmutterhabesieimmerKenza(Schatz)undnichtThelja(Schnee)genannt, einName,dergegendieKonventionenalsErinnerungandenVaterzustandegekommenist.Everuftdaraufhinaus: «Kenza[...]celaveutdire‚trésor’...Tagrandmèreaététavraiemère,tuvois»(177). 315 „ Kelb !sagtsiedeutlichundlachtsofort.Erkanneswederverstehen,derblondeFremdling,nochesüberraschend finden,dasssiedensosehnlicherwartetenBesuchermiteinerBeleidigungbegrüßt...(‚manmüssteihmnatürlich sagen,dassdieAraberzuerstmitdemHundbeleidigen,densiehassen,dannmitdemSchwein,dassieauchbewun dern,aberimVergleichzumLöwen...’)–HanskenntdasWort kelb ;dasGesprächbeginntmitdemEinfachsten.Er verstehtnichtdashelleLachenMinas,dieplötzlichverstummt.Diesichkonzentriert.SienimmtdaskleineKinder paarausfarbigemGlasinihreHand:Eloueld!elbent! –Zueinfach!protestiertHansamüsiert.Ichkennedasalles... derSohn,dieTochter,derVater,dieMutter...“. 316 „’Hund!’schreiter,dannfügtersehrlauthinzu:‚HundvoneinemAusländer!’“ 190 Sieübersetzendasberberische Kelb! indasfranzösische Chien! .DerrassistischeAngreiferbeleidigt ihrenVaterinderSprache,dieMinamutmaßlichzwarversteht(146),aberniemalsinderÖffent lichkeitspricht.ErübersetztdieBeleidigung,dieMinaamAnfangdesBuchesselberimZusam menhangmitderKernfamilieausgesprochenhat: Kelb!eloueld!elbent! DerrassistischeAngreifer wirdsozumÜbersetzerfürMinasWutaufdienichtfunktionierendeFamilie.Esstehensichhier demnachnichtetwadieGeborgenheitderFamilieunddieGewaltdesöffentlichenRaumesge genüber,inderAliderBeschimpfungausgesetztist.DieBeschimpfungtrifftihnvielmehrdop pelt:einmaldirektundeinmalmittelbaralsÜbertragungausdemprivatenRaum,indemMina sie,vonihmungehört,ausstößt.EinestrikteEntgegensetzungderbeidenRäumeerscheintfolg lichfürdieInterpretationder NuitsdeStrasbourg nichtsinnvoll.Wennalso„Antigone[...]nicht VerwandtschaftinihreridealenForm,sondernderenDeformationundVerschiebung[repräsen tiert],eineVerwandtschaft,diedieHerrschaftssystemederRepräsentationüberhauptineineKri sestürzt“(BUTLER 2001,48),dannlässtsichüberDjebarsRomandasselbesagen.DieFamilie existierthierzwarnochalsdiffuser locusamoenus ,dochinderRealitätfälltsieinihrerklassischen FormauseinanderundwirdzurNebensächlichkeitohnejedenFürsprecher. DiebeidenBeleidigungssequenzenwerdenaußerdemdurchdiePräsenzeinesFremdenmitein anderinBezuggesetzt;einmalistdieserFremdejedocheigentlichder ungeduldigerwarteteBesucher , dasandereMalerstarrtdieBeleidigunginihrerrassistischenSemantik.Sicherlichistindiesem zweiten Fall auch nicht zu bestreiten, dass ganz offensichtlich auf der Handlungsebene dem Mörder eine kollektive Sündenbockfunktion attribuiert wird. Der einzelne Mörder wird in der rassistischen Beleidigung als prototypischer Vertreter seiner Ethnie hergestellt. Sein gerade be gangenesVerbrechenwirdaufdieGruppeübertragen.WennmandieliteraturtheoretischenÜ berlegungenvonDeleuzeundGuattaridamitinBeziehungsetzt 317 ,kannmansagen,dieTatdes Einzelnenwerdeunweigerlichpolitisch,ganzegalwiedieGruppezuihrsteht,alsAngehöriger einermarginalisiertenGruppeäußereersichzwangsweisealsihrStellvertreter.DurchdieseParal lelewirdamliterarischenBeispielerneutdeutlich,wasichinBezugaufdieRezeptiondesAnsat zesvonDeleuzeundGuattari,sowiedessenErweiterungumdasElementderMarginalität,be mängelthabe.SiebirgtinsichdieGefahrderZementierungvonVorurteilen,indemTatenoder ÄußerungenEinzelnerderGruppealsganzerzugerechnetwerden.DieseLesartschwächtindivi duelle Verantwortung und vernachlässigt die Tatsache, dass auch eine Gruppe erst hergestellt wirdundnichtetwaderPfuhlist,ausdemMissetäterhervorquellen. DieFigurMinasverschiebtdenAkzentdieserAnordnungaberinkaumzuübersehenderWeise hin zu einer Problematisierung der klassischen Familie,diealsModellin Les nuits de Strasbourg flächendeckendversagt.DieseInterpretationwirdumsoplausibler,alseseineweitereKindheits 317 Vgl.zuDeleuzeundGuattariKap.I.2dieserArbeit. 191 geschichtemittragischenAusmaßenimRomangibt.EshandeltsichumdieGeschichteIrmas, derviertenProtagonistin,FreundinderbereitsgenanntenEve,TheljaundJacqueline.Sieistals Kind jüdischer Elternwährend der Besatzung durch das beherzte Handeln einer Frau gerettet worden, die sie als ihr eigenes Kind ausgab. Irmas Eltern wurden ins Konzentrationslager Strutthofdeportiert,IrmaüberlebteundwuchsbeiPflegeelternauf.DerRomanführtunseine entscheidendeSituationindieserweiterenMutterKindBeziehungvor,dennIrmamöchteihre Retterinkennenlernen,umvonihretwasüberihrefrüheKindheitundihreElternzuerfahren. Dieeinzige,dieihrdabeihelfenkann,istihredamaligeRetterinMaïté.Dieseistallerdingsschon vorJahrennachSchwedenausgewandertundweigertsich,Irmazutreffen.Beieinerschließlich durcheinenRechtsaktverfügtenBegegnung,dieDjebarnurnachträglichüberdieReaktionIrmas schildert,wirddiesevonMaïtékeinesBlicksgewürdigtundalsverrücktbeschimpft(264).Durch dieseoffizielleVersionscheinteineanderehindurch,diedieReaktionMaïtésverständlicherwer denlässt:IrmahegtdenVerdacht,inWirklichkeitdieTochterMaïtészusein,allerdingseineun ehelicheTochter.DieserUmstand,sodieverstörendeVermutung,solltedurchdieKonstruktion mitdendeportiertenElterndesKindesvertuschtwerden. IrmabefindetsichineinerSituation,diederAntigonesinvielerleiHinsichtentgegengesetztist. DerBürgermeister,derbeidemTreffenanwesendist,sprichtalsVertreterderStaatsmachtvor hermitIrma: «Jevousavertis,ceseraduravecelle…pourqu’ellevousreconaissecommesafille!…Je tiensàvousredire,parcequec’estlaloi,quevousaureztoujoursloisirdecontinuervotre procédure,lademandedereconaissancedecettematernité!…Desparentsjuifs,emmenés auStrutthofettués,ilyenaeuhélas,malheureusement;ilyenaeutrop!Maisaucun papiern’aététrouvédecettefiliationlà,pourvous…LeseultémoinauraitétéMmeMaï té,etelleneveutriendire,cequi,ensoi,devientunepreuvecontreelle…Laloiestpour vous, et je suis d’abord un officier d’état civil… Seulement je connais madame… […] même si la justice vous donne raison, elle ne cédera pas! Elle ne vous reconnaîtra pas!…»318 (264f) DieStaatsmachtsolidarisiertsichalsomitIrma,einzig,siekanndenWillendermutmaßlichen Mutternichtbrechen.Dieseweigertsichstandhaft,Irmaanzuerkennen.DasRechtistdabeinur scheinbargegensie,denneswerdenimmerwiederdieVerdienstebetont,diesiesichwährend derBesatzungerworbenhat.SiehatJudenvorderDeportationgerettet,sieistdieHeldinder kleinenGemeindeimElsässischen,indersichdieganzeSzeneabspielt;alssolchekannmanihr keineunehelicheSchwangerschaftunterstellen,diesieselbstleugnet.IhrsymbolischesKapitalist 318 „IchwarneSie,eswirdhartmitihrsein...damitsieSiealsihreTochteranerkennt!...IchmöchteIhnennochein malsagen,weilesdasGesetzist,dassSieimmerdieMöglichkeithaben,ihreBemühungenfortzusetzen,dieBemü hungenumAnerkennungdieserMutterschaft!...JüdischeEltern,nachStrutthofdeportiertundgetötet,siegabes leider,unglücklicherweise;vonihnengabeszuviele!AberkeineUnterlagenwurdenüberdieseAbstammunggefun den,fürSie...DieeinzigeZeuginwäreMmeMaïtégewesen,dochsiemöchtenichtssagen,wasseinerseitseinBeweis gegensiewird...DasGesetzistaufIhrerSeite,undichbinzunächstStandesbeamter..NurkenneichMadame...[...] auchwenndieJustizIhnenRechtgibt,wirdsienichtnachgeben!SiewirdSienichtanerkennen!...“ 192 sohoch,dassauchderVertreterderStaatsmachtnichtsgegenihreEntscheidungauszurichten vermag. Diese Entscheidung Maïtés ist nun eine gegen die als wahrscheinlich angenommene Blutsver wandtschaft.DieBeziehungzwischenMaïtéundIrmaistdasvierteBeispielfüreineZurückwei sungdiesesgängigerweisealssoursprünglichangenommenenVerhältnisseszwischenMutterund Kind 319 .UndauchIrmableibtbeidieserBegegnung,inderihreRollealsKindeinerMutterauf derTagesordnungsteht,sostummwiedieanderenKinder, über diestetsnurgesprochenwird: „Jecroisqu’àpartmonbonjouraudébut,adresséaumaire,jecroisquejen’aipasprononcéun mot“ 320 (264).DieBlutsverwandtschafthatalsoinDjebarsRomanbuchstäblichkeineStimme,sie wirdabgestrittenoderimgünstigstenFallpflichtschuldigbedauert(Thelja),eswirdsichvonihr befreit (Eve) oder siewirdvergessen und muss denleidenschaftlicheren Beziehungenweichen (Ali).SiewirdferneraufdeutlicheWeiseeinerGesetzesinstanzangenähert.IrmahatdasGesetz aufihrerSeite,EveetabliertüberdasungeboreneKinddeneinzigenRespektgegenübereiner traditionellenundzudemmännlichkonnotiertenOrdnung. FürIrmaistdieseOrdnungsolangeeinGegenstandderSehnsucht–daszeigtihreSucheüber deutlich–bissieihreLeidenschaftaufeineandereFormderBeziehungrichtet:Irmadämmert nachdiesemMisserfolginSachenMutterschaftsanerkennungnocheineZeitlanginabgrundtie ferTraurigkeitdahin,bissiesichdemLiebesdrängenihresFreundesKarlergibt(306).Vorher erkenntsieschon,dassMaïtéihre„Mèreamère“ 321 (264)ist,währendsiejaauchnochihrePfle gemutterhatte,diefürsie„plusqu’unemère“ 322 (259)war.IrmaistindersogestaltetenLösung vondenBlutsbandeneinederhoffnungsvollstenFigurendesRomans.

319 DiesbezüglichistdieLacanInterpretationJudithButlerssehraufschlussreich.FürLacangehörenderÖdipus komplexundmitihmdieverwandtschaftlichenStrukturenzurSphäredesSymbolischen,d.h.zudenBedingungen derMöglichkeitvonSprache.DieBesonderheitdesSymbolischenliegtinderinihmvorhandenenSimultaneitätvon KontingenzundUniversalität.DasSymbolische„[erzwingt]dieErscheinungseinereigenenUniversalität[...],[ver fügt]jedochüberkeinerleiSendungoderErmächtigungvonaußerhalb[...],dieihmalstranszendentalerGrundsei nereigenenWirksamkeitdienenkönnte.SeineFunktionliegtdarin,seineAnsprüchezutranszendentalisieren,aber dasheißtnicht,dassesübereinentranszendentalenGrundverfügt.DerEffektderTranszendentalitätisteinEffekt des Anspruchs selbst“ (BUTLER 2001, 75). Verwandtschaft wird dadurch zwar entbiologisiert und entnaturalisiert (vgl.LACAN 1954,41),„aberdiesymbolischeFunktionistimmerschondaoderhat,genauergesagt,immerschon diesenEffekt,sichselbst subspeciesaeternitatis zusetzen.“(BUTLER 2001,72.)Butlerstelltdiesbezüglichzurechtdie Frage:„IstdasinirgendeinerWeisebesseroderschlechter,alswenndieVerwandtschaftalsnatürlicheFormange setzt wird?“ (43), denn Lacan entrückt die Verwandtschaftsbeziehungen genauso jeder grundlegenden Kritik, wie diesjemandtut,dersiefürdieunausweichlichesozialeKonsequenzeinesbiologischenFaktumshält. 320 „Ichglaube,außerdassichdemBürgermeisteramAnfanggutenTaggesagthabe,habeichkeineinzigesWort gesprochen“. 321 „bittereMutter“. 322 „mehralseineMutter“. 193 HandelndeFrauen BetrachtenwirnunetwasgenauerdieimRomangeplanteAufführungdersophokleischen Anti gone 323 ,dieschließlichwegendesMordesanihrerRegisseurinJacquelineabgesagtwird.DieLese rinerfährtzumerstenMalvondiesemProjektwährenddergroßenAbendgesellschaft,derStelle imRoman,anderalleHauptfigurenversammeltsind.DorterzähltTheljavoneinerSzeneaus ihrerKindheit.AlsTheljasVater,einWiderstandskämpfergegendiefranzösischeKolonialmacht, 1959imKampfgetötetwurde,warihreMuttergeradeschwangermitihr.AlsTheljafünfoder sechswar,kamesdannzurfolgendenEröffnungderGroßmutterväterlicherseits:„’maconsola tion,c’estquemonfils,justeavantdemourirbraveaucombat,monfilsasuquesafemmelui donneraitunhéritier!’“TheljaistnochJahrespäterentsetztüberdieseAussage:„Jeneplaisante pas;àmoi,filleuniqueetnéeorpheline,magrandmèretenaitcediscoursfièrement[…]Jacque line,quidufondlacontemple,seditquel’athmosphèredelarépétitiond’ Antigone continue,que seprolongeunétrangeécho“ 324 (174f). DieserEinwurfJacquelinesverweistaufeinewichtigeDimensionder Antigone ,dieinderUsurpa tion der männlichen Geschlechterrolle besteht. In der sophokleischen Version beharrt Kreon geradedeshalbaufderStrafefürAntigone,weilersonstseineGeschlechtsidentitätbedrohtsähe: „Wenn sie sich ungestraft das leisten darf,/Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!“ (SOPHOKLES ca.442v.Chr.,V.484f).DasVerbrechen,dasAntigonesichleistet,istdieBestattung Polyneikes’.DieserhatteThebenangegriffenundwardabeidurchdieHandseinesBrudersEte oklesumgekommen.Kreonhattedaraufhinverfügt,dassdereineBrudermitallenEhrenbestat tetwerdendürfe,deranderehingegenunbestattetdenHundenundGeiernzumFraßdargeboten werdensolle:„DagegenseinenBruder,Polyneikes,/Derlandverwiesenwarundwiederkam/Und seiner Väter Stadt und Götterbilder/Verbrennen wollte, den’s gelüstete,/Sein eigen Volk zu mordenzuversklaven,/Demwird,sogabichdieserStadtbekannt,/KeinGrabzuteilundkeine Totenklage.“(V.198ff) Worinbestehtnundas étrangeécho ,dasJacquelineinderGeschichteTheljasausmacht?Vielleicht inderÜbertretung,diesichTheljasMutteranmaßt,indemsiesichdasRechtderNamensgebung 323 IneinerderrarenInterpretationender NuitsdeStrasbourg behauptetMichaelO’Rileyfälschlich,dieTheatergruppe „decidestostageahyphenatedversionofSophocle’sworkwhichtheywillcall‚DjamilaAntigone’“.DieseAussage istzwardefinitivfalschundnirgendsimTextzubelegen,dochsieerlaubtO’RileynatürlicheinederüblichenLesar tenaufeinenKulturtauschhin:„Theaimoftheactors’projectisthetranslationofaWesternculturaltextthrough its representation by actors of Maghrebian heritage.“ (O’R ILEY 2002, 1243) Die herkömmliche Einordnung der interkulturellenLiteraturinderartigeSchemataverleitetoffenbarmanchenschondazu,DetailsindenTextzuphan tasieren,dieihrentgegenkommen. 324 „’meinTrostist,dassmeinSohnunmittelbarbevorertapferimKampfgestorbenist,erfahrenhat,dassseine FrauihmeinenErbenschenkenwürde!’IchmachekeineWitze;mir,dereinzigenTochter,alsWaisegeboren,hielt meineGroßmutterstolzdieseRede[...]Jacqueline,diesievonweitemansieht,sagtsich,dasssichdieAtmosphäre derProbederAntigonefortsetzt,dasseineigenartigesEchowiderhallt“. 194 herausnimmt? Denn sie war es, die noch im Kindbett das traditionelle Recht der Großmutter ausübte,überdenNamenderNeugeborenenzuentscheiden.Dochdamitsetztsiesichgerade nichtandieStelleihresMannes,andessenwinterlichenTodderNameTheljassogarerinnern soll,sondernandieseinerMutter.DieoffensichtlichereParallelebestehtvielmehrinderGering schätzung des Weiblichen, die in beiden Geschichten zum Ausdruck kommt. Denn Antigone wirddurchihreEntschlusskraftnichtetwazurstarkenFrau,sondernzumMann,deminderge sellschaftlichen Ordnung als einzigem politische Entscheidungsgewalt zugestanden wird. Und politischeEntscheidungsgewaltübtAntigoneaus,indemsieeinenvomSouveränverfügtenBe fehl missachtet. Antigones Handeln hat ganz klare politische Implikationen und repräsentiert nicht,darinistJudithButlerzuzustimmen,„ VerwandtschaftalsdiejenigeSphäre [...] ,dieüberdieMög lichkeitsbedingungvonPolitikbestimmt,ohnejeselberPolitikzuwerden .“ (BUTLER 2001,14) DieEpisodeTheljasistdabeinocheineNuancekomplexer,denninihrgibtesjamehrerehan delndeFrauen.ZunächstdieMutter,diezwareinerseitsdasGesetzübertritt,damitabervoral lemihrerSchwiegermuttereinRechtvorenthält 325 .DerName,densieauswählt,stehtdabeiwie gesagt in direktem Zusammenhang mit ihrem getöteten Mann; er ist eine Erinnerung an den schmerzvollenAbschiedvonihm,andenAbstiegausdemwinterlichenGebirge,woersichmit denübrigenWiderstandskämpfernverschanzthatte,alsTheljasMutterihnzumletztenMalle bendsah(175f).AuchdieWortederGroßmuttersindvollständigaufdenTotenausgerichtet,sie bringendieErleichterungzumAusdruck,dasserindemGlaubensterbenkonnte,einenmännli chenNachkommenzuhaben.DieUsurpationderMutterfindetalsoganzklarnichtnurwiedie AntigonesimmännlichengesellschaftlichenSystemstatt,nein,sieüberschreitetesnur,umdamit derLiebezuihremGatteneinFanalzusetzen.UndgenaudeshalbverzichtetauchdieGroßmut ter auf das ihr zustehende Recht: Derjenige, für den die Beugung geschieht, ist eben der tote Sohn. All diesen Herabsetzungen ausgeliefert – und eine Herabsetzung ist der Ausspruch der GroßmutterfürdaskleineMädchen–isteinmalmehrdasschweigendeKind,dashier,wieinder überwiegendenMehrzahlderanderenFällein LesnuitsdeStrasbourg ,weiblichist. BeiderGeneralprobezurAufführungder Antigone beschreibtJacquelineschließlich,worinihrer MeinungnachdieSpezifizitätAntigonesbesteht.„Antigoneabandonnéedesdieuxetdeshom mesdevientfigureparexcellencedusacrifice“ 326 (211).DieseKonzeptiondesOpfersistdabei offenbarkeineeinesOpfers für ,dennsiestehtinkeinerVerbindung,wederzuGötternnochzu

325 DamitwirdeinMotivaufgerufen,dasElaineShowalterinderLiteraturvonFrauenvorden70erJahrenhäufig identifiziert: Matrophobie ( matrophobia ), derHass aufdie eigene Mutter und dieAngst,selbst Mutter zu werden (SHOWALTER 1985,135).DasMotivistbeiDjebarinbeidenKomponentenvorhanden,allerdingsauchinbeiden leichtverschoben.DennderHassaufdieMutterwirdbeiihreherzueinerKonkurrenzmitderSchwiegermutter. DieAngst,Mutterzuwerdenistzugleich(Alibetreffend)AngstvorderVaterschaftbzw.Skepsisgegenüberder Familieinsgesamt. 326 „Antigone,vonGötternundMenschenverlassen,wirdzumInbegriffdesOpfers“. 195 Menschen.AndersalsinderDeutungHegelsistAntigonehiernichtalsHüterinderFamiliemit denGötternimBundgegeneinemenschlicheOrdnung,dievonMännerndominiertist.Jacque linesBeschreibungentsprichtvielmehrbisindieEtymologiehineindem,wasGiorgioAgamben als sacratio bezeichnet:„DieStrukturder sacratio istsowohlnachdenQuellenwienachderüber einstimmenden Meinung der Forscher das Resultat der Vereinigung zweier Wesenszüge: der StraflosigkeitderTötungundderAusschließungvomOpfer“(AGAMBEN 1995,91).Der homo sacer ist ein Mensch, der zwar dem ius humanum entzogen, der aus der Gemeinschaft verbannt wurde,derabergleichzeitignichtins iusdivinum übergegangen,d.h.einemGottesurteilanheim gestellt worden ist, das ihn vom Profanen ins Heilige überführen könnte. Das so verstandene OpferimSinneder sacratio istwederdieVollstreckungeinesmenschlichenTodesurteilsnochder Vollzugeinesreligiösen(Reinigungs)rituals.ÜberdenVerurteiltenisteinBann,einpermanenter Ausnahmezustandverhängt,derihnderGewaltderGemeinschaftunterstellt,indemerihnaus ihrausschließt 327 .FürAgambenstelltsichnunüberdasinBanngenommeneLebendieDimensi ondesPolitischenher.Denndadurch,dasseinBannverhängt,einAusnahmezustandausgerufen werdenkann–undderAusnahmezustand,derübereineganzeGemeinschaftverhängtwird,ist nichtsanderesalseinausgeweiteterBann–vollziehtsichsouveräneMacht. „Heilig,dasheißttötbarundnichtopferbar,istursprünglichdasLebenimsouveränen Bann,unddieProduktiondesnacktenLebensistindiesemSinndieursprünglicheLeis tung der Souveränität. Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne MachtalsMenschenrechtinjedemfundamentalenSinnegeltendmachenmöchte,meint ursprünglichgeradedieUnterwerfungdesLebensuntereineMachtdesTodes,seineun widerruflicheAussetzunginderBeziehungderVerlassenheit[abbandono]“(93). AntigonewirdnuntatsächlichvonKreonsBanngetroffenundnichtetwavoneinemTodesur teil 328 .SiewirdausderSphäredes iushumanum ausgeschlossen,abernichtindiedes iusdivinum überführt.KreonmöchtesichnichtmitihremTodbelastenundsounterwirftersiedemBann strahl,dersieganzimSinneAgambenszueinerlebendenTotenmacht 329 .DaAgambennunaber denBannalsInstrumentderSouveränitätalskonstitutivfürdenpolitischenRaumdenkt(116), bedeutetdiesfürdieInterpretationder Antigone eineAbkehrvonderSichtweisez.B.Hegels,für denAntigonedieöffentliche,männliche,politischeSphäregeradestört.DieWeiblichkeit,exem plarischverkörpertdurchAntigone,warfürihnderinnereFeinddesStaates, dieewigeIroniedes Gemeinwesens .InHegelsInterpretationstelltAntigonedieWertederFamiliegeradeüberdiedes StaatesundHegelfasstdiesalsInbegriffdesWeiblichenauf.DieFraualsVerkörperungdespri 327 ImitalienischenOriginalspieltAgambenmitdemetymologischenZusammenhangzwischenbando(Bann)und abbandono (Verlassenheit). Dieser Zusammenhang ist im Französischen ebenfalls gegeben (ban, bannisse ment/abandon). 328 „Schafftsiemirschleunigstweg!Undringsumschlossen/VomGrabgewölbelasst,wieichbefahl,/Siedortallein, ob sie nun sterben möchte,/Ob weiterleben unter solchem Dach./So sind wir unbefleckt von ihrem Tod,/Das Wohnrechtnurhierobenistsielos.“(SOPHOKLES ca.442v.Chr.,V.885ff) 329 Vgl.AGAMBEN 1995,108f. 196 vatenRaums,versuchtdenMann(indiesemFallPolyneikes),deröffentlichenSphäre,inderer durcheinenanderenMann,Kreon,rechtskräftigverurteiltwurde,zuentziehen.WasihrimLe bennichtgelungenist,versuchtsiegleichsamimTodezuerreichen.Antigone,alsInbegriffdes Weiblichen,arbeitetfürHegelgegendasPolitische.Sieistallenfallsalsvorpolitischzusehen,als Frau,diedenMannandemihmeingeborenenStrebenindieöffentlicheSphärehindernmöch te 330 . DieEngführungderFigurAntigonesmitdem homosacer ,wieAgambenihnbeschreibt,machtaus ihr nun im Gegenteil eine hochpolitische Figur.Allerdingsweist dieser Begriff des Politischen geradenichtaufdieMöglichkeitvonRepräsentation,sondernaufderenGrenzen 331 .Inseinem StatusdesEinschlussesdurchAusschlussistder homosacer gerademachtlosundindiesemSinne Opfer.DennderBanngiltjafürdasvonihmgetroffeneIndividuum,dasinsofernderstaatlichen Macht untersteht; doch gleichzeitig beinhaltet derBann den Ausschluss aus der Gemeinschaft undmachtdenVerbanntensomitzumVogelfreien,derstraflosgetötetwerdendarf,ohnedass dieseTötungalseinOpferimsakralenSinneodereineStrafeimmenschlichenSinnebetrachtet werdenkönnte.DurchdenBannwirddieVerbanntezurFigurdesOpfers,dasvonGottund Menschenverlassenist, abandonnéedesdieuxetdeshommes ,d.h.genausowieAntigonevonJacque linebeschriebenwird. DieFraueninDjebarsRomansindnunnichtpolitisch aktiv .Siesindabersehrwohl politisch im SinneAgambens.SieunterliegenzwarkeinemklarlokaliserbarenBannstrahl,dersieausderGe sellschaftausschlösse,gleichwohlabersindsieVerlassene.SiesindRegelnunterworfen,denensie sichnichtentziehenkönnen,ohnedamitnichtzurUnpersonzuwerden.DerVersuchderFrau en,sicheinenTeildesöffentlichenRaumeszuerschließen,kannnicht durchdasRecht verhindert werden,aberdennochwirderverhindert.DieFrauenscheiternmitihrensehrheterogenenBe gehrennachÖffentlichkeit,nachTeilhabeanderGemeinschaft,aneinempolitischenRaum,in demsieselbstdieMöglichkeitzumHandelnhaben. TheljascheitertinihremBemühen,mitihremMannHalimzukommunizieren,derihrenAus bruchausderihrangestammtenRollenichtgutheißt.ErverweigertamTelefondieKommunika tion(DJEBAR 1997,250f).DieMöglichkeit,ihreMutterrolleandersauszuüben,alsinderihrvon HalimundderTraditionzugestandenenWeise,wirdzunichtegemacht,indemderHöreraufge legtwird.Siespricht,dochman(n)hörtnichtzu. IrmaistebensosprachundmachtlosbeiihremVersuch,sichihreVergangenheitzuerschließen. Letztendlichscheitertsiedaran,dassihremutmaßlicheMutternichtgewilltist,dassymbolische

330 DieseSichtweisemachtButlernichtnurinderInterpretationHegelsaus,sondernebensoinderLacansoder Irigarays.Vgl.BUTLER 2001,13f. 331 Vgl.BUTLER 2001,13. 197 KapitalaufsSpielzusetzen,dassiealsHeldindesWiderstandsinihrerHeimatgemeindebesitzt. DieöffentlicheAnerkennungistihrwichtigeralsihreTochter.Sieerweistsichdadurchalsder Ordnungunterworfen,dieeseinerFraunichterlaubt,einunehelichesKindzuhaben,ohneda mitgleichzeitigihreöffentlicheAnerkennungzuverlieren. Jacquelineschließlichversucht,Alianzuzeigen,dersievergewaltigthat.Sieversuchtdamitder Gewalt,der sieausgesetztist,inentschlossenerWeisedieLegitimation zuentziehenundwird durch einen neuerlichen Gewaltakt daran gehindert, die Vergewaltigung öffentlich zu machen. AuchsiewirdzumVerstummengebracht,dieWelterfährtnichtausihremMunde,wasihrange tanwordenist.HannahArendthatdaraufhingewiesen,wiewichtigdieSpracheinderPolisfür daspolitischeHandelnwar 332 .„StummistnurdieGewalt“,schreibtArendt,dochdieGewalt,so wärenacheinerLektüreDjebarsnochhinzuzufügen,bringtauchzumVerstummen 333 .DasGe setzistdabeiinallenFällenaufSeitenderangegriffenenundzumSchweigengebrachtenFrauen, dochesnütztnichts:Siehabenzwardas Recht ,dochgleichwohlnichtdie Möglichkeit ,sichöffent lichzuäußern. Jacquelinewirddabeifreilichnichtstraflosgetötet.Dochnichtsdestowenigergelingtesihrweder sichimöffentlichennochsichimprivatenRaumdurchzusetzen:SiewirdaufoffenerStraßegetö tet,nachdemsiezuvorinihrereigenenWohnungvergewaltigtwordenwar.Nirgendsgibtesein Refugium vor der Gewalt. Jacqueline verkörpert diese Unmöglichkeit zwar am drastischsten, dochauchdieanderenFrauenfindenkeineMöglichkeit,ihreVorstellungvomgutenLebenzu verwirklichen.IhnenwirdstraflosdieSprachegenommen,siemüssennichtsterbenwieJacque line,dochobwohllebendig,vermögensieesnicht,sichGehörzuverschaffen,siesindeinebe sondereVersionder lebendenToten Agambens. NebenderStimmegehörtezurpolitischenKonzeptionderPolislautArendtabernocheinweite reswichtigesElement:derMut,dasLebenaufsSpielzusetzenbzw.dieGeringschätzungdes rein biologischen (Über)Lebens. Das εύζην, das aristotelische gute Leben, war gerade dadurch ausgezeichnet, dass derjenige, der es führte, nicht so sehr am biologischen Leben selbst (ζην) hängendurfte.DerpolitischeRaumwarnichtderRaumdessorglosenLebens,sondernder,in demdiesesnachrangigwurde.DerpolitischeMensch(Mann)befreitesichwenigstenseinStück weitvonderKnechtschaft,diedaskörperlicheLebendemIndividuumaufzwingt 334 .Mankönnte alsosagen,JacquelinesTodseidielogischeKonsequenzausihremVordringenindenöffentli chenRaum.WieAntigoneusurpiertsiedieeigentlichdenMännernvorbehalteneStelle.Ungleich

332 Vgl.ARENDT 1958,36. 333 AntigoneschneidetsichinderDeutungLuceIrigaraysselbstdenAtemunddasWortab–sieerhängtsich.Sie stehtdamitimeklatantenGegensatzzuKreon,der„seinPrivileg[verteidigt],alseinzigerdenSchutzdesWorteszu sichern,derWahrheit,derIntelligenzundderVernunft“(IRIGARAY 1974,272f,hier:273). 334 Vgl.ARENDT 1958,46. 198 diesergelingtesihrabernichtzusprechen,dennsiewirdvorhermitderKonsequenzausihrem Schrittkonfrontiert:WerindieÖffentlichkeitgeht,darfnichtsosehramLebenhängen,dennin derÖffentlichkeitherrschtGewalt. DieKonzeptionderPolis,wiesieHannahArendtnachzeichnet,enthältdieseFigur.DasSpre chensolldieGewaltablösen,dieaußerhalbderPolisherrscht,dochzugleichkanndieGewaltin denöffentlichenRaumderPoliseindringenunddortden,derseineStimmeerhobenhat,treffen. BeiDjebarfindetdiegewaltsameAusschließungderFrauen,diesprechenwollen,hingegenim merstatt, bevor diesezurSprachegefundenhaben.DieFrauenwerdenamTelefonunterbrochen, wieThelja;siewerdenvonanderenfürverrückterklärt,wieIrma;undimFalleJacquelineswer densiesogarphysischausgelöscht.TheljawirddurchdieeigenartigeBemerkungihrerGroßmut terandieStelleeinesJungengesetzt(174).DieAbsurditätdiesesAkteswirddurchdienichtvor handeneAntwortTheljasdeutlich.SiesolldieserErbe( héritier )sein,dessenVorhandenseinden Vaterhattröstlichsterbenlassen?Abersiekann,siedarfinnerhalbdergesellschaftlichenOrd nung,indersielebt,dieseRollegarnichtausfüllen.IstdadurchalsodesVaterströstlicherTod zerstörtundwennja,werhatdieseZerstörungzuverantworten? InDjebarsRomangeratendieProtagonistinneninvielfacherWeiseinBerührungmitdieserFi gur,dieGewaltundSprachealsMittelderPolitikeinanderentgegensetzt.DochinkeinemFall siegt die Sprache. Nach Jacquelines Tod überlegt die Theatergruppe, ob sie die Antigone noch aufführensoll.DieMitgliederentscheidensichdagegen.StattdessensolldieBühnealsForumder persönlichenTrauerdienen.Djamila,dieDarstellerinderAntigone,diederTodJacquelinesin besonderemMaßetrifft,sollimNamenderGruppeübersiesprechen.AufdiechiastischeStruk turdieserKonstruktionwirdimplizitimTextverwiesen,indemDjamilaalsRednerinmitihrer Rolleidentifiziertwird:„Lesilences’installaitquand,habilléedeblanc,paraissantplusgrandeque d’ordinaire, entra DjamilaAntigone“ 335 (355). Djamila wird als erste und einzige der öffentlich sprechendenFrauendesRomansnichtamSprechengehindert.DieRedeDjamilasistdabeiin zweiAbschnittegeteilt,diesowohltextlichdurcheinenAbsatzalsauchbühnentechnischdurch einen verlöschenden Scheinwerfer markiert werden. Es ist nun aber nicht so, dass die beiden RedeteileDjamila–dierealePerson–undAntigone–dieliterarischeFigur–voneinanderschie den.VielmehrverwandeltsichDjamilasBühnenpräsenzimzweitenTeilderRedeineineStimme (359),eineStimme,derenIntensitätdieschonzumGehengewandtenZuschauerzurückhältund inihrenBannzieht.AußerdemkennzeichnetdieseStimmedenÜbergangvompersönlichenAb schiedzurallgemeinenpolitischenAussage. Djamilabefindetsichdamitgerade nicht inKongruenzmitihrerRollealsAntigone–wederim direktennochimübertragenenSinn.DieMitgliederderTheatergruppe,dasPublikum,alleerwar 335 „Ruhekehrteein,alsDjamilaAntigoneauftrat,weißgekleidetundscheinbargrößeralssonst.“ 199 tenvonihr,dasssiezusprechenbeginnt.ImGegensatzzuihremantikenVorbildsollsiedieklar definiertePositioneinnehmen,dieeineröffentlichenTrauervorbehaltenist.SiesollimNamen ihrer Kollegen dem Publikum, das die Öffentlichkeit repräsentiert, Zeugnis ablegen von dem Verlust,denalledurchdenTodJacquelineserfahrenhaben.Vielleichtistesdeshalbkonsequent, dassDjamilasichvonihrerRolledistanziert:„Jevousavertistous[...]sijedoisparler,cen’est certainementpasenAntigone“.DieRolle,diesiestattdessenfürsichinAnspruchnimmt,isteine interessante:„J’interviensdevantvoussimplementenDjamila...–ellehésita–Antigonelasacri fiée?“ 336 (356)DernachgeschobeneSatzbringterneutdasThemadesOpfersauf,dasdenersten TeilderRedeDjamilasauchdominiert.EsbleibtdabeischonaufderTextebenealsFragestehen, obdierealePersonDjamilamitdergeopfertenAntigonegleichzusetzenist.Verbindenwirdiese aufdenerstenBlickrechtundurchsichtigeStellemitdenÜberlegungenzur sacratio ,eröffnetsich zumindestdieMöglichkeiteinesVerständnisses:DjamilafällthierimwahrstenSinnedesWortes ausihrerRolle.Diesgeschieht,weil derGewaltaktgegenJacquelinedie RolleinihrGegenteil verkehrthat.Antigonewirdnichtmehr–alsdramatischeFigur–amSprechengehindert,son dern–alsrealePerson–zumSprechenaufgefordert.SiereagiertdaraufmiteinererneutenUm kehrung,sieentledigtsichderRolleundzertrümmertdadurchdenihrzugewiesenenRaum.Sie gibtsichnichtzufriedenmitdemZugeständnisderöffentlichabgesegnetenkollektivenTrauer, diesiealsStellvertreterinderTheatergruppezumAusdruckbringendarf. Jevousavertistous ,Dja milaistnichtmehrdieLaienschauspielerin,dieeinenPlatzinnerhalbdesgeregeltenöffentlichen Lebenseinnimmt,sienimmtsichheraus,indieserSituationdieihrzugeteiltenBefugnissezuü berschreitenundalsrealePersonüberandereDingealsdieerwartetenzusprechen. „Antigonelasacrifiée?Moiquisuislà,bienvivante,j’avaisflairédèsledébutqu’ilyavaitdanger“. DjamilaverbindethierininzwischenvertrauterWeiseLebenundTodundsiebringtdamitzum Ausdruck,dasssieeshättewissenkönnen,ja,dasssieesgewussthat:„Jacquelineetmoinous jouionsaveclefeu“ 337 (356).InDjamilashierthematisierterVorahnungspiegeltsichdas étrange écho ,demwiraufderAbendgesellschaftbeiEvebegegnetsind.NichtdieTatsache,dassdieAnti goneaufgeführtwird,nichtdieTatsache,dassinihrdieAusgestaltungdesöffentlichenRaumes thematisiertwird,sinddieGefahr,dieDjamilavorausahnt.DieGefahrliegtindermassenhaften Überschreitung gesellschaftlich zugewiesener Orte, die in den gesammelten Geschichten der FrauenzumAusdruckkommt. WirdAntigonegeopfert? lautetDjamilasFragealsoganzberechtig terweise.Stirbtsie,wieHegelesnahelegt,fürdieVerteidigungdesprivatenRaums,derBruder liebe,gegendenseelenlosenStaat?MitDjamilalässtsichantworten:nein.Siethematisiertinihrer 336 „Ichwarneeuchalle[...],wennichsprechenmuss,dannsicherlichnichtalsAntigone.Icherscheinevoreuch einfachalsDjamila...–siezögerte–Antigone,dasOpfer“. 337 „Antigone,dasOpfer?Ich,dieichsehrlebendighierbin,hattevonAnfangandieGefahrgerochen.Jacqueline undich,wirspieltenmitdemFeuer.“ 200 RedeimmerwiederdieGesellschaft,diediesenTodverschuldethat(„’on’,c’estbiensûrnous tous“ 338 ,357),diebeiderTötungzugesehenhat(„pratiquementdevanttous“ 339 ,357)unddienun diegesellschaftlicheMaschineriealsGewissenströsterbesitzt,dieinFormvonPolizeiundGe richtsbarkeitgegendasVerbrechenvorgeht.DochdamitgehtdieKomponentedesAusgeliefert seins, der Ausweglosigkeit verloren, wie sie eine klassisch tragische Situation auszeichnen: „L’espritdelatragédies’estdissipéavecelle…Nerestequeledrame,qui,biensûr,aàvoiravec lesenquêtesdepolice,aveclajustice!…(Elleeutunriredéchiré.)“ 340 (357) 341 .Jacqueline kann nachihremTodindiegesellschaftlicheOrdnungintegriertwerden.VorihremTodistsiehinge gen–wiealleProtagonistinnendesRomansaufjeeigeneWeise–dergesellschaftlichenOrdnung eherausgeliefertundihremUrteilunterworfen.DieFigurder sacratio istaufdieFrauendesRo mansalsoineinemganzspezifischenSinneanwendbar:SiewerdeninihrerRollegleichsamfi xiertundzumVerstummengebracht.DasLeben,dassieführen,isteinesabseitsdeseigenständi genHandelns.UnddieGewalt,dersieunterliegen,trifftsiestets bevor ,nicht nachdem siegespro chen und also gehandelt haben. Die Gewalt ist keine menschliche Strafe, sie istAusdruck des AusgeliefertseinsaneinegesellschaftlicheOrdnung,andersichdieFrauennichtaktivbeteiligen können.DasLeben,dasihnenaberkanntwird,istdasöffentliche–darinbestehtdiebesondere Versionder lebendenToten inDjebarsRoman. Diesesehr allgemeineFormderÖffentlichkeitfindetdennauchNiederschlagimzweitenTeil vonDjamilasRede.HierwirddieimerstenTeilbeschriebenePositionzueinerkonkretenpoliti schenAussagebenutzt;undesistnichtweitererstaunlich,dassTheljaspäterbemerkt,dassgenau andieserStelle„toutarisquédedériver“ 342 (358).DieseSzeneistvonAssiaDjebaräußerstwir kungsvollinszeniert.DjamilastehtnochaufderBühne,dergeläufigeRitusderTrauerkundge bungistvorbei,dasPublikumerhebtsichundwendetsichzumGehen,dieScheinwerferwerden langsamgedimmt.DochDjamila,diehierplötzlichwiederDjamilaAntigonegenanntwird(358), wirdaufdieseWeisegleichsamentkörperlichtundzumindestinderWahrnehmungTheljaszu

338 „’man’,dassindselbstverständlichwiralle“. 339 „imGrundevorallerAugen“. 340 „DerGeistderTragödiehatsichmitihrverflüchtigt...EsbleibtnurdasDrama,dasnatürlichmitdenErmittlun genderPolizei,mitderJustizzutunhat!...(Sielachteauf.)“ 341 IndieserganzenSzenetauchtsomitnebendemMotivder sacratio ,aufdasichmichhierhauptsächlichkonzentrie re, auch die Unterscheidung Hannah Arendts zwischen Handeln und SichVerhalten auf. Djamilas Anklage kann auchindieserWeisegelesenwerden:Warumhatniemandgehandelt,alsesdaraufankam?Warumhandeltüberhaupt niemand in diesem Sinne, der es Menschen, die durch ihre Normabweichung unter gesellschaftlicher Bedrohung stehen,erlaubenwürde,ihrerseitszuhandelnundsichzuartikulieren?Warumverhaltensichnuralle,indemsiedie eigeneVerantwortunganstaatlicheSanktionen(Polizei,Gerichte)sowieanritualisierteVerhaltensweisen(wiedie öffentlicheTrauerzeremonie)delegieren?DieseHeimatlosigkeitdesHandelnsunddiekonformistischeAngleichung durch das SichVerhalten innerhalb der modernen Gesellschaft sind für Arendt Katalysatoren tyrannischer Herr schaftsformen.Vgl.ARENDT 1958,50ff. 342 „esbestanddieGefahr,dassallesausdemRuderläuft“. 201 einer„voixanciennedeStrasbourg“ 343 (359).Esistdabeinichtzuübersehen,dassdasAusschal tenderOptikandieserStelleeineklareFunktionbesitzt.WirhattenamAnfangdiesesTeilsge sehen,welcheRolledieOptikinderZuweisungvonEigenschaftenspielt.YokoTawadahatte gerade diesen Sinn als den Inbegriff eines mythisierenden Funktionszusammenhangs beschrie ben.DemgegenüberstehtandernunerreichtenStelledieKonzeptionHannahArendts,diedie StimmealsInbegriffdesPolitischenbeschreibt,dieinderPolisdieGleichheitderamöffentli chenLebenTeilnehmendenversinnbildlicht.IndieserStimme,diezwarnochDjamilagehört,ist nunnichtsmehrsichtbar,SaalundBühnesindabgedunkelt.AufdieseWeiseentkörperlicht,kann dieStimmeaufderBühnenunzueinerInstanzwerden,diesichausderihrmehrfachzugewiese nenPeripheriewegbewegt.IhreTrägerinistnichtmehrprimärFrauoderEinwandererin,sieist diejenige,diesichaneineGeschichteausdemspätmittelalterlichenStrasbourgerinnert:Esgeht um die Einweihung der Kathedrale. Ein Priester musste sich seinerzeit in die Kathedrale ein schließenlassen,umfürdieEinweihungsprozessiondieRolledesTeufelszuspielen.DieTüren öffneten sich erst, nachdem die Menge ihre Frömmigkeit kundgetan hatte, und der Pries ter/TeufelentwichausderKirche.DiesekryptischeGeschichteisteingebettetineineallgemeine politischeAussageüberdasVerhältnisderStraßburgerzudenEinwanderern. DjamilanutztihrForumzueinemErgreifendesWortes,dasoberflächlichgesehenmitderTrau erzeremoniegarnichtszutunhat.DochvordemHintergrundderInterpretation,dieichhier entwickelthabe,wirdderZusammenhangdeutlich:DjamilagehtvomPersönlichenzumPoliti schen,sienutztdiealleinigePräsenzihrerStimmezueinerallgemeinenöffentlichenAussage,die weitüberdieeinfacheTrauerumJacquelinehinausgeht.Unddochwirdsodeutlich,dasssichin JacquelinesPersondieSphärenvonÖffentlichkeitundPrivatheit,vonZentrumundPeripherie schneiden. Denn Jacqueline war eben auch politisch Handelnde. Gerade in ihrer Funktion als RegisseurinderTheatergruppestandsiefürdasErnstnehmendersozialbenachteiligtenJugendli chenausdenVorstädten.SieverschaffteihnendurchihrEngagementeinöffentlichesForum.Es ist dabei eine komplexe Pointe des Romans, dass es ausgerechnet ein Einwanderer ist, der sie zunächstvergewaltigtundschließlichtötet.DochdieserUmstandistebenkeineswegssoeinfach zu lösen, wie dies die rassistische Beschimpfung durch den Augenzeugen nahe gelegt hatte. JacquelinesTodistkeinTod,derdurchdieUnterdrückungderFrauinderKulturderEinwande rerzustandekommt.SiewirdaufoffenerStraßeermordetundDjamilawirdnichtmüdeesauch imzweitenTeilihrerRedezubetonen:„vousl’aveztuée“ 344 (359).DerMordanJacquelinewird mitderMarginalisierungderEinwandererdurchdiefranzösischeGesellschaftparallelisiert.Erist kein Ereignis, das gegen diese Gesellschaft, sondern eines, das in ihr selbst geschieht. Djamilas 343 „altenStimmeStrasbourgs“. 344 „ihrhabtsiegetötet“. 202 Drohung–„quevouslevouliezounon,jemeplacedésormaisaucœurdevotreStrasbourg“ 345 (359)–wirdzurpolitischenKampfansage.SiewirdsichnichtmitdemihrangewiesenenPlatz zufriedengeben,genausowenigwieesJacquelinetat,alssievonderGewaltgetroffenwurde.Sie wirdnichtdenTeufelfürdiefrommeGesellschaftspielen:„Oùsuisje?Quisuisje?Lepetitprê tredevantjouerlerôledudiable,pourquelesportess’ouvrent?“ 346 (361) DastragischeMomentandiesemzweitenRedeteilliegtdarin,dasszunächstvondenZuschauern und schließlich auch von der Erzählerin gemutmaßt wird: elle délire . Und folgerichtig ergeht schließlich die Empfehlung: „qu’on l’emmène“ 347 (361), diejenige, die so vollständig aus ihrer Rollefällt,sollausdemöffentlichenRaumentferntwerden.Esistausgerechnetderschonhalb abgeschminkteDarstellerdesblindenTeiresias,derdiesemWunschnachkommtundderRedeso einEndesetzt.DabeihatteDjamilageradedenSchrittzumpolitischenHandelngetan.Siewar wirklichzurAntigonegewordenund handelte derStadtzumTrotz . Vergessen NocheinweiteresDetailfälltanderRedeDjamilasauf.Sieerinnertsichundzwarnichtnurin BezugaufJacqueline,dasistjaihreAufgabeinderTrauerzeremonie,sondernimzweitenTeil geradeauchinBezugaufdieganzeStadt.AußerdembringtsiesichoffensivinOppositionzum Publikum:„Vous,vousavezoubliélejourdel’inaugurationdelacathédrale“ 348 (359).Inihrer RedehatdasErinnerndabeieineklarpositiveKonnotation.Djamilamanövriertsichüberdieses ErinnerninsHerzderStadt;sieisteinewahreEinwohnerinStrasbourgs,dennsieerinnertsichan seine Geschichte. Sie ist gerade keine Fremde, denn die angeblich Einheimischen haben diese GeschichtendesOrtes,andemsievorgebenzuHausezusein,längstvergessen. DochVergessenundErinnernwerdenimRomaninsgesamtnichtsoeindeutiggehandhabtwiein dieserRede.GeradedasVergessenwirdleitmotivischeingesetzt,währenddasErinnernvorallem spontaner und punktueller abläuft und sich meist auf konkrete historische Ereignisse bezieht. DasVergessenzeigtsichsehrauffälligindentitelgebenden NächtenvonStrasbourg .DieTage,die sievoneinandertrennen,scheinennämlichbeiTheljajedesMaleineArtVergessenauszulösen, dieihrinjedereinzelnenNachteinneuesKennenlernenFrançois’ermöglicht.Sichtbaristdieses VergessenandemstetigenÜbergangvom Sie amBeginnfastjederNachtzum Du anderenEn de.IndiesemVergessenderVertrautheitliegtdieMöglichkeitzueineralternativenLesartdes

345 „obihrwolltodernicht,ichbinkünftigimHerzeneuresStrasbourgs“. 346 „Wobinich?Werbinich?DerkleinePriester,derdieRolledesTeufelsspielenmuss,damitsichdieToreöff nen?“ 347 „Bringtsieweg“. 348 „IhrhabtdenTagderEinweihungdesMünstersvergessen“. 203 ThemasderFremdheitin LesnuitsdeStrasbourg .IndenerstendreiNächtentauchtdieses fairecon naissance indenverschiedenstenWendungenauf:„ Jefaistaconnaissanceencoreetencore “349 (57)heißt esindererstenNacht,„ Refaisonsconnaissance! “350 (83)inderzweiten.Inderdrittenkommtesdann zumerstenProblemmitdiesemstetigenVergessenundWiedererkennen:„Nousnousretrouve rions,vousmeregarderiezcommelapremièrefois,–Lapremièrefois,jen’avaispaslachancede cesoir:tenirtonbustenudansmesbras!–Laissezmoidoncrêver!Pourplustard,oupourja mais“ 351 (112).DieseStelleistderAuftaktzurerstenernsterenVerstimmungzwischenTheljaund François.Dieserkanndieses pourjamais inderFolgedesDialogswedervergessennochakzeptie ren.SeineReaktionistinteressant:ErzwingtTheljazumLiebesaktundhatdabeistetsdieAb wehrdieserPhraseaufdenLippen:„pourjamais...non!“ 352 (113).ErneutisteineFraumännlicher GewaltausgesetztunderneutwirdihrdadurchdieSpracheabgeschnitten:„Saboucheàelle;il l’étouffaitencoredesonsoufflequisecalmalentement.Ellesedégagea[...]–Moiquinedésirais, cettenuit,queparler!“ 353 (113).DochhiergeschiehtdiesesZumSchweigenBringenimprivaten RaumundzwaralsReaktionaufeineungewisseZukunft.DieSorglosigkeit,mitderTheljadie Möglichkeitdes ziellosenTraums einkalkuliert, bringt ihren Liebhaber auf. Er macht auch das Oszillieren zwischen Sie und Du nicht mit, sondern bringt durch sein dauerhaftes Duzen eine KontinuitätindieBeziehung,diesiegeradeabwehrt.DieFormvonIntimität,dieTheljavor führt,isteinedesAugenblicks,dieFrançois’isteinederDauer,sieführtvonderFremdheitweg undzurVertrautheithin.EinTraumwirdindieserVersionnuralsperfektibelakzeptiert: Pour plustard ,dasistinOrdnung,dennVertrautheitkannaufeinZielhinlangsamwachsen, pourja mais...non! DieseMöglichkeit,dassdieVertrautheitwiederabklingenkönnte,dassdas Du wieder dauerhaftzum Sie werdenkönnte,kannFrançoisnichtertragen.GegendiesesVergessensetzter, einmal mehr, die Gewalt. Wenn François im Rest der Szene auffällig still bleibt und Thelja schließlichäußert:„j’aimecedialogueàlafoisdenoscorps,etlafaçondontjepeuxdélierenfin ma parole“ 354 (116), so wird durch die Erzählerin deutlich gemacht, dass François sich immer weitermitdemdauerhaftenCharakterihrerBeziehungbeschäftigt,denersichsosehrwünscht unddenTheljasonichtannimmt.DauerhaftigkeitistfürsiekeinstillesVerharren,sondernein ständiges WiederKennenlernen: Refaisons connaissance! Dieses Motiv des Erinnerns und Verges senswirdimRomanallerdingsnichtnuraufeinerprivatenEbeneverhandelt.Auchhiererfolgt

349 „IchlernedichjedesMalaufsNeuekennen“. 350 „Lernenwirunsnocheinmalkennen!“ 351 „Wirfindenunswieder,SiesehenmichanwiebeimerstenMal,BeimerstenMalhatteichnichtdasGlückdie sesAbends:deinennacktenOberkörperinmeinenArmenzuhalten!–LassenSiemichalsoträumen!Aufspäter... oderaufniemals“. 352 „Aufniemals...Nein!“ 353 „ErerstickteerneutihrenMundmitseinemAtem,dersichlangsamberuhigte.Siemachtesichlos[...]–Ich,die ichheutenachtnichtsalssprechenwollte!“ 354 „IchmagdiesenDialog,zugleicheinerdesKörpers,unddieArt,wieichendlichmeineSprachebefreienkann“. 204 eine ständige Transposition auf eine politische Ebene und zwar mit den unterschiedlichsten mnemonischenVersatzstücken.DabeispieltdasVerhältnisvonReinszenierungundgleichzeiti gerBeibehaltungeinzelnerElementeeineherausragendeRolle.IchmöchtediesenAspektnun zumAbschlussanzweiBeispielenuntersuchen:zumeinenanderThematisierungdeszweiten WeltkriegszwischenHansundEve,zumanderenanderdeszweitenWeltkriegsunddesAlge rienkriegszwischenTheljaundFrançois. DieLeserinerfährtvoneinemSchwur,denEvesichselbstgegenüberinderKindheitabgelegt hat.NachderLektüredesTagebuchsderAnneFrankhattesiealsKindjüdischerElterngelobt, niemalsauchnureinenFußaufdeutschenBodenzusetzen(68).DiesemGelöbnisbleibtEve problemlos treu bis sie Hans ihre dernier amour (66) kennenlernt. Sie entscheidet sich für den Kompromiss,nachStrasbourgzuziehen,inseineNähe,dochebennichtaufdeutschenBoden. SokannsieihremSchwurtreubleibenunddennocheinenDeutschenlieben.DieseKonstruktion hatvonAnfanganetwasKokettesansich.Zumeinenisteserstaunlich,dassEvesichsosehran die Symbolik hält, nie deutschen Boden zu betreten. Zunächst will es einem schwerwiegender erscheinen, eine Affäre mit einem Deutschen zu beginnen, als die deutsche Grenze zu über schreiten.Zumanderenmaltsiesichaus,wieesseinwird,ihrergläubigenCousineDeniseund derenMannDavidgegenüberzuzugeben,dassdasKind,dassieinsichträgt,voneinemDeut schenist:„Peutêtrequ’ilnediraplusunmot.Peutêtrequ’ilaurasoudainenviedepleurer[...]. Oualors,ilferaminederien“ 355 (92).Allesscheintmöglich,diekompletteGleichgültigkeitdieser TatsachegegenüberebensowieeineemotionaleReaktion.VergessenoderErinnernscheinenin dieserAnordnungzunächstbeschränktaufZufälligkeiten(wiepräsentistdieShoahbeidenin familiärenFragenvonEve,wiegesehen,nichtsonderlichgeschätztenVerwandten?)oderrituelles FesthaltenanjugendlichpathetischenEidesformeln. Der Streit zwischen Eve und Hans wird auch über das Motiv des Vergessens eingeleitet. Eve möchte,dassHansdasKindvergisst,dasinihremKörperist,währendsiemiteinanderschlafen, dochHanswehrtsich:„Jeneveuxpasl’oublier“ 356 (152).Ichhabeobenbereitsgeschildert,wor aufdieseSzenezuläuft,zumeinenaufdasödipaleDreieck,zumanderenaufdenStreit,derdar ausentsteht,dassHansprovozierendaufdieProvokationEvesreagiert,siewolleihrKind,falls eseinJungewerde,beschneidenlassen.DieseDetailssollen nunimZusammenhangmitdem MotivdesVergessensgedeutetwerden,denndieBeschneidungistjaeinrituellerAkt,dersich vor der Folie der Unkonventionalität Eves zunächst etwas eigenartig ausnimmt. Der Plan der BeschneidungstehtaußerdemineinemeklatantenWiderspruchzuihrerHerablassunggegenüber

355 „VielleichtsagterniemalsmehreinWort.VielleichthaterplötzlichLustzuweinen[...].Oderaberertutso,als seinichts.“ 356 „Ichmöchteesnichtvergessen!“ 205 ihrerCousineundderenFamilie.BevorHansankommt,gefälltsiesichjaindemGedankenDe niseundDavidmitderTatsachezuschockieren,dasssienunmiteinemDeutschenzusammen ist.SiegrenztsichauchweiterhinausdrücklichvondemdurchihreVerwandtenrepräsentierten Familienmodellab–„j’attendsseulementHans[…][p]aspourfaireàmontourunefamille[…] Jelesaiquittésvite,lescousins.Jeveuxvraimentlesoublier“ 357 (148).AuchindieserSituation tauchtdemnachdasMotivdesVergessensauf,nurumbeimStreitineinprinzipiellesErinnern umgewandelt zuwerden. Bei ihrerwechselseitigen Provokation scheint sich Eve ganz und gar nichtmehrvonihrengläubigenVerwandtenabhebenzuwollen,sondernsieübernimmtderen mutmaßliche Schockiertheit: Ein Deutscher hat sich nicht zu erlauben über die Beschneidung einesjüdischenKindeszuscherzen. AndieserKonstellationwirdgeradeimZusammenhangmitderobenbegonnenenInterpretation dieserSzenedeutlich,dassesDjebarsTexthierkaumumeineEntscheidungdieserFragegehen kann.ErweistimGegenteilaufdieWidersprüchlichkeithin,diesichineinemVergessenund Erinnern praktisch auf Knopfdruck äußert. Gerade ging es noch um die Familiensituation, in BezugaufdiedieNationalitätHans’alsSpitzegegendiebravenundrechtkonservativenDenise undDavidgewendetwerdenkonnte.AndemPunkt,andemesumdeneigenenKonservatismus Evesgeht–undnichtsanderesistvomMechanismusherihrFesthaltenaninihrerJugendge fasstenPrinzipien–wirddieNationalitätwiederzumernstenHindernis.Dazukommterschwe rend, dass die ganze Szene so ödipal aufgeladen ist. Den Lesenden, die den inneren Monolog Hans’kennen,willesscheinen,alszieleseineProvokationeheraufeinegefühlteBedrohungsei nerBeziehungzuEvedurchdasKindab,alsdasssieeineantisemitischeNoteenthielte.Über dieswirddieWillkürderZuweisungkulturellerAttributedeutlich,denndasKindbleibtzwangs läufigstumm,istdabeiallerdingseineexplosivehybrideExistenz:KindeinersephardischenJüdin undeinesDeutschen.DieMuttereignetsichdiesenUmstandindervorliegendenSzenegezielt anundschürtdieödipaleKonkurrenzsituationzwischenSohnundVater 358 . Vergessen und Erinnern werden in dieser Szene recht undurchschaubar eingesetzt: Sowohl in BezugaufdiedeutschjüdischeGeschichtealsauchinBezugaufdieödipaleKonstellationkann nichteindeutiggeklärtwerden,obdieseDingenunwichtigsindundhochgehalten,alsoerinnert werdenoderobsiealsirrelevantesstarresGerüstnurnochdurchdieKonventiongestütztwer den,fürdievorliegendeSituationdemnacheherdieFunktioneinerzuüberschreitendenGrenze haben.Dabeigehtesübrigensnicht,dasmussvielleichtausdrücklichherausgestrichenwerden, 357 „Ich warte nur auf Hans [...] und nicht um meinerseits Familie zu spielen [...]. Ich habe Cousin undCousine schnellverlassen.Ichmöchtesiewirklichvergessen.“ 358 InteressantistindiesemZusammenhangebenfalls,dassdasKindjaaucheinMädchenseinkönnteunddassder StreitsomitgewissermaßeninsLeereliefe.DieganzeSzenewirddadurchauchzueinerParallelstellezurErzählung TheljasvondemGesprächmitihrerGroßmutter,indemdasMädchenvöllighandlungsunfähigdenZuweisungen derErwachsenenausgeliefertwar. 206 umeinVergessenderShoah.InFragestehthiervielmehreinVergessenderBedeutungderNati onalität – vor allem da Hans wahrlich die Romanfigur ist, die am ehesten transnational, also grenzüberschreitendangelegtist.EreignetsichmitbewundernswerterDisziplinundgleichzeiti gerLeichtigkeitnichtnurdiefranzösischeSprache,sondernauchdenberberischenDialektMinas an 359 .Eristderjenige,derdieStaatsgrenzezwischenFrankreichundDeutschlandroutinemäßig ganz gegenständlich überschreitet, für den sie also die geringste Bedeutung zu haben scheint. HansverkörpertinderTendenzdas,wasauchDjamilainihrerRedezurSprachebringt,wennsie Strasbourgals„niallemande,nifrançaise,mais‚villelibre’“ 360 (360)bezeichnet. AndererseitsistHansgeradealsDeutscherdannauchwiederderjenige,demdasVerblassender nationalenIdentitättendenziellamgleichgültigstensein kann .DjebarsTextthematisierthierdie Frage,wiestrategischeinsetzbareinVerzichtenaufErinnerung,aufTraditionundaufalteGren zenimmerist.ErliefertkeineeinfacheAntwortaufdieFragenachdemVerzichtunddemfrei willigenVergessen.Erzeigtabernichtsdestoweniger,wiemüßigesist,Handlungenstetsaufkol lektiveErinnerungoderderenGegenteilzubeziehen,inwievielenunterschiedlichenKontexten eineEntscheidungfürbzw.einePositionierungzueinerbestimmtenErinnerungerfolgenkann. DerRomanzeigtaußerdem,wieschnelleineeinmalgefasstePositionwiederaufgegebenwerden kann,ganzabhängigvonderverfolgtenStrategie.UndnichteinmaldiesesstrategischeHandeln isteinFixpunkt,dennz.B.inderebenbesprochenenSzenescheintdieEntscheidungfüroder gegendasBetoneneinerbestimmtenErinnerungeherzufälligalswohldurchdachtzusein.Eve undHanswirkenhierehermitgerissenalskalkulierend. AuchTheljaundFrançoisführenUnterhaltungenüberdieVergangenheit.NuristFrançois–im GegensatzzuHans,derdenZweitenWeltkriegselbstnichterlebthat–altgenug,umselbstam Kolonialkrieg zwischen Algerien und Frankreich teilgenommen zu haben. Doch er hat es zu TheljasgroßerErleichterungnichtgetan.AufihreFragenachseinemdamaligenAufenthaltant worteter:„Laguerrecheztoi?...JenemetrouvaisnienAlsace,nienAlgérie[…].Nimêmeen France“ 361 (54).Etwasspäterpräzisierter:„En1960,jemetrouvaisàMunich:huitheurespar joursj’étaisplongédanslesarchivesdelaville…EnsuitecefutlesEtatsUnis:quelquesmoisà NewYork,puispresqueuneannéeàChicago…Jecherchais“ 362 (55).AssiaDjebarverrätankei nerStellegenaueresüberdieseNachforschungenFrançois’,dieihnvomdamalsaktuellenKriegs

359 DerAspektderkulturellbesserinstruiertenAusländerwarauchschonbeiFiona,derEhefrauBrahimOrourkes, zumAusdruckgekommen.Auchsiesprach,imGegensatzzuihremMann,denberberischenDialekt.DiesesMotiv stelltfürmichganzdeutlichdieAuffassunginFrage,eineKulturseizwarerlernt,abervondenEinheimischenund derenNachkommendannebendochirgendwiebessererlerntalsvonAusländern.DieTexteironisierensoinchar manterWeiseAuffassungenwiedieCarmineChiellinos,dieichinKapI.1beschriebenhabe. 360 „wederdeutschnochfranzösisch,sondern‚freieStadt’“. 361 „DerKriegbeidirzuHause?...IchwarwederimElsassnochinAlgerien[...].NichteinmalinFrankreich“. 362 „1960warichinMünchen:achtStundenproTagvertiefteichmichindieStadtarchive...Danachwarichinden USA:einigeMonateinNewYork,fasteinJahrinChicago...Ichsuchte“. 207 geschehenferngehaltenhaben.Interessantist,dassdieSuchenachderErinnerungindenArchi venvon München, NewYork undChicago Françoisvor dem Krieg bewahrt und somit seine spätereBeziehungzuTheljaüberhaupterstermöglicht(219).DieseErinnerung,diefürThelja etwadengleichenStellenwerthatwiederzweiteWeltkriegfürihreFreundinEve,istfürFrançois alsogarnichtvorhanden.ErhatnurErinnerungenanseineeigeneKindheit,andieBesatzungs zeitundandieVertreibungausStrasbourg.DieErinnerungenvonFrançoisundTheljableiben überdasganzeBuchsoverteilt.AlserüberseineKriegserlebnissespricht,hörtsieihmzwarzu, animiert ihn auch zum Weitersprechen, doch hält sie eine Distanz zum Erzählten aufrecht, „commesielledésirait,nonpass’insinuerdanscepassé“ 363 (131).FürsieerscheintFrançoisoh nehingefangeninderVergangenheit,inaltenErinnerungen.SokommentiertTheljaauchseine ErzählungmitdenWorten:„Lenarrateurnesemblaitrienentendreduprésent“ 364 (127),siecha rakterisiert die Erinnerungen etwas später zudem als „fantômes“ 365 (129), die François mit der Sprachezubändigensuche.AndereGeister,dieFrançoisinderVergangenheitfesthalten,sind seineverstorbeneMutter(121ff)undseineverstorbeneFrau;geradedieBeziehungzuletzterer fordertTheljabeiihremgemeinsamenBesuchinFrançois’Elternhausheraus(205f);siemöchte Françoisdazubringen,sievordemFotoseinerFrauzuküssen,wasdieserauchtut,dochnicht, ohnedemBildnisdenRückenzuzudrehen.DieseGestealleinstelltdieLebendigkeitderVergan genheitfürdasLebenFrançois’unterBeweis. IhrerFreundinEvegegenüberfasstTheljazusammen,wiesieFrançoiswahrnimmt: «Unhommeveuf.Unveufdontjenesaismêmepass’ilesttoujoursinconsolable…Ce la,enfait,m’estégal:jeledécouvresoudain.S’ilesthantéparl’autre,cellequ’ilaperdue […]peutetrequ’aufond,c’estcelaquim’attire:jefaisl’amouravecunétranger,eten plusilestcommesourd.Ilsemblem’entendre[…],maistoutcequejedis,cequejeveux dire,cequej’oseraiavouer,peutêtrequ’ilnel’entendpasvraiment,ouquandcelaluipar vient,c’esttroptard!…Jeneseraipluslà!»366 (106) HierstelltTheljasichzunächstalseineVerfechterindesAugenblicksdar:Siegibtvor,ihrseidas gedankliche Verharren in der Vergangenheit, das François so sehr von ihr trennt, im Grunde gleichgültig, als genieße sie es geradezu, mit einem Fremden die Nächte zu verbringen. Der Fremde, den Thelja damit entwirft, ist hier zunächst ein völlig mit sich selbst beschäftigter Mensch;einMensch,demesnichtgelingt,daszuhören,wasseinGegenübersagt;einMensch, dernichtsvondemwahrnimmt,wasselbstinseinenintimenBeziehungenabläuft,weilersosehr 363 „alswollesieindieseVergangenheitnichteindringen“. 364 „DerErzählerschienvonderGegenwartnichtszuhören“. 365 „Geister“. 366 „EinverwitweterMann.EinWitwer,vondemichnichteinmalweiß,oberimmernochuntröstlichist...Dochdas istmireigentlichegal:Ichentdeckeihnplötzlich.Wenndieandereinihmspukt,die,dieerverlorenhat[...]vielleicht istesimGrundedas,wasmichanzieht:IchschlafemiteinemFremden,undaußerdemisterwietaub.Erscheint michzuhören[...],aberalles,wasichsage,wasichsagenwill,wasichzugestehenwagte,vielleichthörteresnicht wirklich;odervielleichtisteszuspät,wenneszuihmdurchdringt!...Ichwerdenichtmehrdasein!“ 208 inseinereigenenVergangenheitlebt.Theljaprophezeithierdas,wasFrançoisimLaufedesBu ches immer wieder zu verhindern hofft, was am Ende aber dennoch eintritt, nämlich dass sie nichtbeiihmbleibenwird. DieseinteressanteDefinitiondesFremdenwirdeineSeitespäteraufNachfrageEvesvonThelja plötzlichmodifiziert:„Unétranger?C’estàdirequelqu’unquejenepourraisaimerainsi,aucreux decettebeautédemalangued’enfance!…Meretrouverauplusprofonddemoimême,enme donnant,enm’anéantissant!…Oui,unétranger,pourquoiaijed’aborddéfiniainsil’amantdeces nuits?“ 367 (107).WennmandieDifferenzder languesd’enfance nichtalsDifferenzderMutterspra chendefiniert,sonderneinwenigdermnemonischenArchitekturdesRomans,wieichsiegerade aufgezeigthabe,folgt,istdieAntwortaufTheljasFrageklar.Denntatsächlichbleibenbeideja sehrstarkihren jeweiligen Erinnerungenverhaftet.EsgibtzwischenihnenkeineSelbstverständ lichkeit geteilter Erinnerung.DieFrageschließtsichan,obsicheinesolcheSelbstverständlichkeit dennüberhauptdenkenlässt.DjebarsRomanlegtetwasanderesnahe.DasleitmotivischeAuf tauchendesVergessensimgesamtenText,sowiedieErinnerungen,diejenachKontextmodel liertwerden–mandenkeetwaanEveundHans,aberauchanIrmaundihrepotentielleMutter –sprecheneherfüreinenichtzuvereinheitlichendeErinnerung.ErinnernundVergessenwerden beiDjebarsomitzueherindividuellenTätigkeiten,dieperseaußerdemnichtmitWertigkeitbe legt sind. Erinnern ist nicht immer besser als Vergessen, das zeigt das Beispiel François’, aber auchdasIrmas,wobeidieseallerdingsvomErinnernzumVergessenübergeht.UndTheljastößt inderfünftenNachtdenWunschaus:„Pouvoiroublier!“ 368 (222f)alssieüberdenAlgerienkrieg spricht,derunternormalenUmständen,d.h.wennFrançoissichnichtmitseinereigenenErinne rungbeschäftigthätte,dieBeziehungzwischenihmundTheljaverunmöglichthätte. IchhoffebeimeinerAuseinandersetzungmit LesnuitsdeStrasbourg erneuteinealternativeLesart bestimmter Motive aufgezeigt zu haben. Zu beginnen wäre mit der Familie, die besonders im Hinblick auf die Kinder als eine sehr variable Entität gesehen wird. Djebars Roman bringt an keiner Stelle traditionelle Familienmodelle mit moderneren in einen ethnisierenden Gegensatz. GanzimGegenteilwerdendiegeschildertenKindereheralsKatalysatorbenutzt,umeinegrund sätzlicheInfragestellungdessenzuliefern,wasFamilieheißenkann.AlsSubtextunterliegtdiesem ThemawieauchdemderhandelndenFrauendiesophokleische Antigone .Eineansieangelehnte LektüreführtwegvoneinerallzustarrenFixierungaufFamilienmodelleinverschiedenenKultu renundhinzueinerstärkerenGewichtungderGeschlechterverhältnisseinallenGesellschaften. 367 „EinFremder?Dasistjemand,denichnichteinfachsoliebenkann,inderHöhlungderSchönheitderSprache meinerKindheit!... Mich in der tiefstenTiefe meinerselbst wiederfinden,indem ich mich herschenke,indem ich michvernichte!...Ja,einFremder,warumhabeichdenLiebhaberdieserNächtezunächstsobeschrieben?“ 368 „Vergessenkönnen!“ 209 Essolltedeutlichgewordensein,dassFrankreichin LesnuitsdeStrasbourg keine„positivecounter location“darstellt,„thatenables[Thelja]todistanceherselffromAlgeria“,dasseinerseits„isre ducedtoabitterland[...]wherethenewlyemancipatedwomancannolongerlive“(BARBÉ 2001, 128).DieserverbreiteteundsehrselbstgefälligeBlickwirdvonDjebarsTextunterlaufen,indem verschiedenen Frauengestalten mit ganz unterschiedlichem kulturellen und ethnischen Hinter grundjedeaufihreWeiseamHandelngehindertwerden;unddiesnichtsosehrvonklarlokali sierbarenMännernalsvielmehrdurcheinemännlichimprägnierteWelt.DerVergleichzurFigur derAntigone,diealleindurchihrHandelnvonKreonalsUsurpatorineinerihrnichtzustehen denGeschlechtsrollewahrgenommenwird,brichthiererneutdieseallzueinfacheAufteilungin– vomStandpunktderFrauenrechtehergesehen–aufgeklärtebzw.rückständigeKulturen. Erinnern und Vergessen werden im vorliegenden Roman schließlich nicht so sehr als Fundus diskreterkulturellerIdentitätenkonzipiert.Sieerscheinenvielmehrineinerhochindividualisierten WeisealsErosion,HeimsuchungundwillentlicheAneignung,alsstrategischeElementegenauso wiealsHindernissezurVerwirklichungderWünsche.SowerdenEinwandererzudenbesseren Franzosen–ichdenkehieretwaandieRedeDjamilas–undDeutschezudenbesserenArabern, wieHansalsgelehrigerSchülerundMediumderkleinenMinaunterBeweisstellt.

210 II.4 Das Wunderbare bei Maya Arriz Tamza und Emine Sevgi Özdamar DerIngeborgBachmannWettbewerbdesJahres1991wartete,wennmandendamaligenFeuille tonsundihrerAufarbeitungdurchKarenJankowskyGlaubenschenkt,miteinerkleinenSensati onauf:ZumerstenMalinseinerGeschichtewurdeeineAutorinmitdemerstenPreisausge zeichnet,derenMuttersprachenichtDeutschist,nämlichEmineSevgiÖzdamar.Diedurchdie ses Ereignis losgetretene Debatte hatte viele aufschlussreiche Aspekte betreffend die Art und Weise, wie Literatur von Migranten noch immer wahrgenommen wird. Herausragend war die ungebrocheneAssoziationeinessogenanntenorientalischenStilsmitmärchenhaftenElementen. DiesocharakterisierteArtzuerzählenwurdedannnichtetwamitkünstlerischemGeschick,son dern mit einer Art mythologisch verbrämtem „naive and harmless storytelling“ in Verbindung gebracht (JANKOWSKY 1997, 262) 369 . Jankowsky versucht diesem orientalistischen Klischee mit demVerweisaufÖzdamarsBiographieundihrenkulturellenHintergrundzubegegnen.Dabei verfolgtsieeinedoppelteStrategie:ZumeinenstreichtsiedenBezugvonÖzdamarsSchreiben zurzeitgenössischentürkischenLiteraturheraus(268f)undrücktsiedamiteherindieNähedes magischenRealismus,demsieeinestarkepolitischeAussagekraftzuspricht(266).Zumanderen betontsieÖzdamarsWanderschaftzwischendenWelten–ÖzdamarlebteaußerinderTürkei auchnochinbeidendeutschenStaaten–undihredadurchverbürgteEingebundenheitinver schiedenekulturelleZusammenhänge,diefürdasVerständnisihrerLiteraturlautJankowskyvon großerBedeutungsind(262,269). OhneaufdieBiographiealsErklärungsansatzauszuweichenundmirdamitdieindieserStudie schon mehrfach angesprochenen interpretatorischen Schwierigkeiten – die zu vermeiden eines derHauptzieledieserArbeitist–einzuhandeln,möchteichindiesemletztenKapitelderVer wendungmärchenhafter,wunderbarerElementeinTextenderinterkulturellenLiteraturnachge hen.WienämlichJankowskyinihremArtikelsehrschlüssigdarlegt,istindiesemMotivkomplex einbeliebtesEinfallstorfürorientalistischeKlischeeszuverorten.WenndieTextedertürkisch stämmigen Autorin Özdamar sofort mit den Erzählungen aus 1001 Nacht in Verbindung ge brachtwerden(267),liegtauchmeinerAnsichtnachoffenzutage,dasshiervondenRezensen tinnenderWegdergeringstenReflexiongegangenwurde. DasWunderbareundvielemitihmverwandteBegriffesindseitderAntikeindenpoetischen DiskussionenpräsentundsolltenbeiihremAuftauchennichteinfachvorschnellmitdemethni schenHintergrundderAutorinverschmolzenwerden.RenateLachmannhatinihreraktuellen Studie zur phantastischen Literatur die verschiedenen historischen Stränge des Phantastischen

369 Vgl.auchJOHNSON 2001,38. 211 angeführt 370 .AusderFülledervonLachmannausgewertetenMaterialienistfürdieseArbeitvor allem der Nexus hervorzuheben, den sie zwischen phantastischer Literatur und dem kulturell Anderenherstellt 371 : „Esscheint,alsseiesalleindiephantastischeLiteratur,diesichmitdemAnderenindie serDoppelbedeutung[anthropologischundkulturologisch]beschäftigtundetwasindie Kulturzurückholtundmanifestmacht,wasdenAusgrenzungenzumOpfergefallenist. Sienimmtsichdessenan,waseinegegebeneKulturvondemabgrenzt,wassiealsGe genkulturoderUnkulturbetrachtet.Fremd–EigenistdabeidieOpposition,diedasVer hältniseinerKulturzudem,wassienichtistundnichtseinwill,bestimmt.“(LACHMANN 2002,9) AusderUntersuchungLachmannswirddeutlich,dassNichtSeinundNichtSeinWolleninkei nemOppositionsverhältniszueinanderstehen.Sielegtz.B.dar,dassesbiszurRomantikeinen StreitinnerhalbderRegelpoetikdarübergab,wievielPhantasiedemliterarischenWerkundauch seinemAutornochzuträglichsei.IhreÜberlegungenzeigen,wiesichdieVorstellungenvondem, wasangemessenist,mitdenVorstellungendavonverbanden,wasnochals„gesund“zugelten habe.DasFremdewirdzueinergemischtenKategorie,diesowohlmitExzess,mitKulturund Maßlosigkeit,alsauchmitanthropologischerAndersartigkeitundsogarmitKrankheitinVerbin dunggebrachtwerdenkann. DieAkzentsetzungendereinzelnenDebattandensinddabeizwarunterschiedlich,aberallesamt innerhalbdessoaufgespanntenFeldeszuverorten.Damitwirdallerdingsauchdeutlich,dassdie PhantastikalsliterarischesPhänomenvielbreiterangelegtwerdenmuss,alsdiesgängigeTheo rien wie etwa die von Tzvetan Todorov nahe legen 372 . Phantastisch ist ein Ereignis nicht nur dann,wennesunentscheidbarindemSinneist,dasseine hésitation bestehenbleibt,diezwischen RealemundIrrealemoszilliert.Phantastisch,soließesichmitLachmannsagen,isteinEreignis ebenauchdann,wennessichgegenjedenVersuchdesZurDeckungBringensmitderOrdnung derDingesperrt. LachmannstärktdiesbezüglichvorallemdreiSträngederLiteraturgeschichtealsTraditionslinien desPhantastischen.ZumerstendiemittelalterlichkarnevaleskeFormderMennipea,wiesievor allemvonBachtinuntersuchtwordenist;Lachmannkannhierzeigen,wiederHumor,dieParo dieoderderToposderverkehrtenWeltdieStelledesPhantasmaseinnehmenkönnen 373 .Zum

370 Vgl.LACHMANN 2002,2998.AndersalsTzvetanTodorovlegtsiefürdasPhantastischeeinewenigerstrenge Begriffsbestimmungan,sodassSeltsames,PhantastischesundWunderbaresbeiihrnichtvoneinandergetrenntsind. LachmanndifferenziertvielmehraufeineranderenEbene:SiebenenntdreiTraditionslinienfürdieunterderBe zeichnungdesPhantastischenzusammengeführtenElemente,diegleichnochbenanntwerden. 371 LachmannversuchtinihrerArgumentation,diebeidenTraditionsstränge(denanthropologischenunddenkult urologischen, wie sie es nennt) gleichwertig nebeneinander zu stellen. Schon in einem früheren Text zum selben ThemastelltsieeineVerbindungzwischendem(anthropologischen)Vermögender phantasia unddem(kulturologi schen)DiskursüberdasAndereunddasSeltsameher,vgl.LACHMANN 1996,290f. 372 Vgl.TODOROV1970,29. 373 Vgl.LACHMANN 2002,13ff. 212 zweitendenbarockenConcettismus,derüberdie„ingeniöseMetapher,[das] concetto ,[die] acutez za “ (33) Ähnlichkeiten im Unähnlichen herzustellen sucht; der Concettismus repräsentiert ein Ideal,dasdieQualitäteinesTextesinderBrillanzundSchärfeseinerrhetorischenAusgestaltung findet,dienichtzuletztaufeinerEntgrenzungderingeniösenPhantasieberuhen.Zumdritten lenkt Lachmann die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Formen des arkanen Wissens, auf GeheimgesellschaftengenausowieaufdenwissenschaftlichtechnischenDiskurs,dervorallem indermodernenScienceFictionzumAngelpunktdesPhantastischengewordenist 374 . DemzufolgewerdenerstensdurchHumorundParodie,zweitensdurchrhetorischeGeschliffen heitundsprachlichenWitzsowiedrittensdurchwissenschaftlichoderaufandereArterworbenes (geheimes)WissendieGrundfestenderherkömmlichenOrdnungbedroht.Lachmannkannvor allemamBeispielderrhetorischenTraditionzeigen,wiederDiskursderPhantasieundderAus reizungdesMöglichenundselbstdessen,wasunmöglich,aberdenkbarist,stetsvoneinemreg lementierendenDiskursbegleitetwird,derallesvonderverbrieftenNormAbweichendealsex zessiv,maßlosundkrankhaftstigmatisiert.FremdesundAndereswerdensokonzeptuellmitein ander verbunden und dadurch zur phantasmatischen Bedrohung des Eigenen und Bekannten. Das Andere, so könnte man Lachmanns Überlegungen weiterdenken, führt immer die Gefahr dervollständigenEnthemmungmit.Esistbedrohlich,nichtsosehrweilesunbekannt,sondern weilespotentiellunbeherrschbarist.DemEigenenwerdenhingegenpauschalAngemessenheit, MäßigkeitundBeherrschbarkeitunterstellt. DieTheoriedesPhantastischeneignetsichindiesemZuschnittbesondersdafür,denKreiszu schließen,dendieseArbeitbeschreibt.DiehiervorgestelltenalternativenLesartenhattennieden AnspruchaufAlleingültigkeit.DieTheoriedesPhantastischenerlaubtesnun,dievonmiranaly tisch getrennten interpretativen Zugriffe einander wieder etwas anzunähern. In diesem letzten KapitelsolldieThesegeprüftwerden,obdasPhantastischeimSinneLachmannsindenTexten derinterkulturellenLiteraturausgemachtwerdenkann.DabeiwerdeichmichandieserStelleauf denNachweisderbeidenerstenTraditionenbeschränken,d.h.nachHumorundParodieelemen tensuchen,sowieaufSprachwitzundsprachlicheGeschliffenheitimZusammenhangmitphan tastischenElementensuchen.ZwarkönnenundsollenauchbestimmtemärchenhafteTraditio nen in der Literatur vieler privilegierter Bezugsländer 375 der interkulturellen Literatur nicht ge leugnetwerden.DochsolcheTraditionengibteszweifellosauchinderLiteraturderwestlichen Länder,wiemanaufgrundvonLachmannsErgebnissenleichtnachvollziehenkann.

374 Vgl.LACHMANN 2002,153ff. 375 Ichnenne privilegierteBezugsländer dieLänder,ausdenenvielederuntersuchtenAutorenstammen(v.a.Maghreb, Türkei) und deren literarische Traditionen neben der Biographie der Autorinnen gerne als Bezugspunkte für die InterpretationinterkulturellerLiteraturherangezogenwerden,vgl.z.B.MÜLLER 1997,136. 213 DasPhantasmaistnunaberinderrhetorischenTraditiongeradedazugeeignet,das,wasman nichtist undnichtseinwill ,vomEigenenabzuspalten.DasPhantasmaistindiesemSinnenichtnur eine Figur des Fremden und Ungewohnten, sondern auch eine des Verdrängens und Verges sens 376 .EsistdabeivonbesondererPikanterie,dassindenFeuilletons,dieJankowskyuntersucht, dasElementdesWunderbarenindenTextenÖzdamarseheralsmärchenhaft,alsoals merveilleux imSinneTodorovsbeschriebenwird 377 undihmdeshalbdieAttribute harmless und naive zugeord netwerden.GestütztaufdieAnalysenLachmannskannmanindenTextenjedochauchweniger harmlosen Implikationen ausmachen, mennipeischsatirische Elemente genauso wie besonderen Sprachwitz.IndiesenElementenzeigtsichdasPhantasma,dasdasFremdefürdieeigeneKultur darstellt.Natürlich,solässtsichvorausschicken,sindindenuntersuchtenTextenmärchenhafte, phantastischeundfremdartigeElementeinderDefinitionTodorovszufinden.Dochanstattsie alleinaufeineandereErzähltraditionzurückzuführen,kannmansieauchaufdieeigeneErzähl tradition hin betrachten und in ihnen Reflexionen auf die Herstellung des phantasmatischen Fremdenfinden.DabeihilftdiezusätzlicheDimension,dieLachmanndemPhantastischengibt unddiesichvorallemaufdenwillentlichenAusschlussbestimmterWissensoderSprachelemen teausderals eigen beschriebenenKulturbezieht.DieseElementehabenindendreiTraditionen, aufdieLachmannbesondershinweist,ihrenOrtundmüssenübersieauchmitderabendländi schenTraditioninZusammenhanggesehenwerden. DieVerbindungvonPhantastikundkulturellerAlterität/Fremdheit,sokönntemaneinwenden, drohtdabeidemgrundlegendenImpetusdieserArbeitentgegenzulaufen,derjageradedarinbe steht,bestimmteMotive(indiesemFalldasWunderbare)nichtangängigethematischeBlöcke (hier:orientalischeErzähltradition)rückzubinden.MeineArgumentationwäreindesexaktgegen läufig:DieTheoriedesPhantastischen,wiesievonRenateLachmannweiterentwickeltworden ist,inkorporiertMotive,dieinbestimmtenZusammenhängen–unddaskannmaninderAnalyse Jankowskysnachvollziehen–bisherimmerinsehreingeschränkterWeisegedeutetwordensind. DermodifizierteBegriffdesPhantastischeneignetsichhingegensehrgutdazu,einegrößereAll gemeinheitimhiervertretenenSinne,d.h.nichtimSinneeineranthropologischenKonstantezu erklären.DasWunderbarebeschreibtdabeikeinessentiellFremdartiges,nochnichteinmalunbe dingthistorischandereTraditionen,sondernvielgrundlegenderdieFigurdesAnderenundUn vertrauten,wiesieauchfürVerdrängungsprozesseimvermeintlichEigenenundBekanntenGel tung beanspruchen können. Die Theorie der Phantastik leistet damit einen Beitrag zum Ver

376 Vgl.LACHMANN 2002,83. 377 Vgl.TODOROV 1970,59ff.Esistübrigensauffällig,dassTodorovfürseineBeschreibungdes merveilleux vorwie gendBeispieleaus 1001Nacht benutzt. 214 ständnis der Mechanismen, die zur Herstellung der Vorstellungen von Eigenem und Fremdem führen,vielmehrnochalsdasssiedieseVorstellungenselbstthematisiert. In diesen Zusammenhang fügen sich die ÜberlegungenStephen Greenblatts zur frühneuzeitli chenLandnahmeein,inderdierhetorischeKategoriedesWunderbarenalsKerneinerkommu nikativen Strategie eingesetzt wurde, um die Eingeborenen zu Eingeborenen und die eigenen AnsprüchederErobererzulegitimenzumachen,diealsogenausolcheinenMechanismuszum HerstellenderDichotomiefremd/eigendarstellt.DerWunderdiskurs,sokannGreenblattüber zeugenddarlegen,wirddazuverwendet,dasNichtStattfindenvonKommunikationzuüberspie len,einenichtgeleisteteVerständnisüberbrückungzusimulieren.Erschildert,wiedasVerstehen bei seiner Vermittlung durch das Wunder teilweise phantasmatisch wird,wie es Realität durch rhetorischeBeglaubigungsaktegewinntunddieAdressatenaußenvorlässt.Esvollziehtsichal leinvonderSeitederErobererher.DasPhantastischeimSinneLachmanns,sowiedasstrate gischinKommunikationsprozesseneingesetzteWunderbare,wieGreenblattesbeschreibt,sind Kategorien,diefürdieInterpretationvonEmineÖzdamars BrückevomgoldenenHorn fruchtbar gemachtwerdenkönnen. Zunächst soll allerdings ein Text betrachtet werden, der wenigstens von Alec Hargreaves der littérature beur zugerechnetwird:MayaArrizTamzas LuneetOrian .WennÖzdamarsTextinder TerminologieTodorovseheraufderSeitedesSeltsamen( étrange )zufindenist,sohandeltessich beiTamzasErzählungumeinBeispielfürdenentgegengesetztenPoldesWunderbaren( merveil leux ). Für die Analyse dieses Textes benötige ich gar nicht die ausgeklügelten Instrumentarien GreenblattsundLachmanns,diejavorallemerlaubenvermeintlichVertrautes,Bekanntes,Eige nesundRealesaufseinGegenteilzubeziehen.DerTextTamzasentsprichtdagegeninmancher lei Hinsicht klassischen Märchenschemata und spielt nicht mit dem Zweifel und dem Zögern (hésitation )derLeserin.NichtsdestowenigersperrtauchersichgegendieeinfacheReduktionauf ein naive and harmless storytelling . Es existieren überdeutliche intertextuelle Bezüge zu einem der bekanntestenmittelalterlichenepischenStoffe,derGeschichteParzivals/Percevals,wasauchfür LuneetOrian eineBetrachtungaufAussagenbezüglichdesKommunikationsprozesseshinnahe legt. ZeitzuSchweigen.LuneetOrian DerimUntertitelals conteoriental bezeichneteTextMayaArrizTamzasistvonderLiteraturwis senschaft bislang nicht beachtet worden. Er strukturiert sich im ersten Teil um eine typische Märchensituation: Die schöne Kalifentochter Lune leidet unter unerklärlicher Schwermut. Ein

215 weiserDerwischfindetheraus,dasssiesichnachLiebesehnt 378 .SowirdeingeeigneterHeirats kandidatfürsiegesucht.ErsollmitHilfezweierPrüfungenermitteltwerden 379 .DieerstePrü fungisteinekommunikative:dievierKandidatenmüssenjeweilseineGeschichteerzählen.Die zweitePrüfungisteineMutprobe,diesichimVerlaufderHandlungauchalsTugendprobeer weist,soabernichtvonvornhereinkonzipiertist.DennderKandidat,dersieschlussendlichbe steht,kehrtamEndedeserstenTeilszurückundfindetdenPalastinTrauer:dieKalifentochter istanihrerSchwermutgestorben 380 . DerzweiteTeilistdurchdieTrophäe,diederSiegervonderMutprobemitbringt(dreigoldene Äpfel),mitdemerstenTeilverknüpft,dennausdiesenÄpfelnwächsteinBaumindenHimmel, woderHeldeinezweiteChanceerhält,dieschönePrinzessinzuerlösen381 .DieseGeschehnisse sindallerdingsihrerseitsineineArtRahmenhandlungeingebunden,dieimGrundeeherdiedi rekteFortführungdeserstenTeilsist.InihrwirddemtodtraurigenVatervonzweigeheimnisvol len Unbekannten die Episode im Himmel berichtet. Die Unbekannten sind seineTochter, die Prinzessin Lune und ihr erwählter Kandidat Orian 382 . Auflage ihrer erfolgreichen Erlösung ist, dasssieihreGeschichtejemandemganzerzählenmüssen,ohnevonihmunterbrochenzuwer den.AlsergegenEndederErzählungerkennt,wenervorsichhat,lässtderVatersichallerdings vonseinenGefühlenübermannen,rufteinigeAugenblickezufrühaus:„Monenfant!Mesen fants!“ 383 (TAMZA 1987, 99) und verliert damit Tochter und Schwiegersohn an ein entrücktes, himmlischesZauberreich. Bemerkenswertist,dassdieseBedingungdesAusredenlassensdeshalbandiebeidenLiebenden gestelltwordenist,weilsiewährendihrerabenteuerlichenRettungeinemaltenMannbegegnen, derihnenihreGeschichteerzähltundzwaruntergenaudieserAuflage,ihnnichtzuunterbre chen.DieseAuflageerfülltOrianallerdingsschonbeimzweitenMalnicht,weilererkennt,dass ersonstineinerparadoxenSchleifefestsitzenwürde:DeralteMannerzähltihreGeschichtebis sieihmbegegnen,stelltdanndieBedingung,sieweiterziehenzulassen,wennsiesichzunächst seineGeschichteanhören,ohneihnzuunterbrechenusw.adinfinitum. LuneetOrian bedientsich

378 In der strukturalistischen Märchentheorie Vladimir Propps trägt dieses Element des Mangels ( недостача ) einer PersondieBezeichnungα 1;vgl.PROPP 1969,39).DenMangelnenntauchMaxLüthialsgängigenAusgangspunkt fürdaseuropäischeVolksmärchen(LÜTHI 1962,25). 379 Vgl. das Element der Prüfung oder schweren Aufgabe ( трудная задача ), gekennzeichnet durch das Symbol P (PROPP 1969,61f). 380 DiesesElementwäreinderProppschenMorphologieerneutmitα1zubezeichnen,davieleMärchen,genauwie dasvorliegende,zweiteiligsind,vgl.dazuPROPP 1969,59f,fernerLÜTHI 1962,25f. 381 Diesgeschieht,ganzwieimerstenTeil,mitdemtypischenPersonenundRequisiteninventardesMärchens,vgl. LÜTHI 1962,27f. 382 DieNamenweisen LuneetOrian eheralsSagedennalsMärchenaus,dennimMärchenbleibenwegenihrernicht vorhandenenIndividualitätdieFigurenentwederunbenanntodersietrageneinensehrverbreitetenNamen(Hans, Jean,Iwan),vgl.LÜTHI 1962,28.InSagenstehenhingegenaußergewöhnlicheGestaltenimMittelpunkt,diedann auchmiteinemindividuellenNamenbelegtwerden(6f). 383 „MeinKind!MeineKinder!“ 216 demnachsowohlderFigurder miseenabyme ,derGeschichteinderGeschichte,alsauchderVer wischungderErzählebenen,wiewirsiebereitsbeiDrissChraïbikennengelernthaben,überdies derVerschmelzungvon Diegese und Realität, über die der infinite Regress überhaupt erst zu standekommt.AußerdemwirddasMotivdesSprechverbotesaufgerufen. LuneetOrian entsprichtinweitenTeilendergängigenDefinitiondesMärchens,weichtnurinder Darstellungsartetwasdavonab 384 .WährendnämlichbeimeuropäischenVolksmärchenderAk zentaufderHandlungliegt,Personennurisoliertundoberflächlich,GegenständeundLokalitä tennursparsamundknappbeschriebenwerden,erinnert LuneetOrian indiesenPunkteneheran eineandereGattung,nämlichandenhochmittelalterlichenhöfischenRoman.Hierfindetsowohl einevieleingehendereBeschreibungvonGegenständenundÖrtlichkeiten 385 ,alsaucheinestärke repsychologischeTiefenschärfungderFigurenstatt.MaxLüthibenenntdiegrößereWirklich keitsnähealseinCharakteristikumdessemitischenMärchens 386 .Doch LuneetOrian passtauch ansonstennichtganznahtlosindasdarananschließendeSchema,dasermitHilfederÜberlegun gen Carl Wilhelm von Sydows beschreibt. Dieser hält für das „semitische Novellenmärchen“ nebenderungleichmäßigenundasymmetrischenKompositioneinweiteresSpezifikumfest:„Es verweiltgernebeiEinzelheiten,diefürdieHandlungunwesentlichsind,verlegtdieHandlungin wirklicheStädteundLänder,gibtdenhandelndenPersonenwirklicheNamenundhältsichoft sogarbeimGeschlechtsregisterderHeldenauf“( VON SYDOW 1927,288). LuneetOrian verweiltnunauchbisweilenbeiBeschreibungen,diefürdieeigentlicheHandlung unwesentlichsind.DochwederistdieErzählungTamzashauptsächlichineinerrealenTopogra phieangesiedelt–wennaucheinigeNamenwirklichexistierenderStädteinderLebensgeschichte desDerwischserwähntwerden–nochsindNamenundFamilienstammbäumeirgendwiemitder Realität verbunden. Die größere Wirklichkeitsnähe wird hier also nur durch die weniger holz schnittartigeBeschreibungvonFigurenundInterieurshergestellt,kanndemnachnichtalseine AnbindungderErzählebeneanrealexistierendeMenschenundOrteverstandenwerden.Dies bezüglichbleibt LuneetOrian vollkommenineinerwunderbarenWeltverortetundzeigtdadurch wieder eher eine Nähe zum europäischen Volksmärchen. Von diesem trennt es allerdings das nichtvorhandeneglücklicheEnde,dennLuneundOriankönnenjadurchdieimpulsiveReaktion desKalifennichtaufderErdebleiben,sondernmüssenindenverzaubertenHimmelpalastzu rückkehren,indemLuneaufihreErlösunggewartethatte. LuneetOrian passtalsonichtindie herkömmlichen Schemata, sondern hat in eklektischer Weise an unterschiedlichen Traditionen teil.Dahererscheintesmireinmalmehrsinnvoll,einevielleichtaufdenerstenBlickungewohnte

384 Vgl.dazuLÜTHI 1962,29f. 385 DiesgiltbereitsfürvieleliterarischeZeugnissedesFrühmittelalters. 386 LÜTHI 1962,35. 217 Anleihezumachen.DenndasThemaderKommunikation,genauergesagtdesWechselspielsvon RedenundSchweigen,istseinerseitseinwichtigesMotiveinesderbekanntestenhöfischenRo mane,nämlichWolframsvonEschenbach Parzival 387 . DasorganisierendeZentrumvonWolframsEposistdasSchweigenParzivalsaufMunsalvaesche. DieGrundsituationisteineähnlichehierwiedort.EinunerfahrenerJünglingsolldenGrameines ganzenHofstaatesvertreiben.DennnichtnurderFischerkönigAnfortasist„trûric“(WOLFRAM 12001210,Kap.224,V.18),sondernauchseinHofstaatwirdmehrfachmitdiesemAttributbelegt (zuerst228,26).GleichermaßenstrahltdieMelancholieLunesaufihrenVater,denKalifenaus (TAMZA 1987,13).BeideJünglingescheiternzunächst,undzwarauseinanderentgegengesetzten Gründen.DereinezeigtseinMitleidnicht,deranderegibtihmnach.ParzivalerfährtinderEin siedeleiseinesOnkelsTrevrizentvondererlösendenFrage,diealleinAnfortas’Leidenaufheben könnte: „sus lâsen wir am grâle/daz Anfortases quâle/dâ mit ein ende naeme,/swenn im diu vrâgequaeme“ 388 (WOLFRAM 12001210,484,9ff). GanzandersOrian:WährendderzweitenProbetriffterdreiMenschen,dieseineHilfebenöti gen,underhilftihnenallen.ZwarwerdenihmdadurchdieunverzichtbarenHilfsmittelzurEr füllungderAufgabezuteil,dochbesondersdiezweiteHilfeleistungmachtihmbewusst,dasser, indemersichzurHilfeentschließt,LunewohleinemderanderenBewerberüberlassenmuss.Er hilftdenKinderneinerschwerkrankenBäuerineinganzesJahrlangdabei,dieFelderzubestel len,undsichertsoihrÜberleben.ErzeigtkeineReue,istsichaberderAuswirkungseinerHilfs bereitschaftfürseineigenesLebendurchausbewusst:„Maiscommentpourriezvousm’aiderà gagner le royaume de Thébaïde? Les autres prétendants y sont certainement parvenus depuis longtemps!“ 389 (TAMZA 1987,59f).Esistdabeinebensächlich,dassnichtdiedreianderenKandi datenihmdenErfolgstreitigmachen,sonderndassdiePrinzessinselbstihremLeidenerliegt; entscheidendist,dassdasMitleidimGegensatzzurVerfehlungParzivalsfürdieRetardierungder Narration und den zweiten Märchenzyklus im Sinne Propps sorgt. Im Epos führt gerade das nichtgeäußerteMitgefühlzudenIrrfahrtenParzivalsundwirdsozumretardierendenElement. DochesgibtauchfürdenzweitenZyklusvonTamzasMärcheneineParallelstellebeiWolfram, nämlich die Episode um Parzivals Sohn Loherangrin. Diese ist der eigentlichen Handlung als KodaangefügtunderzähltdasSchicksaldesSchwanenritters,derineinemvonSchwänengezo genenKahninAntwerpenanLandgeht,umdieKöniginvonBrabantzuheiraten–sohattees ihmderGralaufgetragen.DavonwissenzwardieLeser,dochnichtdieunglücklicheKönigin,der 387 Essollnichtunerwähntbleiben,dassdieserStoffbekanntermaßenvorherbereitsvonChrétiendeTroyesbear beitetwordenist,dessen Perceval (CHRÉTIEN 1182/83)mirallerdingshieraufgrunddesfragmentarischenCharakters alsderwenigergeeigneteVergleichstexterscheint,vorallemdadie Lohengrin EpisodebeiChrétienfehlt. 388 „WirlasenalsoamGral,dieQualdesAnfortaskönnedurcheineMitleidsfragegeendetwerden.“ 389 „Aberwiekönntetihrmirdabeihelfen,dasKönigreichThébaïdezugewinnen?DieanderenBewerberhabendie Aufgabesicherlängstgelöst.“ 218 LoherangrindieEhenuruntereinerBedingungverspricht:„gevrâgetnimmerwerichsî:/sômag ichiubelîbenbî./binichzeiuwerrvrâgeerkorn,/sôhabtirminneanmirverlorn“ 390 (WOLFRAM 12001210,825,19ff).DiesesFrageverbotbrichtdieKöniginvonBrabanteinesTagesundver liert dadurch ihren Gemahl, der sich in seinem Nachen nach diesem Bruch des Versprechens wiederaufmachtindieGralsburg. AuchbeiTamzaführtderBruchdesSchweigensdurchdenaltenVaterzumendgültigenVerlust vonTochter und Schwiegersohn. „Mais sachez que sivous interveniez durant mon récitvous perdreztoutespoird’enconnaîtrelafin“ 391 ,warntderunbekannteGeschichtenerzählerdengrei senKalifen.Esistbemerkenswert,dassdieseAnkündigungnichtwirklicheintrifft,denndasVer schwindenderbeidenLiebendenindenHimmelspalastwirdihmamEndenochdurcheinekör perloseStimmemitgeteilt,diesichüberdenimKalifenpalastzurückgebliebenenSchleiernerhebt. AndererseitsgibtesfürdieRededieserStimmekeineSchlusszeichen,sodassnichtabschließend zuklärenist,wassieaufderHandlungsebenedemKalifenmitteiltundwoderErzählerüber nimmtunddenResteventuellnurnochdenLesernzugänglichmacht. IneinemsehrinformativenÜberblicküberdieunterschiedlichenVersionendesLohe(ra)ngrin, hatUlrichWyssimFrageverboteinekommunikationstheoretischinteressanteNähezumödipa lenDramaentdeckt: „Die Lösung des Sphinxrätsels zeigt eine außergewöhnlich wirksame (intellektuelle) Kommunikation, der daran geknüpfte MutterInzest eine übertriebene (sexuelle) Kom munikation.WennwirnundenLohengrindanebenhalten,soergibtsich,dassdieselben Elementevorliegen,abermitanderenVorzeichen.DiesexuelleKommunikationistwirk samunterderBedingung,dassdieintellektuelleKommunikationnichtstattfindet“(WYSS 1979,111). BeiTamzaverhältsichdieSachenocheinweniganders.HieristdemVaterdasFrageverbotauf erlegtunddurchseineFrage(wasWyssmit intellektuellerKommunikation bezeichnet)verhinderter eineHochzeit( sexuelleKommunikation )aufErden.DieVereinigungwirdineinüberirdischesZau berreich,das Palaisdescentportes ,verlegt,dadurchabernichtaufdiegleicheWeiseverhindertwie inder Loherangrin Episode.TopographischistdieParalleleallerdingsschwerzuübersehen:Auch MunsalvaescheisteinSchloss,dasnichtauseigenerKraftgefundenwerdenkann.Wennder oi seau du conte Orian zum Palais des cent portes führen muss, so muss Parzival von Anfortas nach Munsalvaescheeingeladenwerden.Loherangrinmussnichteingeladenwerden,ergehörtjaselbst zurGralsgemeinschaft,dochesistklar,dassernachderverhängnisvollenFragenichtmehrauf gefundenwerdenkannundderWeltentzogenist.

390 „Fragtniedanach,werichbin!SolangeIhrnichtfragt,darfichbeiEuchbleiben.FragtIhrjedoch,dannendet unserLiebesbund.“ 391 „Dochwisset,dass,solltetihrmichwährendmeinerErzählungunterbrechen,ihralleHoffnungverlöret,ihren Ausgangzuerfahren.“ 219 FürWyssmarkiertdieFrage„dieGrenze,anwelchersexuelleundintellektuelleKommunikation voneinandergetrenntwerden“(112).DasFrageverbotinVerbindungmitdemödipalenDrama versinnbildlichtfürihneinensehrallgemeinen(vonWyssmitderMythenanalyseLéviStrauss’ gestützten)„SchematismusderUnterwerfungdesamorphenVerlangensuntereineOrdnungvon SymbolisierungenundBedeutungszwängen,dieabernichtinallenKultureninderselbenWeise durchdasDreieckVaterMutterKindhindurchstattfindenmuss“(112). Auch LuneetOrian transportierteinesolcheEinhegungdesVerlangens.IndiesemFallistesal lerdingseinesderelterlichenSorge.InsofernerinnertdieFragewiedereherandieKonstellation im Parzival ,dennhierspielensowohldasVergessendesLeidsderMutteralsauchdasUnterlas senderMitleidsfrageandenOheimeineRolle.TamzasAnordnungnähertsichüberdasFrage verbot dem Loherangrin , über die Art der Frage aber dem Parzival . Das Interessante an diesem Amalgam ist zweifellos die Tatsache, dass damit die Verantwortlichkeiten in unüblicher Weise verschobenwerden.DerVater,dernichtnurimÖdipusmythosdasGesetzverkörpert,bleibtbei Tamzasehrpassiv.Eristes,derdasGesetzübertritt,nichtderjenige,deresmacht.Im Parzival ist esdernochnichtgebildeteJüngling,derdurchseinUnwissendieVerfehlungbegeht,im Lohe rangrin dieEhefrau,diesichdemGebotdesEhemanneswidersetzt.Interessantistweiterhin,dass andersalsim Loherangrin dasPaardurchdieÜbertretungdesFrageverbotesnichtgetrenntwird. Das Paar bleibt zusammen, wird aber der Welt, in der der Vater lebt, entzogen. Wenn es bei TamzademnachumeinestrukturellähnlicheReglementierungdesVerlangensgehtwieim Lohe rangrin ,dannbetrifftsienichtdiePaarbeziehung,sonderndiesozialeBeziehungzwischenVater undKindern.DerVatermussdemvondenKindernzwarnichterlassenen,aberdochvonihnen vorgetragenen Gesetz gehorchen und schadet durch die NichtBeachtung letztendlich weniger ihnenalsvielmehrsichselbst.TamzabestätigtdamiteherdieVerhaltensregelnGurnemanz’,der ParzivaldurchseineWarnungvorüberflüssigenFragenüberhaupterstindieSituationaufder Gralsburgbringt.DieFragetrenntin LuneetOrian alsonichtintellektuelleundsexuelleKommu nikationvoneinander,sondernplädiertfürGeduldundBeherrschungindersozialenInteraktion. DieswirdunterstrichendurchdieArtdesFrageverbots:Esistjanichtabsolut,sondernwirdnur aufdieZeitderErzählungOriansverhängt.DerVatermüsstedenunbekanntenGastalsonur nichtunterbrechen,ermüsstedieTugenddesAusredenlassensbeherzigen,umseineTochterund seinenSchwiegersohnnichtzuverlieren. NimmtmanüberdiesdieAllegoreseernst,diederErzähleramEndevon LuneetOrian vornimmt undindererOrianmitdemOstenundLunemitdemWestenidentifiziert,erscheintdieInter ventiondesgramgebeugtenVatersalszwarverständlich,aberunheilvoll.DieInstanzdesGeset zes, das sich nicht zurücknehmen kann, verhindert in der vorliegenden Konstellation die voll ständigediesseitigeIntegrationderbeidenLiebenden.OstenundWestenhabenkeinKommuni

220 kationsproblem untereinander, so ließe sich folgern, sondern ein Problem der übertriebenen VermittlungdurchdieGesetzesundTraditionsinstanzen.Bemerkenswertistdabeidiefastvoll kommeneStummheitderAllegoriedesWestens.DochmanmussdieseAllegoresenichtmitge hen,umdasspezifischeKommunikationsmodellzuverstehen,dasTamzazeichnet.Esbestehtin einemmilden,dochdezidiertenTadelderGesetzesinstanz,diedieAltvorderendarstellen.Das FrageverbotkommtbeiTamzademnach„ohneÖdipusaus“undunterscheidetsichindiesem Punktvonder Loherangrin EpisodeinderDeutungdurchUlrichWyss(112).Dennochhatdas FrageverbotauchbeiTamzaeinereglementierendeWirkung,wennsiesichaucherkennbarnicht aufödipalesDrama,Exogamiegeboto.ä.bezieht.IhrSkopusscheintmireheraufeinerKritik bestimmender Familienstrukturen zu liegen, wenngleich sie auch im vorliegenden Fall eher in großerSorgealsinerdrückendenVorschriftenbestehen. ImGrundeistschonderTodLuneseinHinweisaufdiesesArrangement.Bishierhinnichtein einzigesMalzuWortgekommen,stirbtsieander–märchentypischen–AbfolgevonProben,die ihrVaterdenKandidatenauferlegt.„Sijen’étaistenuparmesengagements,c’estàtoiqueje donneraismafille“ 392 gestehtderKalifOrianbereitsnachdererstenPrüfung(TAMZA 1987,56). DasstrengeBefolgendereigenenVerfahrensregelnführtzumBestehenaufderzweitenAufgabe undsomitzumVerlustderTochter.DieeigenenRegelnzuwichtigzunehmenistalsodieVer fehlungdesKalifen,diedasUnglückin LuneetOrian verursacht,insofernwiedernichtunähnlich derVerfehlungParzivals,demdieritterlichenVerhaltensregeln,dieervonGurnemanz gelernt hat,wichtigersindalsdaseigeneErkenntnisinteresseundvorallemdieSorgeumdasGegenüber, densiechenFischerkönigAnfortas.DasGebotderMenschlichkeitwirdvonParzivalnichter füllt. EbendieslässtsichauchderKalifzuschuldenkommen:„Necherchezpasàdécouvrirnosvisa gesquelsquesoientlesfrémissementsdevotrecœursivousnevoulezpasnousperdre“ 393 (74). ImGegensatzzuseineneigenenRegelnimerstenTeilderErzählungTamzas,übertrittderKalif dieseRegel,dievondemvermeintlichFremdenaufgestelltwird.WennderKalifimerstenTeil alsodemeigenenVerbotdenVorranggibtvordemeigenenGefühl,soisteshierumgekehrt: DasfremdeVerbotverliertgegendieaufwallendenGefühleväterlicherSorge.Strukturellistbei deMalediestummeTochterOpfer.TamzagibtdurchdieseAnordnungwederdemGefühl,das zurÜbertretungrät,nochdemGesetzdenVorzug,sondernarrangiertseineGeschichteso,dass jedeSeiteeinmaldieÜberhandbehält.WassichnichtunterscheidetistdieLokalisierungderdo minantenInstanz.InbeidenFällenliegtsiebeimVater. 392 WennichnichtdurchmeineeigenenRegelngebundenwäre,gäbeichdirmeineTochterzurFrau.“ 393 Versucht nicht unsereGesichter zuentschleiern, wie groß auch immer die Erschütterung EuresHerzens sein mag,wennihrunsnichtverlieren/verdammenwollt.“InteressantisthierauchdieinderÜbersetzungnichtwieder zugebendeDoppelbedeutungvon perdreqqn . 221 BesitzergreifungohneVerstehen.MarvelousPossessions StephenGreenblattgehtbeiseinerBetrachtungderFunktiondesWunderbarenfürdeneuropäi schen Kolonialismus einem Mechanismus auf den Grund, den er „ Reproduktion und Zirkulation mimetischenKapitals “nennt(GREENBLATT 1991,15).Damitbezeichneter„Repräsentationen,Bil derundTechnikenzurBildproduktion“(16),dievondenEntdeckernentweder in diekolonisier teWeltoderaberalsfertigeProdukte aus diesernachHausegebrachtwurden,umdenDaheim gebliebenen die wunderbaren Entdeckungen anhand von Bildmaterial anschaulich machen zu können.KapitalnennterdasGanze,weilerzumersteneineengeBeziehungzwischendemAuf kommendesmodernenKapitalismusundEntdeckungsreisensieht,dievordringlichdeshalban gestrengtwurden,umneueReichtümerzuhebenunddieseindenheimischenWarenzirkelzu integrierenundweilerzweitensdieTendenzsieht,dieBildproduktioninArchiven,Bibliotheken undähnlichenInstanzenzusammelnundsiesozueinemFundusundzueinerStützefürdie HerrschaftüberebendieseProduktionzumachen.Diejenigen,dieüberdiesenFundusverfügen, könnenauchüberseineVerbreitungoderVerknappungentscheiden.DiesführtzurdrittenBe gründungdesBegriffs.Greenblattmöchtemitihmdaraufhinweisen,dassRepräsentationnicht nurgesellschaftlicheVerhältnisseabbildet,sondernsieauchselbstverkörpert.Repräsentationen sind nicht einfach nachträgliche Produkte oder Abbildungen, sondern auch Produzenten oder projektiveMustervonWertundStandeshierarchien. SchonandieserStellekannmandemnacheineVerbindungvonGreenblattsÜberlegungenzu LachmannsTheoriederPhantastikausmachen,diedarinbesteht,dassBildbeständeineklatanter WeisebestimmtenökonomischenGesetzenunterliegenundalsonichteinfachirgendeineRealität abbilden.RepräsentationensindmiteinerstarkenSuggestionskraftversehen,diepraktischnicht unterlaufenwerdenkann.Manmussversuchen,sievonseinerjeweiligenPositionausanzuzap fen,wennmanvonihrzuprofitierenwünscht.Esistleichteinzusehen,dassderdominanteDis kursdabeieinendeutlichenVorteilbesitzt,dennseineBildbeständeundWerthierarchienmüssen vonalternativenDiskursenerstausgetauschtoderumcodiertwerden.Solangedasnichtgesche henist,reproduziertersichganzvonallein.MitAbweichungenwiedeninderPhantastikbe schriebenenElementenwirdzunächstversucht,sieinseigeneSchemazuintegrieren.Dingeoder Verhaltensweisen,dieunverständlicherscheinen,werdeninnerhalbderbestehendenRepräsenta tionspraxis semiotisiert, mit den tradierten Bildbeständen in Beziehung gesetzt und damit von ihrerAndersartigkeitgereinigt,sodasssieihrBedrohungspotentialfürdiebestehendeOrdnung verlieren,jasogarvonihraufgenommenundverwendetwerdenkönnen.DemErosionsprozess

222 der alternativen Diskurse arbeitet gewissermaßen ständig ein Konsolidierungsprozess des herr schendenDiskursesentgegen. SokommtauchGreenblattzuseinerzentralenDefinitioneinereuropäischenRepräsentations praxis.DieEntdeckerderfrühenNeuzeit„verfügtensämtlichübereineentwickelte,komplexe und vor allem bewegliche Herrschaftstechnologie: Schrift, Navigationsinstrumente, Schiffe, Kriegspferde,Kampfhunde,solideRüstungenundhochwirksame,tödlicheWaffenwiez.B.das Schießpulver“(20).Esistäußerstaufschlussreich,wiestarkGreenblattdasElementderBeweg lichkeitfürseineArgumentationmacht.IllustrierenlässtsichdiessehrgutanseinerAuseinander setzungmitderTheseTzvetanTodorovs,dassdieÜberlegenheitderEuropäergegenüberden AztekensichmaßgeblichausihremGebrauchderSchriftspeiste 394 ,dadiese„zueinergenauen Repräsentation(unddamitzueinerstrategischenManipulation)derschriftlosenKultur“befähig te(24).GreenblattwidersprichtdieserAuffassung,indemerbestreitet,„dasssichdieSchriftin denfrühenBegegnungenzwischendenVölkernEuropasundderNeuenWeltalseinbesonders erfolgreichesWerkzeugzurgenauenWahrnehmungoderwirksamenManipulationdesAnderen erwiesenhätte“(24).InseinenUntersuchungendieserfrühenBegegnungenistvielmehreinan deresElementdominant:dieVerwunderungüberdasFremde,daskulturellAndere. Während dieses Element in den Tagebüchern Christoph Kolumbus’ dabei eher zur Überbrü ckungvonNichtverstehendient,kannGreenblattaucheinBeispielnennen(denReiseberichtdes französischen Geistlichen Jean de Léry), in dem die Verwunderung dem Bösen angenähert wird 395 –einSachverhalt,derunsschonausderTheoriederPhantastikbekanntist,wosiebiswei leninderNähedesExzessesoderderKrankheitgesehenwurde.AnbeidenBeispielen,sowohl denTagebuchaufzeichnungenKolumbus’alsauchderAnekdoteLérys,lässtsichzeigen,wieder Entdeckerdiskurs unbekannte Elemente in das eigene semantische Schema überführt. Das ge schiehtz.B.beiKolumbusmitnonchalanterSelbstverständlichkeit:Erbringtesfertig,innerhalb eineseinzigenAbsatzesmehrfachdenInhaltderWorteeinesHäuptlingsinseineSprachezuü bersetzenundgleichzeitigseinabsolutesNichtverstehenzumAusdruckzubringen 396 .

394 Vgl.TODOROV 1982,104ff:TodorovbindetinseinemArgumentdieSchriftandieFähigkeitzuimprovisieren (deshalbnenntsieGreenblatt,Todorovzitierend,aucheine beweglicheHerrschaftstechnologie ),währenddieoraleTradie rungspraxisderAztekendazuführte,dassjedesEreignisineinegöttlicheOrdnungundeinenPlanderVorsehung eingepasstwurde.ErkonstatiertdesweitereneinunterlegenessymbolischesSystembeidenAzteken,„commes’ils confondaientlereprésentantaveccequ’ilreprésente“(201).DiediesbezüglichenBeobachtungenvonZeitgenossen hinsichtlichderrituellenPraxiswerdenenggeführtmiteinerAbsenzderSchriftbeidenAzteken,diealssymboli schesSystemeineDistanzvoraussetzt,diedenAztekenzufehlenscheint. 395 Vgl.GREENBLATT 1991,28.DieseTextstellewirdimfolgendenauchalsersteAnekdoteLérysbezeichnet.Zum StatusderAnekdotefürden NewHistoricism ,vgl.BAßLER 2001a,19. 396 Vgl.GREENBLATT 1991,26.DassdieseArtdesvorgeblichdirektenZugriffsaufdasoffenbarUnverständliche auchinaktuellenTextenüberdieSituationvonAusländerninDeutschlandvorhandenist,hatArleneTeraokage zeigt.IndemsieTextevonMaxvonderGrün,GünterWallraffundPaulGeiersbachaufihreDarstellungdesFrem denhinuntersucht,gelingtesihrzuzeigen,dassdieerstenbeidenvorgefertigteBilderdes„Türken“präsentieren, während allein Geiersbach seine eigene Verwirrtheit zulässt und dokumentiert (TERAOKA 1989, 125). Die Stärke 223 DieVerwunderung,soGreenblattimBezugaufAlbertusMagnus,„isteinabsolutzwingender, ein Grund oder Primäraffekt“ (31). Das Entscheidende an ihr ist die innere Reaktion auf die äußereWelt.AneinerzweitenAnekdoteausdenAufzeichnungenLérys,inderderGeistliche sich ganz von der Musik einer Zeremonie, die er zunächst als „Hexensabbat“ identifiziert (31/33),überwältigenlässt,erläutertGreenblattdiesenGedanken.EshandeltsichbeidieserA nekdoteGreenblattsEinschätzungnachgeradenichtumeineFormderDistanzierungvonder– teuflischen–ZeremoniemitHilfedesästhetischenGenusses,sondernumeineradikaleDekon textualisierung, d.h. eine Befreiung des Geschehens sowohl aus dem heidnischen als auch aus demchristlichenKontext,dieesihmerlaubt,sichdemPhänomenganzundgaraffektivzunä hern.LérysErlebnisistsomitdasersteBeispielfüreinVerstehenohneBesitzergreifung,dasden positiven Fluchtpunkt für Greenblatts Darlegungen bildet. Im Gegensatz zur Besitzergreifung ohne Verstehen, wie sie ganz wörtlich die Landnahme Christoph Kolumbus’ darstellt, wird in Lérys zweiter Anekdote auf eine Semantisierung desErlebten verzichtet. Ihr phantasmatischer Gehaltwirdgewissermaßenerhalten,indemsiedenkonkurrierendenBedeutungssystemen–dem heidnischenunddemchristlichen–letztlichentzogenbleibt.DasErlebniswirdaufderaffekti venEbenebelassen. DieVerwunderunghat,sofährtGreenblattfort,immerzweiSeiten:zumeinenschlägtsieden Menschen,dersieerlebt,ganzundgarinihrenBann,sieistspontaneReaktion,dieeineaffektiv überwältigende Wirkung zeitigt. Andererseits ist sie stets konnotiert mit Gefahr, Lähmung des Geistes.DasUnbekannteführtsowohlzumWunscheskennenzulernen,d.h.seineUnbekannt heitzuüberwinden,alsauchzuAngstvordem,wasmanzunächstnichteinzuordnenvermag. FürdieVerwunderunggiltdaherdasselbewiefürdiephantastischenElementeinderLiteratur:in Maßensindsieanregend,dochsiebergeninsichdauerhaftdieGefahr,insExzessiveabzurut schenundsodenmenschlichenGeistzukorrumpieren. WeitabvondiesenÜbertreibungenmüssensichdeshalbdierhetorischenStrategienbewegen,die imDiskursderEntdeckerdieneueWeltbeschreibensollen.GreenblattgibtmehrereKompo nentenan,diediesesMaßhaltenimWunderbarenerlauben.ZunächsteinsachlicherErzählstil, dersichvonvornhereinalseinfacherAugenzeugenberichtzuerkennengibt.Außerdemwerden die Schilderungen wunderbarer Wesen und Welten durch die antiken Autoren als Bildbestand aufgerufenundalsFoliefürdieeigenenErlebnissebenutzt.Lérygibtz.B.an,dasser,nachdemer inderNeuenWeltgesehenhat,wasergesehenhat,nuneinanderesUrteilüberPliniushabe. GreenblattziehtdarausdieKonsequenz,dass

seinesAnsatzesbestehtfürTeraokageradeinderAkzeptanzderHeterogenitätdertürkischenPopulation:diege schilderteFamilieistnicht„‚ the ’Turkishfamily,but‚ a’Turkishfamily“(120). 224 „dieEntdeckungderNeuenWelt[...]einerseitsdieantikenAutoren[entwertete],dievon diesenLändernkeineAhnunghatten,aberindemsiezugleichdieMöglichkeiteröffnete, dassdievermeintlichkrassenÜbertreibungenundLügenderAlteninWirklichkeitnüch terneDarstellungeneinesradikalAnderenwaren,verliehsieandererseitsdenklassischen BerichtenüberUngeheuereineneueBrisanz.“(38)

DurchdenEntdeckerdiskursgewinnenalsoalteBerichte,diebisheralshaltloseÜbertreibungen gegolten hatten, eine neue Plausibilität und werden in den Bildbestand als möglich integriert. Umgekehrt werden die Vorstellungen vom Wunderbaren dazu genutzt, neue Erfahrungen zu beschreiben.DasWunderbareinseinerGestaltdesMöglichenerlaubtes,auchUnmöglichesoder vollkommen Unverstandenes in die eigene Vorstellungswelt zu integrieren. In den beiden von GreenblattbesprochenenAnekdotenausdenBerichtenLérystauchtdasWunderbaresomitin einerdoppeltenFunktionauf.IndererstenPassage,wosichLéryvomGeschehendistanziert, wirddieexzessive,krankhafteundfehlgeleiteteSeitedesWunderbarenaufgerufen;inderzweiten Passage,wosichLérydemGeschehenausliefert,scheintzusätzlichdieMöglichkeitderFaszina tionvoneinerunbekanntenRealitätauf,dieaufdieseWeisemitdemeigenenBedeutungssystem inVerbindunggebrachtwerdenkann.DieKategoriederVerwunderungistinsofernhöchstbe weglich und unspezifisch. Sie dient als erste Bezeichnung eines unbekannten Ereignisses und erlaubtesdabei,diesesspäternochaufdereigenenWerteskalaanbeliebigerStelleeinzuordnen. EskanninGänzeabgelehntwerden(ersteTextstellebeiLéry)odereinfachindieeigeneVorstel lungsweltintegriertwerden(Kolumbus)oderirgendwodazwischeneingeordnetwerden(zweite TextstellebeiLéry).DieseOperationalisierungdesWunderbarenstimmtmitderBeschreibung der Verwunderung sowohl im zeitgenössischen philosophischen Diskurs, wo sie z.B. bei Des cartesundSpinoza„demWissenumGutundBösevorangeh[t]“,alsauchinderAntikeüberein, wosie„derErkenntnisschlechthinvorangeh[t]“(41). AusdemreichhaltigenMaterial,dasStephenGreenblattalsIllustrationfürdieRolledesWun derbarenbzw.derVerwunderungbeiderKontaktaufnahmemitdenMenschenderNeuenWelt anführt,möchteichhiernureinigeBeispielefürdenKomplexderVerständigungeingehender betrachten.DaistzunächstdieschonmehrfachvonmirangesprocheneLandnahmedurchKo lumbus.GreenblatterinnertandieerstaunlicheTatsache,dassKolumbusjaeigentlichglaubte,in Indienzusein,alserinAmerikaeintraf.Esistdeshalb–undweildieDokumentenlageüberKo lumbus’Missionrechtdürftigist–ziemlichverwunderlich,warumerüberhauptdamitbegann, vondenneuenLändernBesitzzuergreifen.Gesichertscheintzusein,dasservonderspanischen KronedenAuftraghatte,mitdemGroßkhanKontaktaufzunehmen,dieMissionierungvorzube reitenundaußerdem„gewisseInselnundFestlandimozeanischenMeerzuentdeckenundzu

225 gewinnen“(89) 397 .ObdiespanischeEroberungspolitikinderTatsonaivwarzuglauben,man könneChinaundIndienmitdreiSchiffen,dienichteinmalKriegsschiffewaren,erobern,wird vonGreenblattnicht abschließendbeantwortet,wobeieraufStudienverweist,diedieseMög lichkeitnahelegen 398 .HöchstaufschlussreichistjedenfallsdieArtundWeise,wiedieseInbesitz nahme vonstatten ging, nämlich durch eine Reihe von Sprechakten. Doch wie konnten diese Sprechaktefunktionieren,wenndochdieEindringlingeunddieEinheimischenwechselseitigihre Sprachennichtverstanden? Die Antwort, die Greenblatt gibt, verblüfft zunächst: die Sprechakte funktionierten nur ihrer Formhalber,siebliebenaneinRepräsentationssystemgebunden,dastausendevonKilometern entferntgebräuchlichwar.DieAdressatenvonKolumbus’SprechaktensindinderAlten,nicht aberinderNeuenWeltzufinden 399 .DahermüssendieSprechakteauchnichtinGegenwartir gendwelcherEinheimischer,aberganzsicherinGegenwartdesSchiffsschreiberserfolgen,derdie mündlichenÄußerungenfürdiespanischeKroneschriftlichfesthältundsomitihreAuthentizität verbürgt(94).DieSchriftisthieralsoineineranderenHinsichtvonBedeutungalsinderoben von Tzvetan Todorov vorgeschlagenen. Sie ermöglicht es, die Sprechakte Kolumbus’ notariell beglaubigtfestzuhaltenundihrengenauenWortlautnachderRückkehrdesEntdeckersinEuro pabekanntzumachen,demDiskursuniversum,aufdassichderganzeFormalismusderLand nahme eigentlich und ausschließlich bezieht (99). Wenn einmal Einheimische zugegen sind, nimmt Kolumbus die Besitzergreifung dennoch als vollzogen an, da ihm nicht widersprochen wird–einephantastischeBegründungvordemHintergrund,dasssichdiebeteiligtenParteien, wie Greenblatt es ausdrückt, „gar nicht im selben Diskursuniversum befinden“ (97).Aberwie gesagtrichtensichdieSprechaktenichtandieanderePartei,sondernansferneEuropa,wona türlich,mangelsAnwesenheit,auchniemandwidersprechenkann. Die gesamte Zeremonie spielt sich demnach auf einer rein formalen und auf einer imaginären Ebeneab.Die„Wahrheit“und„Rechtmäßigkeit“seinesHandelnssiehtKolumbusalleindurch die Wahrung der in seinem Diskursuniversum gängigen Formalismen gewährleistet (94). Der fiktiveStatuseinersoerzeugtenWahrheitkönntenichtdeutlicherhervortreten.Greenblattweist daraufhin,dassauchunterKolumbus’ZeitgenossendiesesVorgeheneinesleerenFormalismus nichtunwidersprochengebliebenist 400 .Kolumbushatspäterhindannaucheinensehrvielgröße renAkzentaufdenStatusderEroberunggelegtundsichvonderreinformaljuristischenInbe sitznahmederneuenLänderdistanziert(108).DochdieseVorgehensweisemussteihrerseitsmit

397 GreenblattzitierthierdasReisetagebuchKolumbus’. 398 Vgl.GREENBLATT 1991,89bzw.251f(Fn.117). 399 Vgl.auchTODOROV 1982,72:„l’importantestqueletextesoitrecevableparlescontemporains,ouqu’ilaitété crutelparsonproducteur.“ 400 Vgl.z.B.dieStellungnahmeFranciscodeVitoriaszit.nachGREENBLATT 1991,100f. 226 einemgutenmoralischenGrundbemänteltwerden,denndadieEinheimischensichdenEntde ckernjanichtfeindseliggenäherthatten,wäreeinekriegerischeHandlungihrerseitsinEuropa nichtgutangekommen.KolumbusrekurriertdeshalbaufdieReligion,unterstellt,dieEinheimi schenhätteneinEigeninteressedarangehabt,ihrLandvondenSpaniernerobernzulassen.Die Tauschaktionen,dienichtnurvonKolumbus,sondernimgesamtenEntdeckerdiskurshäufigals radikalungleichzugunstenderEuropäerbeschriebenwerden,werdenindiesemZusammenhang zueinerArtAblasshandel.DieVersklavungderindigenenBevölkerunggeschiehtzudereneige nemWohlundmitderenunterstellterZustimmung(113f).„DierhetorischeLeistungdeschristli chenImperialismusbestehtdemnachdarin,dieUmwandlungvonWarenmitderBekehrungvon Seelenzuverbinden“(112),schreibtGreenblattundlenktsodieAufmerksamkeitaufdiewun dersameKonvertierbarkeitvonökonomischenWerten–seienesnunWaren,Goldodereben verschleppte und versklavte Menschen – in Seelenheil im christlichimperialistischen Diskurs (112). DasSpezifikumderrhetorischenStrategieKolumbus’bestehtnunnachGreenblattgenauindie semZweischrittbzw.indieserVerbindungvonjuristischemDiskursunddemDiskursdesWun derbaren,beidemsowohlaufrhetorischästhetischealsauchaufreligiöseImplikationenzurück gegriffenwird: „DiejuristischeErklärungkonnteimGeisteeinesradikalenFormalismuserfolgen,aber dieserFormalismusließzugleicheineGefühlsundGeistesleerezurück,einLoch,dasje denLeserdiesesbesitzergreifendenDiskurseszuGelächteroderTränenrührenundan derLegitimitätdesspanischenRechtsanspruchszweifelnlassenmusste.[...]DasWunder dergöttlichenSchenkunglegitimiertdenRechtsakt,abertranszendiertihnauch.[...] DasjuristischeRitualvermagkeinenRechtstitelzubegründenunddasWunderbarekann keinenBesitzverleihen,aberdurchdieVerknüpfungderbeidenhebensichihreMängel wechselseitigaufundsowohlRechtsanspruchwieGefühlwerdengestärkt.“(126f) DieständigeVerwendungdesAusdrucks maravilla durchKolumbushältGreenblattdemzufolge nichtfüreinenZufall,sondernfüreinegezielterhetorischeStrategie.DurchdieBerufungaufdas WundersolleinetiefereVerständnisebeneevoziertwerden,alssiediesprachlichedarstellt.Es bemäntelteinenichtstattfindendeKommunikation,geleerteZeichen,eineSprache,diejenach dem angestrebten Ziel mit Bedeutung verbunden werden kann. „Das Wunderbare“, so noch einmalGreenblatt,„hatfürKolumbusdieFunktioneinesflexiblenKonversionsmittels[...]zwi schenAußenundInnen“(119),d.h.esflexibilisertdasVerhältnisvonRepräsentationundReprä sentiertem,vonFormundInhalt.SeineKraftliegtgeradedarin,dasseseinenSachverhaltsolange inderSchwebehält,biserindasgewünschteRepräsentationssystemintegriertwerdenkann.Es suspendiertdiegewohnte,vertraute,bekannteZuordnungeinesZeichenszuseinemSinn,leertes undmachtessobereitfürseineIntegrationineinalternativessemiotischesSystem.

227 Dies belegt auch der Umgang der Entdecker mit der Sprachbarriere. Greenblatt demonstriert zunächst an Kolumbus, wie dieser auf seiner Reise von Anfang an konsequent alles, was ihm begegnet,inZeichenverwandelt.EsgibtfürihnnichtsalsdurchsichtigeZeichenoderunbedeu tendesChaos.Zeichensinddazuda,umeinWissen,dasbereitsvorhandenist,zubestätigen.Sie sollennurinnerhalbeinesbekanntenSystemsgedeutetwerden,keineneuenErkenntnisseliefern. „DasZeichen,dasKolumbusnichteinbürgernkann,dasirreduzibelfremdoderopakist,befin detsichaufdembestenWege,seinenStatusalsZeichenzuverlieren“(138).Esistdaherauch nichtverwunderlich,dassKolumbusdieEinheimischen,aufdieertrifft,mitdenPapageienver gleicht,dieaufihrenInselnumherfliegen.Siewerdenvonihmals tabularasa wahrgenommen,die außerordentlichbegabtdafürzuseinscheinen,dasSeelenheil,dasdieSpanierihnenbringen,auf zunehmen 401 . DiesprachlichenUnterschiede–undwiewirheutewissensindsieerheblich–zwischendenein zelnenIndianerstämmennimmtKolumbuszunächstnichtwahr.Er–undmitihmeineVielzahl derfrühneuzeitlichenEntdecker–glaubtwenigstensbeiseinererstenReisefestaneineweitge hendeUniversalitätwenigstensderGebärdenspracheundverkenntsomitauchderenAufladung mitbestimmten,kulturellgeprägtenBildbeständen 402 .UnterdiesemVorzeichenstehendieersten KontaktaufnahmenmitdenEinheimischen.DieEuropäerleugnenindiesenZusammentreffen einfach die Sprachbarriere. Es existiert im Entdeckerdiskurs, wie Greenblatt ihn vorführt, ein ziemlichbruchloserÜbergangzwischenVerwunderungundanschließenderIntegrationdesOb jektesdieserVerwunderungindaseigenesemiotischeSystem.DiesverdankendieEuropäerso wohlseinerungeheurenBeweglichkeit,verbundenmiteinerFähigkeitzurImprovisation,diees erlaubt,unbekannteZeichensolangezuwenden,bissieineinbekanntesBildpassen(142). DabeibeweistKolumbuseinebemerkenswerteBereitschaftzuParadoxienundargumentativen Inkonsistenzen:EinmalerkennterbeidenEinheimischenbestimmteFormengesellschaftlicher Ordnung (107), dannwerden siewieder zur kulturlosen Menge, die nur noch mit der eigenen Kulturbespieltwerdenmuss.EinerseitssinddieEinheimischendieEbenbilderderEntdecker, mitdenenwieselbstverständlichineineralsuniversalangenommenenSprachegesprochenwird, andererseits sind sie die beschriebenen tabulae rasae , die nur imitieren, nicht wirklich begreifen können(148).„DieEuropäerundauchdieDolmetscherextrapoliertendieBruchstücke,diesie verstandenoderzuverstehenmeinten,zueinerzusammenhängendenGeschichteundglaubten amEnde,esseidieseGeschichtegewesen,diemanihnentatsächlicherzählthabe“(149).Unver

401 Dieses Bild deckt sich in auffälliger Weise mit dem von Čapeks Molchen, die ebenfalls eine Kolonisationsge schichteerzählen,vgl.ČAPEK 1936. 402 Greenblattweistdaraufhin,dassKolumbushierinderÜberzeugungAugustinus’undQuintiliansfolgt,diedieser unterdemStichwortder chironomia verhandelt(145). 228 ständnis wurde als Form des Mangels angesehen, den man einzig auf Seiten der Indigenen in Anschlagzubringenbereitwar. VordiesemHintergrundwirdauchbegreiflich,wiedieEuropäerihr–realjaexistierendes–Ver ständnisdefizit zu beheben versuchten. Die fremde Sprache zu lernen war, angenommen man erkanntedieseNotwendigkeitüberhauptan,was,wieerwähnt,nichtselbstverständlichwar 403 ,für dasüberlegeneSelbstbildderEuropäernichttragbar,dennLernenistimzeitgenössischenpäda gogischenDiskursausschließlichaneinbestimmtesLebensaltergebunden:dieKindheit(160f). AlsoversuchtemandieIndigenen,die,dasiesichnichtwehrenkonnten,leichterzuinfantilisie renwaren,zumErlernendereigenenSprachezubringen–wasjaohnehinnurzuderenVorteil geschah,dasiesomitdemchristlichenGlaubenleichterzugänglichgemachtwerdenkonnten,was ihremSeelenheilzugutekam.DieEuropäerfingenalsodamitan,gezieltEinheimischezuentfüh ren 404 . DieseVorgehensweiseistabernichtnurmoralischzweifelhaft,woraufbeiKolumbusohnedies nichtreflektiertwird,sondernsiebirgtaucheineGefahr,dieGreenblattdeutlichbenennt:„An welchemPunktbeginntderEinheimische,derindieeuropäischeSpracheundinseuropäische Tauschsystem eingeführt wurde, zu begreifen, dass sein Volk ausgeplündert wird?“ (166). Die DolmetscherfunktionbringteineAneignungkulturellerKompetenzenmitsich,diediefremde KulturfürdieIndigenennichtmehralsverwunderlichundunbegreiflicherscheinenlässt,son dern die die eigennützigen und respektlosen Motive der Entdecker entlarvt. Der Diskurs der EntdeckerenthülltdeutlichdiedoppelteStrategie,diemitdieserFigurverbundenist.Zumeinen wirdstetsdermissionarischeundalsoauseuropäischerSichtwohltätigeCharakterderEntfüh rungenherausgestrichen;zumanderenwerdendieökonomischenMotiveunddasPhantasmades ungleichenGabentauschsnichtverschwiegen.SiesindeinSignalandaseuropäischePublikum undunterstreichendieGeschicklichkeitunddieGerissenheitderEroberer.Zugleichwirddieso forcierteAusbeutungdurchdieVorliebederIndigenenfürwertlosenTandgerechtfertigt.Ausihr wirdeinekindlicheOberflächlichkeitabgeleitet,diedenwahrenWertderDingenochnichtzu erkennenimstandeist.DarausergibtsichwiederumdieRechtfertigungfürdieBekehrung.Die IdeeeinesrelativenWerteswirdindieserArgumentationsfigurwohlweislichausgespart.Gleich 403 NotwendigwurdediebessereKommunikationdurchoffensichtlicheFehldeutungenbestimmterZeichen,diezu Missverständnissenführten,dieihrerseitsdieangestrebtenHandelsbeziehungenbehinderten.UndKolumbus’Missi onhattejavordringlichwirtschaftlicheZiele.AußerdementwickeltesichderradikalungleicheGabentauschzueiner richtiggehendenObsessionderEuropäer(168). 404 AuchhierliegteineParallelezumzeitgenössischenDiskurs,diesichmitTeraokabelegenlässt.„Theyspeak,we learntolisten“(TERAOKA 1989,127)istdieMaxime,derPaulGeiersbachinseinerReportagetätigkeitfolgt,auchum denPreisdespartiellenUnverständnisses.BeiKolumbus,aberebenauchbeivonderGrünundWallraffläuftdie Verständigung inumgekehrterRichtung:derWesteuropäersprichtunddieIndigenenbzw.dieEinwanderersindes, diezuhörenundlernen,oderesistüberhauptirrelevant,wassiesagen,wieTeraokaeindrücklichanWallraffsText zeigt:„WiththeconfrontationbetweenAdlerandhisTurks[...],itdoesnotmatterwhatthesixTurkishmenhaveto say–indeed,theycouldspeaksomenonsenselanguageandwouldserveWallraffequallywell“(117). 229 zeitig wird der Überzeugungskraft der eigenen wohltätigen Vorgehensweise offenbar nicht so sehrvertraut,dassmansichsicherist,derindigeneDolmetscherwerdedieMotiveebensogut heißenwiemanselbst.DieSolidaritätmitdenEinheimischen,derHinweisaufdieausbeuterische AbsichtderEuropäer,nichtkontrollierbarindieangeblichwortgetreueÜbersetzungeingebracht, wirddenIndigenenselbstnunwiederumalsmoralischeVerfehlungangerechnet(166). DieinterkulturellenKontakte,solässtsichzusammenfassendfeststellen,bietenvorallemRaum fürdieeigenenPhantasmen.EsfindetkeineernsthafteBemühungumAustauschoderumdas Verständnis fremder Gebräuche statt. Über die rhetorische Figur des Wunderbaren wird das betreffende Element vielmehr zunächst in eine unverständliche Sphäre entrückt, um in dieser vollständigenSinnentleertheitdannindaseigenesemiotischeSystemüberführtwerdenzukön nen.DaseuropäischeSystemwirdaufvielenEbenen(sprachlich,religiös,ökonomisch)alsuni versalintelligibelangesehen.DiesbezüglicheUngleichheitenwerdendenIndigenenalskindliches Unverständnis zugerechnet. Eine Anerkenntnis möglicher gleichwertiger Alternativen, eine grundsätzlicheAnerkennungderDifferenzsemiotischerSystemewirdnichtgeleistet.Dereuro päischeRepräsentationsdiskurs,wieStephenGreenblattihnschildert,erscheintalshomogenisie rendeBedeutungsmaschinerie. Eswirdnundaraufankommen,dieÜberlegungenzurRolledesWunderbarenfürdieInterpreta tion eines Textbeispiels zu nutzen. Dabei wird das Hauptaugenmerk darauf liegen erstens hu morvolle,parodistischeElementesowieElementedersprachlichenGeschliffenheitinihrerVer bindungmitdemWunderbarenauszumachenundzuanalysieren;zweitenssollgefragtwerden, obdervonGreenblattbeschriebenerhetorischstrategischeEinsatzdesWundersfürdieAnalyse desvonmirausgewähltenTextesfruchtbargemachtwerdenkann. DasWunderderKommunikation.DieBrückevomgoldenenHorn WieschonbeiderBesprechungvonDrissChraïbisRoman L’inspecteurAli stehtdieseArbeitvor demProblem,dassdieSekundärlagezuEmineÖzdamars DieBrückevomgoldenenHorn ausgespro chendürftigist,wohingegenderAutorbzw.dieAutorininsgesamtgroßeAufmerksamkeitge nießt. Özdamars Romanerstling Das Leben ist eine Karawanserei ist im Gegensatz zur Brücke vom goldenenHorn nichtnurvondenFeuilletons,sondernauchvomwissenschaftlichenDiskursrelativ ausführlichwahrgenommenworden.Eskannalsoauchhiergeschehen,dassichgegebenenfalls beimeinerKritikmitdemUmgangvonTextenÖzdamarsaufAufsätzeverweisenmuss,diesich garnichtmitdemRomanbeschäftigen,denichhieranalysiere.SoschwerdieseVorgehensweise zuvermeidenist,wennüberhauptetwaszurRezeptionderAutorinÖzdamargesagtwerdensoll, sorechtfertigungsbedürftigistsievordemHintergrundmeinerKritikanderhomogenisierenden

230 Klammer,dieWerkundAutorbegriffbilden.Abergenauhierliegtauchdasvielleichtstärkste ArgumentfürdieseVorgehensweise,dennichbeschäftigemichgerademithomogenisierenden Rezeptionsphänomenen,mitKategorien,diebestimmte,sehrgrobeIndiziendafürbenutzen,um AutorinnenundAutorenmitMigrationshintergrundnichtderNationalliteraturzuzuschlagen,in derenSprachesieschreiben.IchbeziehemichdemnachaufDiskursphänomene,dieeineEigen dynamikbesitzen,dienichtsoeinfachvonderHandzuweisenist,auchfürdieSelbstbeschrei bungderAutorinnennicht. DieBrückevomgoldenenHorn istvonihnenebensobetroffenwie Kara wanserei , LesnuitsdeStrasbourg , Lepassésimple oderalleanderenTexte,diedemLabelderinterkul turellenLiteraturunterliegen. DereinzigewissenschaftlicheAufsatzzur BrückevomgoldenenHorn ,dermirbekanntist,stammt vonMorayMcGowanundbesprichtvorallemdasBrückenmotivalsverblassteMetapherfürden interkulturellenVerständigungsprozess 405 .DieWendung,mitderMcGowandenCloudieserMe tapher schwächt, soll gleich noch genauer zur Sprache kommen. Zunächst möchte ich darauf hinweisen,dassdieBrückevomgoldenenHornkeineBrückeist,dieEuropamitAsienverbin det, sondern „die beiden europäischen Teile von Istanbul“ (ÖZDAMAR 1998,187).Esgibtin ÖzdamarsRomanzwarauchBewegungenzwischenEuropaundAsien,dochdiegeschehenper Schiff,denn„zwischenAsienundEuropagabesdamals,1967,nochkeineBrücke“(222).Diese TrennungIstanbulsdurchdenBosporuswirdvonÖzdamarmiteinemMärchenverglichen: „DasMeertrenntediebeidenSeiten,undwennichdasWasserzwischenmeinenEltern undmirhatte,fühlteichmichfrei.IneinemMärchenwarfeinjungerManneinenSpiegel hinter sich, die Riesen, die ihn fressen wollten, waren hinter ihm her, aber der Spiegel wurdezueinemgroßenMeer,unddieRiesenbliebenaufderanderenSeitedesUfers.[...] Die asiatische und die europäische Seite in Istanbul waren zwei verschiedene Länder.“ (222) DieseBeschreibungruftmehrereElementeauf,diefürdenEntdeckerdiskurseinegroßeRolle spielen.ZunächstistdadieParallelisierungdermenschenfressendenRiesenmitderasiatischen SeiteIstanbuls.DieFurchtvordemKannibalismusdurchziehtdiefrühneuzeitlicheninterkultu rellenBegegnungen 406 .DieeuropäischeSeiteIstanbulswirdhingegenmitFreiheitassoziiertund dasgerade aufgrund desFehlenseinerBosporusbrücke.DenndaderFährverkehrüberNachtre gelmäßigeingestelltwurde,ergabsichimmereineleichteAusredefürdieIchErzählerinauswärts zuschlafen(222).DieTrennungkannalsoauchfürdieeigenenZweckefunktionalisiertwerden– eineVorgehensweise,dieunsschonvondenEntdeckernherbekanntist.Auchhierwaresgera dedievollkommeneTrennung,dieüberdieFigurdesWunderbaren(beiÖzdamarbezeichnet durchdasMärchen,dieRiesen)dazuausgenutztwerdenkonnte,dieeigenenWunschvorstellun

405 Vgl.MCGOWAN 2000,v.a.6269. 406 StephenGreenblattlieferteinschönesBeispielvonEngländernund„Eskimos“,diesichoffenbargegenseitigfür Kannibalenhielten(GREENBLATT 1991,169f). 231 genaufdie tabularasa derIndigenenzuprojizieren.Wassobeschriebenwird,istalsostrengge nommenkeininterkulturellerKontakt,sonderneinniederSphäredesEigenenentwachsendes Selbstgespräch. Das Andere wird bei Özdamar ganz entsprechend als praktische Monstrosität beschrieben.DasWunderbare,dasMärchenhaftehateinenganzbanalen,praktischenAspekt:bei den Entdeckern der Handel mit den Indigenen, bei der IchErzählerin der Brücke vom goldenen Horn dieMöglichkeitbeiihremLiebhaberaufdereuropäischenSeitezuübernachten 407 . WieistdemgegenüberabernundieMetaphervomgoldenenHornzuverstehen,dasEuropavon Europatrennt?EineMöglichkeitsiezudeutenschlägtMcGowanvor,indemeraufdierealeTo pographieIstanbulsverweist.DieBrückevomgoldenenHornverbindehier„’Europe’inEurope and‚Asia’inEurope“,sieseiüberhaupteinEmblemfür„Turkey’smetaphoricalidentityasthe bridgebetweentwoworlds“(MCGOWAN 2000,66),dasiesichzwischendemwesteuropäischen Botschaftsviertelunddemaltenottomanischen Herrschaftsviertelbefindet.DieseDeutungbe friedigtnicht,dennsielässtzusehrdieDoppelungaußerAcht,dieÖzdamarindenRomanein baut.DenndieFährenunddieFahrtenüberdenBosporushabenjaeinenfestenPlatzimnarra tivenGefügedesRomans,ebensodieFahrtennachParis,nach,andenBodenseeoderins anatolischeHinterland.McGowansInterpretationvermagnichtzuerklären,wiesichdieseein zelnenBewegungenimRaumzueinanderverhalten.SindsiealleeinfachnurIllustrationendes angeblich vorhandenen einen großen Unterschieds, der die Türkei durchzieht? Es ist bezeich nend,dassdieInterpretationvonÖzdamarsRomanandieserStellebeiMcGowanpraktischen det. Er muss auf einen Reisebericht Edmondo deAmicis’ ausweichen, um denvon ihm stark gemachten Unterschied zu veranschaulichen (67f). Meine Gegenthese lautet: Özdamars Text beutetdiesenUnterschiednichtaus.IchwerdeamEndeeineandereDeutungdertitelgebenden Brückeanbieten. DerRomanbeschreibtnochandereBewegungenalsdieinnerhalbvonIstanbul:zunächstzwei AufenthalteinBerlin,einmal,ohnedeutschzusprechen,daszweiteMalalsDolmetscherin;eine ReisenachAnatolien,diedieIchErzählerinmitzweiKommilitonenvonderSchauspielschule unternimmt,umdortdiekatastrophalenMissständederLandbevölkerungimAuftrageinerlin kenZeitungzuuntersuchen;schließlicheineReisenachParis,wodieIchErzählerineineroman 407 ÖzdamarliefertgleichnocheinBeispielfürdiepragmatischeNutzungdieserTrennung:„Manerzählte,dasseiner unsererSchauspiellehrerdiesebeidenSeitenvonIstanbulbenutzthatte,umberühmtzuwerden.AlsjungerMann warerangeblichnachRusslandgegangenundhattedortalsAssistentbeidemberühmtenrussischenTheaterregis seurStanislawskigearbeitet.[...]SeineFeindeabererzählten,dasserzwardamalsaufdereuropäischenSeitevon IstanbulallenseinenFreunden‚AufWiedersehen,ichfahrenachRusslandzuStanislawski’gesagthatte,dannaber nuraufdieasiatischeSeitevonIstanbulgefahrenwäre.[...]ErhättesichdortineinemHaussechsMonatelangver steckt,alleBüchervonStanislawskigelesen,auswendiggelernt,undnachsechsMonatenwäreerausseinemVer steckaufderasiatischenSeitevonIstanbulwiederherausgekommenundmitdemFährschiffwiederaufdieeuropäi scheSeitevonIstanbulzurückgekehrt“(ÖZDAMAR 1998,222f).AuchindiesemBeispielistdieasiatischeSeiteIs tanbulseherderOrteinesPhantasmasalsbenennbarunterschiedlichvondereuropäischen.DerUnterschiedzwi schendenbeidenSeitenbestehtvoralleminihrernichtvorhandenenVerbindung. 232 tischeLiebesgeschichteerlebt.BeidiesenReisenstelltdieErzählung,someineThese,vielstärker aufÄhnlichkeitenalsaufDifferenzenab.Diesewerdeneherlustigoderunwirklichundentrückt geschildert. ÖzdamarsRomanbeginntinBerlindesJahres1966undderLeserwirdsofortmiteinerbesonde renGewohnheitderIchErzählerinkonfrontiert.SielerntdieSchlagzeilenderMorgenzeitungen auswendigundbenutztsieauchfürdieKommunikation:„JemandfragtezumBeispiel‚Niyeböy legürültüyleyürüyorsun?’(WarummachstdusovielKrach,wennduläufst?),undichantwortete miteinerdeutschenSchlagzeile:‚WennausHausratUnratwird’“(ÖZDAMAR 1998,11).Dieun terschiedlichstenSchlagzeilentauchenleitmotivischimTextwiederauf(z.B.51,66).VonBeginn anwirddiesesVorsprechenvonfürdieSprecherinbedeutungsloserWorthülsenaußerdemmit demAuswendiglernenfürsTheaterenggeführt(zuerst11f)unddasTheaterbedeutetimBerlin jener Zeit: Brecht. Die deutsche Sprachewird so zum einen zu einer magischen Formel. Man fühltsichunwillkürlichandieSchilderungenGreenblattserinnert,andieEuropäer,diedieihnen völligopakeSprachederamerikanischenAutochthonenalstransparentbehandelten.Özdamars IchErzählerinwendetdieseimperialistischeGesteallerdingsinsKomische,dennihrLeserver stehtja,wassiesagtundkannsomitdieInadäquatheitderKonversationnachvollziehen.Doch damitnichtgenug,dietürkischenEinsprengsel,die,unübersetztgelassen,dasSpielinseinerUn durchsichtigkeiteinfachspiegelbildlichreproduzierenkönnten,werdenvonÖzdamarübersetzt. DasWunderbarewirdsoinsLächerlichegezogen.WasfürdieEntdeckernochdasWunderder Verständigungwar,wasfürdieIchErzählerineinefastmagischeKonnotationhat 408 ,wirdfürdie Rezipienten zu einer skurrilen Vorführung einer scheiternden Kommunikationssituation 409 . DurchdengleichzeitigenHinweisaufdasTheater,besondersaufdasepische,dassichjamaß geblich durch die Aufweichung der Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne auszeichnet, erhält dieser Umgang mit der Sprache noch eine weitere Dimension. Özdamars Beschreibung sprachlicherProduktionisthierschonähnlichkomplexwiedieChraïbis,wennauchnichtde ckungsgleichmitihr.WährendChraïbivorallemeinSpielmitderZuschreibungvonÄußerungen zueinemProduzentenbeschrieb,giltbeiÖzdamardasHauptaugenmerkdemRezipienten.Der LeserwirddurchdasMischenderSprachen,durchdiegeschilderteSituationdesUnverständnis ses auf Seiten der Romanfigur und durch die vermeintliche Bemäntelung des eigenen Unver ständnisses durch die im Roman gelieferte Übersetzung der türkischenSätze sowohl mit einer lustigenAnekdoteunterhaltenalsauchineinerArtVEffektandieStellederIchErzähleringe 408 „Thealmostmagicalpower“(11)vonSpracheistauchschonfürÖzdamarsErstling DasLebenisteineKarawanserei herausgestelltworden.SoheliaGhaussybeachtetdabeibesondersdieKonzentrationaufdieMaterialitätderSprache (GHAUSSY 1999,9ff). 409 Vgl.dieobenbereitsangeführteVerbindungvonHumorundPhantasma:„MitdemHumorteilt[dasPhantasma] dieLustanGegenwelten,diedurchdiePlötzlichkeitdesEinfallsinErscheinungtreten.InbeidenFällenistesdie ZurichtungderSprache,diediesermöglicht“(LACHMANN 2002,14). 233 stellt.DennoffensichtlichliefertdiesenuneineÜbersetzungfürdenLeser,dersonstdemGe schehennichtmiteinemLächelnfolgenkönnte,sondernvoreinemgenausodunklenTextstück stündewiediesdieZeitungsschlagzeilenfürdieIchErzählerindarstellen. VordemErlernenderdeutschenSprachestehtimRomaneinkurzesIntermezzoinderTürkei. AnstoßfürdieIchErzählerinfürdieanschließendeRückkehrnachDeutschlandisteineskurrile Szene,diesichzuträgt,alsihrVatersievomBahnhofabholt.DaderVaterhäufigfremdeLeute anderBushaltestelleaufliestundsieinseinemAutomitnimmt,sitzteineFraumitimWagen,die sich bei dem Vater über die IchErzählerin erkundigt. Der Vater erzählt natürlich sofort vom Deutschlandaufenthalt der Tochter. „Die Frau antwortete: ‚Europa gesehen zu haben, ist eine feineSache.MansiehteinemMenschenimGesichtan,dasserEuropagesehenhat.DieEuropä ersindfortschrittlich,wirtretenmitunserenFüßenaufderStelleundbewegenunseinenSchritt vorundzweiSchrittezurück’“(107).Esfälltzunächstauf,dassEuropahieroffenbaralsvoll kommengetrenntvonderTürkeibetrachtetwird.DeneuropäischenTeilIstanbulssehenistof fenbarnichtgleichbedeutenddamit Europazusehen .DieOptikspieltindieserSzeneeinegroße Rolle:Nichtnurprägt Europasehen einenMenscheninnerlich( esisteinefeineSache ),sondernauch äußerlich( mansiehteseinemMenschenimGesichtan ).DieFloskelhaftigkeitdesGesagtenspringtso fortinsAuge,dennoffenbarmussdieFrauerstfragenundsiehtesderIchErzählerinebennicht imGesicht an,dasssiedirektausDeutschlandkommt.DasGesprächwirdübrigensimmernur überVermittlungdesVatersgeführt,dieDamestelltihreFragenniedirektandieIchErzählerin. SoauchdieFrage,obsiedennauchDeutschgelernthätte.NachdemderVaterdieAntwortder Dame–völligunnötigerweise,denndieTochterantwortetjabereitsaufTürkisch–„übersetzt“ hat,ruftdieseaus:„’Dasgehtabernicht–DeutschlandsehenunddieSprachenichtsprechen!Sie mussdieSprachelernen’“(107).SokehrtdieIchErzählerinnachDeutschlandzurück,diesmal „ineineKleinstadtamBodensee“(108)undlerntdortvorallemeins–sichzuentschuldigen. DasWort Entschuldigung ist,nachdenohneVerständniszur Kommunikationeingesetzten Zei tungsschlagzeilen, das nächste leere Motiv der deutschen Sprache: „Meine ersten Sätze waren ‚Entschuldigung,kannichwassagen’,‚EntschuldigenSiebitte,wiespätistes’und‚Entschuldigen Sie bitte, kann ich noch eine Kartoffel bekommen’ [...]. Ich hatte etwas Deutsch gelernt, aber entschuldigtemichweiterbeijedemSatz“(108). DieFormulierungruftdenTadelderDamewiederauf,alsobsichdieIchErzählerinbeiihroder irgendeinerInstanzdafürzuentschuldigenhätte,bisdorthinkeinDeutschgesprochenzuhaben. Nunsprichtsiees,dochdieEntschuldigungbleibtihrerSpracheeingeschrieben.WiederinBer lin,wirdihreSprachkompetenzentdecktundsiewirdDolmetscherinineinemAusländerwohn heim.IndieserFunktionbeschreibtsieeindrücklich,wiesiedasWort Entschuldigung erneutals leere Worthülse an die Arbeiter weitergibt: „Auch die neuen Arbeiter, die noch kein Deutsch

234 sprachen,lerntenbaldvonmirdasWort‚Entschuldigung’undsagten‚Ensuldugu’.Siesaßenvor ihrenMaschinen[...]undwennsiedenMeisteretwasfragenwollten,riefensielaut‚Ensuldugu’, alsobesderNamedesMeisterswäre.BaldnanntenalleArbeiterdenMeister‚Ensuldugu’“(112). WieimBeispielmitdenSchlagzeilen,werdenauchindiesemBeispielverschiedeneEbenenvon Verständnis und Unverständnis miteinander gekreuzt. Die besondere, sarkastische Komik ge winntdieständigeEntschuldigungerneutimHinblickaufdenLeser,demvonÖzdamarsText einunterwürfigerGastarbeitervorgeführtwird.DieserwirdenggeführtmitdertürkischenDame, dieinbesterkemalistischerTraditiondieSegnungenderWeltmitdemWestenundEuropakon notiert.DasSprachenlernen,sowirddurchdieDarstellungsuggeriert,istidealerweisegepaartmit einerGestederDemut. DieseDemutistzumeinenReaktionaufdensanftenTadelinderHeimat.Voneinergereisten TürkinerwartetdiewestlichorientierteEinwohnerinIstanbulseineImprägnierungmiteuropäi schem Geist und dazu gehört offenbar die Kenntnis der Sprache des bereisten Landes. Dabei wirdnatürlichaußerAchtgelassen,dassesoffenbarvölligunnötigist,Deutschzulernen,umin DeutschlandalsGastarbeiterinzuleben.„WirhattenunserWonaym,unddiesesWonaymwar nichtBerlin“,bemerktdieIchErzählerinschonbeiderSchilderungihreserstenAufenthalts(63). Das Erlernen der Sprache ist also im Roman Özdamars weniger mit praktischen Erwägungen belegt,alsvielmehrmiteinemidealistischenMehrwert.DiedeutscheSprachegewinntdenStatus einesPrestigeobjekts. GleichzeitigübernimmtdieIchErzählerindieRollederDolmetscherin,dieinderSzeneinIs tanbulnochihrVaterausgefüllthatte.UndindieserRolleträgtsiedasWort Entschuldigung unter dieübrigenArbeiter.DieEntschuldigunggewinntsoeinendoppeltenStatus:Sieistzumeinen dieEntschuldigungandieTürken,trotzeinesAufenthaltesinDeutschlandnichtDeutschgelernt zuhaben;sieistandererseitsdieEntschuldigungandieDeutschen,ihreSprachezubenutzen. Dieser zweite Status der Entschuldigung wird durch die groteske Lernsituation evoziert. Die Türkinlerntinder KleinstadtamBodensee ,jedendeutschenSatzmiteinerEntschuldigungzube ginnen.AußerdemgibtsiealseinendererstendeutschenSätzedenan,mitdemsieumeinewei tere Kartoffel bittet – ein klischeehaftes Attribut der Deutschen. Zum dritten wird durch diese GewohnheitdastürkischverfremdeteWort Ensuldugu zumNamenfürdenMeister–eineBe merkungmiteklatanterDoppelbedeutung. GanzdeutlichwirdsoinÖzdamarsProsa,dassSprachenichtinihrerMedialitätaufgeht.Siege winnt vielmehr eine unheimliche und groteske Objekthaftigkeit, sie bleibt in ihrer Materialität stetigspürbar 410 .SpracheisthiereinmalmehrmagischeFormel,diemanauswendiglernenkann, 410 AuchÖzdamarnimmtdemzufolgedasMotivderwiderständigenSpracheauf,dasbeiDeleuzeundGuattariim ZentrumderÜberlegungenstand,vgl.dazuKap.I.2dieserArbeit. 235 diemaninderKommunikationeherbeschwörenundbenutzenkann,wofürmansichaberin einer unbewusst abergläubischen Haltung ständig zu entschuldigen hat 411 . An keiner Stelle ge winntdieSpracheeineSelbstverständlichkeit,dieesihrerlaubenwürde,hinterihrerFunktionzu verschwinden. Dieser Gedanke wird des weiteren dadurch veranschaulicht, dass die Ich ErzählerinnichtnurzwischenDeutschenundTürkenübersetzt,sondern–ganzwieihrVaterin IstanbulzwischenihrundderDame„übersetzt“hat–zwischenTürkenundTürken(115ff).Sie hatalsDolmetscherin dieFunktion,einÜbersetzenohnedirekteKommunikationzuermögli chen.IndiesennichtgeführtenGesprächenwirddeutlich,wiewenigverbindlichSpracheist,wie wenig das,was sie zu bezeichnen scheint, auchwirklich inHandlung umgesetztwird. Sprache wirdaufeinemedialeFunktionreduziert,dochnichtindemgeradegemeintenSinne,dasssiezur ÜbermittlungvonInhaltengenutztwerdenkönnte. Medial bezeichneteineeinfacheMittelpositi onzwischenzweidistinktenZuständenunddieserSinnwirdindenÜbersetzungenzwischenden Landsleuten offenbar. Die beiden Positionen bleiben unangetastet, die ausgesprochenen Dro hungenoderVersprechenbleibenohnepraktischeKonsequenz.DieGräben,diesichzwischen denbeidenParteienauftun,auchwennsieimWohnheimeinmalmehrhumoristischenCharakter annehmen,werdendurchdieMittlerpositionjedenfallsnichtvermittelt.DieIchErzählerinver siehtdiesefruchtloseAufgabemiteinergewissenLakonie:„IchtrugdieSätzevoneinemzum anderen.Später,alsichShakespeareStückelas,sahich,dassdortoftdieBotengetötetwurden“ (116f). ErneutwirdalsoeineTheatermetapherinsSpielgebracht.ZusätzlichzuihrerReflexionaufdie BedeutungsdimensionderSpracheführtsiehierallerdingsschoneinanderesElementein:das VerschwimmenvonrealenBegebenheitenundEreignissenaufderBühne,alsowiederganzim SinnedesepischenTheaterseineVerunsicherungderGrenzezwischenBühnenundZuschauer raum.DieserGedankewirdspäterimTextwiederaufgenommen,nämlichgenauanderStelle,an der die IchErzählerin, inzwischen Schauspielschülerin in Istanbul, ein weiteres Mal zwischen ihren Landsleuten zu vermitteln versucht. Um auf das Schicksal der armen Landbevölkerung aufmerksamzumachen,entschließtsiesichmitzweiKommilitonenzueinerReiseandieiraki sche Grenze, in eine Region, die von einer Hungersnot niedergedrückt wird. Der Wunsch zu dieser Reise in die andere Richtung scheint aus der Diskrepanz zwischen der Darstellung der GewaltimSchauspielunterrichtundderrealenGewaltaufdenStraßenIstanbulszuentstehen 412 .

411 DieserunbewussteZwanggewinntbesonderePrägnanzineinerUnterhaltungderIchErzählerinmitihrergrie chischenHeimleiterin,inderdiesevergeblichversuchtjenerdasständigeEntschuldigenauszutreibenoderwenigs tensbewusstzumachen(ÖZDAMAR 1998,112). 412 Esisthierschwer,inÖzdamarsProsaAbhängigkeiteninderHandlungzweifelsfreifestzustellen.ImTextwird dieReiseausdrücklicheherausderkommunistischenÜberzeugungderIchErzählerinherausmotiviert,diealler dings ihrerseits recht naiv dargestellt wird. Der Zusammenhang zwischen falschem Theaterblut und wirklichem Studentenblutwirdhingegennurindirekt,dafürabermehrfachhergestellt(z.B.253,25760,262).Dieseerzähleri 236 DieIchErzählerinschildertsodetailliertwieemotionslosdieEreignissederinternationalenStu dentenrevolte,dieebenauchinderTürkeistattgefundenhat 413 . OffiziellwirddieReisejedochandersgerechtfertigt:„’WirwollenfürdieSchauspielschuleMen schenstudieren’,logenwir“(267).EinmalmehristdieseEngführungvonTheaterundwirkli chemLebennichtzufällig.AufihrererstenStationimanatolischenKapadokiageratensiez.B.in denSetfürden Medea FilmvonPierPaoloPasolini.EskommtdabeifastzueinerBegegnung zwischenPasoliniundderIchErzählerin:„ErschauteauchinmeineRichtung,kamlangsamauf michzu,gingaberanmirvorbeizueinerFrau,diehintermirstand,undhaktesieunter.Eswar MariaCallasinihremMedeaKostümundinihrerMedeaPerücke“(269).DieseSzeneenthält natürlichdasbekannteSlapstickelementdesaneinanderVorbeilaufens,dasderZuschauer,durch die Perspektive der Kamera dazu veranlasst, zunächst für ein Aufeinanderzulaufen hält. Doch nichtnurdieKomikisthiereinschonbekannterBaustein,sondernauchdasVerwischenvon WirklichkeitundFiktion,dasdiesesElementoffensichtlicherstzumFunktionierenbringt.Au ßerdemscheintmirerwähnenswert,dassdaserste,woraufdieSchauspielschülertreffen,während siedieRealitätsuchenundsichihrstellenwollen,einevollkommenartifizielleSituationist.Nicht nur,dassdieBegegnungmitdemRegisseurundderOperndiva–zumalinihrerkomischenVer fehltheit–einenunwirklichenZufalldarstellt;auchderFilmselbstisteinweitererinteressanter KontrapunktzudenEreignissenderStudentenrevolte.Zumeinenevozierterdurchseinenex tremgewalttätigenmythologischenStoffnatürlichgenaudasDilemma,demdieStudierendender Istanbuler Schauspielschule durch ihre Aktion zu entkommen trachten. Zum anderen gilt der FilmbisheuteauchalseinBeispielfüreinegroßeKünstlichkeit,wieüberhauptgeradePasolini nichtebenderVertretereinersymbolarmenFilmkunstist. DasweitereVorrückenderdreiunterstreichtdiesenmehrfachfiktionalenCharakterderReise. Der wahre Zweck wird durch eine Lüge bemäntelt, die ihrerseits einen künstlerischen Zweck behauptet.DasAbarbeitenderpolitischenZweckegerätallerdingsaucheherfilmreif,wennz.B. die Marx und Leninwerke, die die IchErzählerin ständig recht demonstrativ mit sich herum trägt,zunächstmitKirschsaftbeschmutzt(269)undamEndegarvonihremEselhalbaufgefres senwerden(271).AuchdieUnterhaltungmitzweiBäuerinnenüberdenOrgasmus,diedieIstan bulerFrauanstrengt,währendsieaufeinemEselreitendLeninliest,erinnertinihremseltsamen

scheStrategiestütztdieunwirklicheundentrückteDarstellungderDifferenzen,wieichesoben(234)genannthabe. DiewirklicheStaatsgewaltwirdinihrenAuswirkungenundZeichenalsbedrohlich,inihrenPersonifizierungenaber eheralslächerlichdargestellt;entsprechendverfährtderTextmitderkommunistischenGegenbewegung–konkret erscheintsieaufgesetztundalbern;wennüberferneEreignisseberichtetwirdoderZeitungsartikelzusammengefasst werden,erscheintsieaberalsgerecht,notwendigundvomStaatbrutalbedroht. 413 AuchMcGowanstreichtdeninternationalenCharakterderStudentenrevoltenheraus,wennerauchseinerEin schätzungdenZusatzder„specificallyTurkishways“,indersiestattgefundenhätten,anfügt.Insgesamtistseinem Befundaberzuzustimmen,dassÖzdamarhierdieinternationaleDimensioneinerEreigniskettehervorhebt,die„is conventionallyseen,atleastintheWest,astheessentiallyWesternphenomenonof‚1968’“(MCGOWAN 2000,63). 237 HumoreherandasZusammentreffenDonQuixotesmitDulcineavonTobosoalsaneineernst haftepolitischeDiskussion.ImweiterenVerlaufderHandlungwerdendieIchErzählerinund ihrebeidenKommilitonen,vondeneneinernachdenerstenSchwierigkeitenmitderPolizeiso fortdieFluchtergreiftundnachHausezurückkehrt,vondenihnenbegegnendenMenschenim mer mehr fiktionalisiert. „Ihr seid Märchenhelden“, sagt z.B. ein mit ihnen sympathisierender Krämer (280) und der Lokaljournalist aus der von der Hungersnot betroffenen Stadt Hakkâri vergleichtsieinseinerGerührtheitmitzwei„FigurenausSartresBuch‚DieUnschuldigen’.Erist Iwan,undSiesindNatascha,diedenZarenmitBombentötenwollten“(286).UndauchdieEr zählerinselbstbegibtsichimmermehrineineironischeDistanzzumeigenenVorhaben,wenn siez.B.denArbeiterninHakkâridiekommunistischenIdeenmitteilt,diesieinihrenIstanbuler Diskussionszirkelnaufgeschnappthat:„IchsagteSlogansausIstanbulauf,unddieArbeiterlach tenmitmir“(285). DiesesgemeinsameVerlachenpolitischerThemenineinerexistenzbedrohendenLageverweist erneut auf die karnevaleske, mennipeische Tradition, wie sie von Michail Bachtin beschrieben wordenist.GeradedasmittelalterlicheLachenhatfürBachtineinen„universelle[n]Charakter“ und einen „unzerreißbaren, wesentlichen Zusammenhang“ mit der „utopischen Freiheit“ (BACHTIN 1963,32f).MitdemLachenwirddieFurchtvordenweltlichenAutoritätenüberwun denunddierealenBedrohungenwerdendurcheinekomischeundinoffiziellealternativeWahr heit des Volkes geschwächt 414 . Das karnevaleske Element wird wieder auf das des Schauspiels rückbezogenundzwarausgerechnetindemMoment,indemdieErzählerinundihrverbliebener BegleiteraufzweiBäuerinnenundeinenManntreffen,dieausdemDorfstammen,indemdie Hungersnotamschlimmstenwütensoll.AlsHaydar,derKommilitonederErzählerin,diebeiden Frauenfotografierenmöchte,weigernsiesichundbietenstattdesseneineneigenartigenRollen tauschan:„WirwolltendieFrauenfotografieren,abersiesagtennein,öffnetenabereineTruhe undgabenmireinfarbigesKleid,dasichanziehensollte.DamitsetztemichderMannaufsein Pferd,undHaydarfotografiertemich“(284f).WieinIstanbultrittsoeineIllusionandieStelle derWirklichkeit,derrealeSchreckenwirdhierdurchdieverkleideteIchErzählerinverfremdet, sowiedortdasechteBlutdurchdasTheaterblutersetztwordenwar.EsscheintindiesemMo ment,vielleichtzumeinzigenMalaufderganzenReise,etwaswieAuthentizitätzwarzuexistie ren–dieBäuerinnenundderMannmitdemEselsindjawirklichvorhanden–abernichtabbild barzusein.MitdieserSzenekorrespondiertnocheineandere,diesichaufdemRückwegaus Anatolienzuträgt.DieIchErzählerinmachtStationinAnkara,woihrFreundstationiertist.Mit

414 Vgl.zudiesenÜberlegungeninsgesamtBACHTIN 1963,v.a.denAbschnittüberdie GrundzügederLachkultur ,S.32 46. 238 ihmbesuchtsieeinesogenannteCinematek,diealseineKreuzungausKinoundeinemZentrum fürdielinkeSzenedargestelltwird. „EinerderCinematekLeuteerzählte,dassmandenBuschmännerninAfrikazweiFilme gezeigthätte–einenFilmvonChaplinundeinenFilmüberdieKonzentrationslagerin Deutschland.DieBuschmänner,dienichtsvonHitlerwussten,lachtenüberdiesenFilm mehralsüberChaplin,weilsieeskomischfanden,dassweißeMännersoverhungertaus sehenkonnten.“(289) Diese Anekdote bleibt, wie die meisten Bilder bei Özdamar, in ihrem bizarren Schrecken un kommentiertstehen.DochbildetsieunübersehbareinenNachhalldergeradezuEndegegange nenReiseinsvonderHungersnotbetroffeneanatolischeHinterland.DieSzenelegtnahe,dass eineAbbildungnichtperseschrecklichist,sonderndasssiemiteinemWissenumdieUmstände verbundenseinmuss.InsofernwirdderEindruckderFälschung,derbeimLeserbeiderBegeg nungmitdenBäuerinnenunddemMannmitdemEselnochevoziertwurde,wiederrelativiert. Esscheintplötzlichnichtmehrsicher,dasseinFotowirklichhungernderMenschenmehrAus druckskraftgehabthättealsdieposierendeIchErzählerinimbuntenKleid.Außerdemschwingt inderAnekdotevondenlachendenBuschmännernnocheinweitererAspektmit,derwiederauf dieMennipeazurückverweist.DennwasistihrLachenanderesalseinLachenüberdieKolonisa toren,dieihrLandmitGewaltansichgebrachthaben?DasLachenüberdenKZFilmwirdso zueinemLachen,dasdieBedrohungbannensoll.Dassesineinerfürden„mehr“wissenden LeserfurchtbarenUmdeutunggeradedieOpferdermörderischenBiopolitikderNazistrifft,hat einefastschonunheimlicheKomponente:DieMenschen,andenendieentsetzlichstenVerbre chenderGeschichtebegangenwurden,werdenzurRepräsentationderimperialistischenMacht haber.VordieserFolieerscheintdieIchErzählerinimanatolischenKleiddoppeltlächerlich.Der Film,dendieseinAnkarazumEntwickelngibt,wirddortübrigens–absichtlich?aufGeheißder machthabendenPolitiker?–durchdenLaborantenzerstört. Die IchErzählerin unternimmt noch eine weitere Reise und zwar während ihres zweiten Deutschlandaufenthaltes, sie beherrscht also nun endlich die deutsche Sprache und war ja mit klarenVorsätzenzumzweitenMaldorthingereist:„IchwollteDeutschlernenundmichdannin DeutschlandvonmeinemDiamantenbefreien,umeineguteSchauspielerinzuwerden“(108)– dieMetapherdesDiamantenbezeichnetüberdasganzeBuchhinwegdieJungfräulichkeit.Esist beachtenswert,dassauchandieserStelleerneutdasTheaterbzw.dieSchauspielereialsBezugs größeaufgerufenwerden.SyntaktischkönntesogardererweiterteInfinitiv Deutschlernen aufdie SchauspielereialsZweckverweisen,d.h.derFinalsatzwürdesichaufdengesamtennuneinge schlagenen Weg beziehen.Wirwissen nun bereits, inwelchem Rahmen dieseVorstellungvon guterSchauspielereiimTextangesiedeltist,nämlichzumeineninderÜberschreitungdesBüh nenraumsimSinnedesepischenTheaters,zumanderenineinerkomischen,karnevaleskenTra

239 dition.FürbeideKomponentenistdieWiderständigkeitvonSpracheinderKommunikationssi tuationwichtig,dashabendieAnalysenbishergezeigt.EinernsterHintergrundundderVersuch ihn zu kommunizieren stellen sich bei Özdamar als höchst problembeladen dar und das ganz unabhängigvonderprinzipiellenVertrautheitmiteinemMedium.DieKommunikationscheitert nichtanmangelnderSprachkompetenz,sondernvielmehrandengrundsätzlichenUnterschieden derLebensumständederbeteiligtenParteien.Ähnelnsiesich,istVerständnistendenziellunab hängig vom Medium gesichert; divergieren sie, nützt auch ein geteiltes Medium nichts. Bisher habeichvorallemdenzweitenAspektbetrachtet,derAusflugderIchErzählerinnachParisist eineGelegenheit,denerstenAspektaneinemBeispielzubeschreiben. BemerkenswertistzunächstderUmstand,dassdieErzählerinüberihregriechischenFreundein BerlinnachParisgelangt 415 .ErneutineinerSituation,inderesihranderBeherrschungdesMe diums mangelt, „sucht[]“ sie „auf den Pariser Straßen die deutsche Sprache“ (124). Doch ein jungerMann,densieinderMetrotrifft,weistsieaufdieInadäquatheitdesDeutschenfürdie französischeHauptstadthin,denn„dasistdieSprachevonHitlerundGoebbels“(125).Derjun geMannistdabeidasEchoihrereigenenKommunikationaufDeutsch,dennaucherentschul digtsichununterbrochen,wennerFranzösischredet.FürdieErzählerinbleibtdieserVerweisauf Nazideutschlandeherunverständlich.„Ichsagte:‚IchliebeKafka’“,lautetihreEntgegnungauf dieErklärungdesjungenMannes.ZunächstistalsoauchinParisdieSpracheehereinHindernis derKommunikation,alsdasssiezuderenFörderungbeitrüge.HierspeistsichdieseWiderstän digkeit der Sprache aus einer bisher von Özdamar nicht angesprochenen explizit historischen Quelle(derdeutschenBesatzungFrankreichs),dieeheraufsemantischeSedimenteverweist,wie siefürdieÜberlegungenJudithButlerseineRollespielenundwiewirsieauchbeiAssiaDjebar gefundenhaben,wennhierauchwenigerausschließlichaufdieSpracheselbstbezogen. DassdergriechischeFreundinzwischennichtmehrinParis,sonderninMarseillewohnt,gibtim RomanAnlasszurBegegnungderErzählerinmitihrentürkischenLandsleuten.Sieübernachtet zunächstineinemtürkischenStudentenwohnheimunddieBekanntschaften,diesiedortmacht, scheinenvorallemaufzweierleihinauszulaufen.ZumeinenwirdsiemehrfachinGesprächen,die ankomischverfremdeteVerhörsituationenerinnern,überkommunistischetürkischeStudenten inBerlinausgefragt(eswirdnichtganzdeutlichobzwecksKonspirationoderzwecksVerrat), zumanderenkommteszurerstenMöglichkeit,sichdesDiamantenzuentledigen.Ein„schöner türkischerMann“kommtinderNachtzurIchErzählerinundmachtdenVorschlag:„’Wirsind

415 Esistüberhaupterwähnenswert,wiegutdieVerständigungderIchErzählerinmitihrengriechischenBekannten funktioniert.EsgibtnureineStelleimRoman,anderdiehistorischeRivalitätzwischenGriechenundTürkenwirk lichdeutlichwird,nämlichalseine„SeptembernachtimJahre1955“Erwähnungfindet,inder„nationalistischeTür kendieLäden,orthodoxenKirchenundFriedhöfederIstanbulerGriechenzerstörthatten“(220f).Dochauchdie sesEreignisisteingebettetindieSchilderungdesgutenMiteinandersvonIstanbulerGriechenundTürken. 240 beideweitwegvonunseremLand,wirsindbeideTürken,wirkönntenunströsten.’“DieErzäh leringehtaufdenVorschlagzwarein,dennimmerhinbringtersiejaderErfüllungeinesihrer Projektenäher,dochdieseltsamenationaleBegründungwirdeinmalmehrinsKomischegewen det:„Ichwusstenicht,warumdieTürkendieTürkeninPariströstensollten,lachteundzogdie BettdeckeübermeinGesicht“(128).AuchdasZusammentreffenmitdentürkischenStudenten bleibtalsotrotzderzustandegekommenenGesprächeundHandlungenundtrotzdesgeteilten SprachmediumsseltsamdunkelundimGrundeunverständlich. AndersverläuftdiezentraleBegegnunginParis,dieetwaskitschiganmutendeLiebesgeschichte miteinemSpaniernamensJordi.DiedesolatekommunikationsmedialeLagezwischendenbei denwirdschonbeiihremerstenTreffeninderMensadeutlich:„’Pardon’,sagteich,‚Icannot speakFrench’.ErtrankeinenSchluckWasser,dannsagteer:‚CanyouspeakEnglish?’ichtrank einenSchluckWasserundsagte:‚No,littlebit.’AuchertrankeinenSchluckundsagte:‚Icannot speakEnglishtoo,littlebit’“(130).DieSituationscheintzumScheiternverurteiltundderText reagiertdaraufmiteinembekanntenphantastischenElement:demDoppelgängertum.Dennals diebeidenjungenLeutedieMensaverlassen,verdoppeltsichdieErzählerin–„Eswar,alsobich als ein zweites Ich neben mir lief“ (130) – und dieser Umstand hält an, bis sie sich wieder in Deutschlandbefindet.DiegesamteLiebesgeschichteschildertsiesoauseinereherteilnahmslo senBeobachterperspektive. Das Doppelgängermotiv verweist nun stets auf das Verhältnis von Original und Kopie 416 , der DoppelgängeristimmerUsurpatorvonAuthentizitätbzw.wirdzueinerMaterialisierungunbe wussterWünsche 417 .ImvorliegendenFallistsicherbeidesderFall.ZumeinenerlaubtdieDop pelgängerin – und auch der Doppelgänger des verheirateten Jordi, der allerdings erst ziemlich gegenEndederBegegnungauftaucht–denbeidenLiebendendasAuslebenihrerWünsche.Bei derErzählerinbestehtderWunschbekanntermaßendarin,ihren„Diamanten“zuverlieren,was ihrzwargelingt,wassie abererstvielspätermerkt.DersoherbeigesehnteÜbergang,dendie Entjungferungpsychologischundgesellschaftlichspielt,wirdsogewissermaßenentwertet.Das großeZielwirdganznebenbeierreicht,dieAufladungals ritedepassage durchdieIchErzählerin wirdunterlaufen. AußerdemtrittdieDoppelgängeringenauanderStelleimRomanauf,anderdieKommunikati onzuscheiterndroht.Esliegtalsonahe,siealsErsatzzusehenfüretwas,dasderErzählerin selbstnichtgelingenwill.Dochandersalsz.B.inDostojevskijs Doppelgänger ,wirdinÖzdamars

416 Vgl.z.B.LACHMANN 2002,437ff. 417 DieliterarischenBeispielesindLegion.FüreinenMenschen,dessenExistenzderDoppelgängerpraktischaus löscht,istDostojevskijsGoljadkineinberühmtesBeispiel.FürdieMaterialisierungdesUnbewusstensindbekannte BeispieleViktorin,derHalbbruderMedardus’ausE.T.A.Hoffmanns DieElixieredesTeufels oderauchEdgarAllan PoesWilliamWilsonausdergleichnamigenErzählung. 241 Roman nicht um die authentische Position des Originals gekämpft. Die Erzählerin überlässt vielmehrihrem alterego ,dassie„dasMädchen“nennt,dasFeldundbeschränktsichaufdieBe obachterposition.OriginalundKopiestehenhieralsoineinemziemlichaustauschbarenVerhält niszueinander. DasMädchen wirdzuderInstanz,deresgelingt,dieSprachproblematikzuüber winden. Im Grunde beruht Verständigung in diesem ganzen Abschnitt nicht auf sprachlicher oderkulturellerMedialität.SelbstdieVersucheJordis,einekulturelleBrückezubauen,indemer einePlatteeinesvertontenGedichtsvonNazımHikmetauflegt,scheiterndaran,dass dasMädchen Hikmetnichtkennt.DasMädchenverstehtauchnichtdie aufFranzösischgesungenenWorte desGedichts,dochdastutdergutenStimmungzwischendenbeidenkeinenAbbruch.DieSpra chewirdebensowiedieKulturindieserfürdieIchErzählerindurchdenganzenRomanhin durchalssozentralangesehenenSituationinmedialerHinsichtseltsamunbedeutend.DasLie besgedicht, das Jordi ihr am Ende schreibt und das das einzige türkische Wort enthält, das er kennt,weileresvonihrgelernthat,verstehtsienicht.SielässtessichimZugvonihrendeut schenMitreisendeninsDeutscheübersetzen.DasGedichtentsteht,indemJordiseinespanischen IdeenmitHilfeeinesWörterbuchsinsEnglischeübersetzt.DochdasGedicht,dasChanson,die gesprochenenWorteerscheinendieganzeZeitohnehinnuralsrelativüberflüssigeAccessoires dieserromantischenBeziehung,dieinihrerSpontaneitätundHeftigkeitehereinerpunktuellen Verschmelzunggleichkommt. DieReisenachParisthematisierteineÜberbrückung,diederSprachenichtbedarf,wohingegen dieanderenStationendesBuchesSprachgleichheitthematisieren,diebeiderVerständigungnicht wirklich hilft. Durch das Doppelgängermotivwird allerdingsauch in der Parisepisode der Ge dankewiederaufgenommen,dasseseineauthentischeDarstellung,dievonsichausbedeutsamer bzw.engeraneineBedeutunggeknüpftwärealseineandere,nichtgibt.DieVerständigungen,die glücken,fußenüberdiesnichtaufderTransmissionunmissverständlicherBedeutung.DasLachen mitdenArbeiterninAnatolienoderdieLiebezuJordifunktionierenvielmehrüberUmwege. DiephantastischenElemente,wiederSprachwitz,dasKarnevaleske,dasDoppelgängertum,sie allehabenwenigerdieAufgabe,einemärchenhafteAtmosphäreherzustellen,sondernsiestehen indirektemZusammenhangmitdemThemaderKommunikation.DiesesThemawirdinÖzda marsTextnichtwirklichentlangkulturellerOppositionenentfaltet,wennerauchSituationenvon sprachlichen Missverständnissen oder Ungeschicklichkeiten beschreibt. Es gibt hier keine eth nischkulturelle Systematik, Menschen gruppieren sich in der Brücke vom goldenen Horn entlang wenigervorhersagbarerMuster 418 .SolenktderTextdasHauptaugenmerkaufeineSprache,deren 418 DasThemaderGruppierungisteines,dashiernichtnäherausgeführtwerdenkann,obwohlesimRomanüberall präsentist.Esgibtz.B.im„Frauenwonaym[...]Frauen,die‚Zucker’sagten,und[...]Frauen,dienicht‚Zucker’sag ten“unddiesjenachdem,obsieihren„kommunistischenHeimleiter“mögenodernicht,dennerbringtdieseAnre defürdieFrauenauf(37).IndentrennendenKategorien,diefürdasZusammenlebendesRomanpersonalsbeialler 242 FähigkeitzurÜbermittlungeinesdeterminierten SinnsnichtimVordergrundsteht.WennGe sprächezustandekommen,dannehertrotzalswegenderSprache.DieSprachestehtaußerdem alsauswendiggelernteinZusammenhangmitdemMotivdesTheaters,dasseinerseitswiederum die Widerständigkeit der Sprache zu Verfremdungen nutzt und durch die Überschreitung des BühnenraumsAuthentizitätundAbbildverschwimmenlässt. DietitelgebendeBrückevomgoldenenHorn,diesichzwischenzweiStadtviertelnaufdereuro päischenSeiteIstanbulserstreckt,kannnunandersgedeutetwerden,alsMorayMcGowandies getanhatte.Anstatt AsieninEuropa ineinemderbeidenStadtviertelzusehenundsomitwieder diebekannteDichotomieindenVordergrundzustellen,verweistdieBrückenmetapherinnerhalb desvermeintlichselben–geographischenundsymbolischen–RaumsaufdieAlternative,dass diesprachlichenoderkulturellenEinheiten,fürdieeineÜberbrückungnichtfürnötiggehalten wird,dasiebegrifflichjadasselbesind(indiesemFall Europa ),nichtsohomogensind,wiedie Begriffeesinsinuieren.DietitelgebendeBrückewürdesoaufdenUmstandverweisen,dassdie kulturelle Einheit Europa künstlich hergestellt ist – im Gegensatz zur noch nicht vorhandenen Bosporusbrücke,dienichteinewesenhafteTrennungsymbolisiert,sonderndienochnichtgeleis tetebegrifflicheÜberbrückung.AufdieseWeisekann Asien weiterals dasAndere fungieren. EinletztesMalhabeichversucht,MotiveinTextenderinterkulturellenLiteraturinalternativer Weisezulesen.ImletztenFallwurdenphantastischeElementeinBezugaufihrenkommunikati venSubtextbzw.ihrekommunikativeFunktionhinanalysiert.ImerstenFallwurdeeinintertex tuellerBezugzueinemmittelalterlichenhöfischenRomanhergestellt.InbeidenFällenhabeich daraufverzichtet,ElementedesWunderbarenalsZeicheneinerspezifischorientalischenErzähl traditionzudeuten.DieseElementekonntenvielmehr–undzwarunterBerücksichtigungihrer jeweiligenAusgestaltung–ineinenallgemeinerenZusammenhanggestelltwerden. VielleichtkonntendieimLaufedieserArbeitaufdieseWeiseinterpretiertenBeispieltexteplausi belmachen,dassesnichtgleichbedeutendist,ineinemTextstetsdiewestlichen„überlegenen“ kulturellen Elemente zu sehen und einen Text stetsin Bezug zur Herkunft seiner Autoren zu lesen.DieTextedersogenannteninterkulturellenLiteraturkonntenvielmehrmitintertextuellen BezügenzuTextenderunterschiedlichstenHerkunftversehenwerden,ohnedassdadurcheine WertungderdiskursivenPhänomene,wiesiediekulturellenEinheitendarstellen,unternommen wurde.

KomikeineimmensestrukturierendeFunktionbesitzen,gibtesdannauchmanchmalnochverbindendeElemente: „DieeineGruppederFrauensagte:‚Gut,dasswirkeinenMannhaben,...’dieanderensagten:‚Leiderhabenwir keinenMann,...’AberjederSatz,egal,obermit‚gut’oder‚leider’anfing,gebarimmereinenMann“(67). 243 II.5 DieAuswahldesvonmiruntersuchtenKorpusfolgteheuristischenZwecken.IchmussteTexte betrachten, die gewöhnlich unter dem Etikett der interkulturellen Literatur verhandelt werden, umzeigenzukönnen,dassdieseTextenichtsZwingendesverbindet.Darausresultiertedasun umgängliche Paradox dieser Arbeit. Sie bewegte sich ausschließlich in einem Korpus, dessen Rechtfertigungsiegleichzeitigbestrittoderbesser:dessenRechtfertigungsiealseinesehreinsei tigeFestlegungderTextebegriff. DieFrage,diesichanschließt,istnundienachderVerallgemeinerbarkeitdergewonnenenDe stabilisierungderGattung.EineEntgegnung,diemandieserArbeitzweifellosmachenkann,ist die,dasssiesichfastausschließlichumTexteausden90erJahrendes20.Jahrhundertskümmert. Wäreesnichtdenkbar,dassindiesemJahrzehntdieinterkulturelleLiteratureinenSchwenkge machthat,dersiethematischinderhierbeschriebenenWeiseöffnete?DassdieseArbeitnichtso eindeutigeErgebnissegelieferthätte,wennsiesichaufältereTextebezogenhätte? DieseFragelässtsichderNaturderSachegemäßnurschwerlichbeantworten,dennichhabein dieser Arbeit eben nicht ältere, sondern jüngere Texte untersucht. Zweites Auswahlkriterium, nebenihrerZurechnungzurinterkulturellenLiteratur,war,dassdieTextesichfüreinealternative Lesartanboten.DieseArbeitlegtekeinenWertaufeinezeitlicheStreuung.Eswäredemnacheine vorstellbareAnschlussuntersuchung,alternativeLesartenältererTextederinterkulturellenLitera turzuversuchen. Aberselbstwennmandavonausgeht,dassdiespäten1980er,ausihnenstammtderTextTam zas,eineUmbruchphaseinderEntwicklungderinterkulturellenLiteratureinleiteten,selbstwenn mandavonausgeht,dasshierdieFixierungaufkolonialistischeoderinterkulturelleThemenin nerhalb der interkulturellen Literatur aufgegeben wurde, bleibt dennoch der Befund, dass die wissenschaftliche Betrachtung diesen turn nicht mitgemacht hat, sondern dass sie sich, wie die vereinzeltenInterpretationenzudenvonmiruntersuchtenTextengezeigthaben,seitder„Erfin dung“ der Vorgängerliteraturen der interkulturellen Literatur nicht wesentlich verändert hat – ausgenommendieBeispiele,dieichimLaufederArbeithervorgehobenhabe.DiebreiteMasse derwissenschaftlichenTextezurinterkulturellenLiteraturundvorallemauchdieÜberblicksdar stellungensindstetsderzwingendenKraftdesTerminus interkulturelleLiteratur erlegenundhaben indenihrzugerechnetenTextennieetwasanderesgesehenals–grobgesprochen–dieThemati sierungvonkulturellemWandelinZeitendesPostkolonialismus.Ichvermute,dasssichauchbei PionierenderinterkulturellenLiteraturwieArasÖrenoderKatebYacinealternativeLesartender hiervorgeführtenSortevornehmenlassen;dafürsprichtschonallein,dassichdieinterpretative AusschöpfungvonTextenfüreineIllusionhalteunddassichdieser–zweifellosweitverbreiteten

244 –ÜberzeugungauchpraktischeKonsequenzenfürmeineTextanalysenfolgenlasse–eineTatsa che,vonderenVerbreitungichwenigerüberzeugtbin.Dennwieließesichsonstdienachwie vorverbreiteteSichtaufTexteerklären,dieAutorinnenmitihremethnischenHintergrundun mittelbarverkettet?

InmehrerenihrerAnalysenhatsichLeslieAdelsonindirektmitdemamAusgangspunktdieser ArbeitstehendenProblemderKategorisierungvonLiteraturbeschäftigt.IneinemneuerenAuf satzzum„TurkishTurn“inderdeutschenLiteraturfragtsie:„Towhatexactlyisreferencebeing madewhenonespeakoftheTurkishpresenceinGermanculturetoday?“,eineFrage,dieman lautAdelsonnichtignorierendarf,umnicht„treadworndebatesaboutethnic,national,andcul turalidentities“ewigfortzusetzen.DieFrage,diesieschließlichstellt,zieltfreilichaufVerfah rensweisenderTexte,dieaberebensokultur(en)spezifischseinsollen.Eswirdnichtmehrge fragt,wenoderwaseinTextrepräsentiert,sondernwasgenaueinTexttut,welcheArt„cultural labor“erdurchführt(ADELSON 2002,326). AdelsonsTrickbeidieserVerschiebungist,dassihrVorschlagimGrundekeineAntwortaufdie vonihrformulierteFrageist.Wasnämlichmit türkischerPräsenz gemeintist,wissenwirimmer nochnicht,auchwennwirdievonihrfavorisierteKonzentrationaufdieVerfahrenvornehmen. WirkönnenzweifellosUnterschiedein„anygiveninstance“,injedemeinzelnenTextfeststellen, abergibtunsdasAntwortaufdieFrage,wasanihnen türkisch ist?DieseFrage,dieHaraldWein richjaschonvorzwanzigJahrengestellthatte 419 ,istheutewiedamalsfalschunderfordert,wenn sienichtvölligsinnentleertseinsoll,dieSpezifikationeinesReferenten,daranändertauchAdel sonsKonzentrationderAnalyseaufdieVerfahrennichts.DasProblemanderFrageistjanicht ihr Gegenstand, sondern die Bestimmung des Sinns des Wortes „türkisch“. Dabei ist es voll kommengleichgültig,fürwievariabelwirdasSignifikathalten:Solangewirüberhauptnachihm suchen,wirdesstetsindereinenoderanderenFormtypisiertalsBezugsgrößebestehenbleiben. DieLiteraturwissenschaftdarfsichdabeinichtaufdensoziologischinduziertenFatalismuszu rückziehen,dassStereotypennichtzuvermeidensind.FürdiediskursivegesellschaftlicheRealität magdaszutreffen,dochfüreinenwissenschaftlichenDiskurskannmansehrwohldieFragen auswählen,diemanstellt.InsofernisteinBeharrenaufder Turkishpresence keinGebotderReali tät,sonderneindiskursiverEffekt,durchdenAdelsonsichgenaudie treadworndebates einhandelt, diesieumgehenwill. NichtsdestowenigerbleibtderAnsatzAdelsonseinerdervielversprechendstenimgesamtenSe kundärdiskurszurinterkulturellenLiteratur,dennihranalytischesVorgehenerweistsichalsvon solchenPräliminarienungetrübt.InderTatistderFokusaufdie giveninstances unvermeidlichund

419 Vgl.erneutWEINRICH 1984,16. 245 diebesteMöglichkeit,derSuchenach dem Referentender Turkishpresence zuentgehen.Vielmehr versuchtAdelson,die„türkischdeutsche“LiteraturproduktionanbestimmtethematischeStrö mungender„anerkannten“deutschenLiteraturanzuschließen: „If WendeLiteratur signalsculturaltransformationbeyondthemerethemesofunification and Vergangenheitsbewältigung [...],andifTurkishlinesofthoughtincontemporaryliterature alsosignalsomekindofculturaltransformationinthe1990s,thenwhyshouldwepre sumethattwoarenasofculturalproductionthatsharethesamehistoricalmomenthave lessratherthanmoreincommon?”(327) DieFormulierung,dieAdelsonhierwählt,istsehrvorsichtig.DergemeinsamePunkt,densie zwischenderWendeLiteraturunddervonihrnichtexplizitsogenannteninterkulturellenLitera tur ausmacht, ist eine gemeinsame Reflexion kultureller Transformationsprozesse. Sie bemerkt außerdem,dassdiesethematischeNähedocheherGemeinsamkeitenalsTrennendeszwischen denunterdenentsprechendenÜberbegriffenzusammengefasstenTextenvermutenlässt. Adelsontuthierzweierlei:ZumeineninsinuiertsieüberdieFrageformdieerstaunlicheundauch ihrerMeinungnachoffenbarvondenTextenhernichtzurechtfertigendeAbspaltungderinter kulturellenLiteraturvomRestderLiteraturproduktionineinerbestimmtenSpracheundbestätigt damiteinederwichtigenAusgangsbeobachtungendieserArbeit.Zumanderenversuchtsie,die Nähe zwischen den Texten über thematische Blöcke herzustellen, die für den gattungsspezifi schen literaturwissenschaftlichen Diskurs unproblematisch sind. In dieser Arbeit wurde einen Schrittweitergegangenundversucht,thematischeBlöckezuidentifizieren,diewenigerreflexartig mit Interkulturalität in Verbindung gebracht werden; zum anderen wurde versucht zu zeigen, dassdiesethematischenBlöckeanIndizienimTextfestgemachtwerdenkönnen,dieaucheine Interpretationingewohnteren,alsoeindeutigeraufInterkulturalitätbezogenenBahnenzulassen. DashiervorgeführteVorgehenunterscheidetsichdemnachvonAdelsonsAnliegennurgraduell, indemeserstensversuchtdieGemeinsamkeitenvonTextenzustärken,diegemeinhinalssehr unterschiedlichwahrgenommenwerdenundindemeszweitensversucht,dieseGemeinsamkeiten nichtnur,wieAdelson,imnaheliegendenBereichzufinden(kulturelleTransformationsprozes se), sondern auch in anderen Bereichen, dabei immer eingedenk der Tatsache, dass sich viele thematischeBlöckeaufdieeineoderandereWeiseaufeinesoallgemeineFormelwie kultureller Transformationsprozess beziehenlassen. DochdieAnnäherungscheinbardistinkterGattungenkannnichtnurübereinesolcheIdentifika tion gemeinsamer thematischer Blöcke geleistet werden – wobei Identifikation hier immer mit einem großen produktivenAnteil des Rezipienten gedachtwerden muss,dasThema oder sujet also,wienunschonmehrfachbetont,als Funktion desTextesangesehenwird,diediskursiver zeugt wird und also ein Zusammenspiel aus Rezeptionsbedingungen, historischen Vorgaben, TextgestaltundvielenanderenElementenist.EinesolcheAnnäherungkannauchdadurchge

246 schehen,dassmaninTexten,diemitdengemeinhinmitInterkulturalitätinVerbindunggebrach tenthematischenBlöckenaufdenerstenBlicknichtszutunhaben,genaudieseBlöckeidentifi ziert.DiesesVorgehenistgleichsamdieKomplementäraktionzudenhiervorgestelltenodervon WissenschaftlerinnenwieLeslieAdelsonverfolgtenAnsätzen. EineindrucksvollesBeispieleinersolchen Komplementäraktion stelltdieInterpretationdes Sommer nachtstraums durchShankarRamandar 420 .RamanfokussiertseineInterpretationkonsequentauf eineaufderBühnenichtauftauchendeGestalt,nämlichdenindischenJungen,derdenGrundfür denStreitzwischenTitaniaundOberondarstellt.RamannenntseineInterpretationeine„nicht kanonischeLektüreeineskanonischenTextes“undkontrastiertdiesemiteiner–inmeinenAu gen weniger gelungenen – Interpretation „bislang nichtkanonischer Texte [...], die alternative Geschichten und alternative Lektüremodi ermöglichen“ (RAMAN 1995, 243). Raman zeigt sehr schön,dassder Sommernachtstraum gewöhnlichvorderFoliepatriarchalgesteuerterEheundLie besvorstellungengelesenwirdunddasseraufdenerstenBlickwohlnichtsmitdemKolonialis muszutunhat.SeineArgumentationsstrategieentsprichtalsoder,dieichhierverfolgthabe. Esgelingtihmschlüssigdarzulegen,dassderindischeJungeinseinerAbsenz–undsomiteben ineinerphantasmatischenAnwesenheit–alsZentrumdesTextesgelesenwerdenkann,durch dessen„Transformation[...]ineinObjektdesAustauschs[...]diesozialeOrdnungwiederherge stelltwerden[kann]“(244).DerindischeJungekonnotiertnämlichdasreicheIndien,dasimkul turellenDiskursderenglischenRenaissance„einimaginärerOrtbleibt,vageangesiedeltzwischen dem‚IndienvonKolumbus’(Amerika)unddem‚PortugiesischenIndien’“(245).SchondasIn dienKolumbus’teilte,wiewirbeiStephenGreenblattnachvollzogenhaben,diesesSchicksalder eherimaginärenoderphantasmatischenExistenz.Wieim Sommernachtstraum derindischeJunge bliebendieIndigenen,aufdieKolumbustraf,ohneeigenenBeitragzudemihnenaufgezwunge nenDiskurs,wieerwarensiedennochObjektederBereicherungsbestrebungendeskolonialisti schenEuropaundebenauchphantasmatischaufgeladeneObjektedeseuropäischenEntdecker diskurses,derübersieberichtethat. HieranlässtsichdieWichtigkeitderÖkonomiefürRamansInterpretationanschließen.Derindi scheJungekannalsSymbolmannigfaltigerTauschprozessezwischenEuropaundderkolonisier tenWelt,fürderenReichtumanWarenIndienparadigmatischsteht,gelesenwerden.DieAbwe senheitdesJungenbezeichnet„dieungeheureDistanz,dieEuropavonIndientrennt“unddem nachauchdieMöglichkeit,derphantasmatischenAuffüllungdieserLeerstelle.„SeineAnwesen heit[ist]nichtsanderesalsdieÜberbrückungdiesesAbstandesinderFormderKonsumption östlicherWareninEuropa“(246).DochTitaniawilldenJungenebenauchaufgrundeinesaffek tivenWertesnichtmehrhergeben,denerfürsiegewonnenhat:„DasKindsymbolisiertfürsie

420 RAMAN 1995,243248. 247 einemitseinerMuttergeteilteVergangenheit,eineGeschichte,einBündelsozialerBeziehungen. [...]TatsächlichbasierenbeideWertsystemeaufeinerVerdinglichungdesOstens“(246). DieseLektüre,diefürdenindischenJungenundseinenStatusalsabsentem, indischen Jungenbei Shakespeare eine überzeugende Erklärung bietet, erlaubt es Raman auch, „die historische Un möglichkeit“zuillustrieren,„im16.JahrhundertdasethnischAndereandersalseinvomabend ländischen, imperialistischen Begehren projiziertes Objekt zu fassen“ (248). Insofern ergänzt dieseInterpretationsehrgut,wasStephenGreenblattanderKommunikationspraxisKolumbus’ zeigt. Die Interpretationspraktiken Ramans und Adelsons arbeiten von verschiedenen Seiten einem selbenZielzu:derEntwirrungeinesTextesunddes„kulturellenHintergrunds“seinesAutors. BeimDurchgangdurchdieavanciertestentheoretischenTextezursogenannteninterkulturellen LiteraturkonnteindieserArbeitkeinwirklichanderesstichhaltigesArgumentfüreineAbtren nung dieses Textkorpus vom Rest der literarischen Produktion in einer bestimmten Literatur sprachefestgestelltwerden.VonderthematischenSeiteherlassensichzwarverschiedeneZugrif feaufdieTexteunterscheiden,docherstensgibtes,wiemeineAnalysengezeigthaben,keinen privilegiertenZugriff,deretwaden„kulturellenHintergrund“einesTextesberücksichtigenmüss te;undzweitenskönnenbeieinerthematischzentriertenHerangehensweiseandieinterkulturelle Literatur natürlich nicht nurTexte berücksichtigtwerden, dievonAutoren mit Migrationshin tergrundverfasstwordensind.WenndemnachderTerminusderinterkulturellenLiteraturbeibe haltenwerdensollte,dannfüreinebestimmte Interpretationspraxis ,nichtfüreinbestimmtes Korpus . Interkulturelle Literatur, so eine der zentralen Erkenntnisse dieser Arbeit, transportiert die ge meinhinansiegerichteteFragestellungschonmit.DochdieunterdiesemBegriffsubsumierten Textefunktionierenauch,wennmansieunteralternativenFragestellungenuntersucht.

248 Literaturverzeichnis DieJahreszahlenhinterden Kürzeln beziehensichaufdasErsterscheinungsdatumdesOriginals, beiVorträgen–soweitbekannt–aufdasDatumderVeranstaltung,beidersiezuerstgehalten wurden,beidenantikenDramenaufdasmutmaßlicheDatumdererstenAufführung,beipost humenEditionenaufdas(mutmaßliche)DatumderNiederschrift.DieJahreszahleninden biblio graphischenAngaben beziehensichaufdiezitierteAusgabe.DaherkanneszuAbweichungenzwi schendenbeidenJahreszahleneinesEintragskommen. Die ÜbersetzungenderTextauszüge vonDrissChraïbi,AssiaDjebarundMayaArrizTamzastammen vonmir.DieÜbersetzungWolframsvonEschenbachzitiereichnachderangegebenenzweispra chigenEdition;dieseÜbersetzungstammtvonWolfgangSpiewok. ACKERMANN 1996: IrmgardAckermann, Deutscheverfremdetgesehen . DieDarstellungdes„Anderen“in derAusländerliteratur ,in:PaulMichaelLützeler(Hg.), SchreibenzwischendenKulturen.Beiträge zurdeutschsprachigenGegenwartsliteratur ,Frankfurt/Main(Fischer)1996,211221. ADELSON 1990:LeslieA.Adelson, MigrantenliteraturoderdeutscheLiteratur?TORKANsTufan:Brief aneinenislamischenBruder ,in:PaulMichaelLützeler(Hg.), SpätmoderneundPostmoderne ,Frank furt/Main(Fischer)1990,6781. ADELSON 2002:LeslieA.Adelson, TheTurkishTurninContemporaryGermanLiteratureandMemory Work ,in:TheGermanicReview77(4),2002,326338. AFOULLOUSS 1997:HoussaineAfoullouss, ThreeGenerationsofFrancophoneNorthAfricanWritersin Exile.DrissChraïbi,TaharBenJellounandMehdiCharef ,in:AnthonyCoulson, ExilesandMi grants.CrossingThresholdsinEuropeanCultureandSociety ,Brighton(SussexAcademicPress) 1997,144153. AGAMBEN 1995:GiorgioAgamben, Homosacer.DiesouveräneMachtunddasnackteLeben,Frank furt/Main(Suhrkamp)2002.(Originalausgabe:G.A.,Homosacer.Ilpoteresovranoelanudavi ta ,Torino(GiulioEinaudi)1995.) APTER 2003:EmilyApter, GlobalTranslatio:The“Invention”ofComparativeLiterature,Istanbul,1933 , in:CriticalInquiry29,2003,253281. ARAC 2002:JonathanArac, AngloGlobalism ,in:NewLeftReview16,2002,3545. ARENDT 1958:HannahArendt, VitaactivaodervomtätigenLeben ,München(Piper)2001 12 .(Origi nalausgabe:H.A., TheHumanCondition ,Chicago(UniversityofChicagoPress)1958.) A. ASSMANN /HARTH 1991:AleidaAssmann,DietrichHarth(Hg.), KulturalsLebensweltundMo nument ,Frankfurt/Main(Suhrkamp)1991.

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