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"Nur durch Begriffe kann man beides voneinander trennen"

Zum produktiven Verhältnis von Theorie und Literatur in Yoko Tawadas deutschsprachigem Werk

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (MA)

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Michaela MAYER

am Institut für Germanistik Begutachterin: Univ.-Prof. Dr.phil. Anne-Kathrin Reulecke

Graz, 2015

Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbe- hörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Graz, am 17.08.2015 Michaela Mayer

„Wenn ich von mehreren Realitäten, die nebeneinander existieren, sprechen würde, müsste ich davon ausgehen, dass jede Realität für sich steht. […] Was aber, wenn sie alle aus Wasser bestehen würden?“

(Yoko Tawada, Fremde Wasser, S. 55)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ...... 3 2 Verwandlungen : Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen ...... 5 2.1 Einführende Bemerkungen: Tawada und die Gattung ‚Poetikvorlesung‘ ...... 5 2.2 Die erste Vorlesung: Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit ...... 6 2.2.1 Das Problem der Fremdheit: Grundlegendes zum Verhältnis von Literatur und Theorie in Tawadas Vorlesungen ...... 6 2.2.2 Stimme eines Vogels: Zur Verwendung des Motivs der Vogelsprache im Text ...... 10 2.3 Die zweite Vorlesung: Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung ... 15 2.3.1 Schrift einer Schildkröte: Zur gezielten Inszenierung des japanischen Blicks in der Vorlesung ...... 15 2.3.2 Das Problem der Übersetzung: Tawadas poetologische Überlegungen zum Thema ‚Mehrsprachigkeit‘ ...... 21 2.4 Die dritte Vorlesung: Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung ...... 25 2.4.1 Gesicht eines Fisches: Poetologische Überlegungen zur arbiträren Beziehung von Sprache und Wirklichkeit ...... 25 2.4.2 Das Problem der Verwandlung: Tawadas Ausführungen zu den Potentialen einer Position des ‚Dazwischen‘ ...... 32 3 U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa: Eine exemplarische Analyse von Tawadas literarischem Schaffen ...... 37 3.1 Einführende Bemerkungen ...... 37 3.2 Zur formalen Beschaffenheit von U.S. + S.R.: Versuch einer Erzähltextanalyse ...... 38 3.2.1 Zu Inhalt und Aufbau: Eine erste Charakterisierung der Erzählung ...... 38 3.2.2 Zu Chronologie und Zeitgestaltung: Eine exemplarische Analyse ...... 39 3.2.3 Zu Stimme und Modus: Über die formale Relevanz der reflexiven Passagen in der Erzählung ...... 44 3.3 Poetologisch-theoretische Bezüge: U.S. + S.R. als ein Werk der Reiseliteratur? ...... 48 3.3.1 Zum Problem der Darstellung des Fremden in der Reiseliteratur ...... 48 3.3.2 Das Motivs des Wasser und seine Bedeutung im Text ...... 50 3.3.3 Reiseliteratur und Übersetzung: Zur Darstellung von sprachlicher Differenz im Text ...... 54 3.3.4 U.S. + S.R. und Anton Tschechow: Eine kritische Auseinandersetzung mit Gattungskonventionen ...... 58 3.3.5 U.S. + S.R. und das ‚Dazwischen‘: Zu möglichen Verweisen auf die Theorie Homi K. Bhabhas in der Erzählung ...... 63 4 Abenteuer der deutschen Grammatik: Yoko Tawadas poetische Linguistik ...... 69 4.1 Einführende Bemerkungen ...... 69

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4.2 Tawadas linguistische Gedichte als eine Grammatik der Verfremdung? ...... 70 4.3 Abenteuer der deutschen Grammatik – Gedichte? ...... 72 4.3.1 Versuch einer Lyrikanalyse ...... 72 4.3.2 Die Abenteuer der deutschen Grammatik als Texte der konkreten Poesie? ...... 78 4.4 Kultur- und gesellschaftskritische Aspekte von Tawadas Sprachverfremdung ...... 86 5 Fazit ...... 93 6 Literaturverzeichnis ...... 94 6.1 Primärliteratur ...... 94 6.2 Sekundärliteratur ...... 94 6.2.1 Sekundärliteratur von Tawada ...... 94 6.2.2. Sekundärliteratur über Tawada ...... 94 6.2.3 Weitere Sekundärliteratur ...... 96

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1 Einleitung

Sich im Jahr 2015 dafür zu entscheiden, eine Masterarbeit über Yoko Tawada zu verfassen, scheint ein redundantes Unternehmen zu sein, ist das Werk der japanischstämmigen Autorin in den letzten beiden Jahrzehnten doch zu einem beliebten und viel behandelten Forschungs- thema in der internationalen Germanistik und Literaturwissenschaft avanciert. So sind etwa allein in den letzten zehn Jahren vier wissenschaftliche Sammelbände1 zu ihrer Person und ih- rem Werk erschienen. Die hier vorliegende Arbeit versteht sich daher vor allem als eine Er- weiterung und Ergänzung zu einigen der bereits bestehenden Diskurse und Untersuchungsas- pekte. Im Fokus soll hierbei die von TheoretikerInnen wie oder Esther Kilchmann angestellte Beobachtung stehen, nach welcher in Tawadas Texten eine besonders enge Ver- bindung zwischen Literatur und Theorie vorherrscht.2 Bei Weigel heißt es hierzu etwa, dass „in ihrem [=Tawadas] Schreiben die Übergänge zwischen Poesie und Theorie fließend sind [und] beide sich gegenseitig befeuern“3. Die folgende Analyse greift diese These auf und setzt sich intensiver mit ihr auseinander, indem sie, anhand unterschiedlicher Textbeispiele, das konkrete Auftreten von Literatur und Theorie in Tawadas Werk genauer betrachtet. Dabei spielen formale Kriterien ebenso eine Rolle wie die Frage, ob, inwieweit und auf welche Art und Weise das hybride Verhältnis zwi- schen den beiden auch die Inhalte der einzelnen Texte beeinflusst und mitbestimmt. Tawada ist nämlich generell dafür bekannt, in ihren Texten Grenzen zu überschreiten bzw. durchlässig zu machen und scheinbare Gegensatzpaare – wie etwa Sprache und Körper, Mutter- und Fremdsprache oder Ost und West – produktiv miteinander zu vereinen.4 Es lässt sich daher die These aufstellen, dass das Wechselverhältnis von Literatur und Theorie in ihrem Werk nicht nur als Gestaltungsmittel, sondern auch als Ausgangspunkt und/oder Einflussfaktor für

1 Vgl. Yoko Tawada. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2011. (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. 191/192.); L’oreiller occidental-oriental de Yoko Tawada. Hrsg. von Bernard Banoun und Linda Koiran. Paris: Didier Érudition 2010. (=Etudes germaniques. 65/3.); Yoko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012.; Yoko Tawada: Voices from Everywhere. Hrsg. von Doug Slaymaker. Lanham: Lexington 2007. 2 Vgl. Esther Kilchmann: Enden der Einsprachigkeit. Intrakulturelle Schreibweisen in der deutschen Gegen- wartsliteratur bei Yoko Tawada und Tim Krohn. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Interkultura- lität als Herausforderung und Forschungsparadigma der Literatur und Medienwissenschaft. Hrsg. von Franciszek Grucza. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang 2012. (=Publikationen der Internationalen Vereinigung für Ger- manistik. 12.) S. 72. 3 Sigrid Weigel: Suche nach dem E-Mail für japanische Gespenster. Yoko Tawadas Poetik am Übergang diffe- renter Schriftsysteme. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 129. 4 Vgl. hierzu etwa: Michaela Holdenried: Eine Poetik der Interkulturalität? Zur Transgression von Grenzen am Beispiel von Yoko Tawadas Schreibverfahren und Sprachprogrammatik. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 169-185. 3

diese fluiden Betrachtungsweisen fungiert. Textgestaltung und Thematik bzw. Form und In- halt korrespondieren sozusagen auf unterschiedlichen Ebenen miteinander. Ob und inwieweit diese Behauptung haltbar ist, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit untersucht. Um in diesem Zusammenhang eine möglichst repräsentative Analyse gewährleis- ten zu können, wird sie sich in drei große Kapitel gliedern, welche sich exemplarisch mit je unterschiedlichen Texten Tawadas auseinandersetzen. Zu Beginn werden hierzu die Tübinger Poetik-Vorlesungen herangezogen und hinsichtlich ihrer wichtigsten Charakteristika und In- halte betrachtet. Dies ermöglicht es, sowohl einen Einblick in Tawadas Poetologie zu geben, als auch einen ersten Eindruck vom Zusammenwirken von literarischen Elementen und theo- retischen Überlegungen im Werk der Autorin zu erzeugen. Aufbauend hierauf erfolgt im da- rauffolgenden Kapitel die exemplarische Analyse eines literarischen Textes. Die Reiseerzäh- lung U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa wird darin zunächst einer Erzähltextanalyse unterzogen und in der Folge in Bezug auf die Realisierung möglicher genrespezifischer Merkmale untersucht. Hierbei wird sich zeigen, dass das Wechselverhältnis von Literatur und Theorie die im Text erfolgenden Schilderungen und deren Gestaltung ebenfalls in ganz entscheidender Weise beeinflusst. Zu guter Letzt wird dann noch ein Blick auf Tawadas Abenteuer der deutschen Grammatik geworfen, bei welchen es sich um als ‚Gedichte‘ betitelte Kurztexte handelt, in denen sich die Autorin auf literarische Weise mit grammati- schen Regeln auseinandersetzt. Anhand einer Betrachtung ihrer lyrischen und rhetorischen Gestaltungsmerkmale lässt sich auch in diesem Fall aufzeigen, wie Poetisches und (Sprach-)Theoretisches in Tawadas Werken zusammenwirken. Zudem wird im Rahmen die- ser Analyse auch der Frage nach möglichen Parallelen zwischen diesen und den zuvor behan- delten Texten nachgegangen. Am Ende werden die so gewonnenen Erkenntnisse und Ergeb- nisse in einem kurzen Fazit zusammengefasst.

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2 Verwandlungen : Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen

2.1 Einführende Bemerkungen: Tawada und die Gattung ‚Poetikvorlesung‘

Eine Verbindung von Theorie und Literatur kommt bei Yoko Tawada nicht von ungefähr, verfügt die japanischstämmige Autorin doch über eine umfassende akademische Ausbildung in Bereichen wie Germanistik und Literaturwissenschaft.5 Davon zeugen auch diverse Erwäh- nungen über von ihr gehaltene Vorträge und (Block-)Seminare im Veranstaltungskalender ih- rer Homepage6 ebenso wie eine Reihe von Aufsätzen und Beiträgen in unterschiedlichen wis- senschaftlichen Sammelbänden und Publikationen7. Ihr Stammverlag konkursbuch Claudia Gehrke hat außerdem ihre Promotionsschrift Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur8 und zwei ihrer Vorlesungsreihen9 als Bücher veröffentlicht. Bei letzteren handelt es sich allerdings nicht um wissenschaftliche Texte im eigentlichen Sinne, sondern um „literatur- theoretische Essays“10, die sich – der Gattung ‚Poetikvorlesung‘ entsprechend – an der Schnittstelle zwischen „Dichtung und Wissenschaft“11 bewegen. Johanna Bohley definiert die Poetikvorlesung auch als eine „paraliterarisch eindeutig definierte, essayistische, auf Literatur reflektierende, faktuale Gattung mit erzählenden Anteilen“12. Eine Verbindung von Literatur und Theorie ist im Falle von Tawadas Vorlesungsreihen somit schon in dieser Hinsicht gege- ben. Es lässt sich allerdings die Frage stellen, wie genau die Autorin mit den Anforderungen der Gattung umgeht, welche sich – laut einigen Theoretikern – inhaltlich etwa durch eine Mi- schung aus „autobiographische Partien, […] Stellungnahmen zum schriftstellerischen Enga-

5 Vgl. Ortrud Gutjahr: Vorwort. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von O. G. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 8. 6 Vgl. EVENTS-Veranstaltungen: Yoko Tawada. The Official Homepage about Yoko Tawada’s Life, Books, Events, Projects and Events. 2015. URL: http://yokotawada.de/ [05.08.2015]. 7 Vgl. etwa: Yoko Tawada: Kafkas Performing Arts. In: Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka. Hrsg. von Hansjörg Bay und Christof Hamann. Freiburg i. Br. [u.a.]: Rombach 2006. (=Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae. 136.) S. 347-360. Oder: Yoko Tawada: Stimme, Körper, Maske. Korrespondenzen zwischen Heiner Müllers Theater und dem ja- panischen No-Theater. In: Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin. Hrsg. von Sigrid Weigel. Köln [u.a.]: Böhlau 1992. (=Literatur – Kultur – Geschlecht. 1.) S. 65-76. 8 Yoko Tawada: Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine ethnologische Poetologie. Tü- bingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2000. 9 Vgl. etwa: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gut- jahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012. 10 Paul Michael Lützeler: Einleitung. Poetikvorlesungen und Postmoderne. In: Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von P.M.L. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1994. (=Literaturwissenschaft Fischer. 11387.) S. 7. 11 Johanna Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als „Form von nichts“. In: Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Julia Schöll und J.B. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 227. 12 Ebda. 5

gement [,] philosophische Reflexionen [und] rezeptionstheoretische Überlegungen“13 aus- zeichnet und die von Bohley auch als der „Ort“ bezeichnet wird, „an dem definiert wird, was Literatur zu sein hat“14. Hierzu werden im Folgenden Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen15 einer näheren Be- trachtung unterzogen. Diese erstmals 1998 unter dem Titel Verwandlungen erschienene Reihe setzt sich aus drei Vorlesungsessays – Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit, Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung und Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung – zusammen. In ihnen legt Tawada die programmatischen Grundsätze ihres Denkens dar, wobei Themen wie Sprache, Kultur, Interkulturalität und Iden- tität im Fokus ihres Interesses stehen. Zur Veranschaulichung ihrer Überlegungen und Thesen greift sie dabei sowohl auf Theoriequellen wie auch auf Literaturbeispiele zurück und gestal- tet ihre Texte mithilfe einer Vielzahl rhetorischer und erzähltechnischer Mittel. In der folgen- den Analyse werden all diese Gestaltungsstrategien nicht nur exemplarisch hervorgehoben, sondern auch hinsichtlich ihrer Wirkung auf und ihrer Bedeutung für die von der Autorin be- handelten Inhalte untersucht. Eine Veranschaulichung gattungsspezifischer Merkmale wird in diesem Zusammenhang ebenso eine Rolle spielen, wie der Versuch einen ersten Einblick in die wichtigsten Charakteristika und grundlegenden Aspekte von Tawadas Schaffen zu geben.

2.2 Die erste Vorlesung: Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit

2.2.1 Das Problem der Fremdheit: Grundlegendes zum Verhältnis von Literatur und Theo- rie in Tawadas Vorlesungen Schon die Titel von Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen deuten auf den zumindest in Tei- len literarischen Charakter der Essays hin. Sie drücken für gewöhnlich die thematischen Schwerpunkte und die wichtigsten Symbole bzw. Motive aus, mit denen sich die Texte be- schäftigen. Obwohl die einzelnen Vorlesungstitel so klingen, als würden sie auf eine Ausei- nandersetzung mit scheinbaren Problemen hinweisen, werden die in ihnen genannten ‚prob- lematischen‘ Thematiken in den Essays vielmehr hinsichtlich ihrer Potentiale und faszinie- renden Aspekte präsentiert und betrachtet. Pejorative Konnotationen und Sichtweisen werden im Zuge dessen dekonstruiert. Gerade Erfahrungen von Fremdheit und Differenz kann Ta- wada hierbei wesentlich mehr Positives abgewinnen, als dies für gewöhnlich der Fall ist, denn, wie etwa Michiko Mae schreibt, „in der Fremdheitserfahrung [gewinnt sie] eine Distanz

13 Lützeler, Einleitung, S. 15. 14 Bohley, Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 228. 15 Yoko Tawada: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 1998. (Im Folgenden im Text zitiert als: V, Seitenzahl) 6

und damit eine Freiheit von dem Anderen wie von dem Eigenen“16, wodurch sich für sie in weiterer Folge neue, produktive Zugänge zu beidem ergeben können.17 Entsprechend ist die erste Vorlesung, Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremd- heit, primär darauf ausgelegt, konventionelle Definitionen und Sichtweisen als fehlgeleitet zu entlarven. Die in ihr präsentierten Thesen und Überlegungen beruhen dabei v.a. auf einer Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit der gesprochenen Sprache, welche Tawada – zu- mindest in Teilen – auf autobiografische Beobachtungen stützt. Die Verwendung autobiogra- fischer Passagen ist, wie bereits erwähnt, bei der Gestaltung von Poetikvorlesungen durchaus üblich.18 In Stimme eines Vogels heißt es etwa: Bevor ich nach kam, hatte meine Stimme keine Bedeutung für mich. […] Ich sprach so unauf- fällig, wie man normalerweise seine Muttersprache spricht, und meine Sprache wurde von meinen Ge- sprächspartnern wie geschriebene Sätze aufgenommen. Nie hatte ich das Gefühl, dass meine Worte aus meinen Körper kamen. […] meine Stimme [wurde] vom Gesamtklang der Gemeinschaft verschluckt […]. (V, 10) In der Vorlesung geht diese Feststellung Hand in Hand mit der Erkenntnis, dass sich ein Be- wusstsein für die eigene Sprache häufig erst „beim Sprechen vor fremden Ohren“ (V, 7) ergibt. (vgl. V, 7) Tawada beschreibt die anderssprachige Umgebung als eine Art Folie, vor deren Hintergrund die Eigenheiten und Besonderheiten der Muttersprache „konkret und bild- haft“ (V, 7) zu Tage treten. (vgl. V, 7) Sie exemplifiziert dies in der Folge anhand mehrerer Aspekte, für deren Darstellung sie sowohl auf literarische Stilmittel und Beispiele wie auch auf sprachwissenschaftliche Quellen und Materialien zurückgreift. Zum einen weist sie etwa darauf hin, dass sich bei dem Versuch, sich in einer Fremdspra- che zu artikulieren, oft Unsicherheiten ergeben, die Abweichungen von der sprachlichen Norm zur Folge haben können (vgl. V, 11) und meint, dass diese „Schwächen beim Spre- chen“ (V, 11) von Muttersprachlern häufig als Fehler angesehen und sanktioniert würden (vgl. V, 11). Konkret formuliert sie dies folgendermaßen: Wer aus einer Unsicherheit heraus ein Experiment betreibt, steht auf einer Papierbrücke. Wenn man nur langsam sprechen kann, stottern muß oder eine unnötige Pause zwischen den Wörtern macht, kommt sofort jemand mit einem uniformierten Gehirn an und spuckt Verbesserungsvorschläge, psychologische Ratschläge, pädagogische Angebote oder humanistisches Mitgefühl aus. […] es [gibt] immer Men- schen, die auf diese Weise unsere Sprache kontrollieren, domestizieren, angreifen und zum Verstummen bringen wollen […]. (V, 11) Diese Textstelle zeigt deutlich, dass es sich bei Stimme eines Vogels nicht um eine wissen- schaftliche Vorlesung im eigentlichen Sinne handelt. Anstatt die Problematik konventioneller Sprachbeherrschungsvorstellungen hier objektiv und in fachgerechtem Jargon darzulegen und

16 Michiko Mae: Tawada Yokos Literatur als transkulturelle und intermediale Transformation. In: Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho Pansa von Y.T. Hrsg. von Chris- tine Ivanovic. Tübingen: Stauffenburg 2010. (=Stauffenburg Discussion. 28.) S. 371. 17 Vgl. ebda. 18 Vgl. Lützeler, Einleitung, S. 10f. 7

ihre Argumente mittels Quellenangaben zu untermauern, setzt Tawada auf eine humoristisch- bildhafte Art der Darstellung, d.h. auf literarische Gestaltungsmittel. Die Kritik, die sie in die- sem Zitat übt, ist so sehr subjektiv gefärbt. Für den Leser bzw. Hörer wird dadurch klar, was die Autorin von einem übertriebenen Festhalten an sprachlichen Normen hält. Dass sprachliche Überlegenheitsgefühle nicht nur fehlgeleitet, sondern auch unbegründet sind, veranschaulicht Tawada auf der anderen Seite, indem sie auf die grundlegende Verbin- dung zwischen Sprache und Körper verweist. Hierzu fokussiert sie sich v.a. auf das Thema ‚Stimme‘: Menschen sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern haben auch verschiedene Stimmen. In Schweden zum Beispiel spricht man leiser als in Deutschland, und in Ostasien sind die Stimmen meis- tens höher als in Europa. In Kalifornien habe ich oft gehört, daß vom Scheitel aus gesprochen wird, während in der Steiermark das Sprechen zwischen Bauch und Schlüsselbein beginnt. [usw.] (V, 7) Es ist erwiesen, dass alle Menschen für gewöhnlich (d.h. solange keine Beeinträchtigung vor- liegt) mit derselben artikulatorischen Grundausstattung geboren werden19 und daher „jedes neugeborene Kind in der Lage [ist], jede beliebige Sprache als Muttersprache zu erwerben“ 20. Erst nach und nach beginnt sich die „individuelle Lautproduktion“21 an das von der Mutter- sprache erforderte Phoneminventar anzugleichen.22 Tawada schreibt hierzu auch: „[W]ir be- halten nicht die Stimme, mit der wir geboren werden. Die Spannung zwischen Integration und Fremdheit der Stimme ist ein unvermeidlicher Teil der Sozialisation.“ (V, 8) Die Sprache ist also nicht nur ein Instrument, das vom Menschen verwendet und beherrscht wird, sondern sie hat gleichermaßen auch Einfluss auf diesen und bestimmt ihn mit.23 Dies verdeutlicht Tawada im Weiteren mittels eines Zitats von Julia Kristeva (vgl. V, 8f.), d.h. mithilfe einer wissenschaftlichen Sekundärquelle. Kristeva beschreibt darin die Merkma- le des Spracherwerbs bei chinesischen Kindern, welche, laut ihr, schon bevor sie einen Bezug zu den Inhalten und grammatischen Strukturen des Chinesischen entwickeln, „in der Lage [sind], die Töne, die fundamentalen Charakterzüge ihrer Sprache, zu unterscheiden“ 24. Sie bilden somit zunächst einen sinnlich-körperlichen Zugang zu ihrer Muttersprache aus. 25 Dass das sich so etablierende Verhältnis von Sprache und Körper auch später im Leben erhalten bleibt, legt Tawada daraufhin anhand folgender Feststellung dar:

19 Vgl. Peter Ernst: Germanistische Sprachwissenschaft. Wien: Facultas 2004. (=UTB. 2541.) S. 24. 20 Heike Rohmann, Karin Aguado: Der Spracherwerb: Das Erlernen der Sprache. In: Arbeitsbuch Linguistik. Hrsg. von Horst M.Müller. Paderborn [u.a.]: Ferdinand Schöningh 2002 (=UTB. 2169.) S. 263. 21 Ernst, Germanistische Sprachwissenschaft, S. 24. 22 Vgl. ebda. 23 An anderer Stelle in Stimme eines Vogels heißt es hierzu auch: „Jeder Konsonant, jeder Vokal und vielleicht auch jedes Komma durchlaufen die Fleischzellen und verwandeln die sprechende Person.“ (V, 8) 24 Julia Kristeva: Die Chinesin. Frankfurt am Main: Nymphenburger 1982, S. 27f.; zit. nach: Tawada, Verwand- lungen, S. 9. 25 Vgl. ebda. 8

Der Sprachrhythmus, der in der Fremdsprache weiterlebt, und sie entstellt – man bezeichnet ihn auch als ‚Akzent‘ -, enthält die Erinnerung an den Leib der Muttersprache. Umgekehrt gewinnt eine Sprache manchmal eine Art Körperlichkeit, wenn sie von einer fremden Zunge gesprochen wird. (V, 9) Erneut sind es primär Momente des Sprachkontakts, in denen die körperlichen Eigenschaften der eigenen wie auch der anderen Sprache für die Autorin zum Vorschein kommen. Durch die Verwendung des Wortes ‚gewinnen‘ drückt sie in der Textstelle dabei noch einmal aus, dass sie Situationen, in denen Mutter- und Fremdsprache aufeinandertreffen, vor allem als Potenti- alträger erkennt, die eine produktive Auseinandersetzung mit Sprache generell ermöglichen. Entsprechend schreibt sie an anderer Stelle auch, dass sich bei der Begegnung zweier Spra- chen oft „eine Lücke [öffnet], die peinlich oder erfrischend sein kann“ (V, 8). Dies wiederum führt in der Vorlesung dazu, dass Tawada eine assoziative Verbindung zwischen regelwidriger Sprachverwendung und bestimmten Kunst- und Literaturpraktiken herstellt. So meint sie etwa, dass sie es „als künstlerisches Experiment [versteht], eine fremde Sprache zu sprechen und dabei die körperliche Anstrengung zu beobachten“ (V, 10f.). Außer- dem sehe sie gerade im „experimentellen Sprechen“ (V, 11) eine Möglichkeit, um normativen Vorstellungen von Sprachverwendung entgegenzuwirken: Aus [der] Not kann das experimentelle Sprechen entstehen. Man kann zum Beispiel Zäsuren der Verle- genheit, die einen Satz ungeschickt auseinanderschneiden, bewußt als ein den Rhythmus gestaltendes Element einsetzen. Man kann eine monotone Sprachmelodie oder zwanghafte Wiederholungen eines Wortes oder eines Satzbaus, dafür nutzen, dem Text einen rituellen Charakter zu verleihen. (V, 11) Anders gesagt findet Tawada gerade im bewussten Einsatz des abweichenden Sprechens, ei- nes Sprechens, das sich seiner materiellen Eigenheiten und körperlich-konkreten Besonder- heiten besinnt und sich diese zunutze macht, einen anderen Zugang zur Sprache selbst. Dazu passend erwähnt sie in weiterer Folge die Potentiale der experimentellen Literatur, in welcher das Sprachmaterial ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt.26 Als ein mit dem Titel von Stimme eines Vogels korrespondierendes Beispiel führt sie die Anfangszeilen von Paul Celans Gedichtzyklus Sprachgitter an und interpretiert sie dem Thema der Vorlesung entsprechend: Stimmen, ins Grün der Wasserfläche geritzt. Wenn der Eisvogel taucht, sirrt die Sekunde:27 Die Interpretation des Gedichts fällt unter anderem so aus, dass Tawada den gesamten Text- bereich vor dem abschließenden Doppelpunkt als Bereich der Stimmen klassifiziert (vgl. V, 12) und ihn als „frei von einem Inhalt“ (V, 12) bezeichnet. Zudem erwecke der Doppelpunkt

26 Vgl. etwa: Thomas Kopfermann: Einführung. In: Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie. Texte und Bibliographie. Hrsg. von T.K. Tübingen: Max Niemeyer 1974. (=Wissenschaftliche Reihe. 4266.) S. X. 27 : Gedichte. Bd. I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 147; zit. nach: Tawada, Verwandlungen, S. 12. 9

am Ende zwar die Erwartung eines Inhalts, diese bleibe jedoch ebenfalls uneingelöst. (vgl. V, 12) Gerade darin erkennt sie allerdings den Reiz des Gedichtes, weswegen sie ihre Interpreta- tion mit folgender Aussage schließt: „Ich stelle mir ein Gedicht vor, das nur aus Stimmen be- steht und keinen Inhalt braucht.“ (V, 12) Erneut drückt Tawada dadurch den Wunsch nach ei- nem ‚anderen‘ Sprechen aus und damit gleichzeitig auch jenen nach einem anderen Zugang zu Sprache allgemein. Durch die gezielte Verschränkung von literarischen Interpretationen, bildhaften Darstel- lungen und theoretischen Quellen wird das fremde bzw. abweichende Sprechen in Stimme ei- nes Vogels somit zu einem Träger von Potentialen stilisiert, der sich gegen die normativen Ansätze des konventionellen Sprachverständnisses richtet und Licht auf die ansonsten oft übersehenen und unbeachteten Aspekte der Sprache wirft. Dies hat zur Folge, dass auch die dichotomische Trennung zwischen Fremd- und Muttersprache zugunsten eines produktiven Wechselverhältnisses zwischen den beiden aufgelöst wird. Das scheinbare ‚Problem der Fremdheit‘ wird von Tawada in ihrer Vorlesung damit dekonstruiert.

2.2.2 Stimme eines Vogels: Zur Verwendung des Motivs der Vogelsprache im Text Die einleitenden Sätze von Stimme eines Vogels lauten folgendermaßen: Wenn man in einem fremden Land spricht, schwebt die Stimme merkwürdig isoliert und nackt in der Luft. Es ist, als würde man nicht Wörter, sondern Vögel ausspucken. Manchmal entsteht ein Vogelzwit- schern, das tief ins Gehör eindringt, dabei aber unfaßbar bleibt. Dann sucht man nach dem Singvogel, als wollte man eine Bestätigung dafür haben, daß da wirklich eine Stimme war. Man sieht aber nichts außer den dicht gewachsenen Blättern. Wenn man Glück hat, sieht man den Schatten eines wegfliegen- den Wesens. (V, 7) Anstatt mit einer Publikumsanrede oder typischen Eingangsformeln28 beginnt Tawada ihre Vorlesung mit einer allgemeinen Beobachtung zum Thema ‚Sprechen in einem fremden Land‘. Damit deutet am Anfang des Vorlesungsessays (noch) nichts darauf hin, dass es sich hierbei um einen poetologischen Text handeln könnte bzw. soll. Vielmehr steht das Thema ‚Sprache‘ im Vordergrund. Für die Gestaltung ihrer Einleitung bedient sich Tawada dabei erneut bildhafter Verglei- che und setzt den Klang der eigenen Stimme in einem fremden Land mit einem Vogel bzw. Vogelzwitschern gleich. Sie weist so schon einführend auf eines der bedeutendsten Symbole bzw. Motive des folgenden Textes hin: jenes der Vogelsprache. Dieses nutzt sie in ihrer Vor- lesung nämlich für eine bildhafte Veranschaulichung bzw. eine metaphorische Darstellung der Potentiale des bereits im vorherigen Unterkapitel erwähnten ‚fremden‘ oder ‚anderen‘ Spre-

28 Bohley weist etwa daraufhin, dass viele Poetik-Vorlesungen mit ‚vermeintlich negativen Eingangsformeln‘ begonnen werden, die „die Erwartungen an das Genre der Poetik-Vorlesung zunächst abweis[en]“ (Bohley, Kon- junktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 237.) 10

chens. Obwohl die Botschaft, die das Gezwitscher der Vögel vermitteln soll, für das mensch- liche Verständnis inhaltlos oder, wie Tawada schreibt, „unfaßbar“ (V, 7) bleibt, hat das Motiv der Vogelsprache doch eine lange Tradition im menschlichen Denken. Diese legt Tawada in Stimme eines Vogels nicht nur anhand zahlreicher Beispiele dar, sondern sie setzt sie auch ge- zielt ein – etwa in Form von Literaturinterpretationen -, um ihre Ansichten über die positiven Aspekte von Sprachkontaktsituationen zu untermauern. Hierzu verweist sie etwa auf die Ausführungen Mircea Eliades. (vgl. V, 18f.) Diese be- schreibt in ihrem Werk Schamanismus und archaische Ekstasetechnik typische Auffassungen zu einer Verbindung von Vogelsprache und Magie. (vgl. V, 18f.) So existiere etwa „überall auf der Welt“29 die Vorstellung, dass sich durch das Erlernen der Vogelsprache „die Geheim- nisse der Natur“30 offenbaren würden, wodurch sie jedem, der sie beherrsche, die Gabe der Prophezeiung verleihe.31 In vielen Sprachen würden die Begriffe für ‚Zauberei‘ und ‚(Vogel-)Gesang‘ daher mit demselben Wort bezeichnet.32 Wie weitverbreitet diese Vorstellung tatsächlich ist, exemplifiziert Tawada daraufhin an- hand einiger Beispiele. Sowohl in einer Legende über Konfuzius aus dem Alten China (vgl. V, 19) wie auch im germanischen Sagenstoff der Nibelungen in Richard Wagners Oper (vgl. V, 18) oder in Mozarts Zauberflöte (vgl. V, 19f.) identifiziert sie inhaltliche Aspekte, die mit dem Erlernen der Vogelsprache und seiner magischen Wirkung zu tun haben. Dabei zeigt sich eindeutig, dass das ‚andere‘ Sprechen in dieser Gedankentradition durchaus als eine erstre- benswerte Fähigkeit und Tugend angesehen wurde bzw. wird. Tawadas Ausführungen zur Fremdsprache entsprechend wird es hierbei vor allem aufgrund seines Potentials geschätzt, bisher Verstecktes und ansonsten Nicht-Sichtbares zu Tage zu bringen. (vgl. etwa: V, 19f.) Auf ähnliche Art und Weise fungiert der Vogel auch als ein wichtiges Symbol in der Lite- ratur der deutschen Romantik. Als ein Beispiel hierfür führt Tawada u.a. Ludwig Tiecks Mär- chen Der blonde Eckbert an. (vgl. V, 15-18) In dieser Erzählung kommt ein magischer Vogel vor, der goldene Eier legt und dessen Lied, das sich immer um das „unheimliche Kompositum ‚Waldeinsamkeit‘“ (V, 17) dreht, nicht nur die Handlung vorantreibt, sondern auch maßgeblichen Einfluss auf die Schicksale der Protagonisten ausübt. Tawada schreibt hierzu Folgendes: Alles, was verlassen und getötet wurde, kehrt zurück, wenn das Lied des Vogels die alte Erinnerung ak- tiviert. Dabei bleibt der Inhalt des Liedes verschlüsselt. Gerade weil der Text des Liedes kein konkretes

29 Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 105; zit. nach: Tawada, Verwandlungen, S. 18. 30 Ebda. 31 Vgl. ebda. 32 Vgl. ebda. 11

Geschehen beschreibt, bleibt die Wiederholung des Wortes ‚Waldeinsamkeit‘ magisch wirksam, und das Lied erreicht die alte Erinnerung, die tief begraben zu sein scheint. (V, 17) Auch hier ist es damit nicht der Inhalt des Liedes, der seine magische Kraft ausmacht. Viel- mehr präsentiert sich die Vogelsprache erneut als eine Geheimsprache, deren besondere Wir- kung auf ihrer (scheinbaren) Unzugänglichkeit beruht. Allerdings weist Tawada darauf hin, dass das Motiv der Vogelsprache im heutigen Deut- schen vor allem abwertende Funktion einnimmt. Exemplarisch nennt sie in diesem Zusam- menhang Redewendungen wie „Bei dem piept es.“ (V, 12) oder „einen Vogel haben“ (V, 20), welche klar negativ konnotiert sind und das abweichende Sprechen so als unzureichend und verfehlt ablehnen (vgl. V, 20): Die Redewendung „einen Vogel haben“ zeigt, daß die Vogelsprache eine andere Sprache ist, als die der Vernunft. Die Vogelsprache gilt in dieser Redewendung als Abweichung von der Normalität. Ein Mensch, der die ‚andere‘ Sprache im Kopf hat, wird als ‚verrückt‘ angesehen. (V, 20) Damit deckt sich dieses Verständnis von der Vogelsprache mit den bereits erwähnten konven- tionellen Sprachbeherrschungsvorstellungen, in welchen Abweichungen von der Sprachnorm automatisch als fehlerhaft eingestuft und geahndet werden. (vgl. V, 11) Dem setzt Tawada allerdings zwei weitere Textbeispiele aus der Romantik entgegen, in denen die Vogelsprache normativen Entitäten gegenübergestellt wird und über diese trium- phiert. Hierbei handelt es sich zum einen um das Märchen Die Nachtigall von Hans Christian Andersen, in welchem ein Kaiser einen echten Singvogel gegen einen scheinbar leistungsfä- higeren mechanischen ersetzt und als Konsequenz davon krank wird. (vgl. V, 14f.) Zum ande- ren geht Tawada genauer auf das Märchen Das fremde Kind von E.T.A. Hoffmann ein. In die- sem wird die abweisende Haltung eines Hauslehrers und „wichtigen Vertreters der Wissen- schaften“ (V, 13) gegenüber der Natur und den Vögeln des Waldes geschildert. (vgl. V, 13f.) Der Wissenschaftler wird hierbei, so Tawada, als „eine dämonische Figur“ (V, 13) dargestellt, die „alles, was in diesen Wissenschaften keinen Wert besitzt, als ‚Zeug‘ [bezeichnet]“ (V, 13) und die die frei wuchernde Natur um sich herum vernichten will (vgl. V, 13f.). Die Vögel hingegen würden in der Geschichte als „besondere Wesen“ (V, 13) gelten, deren „Gesang al- les, was sich im Palast, im Garten und im Wald befindet, belebt“ (V, 13). Während die norma- tiven Grundsätze des Wissenschaftlers in Das fremde Kind so mit Tod und Vernichtung ver- bunden werden, steht die Vogelsprache darin für Leben und Vielfalt. Durch diese gezielte In- terpretation des Märchens werden damit ebenfalls die Potentiale des ‚abweichenden‘ Spre- chens herausgestrichen. Zudem stellt Tawada bei der Betrachtung des Märchens eine Verbindung zwischen Vo- gelsprache und Träumen her. In der Geschichte ist es den Figuren nämlich möglich, die Spra-

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che der Vögel zu verstehen, indem sie fliegen lernen (vgl. V, 13). Dies veranlasst die Autorin zu folgender Überlegung: Sie [=die Vogelsprache] ist die Sprache der Fliegenden. Menschen kennen das Fliegen aus eigener Kraft eigentlich nur aus Träumen. Insofern kann man die Vogelsprache auch als Sprache der Träumenden be- zeichnen. (V, 13) Der Traum stellt auch insgesamt ein wichtiges Motiv in Tawadas Werk dar. Zuweilen setzt sie sich sogar in ganzen Erzählungen, wie etwa Bioskoop der Nacht aus dem Band Überseezun- gen33, mit dem Konzept einer ‚Traumsprache‘ auseinander. Wie bei der Vogelsprache spielen für sie auch in diesem Zusammenhang vor allem die Merkmale ‚Unschärfe‘ und ‚inhaltliche Uneindeutigkeit‘ eine entscheidende Rolle, da man als Mensch zwar Zugang zu den eigenen Trauminhalten haben kann, sie sich allerdings nicht auf eine Bedeutung festlegen lassen und zuweilen entstellte Abbilder der Wirklichkeit präsentieren.34 Daneben verbindet Tawada die Vogelsprache noch mit einer weiteren wichtigen Eigen- schaft: ihrer Musikalität. „Die Vogelsprache ist gleichzeitig der Vogelgesang, so daß Sprache und Musik zusammentreffen“ (V, 13). Wie das Motiv des Traums taucht das Thema ‚Musik‘ bzw. ‚Musikalität der Sprache‘ in Tawadas Texten ebenfalls immer wieder auf. Analog zu ih- rem bereits erwähnten Wunsch nach einem „Gedicht […], das nur aus Stimmen besteht und keinen Inhalt braucht“ (V, 12), geht es ihr hierbei ebenfalls um einen anderen Blick auf die Sprache, der nicht von normativen Regulationen und Betrachtungskriterien beeinflusst ist. Am deutlichsten formuliert sie ihre Einstellung hierzu in ihrem Text Der Klang der Geister aus dem Band Talisman: Musik hatte […] für mich von Anfang an etwas Unmenschliches. Etwas ‚Un-menschliches‘ ist frei von menschlicher Grausamkeit. Etwas Nicht-menschliches stammt auf jeden Fall von einem Nicht- Menschen: Zum Beispiel von einem Fisch, einem Baum, einem Tier oder einem Geist. Es ist gut, dass es unmenschliche Musik gibt. Nur so können Klänge neuen Raum außerhalb der menschlichen Gedan- kenwelt bilden.35 In ihrer Vorlesung zeigt Tawada, dass auch der Vogelgesang eine ‚unmenschliche‘ Form der Musik darstellt. Hierzu verweist sie auf eine Reihe von Musikstücken, deren Ziel es war, die Stimmen der Vögel musikalisch abzubilden. (vgl. V, 20f.) Diese Versuche entlarvt sie aller- dings im Anschluss daran als hoffnungslos, „weil Vögel in viel kleinerem Intervall singen, als Klaviertasten wiedergeben können“ (V, 21) und sich nicht an menschliche Tonsysteme und Taktschemata halten. (vgl. V, 21) Wie beim Sprechen einer Fremdsprache (etwa im Falle des

33 Vgl. Yoko Tawada: Bioskoop der Nacht. In: Y.T.: Überseezungen. 3. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2010, S. 61-91. 34 Vgl. hierzu etwa: Yoko Tawada: Dejima – Die Seefahrt der Sprache. II. Poetikvorlesung. In: Y. T.: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 76f. 35 Yoko Tawada: Der Klang der Geister. In: Y.T.: Talisman. 7. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2011, S. 112f. 13

Akzents) sorgen damit die materiellen Voraussetzungen dafür, dass es zu Diskrepanzen zwi- schen dem Vogelgesang und menschlichen Musikstücken kommt, durch welche, wie Tawada schreibt, „die Haltung der Nachahmung selbst spürbar“ (V, 21) wird. Auf die Sprache umge- legt, lässt sich dadurch sagen, dass es auch hier gerade die Momente der Differenz sind, die die spezifischen Eigenschaften und Besonderheiten der aufeinandertreffenden Ausdruckswei- sen zu Tage bringen. Zu guter Letzt weist Tawada darauf hin, dass jede Imitation des Vogelgesangs eigentlich nur „die Tätigkeit der Nachahmung selbst [nachahmt]“, da es eine übliche Verhaltensweise bei Vögeln sei „das Zwitschern anderer Vögel [nachzuahmen]“. In Analogie zum bereits be- handelten Verhältnis von Mutter- und Fremdsprache entpuppen sich die Grenzen zwischen den verschiedenen (Vogel-)Sprachen bzw. Gesängen damit ebenfalls als durchlässig und nur schwer fixierbar. Außerdem kann auch der Fremdspracherwerb bei genauem Hinsehen als die Nachahmung einer Nachahmung klassifiziert werden, beruht der kindliche Erstspracherwerb doch zunächst auf der Imitation von Sprachlauten und –mustern aus der unmittelbaren Umge- bung.36 Entsprechend schließt Tawada ihre Vorlesung mit folgender Konklusio ab: Ein Vogel, der eine menschliche Sprache nachahmend spricht, versteht weder den Inhalt noch die soge- nannte Grammatik der Sprache. Auch werden Menschen nie die Vogelsprache verstehen können. Aber eine konzentrierte Nachahmung kann – wie Träume – klare Abbilder der fremden Sprache darstellen. Wenn ich deutsch spreche, komme ich mir manchmal vor wie eine Komponistin, die in einem Wald steht und versucht, die Musik der Vögel zu hören, zu notieren und nachzuahmen. Wer mit einer fremden Zunge spricht, ist ein Ornithologe und ein Vogel in einer Person. (V, 22) Die Verschränkung von literarischen Beispiele und theoretischen Quellen führt in der Vorle- sung also auch in Bezug auf das Motiv der Vogelsprache zu einer produktiven Auseinander- setzung mit üblichen Sprachbildern. Anstatt mit ihr einen Vortragsessay zu verfassen, bei dem es sich primär um eine Reflexion auf ihr eigenes Schreiben handelt, macht sich Tawada die in diesem erfolgenden literaturtheoretischen Überlegungen vielmehr zunutze, um ihre eigenen Ansichten über verschiedene kulturtheoretische Konzepte – in diesem Falle Sprache und Fremdheit – darzulegen und zu legitimieren. Reflexionen über die Möglichkeiten des Schrei- bens selbst kommen dabei nur implizit heraus, etwa indem die Autorin immer wieder auf die Potentiale eines experimentellen Zugangs zur Sprache im literarischen Schaffen hinweist.

36 Vgl. hierzu etwa: Gisela Klann-Delius: Spracherwerb. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 1999. (=Sammlung Metzler. 321.) S. 23f. 14

2.3 Die zweite Vorlesung: Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung

2.3.1 Schrift einer Schildkröte: Zur gezielten Inszenierung des japanischen Blicks in der Vorlesung Auch in der Zweiten Tübinger Poetik-Vorlesung spielt das Thema ‚Fremdheit‘ eine entschei- dende Rolle. Ergänzend zu ihren Beobachtungen bezüglich der Potentiale eines ‚anderen‘ Sprechens in Stimme eines Vogels setzt sich Tawada in Schrift einer Schildkröte mit der ge- schriebenen Sprache bzw. der Schrift auseinander, wobei der ‚fremde‘ Blick erneut als pro- duktiver Ausgangspunkt für die Betrachtung dient: Vor kurzen stellte ich plötzlich fest, daß ich kein deutsches Buch lesen kann. Je länger ich mich mit der deutschen Sprache beschäftige, desto mehr Schwierigkeiten fallen mir ins Auge. Die Schwierigkeiten werfen Licht auf den Sprachkörper und machen ihn auf diese Weise sichtbar. Dagegen bleibt man meis- tens blind in einer Sache, die man beherrscht. (V, 25) Trotz der offensichtlichen thematischen Parallelen unterscheiden sich die beiden Vorlesung allerdings in Bezug auf ihre Herangehensweise an das Thema. Während Tawada in Stimme eines Vogels vor allem allgemeine Überlegungen und Beobachtungen zu den Potentialen der Fremdheit angestellt und diese mithilfe der bereits erwähnten Metaphorik bildhaft veran- schaulicht hat, führt sie sie in und v.a. anhand von Schrift einer Schildkröte nun konkret vor. Hierzu nutzt sie ganz gezielt ihren japanischen Blick und setzt sich, ausgehend von diesem, mit den Differenzen und Kontrasten zwischen der in Japan verwendeten Mischung aus Sil- benschrift und Ideogrammen (vgl. V, 27) und dem im deutschsprachigen Raum üblichen la- teinischen Alphabet auseinander. Dem für sie typischen Konzept einer ‚fiktiven Ethnologie‘37 entsprechend wählt Tawada die Position der japanischen Beobachterin dabei bewusst als Ge- staltungsmittel aus und inszeniert sie in einer Art und Weise, die, wie noch gezeigt werden wird, ihren deutschsprachigen Lesern die dekonstruierende Wirkung des fremden Blicks auf die eigene Sprache beispielhaft vor Augen führt. 38 Die Unterschiede in der Gestaltung von Schrift einer Schildkröte im Vergleich zu jener in der ersten Vorlesung werden hierbei bereits durch einen Blick auf die Textoberfläche offen- bar. Exemplarisch lässt sich etwa auf die Verwendung des Personalpronomens ‚ich‘ in den beiden Texten hinweisen. Während dieses in Stimme eines Vogels im vierten Absatz zum ers- ten Mal auftaucht und danach noch etwa zwanzigmal vorkommt, findet es sich in Schrift einer Schildkröte bereits in der zweiten Zeile und wiederholt sich daraufhin noch um die siebzig-

37 Vgl. hierzu: Yoko Tawada: Erzähler ohne Seelen. In: Y.T.: Talisman. 7. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2011, S. 25. 38 Vgl. hierzu auch: Michaela Holdenried: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“ Yoko Tawadas Poetik der Überschreitung. In: Kommunikation und Konflikt. Kulturkonzepte in der interkultu- rellen Germanistik. Hrsg. von Ernest W.B. Hess-Lüttich. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009. (=Cross Cultural Communication. 16.) S. 257-261. 15

mal. Das Indefinitum ‚man‘ auf der anderen Seite kommt in der ersten Vorlesung etwa genau- so häufig zur Anwendung wie das Wort ‚ich‘, während es in der zweiten Vorlesung, mit einer Anzahl von ungefähr 35 Erwähnungen, nur etwa halb so oft eingesetzt wird. Insgesamt über- wiegen die Verweise auf außertextliche Personen und Entitäten in Schrift einer Schildkröte damit um mehr als das Doppelte, wobei die hohe Frequenz des Personalpronomens ‚ich‘ die starke Ausprägung des „autobiographischen Gestus“39 in dieser Vorlesung andeutet. Inhaltlich setzt Tawada diesen zunächst ein, um persönliche Erfahrungen beim Lesen deutschsprachiger Bücher und damit verbundene Problematiken zu schildern: Lange habe ich nicht bemerkt, daß ich mich nur ganz selten in die Lektüre eines deutschen Buches ver- senken kann. […] Theoretisch weiß ich schon, wie man die phonetische Schrift liest: Man muß sie im Kopf schnell in die entsprechenden Wortlaute umsetzen, weil sonst der Wortsinn hinter der Mauer der Buchstaben versteckt bleibt. Ich darf nicht die Schriftzeichen anschauen, sondern muß über sie hinweg- fliegen. Aber schon nach einigen Minuten beginnt mein Blick an jedem Buchstaben zu verweilen. Dann wird es still in meinem Kopf und der Sinn verschwindet. (V, 25) Als gebürtige Japanerin ist Tawada in einem Schriftsystem sozialisiert worden, dessen Les- barkeit auf seinen bildlichen Eigenschaften beruht (vgl. V, 27). So wird die japanische Schrift etwa nicht von links nach rechts, sondern „von oben nach unten“ (V, 26) gelesen. Die einzel- nen Schriftzeichen werden dabei, wie die Autorin erklärt, als Bilder erfasst, die ihrerseits je- weils eine gewisse Bedeutung wiedergeben. (vgl. V, 27). Damit funktioniert die japanische Schrift nach vollkommen anderen Regeln als das lateinische Alphabet, dessen einzelne Zei- chen keine spezifischen Bedeutungen transportieren. Die Buchstaben fungieren vielmehr als graphische Realisierungen für die (Sprach-)Laute, die erst auf Inhalte verweisen, wenn sie in Komplexen auftreten, d.h. Wörter bilden.40 Während geschriebene und gesprochene Sprache im Japanischen also unabhängig voneinander existieren und erstere sogar „meist differenzier- ter“ (V, 27) als letztere ist, sind Sprechen und Schreiben in phonetisch basierten Sprachen, wie etwa dem Deutschen, unauflösbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegensei- tig.41 (vgl. V, 26f.) Der japanische Blick, den Tawada in ihrer Vorlesung anwendet, erlaubt es ihr, diese Kontraste hervorzuheben und so das ‚Potential der Fremdheit‘ exemplarisch wirk- sam zu machen. Mit dem oben gebrachten Zitat veranschaulicht sie für ihre deutschsprachigen Leser z.B. die Merkmale und Mechanismen, die für die eigene Schriftrezeption bedeutend sind. Was normalerweise unbewusst geschieht, wird somit in seiner Komplexität und struktu- rellen Beschaffenheit vorgeführt.

39 Ebda, S. 257. 40 Vgl. hierzu etwa: Horst M. Müller: Was ist Sprache? In: Arbeitsbuch Linguistik. Hrsg. von H.M.M. Paderborn [u.a.]: Ferdinand Schöningh 2002. (=UTB. 2169.) S. 29. 41 Vgl. hierzu auch: Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 8., überarbeitete Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag 2009. (=Der Duden in zwölf Bänden. 4.) S. 64. 16

In einem weiteren Schritt überträgt Tawada den Vergleich der Lesegewohnheiten dann auch auf die Betrachtung von Wahrnehmungskonzepten: Irgendwann bemerkte ich […], daß sich Leser der phonetischen Schrift in einem Museum ganz anders verhalten als ich. Auch Gemälde nehmen sie scheinbar wie phonetische Schrift war. Das heißt, sie be- trachten die Gemälde nicht stumm, sondern übersetzen sie eilig in die gesprochene Sprache. Sie fragen sich ständig: Was sehe ich im Bild? Was ist dort abgebildet? Was ist das Konzept des Künstlers? Die Bilder verwandeln sich in Wörter und Sätze. Ich dagegen stehe oft vor einem Bild und merke, wie die Sprache sich auflöst. (V, 26) Wie die Lautanforderungen der Muttersprache in Stimme eines Vogels beeinflusst demnach auch das Schriftsystem, in dem ein Mensch sozialisiert wird, seine persönliche Entwicklung. Zwar scheint es sich nicht notwendigerweise, wie im Falle der stimmlichen Anpassung, in den Körper einzuschreiben (vgl. V, 8f.), ein Einfluss auf Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten lässt sich allerdings, wie Tawada in ihrem Zitat darlegt, dennoch feststellen. Außerdem ist die Textstelle auch hinsichtlich ihrer Gestaltung gänzlich auf die Verdeutlichung kultureller Kon- traste ausgelegt, was sich etwa an der Gegenüberstellung der Personalpronomen ‚ich‘ und ‚sie‘ (in Plural-Verwendung) zeigt. Sie stehen respektive für Tawada und die „Leser der pho- netischen Schrift“ (V, 26) und grenzen diese so gegeneinander ab. (vgl. V, 26) Die Autorin nimmt hier also ganz die Rolle der Japanerin, d.h. der Fremden, ein. Durch die Verwendung von Wörtern wie ‚eilig‘ oder ‚ständig‘ (vgl. V, 26) werden die auf der phonetischen Schrift beruhenden Wahrnehmungs- und Lesevorgänge in der Textpassage zudem als unruhig und gehetzt dargestellt. In der auf Bildlichkeit fokussierten Rezeptionswei- se Tawadas scheint dagegen jegliche Hektik zum Stillstand zu kommen (Stichwort: „auflö- sen“). (vgl. V, 26) Noch deutlicher werden diese Unterschiede in der Inszenierung der beiden Schriftsystem an anderen Stellen im Text. So setzt Tawada bei der Beschreibung der japani- schen Schrift etwa auf die Vermittlung eines Gefühls von Tradition, Beständigkeit und Konti- nuität: Eine gigantische Anzahl von Ideogrammen existiert, bevor wir beginnen zu denken und zu sprechen. In den Gesamtkörper der Ideogramme ist die Kulturgeschichte eingeschrieben. […] Ein Schriftzeichen be- hält dieselbe Gestalt, auch wenn die Zeiten sich verändern und die Menschen es anders lesen oder deu- ten. In einem solchen Schriftsystem gewinnt man den Eindruck, die Welt würde aus einer bestimmten Anzahl unauflösbarer Elemente bestehen. (V, 27) Die Verwendung des gemeinschaftlichen ‚wir‘ macht in diesem Zitat erneut Tawadas japani- schen Blick deutlich. Für den deutschsprachigen Leser werden im Zuge dessen auch die Posi- tionen von Eigenem und Fremdem verkehrt, da ersteres – das Deutsche – hierdurch die Stel- lung des ‚Anderen‘ einnimmt. Dies ist v.a. deshalb von Bedeutung, weil das lateinische Alp- habet in Europa häufig als ein überlegenes Schriftsystem angesehen wird.42 In ihrer Disserta- tion Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur schreibt Tawada hierzu: „[D]ie

42 Vgl. Tawada, Spielzeug und Sprachmagie, S. 96. 17

Auffassung, ein in einer anderen Schriftform dargestellter Inhalt könne durch die phonetische Schrift mit weniger Aufwand und präziser ausgedrückt werden, ist in Europa weit verbrei- tet.“43 Durch den Fokus auf die positiven Eigenschaften und Vorteile der Ideogramme stellt Tawada diese Sichtweise in Frage. In Kontrast zu den japanischen Schriftzeichen, die Tawada außerdem als „nicht rätsel- haft“ (V, 30) bezeichnet und als ungefährlich beschreibt (vgl. V, 30), präsentiert sie die latei- nischen Buchstaben als unzuverlässig und bedrohlich: [J]eder Buchstabe des Alphabets [ist] ein Rätsel. Was will zum Beispiel ein A mir sagen? Je länger ich einen Buchstaben anblicke, desto rätselhafter und lebendiger wird er: lebendig, weil er kein Zeichen ist, das für ein Signifikat steht. Er ist weder ein Abbild noch ein Piktogramm. Man darf ihn nicht anschau- en, sondern muß ihn sofort in einen Laut übersetzen und seinen Körper verschwinden lassen. Sonst wird er lebendig, springt aus dem Satz und verwandelt sich in ein Tier. Die Buchstaben des Alphabets sind unfaßbare Phantasietiere. Weil sie als Einzelwesen von jeder Bedeutung frei sind, sind sie unberechen- bar. (V, 30) Um dies zu illustrieren macht Tawada u.a. auf die häufig vernachlässigte Relevanz der einzel- nen Buchstaben für die Erzeugung des Wortsinns aufmerksam. So weist sie etwa darauf hin, dass allein eine „oberflächliche, technische Operation“ (V, 30), wie etwa das Weglassen oder Zugeben eines alphabetischen Zeichens, den „Sinn des ganzen Satzes zerstören“ (V, 30) kön- ne. Dies demonstriert sie in der Folge anhand zweier literarischer Beispiele. Bei diesen han- delt es sich nun erstmals um Bezüge auf Tawadas eigene Texte und ihre persönlichen Erfah- rungen als Schriftstellerin: Zum einen erwähnt sie hierbei eine Erzählung über ‚Baumgeister‘. (vgl. V, 31) Bei dieser sei in der Druckfahne der Buchstabe ‚g‘ vergessen worden, so dass sich der Wortsinn von ‚Baumgeister‘ in ‚Baumeister‘ verwandelt habe. (vgl. V, 31) Dadurch sei „der ganze Text auf den Kopf gestellt“ (V, 31) worden. Zum anderen beschreibt sie die Bedrohlichkeit der einzel- nen Buchstaben anhand eines Erlebnisses, dass sie einmal während einer Lesung gehabt habe. Während dieser habe sie eine von ihr verfasste Geschichte über den Gotthard-Tunnel44 vorge- tragen, in welcher sie u.a. eine assoziative Verbindung zwischen dem Buchstaben ‚O‘ und den Eingängen des titelgebenden Tunnels hergestellt habe. (vgl. V, 34) Als ein Zuhörer sie im An- schluss darauf hingewiesen habe, dass auch ihr Name in der phonetischen Schrift zweimal ‚O‘ enthalte, habe sie plötzlich „die Macht der Schrift auf [ihren] Körper [gefühlt], der sich in den Buchstaben O zu verwandeln drohte“ (V, 34). Nur durch das Niederschreiben ihres Namens in Ideogramme sei es ihr möglich gewesen, sich wieder von diesem Gefühl zu befreien: Das Zeichen für ‚Yo‘ bedeutet ‚ein Blatt auf einem Baum‘ und ‚Ko‘ bedeutet ‚ein Kind‘. Als wäre es eine Rettung, dachte ich: Diese zwei Begriffe kann man nicht mit dem Loch eines Tunnels gleichsetzen,

43 Ebda, S. 103. 44 Vgl. Yoko Tawada: Im Bauch des Gotthards. In: Y.T.: Talisman. 7. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2011, S. 96-102. 18

denn sie sind mit Bedeutungen gefüllte Ideogramme. Indem ich meinen Körper in Ideogramme ver- wandle, entziehe ich mich der Gefahr, als Alphabet auseinandergenommen zu werden. (V, 34) Die kontrastive Inszenierung der beiden Schriftsysteme wird hier besonders deutlich. Wäh- rend die Ideogramme als „eine Rettung“ (V, 34) bezeichnet und daher mit einem positiven Gefühl von Sicherheit und Bedeutsamkeit verbunden werden, stellt Tawada die phonetischen Buchstaben als eine destruktive Kraft dar, die letztlich gar zur Bedrohung für Leib und Leben werden kann (vgl. V, 33). So gelingt es ihr in ihrer Vorlesung erneut, fehlgeleitete Überlegen- heitsgefühle und konventionelle Sichtweisen bzgl. Schrift und Sprache ad absurdum zu führen. Doch es wäre nicht Tawada, wenn sie die strikte Abgrenzung zwischen dem Fremden und dem Eigenen in ihrer Vorlesung konsequent durchhalten würde. Wie sich bereits in Stimme eines Vogels gezeigt hat, sind es für sie nämlich häufig gerade die Merkmale des Unbere- chenbaren und Uneinheitlichen, in denen sie die Potentiale für ihre Sprachbetrachtung findet. (vgl. etwa V, 10f.) Schrift einer Schildkröte beinhaltet daher durchaus Stellen, in denen die bisher etablierten Positiv- bzw. Negativ-Konzeptionen der beiden Schriftsysteme brüchig werden. Zum Beispiel fungieren die Buchstaben des phonetischen Alphabets in Tawadas Darstel- lung nicht nur als Sinnzerstörer, sondern können ebenso produktiv wirksam werden, etwa im Falle des Anagramm-Gedichts. Exemplarisch gibt Tawada ein Textbeispiel von Unica Zürn an (vgl. V, 31) und schreibt: „Der Kunst des Anagramms liegt die Magie des Alphabets zu- grunde.“ (V, 30) In Analogie zu Stimme eines Vogels verweist sie damit auch hier auf die Po- tentiale einer literarisch-experimentellen Sprach- bzw. in diesem Fall Schriftverwendung. Wie im Falle von Paul Celans Gedicht aus der ersten Vorlesung, das den Fokus des Rezipienten auf den inhaltsfreien Raum der Stimmen gelenkt hat (vgl. V, 12), eröffnet nämlich auch das Anagramm-Gedicht einen anderen Zugang zur Sprache, in welchem, gerade durch das Spiel mit dem sinnfreien Sprachmaterial, Bedeutung generiert wird und dadurch Kunst entsteht.45 Zusätzlich stellt Tawada, durch die Verwendung des Wortes ‚Magie‘, eine weitere Verbin- dung zu ihrer ersten Vorlesung her, in welcher sie die Potentiale der Vogelsprache - wie be- reits erläutert - auf ihre magische Kraft zurückgeführt hat. (vgl. V, 18f.) Auf der anderen Seite relativiert die Autorin wiederum stellenweise die bisher etablierte Sichtweise auf die Ideogramme. So schränkt sie die ihnen zuvor zugeschriebene Eindeutigkeit etwa mithilfe ihres Ursprungsmythos ein. Dieser besagt nämlich, dass der Erfinder der ersten

45 Vgl. Matthias Bauer: Anagramm/Anagrammatik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5., aktual. und erw. Aufl. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 21. 19

Ideogramme von den „Fußspuren der Vögel“ (V, 33) inspiriert worden sei (vgl. V, 33). Paral- lel zu den Betrachtungen in der ersten Vorlesung ergibt sich für Tawada daraus eine gewisse Unzugänglichkeit zu ihnen. Wie die Stimmen der Vögel stammen auch ihre Fußspuren aus dem nicht-menschlichen Bereich und entziehen sich daher zwangsläufig dem menschlichen Verständnis. (vgl. V, 33) Zudem werde die „alte Schrift“ (V, 33) in Japan heute als „koo- kotsumoji“ (V, 33) oder „Panzer-Knochen-Schrift“ (V, 33) bezeichnet, da sich die ältesten überlieferten Ideogramme als Einritzungen auf Schildkrötenpanzern oder Tierknochen befin- den würden. (vgl. V, 33) Der Titel der Vorlesung ‚Schrift einer Schildkröte‘ ist ein Verweis hierauf. Auch generell erweist sich eine Verbindung von Naturelementen und Schrift in der Vor- lesung als bedeutend. In einem weiteren Schritt unterstellt Tawada den phonetischen Buch- staben nämlich ebenfalls den „Charakter einer Naturschrift, die darauf wartet, gelesen zu wer- den“ (V, 33). Exemplarisch verweist sie etwa auf eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den phonetischen Schriftzeichen und „Rissen und Spalten“ (V, 33) aus der Umwelt. „Auf der Oberfläche eines ausgetrockneten Feldwegs, einer Holztür oder einer Ledertasche“ (V, 33) würde sie z.B. regelmäßig Buchstaben entdecken. (vgl. V, 33) Selbst in den Rillen und Falten der eigenen Hautoberfläche ließen sich Schriftzeichen erkennen. (V, 33) Somit führt Tawada in ihrer Vorlesung beide Schriftsysteme auf einen Ursprung in der Natur zurück und rückt sie so ganz nah zusammen. Dadurch gelingt es ihr erneut, scheinbare hierarchische Differenzen und Unterschiede in ihrer Beschaffenheit als relativ und obsolet zu entlarven. Im letzten Absatz der Vorlesung nutzt sie dann noch einmal die materiellen Eigenschaften der Schrift, um einen anderen Blick auf diese zu generieren. Hierzu bezieht sie sich auf die bereits in Stimme eines Vogels erwähnte Traum-Thematik und schreibt: Es gibt eine beliebte Frage zur Sprache im Traum: „In welcher Sprache träumen Sie?“ Es ist aber nichts Besonderes, wenn man im Traum eine fremde Sprache spricht. Die gesprochene Sprache kann schnell in den Mund hineinschlüpfen und wieder aus ihm herausspringen. Man muß sich eine Sprache nicht einverleiben, um sie in einem Traum verwenden zu können. Die Schrift hingegen braucht lange, bis sie im Körper sitzt. Sie sitzt tiefer, fast unlesbar. (U, 39) Um dies zu demonstrieren, gibt Tawada zwei ihrer eigenen Träume an (Stichwort: Autobio- grafie) und hebt die in ihnen auftretenden Repräsentationen der Schrift hervor, wobei sie, wie z.B. Hannah Arnold schreibt, „ihre durch die Bildlichkeit der ideografischen ‚Muttersprache‘ geprägte Denkweise auf die deutsche ‚Fremdsprache‘ überträgt“46. So interpretiert sie im ers- ten Traum vorkommende Menschen, die „je zwei Punkte auf der Stirn hatten“ (V, 39), etwa als bildlichen Ausdruck für die deutschen Umlaute. (vgl. V, 39) Im zweiten Traum habe sie

46 Hannah Arnold: Yoko Tawada: Sprachmutter für Muttersprachler. In: Yoko Tawada. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2011. (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. 191/192.) S. 6. 20

dagegen eine hügelige Trümmerlandschaft gesehen, in welcher es heiß war und sie „viele Sorgen [hatte]“ (V, 39), was für Tawada auf das Wesentliche reduziert, den Satz „Kummer und Trümmer kommen immer im Sommer.“ (V, 39) ergibt. (vgl. V, 39) Die in der Mitte der meisten Wörter vorkommenden ‚m‘ werden in ihrer Sichtweise dabei, analog zum Traumin- halt, als „eine Reihe runder Hügel“ (V, 39) aufgefasst. Erneut präsentiert Tawada ihren deutschsprachigen Lesern hierdurch einen anderen Blick auf die phonetische Schrift, in wel- chem diese vor allem durch ihre ansonsten meist vernachlässigten bildlich-materiellen Eigen- schaften definiert ist. Wie im Rest der Vorlesung und parallel zu den Ausführungen in Stimme eines Vogels ist es dabei das Wechselverhältnis von Eigenem und Fremden, das zu produkti- ven Ergebnissen führt, wobei auch dieses durch eine gezielte Verschränkung von literarischen und theoretischen Elementen und Inhalten generiert wird.

2.3.2 Das Problem der Übersetzung: Tawadas poetologische Überlegungen zum Thema ‚Mehrsprachigkeit‘ In einem Aufsatz über Tawadas sprachkritisches Denken schreibt Dieter Heimböckel Folgen- des: „Die Übersetzung nimmt insgesamt eine Schlüsselposition im Sprachdenken Yoko Ta- wadas ein und ist ein wesentliches Vehikel der Produktivität ihrer interkulturellen Sprachkri- tik.“47 Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie auch in den Tübinger Poetik-Vorlesungen thematisiert wird. Als eine Übertragung von einer Sprache in eine andere48 basiert die Über- setzung auf dem Grundsatz der Mehrsprachigkeit bzw. der sprachlichen Pluralität und ermög- licht sozusagen eine sprachübergreifende Kommunikation.49 Das heißt, dass sie an der Schnittstelle zwischen den Sprachen operiert, welche, wie bereits gezeigt wurde, für Tawadas Sprachsicht entscheidend ist. Analog zur ersten Vorlesung handelt es sich bei der Auseinandersetzung mit der Überset- zungsthematik in Schrift einer Schildkröte weniger um eine Untersuchung ihrer titelgebenden ‚Probleme‘, sondern vielmehr um eine Thematisierung ihrer Potentiale. Ausgehend von der bereits behandelten Schriftbetrachtung geht Tawada hierbei zunächst auf grundlegende Cha- rakteristika unterschiedlicher Übersetzungsvorgänge ein: Es ist eigentlich nicht der Text, den man nie übersetzen kann, sondern die Schrift. Wenn ich einen Text sinngemäß übersetzen will, entferne ich mich zuerst von den Buchstabenkörpern. Ich lese deutsche Sät- ze laut vor, übersetze den gesprochenen Inhalt in Denkbilder und versuche dann, diese Bilder auf japa- nisch zu beschreiben. Das ist eine kommunikative Übersetzung, aber keine literarische. Eine literarische Übersetzung muß obsessiv der Wörtlichkeit nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die konventio-

47 Dieter Heimböckel: „Die Wörter dürfen nicht das sein, was sie meinen.“. Yoko Tawadas Beiträge zu einer in- terkulturellen Kritik der Sprache. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträ- ge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 158. 48 Vgl. Helmut Glück: Übersetzung. In: Metzler Lexikion Sprache. 3., neubearbeitete Aufl. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 703. 49 Vgl. ebda. 21

nelle Ästhetik sprengt. Eine literarische Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen. (V, 35) Dem Tenor der restlichen Vorlesung entsprechend streicht Tawada auch hier den Fokus auf das Sprachmaterial als potentiell fruchtbringend für die Ergebnisse von Übersetzungsvorgän- gen heraus, wobei sie v.a. die von ihr als ‚literarisch‘ klassifizierte Herangehensweise an Äu- ßerungen und Texte zum Mittel für eine alternative Sprachbetrachtung erklärt. Zum ersten Mal in ihren Essays geht sie hierbei tatsächlich poetologisch-reflektierend an die Thematik heran. Sie drückt ihre eigenen Ansichten über Literatur und Übersetzung konkret aus, indem sie etwa formuliert, was eine ‚literarische Übersetzung‘ ihrer Meinung nach zu sein hat und erfüllen „muß“ (V, 35). Ihre Übersetzungskonzepte sind dabei vielfach von den Theorien Walter Benjamins be- einflusst, auf welche sie sich auch in anderen Veröffentlichungen, wie z.B. ihrer Dissertati- onsschrift50 oder dem Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch51, bezieht. Im oben vorliegenden Zitat stellt etwa die Forderung nach Wörtlichkeit einen Verweis auf den Theoretiker dar. Benjamin geht nämlich ebenfalls davon aus, dass das Wort Original und Übersetzung auf produktive Weise verbindet.52 Entsprechend hat er es in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers als das „Urelement des Übersetzers“53 bezeichnet. In diesem stellt er u.a. auch die These auf, dass sich das Original in und durch die Über- setzung weiterentwickeln und entfalten kann. Er schreibt hierzu etwa, dass sich „eine be- stimmte Bedeutung, die den Originalen innewohnt, in ihrer Übersetzbarkeit äußere“54 und dass die Sprache der Übersetzung ihren zu vermittelnden „Gehalt“55 dabei „wie ein König- mantel in weiten Falten“56 umgebe. Um die Sprache des Originals nicht zu verdecken, müsse das Wort zum zentralen Element der Übertragung werden57, denn: „[D]er Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit ist die Arkade.“58 Analog dazu geht auch Tawada davon aus, dass „durch die Übersetzung [etwas] erwachen kann“59. Dies veranschaulicht sie in ihrer Vorlesung anhand einiger Beispiele. So schreibt sie in einer Textstelle z.B. über die Übersetzung westlicher Begriffe in die chinesische bzw. japa-

50 Vgl. etwa: Tawada, Spielzeug und Sprachmagie, S. 165. 51 Vgl. Yoko Tawada: Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch. In: Y.T.: Talisman. 7. Aufl. Tübin- gen: konkursbuch Claudia Gehrke 2011, S. 125-138. 52 Vgl. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. II.I. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 18. 53 Ebda. 54 Ebda, S. 10. 55 Ebda, S. 15. 56 Ebda. 57 Vgl. ebda, S. 18. 58 Ebda. 59 Tawada, Das Tor des Übersetzers, S. 137. 22

nische ‚Bilderschrift‘. (vgl. V, 28f.) Hierzu erklärt sie, dass dieser Translationsvorgang auf ei- ner Darstellung der zu übersetzenden Wörter durch bereits bestehende Ideogramme beruhe, die so miteinander kombiniert würden, dass sie den zu übermittelnden Inhalt möglichst akku- rat abbilden. (vgl. V, 28) Da die ursprünglichen Bedeutungen der Ideogramme allerdings eng mit den traditionellen Vorstellungen des Konfuzianimus verbunden seien, ergebe sich im Pro- zess der Übertragung auch eine Verschiebung des Sinns. (vgl. V, 28) Der europäische Begriff ‚Revolution‘ bestehe im Chinesischen bzw. im Japanischen etwa aus zwei Ideogrammen, welche rückübersetzt ins Deutsche „der Himmel ändert seinen Willen und dadurch findet ein Wechsel der Dynastie statt“ (V, 28f.) bedeuten würden. (vgl. V, 28f.) Durch die Übersetzung in eine andere Sprache bzw. in Schriftzeichen, die einer kulturell differierenden Denktradition entstammen, erhält der europäische Begriff ‚Revolution‘ im Chinesischen damit eine zusätzli- che Bedeutungskomponente. Diese wird allerdings erst durch die Vermittlung zwischen den Sprachen in der Übersetzung sichtbar. In der chinesischen Übersetzung des Wortes ‚Revoluti- on‘ ‚erwacht‘60 somit ein neuer inhaltlicher Aspekt des Begriffs. Als verantwortlich hierfür definiert Tawada das sog. „Moment der Unübersetzbarkeit“ (V, 35). Wie das Beispiel zum Begriff ‚Revolution‘ zeigt, kommt es bei der Übersetzung ei- nes Wortes nämlich nicht nur zu einer Übertragung seiner Ausdrucksseite, sondern auch zu einer entsprechenden seiner Inhaltsseite, wobei diese in den verschiedenen Spra- che ebenfalls nie völlig deckungsgleich ist.61 Kulturell bedingte Begriffskonnotationen o.ä. beeinflussen die konkreten Wortbedeutungen.62 Je nach Sprache oder Schriftzeichen „be- kommt das Wort eine andere Nuance“63. Walter Benjamin bezeichnet diese auch als den „Ge- fühlston“64, den „die Worte […] mit sich führen“65 und der im Prozess der Übersetzung nicht oder nur schwer zu übertragen ist.66 In ihrer Vorlesung kritisiert Tawada die sinngemäße Übersetzung gerade dahingehend, dass sie diese Tatsache zu verschleiern oder zu überspielen versucht: Triviale Münder loben sie, wenn die Sprache der Übersetzung natürlich klingt. Die Übersetzung lasse den Leser vergessen, daß sie Übersetzung sei. Dieses Lob zeugt von einer verdrehten Logik. Man sagt doch auch nicht: Diese Literatur ist gut, weil man fast vergißt, daß es Literatur ist. (V, 35)

60 Ebda. 61 Vgl. etwa: Mary Snell-Hornby: Einleitung. Übersetzung, Sprache, Kultur. In: Übersetzungswissenschaft – Ei- ne Neuorientierung. Zur Integrierung von Theorie und Praxis. 2., durchgesehene Aufl. Hrsg. von M.S.H. Tübin- gen, Basel: A. Francke 1994, S. 13-16. 62 Vgl. ebda. 63 Christine Ivanovic; Miho Matsunaga: Tawada von zwei Seiten – Eine Dialektüre in Stichworten. In: Yoko Tawada. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2011. (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. 191/192.) S. 137. 64 Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, S. 17. 65 Ebda. 66 Vgl. ebda. 23

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Autorin für eine andere, stärker auf das Sprachma- terial fokussierte Art der Übersetzung plädiert und diese als ‚literarisch‘ bezeichnet. Eine Übersetzung, die „obsessiv der Wörtlichkeit nachgeh[t]“ (V, 35), muss nämlich zwangsläufig mit den oben erwähnten ‚Momenten der Unübersetzbarkeit‘ konfrontiert sein, wodurch es, wie sie schreibt, zu einer „interessante[n] Verschiebung, eine[r] erfrischende[n] Entstellung oder eine[r] wahnhafte[n] Verrückung in die eigene Sprache“ (V, 35) kommen kann. Analog zum bereits thematisierten ‚experimentellen Sprechen‘ und den schon erwähnten Beispielen der ‚experimentellen‘ Literatur ist für Tawada damit auch die ‚literarische‘ Übersetzung in der Lage, eine alternative Sicht auf die Sprache zu generieren, welche ebenfalls auf sprachlichen Normabweichungen beruht. In diesem Zusammenhang interessiert sie zudem Folgendes: Für mich besteht der Reiz der Übersetzung darin, daß sie den Leser die Existenz einer anderen Sprache spüren läßt. Die Sprache der Übersetzung tastet die Oberfläche des Textes vorsichtig ab, ohne sich von seinem Kern abhängig zu machen. (V, 35f.) In Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch schreibt Tawada hierzu außerdem: „Ein Wort zu schreiben bedeutet, ein Tor zu setzen.“67, womit sie eine potentielle Verbindung zu einer anderen Sprache meint. Ein Wort sei ein „Strahlenempfänger“68, der „immer etwas Fremdes“69 empfängt. In Schrift einer Schildkröte erklärt die Autorin daher, dass es „sogar Texte [gibt], die wie Übersetzungen wirken, obwohl sie keine sind“ (V, 36). Diese werden von ihr als „Übersetzungen ohne Original“ (V, 36) bezeichnet. Als Beispiele hierfür führt sie Heinrich von Kleists Erzählung Der Zweikampf (vgl. V, 63) und Franz Kafkas Prosatext Zer- streutes Hinausschaun (vgl. V, 38) an, da sie in beiden scheinbar fremdsprachige Elemente zu entdecken meint. Für Kleists Text begründet sie dies damit, dass der Autor in ihm eine große Anzahl von Nebensätzen verwendet (vgl. V, 36). Diese würde die Erzählung wie eine Über- setzung aus einer „fiktiven Originalsprache“ (V, 36) wirken lassen, „die eine unendliche An- zahl eingeschachtelter Nebensätze erlaubt“ (V, 36). Kafkas Zerstreutes Hinausschaun erkennt sie dagegen als eine potentielle Übersetzung aus dem Japanischen, da viele der in ihm ver- wendeten Begriffe in der ideogrammatischen Umsetzung das Zeichen für ‚Sonne‘ enthalten würden. (vgl. V, 38) Auch und obwohl es sich bei beiden Texten eigentlich nicht um Überset- zungen handelt, erzeugt der Fokus auf das Sprachmaterial in Tawadas Augen so eine Verbin- dung zu einer anderen Sprache. Sie schreibt daher: [Ich] vermute […], daß ein literarischer Text später seinen Originaltext finden kann, aus dem er über- setzt worden sein könnte. Meistens existieren mehrere Originaltexte, die gefunden und erfunden werden können. (V, 39)

67 Tawada, Das Tor des Übersetzers, S. 134. 68 Ebda, S. 131. 69 Ebda. 24

Dieser Gedanke ist vor allem deshalb interessant, weil Tawada damit jedem Text bereits zum Zeitpunkt seines Entstehens eine produktive Verbindung zu anderen Sprachen unterstellt.70 Dies wiederum bedeutet, dass es in ihrer Sichtweise eigentlich keine einsprachigen Texte gibt. Vielmehr fungiert jeder Text als eine Projektionsfläche für die sprachliche Pluralität, welche im Akt der Übersetzung und/oder durch den bewussten Blick auf die Sprachoberfläche Sicht- barkeit erlangen kann. Die einzelnen Sprachen existieren somit ebenfalls niemals getrennt voneinander, sondern sind vielmehr unauflöslich miteinander verbunden. Auch die Überset- zung besitzt für Tawada also das Potential, sprachliche und kulturelle Abgrenzungen zu de- konstruieren oder wie Michiko Mae es formuliert: [D]ie Aufhebung fester kultureller Grenzziehungen und Identitäten [wird] durch den Prozess wechsel- seitiger Übersetzungen deutlich; damit wird die Festlegung und Zuschreibung eindeutiger kultureller Zugehörigkeiten überwunden, die zu binären Strukturen und zu Dichotomisierungen im Sinne von Ent- gegensetzungen des Eigenen und des Fremden führt.71

2.4 Die dritte Vorlesung: Gesicht eines Fisches oder das Problem der Ver- wandlung

2.4.1 Gesicht eines Fisches: Poetologische Überlegungen zur arbiträren Beziehung von Sprache und Wirklichkeit Vorbereitet durch die Ausführungen in Stimme eines Vogels und Schrift einer Schildkröte setzt sich Tawada in ihrer Dritten Tübinger Poetik-Vorlesung ganz allgemein mit der Bezie- hung von Sprache und Wirklichkeit auseinander und führt diese in ihrer Relativität und Arbit- rarität vor. Hierzu beginnt sie den Text mit folgender Beobachtung: Wo beginnt das Gesicht eines Fisches und wo endet es? […] Das Wort „Gesicht“ soll der Definition ei- nes Wörterbuches zufolge „die durch Augen, Nase und Mund geprägte Vorderseite des menschlichen Kopfes vom Kinn bis zum Haaransatz“ bedeuten. Wo ist aber die Vorderseite des Fischkopfes, fragte ich mich. Ein Fisch hat ein Gesicht, aber keine Vorderseite. Ich war beim Lesen der Definition im Wör- terbuch darüber überrascht, daß ausdrücklich von einem „menschlichen“ Kopf die Rede war. Die Frage nach dem Gesicht eines Fisches war falsch gestellt, wenn das deutsche Wort „Gesicht“ nur in Bezug auf den Menschen benutzt werden kann. […] ich wäre nie darauf gekommen, daß ein Fisch kein Gesicht haben könnte. (V, 45) Für diese Auseinandersetzung mit dem titelgebenden ‚Gesicht eines Fisches‘ macht sich Ta- wada, wie bereits in den vorhergehenden Vorlesungen, ihren ‚japanischen Blick‘ zunutze, welcher hier erneut durch das Personalpronomen ‚ich‘ markiert ist. Ob ein Fisch in einer Sprache ein Gesicht hat oder nicht, hat nämlich vor allem mit den „Wirklichkeitskonzeptio- nen“72 zu tun, die in ihr niedergelegt sind73 und die Muttersprachlern, wie Iwar Werlen

70 Vgl. hierzu auch: Ebda, S. 134. 71 Mae, Tawada Yokos Literatur als transkulturelle und intermediale Transformation, S. 376. 72 Iwar Werlen: Sprache, Mensch und Welt. Geschichte und Bedeutung des Prinzips der sprachlichen Relativität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989. (=Erträge der Forschung. 269.) S.6. 73 Vgl. ebda. 25

schreibt, im „Prozeß der Sozialisation“74, zu dem auch der Spracherwerb gehört, „als quasina- türlich mitgegeben [werden]“75. „[D]ie Sprecher verschiedener Sprachen [gelangen] auch […] zu verschiedenen Ansichten der Welt“76, woraus sich die von Tawada ausgedrückte Verwun- derung über die im Usus der deutschen Sprache verankerte dichotomische Differenzierung von Mensch und Tier77 erklären lässt. Die Bezeichnungen präsentieren sich so als relativ. Dies erlaubt es Tawada in der Folge, eine alternative Interpretation des Wortes ‚Gesicht‘ anzubieten, für welche sie sich erneut auf Walter Benjamin bezieht. Dieser hat den Begriff in seinem Text Einbahnstraße umgedeutet, indem er ihn mit der Sammelleidenschaft seines Pro- tagonisten verbunden hat.78 Tawada schreibt hierzu: Hier [=in Einbahnstraße] wird nicht etwa gesagt, daß das Gesicht eines Sammlers seine Leidenschaft ausdrücken würde, sondern umgekehrt zeigt die Leidenschaft an dem Sammler ihr Gesicht. Dabei fun- giert der menschliche Körper als Medium, durch das die Leidenschaft überhaupt sichtbar werden kann. Ein Gesichtsfeld, das frei von Menschen bleibt, kann wie eine Leinwand Bilder empfangen und zeigen. So kam ich zu einer neuen Definition des Gesichtes: Ein Gesicht ist etwas, das sichtbar geworden ist. (V, 46) In dieser Interpretation bezieht sich der Begriff ‚Gesicht‘ nicht mehr, wie sonst üblich, auf ei- nen bestimmten Bereich des menschlichen Körpers. Tawada erweitert seinen Bedeutungs- spielraum vielmehr, indem sie ihn, in Analogie zu den anderen beiden Vorlesungen, in den Bereich des ‚Un-menschlichen‘ verschiebt. Wenn ein Gesicht ganz allgemein etwas ist, „das sichtbar geworden ist“ (V, 46), kann jedes Objekt und jede Oberfläche zu einer Projektions- fläche für die unterschiedlichsten ‚Gesichter‘ werden. Tawada spricht deshalb in weiterer Folge z.B. von den „Gesichtern einer Stadt oder eines Gegenstandes“ (V, 46). Allerdings weist sie darauf hin, dass sich diese ‚Gesichter‘ nur zeigen würden, „wenn sie gelesen werden“ (V, 46), womit sie ihnen in gewisser Weise literarischen Charakter attestiert. Sie erklärt in diesem Zusammenhang auch, dass Benjamin die „Gesichter der Gegenstände als mehrdeutige Texte“ (V, 47) gelesen und die „Dingwelt“ (V, 46) so „in literarische Texte“ (V, 47) verwandelt habe. Entsprechend geht sie davon aus, dass die ‚Gesichter‘ der Umwelt einer

74 Ebda, S.4. 75 Ebda. 76 Ebda, S. 6f. 77 Zur Mensch-Tier-Dichotomie vgl. auch: Julia Bodenburg: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Freiburg i. Br., , Wien: Rombach 2012. (=Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae. 183.) 78 Tawada zitiert im Text: „Unordentliches Kind. Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder ge- fangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm ei- ne einzige Sammlung aus. An ihm zeigt diese Leidenschaft ihr wahres Gesicht, den strengen indianischen Blick, der in den Antiquaren, Forschern, Büchernarren nur noch getrübt und manisch weiterbrennt. Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert; zwischen Geistern und Dingen verstreichen ihm die Jahre, in denen sein Gesichtsfeld frei von Menschen bleibt. Es geht ihm wie in Träumen: es kennt nichts Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, begegnet ihm, stößt ihm zu. Seine Nomadenjahre sind Stunden im Traumwald.“ (Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. IV. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 115; zit. nach: Tawada, Verwandlungen, S. 45f.) 26

„ganz anderen Wahrnehmung“ (V, 47) von Seiten der Betrachter bedürfen, um überhaupt Sichtbarkeit erlangen zu können. Dies erklärt sie ebenfalls mit Benjamin und erwähnt hierzu die von ihm geprägte Bezeichnung „Physiognomiker der Dingwelt“ (V, 46), mit welcher er Menschen bezeichnet habe, „die sich wie besessen damit beschäftigen, bestimmte Gegenstän- de zu sammeln und deren Gesichter zu lesen. “ (V, 46) Im Gegensatz zum traditionellen Phy- siognomie-Konzept nach Johann Caspar Lavater, in welchem das Äußere als „Ausdruck einer ‚inneren Wahrheit‘“ (V, 47) verstanden wird, stehe bei Benjamin also die Oberfläche selbst im Fokus der Betrachtung (vgl. V, 47).79 Wenn der bewusste Blick auf die Oberfläche der Dinge eine Voraussetzung für das Er- scheinen ihrer ‚Gesichter‘ ist, bedeutet dies allerdings auch ihre Flüchtigkeit. Nur solange die Gegenstände betrachtet werden, sind ihre ‚Gesichter‘ präsent.80 Wie der Begriff ‚Gesicht‘ selbst wird so auch jede gewohnte Sichtweise auf die außersprachlichen Referenzobjekte als relativ dekonstruiert. Hängt das, was man an den Gegenständen wahrnimmt, nämlich vom Blickwinkel oder der Art der Betrachtung ab, entpuppt sich die Möglichkeit einer eindeutigen und konstant zutreffenden Klassifikation der Dinge als unhaltbare und vor allem simplifizie- rende Fiktion, die dem eigentlich dynamischen und dadurch vieldeutigen Charakter der Er- scheinungen nicht Rechnung trägt. Durch den Verweis auf das alternative ‚Gesichts‘-Konzept stellt Tawada somit die üblichen Verbindungen zwischen Denken, Sprache und Wirklichkeit infrage. Die arbiträre Beziehung zwischen den sprachlichen Ausdrücken und den mit ihnen ver- bundenen Wirklichkeitskonzepten demonstriert die Autorin in weiterer Folge anhand ver- schiedener Beispiele, welche sowohl exemplarische Sprachreflexionen wie auch Literaturin- terpretationen und theoretische Überlegungen umfassen. So macht sie z.B. die Oberfläche des Wortes ‚Gesicht‘ selbst nutzbar, um dieses aus seinem üblichen Sinnzusammenhang zu lösen: Ein Gesicht, ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, ein Gefühl. Seltsam erschienen mir schon im- mer die deutschen Wörter, die sinnliche Wahrnehmungen bezeichnen. Das Gehör ist die Fähigkeit zu hören, während mit dem Geruch nicht etwa die Fähigkeit zu riechen, sondern der gerochene Duft ge- meint ist. […] Wenn das Gerochene der Geruch heißt und das Geschmeckte der Geschmack, könnte das Gesehene das ‚Gesicht‘ heißen. Das, was ich an den anderen Menschen sehe, bezeichne ich als Gesicht. Es geht beim Gesicht also nicht um einen anatomisch fixierten Körperteil, denn man kann ein Gesicht auch auf einer Hand sehen oder in einer Handschrift oder in einer Kopfbewegung. (V, 48)

79 In Spielzeug und Sprachmagie schreibt Tawada hierzu auch: „Benjamin spielt ein Spiel, in dem die Täuschung kein Fehler, sondern eine Methode der Wahrnehmung ist. Die Oberfläche eines Gesichts wird oft […] als Täu- schung verstanden. Das Gesicht einer Person zu lesen bedeutet meistens, enthüllen zu können, was sich hinter dieser Oberfläche verbirgt. Die Oberfläche selbst lesen zu können ist eine besondere und ungewöhnliche Fähig- keit.“ (Tawada, Spielzeug und Sprachmagie, S. 166f.) 80 Vgl. hierzu auch: Ebda. 27

Für die Auseinandersetzung mit dem Wort ‚Gesicht‘ zieht Tawada in diesem Zitat Begriffe bzw. Begriffspaare heran, die auf sinnliche Wahrnehmungen verweisen.81 Durch den para- digmatischen Vergleich zwischen Substantiven und substantivierten Verbalformen identifi- ziert sie hierbei eine uneinheitliche Zuordnung von Ausdruck und Inhalt, da die Bedeutungen der formal korrespondierten Wörter teils den Prozess des Wahrnehmens und teils das in die- sem Prozess Wahrgenommene bezeichnen. Die Beziehung zwischen der Sprache und den Phänomenen der Wirklichkeit wird damit als uneinheitlich vorgeführt. Dies erlaubt es Ta- wada, eine auf der Logik des Paradigmas beruhende andere Interpretation des Begriffs anzu- bieten, die seiner konventionellen Verwendung ebenfalls entgegensteht. Ähnliches trifft auch auf folgende Feststellung zu: Als ich inmitten des Wortes „Gesicht“ das Wort „ich“ entdeckte, kam ich auf die Idee, daß das Gesicht die Perfektform des Verbs „ich“ sein könnte: „Ich habe es gesicht.“ Was könnte dieser Satz bedeuten? Was mein Gesicht betrifft, habe ich noch nichts vollzogen, was ich in der Perfektform erzählen könnte. Ich habe mein Gesicht noch nicht fertig geschrieben. Vor allem habe ich mein Gesicht noch nicht ein- mal gesehen, sondern nur sein Spiegelbild. (V, 50) Der Blick auf die materielle Oberfläche des Wortes ‚Gesicht‘ offenbart auch hier eine Alter- native für dessen Interpretation. Diese bringt Tawada dazu, sich Gedanken über die Möglich- keiten und Grenzen der Selbstwahrnehmung zu machen. Indem die Autorin den Begriff als eine Vergangenheitsform von ‚sehen‘ liest, wird ihr nämlich bewusst, wie eingeschränkt der individuelle Zugang zum eigenen Gesicht letztlich ist. Dieser Problematik widmet sie sich in der Folge mithilfe einer Passage aus einem ihrer eigenen Texte, d.h. sie bringt erneut ihr literarisches Schaffen in die Vorlesung ein. In dieser aus der Erzählung Ges-ICH-ter stammenden Textstelle spricht ein Ich ebenfalls darüber, nicht zu wissen, wie sein Gesicht von außen aussieht.82 Es erklärt allerdings, dass es das Innere sei- nes Gesichts „schon oft gesehen“83 habe und widmet sich daraufhin der Beschreibung dieser Innenansicht84. Spannend daran ist, dass es sich hierbei um eine Art der Darstellung handelt, in der zur Gänze auf die Verwendung üblicher Assoziationen mit dem ‚Gesichts‘-Begriff ver- zichtet wird. Anstatt z.B. Wörter zu verwenden, die mit dem Aussehen oder dem Körper in Verbindung stehen, inszeniert Tawada das Gesicht in diesem Text als eine Landschaft, die frei von menschlichen Einflüssen ist85. Ebenso stellt sie die Vorherrschaft des Visuellen86 infrage,

81 Zum traditionellen Fünf-Sinn-Schema vgl. etwa: Eckart Scheerer: Sinne, die. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‚Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‘ von Rudolf Eisler. Bd. 9. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel: Schwabe & Co. 1995, Sp. 824-869. 82 Vgl. Yoko Tawada: Ges-ICH-ter. In: Y.T.: Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 1997, S. 45ff.; zit. nach: Tawada, Verwandlungen, S. 50f. 83 Ebda. 84 Vgl. ebda. 85 Vgl. ebda 28

indem sie etwa auf die Potentiale der haptischen Wahrnehmung verweist.87 In ihrer Vorlesung gelingt es ihr somit auch auf diesem Wege, auf konventionelle Betrachtungsweisen aufmerk- sam zu machen und diese als relativ vorzuführen. Auf die Eigenschaften und Probleme von Eigen- und Fremdwahrnehmung geht Tawada zudem noch anderweitig ein. Sie schreibt z.B.: Gesichter sind überall, dennoch kann man ein Gesicht oft gar nicht erkennen. Es ist zum Beispiel schwer, das Gesicht des Gesprächspartners wirklich zu ‚sehen‘. In seinen Augen sehe ich meinen eige- nen Gesichtsausdruck widergespiegelt: meine Unruhe, Schüchternheit, Trotzigkeit, Unlust, Menschen- scheu usw. Bei diesem Anblick überkommt mich eine Peinlichkeit, wie man sie beim Hören der eigenen Stimme aus einem Tonband empfindet, und ich muß sofort wegschauen. Es ist deshalb unerträglich, in die Augen des Gesprächspartners zu sehen. (V, 48) Dass es keine unverstellte Sicht auf die Welt gibt und die Eindrücke, die durch Wahrnehmung entstehen, niemals (zur Gänze) objektiv sind, veranschaulicht Tawada hier erneut mithilfe des Themas ‚Spiegelbild‘, wobei sie in diesem Fall „die Augen der Gesprächspartner“ (V, 48) als Reflektoren definiert. Im Gegensatz zum vorherigen Beispiel stellt sie die Abbildungen, die diese erzeugen, nun allerdings nicht nur als indirekt dar, sondern bezeichnet sie gar als „uner- träglich“ (V, 48). Hierbei könnte es sich möglicherweise um eine Inszenierung des Spiegels handeln, die auf dessen symbolischer Bedeutung beruht. In der Philosophie oder der Literatur- theorie wird er nämlich häufig als ein Symbol für die Selbsterkenntnis ebenso wie für die Ei- telkeit verstanden88, was das von der Autorin beschriebene negative Gefühl erklären könnte, welches die Betrachtung des eigenen Spiegelbilds in ihr hervorruft. Passend dazu liefert Tawada in der Folge auch ein Beispiel aus der Literatur. Sie bezieht sich hierzu auf die Bearbeitung des Sagenstoffes von Narziß und Echo in Ovids Metamorpho- sen, da sie in dieser beide Hauptfiguren „mit dem Identischen“ (V, 49) in Verbindung setzt. So würde Narziß darin etwa, „das Spiegelbild [begehren], das die Wiederholung seines eige- nen Körpers ist“ (V, 49). Die „Ausweglosigkeit dieses Eigensinns“ (V, 49), d.h. die Unfähig- keit sich auf etwas oder jemand anderes als sich selbst zu konzentrieren, würde ihm allerdings letztlich zum Verhängnis werden und dazu führen, dass er sich „in eine stumme Blume“ (V, 50) verwandelt. (vgl. V, 50) Das Glück der eigentlich unsichtbaren Echo scheitert, laut Ta- wada, dagegen daran, dass ihr Narziß seinen Blick verweigert (vgl. V, 49): „Sie hätte durch den Blick eines Geliebten sichtbare Gestalt erlangen können. Statt dessen [!] wird sie von die- sem abgelehnt und körperlos.“ (V, 49) Letztlich „überlebt sie als eine Stimme“ (V, 49), die al- lerdings „nur das, was eine andere Stimme gesagt hat, wiederholen kann“ (V, 49), d.h. sie

86 Vgl. etwa: Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike zum Cyberspace. München: C.H. Beck 2000, S. 75. 87 Vgl. Tawada, Ges-ICH-ter, S. 46; zit. nach: Tawada, Verwandlungen, S. 51. 88 Vgl. Almut-Barbara Renger: Spiegel. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2008, S. 357. 29

wird in gewisser Weise zum Spiegel ihrer Umwelt. Tawada weist allerdings darauf hin, dass sie sich im Gegensatz zu Narziß ein gewisses Maß an Artikulationsfähigkeit erhält: „Echo ge- lingt es, eine kleine Verschiebung in die Wiederholung einzufügen und so den Sinn zu verän- dern.“ (V, 49) Als ein Beispiel hierfür gibt die Autorin den Satz „Eher will ich sterben als dir gehören“89 an, aus dem Echo nur „dir gehören“90 macht und so „die Bedeutung der Aussage um[…]dreht“ (V, 50). Letztlich verfügen allerdings dennoch beide Figuren über einen einge- schränkten Zugang zur Welt, welcher in Tawadas Interpretation des Sagenstoffes klar ein Re- sultat ihrer Verbindung zum Motiv des Spiegels ist. Zur Verwandlung von Echo bietet die Autorin zudem noch eine weitere Interpretations- möglichkeit an, die hier ebenfalls erwähnt werden soll: Es geht bei der Verwandlung Echos nicht um eine körperliche Veränderung, sondern eher um die Ent- stehung der Bedeutung von Echo, wie wir sie heute kennen. Sie verwandelt sich in einen Begriff und wird auf diese Weise körperlos. (V, 49) Damit spielt Tawada auf die bereits behandelte Thematik von Form und Inhalt an. Echo wird in dieser Sichtweise nämlich dadurch körperlos, dass ihre Bedeutung festgeschrieben wird, d.h. dass sie durch die inhaltliche Festlegung an Materialität verliert. Der Wunsch nach Sinn- haftigkeit und Definition verdrängt so auch in diesem Beispiel den Blick für die eigentliche Beschaffenheit der Dinge bzw. den eigentlichen Charakter des Individuums. Außerdem sei an dieser Stelle kurz auf die Verwendung des Personalpronomens ‚wir‘ im Zitat hingewiesen. Im Gegensatz zu Schrift einer Schildkröte, in welchem Tawada das Pro- nomen verwendet hat, um sich als Teil der japanischen Gesellschaft auszuweisen und sich so von ihrer deutschsprachigen Hörern/Lesern abzugrenzen, setzt sie es in dieser Textstelle näm- lich ein, um eine Verbindung zu ebendiesen herzustellen. Sie definiert sich hier also als eine Sprecherin der deutschen Sprache. Dies veranschaulicht noch einmal deutlich, dass es sich bei den Positionierungen ihrer eigenen Person in den unterschiedlichen Vorlesungen um bewusste Gestaltungsentscheidungen handelt. Durch den gezielten Einsatz des ‚wir‘ - im Gegensatz zum zunächst abgrenzend verwendeten ‚ich‘ – führt sie zudem erneut vor, dass die Definitio- nen nicht notwendigerweise so exklusiv und festgelegt sind, wie es häufig scheint. 91 Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Fremdwahrnehmung‘ verbindet Tawada

89 Ovid: Metamorphosen. München: Goldmann 1981, S. 71; zit. nach Tawada, Verwandlungen, S. 50. 90 Ebda. 91 Auf diese Weise setzt Tawada das Pronomen ‚wir‘ auch in einer anderen Passage der Vorlesung ein. Dort schreibt sie: „Im Unterschied zu den ‚Metamorphosen‘ erfahren wir in Kafkas ‚Verwandlung‘ nie, warum Gre- gor Samsa sich verwandelt.“ (V, 56). Erneut stellt sie sich mit ihren Hörern/Lesern damit auf eine Stufe und ver- zichtet auf eine herkunftsbedingte Abgrenzung von diesen. Die Literatur fungiert hierbei als das verbindende Element. 30

das textdominierende Leitmotiv des ‚Gesichts‘ außerdem mit einer Reflexion über kulturelle Stereotype: Man kann das Thema des Gesichts kaum umgehen, wenn man sich mit der Fremdheit beschäftigt. Rei- sende bekommen von den Einheimischen deshalb so viele Masken aufs Gesicht gedrückt, weil sie sonst unsichtbar bleiben. […] Die Erwartungen der Betrachter erzeugen Masken und die wachsen ins Fleisch der Fremden hinein. So werden stets die Blicke der anderen ins eigene Gesicht eingeschrieben. Ein Ge- sicht kann mehrere Schichten erhalten. Vielleicht kann man ein Gesicht wie einen Reisebericht umblät- tern. (V, 52f.) Die Mechanismen, die bei Wahrnehmung Fremder wirksam werden, stellt die Autorin hier analog zum bereits erwähnten traditionellen Physiognomie-Konzept (vgl. V, 47) dar. Reisen- de werden, wie sie in diesem Zitat festhält, z.B. nicht hinsichtlich ihrer spezifischen und v.a. individuellen Persönlichkeitsmerkmale aufgenommen, sondern sie bekommen (sinnbildlich gesprochen) „Masken aufs Gesicht gedrückt“ (V, 52f.), d.h. ihnen werden, basierend auf ihrer Herkunft und den damit verbundenen gesellschaftlichen Generalisierungen, bestimmte (Cha- rakter-)Eigenschaften zugeschrieben.92 Dass es sich bei diesen, wie bei allen kulturell ge- wachsenen Interpretationen der Wirklichkeit, um Fiktionen handelt, illustriert Tawada hierbei v.a. durch ihren Verweis auf die Literatur. Wenn ein Gesicht „wie ein Reisebericht“ (V, 53) umgeblättert werden kann, ist es nämlich letztlich auch eine Art literarisches Werk und somit von jemandem verfasst und nicht von sich aus in einer gewissen Form vorhanden. Zudem verweist die Autorin mit ihrer Aussage über die „mehreren Schichten“ (V, 53), die ein Ge- sicht erhalten kann, hier ganz konkret auf seine Veränderbarkeit, wodurch sie noch zusätzlich die Möglichkeit stets zutreffender Festlegungen negiert. Um die Wirkung kultureller Zuschreibung noch weiter zu illustrieren, geht Tawada in der Folge auf das Thema ‚Fotografie‘ ein. In diesem Zusammenhang bezieht sie sich u.a. auf Ro- land Barthes und schreibt, dass dieser in einem seiner Werke darauf hingewiesen habe, dass die fotografische Darstellung von Menschen in unterschiedlichen Kulturen variiert. (vgl. V, 53) Zur exemplarischen Veranschaulichung dieser These erwähnt die Autorin den Kontrast zwischen amerikanischen und deutschen Autorenfotos: In US-amerikanischen Büchern wird ein Autor oft als ein normaler Mensch dargestellt: als einer, der auch ein Nachbar des Lesers sein kann. Hingegen wird das Gesicht eines deutschen Autors im Foto wie eine historische Mauer dargestellt, die man nicht durchbrechen kann, weil sie nicht mehr existiert. [….] Auf einem Autorenfoto verkörpert das Gesicht die Vorstellung von Autorschaft, wie sie in einer spezifi- schen Kultur hervorgebracht wird. Insofern werden Gesichter geschrieben und nicht abgebildet. (V, 54)

92 Um dies noch besser zu veranschaulichen gibt Tawada auch ein Textbeispiel aus ihrer Erzählung Das Bad an, in welchem eine Ich-Erzählerin nach langer Reise nach Japan zurückkehrt und von ihrer Mutter auf ihr veränder- tes Aussehen hingewiesen wird. Die Autorin zitiert aus ihrem eigenen Text: „‘Warum hast du so ein asiatisches Gesicht bekommen?‘ Die Ich-Erzählerin antwortet: ‚Du redest Unsinn, Mutter. Das ist doch selbstverständlich. Ich bin eine Asiatin.‘ Darauf sagt die Mutter: ‚So habe ich das nicht gemein. Du hast ein fremdes Gesicht be- kommen; wie die Japaner, die in amerikanischen Filmen auftreten.‘“(Yoko Tawada: Das Bad. Tübingen: kon- kursbuch Claudia Gehrke 1989, Kap. 8; zit. nach Tawada, Verwandlungen, S. 53.) 31

Wie bereits zuvor wird durch die Wahl des Themas ‚Autorschaft‘ auch in diesem Zitat ein Bezug zur Literatur hergestellt. Diesen verstärkt Tawada noch, indem sie davon spricht, dass „Gesichter geschrieben [werden]“ (V, 54) und weist so erneut auf die enge Verbindung zwi- schen fiktionaler Darstellung und Weltwahrnehmung hin. Mithilfe von literarischen Bezügen und theoretischen Überlegungen stellt die Autorin hier somit ebenfalls konventionelle Wirk- lichkeitskonzeptionen infrage und führt herkunfts- und kulturbedingte Abgrenzung dadurch in ihrer Relativität vor.

2.4.2 Das Problem der Verwandlung: Tawadas Ausführungen zu den Potentialen einer Po- sition des ‚Dazwischen‘ Die bisher präsentierten Relativitätsthematisierungen beeinflussen auch die formale Gestal- tung der Vorlesung in entscheidender Weise. Neben der bereits beschriebenen Verwendung des Personalpronomens ‚wir‘ zeigt sich dies vor allem am Einsatz und der Verteilung des Pronomens ‚ich‘. Dieses kommt im Laufe des etwa 16 Seiten langen Vorlesungstextes um die dreißig Mal vor, wobei sich bereits 24 dieser Erwähnungen auf den ersten sechs Seiten befin- den. Danach wird es immer seltener verwendet. Auf den letzten sechs Seiten findet es sich etwa nur noch zweimal. Dies könnte möglichweise mit der fortschreitenden Auseinanderset- zung mit der Vorlesungsthematik zusammenhängen. Während Tawada das ‚ich‘-Pronomen nämlich zu Beginn noch einsetzt, um eine Kontrastposition zu ihren deutschsprachigen Lesern bzw. Hörern zu generieren, macht sie im weiteren Verlauf der Vorlesung auf verschiedenste Arten deutlich, dass derartige Kategorien und Abgrenzungen kulturell gemacht und daher re- lativ sind. Der Verzicht auf eine spezifische Positionierung ihrer Person wäre deshalb eine lo- gische Konsequenz aus den von ihr geschilderten Erkenntnissen, da durch diese die Integrität jeglicher Identitätszuordnungen in Frage gestellt wird. Daneben finden sich in Gesicht eines Fisches, im Gegensatz zu den beiden vorhergehen- den Vorlesungen, verhältnismäßig viele Fragesätze. Bereits der einleitende Satz, „Wo beginnt das Gesicht eines Fisches?“ (V, 45), ist z.B. als Frage formuliert. Die Antworten, die sich Ta- wada auf diese Fragen selbst gibt, inszeniert sie hierbei zumeist als persönliche Überlegungen oder Mutmaßungen, welche häufig Verben im Konjunktiv wie „könnte“ (vgl. V, 50) oder „wäre“ (vgl. V, 56) (z.B. im Falle von „Wenn das Gerochene der Geruch heißt […], könnte das Gesehene das ‚Gesicht‘ heißen.“ (V, 48)), Negations- oder Kommentarpartikel wie „nie“ (vgl. V, 45) oder „vielleicht“ (vgl. V, 56) (z.B. „Ich wäre nie darauf gekommen, daß ein Fisch kein Gesicht haben könnte.“ (V, 45)) oder Variationen der Phrase „Bei dieser Frage fällt mir […] ein“ (V, 49) (z.B. „Hat die Stimme ein Gesicht? Bei dieser Frage fällt mir eine Verwand- lungsgeschichte aus den ‚Metamorphosen‘ von Ovid ein.“ (V, 49)) enthalten. Damit setzt Ta-

32

wada im Text ihrer Dritten Tübinger Poetik-Vorlesung wesentlich stärker auf Formulierungen der Möglichkeit und verweist so nachdrücklich auf die Subjektivität der geschilderten Be- obachtungen und im Zuge dessen ebenso auf die Relativität persönlicher Wirklichkeitskon- zeptionen und Denkweisen. Inhaltlich wendet sich die Autorin in der zweiten Hälfte ihrer Vorlesung dem Motiv der Verwandlung zu, welches in ihrem Oeuvre auch insgesamt einen wichtigen Stellenwert ein- nimmt. Laut Dieter Heimböckel nutzt sie es in diesem, um „das Gewohnte fremd zu machen und Konzepte der Reinheit […] als trügerisch zu entlarven“93. Auch in Gesicht eines Fisches setzt sie es daher ein, um die scheinbare Eindeutigkeit von Definitionen und dichotomischen Abgrenzungen zu dekonstruieren. Hierzu wendet sie sich zunächst den Ursprüngen des Motivs zu. So schreibt sie etwa, dass die Vorstellung von der Verwandelbarkeit der Objekte „aus der Erinnerung an die Zeit [stammt], in der die Gestalten der Lebewesen und der Dinge noch nicht bestimmt waren“ (V, 54). Dies illustriert sie in der Folge, indem sie sich erneut auf ein Beispiel aus Ovids Meta- morphosen bezieht, in welchem es um den Akt der Schöpfung geht. (vgl. V, 54f.) Laut Ta- wada beginnt Ovids Version dieses Stoffes damit, dass die grundlegenden Elemente, wie Er- de, Wasser oder Luft, bereits vorhanden sind, sich allerdings noch im Chaos befinden. (vgl. V, 54) Erst das Eingreifen Gottes habe dieses beseitigt und zwar durch die Erzeugung von Begriffen: Gott habe dann die Welt dadurch geschaffen, daß er im Chaos Grenzen gesetzt habe. Seine Arbeit war durchaus eine sprachliche Leistung. Denn materiell kann man nicht die Gewässer von der Erde trennen, da in Gewässern immer etwas Erde ist und umgekehrt. Nur durch Begriffe kann man beides voneinan- der trennen und sagen, hier ist das Wasser und hier ist die Erde. Das Wort „Erde“ sagt nichts darüber, was die Erde eigentlich ist, sondern das Wort macht nur klar, daß die Erde kein Gewässer, kein Him- mel, keine Luft usw. ist. […] [D]as Buch der Metamorphosen macht […] darauf aufmerksam, daß die Definitionen fiktiv sind. (V, 55) Erneut verdeutlicht Tawada damit, dass die Welt nicht notwendigerweise und von sich aus so existiert, wie sie allgemein wahrgenommen und erlebt wird. Vielmehr ist sie, wie etwa auch Emil Angehrn schreibt, gerade deshalb „sprachlich erfassbar“94, weil sie „in gewisser Weise sprachlich verfasst ist“95. Die Übergänge zwischen den einzelnen Elementen und Objekten der Welt präsentieren sich dadurch als fließend. Sie können sich also in unterschiedlicher Weise entfalten, verändern und mit ihrer Umwelt interagieren, woraus sich für Tawada ihre Verwandlungsfähigkeit ergibt. (vgl. V, 55f.)

93 Heimböckel, Yoko Tawadas Beiträge zu einer interkulturellen Kritik der Sprache, S. 159. 94 Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. (= Philo- sophische Untersuchungen. 25.) S. 132. 95 Ebda. 33

Allerdings weist sie darauf hin, dass der Begriff der Verwandlung im Laufe der Zeit im- mer mehr an Bedeutung verloren habe. Mittlerweile sei er etwa vom „Modewort ‚Identitäts- verlust‘ […] in die Ecke gedrängt worden“ (V, 60). Das Wort ‚Identitätsverlust‘ ist hierbei klar negativ konnotiert, d.h. es impliziert, dass eine Identität, die sich nicht klar greifen oder festlegen lässt, notwendigerweise mit einem Gefühl von Unvollständigkeit verbunden sein muss. Es stellt somit die Möglichkeit und v.a. die Legitimität fluider Persönlichkeitsbilder in- frage. Dazu passend weist Tawada an anderer Stelle im Text darauf hin, dass es „in Deutsch- land meistens negativ bewertet [wird], wenn man mehrere Gesichter hat“ (V, 51). Daher wür- den auf Statuen oder Gemälden z.B. nur Figuren, die für das Böse stehen sollen, mit mehreren Köpfen dargestellt. (vgl. V, 51f.) Für die Autorin zeigt dagegen gerade „die Existenz mehrerer Gesichter […] die großartige Verwandlungskunst“ (V, 52). Um die Potentiale der Verwandlung aufzuzeigen und das Motiv in den Augen ihrer deutschsprachigen Hörer bzw. Leser zu rehabilitieren, bietet Tawada in weiterer Folge eine Reihe poetologischer und literaturhistorischer Analysebeispiele an, die sich mit seiner literari- schen Verwendungstradition auseinandersetzen. Immerhin sei es „seit der Antike – sei es der griechischen oder der chinesischen – eines der wichtigsten Motive der Literatur“ (V, 60). Dies veranschaulicht sie exemplarisch, indem sie z.B. Verwandlungsszenarien bei Ovid und Kafka ebenso wie in diversen Märchen erwähnt. Die ersten beiden nutzt sie in diesem Zusammen- hang, um anhand eines Textvergleichs Darstellungskonventionen und –unterschiede zu identi- fizieren und dadurch die dynamische Natur des Verwandlungsmotivs zu verdeutlichen (vgl. V, 55f.).96 Dies sei hier allerdings nur am Rande erwähnt. Bei der Betrachtung der Märchen auf der anderen Seite geht sie vor allem auf das in diesen häufig dargestellte Verhältnis zwi- schen Mensch und Tier ein und nimmt dieses zum Ausgangspunkt, um die Potentiale von Verwandlungsvorgängen zu illustrieren. Hierzu erwähnt sie zunächst „eine berühmte Verwandlungsgeschichte eines japanischen Schriftstellers aus dem 18. Jh.“ (V, 57), deren Handlungsmittelpunkt die temporäre Transfor- mation eines Mensch in ein Tier bildet. (vgl. V, 57f.) Die Geschichte, so Tawada, erzählt von einem Mönch und Maler, der immer nur Fische darstellt, bis sich eines Tages im Fieberwahn seine Seele von seinem Körper löst und sich ebenfalls in einen Fisch verwandelt. (vgl. V, 58) Als dieser allerdings gefangen und beinahe gekocht wird, erwacht der Maler wieder aus sei- nem ‚Traum‘ und rettet sich dadurch. (vgl. V, 58) Am Ende seines Lebens, so die Autorin,

96 Tawada weist hierzu etwa darauf hin, dass „[d]er Grund für die Verwandlung […] bei Ovid jedes Mal genannt [wird]“ (V, 56), was bei Kafka auf der anderen Seite nicht der Fall sei. In seiner Verwandlung erfährt der Leser etwa „nie, warum Gregor Samsa sich verwandelt“ (V, 56). „Das ungenannte Gesetzt bildet den leeren Mittel- punkt des Textes.“ (V, 56) D.h. die Inszenierung von Verwandlungsszenarien hat sich über die Zeit hinweg ver- ändert. 34

versenkt er all seine Zeichnungen im Biwa-See, welche sich dort von den Blättern lösen und als Fische lebendig werden. (vgl. V, 58) Im Gegensatz zur traditionellen Mensch-Tier-Dichotomie, in der das Tier als ein dem Menschen gegenüberstehenden „Mangelwesen“97 verstanden wird98, präsentieren sich die Grenzen zwischen beiden in dieser Erzählung als fließend und ohne Hierarchie. Stellenweise ist der Maler sogar zugleich Mensch und Tier, denn während sein durchaus menschlicher Körper im Krankenbett liegt, führt seine Seele in Gestalt eines Fisches ein Eigenleben. (vgl. V, 58) Dennoch sind beide untrennbar miteinander verbunden. Wäre der Fisch nämlich ge- kocht worden, so wäre, wie Tawada schreibt, auch der Maler gestorben. (vgl. V, 58) Dieser rettet wiederum den Fisch und sich selbst, indem er letztlich erwacht. (vgl. V, 58) Allerdings geht es Tawada in dieser Geschichte nicht nur um die Beziehung von Mensch und Tier, sondern auch um das in ihr präsentierte Verhältnis von Künstler und Modell, wel- ches sie zu folgender Überlegung bewegt: Ein Künstler kann sich durch eine leidenschaftliche Beschäftigung mit seiner Arbeit mit dem Modell identifizieren. Um das Werk zu produzieren, muß er jedoch gleichzeitig eine Distanz zu ihm gewinnen. Nachdem seine Arbeit abgeschlossen ist, ist auch die Möglichkeit zur Verwandlung ausgeschlossen. In der Wissenschaft muß die Arbeit durchgehend die Distanz zum Forschungsobjekt aufrechthalten. Ein Zoologe darf sich nicht in ein Tier verwandeln. Wie kann aber ein Wissenschaftler sicher sein, daß er sich nie verwandeln wird? Da inzwischen japanische Japanologen und afrikanische Ethnologen mitre- den dürfen, wäre es auch wünschenswert, wenn die Zoologie aus der Perspektive der Tiere erforscht werden könnte. (V, 58f.) In diesem Zitat identifiziert Tawada die Distanz zum Betrachtungs- bzw. Forschungsobjekt als eine (scheinbar) wichtige Voraussetzung für künstlerische Tätigkeiten und v.a. für die wis- senschaftliche Produktion. In der zuvor beschriebenen Geschichte über den japanischen Maler hat sich allerdings gerade die unmittelbare Nähe des Künstlers zu seinen Modellen als frucht- bringend für seine Arbeit erwiesen. Die Bilder des Malers, der zeitweilig die Perspektive ei- nes Fisches eingenommen hat, werden in ihr letztlich sogar lebendig, d.h. sie erhalten eine viel dynamischere und wirklichkeitsgetreuere Qualität. (vgl. V, 58) Dies inspiriert Tawada dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche potentiell produktiven Potentiale ein engeres Verhältnis zwischen Forscher und Forschungsgegenstand haben könnte und verweist dazu bespielhaft auf die wissenschaftlich Tätigkeit „japanischer Japanlogen“ (V, 58) und „af- rikanischer Ethnologen“ (V, 58), welche ebenfalls auf einer Perspektive beruht, in der Nähe und Distanz zusammenfließen. Außerdem spinnt sie den Gedanken sogar weiter und wendet sich in diesem Zusammenhang einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Mensch-Tier-

97 Bodenburg, Tier und Mensch, S. 9. 98 Vgl. ebda. 35

Verhältnis zu: Wie würde es aussehen, wenn Tiere in ihre eigene Erforschung eingebunden wären? (vgl. V, 59) Um dieses Thema genauer zu behandeln, zieht sie zwei Erzählung von Kafka als Beispie- le heran, in welchen dieser, laut ihr, „eine neue Form von Wissenschaft darstellt“ (V, 59), in welcher sich „[d]ie Forschungsobjekte […] in Forscher [verwandeln]“ (V, 59). In Forschun- gen eines Hundes und Ein Bericht für eine Akademie steht nämlich jeweils ein Tier im Mittel- punkt, das sich zwar nach und nach menschliche Eigenschaften und Artikulationsweisen an- geeignet, jedoch dennoch noch nicht gänzlich Abstand von den Erinnerungen an seine anima- lischen Ursprünge genommen hat (vgl. V, 59). Aus dieser Perspektive berichtet es dann über seine Erfahrungen in der Menschenwelt. (vgl. V, 59) Der Affe Rotpeter aus Ein Bericht für eine Akademie trägt etwa, wie Tawada schreibt, noch „Narben auf dem Leib – Erinnerungen an die Zeit, in der er noch wie ein Versuchsobjekt behandelt wurde. Deshalb kann der For- scher gewisse Eigenarten der Menschen nicht mit der nötigen Distanz betrachten […]“ (V, 59). Als ein Beispiel hierfür erwähnt die Autorin den Begriff ‚Freiheit‘ und führt aus, dass der Affe diesen als etwas viel Grundlegenderes versteht, als die meisten Menschen um ihn, näm- lich primär als einen Ausweg. (vgl. V, 59) Die Schilderungen des Affen erfolgen somit aus einer Position des Dazwischen. Er ist weder ganz Mensch noch völlig Tier, was sich auf seine Betrachtungen auswirkt. (vgl. V, 59f.) Analog zu den ‚Potentialen der Fremdheit‘ in Stimme eines Vogels beruhen sie nämlich auf einer ‚anderen‘ Wahrnehmung, welche es ihm z.T. ermöglicht, konventionelle Wirklich- keitskonzeptionen verfremdend darzustellen. (vgl. V, 59) Wie das Symbol des Vogels in der ersten Vorlesung setzt Tawada das Tier hier also als ein metaphorisches Objekt für die Ausei- nandersetzung mit dem dichotomischen Verhältnis von Eigenem und Fremdem ein und de- konstruiert dieses dadurch. Die Konklusio der Vorlesung korrespondiert daher in gewisser Weise ebenfalls mit jener in Stimme eines Vogels99: Poetische Verwandlungen bilden einen Raum zwischen der Sehnsucht nach einer tödlichen Verwand- lung in ein Tier und dem Entsetzen über die Verwandlung in einen Menschen. (V, 60) Durch die Wahl der negativ konnotierten Wörter „tödlich“ (V, 60) und „Entsetzen“ (V, 60) drückt Tawada hier noch einmal die Problematik von zu großer Eindeutigkeit und von zu strikten Abgrenzungen aus. Der Raum der Verwandlungen, d.h. jener des Dazwischen, er- scheint im Kontrast dazu wie ein Ort der Zuflucht und der Sicherheit. Die spezifische Art ih- rer poetologischen Inszenierungen erlaubt es Tawada somit auch in dieser Vorlesung, die Po- tentiale einer ‚anderen‘ Wahrnehmung sichtbar zu machen.

99 „Wer mit einer fremden Zunge spricht, ist ein Ornithologe und ein Vogel in einer Person.“ (V, 22) 36

3 U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa: Eine exemplarische Analyse von Tawadas literarischem Schaffen

3.1 Einführende Bemerkungen

Im vorhergehenden Großkapitel wurde anhand der Analyse von Tawadas Tübinger Poetik- Vorlesungen ein Einblick in die wichtigsten Aspekte und Ansätze ihres Denkens gegeben. Dabei hat sich u.a. gezeigt, dass ihre Poetologie weniger auf einer expliziten Auseinanderset- zung mit Literatur und Schreiben an sich beruht als auf einer produktiven Verschränkung von literarischen Beispielen und Interpretationsansätzen mit verschiedenen kulturtheoretischen Thematiken, aus welcher sich letztlich die Dekonstruktion stereotypischer Wahrnehmungs- weisen und Weltanschauungen ergibt. Da durch die so erfolgende Veranschaulichung der Re- lativität jeglicher Wirklichkeitskonzeptionen letztlich auch literarische Praktiken und Darstel- lungskonventionen in Frage gestellt werden, ist es nötig, im hier vorliegenden Großkapitel ei- nen Blick auf Tawadas literarisches Schaffen zu werfen und zu untersuchen, inwieweit und auf welche Weise sich die im zweiten Kapitel herausgearbeiteten Themen und Betrachtungs- ansätze potentiell auch auf ihre Art der Textgestaltung auswirken. Als exemplarischer Grundlagen-Text für eine derartige Analyse wurde die Erzählung U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa100 aus Tawadas 2007 erschienenen Band Sprachpolizei und Spielpolyglotte ausgewählt. Bei dieser handelt es sich, wie sich noch zeigen wird, um ei- nen methodisch wie thematisch sehr reichen Text, dem sich die Sekundärliteratur bisher nur wenig gewidmet hat. Der Fokus der Betrachtung wird hierbei auf der formalen Beschaffenheit der Erzählung liegen, wobei auch die Frage von Bedeutung ist, in welchem Verhältnis diese zur Handlung von U.S. + S.R. bzw. zu den darin präsentierten Inhalten steht: Inwieweit be- dingen Inhalt und Ausdruck sich gegenseitig und was ergibt sich daraus? Um eine möglichst aussagekräftige und kohärente Analyse gewährleisten zu können, muss der Text zunächst einer Erzähltextanalyse unterzogen werden. Da der Umfang der hier vorliegenden Arbeit beschränkt ist, wird diese sich allerdings nur jenen Gestaltungsaspekten widmen, die für die hier zu untersuchende Fragestellung auch wirklich relevant sind. Ein An- spruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Aufbauend hierauf erfolgt danach eine Be- schäftigung mit den gattungs- und genrespezifischen Besonderheiten der Erzählung. In Zu- sammenhang damit werden auch mögliche intertextuelle Bezüge – auf Anton Tschechow und Homi K. Bhabha – und deren Bedeutung für die Textgestaltung eine Rolle spielen.

100 Yoko Tawada: U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa. In: Y.T.: Sprachpolizei und Spielpolyglotte. 3. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2011, S. 124-153. (Im Folgenden im Text zitiert als: U, Seitenzahl) 37

3.2 Zur formalen Beschaffenheit von U.S. + S.R.: Versuch einer Erzähl- textanalyse101

3.2.1 Zu Inhalt und Aufbau: Eine erste Charakterisierung der Erzählung Bereits der Blick auf die Textoberfläche von U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa offen- bart erste Besonderheiten in der Gestaltung der Erzählung. Diese erstreckt sich über eine Län- ge von knapp dreißig Buchseiten (Größe A5) und ist in etwa 55, durch Leerzeilen voneinan- der getrennte Kurzabschnitte gegliedert, die hinsichtlich ihres Umfangs variieren. Sie können sich über ein bis zwei Seiten erstrecken (vgl. etwa U, 136f.), aber auch nur eine einzelne Zeile umfassen (vgl. etwa U, 124). Zudem fällt auf, dass sie sich z.T. stilistisch voneinander unter- scheiden. Neben einer Vielzahl von Textabschnitten, die in erzählender Prosa verfasst sind, überwiegt in einigen Passagen z.B. die Wiedergabe von Dialogen (vgl. etwa U, 133); andere Absätze sind wiederum als Aufzählungen gestaltet (vgl. etwa U, 129) oder Ähnliches. Inhaltlich handelt es sich bei U.S. + S.R. um eine Art Reisebericht, in dem ein zunächst nicht näher definiertes, in der Ich-Perspektive sprechendes Erzählmedium von seinen beiden Reisen auf die zwischen Russland und Japan liegende102 Insel Sachalin und nach New York berichtet (vgl. U, 130). Die Erzählfigur stellt sich hierbei im Verlauf der Handlung als eine aus Sapporo stammende Japanerin (vgl. U, 130) mittleren Alters103 heraus, welche, wie für viele von Tawadas Protagonistinnen üblich104, akademisch gebildet (vgl. U, 125f.), literarisch bewandert (vgl. U, 140) und ethnologisch interessiert (vgl. U, 141) ist. Damit teilt sie auch viele Charakteristika und Eigenschaften mit Tawada selbst.105 Durch den Verweis auf Sap- poro als ihren Heimatort wird allerdings eine klare Differenz zwischen der Erzählerin und der aus Tokio stammenden Autorin106 hergestellt. Im Gegensatz zu den Poetikvorlesungen, in de-

101 Als eine Textgrundlage für die folgende Analyse dient die Einführung in die Erzähltheorie von Martinez und Scheffel: Vgl. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München: C.H. Beck 2009. (Im Folgenden im Text zitiert als: MS, Seitenzahl) 102 Vgl. hierzu auch: Dittmar Dahlmann: Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn [u.a.]: Ferdinand Schöningh 2009, S. 164. 103 Das ungefähre Alter der Erzählerin lässt sich durch einen Verweis auf ihre Studienzeit rekonstruieren, wäh- rend welcher, wie es heißt, „die USA und ihre Kumpane die Olympiade in Moskau [boykottierten]“ (U, 126). Dieser Boykott fand im Jahre 1980 statt (Vgl. hierzu etwa: Leo Wieland: Als es reichlich Fleisch in Moskau gab. Olympiaboykott von 1980. In: FAZ vom 19.03.2008. URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/china- spezial/olympia-und-politik/olympiaboykott-von-1980-als-es-reichlich-fleisch-in-moskau-gab-1513148.html [14.08.2015].), d.h. die Erzählerin muss damals bereits um die 20 Jahre alt gewesen sein. Da sie an anderer Stelle im Text erwähnt, im Jahr 2004 in den USA gewesen zu sein (vgl. U, 131), bedeutet dies, dass sie sich zum Zeit- punkt ihrer Erzählung zumindest in ihren Vierzigern befinden muss. 104 Vgl. hierzu etwa: Ivanovic; Matsunaga, Tawada von zwei Seiten, S. 119. 105 Vgl. Albrecht Kloepfer, Miho Matsunaga: Yoko Tawada – Essay. In: KLG Online. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München, Stuttgart: Richard Boorberg 2007. (= edition text + kritik.) Zuletzt geändert am 01.08. 2007. URL: http://www.nachschlage.net/search/klg/Yoko+Tawada/559.html [14.08.2015]. 106 Vgl. Albrecht Kloepfer, Miho Matsunaga: Yoko Tawada – Biogramm. In: KLG Online. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München, Stuttgart: Richard Boorberg 2006. (= edition text + kritik.) Zuletzt geändert am 01.03.2006. URL: http://www.nachschlage.net/search/klg/Yoko+Tawada/559.html [14.08.2015]. 38

nen Tawada immer wieder autobiografische Äußerungen eingesetzt hat, um ihre Erläuterun- gen zu untermauern, wird U.S. + S.R. somit als eine der Intention nach fiktionale Erzählung ausgewiesen. Welche Erlebnisse und Details erfunden und welche potentiell autobiographisch sind, spielt für die Untersuchung des Textes daher eigentlich keine Rolle. Was die Handlung von U.S. + S.R. betrifft, lässt sich diese grob in drei Teile gliedern: die Schiffreise nach Sachalin, die Ereignisse auf Sachalin und die Erlebnisse in New York. Die Schilderungen dieser Reisen erfolgen jedoch nicht immer chronologisch. Wiederholt springt die Erzählerin zwischen Zeitebenen und Schauplätzen hin und her. Teilweise scheinen sich diese, wie noch gezeigt werden wird, sogar zu überlappen. Vor allem beim ersten Lesen des Textes bleibt dadurch lange unklar, in welchem zeitlichen Verhältnis die Reisen zueinander stehen. Erst nach und nach kristallisiert sich heraus, dass die Sachalin-Tour jener nach New York vorausgeht. Relativ spät im Text wird dies schließlich durch die Formulierung „Sechs Wochen nach meiner Sachalin-Reise“ (U, 147) explizit ausgedrückt. Zudem unterbrechen De- ja-vu-artige Erinnerungspassagen, die sich zumeist auf die Kindheit und Studienzeit der Er- zählerin beziehen, die Geschehensabfolge immer wieder. (vgl. etwa U, 125f.) Gleiches gilt für eine Vielzahl reflexiver Passagen. Die folgenden beiden Unterkapitel widmen sich der nähe- ren Betrachtung dieser Gestaltungsmerkmale.

3.2.2 Zu Chronologie und Zeitgestaltung: Eine exemplarische Analyse U.S. + S.R. beginnt zunächst mit der Beschreibung der Schiffreise, welche die Erzählerin nach Sachalin führt. Diese macht vor allem auf den ersten sieben Seiten des Textes den Kern der Erzählung aus. Die Erzählerin berichtet von den Eindrücken und Erlebnissen, die ihre Überfahrt auf die Insel prägen. Dies schließt sowohl Beschreibungen von Kontaktsituationen mit ihren Mitreisenden ein (vgl. etwa U, 125f.) wie auch eine Reihe allgemeiner Überlegun- gen über Sprache und Reiseerfahrungen, auf die unter Punkt 3.2.3 noch genauer eingegangen wird. Der Leser bzw. die Leserin weiß dabei lange nicht, in welche Richtung sich das Schiff genau bewegt. Zwar erwähnt die Erzählerin einmal kurz, dass sie von einem Bekannten eine Liste „von den Namen der Schiffe, mit denen die Japaner nach dem Zweiten Weltkrieg aus Sachalin zurückkamen“ (U, 125), bekommen habe, erst auf Seite 130 (d.h. auf der siebten Sei- te des Textes) wird Sachalin aber konkret als Reiseziel definiert. (vgl. U, 130) Außerdem tauchen bereits in diesem Erzählungsteil erste Inkonsistenzen in der Gestal- tung der Zeitstruktur auf. Zum Beispiel leitet die Ich-Erzählerin ihre Schilderungen mit einem Satz über das feierliche Gefühl ein, das sich allgemein einstellt, wenn man von Bord eines Schiffes geht (vgl. U, 124) und beschreibt gleich darauf, wie sie ein (zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen undefiniertes) Schiff verlässt: „Ich balanciere auf der Zunge, die das Schiff 39

gegen das Festland ausgestreckt hat.“ (U, 124) Auf der nächsten Seite befindet sie sich aller- dings plötzlich erst (oder wieder?) an Bord des Schiffes: Auf dem Schiff gibt es Aufenthaltsräume, die mit japanischen Strohmatten, Tatami, belegt sind. In den anderen Räumen stehen Plastikstühle. Ich ziehe meine Schuhe aus, setze mich zwischen die Frauen, die bereits auf dem Tatamiboden Platz genommen und ihre Beine in die Wolldecken eingewickelt haben. (U, 125) Der Leser bzw. die Leserin wird von der Erzählerin in keinster Weise auf diesen offenbaren Sprung in die unmittelbare Vergangenheit vorbereitet. Auch im Nachhinein wird keine Erklä- rung hierzu abgegeben. Die auf den nächsten Seiten beschriebene Handlung spielt sich ab diesem Zeitpunkt aber auf dem Schiff ab. (vgl. U, 125-130) Erst auf Seite 131 folgt eine er- neute, diesmal jedoch chronologisch nachvollziehbare Erwähnung des Von-Bord-Gehens. (vgl. U, 131) Ähnliches gilt für eine etwas später folgende Textstelle, in der die Erzählerin zunächst be- schreibt, wie sie an Deck des Schiffes zwei Mädchen beobachtet, eines der Mädchen und sich selbst aber schon wenige Sätze später in den Aufenthaltsraum unter Deck platziert: Zwei Mal gehe ich auf Deck und sehe dort zwei Mädchen, die auf das Meer schauen. […] Sie sehen schlecht gelaunt aus, brechen aber oft plötzlich in ein Lachen aus. Eines der Mädchen kommt einmal in unseren Raum hinein und spricht die Frau auf Russisch an, die mir Shiroi-Koibito schenkte. [usw.] (U, 128f.) Die Schilderungen gehen dann im Raum unter Deck weiter. Das Ausmaß des hier getätigten Zeitsprunges ist nicht festzustellen. Nur die Tatsache, dass die Erzählerin das Mädchen bei ih- rem Aufeinandertreffen im Aufenthaltsraum schon zu kennen scheint, weist auf eine gewisse chronologische Zeitabfolge hin. An der grammatischen Zeitform, die verwendet wird, ändert sich allerdings nichts. Sowohl die Beobachtungen an Deck wie auch jene darunter sind im Präsens geschildert und gehen dadurch nahtlos ineinander über. Einzig die Verwendung des Temporaladverbs ‚einmal‘ gibt Hinweis auf eine zeitliche Differenz zwischen den beiden Er- eignissen. Generell ist die Erzählung, wie sich auch in weiterer Folge zeigen wird, zum Großteil im Präsens gehalten. Das Präteritum wird zumeist nur eingesetzt, um weiter zurückliegende Er- eignisse bzw. Erinnerungssequenzen zu beschreiben. Auf dem Schiff ist die Erzählerin etwa fasziniert vom Klang des Russischen, das einige Mitreisende sprechen, was in ihr eine Remi- niszenz an ihre Studienzeit auslöst: Einige russische Konsonanten, die den Frauen aus dem Mund kamen, hörten sich an wie der Flügel- schlag eines im Wasser ertrinkenden Käfers. Früher versuchte ich eifrig, solche Konsonanten auszu- sprechen. Ich war damals eine magere Studentin mit heißen Füßen, die auch im Winter Sandalen ohne Strümpfe trug. An jenem Tag in saß vor mir ein blasser Russe im Anzug. [usw.] (U, 125f.) Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Zeitsprüngen präsentiert sich die Distinktion zwi- schen erzählter Gegenwart und Vergangenheit in dieser Textstelle als klar markiert. Die

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Erzählerin verwendet zu diesem Zweck sowohl das Präteritum wie auch eine gehäufte Anzahl von Temporaladverben und –phrasen wie ‚früher‘, ‚damals‘ oder ‚an jenem Tag‘ (vgl. U, 125f.). Dadurch werden die Erlebnisse ihrer Studienzeit auch grammatisch in eine Zeit vor der Reise gerückt und so als ‚nicht in das eigentliche Handlungsgeschehen eingebunden‘ ausge- wiesen. Ähnliche Passagen finden sich im weiteren Verlauf des Textes immer wieder. (vgl. etwa U, 134) Da diese Erinnerungsschilderungen allerdings auf Assoziationen beruhen, die durch gewisse auf dem Schiff gewonnene Eindrücke ausgelöst werden, fügen sie sich den- noch logisch in das Textganze ein. Derartige assoziative Verbindungen prägen die Textgestalt und die Erzählreihenfolge von U.S. + S.R. auch insgesamt in entscheidender Weise. Unabhängig von der Chronologie der Ereignisse sind die meisten Kurzabschnitte der Erzählung nämlich durch bestimmte Themen und Motive miteinander verknüpft. Details, die in einem Absatz vorkommen, werden von der Erzählerin häufig im nächsten aufgegriffen und genauer betrachtet oder in einer Weise inter- pretiert, die sich wiederum im darauffolgenden Textabschnitt als bedeutend erweist. Hierzu lässt sich etwa die Erwähnung der japanischen Süßigkeit ‚Shiroi-Koibito‘ als ein Beispiel nennen. Diese kommt in der Erzählung zum ersten Mal in einem Absatz vor, in dem die Erzählerin über einen auf dem Schiff befindlichen Kiosk berichtet. (vgl. U, 126f.) Eine ih- rer Mitreisenden kauft an diesem unter anderem ‚Shiroi-Koibito‘ und bietet der Erzählerin ein Stück davon an. (vgl. U, 127) Den darauf folgenden Absatz nutzt letztere infolgedessen, um anhand einer Aufzählung zu erklären, worum es sich bei dieser japanischen Speise handelt: (1) Shiroi-Koibito ist eine Spezialität aus Hokkaido, Japan. (2) Shiroi-Koibito ist (wahrscheinlich) die Nachahmung der französischen Kekse, die „Katzenzungen“ genannt werden. (3) „Shiroi-Koibito“ bedeutet, wörtlich übersetzt, „weißer Geliebter“. Wenn ich das Wort höre, denke ich fast automatisch an den Schnee. Aber wenn ich das Wort in eine europäische Sprache überset- ze, kommt mir sofort Herr Pinkerton in den Sinn, der seine Spermien nach Madame-Butterfly- Land exportiert und deren Produkt wieder abholt. In meiner Erinnerung hatte Herr Pinkerton die weiße Uniform der amerikanischen Marine an. (U, 127f.) Die hier erfolgende Aufzählung setzt sich sowohl aus allgemeinen Fakten über ‚Shiroi- Koibito‘ wie auch aus persönlichen Gedanken der Erzählerin zusammen. Vor allem der dritte Punkt erweist sich dabei – etwa durch die Verwendung des Personalpronomens ‚ich‘ – als klar subjektiv motiviert. Nicht mehr die Süßigkeit selbst steht in dieser Beschreibung im Vor- dergrund, vielmehr wird ihr Name nur als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Themen wie Sprache, Nationalität und Literatur verwendet. Die Erwähnung der unterschiedli- chen Assoziationen, die der Originalausdruck und seine Übersetzung in der Erzählerin jeweils auslösen, mutet hierbei wie ein Verweis auf die bereits in Tawadas Poetikvorlesungen behan- delten „Momente der Unübersetzbarkeit“ (vgl. V, 35) an. Verschiedene Sprachen bringen, wie

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in diesen gezeigt wurde, eben verschiedene Sichtweisen hervor.107 Für den unmittelbaren wei- teren Verlauf der Erzählung ist allerdings eher die Referenz auf Puccinis Madame Butterfly bedeutend108 bzw. vor allem deren sprachliche Ausgestaltung. Diese beeinflusst nämlich die Gestaltung des nachfolgenden Absatzes: Ich lege ein Stück japanische Katzenzunge auf meine Zunge. In dem Moment spricht mich eine männli- che Stimme an. Ich sehe einen Mann in weißer Uniform hinter mir. Er drückt mir drei Formulare in die Hand und sagt, ich solle alle drei ausfüllen. Ich antworte ihm nicht, weil mein Mund mit dem weißen Geliebten vollgestopft ist. (U, 128) Das Motiv des Mannes in weißer Uniform sowie die damit verbundene Sexualmetaphorik werden in diesem Textabschnitt wieder aufgegriffen, wodurch eine Verbindung zum vorher- gehenden Erzählungsteil hergestellt wird. Deutlicher als zuvor zeigt sich im Falle dieses Bei- spiels hierbei, dass der innere Zusammenhang zwischen den einzelnen Absätzen für die Er- zählreihenfolge von U.S. + S.R. von größerer Bedeutung ist als die Ereignischronologie. Die Zeitgestaltung der Sachalin- und der New York-Schilderungen funktioniert in ähnli- cher Weise. Sowohl die Verwendung der grammatischen Zeitformen wie auch der Einsatz von Erinnerungspassagen (vgl. etwa U, 134), von Zeitsprüngen innerhalb der Haupthand- lungsstränge (vgl. etwa U, 145) und von assoziativ motivierten Textstellen (vgl. etwa U, 140) decken sich formal weitgehend mit der Gestaltung des auf dem Schiff spielenden Erzählungs- teils. Allerdings lassen sich vor allem bei der Betrachtung des zeitlichen Verhältnisses zwi- schen den beiden Reisen noch einige Besonderheiten identifizieren: Nach den Schilderungen der Schiffreise wendet sich die Erzählerin zunächst ihren Erleb- nissen während ihrer Sachalin-Reise zu. Diese machen den dem Umfang nach größten Teil der gesamten Erzählung aus. Inhaltlich entpuppt sich der Besuch der Insel als vor allem tou- ristisch angelegt.109 Die Erzählerin berichtet von der Interaktion mit Einheimischen (vgl. etwa U, 136f.), dem Besuch diverser kulturell bedeutender Stätten (vgl. etwa U, 143f.) und ihrem Aufenthalt in einem Hotel (vgl. etwa U, 138) und erwähnt auch immer wieder die Präsenz zweier Reiseführer (vgl. U, 135). Die New York-Reise tritt sie hingegen deshalb an, um an

107 Vgl. hierzu auch: Werlen, Sprache, Mensch und Welt, S. 6f. 108 In ihrer dritten Hamburger Poetik-Vorlesung Uraga – Die schwarzen Schiffe der Moderne setzt sich Tawada ausführlicher mit Puccinis Oper auseinander und geht anhand dieser etwa auf die stereotypische Vorstellung vom Ost-West-Gegensatz ein. Auch erwähnt sie die Bedeutung des Motivs des Schiffes im Stück, mit welchem der männliche Protagonist Herr Pinkerton zur weiblichen Protagonistin Cho-Cho-San zurückzukehren verspricht. (vgl. Tawada, Fremde Wasser, S. 113-119.) Der Verweis auf diese Oper in einer Erzählung, die (ebenfalls) eine Schiffsreise beschreibt und eine japanische Erzählerin einschließt, die sowohl eine östliche wie auch eine westli- che Destination hat, ergibt daher auch thematisch durchaus Sinn. 109 Vgl. hierzu auch: Anne Fuchs: Der touristische Blick: in Marrakesch. Ansätze zu einer Semiotik des Tourismus. In: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur. Hrsg. von A. F. und Theo Harden. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1995. (=Neue Bremer Beiträge. 8.) S. 71-86. 42

der Hochzeit ihrer Freundin Olga teilzunehmen (vgl. U, 130), was sie allerdings letztlich ver- absäumt (vgl. U, 147). Die Stellung der New York-Schilderungen im Text unterscheidet sich dabei ganz wesent- lich vom Rest der Ausführungen. Sie nehmen nämlich keinen eigenen, von den Sachalin- Betrachtungen abgrenzbaren Teil der Erzählung ein, sondern setzen sich vielmehr nur aus einzelnen Textabschnitten zusammen, die die Schilderungen der Sachalin-Reise wiederholt unterbrechen und dabei durch gewisse Themen oder Motive mit diesen verbunden sind. Bei- spielsweise beschreibt die Erzählerin in einer Textstelle, die auf Sachalin spielt, das Verhalten eines shintoistischen Priesters und generiert anschließend basierend darauf eine Überleitung zu ihren Erlebnissen in New York: Plötzlich steht ein alter Priester vor meinen Augen. Er nimmt einen Ast des Sakakibaumes […] in die Hand […]. Wie ein Russe in der Sauna seinen Eichenast, schwingt er den Ast in der Luft und ein heißer Wind schlägt an meine Wange. [Absatz] Sechs Wochen nach meiner Sachalin-Reise besuche ich eine russische Sauna, die es seit über hundert Jahren auf der Vierzehnten Straße in New York gibt. [usw.] (U, 147) Wie sich anhand dieses Zitates zeigen lässt, sind die New York-Beschreibungen nicht von je- nen über Sachalin zu trennen, d.h. sie können, im Gegensatz zu den anderen Erzählungsteilen, nicht alleine stehen, sondern ergeben sich vielmehr aus ihnen und ergänzen sie. Letztlich en- det die Erzählung sogar damit, dass sich die Erzählerin in New York in einem Lokal mit dem Namen ‚KGB-Bar‘ befindet und dort darüber nachdenkt, ob sie ein Buch über Sachalin schreiben soll. (vgl. U, 151ff.) Gleichzeitig ist in diesem Zitat erkennbar, dass die Sachalin- und die New York- Schilderungen nicht nur thematisch, sondern – durch die Verwendung des Präsens – auch formal zusammengerückt werden. Die eigentliche zeitliche (wie auch örtliche) Distanz zwi- schen ihnen wird dadurch verringert bzw. stellenweise sogar scheinbar aufgelöst. Noch deut- licher lässt sich dies anhand der Textstelle demonstrieren, in der die Erzählerin, nach den Schilderungen ihres New Yorker Saunabesuchs, zu ihren Sachalin-Erlebnissen zurückkehrt: Schwüle Luft im Raum [=Sauna] wird umgerührt und überfällt mich mehrmals als unsichtbare Wellen. Ich schwitze und denke an Sachalin. Ich war in Sachalin / Ich bin in Sachalin. Alles, was ich im Präteri- tum erzählen kann, kann ich auch im Präsens erzählen. Das ist bloß eine Frage, die man mit einem Pa- piertaschentuch abwischen kann. Ich denke an die vermoosten Treppen in Korsakov, die einst zu einem shintoistischen Schrein führten. Die Stufen liegen schief wie schlechte Zähne. Alexej, Wolodja [=die Reiseführer] und ich steigen wieder in den Minibus und fahren von dort aus den Strand entlang. [usw.] (U, 148) Der Übergang zwischen den Schauplätzen und den Ereignissen erfolgt in diesem Zitat nahezu nahtlos. Er ist nicht, wie zuvor, durch einen Absatz markiert, sondern vollzieht sich noch im selben Textabschnitt. Die eigentliche Chronologie der Handlung erweist sich damit erneut als sekundär für die Erzählreihenfolge. Es sind vielmehr die Gedanken und Überlegungen der Er- 43

zählerin, die sich als ausschlaggebend für die zeitliche Gestaltung und die Abfolge der Schil- derungen präsentieren. Hierzu verweist sie diesmal allerdings nicht auf bestimmte Elemente aus der erzählten Handlung, sondern greift auf Reflexionen zurück, die sich auf den Vorgang des Erzählens selbst beziehen. Trotz des Präsens wird dadurch eine gewisse Distanz zum be- schriebenen Geschehen angedeutet. Ähnliche Textstellen finden sich auch im Rest der Erzäh- lung immer wieder. Das folgende Unterkapitel widmet sich daher einer näheren Auseinander- setzung mit ihnen und ihrer Bedeutung für die formale Beschaffenheit von U.S. + S.R.

3.2.3 Zu Stimme und Modus: Über die formale Relevanz der reflexiven Passagen in der Er- zählung Bereits den Übergang vom Schauplatz ‚Schiff‘ zum Schauplatz ‚Sachalin‘ gestaltet die Erzäh- lerin mithilfe einer reflexiven Passage: Ein Sprung zwischen zwei Zeiträumen ist für einen Pinsel ein Katzensprung. Genauso leicht ist der Sprung zwischen zwei Inseln. Ich schreibe: Ich bin in ‚Hokkaido‘. Zwei Sekunden später schreibe ich ‚Sachalin‘ und schon befinde ich mich dort. Wie ein Katze von einem Punkt zu einem anderen springen, ohne Erklärung dafür abzugeben: das könnte ich mir als die Aufgabe des Monats merken. (U, 130) [Absatz] Ich gehe von Bord. Das vorliegende Zitat fungiert als eine Art Ankündigung oder Vorwarnung, die es dem Leser erlaubt, sich auf eine zeitliche Raffung bzw. eine Veränderung des Schauplatzes einzustellen. Wie bereits im vorhergehenden Unterkapitel bedient sich die Erzählerin hier erneut einer Re- ferenz auf die Möglichkeiten und Potentiale der literarischen Gestaltung, um den Zeitsprung zu vollziehen. Dabei macht sie mittels der zweimaligen Formulierung ‚ich schreibe‘ bzw. ‚schreibe ich‘ v.a. den Vorgang des Erzählens selbst zum Thema. Dies ist deshalb von Bedeu- tung, weil dieser beim Lesen von literarischen Texten normalerweise „zugunsten der erzähl- ten Welt, die der Text beschreibt“ (MS, 20), in den Hintergrund tritt. (vgl. MS, 20) Der Leser bzw. die Leserin konzentriert sich für gewöhnlich mehr auf das, was erzählt wird als auf die Art, wie etwas erzählt wird. (vgl. MS, 20) In der oben zitierten Textstelle wird dem „Wie“ (MS, 20) des Erzählens aber ganz explizit Ausdruck verliehen. Hierbei ist es thematisch und stilistisch so in den Text inkorporiert, dass es sich ganz deutlich auf die beschriebenen Ereig- nisse auswirkt und diese vorantreibt. Zwischen erzählter Handlung und poetologischer Refle- xion besteht also ein produktives Wechselverhältnis. Ähnliches trifft auch auf weitere Passagen in U.S. + S.R. zu. Etwas später im Text, als sich Erzählerin schon eine Weile auf Sachalin befindet und auf der Insel herumreist, kommt es z.B. zu einem vergleichbar gestalteten Zeitsprung: Ich stand auf einem Hügel. Ohne verbindende Sätze möchte ich hier die Szene wechseln. Denn ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, was inzwischen passierte. Es spielt immer noch in derselben Stadt

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auf derselben Insel, die Sachalin heißt. Es ist ein Grund, warum die folgenden Sätze zu demselben Text gehören. (U, 145) Die Bedeutung des Wechselspiels von poetologischer Reflexion und geschilderter Handlung für die Gestaltung von U.S. + S.R. lässt sich anhand dieses Textbeispiels sehr gut vorführen. Martinez und Scheffel unterscheiden in ihrer Einführung in die Erzähltheorie mit Verweis auf Gérard Genette zwei Arten von Zeitsprüngen: die ‚explizite‘, d.h. die im Text klar markierte und die ‚implizite‘, d.h. die (gänzlich) unmarkierte ‚Ellipse‘. (vgl. MS, 42f.) Betrachtet man das oben stehende Zitat nun hinsichtlich dieser Kategorisierungen, zeigt sich, dass der in ihm vollzogene Zeitsprung ohne die poetologische Kommentierung ‚implizit‘ vonstattengehen würde; dank dieser wird er allerdings in gewisser Weise ‚explizit‘. Durch ihre erzähltheoreti- schen Reflexionen macht die Erzählerin ihre Leser nämlich nicht nur auf die Ellipse aufmerk- sam, sondern nimmt – mithilfe des Verweises auf die bereits im vorhergehenden Absatz ein- geführte Stadt und den Schauplatz ‚Sachalin‘ (vgl. U, 144f.) – ebenso eine Eingrenzung ihres zeitlichen Ausmaßes (vgl. MS, 42f.) vor. Die hier präsentierten erzähltheoretischen Überle- gungen wirken sich also ganz deutlich auf das erzählte Geschehen aus. Gleichzeitig lässt sich in diesem Zitat auch eine Diskrepanz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich der Erzählfigur (vgl. MS, 63f.) feststellen.110 Während das im ersten Satz verwendete Personalpronomen („Ich stand auf einem Hügel.“ (U, 145)) nämlich auf eine Figur verweist, die sich als auf Sachalin befindlich und damit als in das beschriebene Gesche- hen eingebunden präsentiert, steht das im zweiten Satz eingesetzte ‚ich‘ offenbar für eine Per- son, die von diesem distanziert ist. Dieses Ich scheint mit einigem zeitlichen Abstand (daher erinnert es sich auch nicht mehr an alles (vgl. U, 145)) auf seine Reiseerlebnisse zurückzubli- cken und zu versuchen, diese nun zu beschreiben. Die Reiseschilderungen entpuppen sich damit als intradiegetische Ereignisse, die von einer Erzählfigur berichtet werden, die sich auf einer extradiegetischen Ebene befindet. (vgl. MM, 75f.) Die wiederholt auftretenden Erinne- rungspassagen liegen somit gar auf einer metadiegetischen Stufe. (vgl. MM, 76) Auf der extradiegetischen Ebene, die sozusagen die Schreibgegenwart des Erzählmediums abbildet, finden hierbei die erwähnten poetologischen Reflexionen statt. Sie sind folglich ebenso ein Teil der Handlung wie die Reiseschilderungen selbst. Insofern handelt es sich bei U.S. + S.R. nicht nur um einen Text über zwei Reisen, sondern auch um einen Text über das Schreiben selbst. Dies beeinflusst die Gestaltung der Erzählung daher in entscheidender Weise. So ergibt sich hieraus etwa ein Spiel mit dem Verhältnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit (vgl.

110 Vgl. hierzu auch: Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 5., unveränderte Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991. (=UTB. 904.) S. 135. 45

auch MS, 47ff.). Während sich die Reiseschilderungen – durch die Etablierung der extradie- getischen Erzählebene – nämlich als klar vermittelt identifizieren lassen, sind die auf den Schreibprozess verweisenden reflexiven Passagen so inszeniert, dass sie wie recht unmittelbar getätigte Aussagen wirken. Zumindest ist der Erzählvorgang im Text so dargestellt, als ob sich die Erzählung gerade erst entwickeln würde. Hierfür ist nicht nur die sprachliche Gestal- tung der erzähltheoretischen Abschnitte verantwortlich (z.B. die durchgehende Verwendung des Präsens sowie dazu passender Temporal- und Lokaladverben (im zuvor gebrachten Zitat etwa ‚hier‘ (vgl. U, 145))), sondern auch eine Vielzahl von Textstellen, in denen die Erzähle- rin für sich selbst Notizen über später zu korrigierende Formulierungen zu hinterlassen scheint. Beispielsweise schließt sie an eine ihrer Beschreibungen den in Klammern stehenden Kommentar „Dieser Satz sollte später lieber in einen anderen Text immigrieren.“ (U, 138) an. An andere Stelle wiederum zeigt sie sich mit ihrer Wortwahl für die Beschreibung der Stadt Yunjio Sachalinsk unzufrieden und schreibt: Es ist ein heiliger Ort. Das Adjektiv ‚heiliger‘ möchte ich später durch ein anderes ersetzen. Das Wort ‚heilig‘ ist ein Dorn im Satz […]. Ich möchte das Wort auf der Toyohara Straße aussetzen und stattdes- sen unterwegs ein anderes Wort finden. (U, 146) Außerdem verwendet sie im Text immer wieder so etwas wie Stich- oder Leitwörter, welche den Eindruck der Unfertigkeit noch zusätzlich verstärken. Sie fungieren zumeist als so etwas wie grafische Marker, die die spezifischen Fokuspunkte der bereits erwähnten assoziativen Überlegungen der Erzählerin hervorheben. Als ein Beispiel hierfür lässt sich etwa folgende Textstelle anführen: Ich schwanke auf dem Landungssteg, als würde ich ein schweres Gewand tragen. [Absatz] Kein Gewand > Ich habe eine strapazierfähige, bügelfreie Jacke an. Darunter trage ich eine Seidenbluse, auf der noch der Abdruck der Strohmatte zu sehen ist. [Absatz] […] Strohmatte > Auf dem Schiff gibt es Aufenthaltsräume […] (U, 124) Hiermit lässt sich letztlich auch die anachronische Erzählweise von U.S. + S.R. erklären. Die am Beginn der einzelnen Absätze herausgehobenen Phrasen und Wörter spiegeln nämlich in gewisser Weise die gedanklichen Prozesse der Erzählerin wider. Die konkrete Geschehensab- folge der im Text dargestellten Ereignisse präsentiert sich damit erneut als ein nur sekundärer Einflussfaktor für dessen Gliederung. Die Erzählreihenfolge beruht in erster Linie auf den Denkabläufen der extradiegetischen Erzählfigur. Die gesamte Gestaltung der Erzählung dient also primär der Inszenierung des in ihr thematisierten Schreibvorgangs. Daneben finden sich in U.S. + S.R. auch immer wieder Abschnitte, die – wie etwa bei der Beschreibung von ‚Shiroi-Koibito‘ (vgl. U, 127f.) – aus Aufzählungen bestehen und den Textfluss daher ebenfalls (zumindest graphisch) unterbrechen. Inhaltlich lassen sich zwei Ar-

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ten von Aufzählungen unterscheiden: jene, die einander ausschließende Varianten beschrei- ben und jene, die aus einander ergänzenden Punkten bestehen. Erstere präsentieren sich hier- bei zumeist als Gedanken der erlebenden Erzählerin, d.h. sie scheinen der intradiegetischen Ebene zu entstammen, wie z.B. folgende Textstelle: „Sind Sie allein unterwegs? […] Haben Sie keine Angst?“ Denkbare Antworten von mir: a. „Wie lange leben Sie schon hier?“ b. „Muss ich Angst haben? Was genau ist Ihrer Meinung nach gefährlich? Bitte beraten Sie mich!“ c. „Nein, ich habe keine Angst. Ich bin schon acht Mal in Russland gewesen und mir ist noch nie etwas Beängstigendes passiert.“ d. Ich antworte nicht und lache. (U, 132f.) Die einander komplementierenden Auflistungen lassen sich dagegen weitaus schwieriger ei- ner Erzählebene zuordnen. Sie könnten der Gedankenwelt der intradiegetischen Erzählerin entspringen oder sich als eine Liste von Formulierungs- oder Beschreibungsmöglichkeit lesen lassen, die die extradiegetische Erzählfigur niedergeschrieben hat, wie z.B.: Zwei Mal stand ich auf und ging auf Deck, um das Meer zu sehen. […] a. Ein Meer verbindet Inseln – Hokkaido und Sachalin – miteinander. b. Ein Meer ist immer die Fläche eines einzigen großen Meeres. Man weiß nicht, wo das Ochotskische Meer aufhört und das Japanische Meer beginnt. c. Ein Meer ist eine grüne Haut mit weißem Haar. (U, 129) Als Optionen der sprachlichen Gestaltung verstanden, lassen sich derartige Aufzählungen po- tentiell als weitere Repräsentationsmittel für den noch nicht abgeschlossen Schreibprozess in- terpretieren, welche ebenso der bereits erwähnten Diskrepanz zwischen Erzählen und Erzähl- tem (vgl. MS, 20) Ausdruck verleihen. Ereignisse oder Begebenheiten können in literarischen Texten nämlich auf unterschiedlichste Arten und Weisen beschrieben werden, wobei, wie die zitierten Schilderungen zeigen, keine von diesen mehr oder weniger zutreffend ist als die an- deren. (vgl. MS, 20f.) Allerdings verändert sich mit dem Fokus der Betrachtung die „ästheti- sche Wirkung[…]“ (MS, 21) der einzelnen Aussagen. (vgl. MS, 21) Dass die „Leseerfahrung“ (MS, 20), wie Martinez und Scheffel schreiben, „entscheidend von der Präsentationsweise be- einflußt [wird]“ (MS, 20), wird dem Leser bzw. der Leserin von U.S. + S.R. damit anhand be- sagter Auflistungen konkret vor Augen geführt. Insgesamt entpuppt sich die Erzählung durch die so präsentierte Haltung der Erzählfigur und die damit verbundenen Stilmittel als ein äußerst dynamisch gestalteter Text. Sie ist in ge- wisser Weise ein Hybrid, in dem erzähltes Geschehen und poetologische Reflexion nicht nur aufeinandertreffen, sondern auch ineinanderfließen und sich, um erneut mit Sigrid Weigel zu sprechen, „gegenseitig befeuern“111. Eine produktive Verbindung zwischen theoretischen Überlegungen und literarischen Schilderungen lässt sich für U.S. + S.R. somit nicht leugnen.

111 Weigel, Suche nach dem E-Mail für japanische Gespenster, S. 129. 47

3.3 Poetologisch-theoretische Bezüge: U.S. + S.R. als ein Werk der Reiselite- ratur?

3.3.1 Zum Problem der Darstellung des Fremden in der Reiseliteratur Kurz nach ihrer Ankunft in Sachalin schreibt die Erzählerin Folgendes: Zwei Männer vom Reisebüro holen mich ab, um mich ins Hotel zu transportieren. Der Reiseführer heißt Alexey. Es kommt mir angemessen vor, seinen Körper an dieser Textstelle zu beschreiben, wie zum Beispiel: „Er ist etwa ein Meter achtzig groß, hat breite Schultern. Seine Haare sind blond, gemischt mit silbernen Streifen.“ Aber es kommt mir gleichzeitig vor wie eine fade Nachahmung der Koloniallitera- tur. Warum beschreibt man den Körper eines einheimischen Reiseführers? Sein Kollege Wolodja ist Fahrer, hat drei Töchter, ist schon drei Mal in Japan gewesen und trägt eine braune Lederjacke. Sie hat drei Knöpfe. Sind sie auch ein Teil seines Körpers? (U, 135) Analog zu den im vorherigen Unterkapitel erwähnten Aufzählungen setzt sich auch dieses Zi- tat mit der Relativität literarischer Darstellungen bzw. mit der Vielfältigkeit ihrer Möglichkei- ten auseinander. Die Erwähnung der Bedeutung von Körperbeschreibungen in der Kolonialli- teratur erinnert dabei stark an Tawadas Ausführungen zu Physiognomie und Fremdheit in Ge- sicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung, mittels welcher sie sich der Proble- matik kultureller Stereotype gewidmet hat. (vgl. V, 52f.) Ihre Poetologie und ihr literarisches Schaffen fließen in dieser Textstelle also ineinander. In diesem Zusammenhang demonstriert die Autorin den Kontrast zwischen stereotypi- schen Personenbeschreibungen und solchen, die auf das Individuum selbst fokussiert sind, in der zitierten Passage in eindrucksvoller Weise. Die rein auf den Körper und das Aussehen be- zogene Schilderung Alexeys lässt im Kopf des Lesers bzw. der Leserin zwar sofort ein Bild von diesem entstehen, dieses sagt allerdings wenig über ihn als Person aus. Es wirkt dadurch statisch, mehr wie ein Standbild als ein echter Mensch. Die Darstellung Wolodjas auf der an- deren Seite ist zwar sprachlich nicht umfangreicher gestaltet als die seines Kollegen, indem sich die zu ihm geäußerten Details allerdings mehr auf sein Leben als auf seine physiologi- schen Merkmale beziehen, wirkt er als Figur sofort dynamischer und dadurch in gewisser Weise komplexer und realer. Durch den Verzicht auf Körperbeschreibungen lässt er sich in der Vorstellung zudem nicht festnageln, wodurch er der Gefahr entgeht, hinter Klischees, Er- wartungen und Stereotypen zu verschwinden. Die Darstellung des Fremden ist in der Reiseliteratur ein generelles Problem. Als eine Gattung, die „‘von unterwegs‘ berichtet“112 und deren Aufgabe und Ziel es lange Zeit war,

112 Hans-Wolf Jäger: Reiseliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York: de Gruy- ter 2003, S. 258. 48

Einblicke in ferne und ansonsten nicht näher bekannte Länder und Kulturen zu ermöglichen113 und die z.T. auch in der heutigen Ethnologie und Geschichtswissenschaft noch als Quellenart herangezogen wird114, gehört die sprachliche Auseinandersetzung mit dem Anderen zu einer ihrer grundlegenden Eigenschaften.115 Der dabei geforderte „Anspruch auf Authentizität“116 bzw. die Möglichkeit einer ‚authentischen‘ und objektiven Repräsentation des Fremden ist al- lerdings schon früh in Zweifel geraten.117 Dies hat mehrere Gründe. Zum einen haben sich im Laufe der Zeit zahlreiche Reiseberichte, die ursprünglich als Zeugnisse realer Reisen gegolten haben, als erfundene Texte herausgestellt, während andere, zunächst für Fiktionen gehaltene Aufzeichnungen, wie etwa jene Marco Polos, als Dokumente mit „Realitätsbezug“118 erkannt worden sind.119 Zum anderen hat man nach und nach die Erkenntnis gewonnen, dass es sich bei der Annahme das Fremde objektiv darstellen zu können, um einen Trugschluss handelt. Jede Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen unterliegt nämlich, wie etwa Peter Bren- ner schreibt, „von vornherein Vorstellungen, welche die eigene Kultur hervorgebracht hat“120. In die literarische Repräsentation des Fremden fließen also auch immer die „Deutungsmuster und mentalitätsgeschichtlichen Dispositionen“121 des Autors ein. Die zeitgenössische Reiseliteratur hat zudem mit einer weiteren Schwierigkeit zu kämp- fen. Gerhard Sauder weist z.B. darauf hin, dass es durch die Etablierung des Reisens als Mas- senindustrie122 längst zu einer „Normierung und Schematisierung des Reisens“123 gekommen ist. Damit hängt, wie Peter Brenner ausführt, eine Kanonisierung dessen zusammen, was als sehenswert und landestypisch gilt.124 Der Reisende oder Tourist hat bereits eine – im Vorfeld

113 Vgl. Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. 2. Sonderheft. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Wolfgang Frühwald [u.a.]. Tübingen: Max Niemeyer 1990, S. 2. 114 Vgl. ebda, S. 3. 115 Vgl. Jäger, Reiseliteratur, S. 258. 116 Vgl. ebda, S. 259. 117 Vgl. ebda. 118 Jörg Schuster: Reisebericht. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart, Weimar: J.B. Metz- ler 2007, S. 640. 119 Vgl. Wolfgang Neuber: Reiseroman. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 641. 120 Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von P. J. B. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. (=suhrkamp taschenbuch. 2097.) S. 15. 121 Schuster, Reisebericht, S. 640. 122 Vgl. Gerhard Sauder: Formen gegenwärtiger Reiseliteratur. In: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur. Hrsg. von Anne Fuchs und Theo Harden. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1995. (=Neue Bremer Beiträge. 8.) S. 553 123 Ebda, S. 552. 124 Vgl. Brenner, Die Erfahrung des Fremden, S. 39. 49

durch Reiseführer und Medien künstlich generierte – Vorstellung von seiner Destination125, welche das Erleben der fremden Umgebung infolgedessen entscheidend beeinflusst. Anne Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von einem „Verfall des Erfahrungsbegriffs bzw. der Authentizität der eigenen Erfahrung“126, da beim der Auseinandersetzung mit dem Fremden automatisch auf diese vorgefertigte ‚Authentizitäts-Marker‘ zurückgegriffen wird.127 Jeder Versuch einer Darstellung des Fremden birgt somit immer die Gefahr, sich in Ste- reotypen und Klischees zu verlieren. In Zusammenhang mit der literarturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Reiseliteratur plädiert Jörg Schuster daher für eine Untersuchung der Texte, die sich primär den „rhet.-lit. Strategien“ widmet, die in diesen eingesetzt werden, um „den Effekt der Authentizität herzustellen“128, was letztlich auch die Frage nach dem Um- gang mit Fremdbildern in ihnen einschließt. In U.S. + S.R. lassen sich diesbezüglich ebenfalls einige wichtige Aspekte und Merkmale identifizieren, auf die im Folgenden genauer einge- gangen werden soll. Der direkte Bezug auf die Probleme und Herausforderungen der Gattung im oben angeführten Zitat gibt hierbei bereits erste Hinweise auf einen kritisch-reflexiven Zu- gang der Autorin zum Thema.

3.3.2 Das Motivs des Wasser und seine Bedeutung im Text Wie sich bereits im Zuge der Erzähltextanalyse gezeigt hat, sind die Reiseschilderungen in U.S. + S.R. vielfach so gestaltet, dass Erzählen und Erzähltes nicht übereinstimmend bzw. gleichsetzbar wirken. Vor allem durch die auf der extradiegetischen Ebene operierenden re- flexive Erzählinstanz wird immer wieder deutlich gemacht, dass der Eindruck, den das Be- schriebene beim Leser bzw. der Leserin hinterlässt, zu einem großen Teil von der Art seiner Inszenierung abhängt und damit relativ ist. Jegliches potentielle Streben nach Wirklich- keitstreue wird dadurch nicht nur negiert, sondern letztlich sogar als grundlegend fehlgeleitet ausgewiesen. Doch nicht nur formal und poetologisch inszeniert die Erzählerin ihre Schilderungen so, dass kein Anspruch auf Verbindlichkeit erhoben wird, auch stärker inhalts- bzw. handlungs- bezogene Gestaltungselemente und Ausführungen lassen sich in diesem Zusammenhang als bedeutend identifizieren. Zum Beispiel reflektiert die Erzählerin an einer Stelle im Text auf die Veränderbarkeit und Entwicklungsfähigkeit ihres Ichs, welches nicht statisch existiert,

125 Vgl. ebda. 126 Fuchs, Der touristische Blick, S. 74. 127 Vgl. ebda, S. 73f. 128 Schuster, Reisebericht, S. 640. 50

sondern sich durch das, was es erlebt und die Erfahrungen, die es macht, immer wieder neu bildet: Ich bewege mich nicht von Wakkanai [=in Japan] nach Korsakov [=auf Sachalin], sondern ein Ich löst sich in Wakkanai auf und fünf Stunden später entsteht ein neues Ich auf der Insel Sachalin. Das erste Ich erzählte meiner Familie in Sapporo, dass es wegen der Hochzeit einer russischen Freundin, Olga, nach New York fliege. Das zweite Ich landet auf Sachalin, wo es keinen Menschen kennt. (U, 130) Die Erzählerin macht mithilfe dieser Passage deutlich, dass es eigentlich unmöglich ist, län- gerfristig gültige und zuverlässige Schilderungen zu liefern. Ein Ich, das ständigem Wandel unterworfen ist, kann nämlich niemals verbindlich zutreffende Aussagen generieren. Viel- mehr handelt es sich bei all seinen Beschreibungen zwangsläufig nur um Momentaufnahmen, die lediglich eine spezifische Version der Realität wiedergeben, welche auf der Verfassung, den Einstellungen und den Erfahrungen der erzählenden Person zu einem bestimmten Zeit- punkt in ihrer persönlichen Entwicklung basieren. Alle Aussagen, die ein Ich trifft, erweisen sich dadurch als subjektiv und nur temporär in dieser Weise gültig. Die gleichen Schilderun- gen könnten zu einem anderen Zeitpunkt im Leben der Erzählerin vollkommen anders ausfallen. Hierdurch wird wiederum auch die übliche dichotomische Unterscheidung zwischen ‚Ei- genem‘ und ‚Fremdem‘ als Fiktion entlarvt. Die eigene Persönlichkeit ist nämlich zugleich immer von neuen und damit bisher ‚fremden‘ Erlebnissen und Eindrücken abhängig und wird durch diese mitgeformt. Die Vorstellung, sich gänzlich vom ‚Anderen‘ abgrenzen zu können, erweist sich infolgedessen ebenfalls als unhaltbar. Alternativ formuliert könnte man auch sagen, dass die Grenze zwischen Eigenem und Fremden ‚fluide‘129 ist. Um dies noch zusätzlich zu veranschaulichen, zieht die Erzählerin das dazu passende Motiv des Wassers heran. Sie schreibt etwa: Eine Welle bleibt nicht an einer Stelle stehen. Sie bewegt sich auch nicht von einem Punkt zum ande- ren. Eine Welle verschwindet und eine andere Welle entsteht woanders. Beim Verschwinden einer Wel- le entsteht ein Druck, der die Entstehung der nächsten Welle verursacht. (U, 130) Oder an anderer (bereits einmal zitierter) Stelle heißt es auch: Ein Meer ist immer die Fläche eines einzigen großen Meeres. Man weiß nicht, wo das Ochotskische Meer aufhört und das Japanische Meer beginnt. (U, 129) Das Wasser mit seinen Eigenschaften als grenzen- und formloses130, unzählbares131 und welt- umspannendes132 Element stellt generell eine „Leitmetapher“ 133 in Tawadas Oeuvre dar, wel-

129 Vgl. hierzu auch: Ortrud Gutjahr: Vom Hafen aus. Meere und Schiffe, die Flut und das Fluide in Yoko Ta- wadas Hamburger Poetikvorlesungen. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von O.T. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 451-476. 130 Vgl. Yoko Tawada; Ortrud Gutjahr: „In meinen Poetikvorlesungen werde ich viel über das Wasser sprechen und der Tsunami kommt auch vor“ – Yoko Tawada im Gespräch mit Ortrud Gutjahr. In: Y.T.: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von O.T. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 44. 51

che sie gerne einsetzt, um die Relativität und Fiktionalität von Kategorisierungen, Definitio- nen und Dichotomien zu thematisieren.134 Es ist daher kein Zufall, dass die ersten Seiten von U.S. + S.R. auf einem Schiff spielen, wo eine besonders starke Nähe zum Wasser besteht. In einem Interview zu ihren Hamburger Poetik-Vorlesungen hat Tawada das Wasser u.a. als einen „Zwischenraum“135 bezeichnet. Entsprechend entpuppt sich die Schifffahrt in der hier behandelten Erzählung als ein Quell für Kulturkontakte und multikulturelle Erlebnisse. Dies zeigt sich v.a. an den hybriden kulturellen Identitäten der Mitreisenden. Diese sehen zwar, wie die Erzählerin schreibt, „japanisch aus“ (U, 128), sind aber „Bürger der Russischen Föderation“ (U, 128). Sie sprechen auch nicht reines Japanisch, sondern eine Version dieser Sprache, in der „jedes dritte Wort […] durch ein russisches Wort ersetzt [ist]“ (U, 125). Ande- rerseits klingt ihr Russisch, laut der Erzählerin, „wie bei den Muttersprachlerinnen“ (U, 125). In einer Textstelle erklärt eine Frau außerdem: „Ich vergesse schon Japanisch, da ich mit mei- ner Enkelin immer Russisch und mit meinem Mann immer Koreanisch spreche.“ (U, 125) Die so gestalteten Figuren entziehen sich damit einer mit ihrer Herkunft zusammenhängenden Zu- ordnung zu spezifischen Stereotypen. Stattdessen verschwimmen die kulturellen Grenzen in ihnen. Man könnte auch sagen, dass ihre Identitäten so fluide wirken wie das Meerwasser, auf dem sich das Schiff bewegt, auf dem sie sich befinden. Die Erzählerin bekommt diese Dynamik und Hybridität ebenfalls zu spüren und das sozu- sagen ‚am eigenen Leib‘. Immer wieder berichtet sie nämlich davon, dass sie sich seekrank fühlt. (vgl. etwa U, 125) Sie ist allerdings in der Lage dazu, diesen Beschwerden entgegenzu- wirken, indem sie sich ganz und gar den Bewegungen des Schiffes und damit denen des Was- sers hingibt. Hierzu schreibt sie etwa: „Mir ist schwindlig. Ich schließe mein Augen und ver- suche […] an die Wellen zu denken.“ (U, 127) oder „Bald lege ich mich auf die Strohmatte, […] um mit den schaukelnden Wellen eins zu werden.“ (U, 125) Da sie – wie oben beschrie- ben – auf Sachalin als eine neue Version ihrer selbst ankommt (vgl. U, 130), könnte dies po- tentiell als die Darstellung der sich in ihr vollziehenden Veränderungen gelesen werden, die eng mit der Erfahrung des Wasser als ‚Zwischenraum‘ verbunden ist.

131 Vgl. ebda, S. 55. 132 Vgl. Yoko Tawada: Uraga – Die schwarzen Schiffe der Moderne. III. Poetikvorlesung. In: : Y.T.: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von O.T. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 120. 133 Tawada; Gutjahr, Gespräch, S. 44. 134 Bereits in Tawada 1988 verfassten, ersten deutschsprachigen Erzählung Wo Europa anfängt heißt es etwa: „Ich, als kleines Mädchen, glaubte nicht daran, daß es fremdes Wasser gebe, denn ich dachte immer, der Globus sei eine Wasserkugel, auf der viele kleine und große Inseln schwimmen, das Wasser müsse überall gleich sein.“ (Yoko Tawada: Wo Europa anfängt. In: Y.T.: Wo Europa anfängt. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 1991, S. 67.) 135 Tawada; Gutjahr, Gespräch, S. 44. 52

Ein weiteres Argument für die Bedeutung der Wassermetaphorik bei der Beschreibung der Schifffahrt lässt sich zudem durch den Vergleich mit den restlichen, auf dem Festland spielenden Schilderungen finden. Mit der Ankunft auf Sachalin enden nämlich auch die Er- wähnungen von mehrsprachigen und kulturell vielseitigen Figuren. Stattdessen berichtet die Erzählerin z.B. von einer abschätzigen Aussage, die eine Mitreisende über die Bewohner Sachalins trifft: „Die Leute hier sind unverantwortlich. Sie können ihre Arbeit nicht zu Ende führen.“ (U, 132) Bei dieser Bemerkung handelt es sich nicht nur um eine grobe und urteilen- de Generalisierung über die Gesamtbevölkerung der Insel, die Sprecherin grenzt sich mittels der Formulierung „die Leute hier“ (U, 132) auch ganz deutlich von dieser ab. Während sich die kulturellen Identitäten auf dem Schiff noch als fließend präsentiert haben, kommt in der Erzählung nun also die dichotomische Differenzierung von Eigenem und Fremden zum Vor- schein. Zudem ist die Ankunft auf Sachalin mit einer obligatorischen Passkontrolle verbunden. Diese verläuft in der Beschreibung der Erzählerin zwar durchaus zivilisiert und freundlich (vgl. U, 133), sie löst in ihr allerdings die Erinnerung an zwei andere Passkontrollen – eine 1979 in Nachotka und eine 2004 in New York (vgl. U, 131) - aus, im Zuge welcher sie die ei- gene Fremdheit wesentlich stärker zu spüren bekommen hatte. Die erste dieser beiden Remi- niszenzen schildert sie hierbei folgendermaßen: Ein wachsblasser, steifer junger Mann in Militäruniform blätterte in meinem japanischen Reisepass […]. Er zeigte keine Zähne, blinzelte nicht. […] Er fragte mich skeptisch und abschätzig zugleich, was ich dort [=in der Sowjet-Union] machen würde. […] Dann tippte er eine sehr lange Zahl in seine Ma- schine ein. Vielleicht übersetzte er mein Gesicht in Zahlen. Denn in meinem Pass stand nirgends eine so lange Zahl. (U, 134) Die Beschreibung des in dieser Textpassage erwähnten Mannes veranschaulicht den unglei- chen Status, der zwischen ihm und der Erzählerin während der Passkontrolle vorherrscht. Er, gekleidet in einer Militäruniform, befindet sich in einer scheinbaren Machtposition, welche er sein Gegenüber spüren lässt, in dem er es mit Misstrauen und Ablehnung straft. Verankert ist diese Macht dabei in einem bürokratischen System, welches im Zitat durch die von der Erzäh- lerin erwähnte Zahl markiert ist. Dieses entlarvt sie in der Folge allerdings als absurd und un- natürlich. Die Zahl sagt nämlich ganz offensichtlich nichts über die Erzählerin als Individuum und Person aus, sondern „übersetzt“ (V, 134) sie vielmehr in Kategorien, die abseits des Menschlichen operieren. Dennoch beeinflussen sie ihr Leben und ihre Bewegungsfreiheit in ganz entscheidendem Maße. Die Darstellung der New Yorker Passkontrolle zeigt dies noch wesentlich deutlicher: Die eiserne Faust wird gegen meine Nase gestreckt. Sie muss eine Kamera sein, denn der Kontrolleur befiehlt mir, in die Kamera zu schauen, und es gibt sonst keinen Gegenstand, der eine Kamera sein könnte. Die Gewalt der Benennung. Wäre ich eine Beamtin, von deren Laune das Schicksal eines Mig- 53

ranten abhängen würde, könnte ich auf eine Aubergine zeigen und ihm befehlen: „Streicheln Sie einmal dieses Meerschweinchen!“ Wie schwer es für einen Neuankömmling ist, in einem solchen Moment auf die einfache Formulierung zu kommen: „Es ist kein Meerschweinchen!“ Ich hörte nicht den leisesten Klick, aber die Kugelkamera muss mich aufgenommen haben und das Spiel geht weiter. (U, 134) Das zuvor erwähnte Machtverhältnis ist in diesem Zitat u.a. durch die Verwendung von Wör- tern und Phrasen wie „[d]ie eiserne Faust“, „befehlen“ oder „Gewalt“ markiert, durch welche beinahe der Eindruck entsteht, als würde die Textpassage von Verbrechern und Exekutivbe- amten und nicht von Reisenden handeln. Der darauf folgende Verweis auf die „Macht der Be- nennung“ (U, 134) und deren exemplarische Veranschaulichung entlarven die so beschriebe- nen Handlungen dann in ihrer Absurdität. Hierzu greift Tawada auf eine für sie übliche Stra- tegie der Gestaltung zurück, bei der sie die präsentierten Vorgänge „karikaturhaft überzeich- net“136. Dies gelingt ihr z.B., indem sie sie im letzten Satz als „Spiel“ bezeichnet und dadurch in gewisser Weise ins Lächerliche zieht. Durch den Bezug auf das arbiträre Verhältnis zwi- schen Bezeichnungen und Bedeutungen führt sie die Relativität von Definitionen und Weltan- schauungen außerdem ebenfalls vor. Insgesamt ergibt sich in U.S. + S.R. damit ein starker Kontrast zwischen den auf dem Schiff spielenden Textpassagen und jenen, die sich auf dem Festland ereignen. Während die Grenzen zwischen den Kulturen und Personen auf dem Meer fließend zu sein scheinen, prä- sentieren sich auf dem Festland Bürokratie und festgelegte Definitionen als die regierenden Kräfte. Tawadas Wassermetaphorik spielt für die Reise- und Fremdheitsdarstellungen in ihrer Erzählung somit eine wichtige Rolle.

3.3.3 Reiseliteratur und Übersetzung: Zur Darstellung von sprachlicher Differenz im Text In seinem Aufsatz Andere Stimmen: Reiseliteratur und das Problem der Sprachbarrieren schreibt Michael Cronin: In einer Welt der Sprachen ist Reisen mit Schwierigkeiten behaftet. Das Übersetzen hält zahllose Fuß- angeln bereit: das Potential der Fehlübersetzung, den Verlust an Bedeutung, die Gefahren bloßer Annä- herung, die problematische politische Ökonomie des Übersetzens, d.h. die Vereinnahmung anderer Völker und Länder durch exkoloniale Sprachen und der irreführende Mythos durchsichtiger, ungebro- chener Übersetzung. Reisen und Übersetzen müssen sich damit abfinden, daß ihre Interpretationskraft Grenzen hat.137 Damit spricht Cronin ein wichtiges Thema an, dem Werke der Reiseliteratur bei der Ausei- nandersetzung mit dem ‚Fremden‘ Rechnung tragen müssen: das der Sprache bzw. der

136 Esther Kilchmann: Verwandlungen des ABCS. Yoko Tawada und die Kulturgeschichte des abendländischen Buchstabens. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 358. 137 Michael Cronin: Andere Stimmen: Reiseliteratur und das Problem der Sprachbarrieren. In: Reisen im Dis- kurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur. Hrsg. von Anne Fuchs und Theo Harden. Heidelberg: Universi- tätsverlag C. Winter 1995. (=Neue Bremer Beiträge. 8.) S. 33. 54

sprachlichen Differenz. Durch den Kontakt mit fremden Kulturen sehen sich Reisende häufig mit Sprachbarrieren und Verständnis- bzw. Kommunikationsschwierigkeiten konfrontiert.138 Reisen sowie das Schreiben über Reisen kommen daher niemals ohne den Vorgang des Über- setzens aus.139 Sowohl die direkte Begegnung mit anderen (und v.a. anderssprachlichen) Kulturen wie auch jeder Versuch der Vermittlung des Erlebten in Form von Texten erfordert eine Übertragung der ‚fremden‘ Ein- und Ausdrücke in die Begrifflichkeiten der eigenen Sprache.140 Dies gestaltet sich jedoch nicht als unproblematisch, da es, wie bereits erwähnt, zwischen den einzelnen Sprachen keine „uneingeschränkte Äquivalenz“141 gibt, was wiederum bedeu- tet, dass sich im Zuge jedes Übersetzungsvorgangs gewisse „Schwierigkeiten der Repräsenta- tion“142 ergeben. Die Beschäftigung mit einer Reiseerzählung muss sich dementsprechend mit der Frage auseinandersetzen, wie diese mit dem Thema und den Herausforderungen der sprachlichen Differenz umgeht. Im Falle von U.S. + S.R. wurde hierzu bereits im vorhergehenden Kapitel auf mehrere Erwähnungen von mehrsprachigen Personen während der Schifffahrtsbeschreibung hingewie- sen. Die Erzählerin ist diesen durchaus positiv gegenübergestanden und fast schon mit einem Anflug von Neid begegnet (vgl. U, 125). Andererseits wurden anhand der Passkontroll- Schilderungen aber auch weitaus negativere Reaktionen auf Sprachunterschiede erörtert, im Zuge welcher sprachliche Differenzen v.a. zur Forcierung von Machtverhältnissen und kultu- rellen Grenzen herangezogen worden sind (vgl. U, 134).143 Die für das Reisen typischen Er- lebnisse der Sprachdifferenz werden in der Erzählung also durch die kontrastive Darstellung dieser Kontakt- und Barrieresituationen in ihrer Komplexität veranschaulicht. In einigen anderen Passagen setzt sich die Erzählerin außerdem ganz konkret mit Über- setzungsfragen auseinander. Die beiden in diesem Zusammenhang auffälligsten Beispiele sind den Ortsbezeichnungen ‚Wakkanai‘ und ‚Karafuto‘ gewidmet: „wakka“ = ein Ring. „nai“ = nicht existieren. Ein Ring existiert nicht. Das ist eine falsche Etymologie oder ein Versuch, „Wakkanai“ als japanisches Wort zu deuten. „Wakkanai“ ist höchstwahrscheinlich ein Wort aus der Ainu-Sprache, genau wie „Sapporo“. Aber ein ähnlich klingendes Wort, „Okkanai“, ist soweit ich weiß, ein japanisches Wort. Man kann sich jedoch täuschen. Wer weiß, vielleicht sind „sap- pari“ und „ukkari“ früher einmal Ortsnamen in einer Fremdsprache gewesen. (U, 130)

138 Vgl. ebda, S. 19. 139 Vgl. ebda, S. 23. 140 Vgl. ebda, S. 24. 141 Ebda, S. 22. 142 Ebda, S. 23. 143 Cronin schreibt hierzu auch: „Für den Reisenden ist Sprachkontakt ständig mit politischen Machtfragen be- haftet, und die sprachliche Dimension vernachlässigen, heißt Analysen von Reiseliteratur verfassen, die auf ver- hängnisvolle Weise unvollständig sind.“ (Ebda, S. 22.) 55

Bzw.: Die südliche Hälfte der Insel Sachalin, die vom Ende des russisch-japanischen Krieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges von den Japanern regiert wurde, trug damals den Namen „Karafuto“. „Kara“ bedeutet „Leere“ und „futo“ „plötzlich“. „Eine plötzliche Leere.“ Das ist eine private Etymologie, die nicht stimmt. (U, 149) Die Strategien, die die Erzählerin in diesen Zitaten anwendet, um sich den ihr unverständli- chen Wörtern anzunähern, erinnern stark an die Konzepte von Tawadas Übersetzungstheorie in Schrift einer Schildkröte. (vgl. V, 35ff.) Durch einen gezielten Fokus auf das Sprachmateri- al der Wörter gelingt es ihr hier nämlich, deren Bedeutungsrahmen zu erweitern und dadurch letztlich auch, neue, potentiell produktive Zusammenhänge zwischen den Sprachen zu gene- rieren. Dabei versucht sie erst gar nicht, den Eindruck zu erzeugen, dass zwischen diesen eine Beziehung der Transparenz144 besteht, sondern weist ganz direkt auf den rein experimentellen Charakter ihrer Sprachspiele hin. Auf diese Weise präsentiert sie einen alternativen Zugang zu Sprachdifferenzen, welcher es ihr ermöglicht, diese anzuerkennen und mit ihnen umzugehen, ohne sie negativ zu forcieren. Aus den Unterschieden ergeben sich vielmehr sprachschöpferi- sche Potentiale, welche abseits der üblichen Definitionen operieren und damit der Dichotomie von Eigenem und Fremden entgegenstehen. Allerdings sind das auch schon die einzigen Beispiele in U.S. + S.R., in denen die Erzäh- lerin von Verständnis- oder Übersetzungsschwierigkeit berichtet. Direkt auf das Handlungs- geschehen bezogene und auf die agierende intradiegetische Erzählfigur verweisende Erwäh- nungen von Kommunikationsproblemen und Sprachbarrieren finden sich im Text dagegen keine. Die Erzählerin bewertet stattdessen sogar die Qualität der Russischkenntnisse ihrer Mitreisenden. (vgl. U, 125) In verschiedenen Gesprächssituationen mit Einheimischen zeigt sie sich gleichermaßen souverän. Als sie z.B. auf Sachalin von einer Kellnerin gefragt wird, „ob sie noch Kaffee oder Tee trinken möchte“ (U, 137), kommentiert sie dies folgenderma- ßen: „Sie [=die Kellnerin] spricht die Wörter ‚Koofe‘ und ‚Tschai‘ sorgfältig aus.“ (U, 137f.) Ebenso gelassen reagiert sie später im Text auf die ähnliche Frage einer Kellnerin in New York: „Eine junge Kellnerin im kurzen roten Rock kommt zu meinem Tisch und fragt nach der Bestellung. […] die Sprache, die ihre Zunge befeuchtet, ist Englisch […] ‚Was möchten Sie?‘“ (U, 151f.) Da die Erzählerin allerdings, wie zuvor gezeigt worden ist, an anderen Stel- len im Text durchaus auf Sprachunterschiede eingeht, lässt sich ausschließen, dass sie poten- tielle Verständnisprobleme in diesen Ausführungen nur ignoriert. Sie dürfte also mehrspra- chig sein, d.h. neben dem Japanischen auch Russisch, Englisch und Deutsch beherrschen. Damit teilt sie eine weitere Eigenschaft mit Tawada selbst, die in diesen Sprachen ebenfalls

144 Vgl. Ebda. 56

bewandert ist.145 Dennoch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass es sich hierbei um ein pri- mär autobiografisch motiviertes Charakteristikum handelt. Die Mehrsprachigkeit der Erzähle- rin könnte auch das Ergebnis einer bewussten Gestaltungsentscheidung sein, welche darauf abzielt, die Erzählfigur als eine Art Begegnungsfigur zu inszenieren, in der die Grenzen zwi- schen den einzelnen behandelten Sprachen und damit ebenso jene zwischen den Ländern in- einander verschwimmen. Dies ist allerdings nur eine Vermutung. Die Tatsache, dass in der Erzählung auch andere Dichotomien dekonstruiert werden, würde allerdings für eine solche Lesart sprechen. Übersetzungsvorgänge beschränken sich in Werken der Reiseliteratur aber nicht nur auf die exemplarische Vorführung und Thematisierung von Sprachdifferenzen. Schon das Schrei- ben über fremde Eindrücke und Kulturen an sich erfordert vom Verfasser eine Übersetzungs- leistung. Michael Cronin schreibt hierzu: Das Paradox der Reiseliteratur besteht darin, daß sie Erfahrungen, die durch die Abwesenheit von Spra- che erst ermöglicht werden, wieder in Sprache zurückübersetzen muß. […] Sobald die Verwendung von Sprache als Kommunikationsmittel nicht mehr möglich ist, treten Erfahrungen für die Sinne Geruch, Geschmack, Gefühl, Gehör und Gesicht in den Vordergrund. Die Vorherrschaft des Visuellen bei feh- lendem Sprachkontakt ist ein Aspekt des Reisens […].146 In U.S. + S.R. mangelt es der Erzählerin zwar nicht an sprachlichen Kompetenzen, dennoch sind die Darstellungen ihrer Reiseerlebnisse vielfach so gestaltet, dass sie klar auf sinnlich ba- sierten Erfahrungen beruhen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Tawada, wie sich schon bei der Untersuchung der Tübinger Poetik-Vorlesungen gezeigt hat, körperlichen Emp- findungen und materiellen Reizen bei der Auseinandersetzung mit dem ‚Fremden‘ große Be- deutung beimisst. Entsprechend ist die Frequenz von sprachlichen Ausdrücken, die auf kör- perliche Wahrnehmungen verweisen, in ihrer Erzählung relativ hoch gehalten. So finden sich im Verlauf des Textes etwa um die neunzig Substantive, die Körperteile bezeichnen, und mehr als siebzig Verben, die für Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung stehen. Diese Begrif- fe verteilen sich dabei auf fast alle Textabschnitte. Jene, in denen solche Bezeichnungen nicht vorkommen, stellen die Ausnahme dar. Passend zu Michael Cronins Zitat überwiegen hierbei Ausdrücke, die sich auf das Visuelle beziehen. So lässt sich u.a. eine Vielzahl von Verben und Phrasen identifizieren, die den Vorgang des Sehens beschreiben, z.B. ‚sehen‘ (vgl. etwa U, 124), ‚betrachten‘ (vgl. etwa U, 127), ‚schauen‘ (vgl. etwa U, 128), ‚beobachten‘ (vgl. etwa

145 Dass Tawada japanisch und deutsch spricht, ist offensichtlich. Bevor sie nach Europa kam, hatte sie in Tokio zudem Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt ‚Russische Literatur‘ studiert. (vgl. Kloepfer; Matsunaga, Yoko Tawada-Biogramm, KLG Online.) Außerdem hält sie sich immer wieder in den USA auf, wo sie bereits mehrmals als ‚Writer in Residence‘ oder als Gastdozention an verschiedenen Universitäten tätig war. (vgl. Iva- novic; Matsunaga, Tawada von zwei Seiten, S. 108.) 146 Cronin, Andere Stimmen, S. 24. 57

U, 129), ‚auf die eigene Netzhaut brennen‘ (vgl. etwa U, 131), ‚starren‘ (vgl. etwa U, 133), ‚beachten‘ (vgl. etwa U, 138), ‚blicken‘ (vgl. etwa U, 145) etc. Außerdem werden Sinnesbezeichnungen im Text nicht nur für die Beschreibung von Wahrnehmungsvorgängen verwendet, sondern auch metaphorisch oder als Teil von Rede- wendungen eingesetzt, wie z.B. im Falle von „auf der Zunge [balancieren], die das Schiff ge- gen das Festland ausgestreckt hat“ (U, 124), „das Wasser im Mund zusammenlaufen“ (U, 125), „von Mund zu Mund überliefern“ (U, 132) oder „an der Nase herumführen“ (U, 136). Bei der Beschreibung von tatsächlich sinnlich gewonnenen Eindrücken setzt die Erzählerin hingegen immer wieder auf unkonventionelle Formulierungen und Vergleiche, wie „[die] Konsonanten […] hören sich an, wie der Flügelschlag eines im Wasser ertrinkenden Käfers“ (U, 125), „[die] Außenwand [erinnert] mich an eine Gänsehaut“ (U, 135), „[Er] spricht sie an wie ein junger Mann, der versucht, eine Frau zum Tanzen zu verführen.“ (U, 136) oder „Im mageren Licht sehen die Schienen aus wie alte Wunden an den Waden der Erde.“ (U, 138). Dies ist insofern spannend, weil die Erzählerin hierdurch einen Kontrast zwischen konventio- neller Sprachverwendung und subjektiver Weltsicht generiert. Gattungstypische Gestaltungs- merkmale und gewohnte Sichtweisen werden alternativen Betrachtungs- und Beschreibungs- möglichkeiten dabei so gegenübergestellt, dass erstere hinsichtlich ihrer Legitimität und all- gemeinen Gültigkeit in Frage gestellt werden. Nur weil es üblich ist, Dinge, Erlebnisse und Eindrücke in einer gewissen Art zu beschreiben, bedeutet dies nämlich noch nicht, dass eine solche Art sprachlicher Realitätsvermittlung zutreffend ist oder wirklich etwas über das Ge- schilderte aussagt. Ist eine Formulierung wie „die Nase voll haben“ letztlich tatsächlich akku- rater als z.B. „die Wunden auf den Waden der Erde“? Durch den gezielten Einsatz von gewissen Begriffen und Phrasen macht Tawada in ihrer Erzählung also bewusst, wie schwierig es ist, sinnlich Erlebtes in Sprache zu übersetzen. Wie bei sprachlichen Translationsvorgängen erweist sich damit auch jeder Anspruch auf eine all- gemein gültige und exakt zutreffende Darstellung der Wirklichkeit als fehlgeleitet und unhalt- bar. In der Erzählung wird somit aufgezeigt, dass es keinen gänzlich objektiven Zugang zu Welt und Wirklichkeit gibt.

3.3.4 U.S. + S.R. und Anton Tschechow: Eine kritische Auseinandersetzung mit Gattungs- konventionen Auch die Schauplatzwahl in U.S. + S.R. ergibt sich nicht zufällig. Die Entscheidung für den Handlungsort ‚Sachalin‘ stellt z.B. einen intertextuellen Bezug auf Anton Tschechow und dessen Buch Die Insel Sachalin dar. Bei diesem handelt es sich um eines der bekanntesten Werke des russischen Autors, in welchem er die Erkenntnisse seiner 1890 getätigten,

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mehrmonatigen Sachalin-Reise beschreibt.147 Entsprechend bezieht sich die Erzählerin im Laufe ihrer Schilderungen immer wieder darauf und verknüpft Verweise auf Tschechows In- selerlebnisse mit ihren eigenen Erfahrungen, wie z.B. in der folgenden Passage: Alexej kennt den Weg genau, obwohl es keinen Weg gibt. Ich komme außer Atem. „Können Sie noch? Können Sie noch?“, ruft er mit der Stimme eines Jungen. Der Junge muss schon tot sein. Warum ist er hier? Anton. Ach, Sie heißen auch Anton? Der Dorfjunge sprach zu Tschechow, ohne zu wissen, mit wem er sprach. Er starb in demselben Jahr wie Tschechow, von einem japanischen Soldaten ermordet. (U, 148) Ganz deutlich zeigt sich in diesem Zitat die enge Verbindung zwischen den beiden Sachalin- Texten. Die in U.S. + S.R. beschriebenen Reiseerlebnisse sind so gestaltet, dass sie mit denen Tschechows zusammenfließen und nicht von ihnen zu trennen sind. Die Erzählerin wandelt sozusagen auf den Spuren des russischen Schriftstellers und ist dabei von den sprichwörtli- chen ‚Geistern der Vergangenheit‘ umgeben. Im Gegensatz zum modernen Sachalin, das in Tawadas Erzählung erkundet wird, war die Insel zur Zeit Tschechows ein „besonders berüchtigter Verbannungsort“148 und galt als der „Inbegriff der strengsten russischen Sträflingskolonien“149. Sträflinge wurden „zur Ansied- lung dorthin geschickt“150, „zur Zwangsarbeit verurteilt“151 und lebten zum Teil in Gefängnis- sen152. Insgesamt war jedoch recht wenig über die konkreten Existenz- und Lebensbedingun- gen der dort ansässigen Verurteilten bekannt.153 Tschechow begab sich daher u.a. mit dem Ziel nach Sachalin, diese zu erforschen und Bericht darüber zu erstatten.154 Zu diesem Zweck setzte er sich vor seinem Reiseantritt mit einer „Unmenge Sekundärli- teratur“155 über Sibirien, Sachalin und das russische Strafrecht auseinander.156 Auf der Insel selbst führte er dann akribische „Feldforschungen“157 durch, die sich sowohl der topographischen und geographischen Landesnatur wie auch den Lebensverhältnissen der Be- völkerung widmeten.158 Auch stellte er eine Volkszählung an.159 Die Ergebnisse all dieser Untersuchungen und Bemühungen fasste er schließlich in Die Insel Sachalin zusammen.

147 Vgl. Karla Hielscher: Tschechow. Eine Einführung. München, Zürich: Artemis 1987. (=Artemis Einführun- gen. 34.) S. 85. 148 Rolf-Dieter Kluge: Anton P. Čechov – eine Einführung in Leben und Werk. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 56. 149 Ebda. 150 Dahlmann, Sibirien, S. 165. 151 Ebda. 152 Vgl. ebda. 153 Vgl. Kluge, Anton P. Čechov, S. 56. 154 Vgl. ebda. 155 Hielscher, Tschechow, S. 86. 156 Vgl. ebda. 157 Ebda. 158 Vgl. Kluge, Anton P. Čechov, S. 58. 159 Vgl. Hielscher, Tschechow, S. 87. 59

Karin Hielscher schreibt hierzu: Das Buch ist eine sehr genaue, kritisch sich mit der Sekundärliteratur auseinandersetzende Bestandsauf- nahme der Insel: eine Beschreibung aller Ortschaften und Ansiedlungen, der geographischen, klimati- schen, ethnischen und wirtschaftlichen Bedingungen, in die seine [=Tschechows] Erforschungen der Gefängnisse, der Verbanntensiedlungen, der Sozialstruktur der Häftlinge, ihres Familienlebens, der Si- tuation der Frauen und Kinder eingebettet sind.160 Das Werk besaß zur Zeit seines Erscheinens also durchaus wissenschaftlichen Erkenntniswert und brachte Tschechow entsprechende Anerkennung ein. So wurde sein Engagement etwa „durch die ehrenvolle Aufnahme in die Geographische Klasse der Moskauer Naturwissen- schaftlichen Gesellschaft gewürdigt“161. Bis heute findet sich zudem kaum eine landeskundli- che Veröffentlichung162 oder ein Reiseführer163 über die Region, in der oder dem Die Insel Sachalin nicht zumindest erwähnt wird. Die Gattungszuordnung des Buches hat sich allerdings über die Zeit hinweg verändert, sodass es mittlerweile weniger als ein empirisch-ethnologisches Werk geschätzt und mehr als ein bedeutender Teil von Tschechows literarischem Oeuvre betrachtet wird.164 Dies wird von der Erzählerin in U.S. + S.R. folgendermaßen kommentiert: Es könnte der Geist von Anton Tschechow sein, der mich zwingt, mich auf dieser Insel wie eine Ethno- login zu verhalten. Ethnologie war vor hundert Jahren, als er starb, noch nicht als literarische Gattung anerkannt. Heute glaubt man, die traditionelle Ethnologie wäre schon historisch geworden, weil es auf dieser Erde keine Einheimischen mehr gibt. In welchem Bücherregal einer Bibliothek wollte Tschechow sein Buch „Insel Sachalin“ stehen sehen? (U, 141f.) Die Unsicherheit von Tawadas Erzählfigur bezüglich der Intention, die Tschechow mit dem Verfassen seines Buches verfolgt hat, dürfte hierbei v.a. mit dessen Gestaltung zusammen- hängen. „Der große Schriftsteller kann sich“, wie Karla Hielscher schreibt, darin nämlich „nicht verleugnen“165. So verfasst Tschechow sein Werk nicht nur in der Ich-Perspektive166, sondern integriert neben „sachlichen, minutiösen Darstellungen“167 auch „Anekdoten, Kurz- geschichten und ganze Erzählungen“168 in den Text und variiert stilistisch zwischen „wissen- schaftlich-objektive[n], publizistisch-engagierte[n] und individuell-perspektivische[n] Darbie- tung[en]“169. Die Insel Sachalin ist damit ein „wissenschaftliches und zugleich belletristisches

160 Ebda, S. 87f. 161 Kluge, Anton P. Čechov, S. 58. 162 Vgl. etwa Dahlmann, Sibirien, S. 17f. 163 Vgl. etwa Bodo Thöns: Sibirien. Städte und Landschaften zwischen Ural und Pazifik. 5., vollständig überarb. u. erw. Aufl. Berlin: Trescher 2012, S. 387. 164 Vgl. etwa Kluge, Anton P. Čechov, S. 65. 165 Hielscher, Tschechow, S. 89. 166 Vgl. ebda. 167 Ebda, S. 91. 168 Kluge, Anton P. Čechov, S. 62. 169 Ebda, S. 63. 60

Werk“170, das zwar durchaus Erkenntniswert besitzt, allerdings hinsichtlich seiner Gattungs- zuordnung eine „merkwürdige Zwischenstellung“171 einnimmt. Der in U.S. + S.R. erfolgende, intertextuelle Bezug auf das Werk dürfte allerdings gerade dadurch motiviert sein. Durch die Vermengung von empirischen Fakten mit literarischen Elementen hat Tschechow mit Die Insel Sachalin nämlich einen Reisebericht verfasst, in dem das für die Gattung ‚Reiseliteratur‘ typische Verhältnis zwischen Fiktionalität und Authentizi- tät172 nicht nur deutlich erkennbar, sondern auch produktiv wirksam wird. Dem Autor ist es durch die „Inkonsequenzen in der Gestaltung“ 173 gelungen, eine Landesbeschreibung zu ver- fassen, die zur Zeit ihres Erscheinens sowohl wissenschaftlichen Wert besaß, als auch „inte- ressierten Laien eine anziehende Lektüre [bot]“174. Diesem Überschreiten der Gattungsgren- zen ist letztlich wohl auch die zeitüberdauernde Relevanz des Werkes zu verdanken. Für die gattungsreflexive und konventionskritische Gestaltungsebene von U.S. + S.R. bietet Tsche- chows Reisebericht damit einen perfekten Grundlagen- und Referenztext. Die Insel Sachalin ist allerdings nicht das einzige Beispiel aus Tschechows Oeuvre, in dem er sich abseits der Konvention bewegt bzw. diese überwunden hat. Auch im Theaterfach hat er, laut Hielscher, mit seinen „großen Dramen“175 einen „neue[n] Inszenierungsstil“176 und neue thematische Schwerpunkte etabliert177 und dadurch „das Theater der Moderne begrün- det“178. So sah er etwa von üblichen Handlungsabfolgen ab und verfasste stattdessen antikli- maktische Dramen, in deren Mittelpunkt die privaten und inneren (Alltags-)Konflikte ganz normaler Menschen standen.179 Er tauschte also die für die Zeit stereotypischen Darstel- lungsmuster gegen eine intensive Auseinandersetzung mit den persönlichen Gedanken und Problemen seiner Figuren ein.180 Es kann daher nicht verwundern, dass sich die Erzählerin in U.S. + S.R. wiederholt auf einige dieser Stücke bezieht. (vgl. etwa U, 140) Relativ am Ende der Erzählung, als sie sich gerade in New York befindet, schlägt sie einem befreundeten Regisseur sogar ein Projekt vor, dass sie „Tschechow-Ost“ (U, 152) nennt und das darauf abzielt, die Dramen Die Möwe, Die

170 Ebda, S. 65. 171 Ebda, S. 64. 172 Vgl. hierzu auch: Peter J. Brenner: Einleitung. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung der Gattung in der deut- schen Literatur. Hrsg. von P.J.B. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. (=suhrkamp taschenbuch. 2097.) S. 9. 173 Kluge, Anton P. Čechov, S. 64. 174 Ebda, S. 62. 175 Hielscher, Tschechow, S. 93. 176 Ebda. 177 Vgl. ebda, S. 94. 178 Ebda, S. 93. 179 Vgl. ebda, S. 94. 180 Vgl. ebda. 61

Drei Schwestern und Der Kirschgarten in den USA neu zu inszenieren. (vgl. U, 152) Die Re- aktion ihres Gegenübers auf diese Idee fällt allerdings nicht sehr positiv aus. Er meint: [...] ich habe die Nase voll von Russland. Mich interessieren entweder Europa oder Asien und nichts da- zwischen. Schreib lieber eine Erzählung über eine japanische Familie. […] Damit kann ich mehr anfan- gen. (U, 152) Die Art und Weise, in der die hier getroffene Aussage formuliert ist, erweist sich als sehr be- zeichnend für die Problematiken, mit denen sich U.S. + S.R. auseinandersetzt. Der Regisseur gibt sich durch sie als ein Vertreter der Dichotomie zu erkennen, der in klar abgesteckten De- finitionen denkt und den dementsprechend nur ein ‚Entweder/Oder‘, aber „nichts dazwischen“ (U, 152) interessiert. Mit Texten, in denen Gattungsgrenzen verschwimmen und Konventio- nen gebrochen werden, kann er daher nicht wirklich etwas anfangen (vgl. U, 152). Er lehnt den Bezug auf Tschechow, bei dem es sich, wie zuvor gezeigt wurde, um einen ‚Autor des Dazwischen‘ handelt, deshalb ab und plädiert dafür, dass sich die Erzählerin in ihrem Schrei- ben den Erwartungen der literarischen Gemeinschaft beugt. Die Erzählerin hingegen möchte mit ihrem Werk nicht nur Stereotype bedienen, was sie in folgendem Zitat zum Ausdruck bringt: […] mir [scheint] das Projekt „gute japanische Literatur zu schreiben“ ein Anachronismus zu sein. Be- sonders, wenn es sich um einen Familienroman handelt. a. Ich schreibe nichts. b. Ich tue so, als würde ich nicht schreiben. c. Mit dem Wissen, dass man nicht anders schreiben kann, immer anders schreiben und NIEMALS NICHT schreiben. (U, 152) Mit der hier getätigten Aussage bzw. Aufzählung macht die Erzählerin deutlich, dass sie Gat- tungs- und Gestaltungskonventionen v.a. kritisch gegenübersteht. Sie empfindet sie sozusagen als problematische Fiktionen. Allerdings ist ihr auch bewusst, dass sie ihnen nur schwer ent- gehen kann. Daher spielt sie im Zitat eine Reihe von möglichen Reaktionen auf dieses Di- lemma durch. So erkennt sie in Punkt a z.B., dass sie der Gefahr, klischeehafte Darstellungen zu erzeugen, entgehen könnte, indem sie einfach gar nicht schreibt. In Punkt c identifiziert sie diese Option allerdings als unzureichend und fehlgeleitet, was durch die durchgehende Groß- schreibung von „NIEMALS NICHT“ (U, 152) angezeigt wird. Hier hebt die Erzählerin statt- dessen den bewussten Umgang mit Gestaltungskonventionen hervor und erklärt diesen zu ei- ner Möglichkeit für eine alternative Annäherung an die Problematik. Sie plädiert in dieser Textstelle somit für ein Schreiben, das sich mit der eigenen Eingebundenheit in Gattungs- und Darstellungstraditionen auseinandersetzt. Insofern stellt der Bezug auf Tschechow in U.S. + S.R. ein weiteres Mittel für eine kritisch-reflexive Beschäftigung mit den Herausforderungen der Gattung ‚Reiseliteratur‘ dar.

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3.3.5 U.S. + S.R. und das ‚Dazwischen‘: Zu möglichen Verweisen auf die Theorie Homi K. Bhabhas in der Erzählung Bei der Präsentation der Schauplätze in U.S. + S.R. spielt aber nicht nur der intertextuelle Be- zug auf Tschechow eine entscheidende Rolle. Vielmehr erweist sich auch das Verhältnis, in dem die einzelnen Orte im Text zueinander stehen, als bewusst konstruiert und thematisch bedeutend. Wie z.T. schon im Rahmen der Erzähltextanalyse angedeutet wurde, stellt Tawada die in ihrer Erzählung erwähnten Reiseziele und Regionen nämlich nicht als voneinander ab- gegrenzt bzw. abgrenzbar dar, sondern rückt sie mithilfe verschiedenster Strategien der Ge- staltung ganz nah zusammen. Erstmals zeigt sich dies bereits, wenn man den Titel der Erzählung – U.S. + S.R. Eine Sauna in Fernosteuropa – betrachtet. In diesem gelingt es Tawada, die Grenzen zwischen den verschiedenen Reisezielen infrage zu stellen, indem sie sich auf spielerische Art und Weise mit den Bezeichnungen für die Länder und Regionen auseinandersetzt. So hebt sie mittels der Verwendung eines Pluszeichens etwa die sich innerhalb des Kürzels ‚USSR‘ befindliche Ab- kürzung ‚US‘ hervor und rückt dadurch die einander eigentlich häufig gegenübergestellten Nationen der USA und Russlands181 in unmittelbare Nachbarschaft zueinander. Ähnliches gilt für das Kompositum Fernosteuropa, welches sich aus ‚Fernost‘ und ‚Europa‘ zusammensetzt. V.a. die übliche dichotomische Unterscheidung zwischen Ost und West182 wird im Titel hier- durch aufgelöst. Im Erzähltext selbst zeigen sich dann v.a. im Verhältnis zwischen den Sachalin- und den New York-Schilderungen, welches die titelgebende U.S. + S.R.-Beziehung repräsentieren soll, offensichtliche Überlagerungen. Im Rahmen der Erzähltextanalyse wurde hierzu schon erwähnt, dass die Beschreibungen der beiden Reisen innerhalb des Textes nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich vielmehr gegenseitig bedingen und ergänzen. In den vorherge- henden Kapiteln wurde in diesem Zusammenhang etwa schon die auf Sachalin gewonnene Assoziation mit einem „Russe[n] in der Sauna“ (V, 147) und die darauffolgende Darstellung eines New Yorker-Saunabesuchs angesprochen (vgl. V, 147). Auch wurden die Grenz- bzw. Passkontrollerfahrungen erwähnt, welche die Erzählerin in der Sowjetunion und in New York gemacht hat (vgl. V, 134f.). Es lassen sich allerdings noch weitere Beispiele nennen.

181 Vgl. etwa: John Lamberton Harper: The Cold War. New York: Oxford University Press 2011, S. 1. 182 Vgl. etwa: Cornelia Grosser: Einleitung. In: Kultur und Literatur aus Europa in Europa. Die Rezeption Osteu- ropas vor und nach der Wende. Publikation zum Symposium der Osteuropa-Dokumentation im Literaturhaus in Wien. 8.-9. März 1996. Hrsg. von C.G. Wien: Zirkular 1996. (=Zirkular Sondernummer. 48.) S. 9. 63

So schlägt die Erzählerin z.B. im Zuge einer Erwähnung von Tschechows Die drei Schwes- tern eine Brücke zwischen den Orten, indem sie schreibt: „Drei Schwestern“ wurde 1901 in Moskau zum ersten Mal aufgeführt. Elf Jahre zuvor war Anton Tschechow auf Sachalin gewesen. Ich habe das Stück schon mehrmals gesehen, zuletzt in [!] CSC- Theater auf der Dreizehnten Strasse in New York. (U, 140) Außerdem handelt es sich bei ihrer Freundin Olga, deren Hochzeit sie in New York besuchen möchte, um eine gebürtige Russin (vgl. U, 133). An anderer Stelle wiederum beschreibt die Erzählerin, dass sie eine Kellnerin in der US-Stadt an die Mädchen in Sachalin erinnert (vgl. U, 151). Auf der Insel selbst erkennt sie dagegen ein Fahrzeug, das für einen Arbeitertransport eingesetzt wird, als einen amerikanischen Schulbus (vgl. U, 148). Am Ende der Erzählung be- sucht sie in New York zudem ein Lokal, das den Namen ‚KGB-Bar‘ trägt und entsprechend in russischem Stil ausgestattet ist (vgl. U, 151). In der ‚KGB-Bar‘ spielt sich die Schlusspassage der gesamten Erzählung ab. Die Erzähle- rin beschreibt darin deren Interieur: Auf der rechten Wand hängt eine rote Fahne stolz, aber schlapp wie die Fahne eines eingegangenen Sportvereins. Neben ihr sehe ich ein Plakat mit dem Bild eines Arbeiterehepaares, das so gesund aus- sieht, als käme es gerade aus einem Fitnesscenter. Hinter ihm stehen weitere gesunde Arbeiterpaare mit allen möglichen folkloristischen Attributen. An der linken Wand hängt ein Bild des kleinen Bärs Mischa, der einst das Symbol der Moskauer Olympiade war. Er hat ähnliche Ohren wie Micky Maus. Und all das kann man noch einmal in der Spiegelwand hinter der Theke sehen, an der die Kellnerin ge- rade eine mit roter Flüssigkeit gefüllte Flasche aus dem Kühlschrank geholt hat. (U, 153) Die Erzählerin spielt auch in dieser Textstelle mit dem Verhältnis zwischen den USA und Russland. Hierzu weist sie zum einen auf das (stereo-)typisch sowjetische Dekor der Bar hin, indem sie etwa mehrmals die Farbe ‚rot‘ oder das Maskottchen der Moskauer Olympiade er- wähnt. Zum anderen zieht sie zur Beschreibung dieser „folkloristischen Attribute“ (U, 153) allerdings Vergleiche heran, die man normalerweise eher mit der amerikanischen oder der westlichen Konsumkultur verbinden würde, wie z.B. das Fitnesscenter oder Mickey Mouse. Die Verbindung, die sie so zwischen den beiden hier aufeinandertreffenden Kulturen herstellt, ist eine, die v.a. auf Kontrasten beruht. Gleichzeitig handelt es sich bei der im Zitat präsentierten Beziehung zwischen den USA und Russland aber auch um eine der Nachahmung. Die Einrichtung der KGB-Bar stellt eine Imitation des Russischen aus amerikanischer Perspektive dar. Hierdurch mutet die Passage fast wie ein Verweis auf Homi K. Bhabha und dessen Konzept der ‚Mimikry‘ an. Bhabha setzt sich in diesem nämlich mit dem Vorgang der „kolonialen Imitation“183 auseinander und

183 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Schiff und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000. (=Stauffenburg Discussion. 5.) S. 127. 64

deckt im Zuge dessen den ‚ambivalenten‘184 Charakter dieser Form von ‚kultureller Aneigung‘185 auf. In seinem Werk Die Verortung der Kultur (engl. The Location of Culture) definiert er die ‚Mimikry‘ als „das Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist“186. Damit meint er, dass sie für die Kolonisatoren eine Form der Machtausübung darstellt, deren Sinn und Zweck es ist, der eigenen Überlegenheit gegenüber den Kolonisierten Ausdruck zu verlei- hen.187 Die Kultur des Beherrschten wird der des Beherrschenden angeglichen, erreicht deren Status aber doch nie ganz und bleibt durch diese Differenz immer in der Position des ‚Ande- ren‘.188 Allerdings argumentiert Bhabha, dass die ‚Mimikry‘ auch die Identität des Kolonisa- tors selbst bedroht.189 Das im Zuge der Nachahmung entstehende Bild von der beherrschen- den Kultur generiert nämlich zwangläufig eine nur lückenhafte Repräsentation des Origi- nals.190 Dieses wird in der Abbildung durch das ‚Andere‘, d.h. durch die Kolonisierten, somit ebenfalls verfremdet.191 María Varela und Nikita Dhawan fassen dies – mit Bezug auf Bhabha – auch folgendermaßen zusammen: Die Wiederholung könne, so Bhabha, niemals mit dem so genannten ‚Original‘ identisch sein. Der Pro- zess der Übersetzung – der Wiederholung innerhalb eines anderen Kontextes – schlage gezwungener- maßen eine Lücke in das angenommene ‚Original‘, womit der Kolonialismus selbst die Identität und Autorität der Kolonisatoren fragmentiere.“192 Wendet man diese Theorie nun auf die oben zitierte Textstelle an, lässt sich sagen, dass die Einrichtung der KGB-Bar ganz offensichtlich eine Nachahmung oder zumindest den Versuch einer Nachahmung dessen darstellt, was üblicherweise als ‚russisch‘ angesehen wird. Die Er- zählerin drückt mittels der Art ihrer Beschreibung allerdings aus, dass die Imitation – bedingt durch die Einflüsse des amerikanischen und damit kulturell abweichenden Settings – lücken- haft ist. Das Ergebnis dieses mimetischen Kulturkontakts ist daher, ähnlich wie bei Bhabha, eine Abbildung des ‚Originals‘, die dessen angenommene Einheitlichkeit und konkrete Defi- nierbarkeit als Fiktionen entlarvt. Man könnte jedoch argumentieren, dass diese Interpretation der Textpassage, aufgrund des fehlenden kolonialen Machtverhältnisses, nicht ganz aufgeht. Im Gegensatz zum Konzept

184 Vgl. ebda, S. 126. 185 Vgl. ebda, S. 127. 186 Ebda, S. 126. 187 Vgl. ebda, S. 127. 188 Vgl. ebda. 189 Vgl. ebda. 190 Vgl. ebda, S. 131. 191 Vgl. ebda. 192 María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Homi K. Bhabha – Von Mimikry, Maskerade und Hybridität. In: M.M.C.V.; N.D.: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript 2005. (=Cultural Studies. 12.) S. 89f. 65

der kolonialen ‚Mimikry‘, bei welcher es sich um eine „doppelte Artikulation“193 handelt, ist die amerikanische Identität im hier behandelten Zitat nämlich zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Der Vorgang der Imitation passiert vielmehr aus freien Stücken und beruht nicht auf einem Versuch ‚kultureller Aneignung‘. Diesem Umstand trägt Tawada allerdings durch den Einsatz der Spiegelmetapher Rechnung. Mittels der Formulierung „Und all das kann man noch einmal in der Spiegelwand hinter der Theke sehen“ (U, 153) generiert sie nämlich eine Spiegelung der Bar, die auch die zuvor beschriebenen amerikanischen Vergleichsbilder (das Fitnesscen- ter, Mickey Mouse, etc.) einschließt. Diese werden damit ebenfalls mimetisch abgebildet und dadurch gleichermaßen als lückenhaft und inhomogen ausgewiesen.194 Zudem handelt es sich bei dieser Spiegelung eigentlich um die Imitation der Imitation, d.h. um eine spiegelverkehrte Wiedergabe des Beschriebenen, was letztlich eine Umkehrung der zuvor etablierten Positio- nen von Original- und Differenzobjekten zur Folge haben müsste. In der Textstelle stellen die Einflüsse des Russischen die Konzeption der amerikanischen Identität somit ebenso in Frage wie umgekehrt. Insgesamt dekonstruiert Tawada in ihrer Schlusspassage dadurch erneut die Vorstellung, dass die einzelnen Kulturen unabhängig voneinander und in sich geschlossen existieren. Mithilfe von Bhabhas ‚Mimikry-Konzept‘ veranschaulicht sie vielmehr ihre wech- selseitige Beeinflussung. In U.S. + S.R. scheint es zudem noch weitere Bezüge auf Homi K. Bhabha zu geben. So taucht in der Erzählung etwa immer wieder die Zahl 3 auf. Die meisten Aufzählungen beste- hen z.B. aus drei Punkten (vgl. etwa U, 152f.). Außerdem treten Adjektive häufig in Trios auf (z.B. im Falle von „Sie sind nackt, rau und grau.“ (U, 139) oder „dunkelblau, sauber, verwa- schen“ (U, 145)). Auch werden verschiedene Dinge und Ereignisse als dreifach vorkommend beschrieben.195 Hierbei könnte es sich möglicherweise um einen indirekten Verweis auf Bhabhas Konzept des „Dritten Raumes“196 handeln, mittels welchem er ebenfalls „die Bezie-

193 Bhabha, Verortung der Kultur, S. 127. 194 Franziska Schößer weist darauf hin, dass sich auch Bhabha in seinem Werk – mit Bezug auf Lacan und Frantz Fanon mit dem Spiegelblick auseinandergesetzt habe, wobei es ihm vor allem um die Verbundenheit zwi- schen dem Ich und dem Anderen – im Sinne der „Andersheit des Selbst“ – gegangen sei. Sie schreibt hierzu: „Das Selbst gleich einem Vexierbild, kann sich nicht als geschlossene Repräsentation wahrnehmen. Denn ver- doppelt sich das Ich identifikatorisch im Bild, so wird es zugleich zwischen Ich und Bild aufgespalten und die Vision von Fülle, von Ganzheit, negiert.“ (Franziska Schößler: Die Ähnlichkeit von Ich und Anderem: Homi K. Bhabha. In: F.S.: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen, Basel: A. Francke 2006, S. 150.) 195 Unter anderem bekommt die Erzählerin vor ihrer Reise nach Sachalin von einem bekannten „drei Bücher“ (U, 125); bei den Frauen auf dem Schiff ist „jedes dritte Wort […] durch ein russisches […] ersetzt“ (U, 125); auf dem Schiff bekommt die Erzählerin „drei gleiche Formulare in die Hand [gedrückt]“ (U, 128); auf Sachalin be- kommt sie „drei Spiegeleier“ (U, 139) zum Frühstück und kommentiert das Angebot mit „Drei Könige, Dreiei- nigkeit, drei Ringe, drei Schwestern.“ (U, 140) etc. 196 Bhabha, Verortung der Kultur, S. 55. 66

hung zwischen den Kulturen“197 zu beschreiben versucht. Grob zusammengefasst definiert er diesen als eine Art Zwischenraum, den Äußerungen durchlaufen und an dem Bedeutungen und kulturelle Symbole neu verhandelt werden können.198 Auch generell bemüht sich Bhabha in „seiner eigenen Theoriebildung“, so María Varela und Nikita Dhawan, um eine „Klärung des ‚Dazwischen‘“, d.h. um eine Untersuchung und Erläuterung der Vorgänge, die sich im „Zwischenraum“199 der Kulturen abspielen.200 Passend zu den fluiden kulturellen Bezügen, die Tawada in ihrer Erzählung zu entwerfen versucht, geht er ebenfalls davon aus, dass „Kulturen […] niemals in sich einheitlich [sind], und […] auch nie einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen [sind]“201. In Die Verortung der Kultur verwendet er daher u.a. Begriffe wie „kulturelle Grenz-Arbeit“202 und „Akt des Darüberhinausgehens“203.204 Entsprechend könnte es sich bei der Darstellung Sachalins in U.S. + S.R. ebenfalls um ei- nen versteckten Textbezug auf Bhabha handeln. Sachalin wird im Verlauf der Erzählung näm- lich nicht nur als ein russischer Gegenpol zum amerikanischen Handlungsort New York in- szeniert, sondern nimmt häufig auch eine weitaus weniger fixierte Position ein. Angelehnt an den Untertitel Eine Sauna in Fernosteuropa präsentiert sich die Insel im Text immer wieder als ein Begegnungspunkt (oder eben Zwischenort) für die – durch das Kompositums Fernost- europa ausgedrückte – Ost-West-Dichotomie. Dies zeigt sich etwa in folgendem Zitat: „Hokkaido sieht aus wie ein Fisch“, sagt Alexej euphorisch […], „und auch die Insel Sachalin ist ein Fisch. Hokkaido ist eine Scholle, die in Richtung Osten schwimmt und Sachalin ist ein Lachs. Man weiß nicht genau, ob die obere Spitze sein Kopf ist oder die untere. Einer Sache kann man sich aber si- cher sein: er schwimmt weder nach Westen, nach Moskau, noch nach Osten, nach Amerika.“ (U, 142) Eine solche Darstellung Sachalins ist vor allem deshalb möglich, weil sich die kulturelle Zu- gehörigkeit und Identität der Insel und ihrer Bewohner nur schwer festmachen lässt. Ge-

197 Varela; Dhawan, Homi K. Bhabha, S. 97. 198 Bhabha beschreibt das Konzept des Dritten Raumes u.a. wie folgt: „Um Bedeutung zu produzieren, ist es er- forderlich, daß diese zwei Orte [=das Ich und das Du] in eine Bewegung versetzt werden, bei der sie einen drit- ten Raum durchlaufen. Dieser Raum repräsentiert sowohl die allgemeinen Bedingungen der Sprache als auch die spezifischen Implikationen der Äußerung innerhalb einer performativen und institutionellen Strategie, derer sich die Äußerung nicht ‚in sich‘ bewußt sein kann. Durch diese unbewußte Beziehung kommt es zu einer Ambiva- lenz im Akt der Interpretation.“ (Bhabha, Verortung der Kultur, S. 55) 199 Ebda, S. 4. 200 Vgl. Varela; Dhawan, Homi K. Bhabha, S. 87. 201 Bhabha, Verortung der Kultur, S. 54. 202 Ebda, S. 10. 203 Ebda, S. 5. 204 Eines von Bhabhas bekanntesten Konzepten stellt in diesem Zusammenhang jenes der „kulturellen Hybridi- tät“ (Bhabha, Verortung der Kultur, S. 3.) dar. David Huddart erklärt dieses folgendermaßen: „Bhabha’s writing emphasizes the hybridity of cultures, which on one level refers tot he mixedness, or even ‚impurity‘ of cultures – so long as we don’t imagine that any culture is really pure. This term refers to an orginal mixedness within every form of identity […] But Bhabha insists less on hybridity than on hybridization; in other words, he insists on hybridity’s ongoing process. In fact, for Bhabha there are no cultures that come together leading in hybrid forms; instead, cultures are the consequence of attempts to still the flux of cultural hybridity.“ (David Huddart: Homi K. Bhabha. London, New York: Routledge 2006. (=Routledge Critical Thinkers.) S. 6.) 67

schichtlich handelt es sich bei ihr um einen Ort, der über die Jahrhunderte hinweg in ständi- gem Wandel begriffen war und diverse Völker beheimatet hat. Die Erzählerin erwähnt in die- sem Zusammenhang etwa die Oroki (vgl. U, 146) und die Ainu (vgl. U, 130), streift aber auch wiederholt die stetigen Verschiebungen in der Machthabe und Besiedlung der Insel. (vgl. et- wa U, 149). V.a. Russland bzw. die Sowjetunion und Japan waren in diesem Zusammenhang bedeutend und kämpften immer wieder um deren Beherrschung.205 Bis zur Mitte des 20. Jahr- hunderts gehörte die Südhälfte der Insel zu Japan, welches sie schließlich, nach diversen Kämpfen und Kriegen, an die Sowjetunion abtrat.206 Bis heute ist der japanische Einfluss auf Sachalin allerdings nicht ganz verschwunden, weswegen die Insel ein kulturell vielfältiger und v.a. nicht festlegbarer Ort geblieben ist.207 In U.S. + S.R. schreibt die Erzählerin hierzu auch: Viele Moskauer stöhnen, wenn sie den Namen Sachalin hören. Für sie liegt diese Insel in einer hoff- nungslosen Ferne. Von Japan aus gesehen ist sie aber nicht weit entfernt. An der engsten Stelle ist der Abstand nur fünfzig Kilometer. „Europa vor der Tür“ heißt der Werbespruch eines japanischen Reise- büros, das die Reise nach Sachalin anbietet. Zwischen dem Frühstücksteller in Yujino Sachalinsk und dem in Wakkanai liegen jedoch mindestens zehntausend Kilometer. Die Ernährung in Sachalin orien- tiert sich an Moskau. (U, 141) In diesem Zitat kommt klar heraus, dass Sachalin sich weder gänzlich Moskau, d.h. Russland, noch Japan zuordnen lässt. Die Insel liegt, kulturell gesehen, irgendwo ‚dazwischen‘. U.S. + S.R. ist damit, auch was die Schauplatzdarstellungen betrifft, so gestaltet, dass Di- chotomien unterlaufen und konventionelle Kulturkonzeptionen in Frage gestellt werden. Der Bezug auf Bhabha stellt hierbei allerdings nur einen möglichen Erklärungsversuch für die Art ihrer Inszenierung dar. Er muss aber nicht notwendigerweise zutreffend sein. Aufgrund von Tawadas akademischem und v.a. geistes- und kulturwissenschaftlichem Bildungshintergrund wäre es allerdings durchaus möglich, dass sie sich in U.S. + S.R. auf den bekannten Theoreti- ker bezieht. Zumindest würde es sich hierbei um ein weiteres Beispiel für eine produktive Verschränkung von literarischem Schaffen und theoretischen Einflüssen in ihrem Werk han- deln.

205 Vgl. etwa Dahlmann, Sibirien, S. 164. 206 Vgl. ebda, S. 273. 207 Vgl. ebda. 68

4 Abenteuer der deutschen Grammatik: Yoko Tawadas poetische Lingu- istik

4.1 Einführende Bemerkungen

Eine Arbeit, die sich mit dem Verhältnis von Theorie und Literatur in Tawadas Oeuvre ausei- nandersetzt, muss auch eine genauere Betrachtung ihres erstmals 2010 erschienenen Buches Abenteuer der deutschen Grammatik. Gedichte beinhalten. Hierbei handelt es sich nämlich um ein Werk, in welchem die Autorin sozusagen Sprachanalyse in literarischer Form betreibt. In Kurztexten, deren literarischen Charakter sie im Untertitel des Buches hervorhebt, indem sie sie als ‚Gedichte‘ klassifiziert, macht sie auf humoristische-kritische Weise208 die Beschaf- fenheit und die Eigenschaften (bzw. –heiten) der deutschen Sprache zum Thema.209 Entspre- chend heißt es im Klappentext des Buches auch: Yoko Tawada bringt in diesen Gedichten die deutsche Grammatik zum Tanzen. Sie bewegt sich mit Leichtigkeit durch verschiedene Sprach- und Bildwelten, man folgt ihr vergnügt und sieht danach man- ches mit anderen Augen.210 Von den fünf Kapiteln, aus denen sich Tawadas Werk insgesamt zusammensetzt, wird sich die hier folgende Analyse nur dem ersten widmen, da die Verschränkung von Literatur und Theorie in diesem am stärksten ausgeprägt ist. Ebenfalls mit Abenteuer der deutschen Gram- matik betitelt, besteht es aus zwanzig ‚Gedichten‘, in denen der normative Charakter der deut- schen Grammatik durch die literarische Inszenierung und Bearbeitung grammatischer Regeln veranschaulicht und in der Folge in Frage gestellt wird. Das enge Verhältnis, das dabei zwischen Sprachwissenschaft und Poesie vorherrscht, ist bereits graphisch markiert. Die ‚Gedichte‘ sind allesamt auf Papier gedruckt, auf dessen Hin- tergrund Seiten aus einem deutschen Grammatik-Werk abgebildet sind. (vgl. AdG, 6-26) Es fungiert dadurch, so Monika Schmitz-Emans, „als blasse, aber sichtbare Trägersubstanz der Gedichttexte“211, d.h. als eine Art Folie, die sowohl den Kontrast zu wie auch die Verbindung mit den Werken anzeigt, auf die sich die ‚Gedichte‘ beziehen.212 Man könnte deshalb auch sagen, dass Wissenschaft in den Texten literarisch um- bzw. anders geschrieben wird. Das

208 Michaela Holdenried schreibt hierzu auch: „Der Entzug, die mimetische Biegsamkeit und die ironische Sub- version sind typische Konfigurationen im Werk Tawadas.“ (Holdenried, Tawadas Poetik der Überschreitung, S. 260.) 209 Vgl. hierzu auch: Ilma Rakusa: Die Welt als Zeichen. Yoko Tawadas eigenwillige (Über)Setzungen. In: Yoko Tawada. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2011. (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. 191/192.) S. 74. 210 Yoko Tawada: Abenteuer der deutschen Grammatik. Gedichte. 2. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2011, Klappentext am Buchrücken. (Im Folgenden im Text zitiert als: AdG, Seitenzahl) 211 Monika Schmitz-Emans: Yoko Tawadas Imaginationen zwischen westlichen und östlichen Schriftkonzepten und –metaphern. In: Yoko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Or- trud Gutjahr. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2012, S. 293. 212 Die so auf den Buchseiten abgebildeten Grammatik-Regeln korrespondieren allerdings nicht mit jenen, die in den Texten behandelt werden. Sie werden im Folgenden also nicht weiter in die Betrachtung einbezogen. 69

Ziel und Thema der folgenden Analyse ist es, zu untersuchen, wie genau Tawada dies in ihren ‚Gedichten‘ – formal wie inhaltlich - umsetzt.

4.2 Tawadas linguistische Gedichte als eine Grammatik der Verfremdung?

Für eine Analyse von Tawadas poetischer Linguistik ist es zunächst nötig, einen Blick auf die Haltung zu werfen, mit der sie den Themen ‚Grammatik‘ und ‚Sprache‘ in ihren Gedichten begegnet. Hierzu lässt sich der einleitende Kurztext von Abenteuer der deutschen Grammatik heranziehen, in welchem diese einführend thematisiert und repräsentiert ist:

Groß aber leise „Mein Deutsch“ schreibe ich groß und spreche es leise aus. Die „deutsche“ Grammatik schreibt man klein mit Größenwahn. (AdG, 7)

Der Inhalt dieses Gedichts behandelt das problematische Kontrastverhältnis zwischen persön- licher Sprachverwendung und der hier durch den Begriff ‚Grammatik‘ repräsentierten Vor- stellung eines standardsprachlichen Ideals, das es einzuhalten oder zu erreichen gilt213. Der Anspruch auf sprachliche bzw. grammatikalische Korrektheit wird vom lyrischen Ich darin als so übermächtig empfunden, dass sein Vertrauen in die eigenen sprachlichen Fähigkeiten erschüttert ist, was in der Folge auch generell einen Schatten auf seine Beziehung zur Sprache ‚Deutsch‘ wirft. Schon die Bezeichnung „mein Deutsch“ (AdG, 7) traut es sich nur leise aus- zusprechen. (vgl. AdG, 7) Die damit thematisierte scheinbare Autorität der Sprachnorm wird im Gedicht allerdings als ungerechtfertigt entlarvt bzw. durch den gezielten Verweis auf die grammatischen Regeln der Groß- und Kleinschreibung ad absurdum geführt. Während sich das individuelle ‚Deutsch‘ nämlich in der grammatisch korrekten Schreibweise mit großem Anfangsbuchstaben präsentiert, handelt es sich bei dem attributiven Adjektiv ‚deutsche‘ in der Phrase „die ‚deutsche‘ Grammatik“ (AdG, 7) zwangsläufig um ein kleingeschriebenes Wort.214 Gerade in der regelgetreuen Anwendung der grammatischen Formen ist die hierar- chische Unterscheidung zwischen deutscher Standardsprache und persönlichem ‚Deutsch‘ damit umgekehrt. Dies wiederum wirft die Frage auf, wie geeignet das standardsprachlich Korrekte letztlich wirklich ist, um die Sachverhalte, mit denen es sich auseinandersetzt, akku- rat zu beschreiben. Der Status der Sprachnorm wird im Gedicht so relativiert. Er beruht, wie im oben zitierten Text gezeigt wird, nämlich nicht auf einem fundierten und gerechtfertigten Überlegenheitsanspruch, sondern nur auf einem Gefühl von „Größenwahn“ (AdG, 7), was

213 Vgl. hierzu auch: Ernst, Germanistische Sprachwissenschaft, S. 43. 214 Zu den üblichen Regeln der Groß- und Kleinschreibung vgl. auch: Duden, Die Grammatik, S. 85ff. 70

durch die anlautende Korrespondenz zwischen diesem Wort und dem Wort ‚Grammatik‘ zu- dem noch zusätzlich unterstrichen wird. Die Aussagen dieses Gedichtes stimmen ganz mit Tawadas üblichem Sprachbild bzw. – zugang überein. Evelyn Finger schreibt etwa, dass sich die Autorin in ihren Texten auf die „Suche nach einer Sprache jenseits der Phrasen [begibt], einer Sprache, die sich selbst und ihr Erkenntnisvermögen problematisiert“215 und auch Michiko Mae meint, dass Tawada in ihrem Schreiben häufig „den konventionellen Gebrauch der Sprache relativiert“216. Entsprechendes hat sich in dieser Arbeit bereits bei der Analyse der Tübinger Poetik-Vorlesungen gezeigt, in welchen sich Tawada wiederholt kritisch über Sprachbeherrschungsvorstellungen geäußert und sich stattdessen mit den produktiven Aspekten eines normabweichenden Sprechens aus- einandersetzt hat. (vgl. etwa V, 11) Die Gedichte in Abenteuer der deutschen Grammatik sind deshalb ebenfalls sprachkri- tisch und sprachreflexiv gestaltet. Hierbei greift Tawada auf Techniken des Sprachspiels217 zurück. Indem sie – wie oben – die regelgerechte Verwendung der deutschen Grammatik ge- zielt thematisiert und ad absurdum führt, macht sie auf das „regelwidrige Potential im ganz geläufigen Gebrauch der Sprache“218 aufmerksam und relativiert so die üblichen Normen und Konventionen. Als ein weiteres Beispiel hierfür lässt sich folgendes Gedicht angeben:

Die zweite Person Ich Als ich dich noch siezte, sagte ich ich und meinte damit mich. Seit gestern duze ich dich, weiß aber noch nicht, wie ich mich umbenennen soll. (AdG, 8)

Auch in diesem Gedicht basiert die Sprachreflexion primär auf der Darstellung des Kontrasts zwischen außersprachlicher Wirklichkeit und grammatischem Ausdruck. Das lyrische Ich weist hierzu auf eine paradigmatische Inkonsistenz bei der Verwendung von Personalprono- men hin. Während es in der zweiten Person Singular (und eigentlich auch Plural) nämlich möglich und sogar üblich ist, eine Annäherung im Beziehungsverhältnis zwischen zwei Per- sonen zu markieren, in dem man von der Höflichkeitsform ‚Sie‘ zum informellen ‚du‘

215 Evelyn Finger: Deutsche Sprache und europäische Kultur als zweite Heimat. Yoko Tawadas transitorische Methode des Schreibens. In: Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart. Hrsg. von Paul Michael Lützeler und Jennifer M. Kapczynski. Göttingen: Wallstein 2011, S. 263. 216 Mae, Tawada Yokos Literatur als transkulturelle und intermediale Transformation, S. 369. 217 Vgl. Gutjahr, Vorwort, S. 8. 218 Andrea Krauß: ‚Talisman‘ – ‚Tawadische Sprachtheorie‘. In: Migration und Interkulturalität in neueren lite- rarischen Texten. Hrsg. von Aglaia Blioumi. München: Iudicium 2002, S. 55-77. 71

wechselt219, gibt es in der ersten Person Singular grammatisch gesehen keine gleichwertige Möglichkeit, um dieser Veränderung im zwischenmenschlichen Bereich sprachlich Rechnung zu tragen. Die Wechselseitigkeit des sich in solchen Situationen vollziehenden Wandels wird im konventionellen Gebrauch des Deutschen damit nicht ausreichend repräsentiert. Explizit wird dieser Umstand hierbei bereits im Titel des Gedichts benannt. Die zweite Person Ich be- zeichnet die Lücke, die im Flexionsparadigma der Pronomen klafft und die es – ähnlich wie die Regeln der Groß- und Kleinschreibung in Groß aber leise - daher zu einem unzureichen- den Instrument für die Beschreibung menschlicher Kontakte macht. Auch sonst sind die Texte von Abenteuer der deutschen Grammatik von dieser Haltung gegenüber bzw. diesem Umgang mit grammatischen Normen und Regeln geprägt. Man könn- te also sagen, dass Tawada die deutsche Sprache oder den konventionellen Gebrauch der deutschen Sprache in ihren Gedichten „poetisch verfremdet“220 oder wie Hannah Arnold schreibt: Wer sich als Muttersprachler in Yoko Tawadas deutschen Sprachraum wagt, […] muss damit rechnen, dass er nach dieser Erfahrung nicht mehr lesen wird wie zuvor: Die japanische Autorin führt uns Be- sonderheiten einer Sprache vor Augen, die wir von Geburt an zu ‚beherrschen‘ meinen. […] Indem sie ihre durch die Bildlichkeit der ideografischen ‚Muttersprache‘ geprägte Denkweise auf die deutsche ‚Fremdsprache‘ überträgt, vermag sie es, uns vor der Blindheit zu großer Nähe zu heilen.221

4.3 Abenteuer der deutschen Grammatik – Gedichte?

4.3.1 Versuch einer Lyrikanalyse Während im vorhergehenden Unterkapitel nun bereits einiges darüber gesagt worden ist, wie Tawada in ihren ‚Gedichten‘ mit den Themen ‚Grammatik‘ und ‚Sprache‘ umgeht, sind die formal-literarischen Eigenschaften der Texte bisher weitgehend unerwähnt geblieben. Welche Gestaltungsstrategien nutzt die Autorin, um ihnen ‚poetischen‘ Charakter zu verleihen? Was macht die Abenteuer der deutschen Grammatik als ‚Gedichte‘ aus? Dies sind die Fragen, die im Folgenden beantwortet werden sollen. Betrachtet man die zuvor zitierten Gedichte Groß aber leise und Die zweite Person Ich, fällt zunächst auf, dass sie schon hinsichtlich ihres Aussehens, d.h. ihrer Druckform, als lyri- sche Texte gestaltet sind. Die in den einzelnen Zeilen stehenden Wörter und Satzteile muten wie Verse an. Allerdings lässt sich in keinem der beiden Gedichte ein metrisches Gliede- rungsprinzip feststellen. Auch ist die Versaufteilung nicht durch Reimschemata bedingt. Das einzige regelhafte Ordnungsprinzip, das sich identifizieren lässt, ist eine auf der Silbenzahl basierende Organisation der Verszeilen in Groß aber leise (Schema 8-5-8-5). (vgl. AdG, 7)

219 Vgl. Duden, Die Grammatik, S. 267. 220 Kilchmann, Enden der Einsprachigkeit, S. 72. 221 Vgl. Arnold, Sprachmutter für Muttersprachler, S. 6. 72

Die Gliederung von Die zweite Person Ich präsentiert sich dagegen als gänzlich uneinheitlich. Zwar stimmen die meisten Zeilengrenzen mit den Satzteilgrenzen überein, doch dies ist nicht konsequent durchgehalten. (vgl. AdG, 8) Außerdem finden sich in Abenteuer der deutschen Grammatik auch Gedichte, die im Blocksatz gedruckt sind, d.h. an der Oberfläche überhaupt keinem lyrischen Strukturierungsprinzip zu folgen scheinen, wie z.B.:

Schienenersatzverkehr Der Zug fährt heute in der umgekehrten Reihenfolge ein: das übliche Spiel der Eisenbahngesellschaft. In einer Reise nach Jerusalem kann man keinen Sitz reservieren Du hast neun Wörter zu sagen und es gibt keinen achtsamen Fahrgast. Ganz am Ende eines Schlangensatzes warte ich, das Verb, auf dich, das Subjekt. Inzwischen passierten schon zwei Unfälle im vierten Fall: Es gab einen Selbstmord und einen Personalschaden. Ein einziger Toter – zweimal gestorben. Ich bin gern ein Verb. Bitte benutzen Sie den Schienenersatzverkehr! Werden die Schienen ersetzt oder ist es ein er, der im Verkehr ausgesetzt wird? Ein Satz macht einen großen Satz über fremde Schatten und verkehrt mit dem Sinn des Sagbaren in der umgekehrten Reihenfolge. (AdG, 9)

Bei der Wahl des Blocksatzes für die Darstellung dieses ‚Gedichts‘ handelt es sich allerdings nicht um eine arbiträre Gestaltungsentscheidung. Sie ergibt sich vielmehr aus dem Inhalt des Textes und dient dazu, den verfremdenden Effekt, der in ihm – bezogen auf die in ihm behan- delten Themen ‚Textgestaltung‘, ‚Syntax‘ und ‚Sinnbildung‘ – erzeugt werden soll, noch zu- sätzlich zu unterstreichen.222 Die Art des Druckes, in der sich die Abenteuer der deutschen Grammatik präsentieren, ist also nicht nur mimetischer Natur (d.h. keine rein oberflächliche Nachahmung von und Angleichung an lyrische Texte), sondern erfüllt in den einzelnen Ge- dichten jeweils eine wichtige Funktion. Tawadas Texte entsprechen damit zwar nicht klassi- schen Lyrikkategorien, lassen sich aber sehr wohl als moderne Ausprägungen der Gattung einstufen, denn wie etwa Heinrich Detering schreibt: [I]n weiten Teilen der modernen Lyrik [tritt] an die Stelle der metrischen Regulierung, an die sie sicht- bar erinnert, die grafische Anordnung der Wörter und Zeilen auf dem Papier, die etwa durch die Länge der Verse und Versgruppen Phrasierungen erzeugen und Zeilenumbrüche rhetorisch und semantisch aufladen kann.223

222 Dies wird im weiteren Verlauf dieses sowie des nächsten Kapitels noch genauer erläutert werden. 223 Heinrich Detering: Rhetorik und Semantik lyrischer Formen. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Ge- schichte. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2011, S. 72. 73

Auch sind die Gedichte nur scheinbar reimlos. Obwohl es in den Abenteuern der deut- schen Grammatik keine traditionellen Klangbeziehungen zwischen den Versen gibt, lassen sich in einigen der Texte grafische Korrespondenzen zwischen Wörtern identifizieren, die De- tering als „eye rhyme“224 bezeichnet. Diese vor allem in der englischen Lyrik verbreitete Reimart definiert sich über die visuelle Übereinstimmung der Schriftzeichen und bedarf kei- ner Klangbeziehung zwischen den sich ‚reimenden‘ Ausdrücken.225 Detering gibt etwa die Wörter ‚laugther‘ und ‚daughter‘ als Beispiele an.226 In Abenteuer der deutschen Grammatik trifft dies z.B. (bedingt) auf folgendes Gedicht zu:

Die Grammatik der Sommernacht Warum steht das Jucken im Singular, wenn du so viele Mückenstiche hast? Ist Gott noch Single? Der Schöpfer zahlreicher Mücken? (AdG, 10)

Sowohl zwischen den Wörtern ‚Jucken‘ und ‚Mücken‘ wie auch zwischen ‚Singular‘ und ‚Single‘ gibt es in diesem Gedicht eine gewisse grafische Ähnlichkeit, wobei sich die ‚Sin- gle‘-‚Singular‘-Korrespondenz allerdings nur bedingt als ‚eye rhyme‘ einstufen lässt. Hier liegt eher eine sich aus dem übereinstimmenden Wortstamm speisende Wortwiederholung vor.227 An den Zeilenenden zweier Verszeilen angeordnet, wirkt diese aber dennoch wie ein grafischer Verweis auf ein traditionelles Reimschema, ein Eindruck, der durch die ganz offen- sichtliche visuelle Beziehung zwischen ‚Jucken‘ und ‚Mücken‘, noch zusätzlich verstärkt wird. Daneben taucht in den meisten Abenteuern der deutschen Grammatik, wie sich bereits im vorhergehenden Kapitel gezeigt hat, ein ‚lyrisches Ich‘ auf, welches in vielen der Texte auch explizit mit dem Pronomen ‚ich‘ bezeichnet ist. Oft, wie in Die zweite Person Ich (vgl. AdG, 8), steht es zudem in einer kommunikativen Beziehung mit einem ebenfalls genannten ‚Du‘. In manchen Fällen, wie etwa in Die Grammatik der Sommernacht (vgl. AdG, 10), kann sogar nur das ‚Du‘ im Text erwähnt sein, während das ‚Ich‘ aus dem Off spricht. Auch kommt es zuweilen vor, dass die Figur, die das Pronomen ‚ich‘ bezeichnet, konkret definiert ist. Im be- reits zitierten Schienenersatzverkehr handelt es sich beim ‚lyrischen Ich‘ etwa um ein personi- fiziertes Verb, das ein ebenfalls personifiziertes Subjekt anspricht (vgl. AdG, 9). Die

224 Ebda. 225 Vgl. ebda. 226 Vgl. ebda. 227 Vgl. Hans-Werner Ludwig: Arbeitsbuch Lyrikanalyse. 5., erw. und aktual. Aufl. Tübingen, Basel: A. Francke 2005. (=UTB. 2727.) S. 138. 74

Sprechsituation in Tawadas Gedichten ist damit verschiedentlich realisiert, d.h. sie ist bewusst konstruiert und inszeniert und somit literarisch ausgestaltet. Außerdem greift Tawada in ihren Abenteuern der deutschen Grammatik vielfach auf rhe- torische Mittel zurück, welche den Texten noch zusätzlich lyrischen Charakter verleihen. Sie werden gezielt eingesetzt, um die in den Gedichten behandelten grammatischen Themen spielerisch zu verfremden. Hierzu wurden etwa schon die in Groß aber leise vorkommende Alliteration228 von ‚Grammatik‘ und ‚Größenwahn‘ (vgl. AdG, 7) ebenso wie die Wort- stammkorrespondenz von ‚Single‘ und ‚Singular‘ (vgl. AdG, 10) in Die Grammatik der Som- mernacht erwähnt. In Schienenersatzverkehr lässt sich sogar eine Vielzahl solcher Beispiele identifizieren: Bei diesem Gedicht handelt es sich, wie bereits kurz angesprochen wurde, um einen Text, der sich vor allem mit den Themen ‚Syntax‘ und ‚Sinnbildung‘ auseinandersetzt. Zu diesem Zweck wird der Vorgang der Satzkonstruktion in ihm parodistisch229 vorgeführt. Der Ver- such, einen syntaktisch korrekten Satz zu bilden, wird hierbei mit einer Zugfahrt verglichen (vgl. AdG, 9), wobei die normativen Sprachgebote, die in diesem Zusammenhang auf den Sprecher oder Schreiber wirken und im Text durch die Instanz der Eisenbahngesellschaft (vgl. AdG, 9) repräsentiert sind, mittels der Gleichsetzung der erwähnten Bahnreise mit dem Spiel ‚Reise nach Jerusalem‘ (vgl. AdG, 9) ad absurdum geführt werden. „Der Sinn des Sagbaren“ (AdG, 9) kann auch „in der umgekehrten Reihenfolge“ (AdG, 9) ‚transportiert‘ werden, d.h. in Sätzen, die sich nicht strikt am grammatischen Usus orientieren. Gleichzeitig ist der Ge- dichttext selbst ein perfektes Beispiel dafür, dass grammatische Korrektheit nicht automatisch inhaltliche Kohärenz bedeutet. Schienenersatzverkehr wirkt zwar, als würde der Text eine durchgehende Geschichte erzählen, diese erschließt sich aber niemals eindeutig. Dieser Effekt entsteht v.a. durch die vielen Momente des Sprachspiels und die rhetori- schen Mittel, die im Gedicht angewandt werden. Sie repräsentieren im Einzelnen jeweils un- terschiedliche Aspekte der Satzgestaltung sowie damit verbundene grammatische Kategorien, in ihrer Gesamtheit erzeugen sie jedoch eine Art Unsinnstext. Die Personifizierung von Verb und Subjekt wurde in diesem Zusammenhang schon genannt. Des Weiteren lassen sich einige Figuren der Wortwiederholung oder Variationen davon erwähnen. Am offensichtlichsten ist wohl die doppelte Nennung des Wortes ‚Satz‘ am Ende des Textes: „Ein Satz macht einen großen Satz über fremde Schatten“ (AdG, 9). Durch das Spiel mit den beiden Bedeutungen

228 Vgl. hierzu auch: Christof Rudek: Rhetorische Lyrikanalyse: Formen und Funktionen von Klang- und Bildfi- guren. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2011, S. 46. 229 Vgl. hierzu auch: Holdenried, Eine Poetik der Interkulturalität, S. 176. 75

des Homonyms handelt es sich hierbei allerdings nicht nur um das poetische Verfahren der Wortwiederholung230, sondern auch um eine bildhafte Darstellung der im darauffolgenden Satzteil beschriebenen Normüberschreitung. (vgl. AdG, 9) Tawada erweitert die Wirkung des lyrischen Gestaltungsmittels damit um eine sprachreflexive Dimension. Ähnliches gilt für die Beschreibung „Inzwischen passierten schon zwei Unfälle im vierten Fall.“ (AdG, 9). Hier werden die beiden stammverwandten Begriffe ‚Unfall‘ und ‚Fall‘ für eine verfremdenden Darstellung von Deklinationsvorgängen eingesetzt. Das inhaltlich ebenfalls auf grammatische Kategorien verweisende Spiel mit den Zahlwörtern ‚zwei‘ und ‚vier‘ könnte zudem als ein Pa- rallelismus231 gewertet werden. In vergleichbarer Weise findet es sich auch in den Sätzen „Du hast neun Wörter zu sagen und es gibt keinen achtsamen Fahrgast.“ (AdG, 9) und „Ein einzi- ger Toter – zweimal gestorben.“ (AdG, 9). Bei dem Satz „Werden die Schienen ersetzt oder ist es ein er, der im Verkehr ausgesetzt wird?“ (AdG, 9) handelt es sich außerdem um eine Art Paronomasie232, welche die Bedeutung des Begriffes ‚Schienenersatzverkehr‘ infrage stellt, indem sie die übliche Verbindung zwischen Ausdruck und Inhalt dekonstruiert. Für viele der Abenteuer der deutschen Grammatik ist außerdem die Verwendung von bildhaften Darstellungsformen – d.h. Vergleichen, Metaphern, Symbolen, etc. – bedeutend. Diese werden von Tawada in den Texten eingesetzt, um Sprachphänomene zu veranschauli- chen und die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit brüchig zu machen. Als ein Bei- spiel hierfür lässt sie etwa folgendes Gedicht anführen:

Wortstellung Das Verb spielt die zweite Geige Wenn die Melodie zitiert ist Hat es den letzten Ton An einem gewöhnlichen Tag steht das Subjekt vorne Jeder kann anfangen aber wer steht am Ende Wenn ein anderer den Kopf macht Muss das Subjekt nach hinten rücken Die Reihenfolge und die Hierarchie sind zweierlei Der Rhythmus kennt keine Korruption (AdG, 18)

Wie Schienenersatzverkehr setzt sich auch Wortstellung mit den Themen ‚Syntax‘, ‚Sinnbil- dung‘ und ‚Satzgliedreihenfolge‘ auseinander. Anstatt des Vergleiches mit einer Zugreise er- folgt hier allerdings eine metaphorische Gleichsetzung des Vorganges der Satzkonstruktion mit einem Orchester, das ein Musikstück spielt. Sätze wie „Das Verb spielt die zweite Geige / Wenn die Melodie zitiert ist“ (AdG, 18) oder „Wenn ein anderer den Kopf macht / Muss das

230 Vgl. Ludwig, Arbeitsbuch Lyrikanalyse, S. 134. 231 Vgl. ebda, S. 144f. 232 Vgl. ebda, S. 137. 76

Subjekt nach hinten rücken“ (AdG, 18) bilden hierbei syntaktische Regelfälle ab. Gleichzeitig wird durch die beiden Verszeilen „Die Reihenfolge und die Hierarchie ist zweierlei / Der Rhythmus kennt keine Korruption“ (AdG, 18) erneut ausgedrückt, dass die Satzbildung nicht notwendigerweise nach statischen Mustern erfolgen muss, um eine sinnvolle Aussage zu er- zeugen. Der metaphorische Bezug auf die Musik dient im Text zudem dazu, den klang- und rhythmusbasierten Charakter der Sprache hervorzuheben. In Analogie zur Musik-Metaphorik in Stimme eines Vogels wird dadurch eine alternative Sicht auf diese generiert. Hierbei kommt u.a. die Diskrepanz zwischen normativer Sprachdarstellung und tatsächlicher Sprachverwen- dung in den Fokus der Betrachtung. V.a. der Verzicht auf Interpunktionszeichen im Text führt dem Leser bzw. der Leserin in diesem Zusammenhang vor Augen, dass „gesprochene Sprache häufig durch die Brille der geschriebenen wahrgenommen [wird]“233.234 Die in Wortstellung präsentierte Orchester-Metaphorik könnte aber auch durch die häufig betonte Verbindung zwischen Musik und poetischer Sprache motiviert sein235. Schon die Be- zeichnung ‚Lyrik‘, die eigentlich so viel wie „die zur Lyra gehörende Dichtung“236 bedeutet, impliziert, dass die Gattung eine „Affinität zur Musik“237 besitzt. Bei der Analyse von Ge- dichten werden daher üblicherweise auch ihre Klangstrukturen und -figuren untersucht.238 Vor allem die russischen Formalisten haben die poetische Sprache deshalb als von der Stan- dardsprache abweichend definiert239. Viktor Šklovskij und Jan Mukařovský haben, so Hans- Werner Ludwig, in diesem Zusammenhang v.a. ihren verfremdenden Charakter betont.240 Für die ganz bewusst mit Verfremdungsvorgängen spielenden Abenteuer der deutschen Gramma- tik macht die (metaphorische) Erwähnung musikalischer Elemente somit durchaus Sinn. Die Gattung ‚Lyrik‘ erweist sich damit auch generell als perfekt für die Auseinanderset- zung mit und die Dekonstruktion von Sprachnormen. Tawada dürfte sich also nicht grundlos für die Bezeichnung und Gestaltung ihrer Texte als ‚Gedichte‘ entschieden haben. Analog zur Musik-Metaphorik in Wortstellung beruhen manche ihrer bildhaften Darstellungen daher auf Elementen, die mit den Themen ‚Dichtung‘ und ‚literarisches Schreiben‘ zu tun haben, wie z.B.:

233 Duden, Die Grammatik, S. 1168. 234 Hierzu sei auch das Gedicht Lautfundiert erwähnt, welches mit ‚Versen‘ wie „Lautgetreu, den Konturen des Windes entlang / Schreiben“ (AdG, 16) oder „Dem Stamm seine Leichtigkeit zurückgeben“ (AdG, 16) ebenfalls auf den abseits normativer Sprachdarstellungen Charakter sprachlicher Äußerungen verweist. 235 Vgl. etwa: Wolfgang G. Müller: Die Sprache der Lyrik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2011, S. 85. 236 Ebda. 237 Rudek, Rhetorische Lyrikanalyse, S. 45. 238 Vgl. ebda, S. 46f. 239 Vgl. Ludwig, Arbeitsbuch Lyrikanalyse, S. 20. 240 Vgl. ebda, 19f. 77

Passiv Eine faule Dichterin schläft im Sessel ein und lässt den Herbst an sich herankommen Wenn sie untätig bleibt Fällt ihr eine Ferse ein Ohne den Absatz und die Schnur Dichtet der Schuh seine Sohle Die Passivität ist die Zukunft der Vergangenheit Es passiert der Dichterin, dass es geschrieben wird Sie bleibt passiv oder wird aktiv in dem Satz: Ich unternehme nichts Keiner hat einen Pass, der ihm nicht passt Dennoch passiert es täglich: Die Grenzen der Grammatik werden passiv überschritten (AdG, 15)

In diesem Gedicht kommt ganz explizit eine Dichterin vor. Zudem wird in ihm (v.a. im letz- ten Satz) auf ein Schreiben verwiesen, das sich nicht an Normen und Konventionen hält. An- hand dieser Metaphorik erfolgt im Text eine verfremdende Darstellung des grammatischen Passiv, welche z.T. auch auf Sprachspielen beruht. Die homophone Aussprache von ‚Vers‘ und ‚Ferse‘ löst etwa einen metaphorischen Vergleich des Schreibvorgangs mit dem Schus- tern von Schuhen aus. Daneben fällt insbesondere die auf dem Wortstamm ‚pass-‘ basierende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Implikationen des Wortes ‚passiv‘ auf. Vor allem aus der Korrespondenz zwischen der grammatischen Form ‚Passiv‘ und dem homonymen Ad- jektiv ergibt sich hierbei eine besondere Art der Sprachdarstellung. Die Funktionsweise und Anwendung der Zeitform wird im Text sowohl ausformuliert – „Die Passivität ist die Zukunft der Vergangenheit“ (AdG, 15) – als auch exemplarisch veranschaulicht241 – „Sie bleibt passiv und wird aktiv in dem Satz: Ich unternehme nichts“ (AdG, 15) –, wodurch die manchmal pa- radoxen Potentiale des grammatischen Sprachgebrauchs zum Ausdruck gebracht werden. Die Sprachnorm wird so auch in diesem ‚Gedicht‘ infrage gestellt.

4.3.2 Die Abenteuer der deutschen Grammatik als Texte der konkreten Poesie? Esther Kilchmann weist in einem ihrer Aufsätze über Tawada darauf hin, dass die Autorin in den Abenteuern der deutschen Grammatik Verfahren der konkreten Poesie anwendet.242 Sie bezieht sich dabei v.a. explizit auf einige Texte im vierten Kapitel des Bandes, welche in An- lehnung an die Dichtung Ernst Jandls verfasst sind (vgl. AdG, 51f.). Doch auch die hier zu untersuchenden grammatischen Gedichte lassen sich in dieser Hinsicht betrachten.

241 Zu Passivbildung vgl.: Duden, Die Grammatik, S. 543-556. 242 Vgl. Kilchmann, Verwandlungen des ABCs, S. 361. 78

Die Bezeichnung ‚Konkrete Poesie‘ wird, ebenso wie ‚experimentelle Literatur‘ oder ‚vi- suelle Poesie‘243, für gewöhnlich als ein Oberbegriff für eine Form von Dichtung verwendet, die die Sprache selbst ins Zentrum ihrer literarischen Arbeit rückt.244 Obwohl es v.a. unter den Vertretern der Gattung eine gewisse Uneinigkeit hinsichtlich ihrer genauen programmatischen Definition gibt245, steht in ihrem Fokus zumeist ein gezielter und reflektierter Umgang mit dem Sprachmaterial, welcher eine „Entautomatisierung der Wahrnehmung“246 bewirken soll.247 In diesem Zusammenhang wird in den Texten weitgehend eine Art von Sprachdarstel- lung angestrebt, die die Sprache aus ihren „gewöhnlichen, sprachlichen und faktischen Kon- texten“248 befreit und den üblichen „Repräsentations- und Surrogatcharakter von Zeichen“249 überwindet. Dadurch sollen sowohl die Spielregeln des alltäglichen Sprachgebrauchs wie auch die allgemeine sprachliche Verfasstheit von Welt und Wirklichkeit im Rezipienten be- wusst gemacht werden250. definiert deshalb etwa „den Willen zur Unsicherheit als ein Merkmal der sogenannten experimentellen Dichtung“251 und betont die Bedeutung des „Spiels mit der Sprache“252. Andere Vertreter der Gattung, wie z.B. Heinz Gappmayr oder Eugen Gomringer, fokussieren sich wiederum auf die Definition des Begriffes ‚konkret‘, wel- cher für sie – als Gegenteil von ‚abstrakt‘ – für das „unmittelbar anschaulich Gegebene“253 steht.254 Insgesamt lassen sich somit einige Parallelen zwischen der Sprachauffassung der konkreten Poesie und dem Sprachzugang identifizieren, der den Abenteuern der deutschen Grammatik zugrunde liegt. Dies lässt sich etwa anhand des Gedichts Passé Composé noch einmal beispielhaft vorführen:

243 Vgl. Thomas Kopfermann: Konkrete Poesie – Fundamentalpoetik und Textpraxis einer Neo-Avantgarde. Frankfurt am Main, Bern: Peter Lang 1981. (=Europäische Hochschulschriften. I/408.) S. 37ff. 244 Vgl. ebda, S. 14. 245 Vgl. ebda, S. 37ff. 246 Hans H. Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900-2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil II (1945-2000). Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 177. 247 Vgl. ebda. 248 Monika Schmitz-Emans: Die Sprache der modernen Dichtung. München: Wilhelm Fink 1997. (= UTB. 1963.) S. 181. 249 Ebda. 250 Vgl. Kopfermann, Konkrete Poesie, S. 161f. 251 Ernst Jandl: Voraussetzungen, Beispiele und Zitate einer poetischen Arbeitsweise. Ein Vortrag. In: Theoreti- sche Positionen zur Konkreten Poesie. Texte und Bibliographie. Hrsg. von Thomas Kopfermann. Tübingen: Max Niemeyer 1974. (=Wissenschaftliche Reihe. 4266.) S. 45. 252 Ebda, S. 46. 253 Heinz Gappmayr: Was ist konkrete Poesie?. In: Konkrete Poesie I. 2. Aufl. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 1971. (= Text + Kritik. 25.), S. 5. 254 Vgl. auch: Kopfermann, Konkrete Poesie, S. 39-44. 79

Passé Composé Ein Kompott Für uns alle dasselbe Für mich für dich für ihn für sie denn Es ist gegessen und vergessen Nur die Haltung des Habens unterscheidet sich Zwischen mir und ihm und ihr und sie und uns Bitte nicht zu viel ‚und‘! Und das Haben zeigt bei jedem ein anderes Ende Ich bleibe eher offen Du bist streng verschlossen Er und sie haben Hüte auf dem Kopf Gemeinsam sind die eingeatmete Luft und Die durchgemachte Nacht Wir lasen nie das gleiche Buch, aber Gelesen haben wir alle oder Ich „gelese“, du „gelesest“? Das perfekt Vergangene ist durchkomponiert und vereinfacht Warum sind wir aber so vielfältig in der Gegenwart? (AdG, 19)

Mithilfe diverser Sprachspiele setzt sich Tawada in diesem ‚Gedicht‘ mit dem Thema ‚Kon- jugation‘ auseinander und dekonstruiert im Zuge dessen die Vorstellung von der Homogenität der Sprache. Hierzu veranschaulicht sie im Text den Kontrast zwischen den sich paradigma- tisch verändernden Präsensformen und dem bei der Perfektbildung stets gleichbleibende Par- tizip II.255 Der verfremdende Effekt wird hierbei sowohl mittels diverser Sprachspiele256 wie auch durch die explizite Darstellung der Konjugationsformen und –paradigmen erzeugt. Diese werden etwa direkt vorgeführt, z.B. in der Formulierung „Wir lasen nie das gleiche Buch, aber / Gelesen haben wir alle oder / Ich „gelese“, du „gelesest“?“ (AdG, 19), und dadurch in Kontrast zueinander gesetzt oder im Text durch bildhafte Vergleiche realisiert, wie in „Ich bleibe eher offen / Du bist streng verschlossen / Er und sie haben Hüte auf dem Kopf“ (AdG, 19). Vor allem bei Letzterem stehen dabei die materiellen Eigenschaften der einzelnen gram- matischen Formen im Vordergrund. Sie bedingen am Ende auch die Konklusio des Textes, in welcher die konventionellen grammatischen Schematisierungen in Frage gestellt werden. (vgl. AdG, 19) Trotz der augenscheinlichen Parallelen zwischen dem Sprachzugang in diesem ‚Gedicht‘ und der Programmatik der konkreten Poesie lässt sich Passé composé allerdings nicht als ein ‚konkretes‘ Lyrikbeispiel werten. Die Gestaltung von ‚konkreten‘ Texten beruht nämlich für gewöhnlich auf „speziellen typographischen, akustischen und visuellen Präsentationswei-

255 Zur Konjugation des Verbs vgl.: Duden, Die Grammatik, S. 450f. 256 Auf Wortstammkorrespondenzen und Pseudoetymologien beruhende Wiederholungsfiguren - „Composé“ und „Kompott“ sowie „gegessen und vergessen“ – finden sich im Text etwa ebenso wie Homonymien und Tau- tologien – „das perfekte Vergangene“. (vgl. AdG, 19) 80

sen“257. Das Sprachmaterial, d.h. die einzelnen Sprachbausteine werden so ausgewählt, mitei- nander kombiniert und auf dem Blatt angeordnet, dass Text- oder Klangbilder entstehen258, welche, wie Monika Schmitz-Emans schreibt, „nicht nur gelesen, sondern auch gesehen [oder eben akustisch wahrgenommen] werden [wollen]“259. Der Fokus liegt dabei v.a. auf der spezi- fischen (graphischen) Organisation von Wörtern und kleineren Sprachbausteinen, während die „Syntax und Semantik der überkommenen Sprache“260 (wenn überhaupt) nur noch in sehr rudimentärer Form erkennbar ist.261 Je nach Art der Präsentation und Organisation des sprach- lichen Materials werden die Texte daher als ‚Konstellationen‘, ‚Ideogramme‘, ‚Artikulatio- nen‘, ‚Piktogramme‘ etc. bezeichnet.262 Außerdem werden sie, wie Thomas Kopfermann schreibt, für gewöhnlich nicht als „Gedichte über“263 verstanden, sondern vielmehr als „Tau- tologien“264 im Sinne einer „Realität an sich“265. In den Texten kommen deshalb normaler- weise auch keine Metaphern oder andere bildhafte Gestaltungsmittel vor.266 Zudem zeichnen sie sich häufig, wie Monika Schmitz-Emans ausführt, durch einen Verzicht auf ein sich äu- ßerndes ‚Ich‘ aus: „Dem Selbstverständnis konkreter Dichtung gemäß muß als der Protagonist des poetischen Geschehens jedenfalls kein individuelles Ich, sondern der Text selbst gel- ten.“267 Trotz vergleichbarer Intentionen unterscheiden sich die Abenteuer der deutschen Grammatik in Bezug auf ihre Textgestaltung damit von den Werken der konkreten Poesie. Manche Darstellungsstrategien scheinen allerdings zumindest in Anlehnung an die Gattung gewählt worden zu sein. Auf diese soll nun genauer eingegangen werden. Bei der Auseinandersetzung mit Schienenersatzverkehr und Wortstellung wurde etwa be- reits erwähnt, dass den Themen und Inhalten mancher Gedichte auch mithilfe gewisser visuel- ler Textmerkmale Ausdruck verliehen wird. In Schienenersatzverkehr war dies z.B. bei der Darstellung des Gedichtes als Textblock der Fall (vgl. AdG, 9), während in Wortstellung der Verzicht auf Interpunktionszeichen ebenso bedeutungstragend war wie die eigentliche ‚Dich- tung‘ (vgl. AdG, 18). Vergleichbare Gestaltungsstrategien kommen in AdG immer wieder

257 Harald Hartung: Konkrete Poesie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Hrsg. von Harald Fricke. Berlin, New York: de Gruyter 2007, S.328. 258 Vgl. Hiebel, Konkrete Poesie, S. 172. 259 Schmitz-Emans, Sprache der modernen Dichtung, S. 186. 260 Kopfermann, Konkrete Poesie, S. 190. 261 Vgl. ebda. 262 Vgl. etwa: Eugen Gomringer: charakteristika der gebräuchlichsten formen der konkreten poesie. In: E.G.: theorie der konkreten poesie. Texte und manifeste 1954-1997. Wien: Ed. Splitter 1997. (= Gesamtwerk. 2.) S. 119-127. 263 Kopfermann, Konkrete Poesie, S. 194. 264 Ebda. 265 Ebda. 266 Vgl. ebda. 267 Schmitz-Emans, Sprache der modernen Dichtung, S. 195. 81

zum Einsatz: Das Gedicht Perfekt, welches sich thematisch mit der Diskrepanz zwischen grammatischen Tempi und real-zeitlichen Abläufen auseinandersetzt („Das Perfekt ist eine unvollendete Zeit“ (AdG, 11)), ist etwa ebenfalls ohne Interpunktionszeichen verfasst.268 Dass die grammatische Zeit tatsächliche Entwicklungen nur bedingt wiedergeben kann, wird im Text so auch grafisch zum Ausdruck gebracht. In Der hanseatische Komparativ wird dagegen auf konsequente Kleinschreibung gesetzt, um den regelhaften Gebrauch der Steigerungsform noch zusätzlich zu verfremden.269 Der Text Eine neue Periode ohne Punkt und Komma ist wiederum im Blocksatz abgedruckt und kommt ebenfalls ohne Interpunktionszeichen aus:

Eine neue Periode ohne Punkt und Komma Jeder weiß wo ein Satz zu Ende geht Selbst in einer Trauerzeit ist die Lektüre eine Dauer ohne Ende dennoch wird ein Punkt gesetzt Oder war das ein Tintenfleck Ein Tröpfchen Träne aus dem Füller Keiner braucht zu wissen wo der nächste Satz beginnt Wer redet schon mit Interpunktion auf der Zunge Jeder darf ein Pausenbrot essen wann er will Nur das Semikolon verbietet es dir mit Doppelmoral und der Doppelpunkt will nicht seine Nachkommen mündigsprechen (AdG, 13)

Die im Titel vorkommende Redewendung „ohne Punkt und Komma“ (AdG, 13) ist in diesem ‚Gedicht‘ wortwörtlich realisiert. Das Thema ‚Interpunktion‘ wird im Text damit nicht nur mithilfe verschiedener rhetorischer Mittel und bildhafter Vergleiche270 behandelt, sondern auch bereits auf rein grafischer Ebene thematisiert. Der Blocksatz unterstreicht hierbei noch zusätzlich die mit Sätzen wie „Wer redet denn schon mit Interpunktion auf der Zunge“ (AdG, 13) ausgedrückte Diskrepanz zwischen gesprochener und verschriftlichter Sprache. Auch die- ser Text verfügt somit über eine ‚konkrete‘ Ebene der Gestaltung.

268 „Es hat geblüht / Und indem ich dir davon erzähle / Blüht es immer noch / Die Blume ist nicht die letzte Form der Knospe / Da fehlt noch der amtliche Stempel auf dem Staubblatt / Sie hat am Fruchtstiel geblutet / Und sie blutet weiter, indem ich das sage / Das Perfekt ist eine unvollendete Zeit“ (AdG, 11) 269 „eine hamburgerin sagt: / ich bin größer wie du / dabei wirkt sie so klein wie eine wiege / ein beißring liegt auf dem tisch / nicht für deinen neugeborenen wind sondern / für ein schiff / es schaukelt in der werft / es schau- kelt immer kräftiger / gibt dem himmel einen stoß / aus den wolken fallen die heringe / der grüne fisch / die gel- ben rapsfelder / und ein blauer seemann / der vor der teufelsbrücke torkelt“ (AdG, 22) 270 Als Beispiele lassen sich hier etwa bildhafte Veranschaulichung von Lektüre- und Sprechvorgängen („Selbst in einer Trauerzeit ist die Lektüre eine Dauer ohne Ende“ (AdG, 13) und „Wer redet schon mit Interpunktion auf der Zunge“ (AdG, 13)), der Vergleich des Punktes mit einem „Tintenfleck“ und einem „Tröpfchen Träne“ (AdG, 13), welche auch über alliterative Qualitäten verfügt und die auf den grammatischen Eigenschaften der Inter- punktionszeichen beruhende Personifizierung oder Verlebendigung von Semikolon und Doppelpunkt („Nur das Semikolon verbietet es dir mit Doppelmoral und der Doppelpunkt will nicht seine Nachkommen mündigspre- chen“ (AdG, 13)) nennen. 82

In den Abenteuern der deutschen Grammatik finden sich zudem einige Texte, in denen der Fokus auf das Sprachmaterial durch die grafische Hervorhebung der Schriftzeichen271 er- reicht wird. Exemplarisch sei hier das Gedicht Ein trennbares Paar angegeben.

Ein trennbares Paar Wir sind heute oder jetzt oder dauerhaft trennbar Der Kopf stellt sich ans Ende der Schlange Der Philosophiestudent sagt, die Zeit sei perfekt Schon liegt ein Ge-stein zwischen uns EinGEschüchtert und durchGEnervt Der G-Ton begleitet uns bis zum bitteren Adverb Nur in einem Wörterbuch stehen wir zusammen Zwar trennt uns ein sanfter Strich Nimmt aber keinen Platz ein Er schweigt und zieht rücksichtsvoll seine graue Miene (AdG, 21)

Erneut handelt es sich hierbei um einen Text, in dem die Eindeutigkeit und Einheitlichkeit sprachlicher Ausdrücke in Frage gestellt wird, wobei die Bildung des Partizip II thematisch im Vordergrund steht. Mittels Großschreibung und Bindestrichen wird in diesem Zusammen- hang das partizipiale Präfix „ge-“272 mehrmals visuell hervorgehoben. Dies hat zur Folge, dass der Kontrast zwischen Infinitivform und Partizip auch grafisch deutlich wird. Indem die Silbe hierbei ebenfalls im Wort „Ge-stein“ (AdG, 21) akzentuiert wird, wird ihr der Charakter eines Hindernisses oder Störungsfaktors verliehen, der die im Infinitiv vorherrschende Ein- heitlichkeit der Sprache bedroht und zunichtemacht. Durch die Realisierung der Vorsilbe als „G-Ton“ (AdG, 21) werden daneben auch ihre akustischen Qualitäten herausgestrichen. Das mit dem Präfix verbundene Sprachmaterial wird im Text so gewissermaßen verdinglicht und hat dadurch entscheidenden Anteil am verfremdenden Effekt des ‚Gedichtes‘. Ein weiteres Beispiel für ein ‚konkretes‘ Gestaltungsverfahren wurde bereits bei der Ana- lyse von Passiv erwähnt. In diesem Gedicht vollzieht sich ein Spiel mit Klangähnlichkeiten. Das Wort ‚Vers‘ zeigt sich, durch den Austausch des stimmhaften Konsonanten [v] gegen den stimmlosen Konsonanten [f], als ‚Ferse‘ realisiert (vgl. AdG, 15). Hierfür dürfte Ernst Jandls experimentelles Schreiben als Inspiration gedient haben.273 Sein Text etüde in f beruht näm- lich auf dem gleichen Prinzip. Es heißt dort etwa „eile mit feile“274 anstatt „eile mit weile“ oder „durch die füste“275 anstatt „durch die wüste“. In seinem Vortrag Voraussetzungen,

271 Zu dem Thema „Konkrete Kunst als Schriftkunst“ vgl.: Schmitz-Emans, Sprache der modernen Dichtung, S. 190ff. 272 Zur Bildung des Partizip II vgl.: Duden, Die Grammatik, S. 440. 273 Vgl. Kopfermann, Konkrete Poesie, S. 216f. 274 Ebda, S. 215. 275 Ebda. 83

Beispiele und Zitate einer poetischen Arbeitsweise schreibt Jandl außerdem: Die Laute sind frei von Bedeutungen, aber ihre Verwendung zur Auslösung von Assoziationen liegt auf der Hand. So wie die Arbeit mit Wörtern zugleich eine mit Bedeutungen ist, kann Arbeit mit Lauten zu- gleich eine Arbeit mit Assoziationsmöglichkeiten sein.276 Entsprechend eröffnet das Spiel mit den Lauten in Tawadas Gedicht, wie bereits im vorherge- henden Kapitel gezeigt wurde, einen neuen metaphorischen Rahmen (Stw.: Schuhe) für die Auseinandersetzung mit dem in ihm behandelten Thema (vgl. AdG, 15). In ähnlicher Weise kommt diese Gestaltungsstrategie auch im Text Die Konjugation vor. In den Abenteuern der deutschen Grammatik handelt es sich hierbei um jenes Gedicht, das formal am stärksten an die konkrete Poesie angelehnt ist. Daher lassen sich in ihm diverse ‚konkrete‘ Darstellungsverfahren identifizieren:

Die Konjugation er hemt wenn ich bluse weiche in den händen der wäscherin am hafen glänze nicht ohne den gültigen spaß fiebere nach kunstseide er hemt den fortschritt schimpft mit der kunst und dem stoff er hütet wenn ich hose ich hose die schneiderpuppe ich schneide du liebste ich pistole du angst wir arbeiten an der Änderungs- Grammatik (AdG, 20)

Zunächst fällt auf, dass hier die materiellen Aspekte von Konjugationsvorgängen – d.h. die sich dem Schema anpassenden Wortendungen – durch eine Substitution von Verben mit Sub- stantiven hervorgehoben werden. Dies hat verfremdenden Effekt: Die paradigmatischen Nor- men werden zwar befolgt, trotzdem sind die so entstehenden Formen agrammatisch.277 Bei den im Text präsentierten ‚Konjugationsformen‘ - „er hemt“ (AdG, 20), „ich bluse“ (AdG, 20) etc. – handelt es sich zudem um Kurzsätze, in denen die Substantive prädikative Funktion einnehmen. Genauer gesagt sind das Objekt und das Prädikat des Satzes hier in einem Satz- glied zusammengefasst. Diese spielerische Reduktion der Syntax lässt sich ebenfalls als ein Merkmal der konkreten Poesie werten.278 Gleichzeitig wird durch sie der „Bedeutungsspiel-

276 Jandl, Voraussetzungen, Beispiele und Zitate, S. 55. 277 In der konkreten Poesie findet sich ein ähnlicher Umgang mit grammatischen Schemata z.B. auch bei Her- mann Heißenbüttel (vgl. Hartung, Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, S. 60-63) oder Franz Mon (Vgl. ebda, 70f.). 278 Vgl. Kopfermann, Konkrete Poesie, S. 190f. 84

raum“279 der verwendeten Wörter erweitert. Die formal von der Normalsyntax abweichenden Aussagen präsentieren sich nämlich als inhaltlich weniger festgelegt und lassen dem Rezipi- enten so mehr Raum für Interpretationen und Assoziationen. Auch dies entspricht der Sprach- darstellung der konkreten Poesie.280 Im Falle des Wortes „hemt“ (AdG, 20) liegt zudem das bereits erwähnte Spiel mit Klangähnlichkeiten vor. Seine Schreibung im Gedicht beruht näm- lich auf der Homophonie der beiden Ausdrücke „Hemd“ und „hemmt“ (als Form von ‚hem- men‘), d.h. es handelt sich bei ihm sozusagen um die grafische Realisierung der phonetischen Aussprache der beiden Begriffe. Das Wort präsentiert sich im Text dadurch als doppeldeutig und kann sowohl als Substantiv als auch als Verb gelesen werden. Die grammatischen Sche- mata werden so erneut unterlaufen. In der Verwendung als Verb hat das Wort „hemt“ zudem Anteil an einem thematischen Aspekt des ‚Gedichtes‘, welcher sich mit dem einschränkenden Charakter normativer Katego- risierungen auseinandersetzt: „er hemt den fortschritt / schimpft mit der kunst und dem stoff“ (AdG, 20). Analog zu Gedichten wie Passiv wird das Normabweichende hier mit Kunst und Literatur (‚stoff‘) gleichgesetzt und daher vom ‚er‘ des Textes abgelehnt. Allerdings ist es ge- rade die künstlerische Auseinandersetzung mit der Sprache bzw. Sprachnormen, aus welcher sich am Ende des Textes die Arbeit an der „Änderungs- / Grammatik“ (AdG, 20) ergibt. Im Gedicht wird dies auch durch die Interaktion zwischen dem Ich und dem Du dargestellt, wel- che respektive für die abseits der Norm agierende Kunst und die konventionelle Sprachver- wendung stehen (vgl. AdG, 20). Verfahren literarischer Sprachreflexionen und Sprachver- fremdung, zu denen auch die konkreten Poesie gehört, werden in Die Konjugation damit nicht nur angewandt, sondern ebenso thematisiert und abgebildet. Dieses produktive Wechselverhältnis zwischen Sprachspiel und poetologischer Reflexion lässt sich als das Hauptcharakteristikum von Tawadas lyrischer Linguistik definieren. In ihren Abenteuer der deutschen Grammatik spielen ‚konkrete‘ Gestaltungsverfahren zwar durchaus eine Rolle, die Sprache nimmt aber, wie sich gezeigt hat, sowohl objekt- wie auch meta- sprachlichen Status281 ein. Es handelt sich bei ihnen also, im Gegensatz zu den Werken der konkreten Poesie, nicht nur um experimentelle Gedichte mit, sondern auch um experimentelle Gedichte über Sprache.

279 Schmitz-Emans, Sprache der modernen Dichtung, S. 179f. 280 Vgl. ebda. 281 Zu Objekt- und Metasprache vgl. auch: Ernst, Germanistische Sprachwissenschaft, S. 14 u. 57. 85

4.4 Kultur- und gesellschaftskritische Aspekte von Tawadas Sprachver- fremdung

Sigrid Weigel beschreibt Tawadas schriftstellerisches Werk in einem ihrer Aufsätze als eine „poetische Telescopage“282, womit sie meint, dass in ihren Texten immer wieder die gleichen Themen und Motive auftauchen bzw. behandelt werden: „[S]ie [=die Texte] gehen ineinander über, überlagern sich und sind schwer als einzelne von einander [!] zu unterscheiden oder auseinanderzuhalten.“283 Entsprechendes trifft auch auf die Abenteuer der deutschen Gram- matik zu, wofür sich etwa das folgende ‚Gedicht‘ als Beispiel anführen lässt:

Alte Notizen zur linguistischen Erotik Sprachen bestehen aus Löchern. Das Wort Schein gibt es im Japanischen, und es bedeutet der Angestellte einer Firma. Das Wort Sein gibt es nicht im Japanischen. Weder Betrunkensein noch sein Bier. Trotzdem ist er betrunken. Eine Hose kann nur im Deutschen tot sein. […] Außerhalb Ostasiens muss man immer in der gleichen Tonhöhe sprechen, sonst klingt es unanständig. Tonhöhen gelten in der Welt der Phonetik als Prostituierte. „Ich liebe Dich“ heißt auf Japanisch „watashi wa anata ga suki desu“. Wenn man diesen Satz wiederum ins Deutsche wörtlich zurückübersetzt, heißt er: Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig. (AdG, 26)

Bei diesem ‚Gedicht‘ handelt es sich um eine Art Collage, die sich aus „alten Notizen“ (AdG, 26) und Beobachtungen zusammensetzt, welche sich (zumindest zum Teil) auch in anderen Texten Tawadas finden. Die Ausführungen über Tonhöhen kommen etwa ebenso in ihrer Er- zählung Zungentanz aus dem erstmals 2002 erschienenen Band Überseezungen vor. Dort heißt es: „Also nicht so, sondern immer die gleichen Tonhöhen, sonst klingt es unanständig, sagt der Arzt. Tonhöhen gelten in der Welt der Phonetik als Prostituierte.“284 Auch wird die Sprachverfremdung hier durch die Nennung verschiedener Übersetzungsbeispiele vollzogen, was wiederum an Tawadas Translationstheorie aus Schrift einer Schildkröte erinnert. Alte No- tizen zur linguistischen Erotik stellt damit ein perfektes Beispiel für Weigels Behauptung dar. Der These dieser Arbeit entsprechend hat sich in den beiden vorausgehenden Großkapi- teln außerdem gezeigt, dass die Verschränkung von Literatur und Theorie in Tawadas Texten

282 Weigel, Suche nach dem E-Mail für japanische Gespenster, S. 130. 283 Ebda, S. 130f. 284 Yoko Tawada: Zungentanz. In: Y.T.: Überseezungen. 3. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2010, S. 12. 86

für gewöhnlich der Dekonstruktion und der Relativierung von üblichen kulturellen Kategori- sierung und Dichotomien dient. Vor allem die Unterscheidungen zwischen Eigenem und An- derem, Mutter- und Fremdsprache sowie Ost und West wurden in ihnen als Fiktionen entlarvt. Es lässt sich daher die Frage stellen, inwieweit sich die Abenteuer der deutschen Grammatik auch in dieser Hinsicht in die ‚poetische Telescopage‘ einordnen lassen. Der scheinbare Gegensatz zwischen Mutter- und Fremdsprache wird in den ‚Gedichten‘ etwa indirekt dadurch unterlaufen, dass in ihnen, wie u.a. Hannah Arnold oder Esther Kilch- mann schreiben, eine „Inszenierung der [deutschen] Sprache als Fremdsprache“285 erfolgt. Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremden verschwimmen dadurch und erweisen sich so letztlich als obsolet. Im Text Ein Telefonat mit Zürich wird dies sogar recht anschaulich vollzogen:

Ein Telefonat mit Zürich Ich weiß, man muss einer Person im Dativ ein Wort im Akkusativ sagen An bestimmten Tagen aber wollte ich dich im Akkusativ dem Wort im Dativ sagen Denn du bist ein Wort, wörtlicher als jedes andere Wort An jenen Tagen, an denen die Elbe tiefer aussah als die Alpen hoch gewachsen waren, wollte ich nicht dich, sondern dir anrufen. So blieb ein Platz für das Wort frei Aber ich hatte nichts, was ich im Akkusativ sagen konnte (AdG, 17)

Im Unterschied zu den meisten anderen Abenteuern der deutschen Grammatik wird die grammatische Norm hier nicht mittels einer Hervorhebung ihrer ‚regelwidrigen‘ Aspekte in Frage gestellt, sondern durch die Veranschaulichung der Heterogenität der deutschen Sprache anhand eines spezifischen Grammatikbeispiels. Verlangt das Verb ‚anrufen‘ in der Stan- dardsprache nämlich nach dem vierten Fall286, d.h. ‚jemanden anrufen‘287 oder eben ‚dich an- rufen‘, ist es im Schwizerdütsch üblich, den Dativ zu verwenden, also ‚dir anrufen‘288. Das ‚Gedicht‘ rückt damit die Tatsache ins Bewusstsein, dass es in der Realität nicht das Deutsche als einheitliche Sprachform gibt, sondern vielmehr verschiedenste Versionen von Deutsch.289 Eine klare Trennung zwischen Mutter- und Fremdsprache erweist sich somit als unmöglich. Ähnliches trifft auch auf folgenden Text zu:

285 Kilchmann, Verwandlungen des ABCS, S. 361. 286 Vgl. Duden, Die Grammatik, S. 776f. 287 Vgl. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neubearb. u. erw. Aufl. Hrsg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Bd. 1: A-Bedi. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag 1999, S. 239f. 288 Vgl. ebda, S. 239. 289 Vgl. etwa Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter 1995, S. 1. 87

Verabredung an der Penn Station Ich picke dich vom Bahnsteig up Sagtest du mir auf Denglisch Aber das trennbare Verb Schneidet unterwegs meinen Waggon ab Und der Leib bleibt in einer Schneelandschaft stecken So pickst du mich in zwei Etappen In Amerika muss man getrennt bleiben Ab-ge-schnitten, selbst in der perfekten Vergangenheit Wann werde ich endlich up-ge-pickt? Du hast die Wahl: entweder die richtige Grammatik oder du wirst abgeholt (AdG, 14)

Im Gegensatz zu Ein Telefonat mit Zürich ergibt sich der verfremdende Charakter dieses ‚Ge- dichts‘ aus der Inszenierung einer Sprachkontaktsituation. Die Eigenschaften deutscher Ver- ben bzw. der grammatischen Zeitenbildung werden durch den Vergleich mit ihren englischen Äquivalenten hervorgehoben. Insofern lässt sich Verabredung an der Penn Station als ein gu- tes Beispiel für die – bereits in Stimme eines Vogels erwähnten – Potentiale werten, die für Tawada beim Aufeinandertreffen zweier Sprachen wirksam werden können. (vgl. etwa V, 10) Die Fremdsprache macht hier die Besonderheiten der eigenen sichtbar. Zum anderen hinterfragt der Text – durch die Erwähnung des Begriffes ‚Denglisch‘ und die am Ende des Gedichts stehende ‚Entweder/oder‘-Konklusio – auf kritisch-ironische Weise die immer wieder geführte Debatte über einen möglichen Verfall der deutschen Sprache durch den zunehmenden Einfluss von Anglizismen.290 Obwohl sich das Deutsche seit jeher im Wandel befindet und im Laufe seiner Entwicklung stetig von anderen Sprachen beeinflusst gewesen ist291, wird das Englische bzw. Amerikanische von vielen als Bedrohung für die deutsche Sprache und Kultur angesehen.292 Diese Ansicht führt Tawada in ihrem Gedicht ad absurdum, indem sie darauf verweist, dass Sprache in erster Linie Kommunikation ermögli- chen soll.293 Sie dient v.a. dazu, sich mit Anderen zu verständigen.294 Iwar Werlen spricht in diesem Zusammenhang auch von der „sozialen Natur der Sprache“295. Ein Festhalten an der angenommenen ‚Reinheit‘ steht dieser Funktion entgegen, was Tawada in ihrem Gedicht v.a. im letzten Satz veranschaulicht, indem sie ihre Leser vor die Wahl stellt: Man kann an stati- schen Sprachnormen festhalten und sich so selbst isolieren oder den dynamischen Charakter

290 Vgl. hierzu etwa: Wolfram Wilss: Sprache und Kultur. Zur Angloamerikanisierung der deutschen Gegen- wartssprache. In: Deutsch als Wissenschaftssprache. Thesen und Kommentare zum Problemkreis „Denglisch“. Hrsg. von Hermann Zabel. Paderborn: IFB 2005, S. 133. 291 Vgl. Anna Katharina Eißel: „Do you like Denglisch?“: costumer relationship manager, out door snacking, e- mail-Anglizismen und Amerikanischmen in der deutschen Sprache. München: Grin 2004, S. 5. 292 Vgl. etwa: Dieter Föhr: Deutsch raus – Englisch rein. Vom Abdanken einer großen Kultursprache. Berlin: Pro Business 2008. 293 Vgl. Ernst, Germanistische Sprachwissenschaft, S. 38. 294 Vgl. ebda. 295 Werlen, Sprache, Mensch und Welt, S. 94. 88

menschlicher Sprachen akzeptieren und dadurch in (produktiven) Kontakt zu seiner Umwelt treten. (vgl. AdG, 14) Doch nicht nur konventionelle Sprachvorstellungen werden in den Abenteuern der deut- schen Grammatik in Frage gestellt. Die in den ‚Gedichten‘ behandelten grammatischen Phä- nomene stehen häufig auch symbolhaft für andere Definitionen und Kategorisierungen, wel- che – gemeinsam mit den Sprachnormen – ebenfalls dekonstruiert werden. Dies ist etwa in folgendem Text der Fall:

Vor einem hellen Vokal Gleich werde ich meinen Bauch zeigen und tanzen an einem Teich wo eine deutsche Eiche steht. Ein gottloses Buch werde ich euch schreiben und steige hoch auf den Galgen. Ich bin ein fliegender Teppich mit einem Kopftuch. So ein Pech! Kann ich fliehen? Kennst du das Land CH? Die Lesart der heiligen S- chriftzeichen c und h bleibt weiter offen (AdG, 12)

Das grammatische Thema dieses ‚Gedichts‘ betrifft die Aussprache der Buchstabenkombina- tion ‚ch‘, welche in der deutschen Standardsprache auf dem Prinzip der „komplementären Verteilung“296 beruht. Je nach lautlicher Umgebung wird sie entweder als [x] oder [ç] artiku- liert.297 Um dies zu veranschaulichen wird im Text eine Vielzahl von Wörtern verwendet, welche den Digraphen enthalten. Die graphische Aufteilung der Verszeilen rückt diese hierbei noch zusätzlich in den Fokus der Betrachtung. Gegen Ende des ‚Gedichts‘ werden hierdurch allerdings auch Wort- und Begriffsbeispiele hervorgehoben, in denen die Aussprache von ‚ch‘ nicht nach demselben Grundsatz verläuft. Im Schweizerdeutsch, auf welches im Text mit dem Kürzel ‚CH‘ verwiesen wird, wirkt sich die lautliche Umgebung etwa für gewöhnlich nicht auf die phonetische Realisierung des Digraphen aus; ‚ch‘ wird immer (außer im Anlaut) als [x] ausgesprochen.298 Auch verändert sich die Aussprache der Buchstabenkombination, wenn sie in Verbindung mit ‚s‘ auftritt. Der Trigraph ‚sch‘ verlangt nach einer Artikulation als [ʃ].299 Als einzelne Sprachzeichen, d.h. als „c und h“ niedergeschrieben, unterscheidet sich die Lesart der beiden Buchstaben zudem ebenfalls. Die konkrete Aussprache der Schriftzeichen bleibt daher, wie es im ‚Gedicht‘ heißt, „weiter offen“ (AdG, 12).

296 Duden, Die Grammatik, S. 34. 297 Vgl. ebda. 298 Vgl. Ammon, Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 257. 299 Vgl. Duden, Die Grammatik, S. 35. 89

Die Dekonstruktion des Artikulationsparadigmas dient hierbei auch der Auflösung von Fremdbildern. Das Prinzip der komplementären Distribution300 steht im Text symbolisch für die Dichotomie von Eigenem und Fremden, wodurch diese als ein nur scheinbares Gegen- satzpaar entlarvt wird. Wie nämlich der Digraph ‚ch‘ nicht von sich aus für ein spezifisches Phonem steht, sondern hinsichtlich seiner Aussprache immer von seiner lautlichen Umgebung abhängig ist, sind auch kulturelle Definitionen und Abgrenzungen nicht automatisch zutref- fend, sondern von außen bestimmt und konstruiert. Hierauf ist Tawada bereits in Gesicht ei- nes Fisches näher eingegangen. Dort hat sie etwa ausgeführt, dass kulturell bedingte Sicht- weisen und Wahrnehmungskonventionen für gewöhnlich beeinflussen, wie Reisende von Einheimischen eingeschätzt werden. (vgl. V, 52f.) Dass solche Wertungen allerdings nicht notwendigerweise etwas mit den realen Persönlichkeiten der einzelnen Individuen zu tun ha- ben bzw. nicht deren Diversität widerspiegeln, wird in Vor einem hellen Vokal durch den viel- fältigen Einsatz der Schriftzeichen ‚c‘ und ‚h‘ angezeigt. Für sich alleine stehend und außer- halb spezifischer Lautkomplexe verfügen sie z.B. über völlig andere phonetische Eigenschaf- ten als zusammengeschrieben und als Teil von Wörtern. Auch findet sich im ‚Gedicht‘ eine Vielzahl von Begriffen, die auf stereotype Bilder ver- weisen, wie z.B. die ‚deutsche Eiche‘, das ‚gottlose Buch‘ oder der ‚fliegende Teppich‘, deren semantische Konnotationen mithilfe des Digraphen ebenfalls unterlaufen werden. Die einzel- nen Wörter scheinen zwar eine kulturspezifische Differenz zwischen Ost und West zu reprä- sentieren, diese spiegelt sich aber nicht in der Verteilung der Phoneme [x] und [ç] wider. Die scheinbar orientalischen Symboliken werden sowohl mit hellen wie auch mit dunklen Voka- len und Diphthongen realisiert, sodass eine auf dem Sprachmaterial beruhende Unterschei- dung zwischen Eigenem und Anderem nicht möglich ist. Vielmehr wird durch die in allen Wörtern enthaltene Buchstabenkombination ‚ch‘ sogar noch eine grafische Verbindung zwi- schen ihnen generiert. Diese ist – unabhängig von Aussprache und Semantik – allen Begriffen gemeinsam. Die kulturellen Differenzmerkmale, für die sie stehen sollen, werden so ebenfalls als relativ und arbiträr vorgeführt.301 Daneben fallen in den Abenteuern der deutschen Grammatik v.a. zwei Texte auf, in denen sich Tawada mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen auseinandersetzt. Hierzu themati- siert und inszeniert sie in beiden die Eigenschaften von Personalpronomen:

300 Zur komplementären Distribution vgl. auch: Karl-Heinz Ramers: Einführung in die Phonologie. München: Wilhelm Fink 1998, S. 47ff. 301 In ähnlicher Weise funktioniert z.B. auch das ‚Gedicht‘ Der Artikel. In diesem wird durch das gezielte Spiel mit Artikelwörtern veranschaulicht, dass Definitionen und Differenzierungen kontextabhängig sind. (AdG, 25) Dies sei hier aber nur am Rande erwähnt. 90

Die zweite Person Du hast ein Geschlecht. „Du“ hat kein Genus. Du da! Meinst du mich? Ja! Dann ist dein „Du“ heute weiblich. „Ich“ hat kein Genus. Und das ist ein Genuss für mich. „Ich!“ sagt mein Freund, der einen Freund hat. Er ist ein Ich, wenn sein Mund sich bewegt. Er ist ein Du, wenn seine Ohren mir zuhören. Egal ob dich eine Sie oder ein Er lieben, immer bist du eine zweite Person und geschlechtslos. (AdG, 23) und

Die dritte Person Er trägt seinen alten Hosenträger, sie ihren weißen Busenhalter. Ein Ich hingegen läuft nackt herum.

Ein Ich kann Marie, Mariko oder Mario heißen.

Er erträgt seine unerträgliche Mutter, sie ihren Vater. Sie trägt eine Gebärmutter in sich, er seine Hoden. DU trägst nichts bei dir außer der Buchstaben D und U.

Ein Du kann Kain, Cathy oder Keiko heißen.

„Ich“ muss keine Steuern zahlen, denn ICH ist kein bürgerlicher Name. „Du“ musst nicht zur Bundeswehr. Ein Soldat, der DU heißt, tötet nicht. (AdG, 24)

Vor allem das Pronomen ‚ich‘ scheint auch generell eine gewisse Faszination auf Tawada auszuüben, setzt sie sich in ihrem Werk doch immer wieder damit auseinander. In ihrer Er- zählung Eine leere Flasche erklärt ihre Protagonistin hierzu, dass es im Japanischen kein ver- gleichbares Wort gibt, um sich selbst zu bezeichnen.302 Die einzelnen Begrifflichkeiten wür- den für gewöhnlich immer auch Informationen über Geschlecht, ungefähres Alter und gewis- se Charaktereigenschaften des mit ihnen beschriebenen Individuums transportieren.303 In einem Gespräch mit Ortrud Gutjahr meint Tawada, dass sie das deutsche Wort ‚ich‘ deshalb als besonders „leicht“304 empfinde, während sie das Gefühl habe, dass deutsche Muttersprach-

302 Vgl. Yoko Tawada: Eine leere Flasche. In: Y.T.: Überseezungen. 3. Aufl. Tübingen: konkursbuch Claudia Gehrke 2010, S. 53. 303 Vgl. ebda. 304 Tawada; Gutjahr, „In meinen Poetikvorlesungen werde ich viel über das Wasser sprechen und der Tsunami kommt auch vor“, S. 26. 91

ler es dagegen als eher „schwer“305 wahrnehmen.306 Hierauf bauen die zuvor zitierten Gedich- te auf. Indem in ihnen die Personalpronomen der ersten und zweiten Person in Kontrast zu je- nen der dritten Person gesetzt werden, wird veranschaulicht, dass ‚ich’ und ‚du‘ grammatisch gesehen über keine Genuskategorie verfügen307. Daher lösen sie auch keine genderspezifi- schen Assoziationen aus. Stattdessen verweisen die beiden Wörter unmittelbar, direkt und vollkommen wertungsfrei auf die Individuen, die sie bezeichnen. In Eine leere Flasche heißt es hierzu auch: Dieses Wort [=Ich] besteht nur aus dem, was ich spreche, oder genauer gesagt aus der Tatsache, dass ich überhaupt spreche. Das Wort zeigt nur auf den Sprecher, ohne eine weitere Information über ihn hinzuzufügen.308 Entsprechend ist v.a. Die zweite Person streckenweise als Dialog inszeniert, z.B. „Du da! / Meinst du mich? / Ja!“ (AdG, 23). Die Beschreibungen in Die dritte Person beruhen dagegen auf einer Aufzählung stereotypischer Geschlechtsmerkmale, die durch den Vergleich mit den genusfreien Pronomen ‚ich‘ und ‚du‘ in ihrer Relativität aufgezeigt werden, wie etwa im Falle der Erwähnung von ‚Busenhaltern‘ und ‚Hosenträgern‘ (vgl. AdG, 24). Sie sind nicht von sich aus Merkmale des Individuums, sondern werden ihm bzw. ihr zugeschrieben oder aufer- legt.309 Dem Genderdiskurs entsprechend310 wird in den beiden Gedichten damit letztlich auch die ‚männlich-weiblich‘-Dichotomie als ein gesellschaftliches Konstrukt entlarvt. Insgesamt wird in den Abenteuern der deutschen Grammatik also nicht nur der konventi- onelle Gebrauch der deutschen Sprache infrage gestellt, sondern auch ein kritischer Blick auf diverse kulturelle Konzepte und gesellschaftliche Definitionen geworfen, welche im Zuge dessen ebenfalls brüchig gemacht werden. Wie in den beiden vorausgehenden Großkapiteln ist es hierbei gleichermaßen eine gezielte Verbindung zwischen Theorie und Literatur, die diesen Effekt ermöglicht.

305 Ebda. 306 Vgl. ebda. 307 Zu Personalpronomen vgl.: Duden, Die Grammatik, S. 263-271. 308 Tawada, Eine leere Flasche, S. 56f. 309 Vgl. etwa Inge Stephan, Christina von Braun: Einleitung. In: Gender-Studien. Eine Einführung. 2., aktual. Aufl. Hrsg. von C.v.B. und I.S. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2006, S. 3ff. 310 Ebda. 92

5 Fazit

Die in dieser Arbeit präsentierten Untersuchungen haben deutlich gezeigt, dass die produktive Verschränkung von Literatur und Theorie ein essentielles Merkmal von Tawadas Schreiben ist. Mittels des gezielten Einsatzes von poetologischen Überlegungen, wissenschaftlichen Quellen, literarischen Beispielen und poetischen Stilmitteln gelingt es ihr in ihren Texten, sich diversen kulturellen und gesellschaftlichen Themen auf eine Art und Weise anzunähern, die deren Komplexität Rechnung trägt. Hierzu geht sie zumeist von einer Auseinandersetzung mit den Eigenheiten und Charakteristika der Sprache bzw. der Sprachen aus und löst diese aus ih- ren üblichen Bedeutungskontexten heraus, wodurch sie letztlich die sprachliche Verfasstheit der Welt veranschaulicht. Dies ermöglicht es Tawada, einen alternativen Zugang zu den Phä- nomenen der Realität zu präsentieren, welcher diesen nicht nur kritisch begegnet, sondern auch offen für neue und abseits der Konventionen liegende Sichtweisen und Erkenntnisse ist. Übliche Definitionen, Konnotationen und Konzepte werden hierdurch infrage gestellt und somit auch dichotomische Sichtweisen als unhaltbare Konstrukte entlarvt, oder wie Monika Schmitz-Emans es ausdrückt: [Tawadas] Sprach- und Wortspiele sind Konkretisierungen einer Poetik, die beim Sprachlichen ansetzt, um verfestigte Bedeutungen zu verflüssigen, geläufige Codes aufzubrechen und so die Welt zu verwan- deln.311 Dies trifft, unabhängig von der Gattung, auf alle in der hier vorliegenden Arbeit behandelten Texte zu.

311 Monika Schmitz-Emans: Yoko Tawadas Wörterbücher. In: Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträ- ge zum Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho Pansa von Y.T. Hrsg. von Christine Ivanovic. Tübingen: Stauffen- burg 2010. (=Stauffenburg Discussion. 28.) S. 425. 93

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