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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 29.01.2013 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr

Der -Komplex Kampfhandlungen in der Marsch Von Rainer Link

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 Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

Regie: Idyllische Atmo, die übergeht in Einstürzende Neubauten oder ähnliches

O-Ton Polizist Börner Ja, das war ein Elektrozaun, das weiß ich noch deswegen so genau, weil ich als Bauerssohn dieses Equipment kannte und ich mich gewundert hab, was soll ich hier Streife laufen. Und ich erinnere mich daran, dass wir dann auch irgendwann mal Pause hatten, nach dem man so eine Stunde Weidezaunstreife gelaufen ist. Und ich erinnere mich daran, dass ich aus einem kurzen Schlaf wach wurde, und diese Wiese voller Fahrzeuge war. Das waren Baufahrzeuge und das war der Baubeginn des Atomkraftwerkes in Brokdorf.

O-Ton Pastor Friedrich Bode Man steht dort wie ein Feldherr in einer Schlachtreihe. Und überlegt sich, wo gehe ich jetzt hin, wo verschaffe ich mir einen Überblick. Ich sah jedenfalls von allen Seiten Hubschrauber und Tränengas. Jedenfalls ist es so, dass es eine Art von Auseinandersetzung mit Waffengewalt ist, also wirklich strategisch. Also, das fand ich pervers, absolut pervers, dass Menschen, die sich doch für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, so von der Polizei bearbeitet werden und zwar im Auftrage der Politik.

Atmo: Demonstranten rufen Parolen

O-Ton pensionierter NDR Redakteur Michael Wolf Thomas Es war so, dass es zunächst mal friedlich Sprechchöre gab, also unproblematisch. Dann eskalierte es und es gab Wasserwerfereinsätze, danach später prügelnde Polizisten und was ich im Einzelnen nicht verfolgen konnte, wie sie dann über die Wiesen gejagt wurden. Der entscheidende Punkt war, dass ich eine Demonstration dieses Ausmaßes und mit einer solchen Brutalität noch nicht erlebt hatte.

O-Ton Werkschützer Brokdorf, da wird das große Werk gebaut – mit Recht. Alles, was dagegen protestiert: zurückschlagen!

2 2 darauf die Ansage: Der Brokdorf-Komplex Kampfhandlungen in der Wilster Marsch Ein Feature von Rainer Link

Sprecher: Die letzten Oktobertage des Jahres 1976 an der schleswig-holsteinischen Unterelbe waren kalt, windig und ungemütlich. In der Gemeinde Brokdorf, einem 800 Seelen- Dorf gleich hinterm Deich, liefen auffällig viele Männer in grünen Uniformen über nasse Wiesen und Weiden. Der damals 19-jährige Polizeianwärter Manfred Börner war direkt aus seiner Ausbildungseinheit in Eutin auf die Reise geschickt worden.

O-Ton Börner Ich erinnere mich daran, dass man uns sagte, wir würden nicht mehr planmäßig Wochenende machen können, sondern in einen geschlossenen Einsatz fahren. Und ich erinnere mich daran, dass man uns nicht sagen wollte oder konnte, was das für eine Einsatzlage wäre. Und ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass wir an einem Freitag nicht ins Wochenende geschickt wurden, sondern mit unserer gesamten Einsatzausrüstung, die man damals als Standard für geschlossene Einsätze hatte, in einer Nacht zu einem Samstag in die Wilster Marsch fuhren, die ich bis dato noch nie gesehen hatte. Und ich erinnere mich daran, dass wir eingesetzt wurden zu kleineren Streifengängen, um zu gucken, ob sich irgendwas tut, auf einer Wiese. Ich selber war eingeteilt für einen Streifengang an einem Weidezaun, von dem ich keine Ahnung hatte, wo ich war.

Sprecher: Ein ganzes Heer junger Polizeianwärter patrouillierte auf matschigen Wiesen, sollte bei irgendwelchen Besonderheiten Meldung machen, wusste aber im Grunde nicht, was das für Besonderheiten sein könnten.

O-Ton Börner Ich weiß nicht mehr, was ich mir vorgestellt habe, ich weiß nur noch, dass ich als junger, relativ unfertiger Mensch gelernt hatte... na ja, wir hatten gelernt, nicht zu hinterfragen, warum wir in Einsätze fahren, sondern wir wurden darauf hingewiesen,

3 3 dass es so etwas wie eine Dienstverpflichtung gibt, einen Amtseid, und wenn der Dienstherr sagt, da fahren wir hin, dann fahren wir dahin. Und ich war auch so erzogen, in meinem Elternhaus, dass man nicht Fragen stellt. Wenn der Chef sagt, es geht links rum, dann geht man links rum.

Sprecher: Sie hätten die Aktion wie eine geheime Kommandosache behandelt, sagt Hans Dieter Schwarz, damals Chef einer in Brokdorf eingesetzten Hundertschaft.

O-Ton Hans Dieter Schwarz Der Termin wurde aus gutem Grunde nicht veröffentlicht. Die Kollegen der Einheit erhielten auch erst in der Nacht die Information, worum es geht und wohin wir fahren. Die logistischen Vorbereitungen waren getroffen, das ist völlig klar. Und die ersten, die auf diesem Gelände waren, dass waren wir tatsächlich, die 2. Hundertschaft der Bereitschaftspolizei Schleswig-. In Wohnwagen, wir haben da in Wohnwagen übernachtet und uns dann auch darauf vorbereitet, war ja bekannt, dass dagegen ja auch demonstriert werden sollte.

Sprecher: Kernkraft galt zu Beginn der 1970er Jahre als saubere und nahezu unerschöpfliche Energiequelle, mit der sich teures Öl und stinkende Kohle erübrigen würden. Alle politischen Parteien votierten für diese Fortschrittstechnologie; die Zahl der Skeptiker war überschaubar. In Sichtweite von Brokdorf hatte man im Sommer 1976 in Brunsbüttel einen Nuklearmeiler in Betrieb genommen. Und auf dem gegenüberliegenden Elbufer bei Stade hatten die Bauarbeiten für einen Atomreaktor bereits im Herbst 1967 begonnen. Nennenswerte Proteste gab es weder in Brunsbüttel noch in Stade. Im fernen Whyl hingegen, einem kleinen Winzerdorf am Kaiserstuhl, erzürnte 1976 der Plan, ein Atomkraftwerk zu bauen, die örtliche Bevölkerung. Bauern und viele Studenten aus der Region besetzten den Bauplatz und konnten nach mehrmonatigen Auseinandersetzungen das Vorhaben verhindern. Whyl galt fortan als Geburtsstunde der Anti-AKW-Bewegung. Eine solche Niederlage wollten Politik und Energiekonzerne in Norddeutschland nicht noch einmal erleben. Deshalb die Heimlichtuerei in Sachen Brokdorf.

4 4 O-Ton Hans Dieter Schwarz Es ging nicht um die Atompolitik der Bundesrepublik Deutschland, die stand bei uns nicht im Mittelpunkt der Betrachtung. Ich mach auch keinen Hehl daraus, dass auch wir in unseren Reihen eine Vielzahl von Kollegen hatten, die durchaus nicht einverstanden waren mit auch der friedlichen Nutzung der Kernenergie, weil sie eben Bedenken hatten, die wir auch ernst genommen haben. Insofern mussten wir in der Vorbereitung diese klare Trennung ziehen, unseren Leuten klar machen: Es geht nicht um die Atompolitik, wir verteidigen hier keine Atompolitik und beziehen auch keine Position zu diesem Problem, sondern unser Auftrag ist, Gesetz und Ordnung einzuhalten.

Sprecher: Während in Brokdorf junge Polizisten ahnungslos durch den Matsch schlurften, lud der für Atomfragen zuständige Landesminister Karl Eduard Claussen die Chefredakteure der fünf führenden Zeitungen Schleswig- ins noble Clubhaus "Kieler Kaufmann“ ein. Während eines opulenten Mahls offenbarte der Minister den nahen Beginn der Baumaßnahmen in der Wilster Marsch. Man wolle mit der Verkündung eines Sofortvollzuges den Bauplatz gegen Leute vom Schlage der Whyler Demonstranten sichern. Der Minister bat seine Gäste um Stillschweigen und wohlwollende Berichterstattung. Die Herren sagten beides zu, die Sache ging dennoch schief, weil andere Presseorgane, die nicht in das Schweigegelübde einbezogen worden waren, erbost von „Geheimbündlerei“ und „Verrat an der Pressefreiheit“ sprachen. Die Landesregierung geriet in die Bredouille und der damalige Kieler Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg versuchte, die Auseinandersetzung zu entschärfen, indem er einräumte:

O-Ton G. Stoltenberg: .....dass es unter den besonderen Bedingungen unserer – wenn ich das sagen darf: kleinen Hauptstadt und bei dem engeren mitmenschlichen Miteinander und Nebeneinander, unter dem wir hier arbeiten, was ja auch viele Vorzüge hat, offensichtlich zu Verstimmungen führen musste, das aus zunächst einmal wohlerwogenen Gründen ein Vorgespräch mit den Chefredakteuren der fünf größten Zeitungen des Landes stattgefunden hat. Und da wir diese Verstimmung festgestellt haben, werden wir für die künftige Informationspolitik die Konsequenz daraus ziehen, dass dies nicht zweckmäßig ist.

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Musik

O-Ton Wasmund NDR Es beginnt mit einem breiten Wassergraben, dahinter folgt ein etwas niedrigerer Zaun, dahinter ein weiterer Zaun. Zwischen diesen Zäunen sind Stacheldrahtrollen gelegt. Die Tore sind mit Spanischen Reitern verstellt, es sind neue Aluminiumtore herangefahren worden, die man dann, wenn die Demonstration hier ungefähr gegen 14 Uhr beginnen wird, verschließen kann...

Sprecher: Der Überraschungscoup schien gelungen. Auf dem Bauplatz standen Werkschützer, private Sicherheitsleute des Wachkommandos Nord und etliche Polizeieinheiten, um Störer abzuwehren.

O-Ton Hans Dieter Schwarz Es war aber auch bekannt, dass die friedlichen Umweltschützer absolut keine gewaltsamen Aktionen geplant haben, insofern haben wir uns völlig entspannt dann am 26. Oktober außerhalb des Geländes aufgestellt mit meiner Einheit und auch mit den heran marschierenden Demonstranten ja friedlich und freundlich diskutiert, das war so ne richtig entspannte Situation.

Sprecher: Die meisten Demonstranten kamen aus explizit gewaltfreien Gruppierungen, viele aus kirchlichen Organisationen. Unterschlupf erhielten sie auf dem Bauernhof des Ehepaars Marlene und Ali Reimers, der in Sichtweite des Bauplatzes liegt.

O-Ton Ali Reimers Die ham hier Plenum gemacht und haben sich vorbereitet auf Sitzblockaden. Jeder hatte ein Telefonbuch unterm Arsch, damit er keinen kalten Arsch kriegt.

Sprecher: Für die Reimers war der Kontakt zu den überwiegend großstädtisch sozialisierten Demonstranten zunächst ein kleiner Kulturschock.

6 6 O-Ton Frau Reimers Wir hatten ja noch nie Leute mit einem Bart, das war doch damals was Außergewöhnliches. Und unsere Kinder, die krabbelten auf der Erde und dann sagt es: Der eine hat zwei verschiedene Schuhe an, und der andere hatte zwei verschiedene Strümpfe an. So was kannten unsere Kinder doch nicht, wir waren doch ein ordentlicher Haushalt, lacht.

Sprecher: Es werden etwa 8000 Menschen gewesen sein, die angesichts der nächtlichen Kaperung des Kraftwerk-Areals im Oktober 1976 ihre Empörung zeigen wollten. Sie machten sich in Gummistiefeln und Friesennerz auf den kilometerlangen Fußweg zum Kundgebungsort am Bauplatz, wo neben anderen der damalige SPD- Bundestagsabgeordnete Freimut Duve das Wort ergriff.

O-Ton Freimut Duve Kundgebung Die Leute spritzen ihr Augengift nicht, um die Bundesrepublik vor dem energielosen Untergang zu bewahren, sondern sie spritzen jungen Menschen ihr Gift in die Augen, damit Firmenziele erreicht werden, die leichtfertig vom Staat übernommen worden sind. … Die einzige Information über Zuwachsraten kommt von den Firmen selber. Sie kommt von dem gigantischen atom-industriellen Komplex, der hier in der Bundesrepublik in den letzten zehn Jahren aufgebaut worden ist. Dieser atom- industrielle Komplex bestimmt mehr und mehr, wohin diese Demokratie, wohin diese Republik geht. Und dafür hören hier in der Wilster Marsch Zivilbeamte die Telefone ab und verfolgen unsere Kollegen bis auf den Bahnhof von Es gibt keine neue Energiepolitik seit der Energiekrise, es gibt nur eine neue Form von public relation der Energiefirmen. Wer sagt, 1985 gehen ohne Brokdorf die Lichter aus, der weiß, dass er lügt oder er weiß nicht, wovon er spricht.

Sprecher: Viele Demonstranten wollten die Sperrzäune überwinden und den Bauplatz wenigstens symbolisch besetzen. Regelverletzungen wie Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung wurden als legitimer Teil einer Strategie des zivilen Ungehorsams gesehen.

7 7 O-Ton Ü-Wagen Korrespondentenbericht Passiert ist es in dem Augenblick als die Demonstration schon beendet und abgeschlossen war, und als die Hundertschaften oder Tausendschaften der Demonstranten hier am Baugelände vorbeizogen und plötzlich eine Lücke entdeckten. Einige von ihnen versuchten, den Wassergraben zu überwinden und begannen dann den Zaun zu demontieren, dabei konnte man sogar sehen, dass einige von ihnen sogar mit Zangen ausgerüstet waren. Der Großteil der Demonstranten rief jedoch zunächst den Mitdemonstranten zu: Aufhören, Aufhören, Aufhören. Das hat allerdings nicht gefruchtet. Inzwischen sind einige Hundert Menschen hier auf dem Gelände.

Sprecher: Karsten Biehl, 1976 Redakteur beim NDR Fernsehen, war bei dieser ersten großen Brokdorf-Demonstration mit seinem Aufnahmeteam vor Ort.

O-Ton Karsten Biehl Die Polizei natürlich bewaffnet, die Demonstranten waren ungeschützt, hatten noch keine Helme, keine Bewaffnung, keine Knüppel, Feuerwerkskörper o.ä. und das war schon eine Diskrepanz zwischen dem friedlichen Auftreten der Demonstranten, Pastoren waren auch dabei, und dem massiven Aufgebot der Polizisten, die schon auch angefangen haben zu knüppeln und die schon Tränengas geworfen haben, was dann aus meiner Sicht zur Radikalisierung beigetragen hat.

O-Ton Hans Dieter Schwarz Das schlimme an der Geschichte ist, die haben ja die friedlichen Demonstranten ja als Schutzschild benutzt, sind da also in der Menge untergetaucht und dann plötzlich auf Kommando waren die auf dem Platz. Und das war auch nicht zu verhindern.

Sprecher. Bauern und Anwohner brachten alte Teppiche, die sie über die scharfzackigen NATO-Drähte warfen. Es wurden heiße Getränke herangeschafft. Zeltplanen und Strohballen sollten gegen die beißende Kälte schützen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatten sich einige Hundert Demonstranten auf dem Bauplatz niedergelassen, unter ihnen der junge Pastor Friedrich Bode aus Bremen, der im Talar demonstrierte.

8 8 O-Ton Friedrich Bode Das war ein Überraschungseffekt, mit dem ich gar nicht gerechnet habe. Also, so effektiv nicht. Das war wie eine Lähmung, die Polizisten gingen nicht weiter und die Demonstranten sagten okay, wenn der da vorne steht, dann fühlen wir uns geschützt. Jedenfalls konnte man dann nicht mehr von Politrockern und Terroristen sprechen konnte. Jetzt war das bürgerliche Lager erschienen.

Sprecher: Der Pastor hielt eine improvisierte Feldpredigt und berief sich darin auf das Widerstandsrecht.

O-Ton Friedrich Bode Wie können die Menschen sich überhaupt so gegen die Schöpfung versündigen, wer sind die denn? Entschuldigen Sie bitte! Wer sind die? Das sind in meinen Augen, ich sage es Ihnen ganz klar, Verbrecher gegen die Schöpfungsordnung.

O-Ton Hans Dieter Schwarz Mit der Brachialgewalt, mit der da der Zaun eingerissen wurde, da kann man ja nicht mehr von friedlichem Protest reden, das geht einfach nicht. Ich denke, das war ein klarer Rechtsbruch.

O-Ton Friedrich Bode Was für mich beeindruckend war, war die Verzweiflung der Menschen damals. Ein junges Mädchen, eine junge Studentin vielleicht, ich werd sie nie vergessen, kam auf mich zu und legte ihren Kopf auf meine Schulter und sagte, das ist ja entsetzlich, das ist ja entsetzlich und weinte. Das muss man sich mal vorstellen. Für mich war das zwar auch entsetzlich, aber ich sag mir, das ist die Welt, das ist die Macht und für mich sind diese Dinge Satanismus pur, der sich hier verkörpert hat. Das ist völlig klar. Ein normaler Mensch mit einem normalen Verstand…geht nicht, absolut geht nicht. Das ist un-kantisch. Das ist unchristlich.

Sprecher: Der junge Polizist Manfred Börner sah sich bei seinem ersten großen Einsatz gezwungen, mit dem Gummiknüppel auf Leute loszugehen, die sich einfach nur weigerten, das Areal zu verlassen. Auf so ein Szenario des passiven Widerstands

9 9 hatte man ihn in seiner Ausbildung nicht vorbereitet.

O-Ton Börner Ich war damals ein unpolitischer Mensch und ich hatte alleine wegen meines Lebensalters keine 68er Generation mitbekommen. Ich bin in eine Polizei hineingekommen, die kennen lernen musste, sich mit terroristischen Aktivitäten auseinander zu setzen, also die Baader-Meinhof-Gruppe, die Rote Armee Fraktion, das war die Hochzeit der RAF-Zeit, das fand natürlich Niederschlag in unserer Ausbildung, das wir uns darauf einstellen mussten, in diesem Feld zu arbeiten. Aber dieses Demonstrationsgeschehen, was sich seinerzeit entwickelte, war, glaube ich, für die damaligen Polizisten Neuland.

Musik

Sprecher: Der Kampf David gegen Goliath endete an diesem kalten Oktobertag des Jahres 1976 für die Protestierer mit der Vertreibung vom Bauplatz. Aus ihrem Bauernhaus, in dem die Demonstranten noch wenige Stunden zuvor Sitzblockaden trainiert hatten, wurde in den Abendstunden eine regelrechte Sanitätsstation, erinnert sich Marlene Reimers.

O-Ton Frau Reimers Ich weiß nicht wie viele, ich glaube wir hatten 300 die Nacht, drüben im Haus. Und viele geschlagen worden, mit Tränengas in den Augen. Da hatten wir ganz schön Arbeit mit. Da haben wir das so die ganze Nacht über durch, aber da hatten wir uns noch gar nichts gedacht, da hatten wir noch gar keine Zeit zum Denken.

Sprecher: Die Sicherheitsorgane hatten zwar die Besetzer vertrieben, mussten dafür aber einen hohen Preis zahlen.

O-Ton Hans Dieter Schwarz Beim ersten Einsatz im Oktober haben wir als Polizei ein vernichtendes Urteil erfahren müssen, Pressecho erfahren müssen.

10 10 Sprecher: Das vernichtende Echo zerfällt bei genauerer Betrachtung in zwei völlig konträre Sichtweisen: Die einen kritisierten, dass es trotz überragender polizeilicher Übermacht es den Demonstranten hatte gelingen können, den Bauplatz überhaupt zu betreten. Die anderen empörten sich darüber, dass gewaltfrei auftretende Protestierer wie Schwerverbrecher mit Reizgas, Wasserwerfern und Knüppeln bearbeitet und von berittenen Einheiten niedergetrampelt worden waren. Eine der Konsequenzen auf Seiten der Polizei: Man etablierte eine mobile Pressestelle, die fortan schon während eines Einsatzes die eigene Sicht der Dinge an die Medien bringen sollte. Auch die Kirchenleitung erwog Konsequenzen.

O-Ton Friedrich Bode Ich bin ja zitiert worden. Es wurde mir klar gemacht, so geht das nicht. Sie wissen ja, der Talar gehört in die Kirche, das ist eine Dienstkleidung. Aber ich hatte mich drüber weggesetzt. Es geht um Schöpfung, es geht um Menschen, ich denke, da ist das reformatorische, das protestantische Prinzip – wie der „Prinz von Homburg“ bei Kleist – einfach außer Kraft und macht seine Sache. Und ich denke, dass war auch ganz richtig, denn die Kirche hat ja hinterher ist sie ja eingeschwenkt. Aber zu dieser Zeit noch nicht. Ich erinnere mich noch sehr genau, da hieß es immer: Ja, das müssen wir den Fachleuten überlassen. Ich sag, was müssen wir den Fachleuten überlassen, bitte schön?

Sprecher: Auch unter den kasernierten Polizeianwärtern gab es Diskussionen.

O-Ton Börner Ich hab erlebt, dass diese Kollegen, die sich kritisch äußerten, auf ihren Diensteid hingewiesen wurden, dass sie also diese Aufgabe wahrzunehmen hätten. Das waren wenige, vereinzelte, aber ich habe gedacht, o ha, das ist aber mutig, dass diese Kollegen sagen, ich habe Skrupel, den Staat in dieser Frage zu vertreten. Das war keine Revolte, das war nur eine Diskussion, die ich mitbekam aus meinem Blickwinkel als junger Polizist, dass es durchaus kritische Kollegen gab, die dann zum Teil auch für sich Konsequenzen gezogen haben, ich weiß von Einzelnen, die gesagt haben, das ist dann nicht mein Beruf.

11 11 Musik

Sprecher: Der unverhältnismäßig gewalttätige Umgang mit wehrlosen Demonstranten sorgte für eine beispiellose Solidarisierungswelle. Überall in der Republik schossen Anti- AKW- Bürgerinitiativen wie Pilze aus dem Boden. Zum Aufschwung der jungen Bewegung trug sicherlich auch bei, dass die schleswig-holsteinische Landesregierung die Anti- AKW-Akteure pauschal als Politrocker, Chaoten, Anarchisten und Kommunisten diffamierte. Günther Hopfenmüller, damals Mitglied im „Kommunistischen Bund“ und einer der späteren Sprecher des Dachverbandes der Bürgerinitiativen Unterelbe, hatte die erste große Auseinandersetzung in Brokdorf noch aus der Ferne, aber mit viel Sympathie verfolgt. Mitglieder von K-Gruppen seien zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht in den Reihen der Anti-AKW-Bewegung vertreten gewesen.

O-Ton G. Hopfenmüller Das waren also nicht die politischen Organisationen zunächst. Dann wurde das aufgenommen ziemlich bald von gewaltfreien Gruppen und in der Folge dann auch von Spontis. Und als nächstes kamen dann eigentlich die politischen Organisationen, die K-Gruppen, die selbst ernannten Parteiansätze, aber durchaus auch Jusos und ähnliche Gruppierungen, Falken, die sich dann dafür interessiert haben, weil sie festgestellt haben, dass dieses Thema Menschen mobilisiert.

Sprecher: Vom „Schutzverband Deutscher Kleingartenbewohner“ über die ÖTV Vertrauensleute-Leitung des Flughafens Frankfurt bis zu den Jungdemokraten, der damaligen Jugendorganisation der F.D.P., reichte der sich rasant ausweitende Kreis der Unterstützer.

O-Ton Friedrich Bode Die Kirche ist ja dann als Trittbrettfahrerin dazu gekommen, Kirche erkennt man immer an der heraushängenden Zunge, die läuft den Dingen hinterher. Und das war auch so gewesen. Aber sie hat ihren Auftrag wahrgenommen und das ist in Ordnung und ich glaube, dass ist auch nicht mehr rückgängig zu machen.

12 12 Sprecher: Überall in der Republik gründeten sich Initiativen gegen Atomkraft – es werden wohl einige Tausend gewesen sein. Und die Aktivisten drängten auf eine Revanche: Schon für den 13. November wurde eine erneute, bundesweite Demonstration angesetzt. Das Motto „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden“ sollte praktisch umgesetzt, die inzwischen verstärkte Festung demontiert werden. Und dazu rüstete man sich mit Enterhaken, langen Seilen, Bolzenschneidern, Schaufeln und Spitzhacken aus.

O-Ton G. Hopfenmüller Ansonsten war überhaupt keine Debatte darüber, dass es berechtigt ist, Widerstand zu leisten, d. h. Widerstand zu leisten, indem man sich nicht an Polizeisperren hält, Widerstand, den man auch gegen Bauzäune und nötigenfalls auch gegen Baumaschinen richtet, das war schon klar. Eine andere Frage war die Gewalt gegen Personen, die wurde überwiegend abgelehnt, das waren letztlich ein paar abenteuerliche Positionen, die aber von niemandem ernst genommen wurden. Dass man schon mal in eine Prügelei mit Polizisten kommen kann, wenn sie einen daran hindern wollen durchzugehen in Richtung Bauzaun, das war im allgemeinen Bewusstsein völlig gerechtfertigt.

Sprecher: Die Presse sprach von der zu erwartenden „Schlacht um Brokdorf“ und entwarf ein Szenario, das einem bewaffneten Bürgerkrieg ähnelte. Schließlich rückten mehr als 30 000 Demonstranten auf Brokdorf vor. Ihre Zahl hatte sich nicht nur vervielfacht, die Demonstranten schienen jetzt auch auf eine Konfrontation vorbereitet. Viele trugen einen Motorradhelm, einige hatten Gasmasken dabei, fast alle waren gegen den Beschuss von Wasserwerfern geschützt. Auch die Polizei hatte weiter aufgerüstet:

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O-Ton R. M. Korda Für mich war besonders frappierend das pompöse Auftreten der Staatsmacht. Die Polizei hat also viel von dem Spielzeug vorgezeigt, was auf Steuerzahlerkosten so angeschafft wird: Hunde, Nebelkerzen, Wasserwerfer, die sogar aus Mainz kamen,

13 13 die chemischen Keulen, Gummiknüppel, Plastikschilde, Tränengas, Hubschrauber, Wasserschutzpolizeiboote auf der . Ich hoffe ich habe da nichts Wesentliches vergessen.

Zitator/ zweite Stimme: Bericht, festgenommener Demonstrant: Wir werden mit brutalen Drohungen gezwungen, uns mit stark gespreizten Armen und Beinen an den Lastwagen zu lehnen – die Füße müssen ca. 1,40 m vom Rand des Lastwagens entfernt sein. Fast jede kleinste Bewegung wird mit einem Fußtritt kommentiert, der uns zu „ordentlicher Haltung“, d. h. Zum Spreizen der Beine veranlassen soll.

O-Ton Karsten Biehl Da war ich selbst schon etwas geschockt von der Gewalt von beiden Seiten in diesem Fall aber auch. Die Polizei ist da sehr massiv vorgegangen, also das waren richtige Hubschraubereinsätze, die an den Vietnam-Krieg erinnerten. Das Giftgas hat mich auch geschockt, das war ja eine Art von Giftgas, die auch im Ersten Weltkrieg benutzt worden war, die auch zu Verletzungen und Atembeschwerden führte. Das war schon ziemlich schlimm. Aber auf der Demonstrantenseite wurde auch alles gewalttätiger. Also, am Anfang wurden noch Reden gehalten, die Pastoren haben geredet, die Bauern haben geredet und im Hintergrund sammelten sich schon die Hamburger Gruppen und riefen immer: Schnipp Schnapp Zäune ab und dieser Wunsch wurde immer lauter und dann gingen die auch nach vorne und fingen an die Zäune zu beseitigen.

O-Ton Hans Dieter Schwarz Ich hatte den Auftrag mit meiner Einheit und drei weiteren unterstellten Hundertschaften, das Haupttor wieder frei zu kriegen. Das haben wir auch hingekriegt, allerdings muss man sagen, das waren schon bürgerkriegsähnliche Zustände. Uns wurde dann auch eine Leitplanke, die war 500 Meter lang, die wurde aus der Erde gerissen, das war also eine „beeindruckende“ Leistung, und dann praktisch vor unsere Wasserwerfer gelegt auf die Straße. Nun hatten wir einen Technischen Zug dabei, der die Leitplanke dann zerschnitten hat, und so kamen wir dann weiter ans Haupttor.

14 14 O-Ton Börner Ich erinnere das Bild eines brennenden Wasserwerfers. Ich weiß nur, dass die damaligen Besatzungen um ihr Leben fürchten mussten, weil sie drohten am lebendigen Leibe zu verbrennen. Und wir dann den Auftrag kriegten, diese Besatzung zu retten bzw. zu schützen, in dem wir in einen Pulk von Menschen hineingeschickt wurden, um diese vier Menschen, die in einem Wasserwerfer verharrten, rauszuholen.

O-Ton Karsten Hinrichsen Die Demo mit den Hubschraubern das ist, glaube ich allen, die das damals mitgemacht haben, in ganz schrecklicher Erinnerung geblieben. Das hatte was von Krieg. Da hatte man nicht das Gefühl, dass der Staat einem was Gutes tun wollte, sondern der hat einen bedroht. Ja, viele haben gesagt, das sie Albträume gehabt haben eine ganze Zeit, das sie aufgeschreckt sind. Ich glaube, ich nicht, ich bin eher nüchtern, ein bisschen dröge.

O-Ton Karsten Biehl Ich war dann selbst so emotional, als die Polizisten angefangen haben, ohne Grund zu prügeln und anfingen, meinen Kameraassistenten zu prügeln, da bin ich selbst auch ausgerastet und habe den Polizisten nicht geschlagen, aber ich bin ihm in den Arm gefallen. Also, wenn sie so wollen, bin ich da auch radikalisiert worden.

O-Ton Börner Durch diese Entwicklung der Gewalt haben wir irgendwann nur noch Störer wahrgenommen. Und dann entwickelt sich auch der Sprachgebrauch – heute sage ich, das ist sicher nicht richtig gewesen, aber: Für uns waren irgendwann die Demonstranten alle Störer.

Sprecher: Nach der Schlacht um Brokdorf tauchte ein nicht für die Öffentlichkeit bestimmter bilanzierender Bericht aus der Polizeiführung auf, der nahe legt, dass man an diesem 13. November 1976 es insbesondere auf diejenigen abgesehen hatte, die an den militanten Aktionen nicht beteiligt waren:

15 15 Zitator: „Den Abwurf von Tränengaswurfkörpern aus Hubschraubern in Fächerform auf rückwärtige Störer kommt eine erhebliche Bedeutung zu... Diese Maßnahme war außerordentlich wirkungsvoll, denn die hier verweilenden Personen hatten keine besonderen Schutzmasken gegen Tränengas und lösten sich sofort auf.“

Sprecher: Bei diesen „rückwärtigen Störern“ wird es sich überwiegend um Neugierige, Ängstliche, Zaungäste oder abziehende Demonstranten gehandelt haben. Ministerpräsident Stoltenberg sah Linksradikale und Terroristen am Werk und drohte mit Gesetzesverschärfungen und noch mehr Polizei. Diese Sicht der Dinge teilten die Kommentatoren aus dem Verlagshaus Springer.

O-Ton Michael Wolf Thomas Es ist ganz eindeutig so, dass die Springer Zeitungen wie auch in den 1968er-Jahren eine eher stimmungsverschärfende Rolle spielten und aus deren Weltbild ist es vielleicht ganz verständlich, für mich ist das indiskutabel.

Sprecher: Der Spiegel, Der Stern und Die Zeit beispielsweise zeichneten ein differenzierteres Bild der Vorgänge. Und auch im NDR, so der damalige Medienredakteur Michael Wolf Thomas, habe es Raum für kritische Berichterstattung gegeben.

O-Ton Michael Wolf Thomas Der entscheidende Punkt war, dass ich eine Demonstration dieses Ausmaßes und mit einer solchen Brutalität noch nicht erlebt hatte. Es sollte das Kernkraftwerk Brokdorf durchgesetzt werden, es war von der ganzen Anlage her und auch im Vorwege eine Geschichte, dass es nicht nur darum ging ein Atomkraftwerk zu bauen, sondern gegen Widerstand zu bauen. Und hier wollte der Staat, wollte die Regierung Stoltenberg ein Exempel statuieren, sonst hätte man es so – zumindest nach neueren polizeilichen Verhaltensregeln- nicht gemacht.

O-Ton Stoltenberg. Die Landesregierung hat gestern in einem Fernschreiben an den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks nachdrücklich gegen die völlig einseitige und in wichtigen

16 16 Punkten sachlich unzutreffende Berichterstattungen in mehreren Sendungen der Anstalt zu dem Thema Brokdorf protestiert.

O-Ton Michael Wolf Thomas Es ist so, dass es natürlich massive Versuche gab, die Berichterstattung zu kritisieren, aber eben auch Konsequenzen daraus zu bekommen, dass diese Berichterstattung freundlicher wird. Da muss man sagen hat die damalige Leitung des Hauses, damals Intendant Neuffer mit samt dem gesamten Apparat gestanden. Es gab auch unterschiedliche Meinungen im Haus, es gab auch welche, die meinten der NDR oder einzelne Mitarbeiter vom NDR würden nicht objektiv berichten.

Sprecher: Auf Druck des Verwaltungsrates ließ der NDR Intendant sämtliche Hörfunk und TV- Berichte zum Thema Brokdorf transkribieren. Dann gingt die Zählerei los: Nach Wertung der CDU hätten von 100 Hörfunkbeiträgen 67 eindeutig gegen das Kernkraftwerk Stellung genommen, 16 seien neutral gewesen und 17 hätten sich positiv mit Brokdorf beschäftigt. Bei den Fernsehbeiträgen waren die Christdemokraten über elf von zwölf Sendungen verstimmt. Aus Sicht der SPD war nichts zu beanstanden, die Mehrheit der Beiträge sei journalistisch neutral gewesen.

O-Ton Michael Wolf Thomas Stoltenberg war sauer. Er hat dann den NDR-Staatsvertrag gekündigt. Dann hat sich Ernst Albrecht angeschlossen. Und sie haben sich dann darum gestritten, ob es eine Austritts- oder eine Gesamtkündigung ist. Das war so Ziel von Ernst Albrecht, der mal so insgesamt aufräumen wollte; als größter Partner des NDRs meinte, er könne mit einer eigenen Anstalt reüssieren. Dann hat sich das vors Bundesverwaltungsgericht gezogen und das Bundesverwaltungsgericht hat gesagt, das ist eine Austrittskündigung und damit ist der NDR nicht aufgelöst, sondern Schleswig-Holstein ist raus und und Niedersachsen bleiben ein Rest NDR. Denn die Kündigung von Albrecht wurde so juristisch nicht akzeptiert. Das Ergebnis war, dass Schleswig-Holstein draußen war und kein Radio mehr gehabt hätte.

Sprecher: Ein eigener Sender war der schleswig-holsteinischen Regierung dann doch zu teuer, man setzte lieber auf Verhandlungen über einen neuen Staatsvertrag für den NDR.

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O-Ton Michael Wolf Thomas In einer Zeit, in der die politischen Spannungen in den Sender hineingetragen werden, gibt es natürlich Leute, die im Sender sagen, hättet ihr das nicht gemacht, hättet ihr nicht so berichtet, wäre das nicht passiert. Dann sagen die anderen, wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre das und das passiert. Das ist eine gewisse Unversöhnlichkeit, die gab es. Und es gab auch Schuldzuweisungen in den Diskussionen, aber im Prinzip ging es am Ende immer nur um eine einzige Sache: egal, was wir meinen, wir müssen unabhängig berichten. Und das hat sich durchgesetzt.

Musik

Sprecher: Aus Sicht der Bürgerinitiativen war die Großdemonstration ein politischer Erfolg. Man sei bis an den Bauzaun vorgerückt und hätte sich durch staatliche Repression nicht aufhalten lassen. Da aber die Bautätigkeit auf dem Reaktorgelände fortgesetzt wurde, plante man bereits für den Februar 1977 die nächste Großdemonstration. Jetzt schaltete sich sogar der Kanzler ein.

O-Ton Helmut Schmidt. Meine Damen und Herren, am Baugelände in Brokdorf wollen einige Gruppen eine Demonstration machen, die diesen Namen nicht verdient. Es geht ihnen vielmehr um eine bewusst auf Zerstörung angelegte rechtswidrige Aktion. Und ihre Organisatoren können sich dabei nicht auf das in unserer Verfassung geschützte Grundrecht auf Meinungsfreiheit berufen. Es ist mir sehr wichtig zwischen solchen Gruppen einerseits und andererseits denjenigen Bürgern, die sich wegen der Errichtung von Kernkraftwerken Sorgen machen, und die diese Sorgen durch Proteste verdeutlichen wollen, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen.

Sprecher: Die Kanzlerworte blieben folgenlos. Eine weitere Stufe der Eskalation lag förmlich in der Luft.

18 18 O-Ton G. Hopfenmüller ....wo tatsächlich von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, wohlgemerkt angeblich von den Demonstranten ausgehend, gesprochen wurde. Wo auf der anderen Seite auch wirklich Angst gemacht wurde, dass bei der nächsten Demonstration Tote geben würde. Und das war die Begleitmusik, jetzt die Bewegung aufzuspalten in angeblich Gewaltbereite auf der einen Seite und Friedliche auf der andern Seite. Das dokumentierte sich dann darin, dass zwei verschiedene Demonstrationsziele gewählt wurden. Einer, der 30 Kilometer vom AKW entfernt ist, nämlich Itzehoe, und der andere, der sagte, wir wollen eine Kundgebung am Bauzaun machen. Und daran sortierte sich die Bewegung einigermaßen und das erlaubte dann auch Kräften, die vorher damit gar nichts zu tun hatten, wie z.b. der DKP, mit einmal aufzurufen.

Sprecher: Die Deutsche Kommunistische Partei war der Anti-AKW-Bewegung suspekt, verteidigte sie doch die Atomanlagen im Bereich des Warschauer Paktes als fortschrittliche Produktivkraft in der Hand des werktätigen Volkes, während sie die Kernspaltung im profitorientierten Kapitalismus ablehnte. Mit einem Aufruf für eine Anti-Brokdorf-Demonstration in Itzehoe, weit weg vom Reaktorgelände, hoffte die DKP nun, ein Eintrittsbillett in die Ökobewegung zu erhalten. Es schlossen sich allerdings nur wenige Bürgerinitiativen diesem Vorhaben an, die meisten Anti-Atom- Initiativen wollten direkt am Bauzaum demonstrieren. Der Einfluss von K-Gruppen und anderen linksradikalen Organisationen in der Bewegung hatte sich in den zurückliegenden Wochen ausgeweitet. Für die Polizei hieß es nun im Februar 1977 erneut: bundesweite Mobilisierung in die Wilster Marsch. Ausnahmezustand.

O-Ton G. Hopfenmüller Man weiß überhaupt nicht, was passiert. Es hätte sein können, dass wir gleich beim Verlassen des Ortes aufgerieben worden wären, es hätte sein können, dass gigantische Massenverhaftungen stattfinden, es hätte sein können, dass wir alle wegen Landfriedensbruch angeklagt werden. Eingekesselt; alles konnte möglich sein. Wir haben aber darauf vertraut, dass wir so viele sind, und dass wir so gut mobilisieren können.

19 19 Sprecher. Günter Hopfenmüller leitete an diesem Tag die Demonstration. Viele Zehntausend Demonstranten machten sich auf den Weg nach Brokdorf. Die gesamte Wilster Marsch war durch quergestellte Container hermetisch abgesperrt. Der Autoverkehr kam komplett zum Erliegen. Wer zum Kraftwerk vordringen wollte, musste kilometerlange Umwege durch Wiesen und über Gräben zurücklegen. Und dann wartete da die Polizei. Diesmal gelang es ihr mit einem bis dato beispiellosen Einsatz von Panzerwagen, Wasserwerfern und Hubschraubern die Zugänge zum Atomkraftwerk lückenlos zu blockieren.

O-Ton G. Hopfenmüller Wir haben per Lautsprecher erklärt, und das auch bis nach hinten ans Ende der Demonstration vermitteln können, dass wir jetzt an einer Sperre stehen und dass wir auf keinen Fall weiter können und dass wir nur Wasserwerfer vor uns stehen haben und Schützenpanzer. Und dass wir hier jetzt unsre Kundgebung halten und uns dann an Ort und Stelle umdrehen und in der anderen Richtung diszipliniert zurückgehen. Das ist in wunderbarer Weise von dieser Demonstration geleistet worden.

Sprecher: Die Polizei war in der Lage ganze Landstriche und alle Autobahnen zu besetzen – eine Lektion, die viele AKW-Gegner auch bei folgenden Demonstrationen in und bei späteren Aktionen in Brokdorf lernen mussten. In offener Feldschlacht war das Atomprogramm offensichtlich nicht zu verhindern.

O-Ton G. Hopfenmüller So kommen wir nicht weiter. Und daraus denke ich hat sich dann auch sehr stark der Wunsch gespeist, das war dann die Idee Parteien oder eine eigene Partei zu bilden; und dass es keinen Zweck hätte, eine linksradikale Partei zu bilden, das hatte sich damals auch schon rumgesprochen. Und das war die Geburtsstunde der Grünen.

Sprecher: Karsten Hinrichsen, studierter Meteorologe, hat eine beeindruckende Zahl an Prozessterminen in Sachen Brokdorf absolviert. Vier Jahrzehnte lang. Er verfasste mit anderen Wissenschaftlern Expertisen über die Risiken des AKW und war als Kläger gegen die Teilerrichtungsgenehmigungen aktiv. Felsenfest überzeugt, dass

20 20 seine Zweifel und Gegenargumente am Ende obsiegen würden, wählte er als Wohnort eine alte Bauernkate direkt hinter dem Brokdorfer Deich.

O-Ton Karsten Hinrichsen 86 kam dann die Betriebsgenehmigung, da war es also noch im Bau. Und ich als junger Wissenschaftler war überzeugt vom dem, was er da veröffentlicht und so, hatte den Eindruck, das kann nicht ans Netz gehen, weil es viel zu gefährlich ist. Und wir wussten auch, dass es nicht so leicht ist, mit der dörflichen Bevölkerung Kontakt zu finden. Und da hab ich gedacht, ja in Brokdorf kenn ich ja einen ganzen Sack von Leuten durch den AKW-Widerstand. Dann hab ich das Problem wenigstens nicht. Und dann sind wir an diese Hütte gekommen.

Sprecher: Völlig entspannt sah Eggert Block, der Nachbar von der anderen Straßenseite, die Sache mit dem Atomreaktor.

O-Ton Bürgermeister Eggert Block Wir haben es begrüßt und wir haben auch dazu gestanden. Ich bin hier 1970 zum Bürgermeister gewählt worden, bin von Anfang an Befürworter der Ansiedlung des Kraftwerkes gewesen. Und mein Stimmenanteil ist von Wahl zu Wahl immer höher geworden, immer besser geworden. Also von daher, wenn das wirklich die Stimmung der Brokdorfer Bürger so gewesen wäre, dass sie das Kraftwerk nicht wollten, dann wäre ich bestimmt mit einer solchen großen Zahl der Stimmen nicht immer wieder gewählt worden. Wir hatten hier seinerzeit bayerische Verhältnisse, solche Mehrheiten hatten wir.

Sprecher: Karsten Hinrichsen gilt in diesen Verhältnissen als Sonderling, als einer, der sich immer noch nicht mit der Realität abgefunden hat.

O-Ton Karsten Hinrichsen Wenn Sie hier mehr als eine Handvoll bekennende AKW-Gegner finden, kriegen Sie von mir 5 Euro. Aber es gibt bestimmt ne ganze Reihe Leute, die auch kein gutes Gefühl haben, die sich hier im Ort aber nicht äußern. Ein Gespräch übers AKW, das kann man hier nicht führen, da fällt irgendwie ein Rollo runter. Die Fronten sind

21 21 geklärt, jeder weiß, wo der andere steht, also muss man nicht mehr dran rühren.

O-Ton Bürgermeister Eggert Block Brokdorf läuft hervorragend. Da ist ja die ganze Zeit nichts gewesen. Hier ist nie ein Erdbebengebiet gewesen, alles dies kann in Brokdorf und wird in Brokdorf nicht passieren. Aber dennoch wirds geschrieben und wird so berichtet, als wenn es morgen passieren kann. Warum das so gemacht wird, kann ich nicht beurteilen, weiß ich nicht. Jedenfalls der Brokdorfer Bürger, der schmunzelt darüber, wenn so etwas gesagt und gezeigt wird.

Musik

Sprecher: Brokdorf hat es durch das Atomkraftwerk zu ansehnlichem Wohlstand gebracht. Die Straßen und Grünanlagen sind gepflegt. Ein riesiges Eis-Stadion soll Wintersportfreunde aus ganz Schleswig-Holstein in das Dorf locken. Und auch für ein riesiges Spaßbad war noch Geld da. Als eine der letzten Nuklearanlagen Deutschlands soll Brokdorf 2021 vom Netz gehen. Das Kraftwerksgelände könnte dann wieder zur Wiese werden.

Absage Der Brokdorf-Komplex Kampfhandlungen in der Wilster Marsch Ein Feature von Rainer Link Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2013. Es sprachen: Reinhart Firchow und Gregor Höppner Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Katrin Fidorra Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Hermann Theißen

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