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SWR2 Zeitwort 08.09.1999: Erste Plenarsitzung im neuen Reichstag Von Rebecca Lüer

Sendung: 08.09.2017 Redaktion: Ursula Wegener Produktion: SWR 2017

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Autorin: An die allererste Debatte des Bundestages im neu gestalteten Reichstagsgebäude werden Berlin-Besucher heutzutage während der Sommermonate jeden Abend auf eindrucksvolle Weise direkt an der Spree sitzend erinnert. Bei der allabendlichen, wie es schön offiziell heißt „Film- und Lichtprojektion“ im Parlamentsviertel ist auch der damalige Bundestagspräsident von der SPD immer mit diesem Satz dabei:

O-Ton von Wolfgang Thierse: „Zur ersten Sitzung des Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude in Berlin begrüße ich Sie alle sehr, sehr herzlich“

Autorin: Es ist April 1999. Der ist für die feierliche Schlüsselübergabe zur einer Extrasitzung vom Rhein an die Spree angereist. Vier Jahre lang hatte der Architekt Norman Foster das geschichtsträchtige Gemäuer zu einem modernen Parlamentsgebäude umgebaut. Der erste Praxistest fällt bei den Abgeordneten positiv aus.

O-Ton von verschiedenen Abgeordneten: „Durchaus bequem.“ „Die Stühle sind etwas leicht rutschbarer als im alten Plenarsaal in Bonn. Aber das soll nichts Symbolisches bedeuten.“ „Sehr schön, es hat mir gut in dem Saal gefallen. Es hat eine bessere Atmosphäre als das Bundestagsgebäude jetzt in Bonn, und ich glaube, die Architektur ist gelungen.“

Autorin: Am 8.September 1999 tagt der Bundestag dann zum ersten Mal regulär in Berlin. Die erste Debatte dreht sich rund um Frauenrechte. Einige der Rednerinnen haben offenkundig beste Laune und eine gute Portion rheinischen Frohsinn an die Spree rüber gerettet. Die SPD Politikerin Ulla beispielsweise:

O-Ton von Ulla Schmidt: „Vielleicht ist es an der Schwelle zum neuen Jahrhundert auch Zeit, dass wir neben den Frauenministerinnen vielleicht einen Staatsminister für Männerfragen einrichten, der eine einzige Aufgabe hat, der wirklich die Emanzipation des Mannes, die zur Emanzipation der Frau gehört, voran bringt.“

Autorin: Der damalige SWR Hauptstadtkorrespondent Wolfgang Grossmann berichtet von erstaunlicher Normalität:

O-Ton von Wolfgang Grossmann: „Trotz hehrer Themen zu Arbeitspremiere benahmen sich die Abgeordneten wie immer. Die Sitzreihen nicht übermäßig gefüllt, viele Redner lesen vom Blatt ab. Die Mehrzahl der Abgeordneten bereitet wie immer in den Ausschüssen Gesetze vor.“

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Autorin: Und manch einer hat es möglicherweise gar nicht erst rechtzeitig ins Reichstagsgebäude geschafft. Der Tuttlinger CDU Abgeordnete etwa wütet damals schon in der ersten Sitzungswoche, weil die Fahrbereitschaft für die Parlamentarier nicht besonders pünktlich ist:

O-Ton von Volker Kauder: „Es funktioniert der ganze Betrieb, wie die Abgeordneten befördert werden, überhaupt nicht! Daneben müssen die Abgeordneten ständig Angaben machen, wo sie hinwollen, es wird ein Bewegungsprofil erstellt. Jeder Datenschützer hätte seine tollste Freude an der ganzen Geschichte, wie das hier funktioniert.“

Autorin: Vieles auf der preußischen Dauerbaustelle Berlin ist eben anders. Unter anderem auch die Vorstellungen der Parlamentsangestellten, wie Politiker zu arbeiten haben. Die frühere SPD Abgeordnete Nicolette Kressl aus Rastatt wundert sich damals hörbar:

O-Ton von Nicolette Kressl: „Es fängt an bei so ganz einfachen Dingen, dass um 22 Uhr, wo wir häufiger doch noch mal arbeiten auch, der Pförtner hochkommt und sagt: Jetzt wird hier zugemacht, und es gehen alle raus! Soweit ich gehört hab, sind dann auch alle zehn Abgeordneten, die da noch saßen, brav mit runter gegangen. Aber das kann natürlich auf Dauer so nicht gehen.“

Autorin: Die Berliner selbst wiederum beobachten mit Interesse das frische Leben im Regierungsviertel und verbinden zehn Jahre nach der Wiedervereinigung mit den neuen Nachbarn durchaus auch Hoffnungen:

O-Ton von Berliner Bürgern: „Man kann da ruhig nur hoffen, dass wir weniger Arbeitslose in Berlin kriegen. Weil ja doch mehr Leute gebraucht werden hier im Bundestag.“ „Also, hier in Berlin sind sie wirklich im Leben.“

Autorin: Berlin wirkt auf die Abgeordneten. Zumindest auf aus Nürtingen. Der SPD-Mann sieht Berlin auch im Rückblick als große Chance. Arnold war zum 1999 erst ein Jahr Bundestagsabgeordneter und deshalb damals auch in Bonn noch nicht wirklich heimisch:

O-Ton von Rainer Arnold: „Hab aber diese berüchtigte Käseglocke, die dort übers Parlamentsviertel gestülpt war, deutlich gespürt. Berlin war dagegen wirklich eine Befreiung. Ein Parlament mitten im Leben dieser unglaublich vielfältigen Weltstadt. Ein Gefühl, im Reichstag Politik machen zu können, da spürt man die Geschichte und damit auch die besondere Verantwortung des Mandates.“

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